Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolle-ginnen und Kollegen!Vor Eintritt in die Tagesordnung gibt es einige amtli-che Mitteilungen. Die SPD-Fraktion hat mitgeteilt, dassder Abgeordnete Jörg Tauss als Mitglied aus dem Senatdes Vereins „Hermann-von-Helmholtz-GemeinschaftDeutscher Forschungszentren e. V.“ sowie als stellver-tretendes Mitglied aus dem Beirat bei der Bundesnetz-agentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Postund Eisenbahnen ausgeschieden ist. Als Nachfolger wer-den der Kollege René Röspel im Senat und die KolleginGabriele Lösekrug-Möller im Beirat vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlichder Fall. Dann sind der Kollege Röspel und die KolleginLösekrug-Möller gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-geführten Punkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU undder SPDKritik der Bundesbank an überhöhten Kredit-Redezinsen der deutschen Banken
ZP 2 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-sprache
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Dr. Volker Wissing, Frank Schäffler,Dr. Hermann Otto Solms, weiteren Abgeordnetenund der Fraktion der FDP eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ein-kommensteuergesetzes– Drucksache 16/7519 –Beschlussempfehlung und Bericht deschusses
– Drucksache 16/13530 –tzung, den 2. Juli 2009.01 UhrBerichterstattung:Abgeordnete Christian Freiherr von StettenMartin Gersterb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Koczy,Thilo Hoppe, Irmingard Schewe-Gerigk, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFrauen stärken – Frieden sichern – Geschlech-tergerechtigkeit in der Entwicklungszusam-menarbeit und der Konfliktbearbeitung vo-rantreiben– Drucksachen 16/10340, 16/13505 –Berichterstattung:Abgeordnete Sibylle PfeifferChristel Riemann-HanewinckelDr. Karl AddicksHeike HänselUte Koczytextc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Koczy,Thilo Hoppe, Dr. Gerhard Schick, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENEntwicklungsländer bei der Bewältigung derWirtschafts- und Finanzkrise unterstützen– Drucksachen 16/13003, 16/13706 –Berichterstattung:rdnete Jürgen Klimken Hilsbergut KönigshausHänsels Finanzaus-AbgeoStephaHellmHeikeUte Koczy
Metadaten/Kopzeile:
25614 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Präsident Dr. Norbert Lammertd) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Gesundheit
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-rungVorschlag für eine Verordnung des Europäi-schen Parlaments und des Rates zur Ände-rung der Verordnung Nr. 726/2004 zurFestlegung von Gemeinschaftsverfahren fürdie Genehmigung und Überwachung vonHuman- und Tierarzneimitteln und zur Er-richtung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur in Bezug auf die Information derbreiten Öffentlichkeit über verschreibungs-
Englisch)KOM(2008) 662 endg.; Ratsdok. 17498/08– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-rungVorschlag für eine Richtlinie des Europäi-schen Parlaments und des Rates zur Ände-rung der Richtlinie 2001/83/EG zur Schaf-fung eines Gemeinschaftskodexes fürHumanarzneimittel in Bezug auf die Infor-mation der breiten Öffentlichkeit über ver-schreibungspflichtige ArzneimittelKOM(2008) 663 endg.; Ratsdok. 17499/08– Drucksachen 16/11819 A.15, 16/11819 A.16,16/13266 –Berichterstattung:Abgeordneter Michael Hennriche) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses zuder Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Richtlinie des EuropäischenParlaments und des Rates zur Änderung derRichtlinie 2006/116/EG des Europäischen Par-laments und des Rates über die Schutzdauerdes Urheberrechts und bestimmter verwand-
KOM(2008) 464 endg.; Ratsdok. 12217/08– Drucksachen 16/10286 Nr. A.21, 16/13674 –Berichterstattung:Abgeordnete Michael Grosse-BrömerDirk ManzewskiMechthild DyckmansSevim DağdelenJerzy Montagf) Beratung des Antrags der Abgeordneten HorstFriedrich , Paul K. Friedhoff, PatrickDöring, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDPKommunen bei der Finanzierung von Bahn-übergängen entlasten– Drucksache 16/13448 –g) Beratung des Antrags der Abgeordneten UweSchummer, Stefan Müller , MichaelKretschmer, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU,der Abgeordneten Willi Brase, Ulla Burchardt,Dieter Grasedieck, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der SPD,der Abgeordneten Patrick Meinhardt, Uwe Barth,Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDPsowie der Abgeordneten Priska Hinz ,Kai Gehring, Krista Sager, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGestaltung des Deutschen Qualifikationsrah-mens– Drucksache 16/13615 –h) Beratung des Antrags der Abgeordneten PeterGötz, Dirk Fischer , Dr. Klaus W.Lippold, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSUsowie der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, SörenBartol, Christian Carstensen, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der SPDDie Zulässigkeit von Kindertagesstätten in rei-nen Wohngebieten verbessern– Drucksache 16/13624 –i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 599 zu Petitionen– Drucksache 16/13628 –j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 600 zu Petitionen– Drucksache 16/13629 –k) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 601 zu Petitionen– Drucksache 16/13630 –l) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 602 zu Petitionen– Drucksache 16/13631 –m) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 603 zu Petitionen– Drucksache 16/13632 –
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25615
(C)
(D)
Präsident Dr. Norbert Lammertn) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 604 zu Petitionen– Drucksache 16/13633 –o) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 605 zu Petitionen– Drucksache 16/13634 –p) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 606 zu Petitionen– Drucksache 16/13635 –q) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 607 zu Petitionen– Drucksache 16/13636 –r) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 608 zu Petitionen– Drucksache 16/13637 –s) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 609 zu Petitionen– Drucksache 16/13638 –t) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 610 zu Petitionen– Drucksache 16/13639 –u) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 611 zu Petitionen– Drucksache 16/13640 –v) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 612 zu Petitionen– Drucksache 16/13641 –w) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 613 zu Petitionen– Drucksache 16/13642 –x) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 614 zu Petitionen– Drucksache 16/13643 –y) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 615 zu Petitionen– Drucksache 16/13644 –z) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 616 zu Petitionen– Drucksache 16/13645 –ZP 3 Beschlussempfehlungen des Vermittlungsaus-schussesa) Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
Änderung des Gesetzes zur Durchführung derGemeinsamen Marktorganisationen und derDirektzahlungen– Drucksachen 16/12231, 16/12517, 16/13081,16/13607 –Berichterstattung:Abgeordneter Wolfgang Zöllerb) Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
Änderung des Gesetzes zur Regelung der Rechts-verhältnisse der Helfer der Bundesanstalt Techni-sches Hilfswerk– Drucksachen 16/12854, 16/13016, 16/13358,16/13608 –Berichterstattung:Abgeordneter Wolfgang MeckelburgZP 4 Wahl von Mitgliedern des Stiftungsrates der„Stiftung Berliner Schloss – Humboldtforum“– Wahlvorschläge der Fraktionen der CDU/CSU,SPD und FDP– Drucksache 16/13661 –– Wahlvorschläge der Fraktionen DIE LINKEund BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN– Drucksache 16/13705 –ZP 5 Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENHaltung der Bundesregierung zu Meinungs-verschiedenheiten in der CDU/CSU über Steu-ersenkungsvorhaben und deren FinanzierungZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENRechtsstaatlichkeit in Russland stärken– Drucksache 16/13613 –ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
Metadaten/Kopzeile:
25616 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Präsident Dr. Norbert Lammertund Reaktorsicherheit zu derVerordnung der BundesregierungVerordnung über Anforderungen an einenachhaltige Herstellung von flüssiger Bio-
– Drucksachen 16/13326, 16/13507 Nr. 2, 16/13685 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Maria FlachsbarthMarko MühlsteinMichael KauchEva Bulling-SchröterHans-Josef FellZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausBrähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-PeterFriedrich , weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Annette Faße, GabrieleHiller-Ohm, Renate Gradistanac, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der SPDAus- und Weiterbildung in der Tourismus-wirtschaft verbessern– Drucksache 16/13614 –ZP 9 a)Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Ge-setzes zur Änderung des Gesetzes zur Aufhe-bung nationalsozialistischer Unrechtsurteile inder Strafrechtspflege
– Drucksache 16/13654 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Verteidigungsausschussb) Erste Beratung des von den Abgeordneten JanKorte, Christine Lambrecht, Wolfgang Wielandund weiteren Abgeordneten eingebrachten Ent-wurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderungdes Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialisti-scher Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege– Drucksache 16/13405 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
VerteidigungsausschussZP 10 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der SPDFörderung von Vertrauen, Sicherheit und Da-tenschutz in E-Government und E-Business– Drucksache 16/13618 –ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten ThomasSilberhorn, Leo Dautzenberg, Otto Bernhardt,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUsowie der Abgeordneten Dr. Hans-Ulrich Krüger,
der SPDSchadensersatzansprüche gegen die ehemali-gen Vorstandsmitglieder der Hypo Real EstateHolding AG– Drucksache 16/13619 –Ich mache auf die Rückgängigmachung einer Aus-schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-merksam:Der in der 97. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nunmehrnicht mehr dem Innenausschuss zurMitberatung überwiesen werden.Erste Beratung des von den Abgeordneten JanKorte, Petra Pau, Ulla Jelpke, weiteren Abge-ordneten und der Fraktion DIE LINKE einge-brachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zurÄnderung des Gesetzes zur Aufhebung natio-nalsozialistischer Unrechtsurteile in der Straf-rechtspflege
– Drucksache 16/3139 –überwiesen:Rechtsausschuss
InnenausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Die Tagesordnungspunkte 13 und 72 sollen getauschtund die Tagesordnungspunkte 46 b, 77 a und 77 z abge-setzt werden. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen ein-verstanden? – Das ist der Fall. Das ist dann einvernehm-lich so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:Abgabe einer Regierungserklärung durch dieBundeskanzlerinzum G-8-Weltwirtschaftsgipfel vom 8. bis10. Juli 2009 in L’AquilaHierzu liegt ein Entschließungsantrag der FraktionDie Linke vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-rung 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Wider-spruch. Dann ist auch das so beschlossen.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatdie Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Derdiesjährige G-8-Gipfel in L’Aquila findet in der nächstenWoche statt und steht im Zeichen der größten globalenWirtschaftskrise der Nachkriegsgeschichte. Die Welt-wirtschaft wird in diesem Jahr nach OECD-Schätzungenum 2,2 Prozent schrumpfen und der Welthandel um sageund schreibe 16 Prozent einbrechen. Deutschland alsexportorientierte Volkswirtschaft – zur Erinnerung:
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25617
(C)
(D)
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel40 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts hängen amExport – ist davon besonders betroffen. Unser Export-überschuss wird in diesem Jahr schätzungsweise umüber 100 Milliarden Euro zurückgehen.Die Krise hat viele Regierungen zu außergewöhnli-chen Maßnahmen gezwungen. Auch die Bundesregie-rung, der Deutsche Bundestag und der Bundesrat habenentschlossen gehandelt: mit umfangreichen Maßnahme-paketen zur Stabilisierung des Bankensektors – erst ges-tern haben wir einen wichtigen Schritt zur Schaffung dersogenannten Bad Banks unternommen – und mit Kon-junkturpaketen in einer historisch einmaligen Größen-ordnung von über 80 Milliarden Euro. Berücksichtigtman auch die Wirkung der automatischen Stabilisatoren,so gehört Deutschland weltweit zu den Ländern, die diestärksten konjunkturellen Impulse gesetzt haben. Dieshat sich auch in den Statistiken des IWF niedergeschla-gen. Wir können wirklich sagen, dass wir unseren Bei-trag zur Bekämpfung dieser Krise leisten.
Wir haben im internationalen Rahmen eine klare Ver-pflichtung für eine neue Finanzmarktverfassung aufden Weg gebracht. All diese Maßnahmen haben wir na-türlich in enger Abstimmung mit unseren wichtigstenPartnern durchgesetzt.Die G 8 sind einmal in einer Krise entstanden. Diewichtigsten Industrieländer haben sich zusammenge-schlossen, um ein Forum zu schaffen, auf dem über dieZukunft der Weltwirtschaft gesprochen werden kann.Der Gipfel in L’Aquila wird deutlich machen, dass dasG-8-Format nicht mehr ausreicht. Wir werden dort sozu-sagen einen Vorbereitungstag als G 8 haben und dann anden beiden anderen Tagen mit den sogenannten G 5– den Schwellenländern Brasilien, China, Indien,Mexiko und Südafrika – sprechen, uns im Kreis derwichtigsten Wirtschaften treffen, um über den Klima-schutz zu sprechen, und afrikanische Länder einladen,um mit ihnen über die Zukunft des Kontinents zu reden.Man sieht: Die Welt wächst zusammen. Die Probleme,vor denen wir stehen, können von den Industriestaatennicht mehr allein gelöst werden.Auf dem Gipfel werden wir uns mit der Bewältigungder Wirtschafts- und Finanzkrise beschäftigen. DieGipfel von Washington und London im G-20-Formatwaren erste wichtige Schritte in diese Richtung. Jetztgeht es darum, diese Maßnahmen auch umzusetzen. Wirbeobachten – der Bundesfinanzminister hat schon daraufhingewiesen –, dass die Banken in dem Moment, wo sieeine gewisse Erholung spüren, sofort Abwehrreflexe ge-gen die Durchsetzung weiterer Regulierung zeigen. Ichsage: Wir werden – dazu gibt es hier einen breiten Kon-sens – darauf beharren, dass wir wirklich eine neue Ver-fassung für die internationalen Finanzmärkte bekom-men, damit sich eine solche Krise nie wiederholt.
Als wir während unserer G-8-Präsidentschaft denG-8-Gipfel in Heiligendamm ausgerichtet haben, habenwir die bittere Erfahrung gemacht, dass keinerlei Bereit-schaft dazu da war, eine Regulierung der Finanzmärkte,zum Beispiel bei den Hedgefonds, durchzusetzen. Keinezwei Jahre später – im Grunde ein Jahr später; da fingdas alles in massiver Weise an – hat sich herausgestellt,dass dies ein großer Fehler war. Wir können uns deshalbauch nach der Schaffung einer neuen Finanzmarktver-fassung kein Erlahmen der Anstrengungen und keineRückkehr zu „Business as usual“ leisten.
Ich bin der tiefen Überzeugung, dass wir die Prinzi-pien der sozialen Marktwirtschaft weltweit verankernmüssen; denn es geht nicht nur um eine Regulierung ein-zelner Produkte und um eine bessere Aufsicht, sondernes geht um die grundsätzliche Herangehensweise. Esgeht um die Frage, was die Aufgabe des Staates ist. Inder sozialen Marktwirtschaft ist die Aufgabe des Staates,Hüter der sozialen Ordnung zu sein, Hüter der gesell-schaftlichen Ordnung zu sein. Genau dies muss umge-setzt werden. Das geht nicht mehr in einem Land allein,das geht nicht mehr in der Europäischen Union allein,das muss international geschehen, und dem darf sich kei-ner entziehen.
Wir werden manchmal dafür gescholten, dass wir diesimmer wieder in den Mittelpunkt stellen. Ich will an die-ser Stelle noch einmal daran erinnern, dass die Entwick-lung der sozialen Marktwirtschaft zurückgeht auf dieLehren aus der ersten Weltwirtschaftskrise, die Ende der20er-Jahre, Anfang der 30er-Jahre herrschte. Hier warendie europäischen Schlussfolgerungen gerade das, wasuns zur sozialen Marktwirtschaft geführt hat. Es geht ge-nau um die Rolle des Staates: Er muss fairen Wettbe-werb garantieren. Wir sollten deshalb, glaube ich, an ei-ner Charta der nachhaltigen Wirtschaftsentwicklungarbeiten, in der wir solche Prinzipien zugrunde legen.Wir sollten dies im September auf dem G-20-Gipfel inPittsburgh ein Stück weiterbringen.Einige der Hausaufgaben, die sich aus den LondonerVerpflichtungen ergeben, haben wir bereits gemacht.Dazu gehört die Schaffung einer europäischen Finanz-aufsicht; die Grundsatzbeschlüsse dafür haben wir beimletzten Rat getroffen. Die Vereinigten Staaten von Ame-rika haben ebensolche Vorschläge für eine bessere Regu-lierung gemacht. Es kommt jetzt darauf an, dass die Auf-sichtsbehörden, die es zum Beispiel in den VereinigtenStaaten von Amerika und in der Europäischen Union ge-ben wird, an die Banken nicht wieder unterschiedlicheKriterien anlegen. Diese Kriterien müssen gleich sein,damit wir ein vernünftiges Feld bekommen, auf dem einfairer Wettbewerb stattfinden kann. Eine Aufgabe wirdalso die internationale Abstimmung sein.
Wir werden in L’Aquila natürlich auch darüber spre-chen, dass die multilateralen Organisationen wie dasFinancial Stability Board oder der IWF eine zusätzliche
Metadaten/Kopzeile:
25618 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Bundeskanzlerin Dr. Angela MerkelBedeutung bekommen, um bewerten zu können, wiesich die einzelnen Regionen aufstellen und ob Kriterienvergleichbar sind; denn die allermeisten großen Finanz-institute arbeiten grenz- und kontinentübergreifend, wes-halb sie nach einheitlichen Maßstäben geführt werdenmüssen.Wir werden ebenfalls darüber sprechen müssen, wiewir nach der Krise vorangehen. Eines ist klar: Die hohenRisiken, die eingegangen wurden, um nicht nachhaltigesWachstum zu fördern, waren die Ursachen dieser Krise.Es ist richtig, dass wir die Krise jetzt bekämpfen. Daswird auch noch eine ganze Weile so anhalten. Aber wirmüssen international auch vereinbaren, wie wir weiterfür nachhaltiges Wachstum arbeiten, wenn wir denStand der Wirtschaftsentwicklung aus der Zeit vor derKrise, also 2007, 2008, wieder erreicht haben.Mit dem Beschluss über die Schuldenbremse habenwir in Deutschland einen ganz wesentlichen Eckpunktgesetzt, der auch von der OECD ausdrücklich gewürdigtwird. Wir sind aber weit und breit das einzige Land – dasmuss ich so sagen –, das eine solche Art von Selbstbin-dung getroffen hat, um nach der Mitte des nächsten Jahr-zehnts einen ganz klaren und nachhaltigen Wachstums-pfad zu begehen.
Deshalb ist es wichtig, dass wir einerseits schnell aus derKrise herauskommen, Herr Oppermann, und anderer-seits wieder eine nachhaltige Entwicklung erreichen.
Ein Punkt, durch den der weltwirtschaftliche Erho-lungsprozess erheblich beeinflusst werden kann, ist dieGefahr von protektionistischen Maßnahmen. Wirmüssen hier sehr aufpassen. Es gibt eine allgemeine Ver-pflichtung aller Teilnehmerstaaten des Londoner Gip-fels, keinen Protektionismus zuzulassen. Aber es gibteben Klauseln, die hier und da diese Gefahr in sich ber-gen. Ob es nun „Buy American“ oder „Buy Chinese“ ist:Wir müssen hierauf ein klares Augenmerk legen.In den Verhandlungen auf dem G-8-Gipfel werdenwir uns noch einmal der Vollendung der Doha-Rundezuwenden. Nach fast vier Jahren, die ich jetzt Bundes-kanzlerin bin, mag man gar nicht mehr von dem immergleichen Projekt sprechen; aber es bleibt so dringlich,wie es vor einigen Jahren war. Es muss ein Fortschrittbei dieser Doha-Runde erreicht werden.
Ich sehe, dass die neue amerikanische Administrationhier sehr viel offener ist. Ich hoffe, dass Indien nach derWahl und andere Länder ebenfalls die Bereitschaft zumehr Offenheit aufbringen.
Ich denke, dass wir durch die Vielzahl von internatio-nalen Konferenzen in diesem Jahr spätestens im nächs-ten Jahr auch Klarheit über die Zukunft der verschiede-nen Tagungsformate haben werden. Wir haben jetzt dieG 20, die G 8 und die G 5 sowie die Major Economies,wie es so schön heißt, im Klimaschutz. Ich denke, dassG 20 das Format sein sollte, das wie ein überwölbendesDach die Zukunft bestimmt. Hier gibt es eine gewisseRepräsentativität zumindest der wirtschaftlich starkenLänder.Um zu einer wirklichen Akzeptanz zu kommen, wirdes aber darauf ankommen, dass man weltweit eine engeVerbindung zu den regionalen Wirtschaftsorganisationenhält – sowohl zur Afrikanischen Union als auch zurNAFTA, zu den lateinamerikanischen Organisationenund zu den asiatischen Zusammenschlüssen –, um nichteinzelne Länder auszugrenzen. Das Format G 8 wird ge-nutzt werden, um Vorbesprechungen durchzuführen. Dieeigentlich relevanten, globalen Beschlüsse werden nachmeiner Überzeugung dann innerhalb eines größeren For-mats gefällt werden.
Der zweite wichtige Punkt in L’Aquila wird dasKlima sein. Am Ende des Jahres findet in Kopenhageneine weltweite Klimakonferenz statt, auf der ein Nach-folgeabkommen für Kioto verabschiedet werden soll,das heißt ein Abkommen für die Zeit nach 2012 bis min-destens zur Mitte des Jahrhunderts. Deshalb ist es gut,dass der neue amerikanische Präsident, Barack Obama,das Format der Treffen der großen Wirtschaften weiter-führt und dass wir in L’Aquila die Verhandlungen in Ko-penhagen vorbereiten können. Die dänischen Gastgeberwerden zu diesem Tagesordnungspunkt nach L’Aquilakommen. Wir sehen eine bestimmte Bewegung, die unszuversichtlich macht, dass wir im Dezember zu Ergeb-nissen kommen.Ganz konkret meine ich damit die Gesetze, die in derletzten Woche im amerikanischen Abgeordnetenhausverabschiedet wurden. Sie stellen zwar eine Trendwendedar, bringen uns aber nicht automatisch zu dem Ziel, daswir bis 2050 erreichen wollen. Deshalb wird es wichtigsein, dass sich in den Dokumenten von L’Aquila nocheinmal ein ganz klares Bekenntnis zu dem 2-Grad-Zielfindet. Dass diese Gesetze eine Trendwende bedeuten,wird klar, wenn man sich einmal vor Augen führt, was inden Vereinigten Staaten von Amerika bis jetzt hart er-kämpft werden musste. In Heiligendamm waren wirfroh, als festgeschrieben wurde, dass wir ernsthaft be-trachten wollen, ob wir eine Halbierung der CO2-Emis-sionen bis 2050 zustande bringen. In L’Aquila werdenwir ein deutliches Bekenntnis zu dem 2-Grad-Ziel – demZiel, dass sich die weltweite Temperatur um nicht mehrals 2 Grad erhöht – formulieren.
– Bis 2050 selbstverständlich.Wir werden außerdem – darin liegt das eigentlicheArbeitsfeld bis Dezember – um mittelfristige Ziele rin-gen müssen. Die Vereinigten Staaten von Amerika habenmit diesem Gesetz das mittelfristige Ziel von 17 ProzentReduktion, bezogen auf den Zeitraum von 2005 bis2020, beschlossen. Darin kommt natürlich zum Aus-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25619
(C)
(D)
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkeldruck, dass die Vereinigten Staaten zwischen 1990 und2005 diesbezüglich nichts gemacht haben. Ich glaube,wir sollten die Diskussion ermutigend führen, weil wirdas Ziel ohne die Vereinigten Staaten von Amerika nichterreichen können. Deshalb spreche ich von einer Trend-wende.Immerhin ist in diesem Gesetz ein CO2-Zertifikate-Regime vereinbart worden, wonach in Zukunft 85 Pro-zent der CO2-Emissionen einer Zertifizierungspflicht un-terliegen. Das ist sehr ambitioniert. Nach den Diskussio-nen, die wir hier geführt haben, kann sich jeder vorstel-len, dass die Erreichung dieses Ziels – auch mit Blickauf den Senat – nicht ganz einfach sein wird.Ich will dennoch sagen: Europa hat eindeutig die Füh-rung. Wir wollen, bezogen auf 1990, sehr viel deutli-chere Reduktionsziele erreichen. Mit diesem Führungs-anspruch werden wir auch weiterhin diejenigen sein, dieermutigen, antreiben und gemeinsam mit den Vereinig-ten Staaten von Amerika die Schwellenländer in dieseDebatte einbeziehen.Selbst wenn wir unsere CO2-Emissionen bis 2050nicht nur um 80 Prozent reduzieren – wie Deutschlandund Amerika es wollen –, sondern um 100 Prozent, wärees bei dem jetzigen Anstieg der Emissionen nicht mehrmöglich, das 2-Grad-Ziel ohne die Schwellenländer zuerreichen. Das wird Gegenstand der Diskussionen sein,die wir mit unseren Partnern in Indien, China und in an-deren Schwellenländern führen müssen.Ein weiteres Thema wird die Entwicklungshilfe sein.Diesbezüglich gibt es vielfache Versprechungen undVerpflichtungen, die wir übernommen haben. Deutsch-land ist inzwischen der zweitgrößte Zahler von Entwick-lungshilfe weltweit. Das kann sich wirklich sehen lassen.Wir haben unsere Entwicklungshilfeleistungen in derKrise bewusst nicht reduziert, sondern wir haben dasGegenteil getan. Wir sind der Meinung, dass wir diesenPfad weitergehen müssen.Ich sage das nicht nur mit Blick darauf, dass vieleMenschen in den Entwicklungsländern viel härter vonder Krise betroffen sind als wir, sondern auch mit Blickauf unsere Situation als Exportnation, die ein massivesInteresse an einer guten Entwicklung, zum Beispiel desafrikanischen Kontinents, hat. Afrika hatte über die letz-ten Jahre ein konstantes Wachstum von 5 Prozent. Dortsind neue Märkte zu erschließen. Wenn dies nicht mehrstattfindet, wenn das gesamte Kapital abgezogen wird,dann geht es nicht nur den afrikanischen Ländernschlechter, sondern dann fehlen auch uns Exportmög-lichkeiten.Wer sich einmal mit Flüchtlingsfragen – auch im Hin-blick auf den afrikanischen Kontinent – befasst, wer sieht,was im Süden Europas, was auf dem Mittelmeer los ist,welche Arbeit die europäische Agentur FRONTEX da zuleisten hat, der weiß, dass wir hier bei uns ein Riesenpro-blem bekommen werden, wenn wir nicht für vernünftigeLebensbedingungen vor Ort sorgen. Auch deshalb istEntwicklungshilfe wichtig.
Wenn wir uns mit den afrikanischen Regierungschefstreffen, wird die Ernährungssicherung ein besondererSchwerpunkt sein. Jedem sechsten Bürger auf der Weltfehlt es an ausreichender Nahrung. Deshalb ist dieserPunkt von großer Bedeutung. Deutschland hat sich andem globalen Partnerschaftsprogramm für Ernährungkraftvoll beteiligt, und wir werden auch dafür einstehen,dass dieses Programm weiterentwickelt wird. Ich sage:In der jetzigen Zeit darf es hier keine Kürzungen geben,sondern wir müssen diese Länder ganz entschieden un-terstützen.
Am ersten Abend des Gipfels in L’Aquila werden wiruns mit den außen- und sicherheitspolitischen Fragenbeschäftigen, dies dann noch einmal zusammen mit denG-5-Ländern. Hier steht das Thema Iran im Zentrumder Diskussion. Wir sind Zeugen brisanter und vor allenDingen erschreckender Ereignisse geworden. Ich hoffe,dass von dem Treffen die starke Botschaft der Geschlos-senheit ausgeht, dass Demonstrations-, Bürger- undMenschenrechte unteilbar sind und auch für den Irangelten, dass unsere Gedanken bei den Menschen sind,die jetzt verhaftet werden – es werden täglich mehr –,und dass wir auch alles daransetzen werden, diese Men-schen nicht aus den Augen zu verlieren.
Ich weiß noch aus der Zeit der DDR, wie wichtig eswar, dass sich Menschen auf der Welt darum gekümmerthaben, wer in Bautzen oder Hohenschönhausen sitzt,und dass man bestimmte Dinge nicht vergessen hat. DerIran muss wissen: Gerade in den Zeiten moderner Kom-munikationsmittel werden wir alles daransetzen, dieseMenschen nicht aus den Augen zu verlieren und ihnenso, wie wir können, zu helfen.
Die Führung im Iran muss wissen: Wenn sie einenvernünftigen Weg geht, dann wollen wir, dass der Iraneine gedeihliche Entwicklung nimmt. Das gilt auch fürunseren Ansatz im Nuklearprogramm. Aber wenn dasnicht der Fall ist, dann werden wir uns auch nichtscheuen, unsere Meinung zu sagen und auch mit denensolidarisch zu sein, die wie die Angehörigen der briti-schen Botschaft jetzt einzeln unter Druck gesetzt werdensollen.Natürlich bleibt das Thema Nuklearpolitik auf derTagesordnung. Ich habe mit dem amerikanischen Präsi-denten Barack Obama letzte Woche ausführlich darübergesprochen und unterstütze noch einmal ausdrücklichdas Angebot von Präsident Obama zu Direktgesprächenmit dem Iran. Wir werden das flankieren. Wir werdensehr einig an die Sache herangehen.Wir können nicht zulassen – weil die Situation imIran so ist, wie sie ist –, dass wir uns um das Thema nu-kleare Bewaffnung des Iran nicht mehr kümmern. Das
Metadaten/Kopzeile:
25620 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkelwäre ganz falsch, und deshalb müssen wir hier einen in-ternational abgestimmten Weg gehen.Präsident Obama wird vor dem G-8-Gipfel zu einemausführlichen Besuch nach Moskau reisen. Ich wünschemir, dass dies ein erfolgreicher Besuch wird. Denn wirwollen als Bundesregierung, aber auch als DeutscherBundestag eine enge Partnerschaft mit Russland. Wirwollen, dass Russland auch in sämtlichen internationa-len Konfliktfällen – von Iran über Afghanistan bis zu derFrage Nordkorea – mit uns zusammenarbeitet.Ein wichtiger Punkt der Gespräche wird die Abrüs-tung und Rüstungskontrolle sein: Abrüstung im kon-ventionellen Bereich und Rüstungskontrolle im umfas-senden Sinne. Ich glaube, dass es richtig ist, dass wirauch auf dem G-8-Gipfel noch einmal darüber sprechen,dass der Nichtverbreitungsvertrag im nächsten Jahrwirklich gestärkt wird. Denn der Kampf gegen Prolifera-tion im nuklearen Bereich ist eine der ganz großen He-rausforderungen.Wir werden in L’Aquila auch über Afghanistan spre-chen. Unsere Trauer um die in der vergangenen Wochegefallenen Soldaten eint uns in diesem Hause. Sie hatuns erneut vor Augen geführt, dass wir hier weiterhinvor großen, schwierigen und gefährlichen Herausforde-rungen stehen.
Aber ich sage auch: Ziel und Strategie des Einsatzesder NATO und unseres zivilen Engagements sind ohnevernünftige Alternative. Wir haben nach meiner Über-zeugung mit der vernetzten Sicherheit den richtigen An-satz. Wir haben auf dem NATO-Gipfel in Baden-Badenund Straßburg darüber eine internationale und gemein-same Haltung in der NATO gefunden. Wir haben dasZiel, dass in Afghanistan die Streitkräfte und die Polizei-kräfte die Sicherheit des Landes selber garantieren kön-nen. Das geht heute noch nicht. Dazu bedarf es der inter-nationalen Hilfe. Wir sind mit Einverständnis derafghanischen Regierung in Afghanistan
– ich will das noch einmal betonen –, und wir werdenvor dieser Aufgabe nicht weglaufen, sondern wir werdensie Schritt für Schritt erfüllen.
Neben allem, was uns bedrückt, können wir sagen,dass es Fortschritte gibt. Im August wird zum zweitenMal ein Präsident in Afghanistan gewählt. Ich hoffe,dass diese Wahl zu einer Stärkung der Demokratie in Af-ghanistan führen wird.Große Sorgen bereitet uns natürlich – auch darüberwird in L’Aquila gesprochen werden – die Situation inPakistan. Ohne eine vernünftige Entwicklung Pakistanswird es in Afghanistan nicht zu einer Beruhigung kom-men. Diese beiden Länder hängen, obwohl sie ganz un-terschiedlich sind, auf das Engste miteinander zusam-men. Die Europäische Union hatte mit dempakistanischen Präsidenten – der Bundesaußenministerund ich haben das noch einmal auf bilateraler Ebene ge-tan – gesprochen. Es ist unübersehbar, dass die Aufga-ben riesig sind und deshalb eine internationale Strategiedringend notwendig ist, die deutlich macht, wie wir mitPakistan umgehen.Der letzte Punkt wird der Nahostfriedensprozesssein. Hier sind wichtige Anregungen durch die KairoerRede von Präsident Obama sowie die Aktivitäten desBeauftragten Mitchell und des Nahostquartetts in derRegion gegeben worden. Ich glaube, es ist jetzt wichtig,dass alle Seiten Zugeständnisse machen. Dazu gehörendie Fragen des Siedlungsbaus. Es muss nach meiner fes-ten Überzeugung hier einen Stopp geben. Ansonstenwerden wir nicht zu einer Zweistaatenlösung kommen,die wir dringend brauchen: zu einem jüdischen Staat Is-rael und einem palästinensischen Staat, der in Sicherheitleben kann.
Der G-8-Gipfel wird eine Zwischenetappe im Hin-blick auf das G-20-Gipfeltreffen in Pittsburgh im Sep-tember und die Kopenhagen-Konferenz im Dezembersein. Ich habe das am Anfang dieses Jahres gesagt, undich sage das jetzt wieder: Aufgrund der Probleme, diewir haben, aufgrund des Zeitplans, den wir in Bezug aufdas Klimaabkommen haben, und durch die Tatsache,dass wir eine neue amerikanische Administration haben,die viele Themen neu und anders angeht, wird dies einentscheidendes Jahr für die Frage sein, ob die Welt amEnde dieses Jahres glaubt, dass wir global zusammenar-beiten können, dass Politik die Globalisierung gestaltenwill, oder ob wir eher Enttäuschung zurücklassen. Ichdarf Ihnen sagen: Die ganze Bundesregierung und auchich persönlich werden uns mit aller Kraft dafür einset-zen, dass dies ein erfolgreiches Jahr ist, damit Politikinsgesamt den Anspruch erheben kann, dass die Globali-sierung menschlich gestaltet wird.
– Sie sollten lieber Ihren Beitrag zu all dem leisten, HerrTrittin.
Der Gipfel findet in L’Aquila statt, weil die Regionvon einem schrecklichen Erdbeben erschüttert wurde. Esist inzwischen ein Ort des Wiederaufbaus und der Zuver-sicht. Wir wollen gerade an diesem Ort gute Ergebnisseerzielen. Ich will in diesem Zusammenhang noch einmaldarauf hinweisen, dass Deutschland beim Wiederauf-bau in diesem Erdbebengebiet hilft, auch in der StadtOnna, in der am 11. Juni 1944 die Wehrmacht17 unschuldige Zivilisten umgebracht hat. Nichts deutetbesser darauf hin, wie sich die Zeiten geändert haben, alsdie Tatsache, dass Deutschland jetzt hilft, diesen Ortwiederaufzubauen, auch die zerstörte Kirche. 90 Prozentder Gebäude dort sind zerstört. Jede Familie hat ein Op-fer zu beklagen. Ich glaube, wir zeigen damit die Solida-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25621
(C)
(D)
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkelrität, die heute auf der Welt notwendig ist, damit wir allebesser leben können.Herzlichen Dank.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält als Erster
der Kollege Dr. Guido Westerwelle für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Frau Bundeskanzlerin, Sie haben in Ihrer Regie-rungserklärung zu jedem Punkt der Tagesordnung, dieauf dem G-8-Gipfel in L’Aquila ansteht, etwas gesagt.Das soll auch so sein. Spannend ist aber, was gesagtwird, und vor allen Dingen, wozu nichts gesagt wird.Frau Bundeskanzlerin, Sie haben über die Notwendig-keit gesprochen, dass – das ist ein zentrales Anliegendeutscher Politik – die Bankenaufsicht, sprich: dieFinanzmarktaufsicht, stärker reguliert werden muss. Wirsind in der Tat in diesem Hause einer Meinung, dass esinternational entsprechende Regeln braucht, gerade fürFinanzen und Finanzströme. Aber wer international einebessere Finanzmarkt- und Bankenaufsicht fordert,muss sie erst einmal national – für uns: in Deutschland –hinbekommen.
Es ist jetzt die ich weiß nicht wievielte Regierungs-erklärung, die die Bundesregierung seit dem Ausbruchder Wirtschafts- und Finanzkrise zu dem Thema abgege-ben hat. In Ihrer Regierungserklärung vom 7. Oktober2008, im Herbst des letzten Jahres, haben Sie, Frau Bun-deskanzlerin, eine Neuregelung der nationalen Banken-aufsicht angemahnt und angekündigt. Bis heute bringenSie sie nicht zustande. Bis heute bleibt es bei der Zer-splitterung der nationalen Bankenaufsicht in Finanzmi-nisterium, BaFin und Bundesbank. Spannend bei sol-chen Regierungserklärungen ist, wozu Sie nichts sagen,weil Sie sich in Ihrer Regierung nicht mehr einigen kön-nen. Die nationale Bankenaufsicht muss neu geregeltwerden. Sie ist eine der Ursachen für das Versagen derKontrollmechanismen, das zur Krise geführt hat. Wer in-ternational mit Autorität auftreten will, der muss ersteinmal seine eigenen Hausaufgaben machen. Das habenSie, meine Damen und Herren von der Bundesregierung,nicht getan.
Seit Monaten wird das immer und immer wieder von Ih-nen angemahnt, aber nichts passiert.Nehmen wir den nächsten Bereich. Natürlich ist esrichtig, dass Sie, Frau Bundeskanzlerin, in Ihrer Regie-rungserklärung für Ihre Bundesregierung die Not-wendigkeit einer vernünftigen Klimapolitik unterstrei-chen. Es ist auch richtig – wir begrüßen das –, dass Siedas 2-Grad-Ziel in dieser Regierungserklärung noch ein-mal benannt haben. Worüber Sie wiederum nicht gespro-chen haben, ist das, worüber Sie nicht mehr sprechenkönnen, weil Sie sich auch darüber in dieser Regierungnicht einig sind, nämlich wie man eine bessere Klima-politik erreicht und welches die Instrumente sind, die Sieinternational anbieten und über die Sie verhandeln wol-len. Natürlich wollen wir auf mehr regenerative Ener-gien setzen – gar keine Frage –; aber wir brauchen ebenauch einen Energiemix. Die Instrumente einer besserenKlimapolitik liegen vor allen Dingen in der intelligentenEnergiepolitik.
Zur Energiepolitik sagen Sie in dieser Regierungserklä-rung nichts, aber auch gar nichts, weil Sie sich nicht ei-nig sind.Deswegen sagen wir hier: Sie müssen in Ihrer Regie-rung Klarheit schaffen. Was sagen Sie denn zur nuklea-ren Energiegewinnung? Alle anderen G-8-Staaten setzenim Interesse des Klimaschutzes auch auf die sichereKerntechnik.
Was sagen Sie, meine Damen und Herren von der Bun-desregierung, dazu?
Wir brauchen diese Überbrückungstechnologie. Es istam heutigen Tag wieder offensichtlich geworden, dassSie sich nicht einig sind. Wir sagen dazu: Was macht esfür einen Sinn, dass wir in Deutschland aus der moderns-ten und sichersten Kerntechnik, die es auf der Welt gibt,
aussteigen, um am Tag danach den Strom aus sehr vielunsichereren Kraftwerken aus dem Ausland einzukau-fen? Energiemix ist die beste Antwort auf den Klima-wandel.
Es ist übrigens sehr interessant, wie auch hier daraufreagiert wird. Das belegt meine These, dass Sie in Wahr-heit in Ihrer Regierung nicht mehr zur Einigkeit finden.Das hat man soeben in diesem Hause an der Reaktionbemerkt. Am heutigen Tage hat Ihnen Ihr eigener Um-weltminister in der Klimapolitik Widerstand entgegen-gesetzt.Frau Bundeskanzlerin, Sie haben etwas zum ThemaAbrüstung gesagt. Sie haben die Reise nach Washingtonzu guten und erfolgreichen Gesprächen genutzt, was unsfreut. Aber wer zur Abrüstungspolitik etwas sagt, dannjedoch beispielsweise die Initiative von PräsidentObama in Prag in seiner Regierungserklärung völlig aus-spart, der zeigt wiederum, dass zu wenig Einigkeit in derRegierung bei fundamentalen internationalen AnliegenDeutschlands herrscht.Die Frage ist: Was tun Sie denn jetzt zur Unterstüt-zung der Vision einer nuklearwaffenfreien Welt von Prä-
Metadaten/Kopzeile:
25622 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Dr. Guido Westerwellesident Obama? Ist das auch eine Vision der Bundesregie-rung? Was sagen Sie zur konventionellen und nuklearenAbrüstung? Ich würde gerne von der Bundeskanzlerin,wenn sie zu diesem Gipfel spricht, hören, dass sie Präsi-dent Obama nicht nur besucht, sondern ihn beim ThemaFrieden und Abrüstung auch nachdrücklich unter-stützt. Das hätten Sie, Frau Bundeskanzlerin, in IhrerRegierungserklärung sagen müssen.
Was werden Sie auf nationaler Ebene beispielsweisebezüglich der nuklearen Sprengköpfe, die noch inDeutschland lagern, tun? Wird das ein deutscher Beitragzur Abrüstung und zu Friedensinitiativen in der Weltsein? Werden Sie in Gespräche mit den Verbündeten ein-treten, um die letzten verbliebenen nuklearen Spreng-köpfe, die wir in Deutschland als Relikte des KaltenKrieges haben, abzuziehen? Auch dazu gibt es keine ge-meinsame Auffassung in der Regierung, und deswegenwird dazu hier auch nichts gesagt.Sie haben etwas zur Afrikapolitik gesagt. In der All-gemeinheit kann man dem nur zustimmen. Sie habenauch etwas zur Entwicklungshilfe gesagt. In der Allge-meinheit kann man Ihnen im Großen und Ganzen nur zu-stimmen. Aber Konkretes kommt auch dazu nicht.Warum nicht? Weil Sie in der Regierungskoalition wie-derum keine Einigkeit haben. Einfach nur zu sagen,Deutschland gebe im internationalen Vergleich daszweitmeiste Geld für Entwicklungshilfe aus, ist zu we-nig. Es geht nicht nur darum, wie viel Geld man für dieEntwicklungshilfe ausgibt, sondern auch darum, wo undbei wem es landet, ob es eine bessere Politik bewirkt, obes sich tatsächlich um eine humanitäre Hilfeleistunghandelt. Dass wir uns beispielsweise beim G-8-Gipfeltreffen und wir Deutsche G-20-Ländern, also Schwellen-ländern, die mit uns bei G-20-Treffen am Tisch sitzen,Entwicklungshilfe geben, ist keine vernünftige Entwick-lungspolitik.
Schließlich und letztens: Wenn man über die Wirt-schafts- und Finanzkrise redet und sich in diesem Hausedarüber auseinandersetzt, was bei dem G-8-Gipfel inL’Aquila besprochen wird, dann wäre es natürlich auchnotwendig, etwas zum nationalen Beitrag zur Wirt-schafts- und Finanzpolitik zu sagen. Dazu ist überhauptnichts gesagt worden. Wir meinen, die paar Konjunktur-pakete, die Sie verabschiedet haben, die oft genug amZiel vorbeischießen und mehr Steuergeldverschwendungals ein Schaffen von Arbeitsplätzen bedeuten, sind zuwenig. Sie sind auch für eine Regierungserklärung zuwenig. Dementsprechend bleibt es doch bei der Frage,was wir strukturell tun werden. Hillary Clinton hat alsAußenministerin einen bemerkenswerten Satz geprägt:Never miss a good crisis. Also: Verpasse niemals dieChancen der Krise. – Eine Krise ist immer schlimm. Daseinzig Gute an dieser Krise ist, dass uns der Problem-druck wenigstens dazu zwingen müsste, jetzt die struktu-rellen Veränderungen durchzusetzen, von denen wir inWahrheit seit vielen Jahren überzeugt sind, dass sie an-gepackt werden müssen. Das ist der eigentliche Punkt,den Sie völlig aussparen.Seit Wochen streitet sich die Republik darüber, wasaus dem deutschen Steuersystem wird. Es gibt einen of-fenkundigen Konflikt zwischen den Regierungsparteienund in der Bundesregierung. Nichts wird dazu gesagt.Was werden Sie denen, mit denen Sie jetzt am Verhand-lungstisch sitzen, zu dem Begehren der Bürgerinnen undBürger auf Entlastung bei den Steuerabgaben sagen?Welche Antwort werden Sie denen geben? Wird an demeinen Tisch die Kanzlerin den Teilnehmern des G-8-Treffens sagen: „Wir wollen die Steuerstrukturreform;das ist unser Angebot an die Völkergemeinschaft, umdie Weltwirtschaft zu stabilisieren“ – und am anderenTisch der Bundesaußenminister das glatte Gegenteilsagen? Dazu ist in dieser Regierung ebenfalls keineLinie vorhanden. Die Regierungserklärungen gehen imGrunde allgemein über die Probleme hinweg, weil Siesich im Konkreten nicht mehr einig sind.Wir als FDP bleiben der Überzeugung, dass ein fairesSteuersystem nicht die Belohnung für einen Auf-schwung, sondern die Voraussetzung für Wachstum,Wachstumskräfte, bessere Konjunktur und damit übri-gens auch für bessere und gesunde Staatsfinanzen ist.Das ist der eigentliche Zusammenhang, über den gespro-chen werden müsste.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, wir akzeptieren nicht, dass, obwohl wir mitt-lerweile im OECD-Vergleich eine unvergleichlich hoheBelastung in Form von Steuern und Abgaben für die Ar-beitseinkommen, und zwar die kleineren und mittlerenArbeitseinkommen, in Deutschland haben, dieses Themaausgespart wird. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen,dass Sie seit nun fast vier Jahren Bundeskanzlerin sind.Es ist die – jedenfalls geplant – letzte Regierungserklä-rung, die Sie in dieser Legislaturperiode in diesem Ho-hen Hause gehalten haben.
– Herr Kollege Kauder, ich habe ausdrücklich gesagt: indieser Legislaturperiode.
– Was ich Ihnen damit sagen will, ist geradezu offen-sichtlich, Herr Kollege Oppermann.
Da Sie es erbitten, kann ich es auch etwas deutlicher for-mulieren:
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben jetztelf Jahre lang im Finanzministerium Verantwortung ge-zeigt. Sie haben gezeigt, dass Sie es nicht können. Es istgut, dass Sie sich bald in der Opposition erholen werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25623
(C)
(D)
Dr. Guido WesterwelleFür jede Regel, die Sie in der Finanzpolitik beklagen, ha-ben Sie im Finanzministerium, das Sie in den letzten elfJahren sozialdemokratisch geführt haben, zu haften. Füralles, was fehlt, müssen Sie sich bei sich selbst beklagen.
Alles, was fehlt, haben Sie politisch zu verantworten.Ich möchte zum Schluss auf das eingehen, was wirk-lich notwendig ist und worum es aus unserer Sicht geht.Sie haben vier Jahre in der sogenannten Großen Koali-tion Regierungsverantwortung getragen. Wir stellen fest:Sie sind für die größte Steuererhöhung, die es in der Ge-schichte der Bundesrepublik Deutschland je gegebenhat, verantwortlich. Wir stellen fest: Noch nie hat eineRegierung so viele Schulden gemacht wie Ihre Regie-rung, und zwar in schlechten Tagen, aber auch in gutenTagen.Sie sagen, man dürfe in Deutschland nicht über dieVerhältnisse leben. Sie aber waren die Anführer einerPolitik, die dazu geführt hat, dass Deutschland überseine Verhältnisse lebt. Sie haben gesagt, Sie wollen in-vestieren, Sie wollen reformieren, Sie wollen sanieren.Von dieser Regierung bleibt vielleicht die Abwrackprä-mie übrig. Etwas anderes ist nicht zustande gekommen.Die Staatsfinanzen sind ruiniert. Die Steuern und Abga-ben sind hoch. Sie haben Ihre Aufgaben in diesen Jahrennicht erfüllt. Es wird Zeit, dass wir eine Regierung be-kommen, die gemeinsam in dieselbe Richtung denkt undsich nicht lähmt, weil sie sich in den meisten Fragennicht mehr einigen kann.Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Hans Eichel, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wenn man den Kollegen Westerwelle hört,meint man, die FDP sei niemals an Steuererhöhungenbeteiligt gewesen. Sie sind aber diejenige Partei, die inder gesamten Geschichte der Bundesrepublik am längs-ten mitregiert hat.
Sie sind die Partei, die die meisten Steuererhöhungen inder Geschichte der Bundesrepublik mitbeschlossen hat.Das ist die schlichte Wahrheit.
Übrigens: Am Ende Ihrer Koalition mit der Unionhatten wir einen Eingangssteuersatz von 25 Prozent.
Jetzt, am Ende dieser Legislaturperiode, liegt er – nachzwei Perioden Rot-Grün und einer Periode GroßerKoalition – bei 14 Prozent. Mit all dem hatten Sie nichtszu tun.
Als Sie die Regierung verlassen haben, hatten wir beider Einkommensteuer einen Spitzensteuersatz von53 Prozent. Jetzt liegt er bei 45 Prozent. Gott sei Dankwurden viele Ausnahmetatbestände beseitigt, damit die-jenigen, die hohe Steuersätze zahlen sollen, sie auchwirklich zahlen. Erst wir haben dafür gesorgt. Das warnicht in Ihrer Zeit. Deswegen, Herr Westerwelle, ist daslangsam unglaubwürdig. Es kann passieren, was will, obdie Konjunktur boomt oder in den Keller geht, Sie habennur eine Antwort und die lautet: Steuern runter.Und was die OECD betrifft – wenn Sie sich das ein-mal angesehen hätten, hätten Sie es festgestellt –: Essind nicht die Steuern, sondern die Sozialversicherungs-beiträge, die das Problem ausmachen. Ich gebe zu: Ichwäre vielleicht ein bisschen zurückhaltender gewesen,als es darum gegangen ist, den Arbeitslosenversiche-rungsbeitrag zu senken. Er ist von 6,5 Prozent auf2,8 Prozent reduziert worden. So niedrig war er in derGeschichte der Bundesrepublik seit Jahrzehnten nichtmehr. Mit dieser Bilanz der Großen Koalition haben Sienichts zu tun.
Es macht aber wenig Sinn, immer wieder auf dieseEinzelheiten einzugehen. Deswegen sage ich: Sehr ge-ehrte Frau Bundeskanzlerin, ich finde es sehr gut, dassdas Klimathema auf dieser Konferenz ein großes Themasein wird. So bitter die Finanzkrise ist und so lange wirdaran tragen werden: Die Klimakatastrophe ist ein vieltiefer gehendes Problem. Da gab es Gedankenlosigkei-ten. Zu meinen, wir könnten es uns wegen der Finanz-krise nicht leisten, auf die Klimakatastrophe zu reagie-ren, ist so falsch, wie etwas nur falsch sein kann.
Alle Maßnahmen, die in dieser Phase nicht ergriffenwerden können, müssen über Konjunkturprogramme an-geschoben werden. Das ist die Antwort.Zur Weltwirtschafts- und Weltfinanzkrise will ich nureine Bemerkung machen. Die Schwellenländer und dieärmsten Länder dieser Erde sehen es so, dass diese Kriseihren Ausgang in den Industriestaaten genommen hat– das trifft ja auch zu –, nämlich in den Vereinigten Staa-ten und in Europa. Wir sind auch am meisten betroffen.
Die großen Schwellenländer in Asien und Lateinamerikakommen möglicherweise – Gott sei Dank, kann man dasagen – besser durch diese Krise hindurch; nur die Aller-
Metadaten/Kopzeile:
25624 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Hans Eichelärmsten sind wieder richtig getroffen. Darauf muss eineAntwort gegeben werden, und zwar eine solidarische.Deswegen bin ich sehr froh über das, was Sie, FrauBundeskanzlerin, zu den Dialogforen gesagt haben. G 8hat für die Zukunft in der Tat nur noch so weit eine Be-rechtigung, wie die reichsten Länder dieser Erde, die In-dustrieländer, dort ihre besondere Verantwortung wahr-nehmen. Aber G 8 ist nicht mehr das Format, in dem dieglobalen Themen, mit denen wir es zu tun haben, be-sprochen und gelöst werden können.
Deswegen ist das Zukunftsformat G 20 und nicht ir-gendetwas zwischen G 8 und G 20. Denn irgendetwasdazwischen lässt die ganze islamische Welt außen vor,was nicht angeht, auch wenn sie wirtschaftlich vielleichtnoch nicht so bedeutend ist.Meine sehr verehrten Damen und Herren, das istmeine letzte Rede im Deutschen Bundestag. GestattenSie mir ein paar wenige persönliche Bemerkungen.Wenn man über vier Jahrzehnte politische Mandateausgeübt hat, muss man sich natürlich irgendwann ent-scheiden, zu sagen: Es müssen Jüngere ran. Das wirdhier geschehen. Aber man wird kein unpolitischerMensch. Das ist nach einer so langen Zeit nicht möglich.Ich werde mich weiter ziemlich intensiv auch mitGrundsatzfragen der Politik in der Evangelischen Aka-demie Tutzing und bei Stiftungen beschäftigen. Diesespolitische Leben hat mir unglaublich viele Chancen ge-geben, Einblicke zu nehmen und Einsichten über das zugewinnen, was im internationalen, im globalen Bereichpassiert. Das muss man auch ein Stückchen weitergeben.Die Bemerkungen, die ich jetzt machen will, sind kri-tisch. Verstehen Sie das bitte gleichzeitig immer auch alsselbstkritisch; alles andere wäre nicht in Ordnung.Wir haben die schlimmste Finanz- und Wirtschafts-krise seit 80 Jahren. In dieser leben wir. Ich weiß nochsehr gut, dass uns gesagt wurde – die Zeiten habe ich alsFinanzminister erlebt –: Was heißt hier „Staaten“? DieFinanzmärkte werden euch raten; Ratingagenturen wer-den den Staaten Noten erteilen. – Meine Damen undHerren, wo hat das geendet? In einem völligen Desasterebendieser Märkte und zum Beispiel ebendieser Rating-agenturen!
Das ist die schlichte Wahrheit.
Wir in diesem Hause haben unglaubliche Mittel, Steu-ermittel der Bürger, einsetzen müssen. Das geschah nicht,um die Finanzmarktakteure zu retten. Aber funktionie-rende Finanzmärkte sind die Voraussetzung dafür, dassdie Wirtschaft überhaupt funktioniert. Das war der ein-zige Grund, mit dem man das rechtfertigen konnte.Wir haben aber auch erlebt: Wir sind handlungsfähig.Das war ein gutes Erlebnis. Nur: Es darf dabei nicht blei-ben. Ich bin sehr froh über das, was Sie, Frau Bundes-kanzlerin, zum Thema „Staat und Markt“ gesagt haben.Es gibt nach dieser Krise kein „Weiter so!“. Man hatschon wieder den Eindruck, als ob insbesondere dieFinanzmarktakteure glauben, die nächste Party könnebeginnen.
Das darf nicht passieren.
Ein Riesenproblem ist, Einigkeit zu erzielen, zumBeispiel in der Europäischen Union. Ich weiß, wovonich rede. Da wird die Frage gestellt: Was habt ihr dennversucht, um Regulierungen zu erreichen? Wir wissenganz genau, wie es im Fall der Entwicklung der City ofLondon und über ganz lange Zeit auch – ich freue michüber den Wechsel in den Vereinigten Staaten – der WallStreet gewesen ist.Die Schulden, die wir gemacht haben, müssen bezahltwerden. Es ist wunderbar, wenn Parteien trotz diesesSchuldenbergs versprechen – er beläuft sich in dernächsten Wahlperiode auf etwa 400 bis 500 MilliardenEuro –, keine Steuern zu erhöhen. Es ist noch viel schö-ner, wenn versprochen wird, die Steuern zu senken.Glauben tun das die Bürger nicht, und sie haben rechtdamit.
Sie ahnen sehr genau, dass die Rechnung bezahlt werdenmuss. Die entscheidende Frage wird sein, wer sie be-zahlt.
– Herr Kollege Kauder, in dem Paket sind für dasnächste Jahr Steuersenkungen von 28 Milliarden Eurovorgesehen. Das muss man gelegentlich auch einmal sa-gen.
Mehr, Herr Kauder, ist wirklich nicht zu machen. Daswissen auch alle Beteiligten.Das, worüber ich mir – genau wie Sie alle – nach mei-nem Ausscheiden aus dem Bundestag die meisten Sor-gen machen werde, ist der unglaubliche Vertrauensver-lust, den wir als Politiker in der Bevölkerung erlittenhaben.
Wir alle sind – das sage ich ganz kritisch und auchselbstkritisch – an dem Vertrauensverlust, den wir erlit-ten haben, selbst schuld. Darauf gibt es nur eine Ant-wort: Wir sollten den Bürgern mehr zutrauen. Wir soll-ten ihnen zutrauen, die Wahrheit auszuhalten, die zum
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25625
(C)
(D)
Hans EichelBeispiel nach dieser Krise heißt, dass diese Krise auchbezahlt werden muss. Mit solchen Sprüchen wie denenvon Herrn Westerwelle ist der Krise nicht zu begegnen.
Wenn wir den Bürgern mehr zutrauen, dann heißt dasauch: Wir müssen uns mehr zutrauen. Der nächste Bun-destag wird nicht nur darüber zu entscheiden haben, wiedie Krise bezahlt wird, sondern auch darüber, wer sie be-zahlt. Da kann ich nur noch eines sagen: Sorgen Sie bittedafür, dass der soziale Zusammenhalt in diesem Landenicht verloren geht!
Das wird eine ganz entscheidende Bewährungsprobe fürden Deutschen Bundestag und für uns alle in der Politiksein.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bedankemich sehr für die viele schöne kollegiale Zusammen-arbeit. Selbstverständlich hat es auch viel Streit gegeben,und es hat ebenso Verletzungen gegeben. Aber alles inallem muss ich sagen: Es hat auch viel freundschaftlicheZusammenarbeit und Wertschätzung über Parteigrenzenhinweg gegeben. Dafür bedanke ich mich herzlich. Ichwünsche allen, die in der aktiven Politik bleiben, allesGute für die schwere Arbeit, die vor ihnen liegt.
Lieber Kollege Eichel, ich möchte Ihnen im Namen
des ganzen Hauses für den großen persönlichen Einsatz
herzlich danken, den Sie über etwa vier Jahrzehnte in
vielen herausragenden öffentlichen Ämtern auf kommu-
naler Ebene, auf Landesebene und im Deutschen Bun-
destag, in der Bundespolitik geleistet haben, verbunden
mit allen guten Wünschen für Ihre persönliche Zukunft.
Nächster Redner ist der Kollege Oskar Lafontaine,
Fraktion Die Linke.
Herr Kollege Eichel, auch ich darf Ihnen viel Glückfür Ihre Zukunft wünschen. Als Ihr Nachfolger – in derRednerliste natürlich – möchte ich dies besonders beto-nen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Die Bundeskanzlerin hat eine Regierungserklärungzu den Themen des G-8-Gipfels abgegeben. Sie hat zehnThemen oder mehr angesprochen. Ich kann mich ausZeitgründen nur einem Thema zuwenden, der Finanz-krise.Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklä-rung den Satz wiederholt, man habe im internationalenRahmen eine klare Verpflichtung für eine neue Finanz-marktverfassung auf den Weg gebracht. Ich möchtebetonen, dass solche Erklärungen seit mindestens20 Jahren auf internationaler Ebene abgegeben werden.Die Frage ist also nicht, ob heute wieder solche Erklä-rungen abgegeben werden, sondern die Frage muss lau-ten: Was soll konkret wann und wo geschehen? Dazu ha-ben wir leider überhaupt nichts gehört.
Ich möchte drei Quellen zitieren, um das zu beleuch-ten. Die erste Quelle ist der Präsident des BDI. Er sagt:Ich fürchte, dass auf den globalen Finanzmärktendas Kasino schon wieder eröffnet wird.Ich will es präzisieren: Es ist bereits wieder eröffnet. Dasist das große Problem unserer Zeit.
Das Kasino läuft ohne jede Einschränkung weiter.Die zweite Quelle ist ein Artikel des Spiegel von die-ser Woche, in dem es schlicht und einfach heißt:Die Notenbanken teilen den Kreditinstituten Re-kordsummen zu, doch die geben die Milliardennicht weiter. Der Wirtschaft droht eine Kredit-klemme – während die Banken mit dem Geld glän-zende Geschäfte machen.Es wäre doch das Mindeste gewesen, dass die Bundes-kanzlerin auf diesen Sachverhalt eingeht und einmalVorschläge macht, wie die Kreditklemme überwundenwerden kann.
Es ist doch kaum zumutbar, wenn Allgemeinplätze inSerie abgelassen werden, ohne dass die drängendstenProbleme unserer Zeit auch nur angedeutet, geschweigedenn irgendwelche Lösungsansätze hierfür vorgetragenwerden.Meine letzte Quelle ist ein Kommentar in der Süd-deutschen Zeitung zu den Regulierungsmaßnahmen inden USA:Minister Geithner verzichtet darauf, die Zahl derRegulierungsbehörden in den USA zu reduzieren.Es bleibt bei dem schädlichen Wirrwarr. Viele Ban-ken hatten die unzähligen Lücken im System meis-terhaft genutzt und missbraucht.Wenn Sie jetzt auf europäischer Ebene neue Behördenschaffen, besteht die Gefahr, dass dieses Urteil auch invollem Umfang auf die Regulierungsvorschläge der EUzutrifft. Viele Behörden garantieren eben nicht automa-tisch eine Regulierung. Sie schaffen eher Wirrwarr, unddamit wird den Banken die Möglichkeit gegeben, wei-terhin das System zu unterlaufen.
Metadaten/Kopzeile:
25626 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Oskar LafontaineMeine Damen und Herren, ich hätte erwartet, dass dieBundeskanzlerin wenigstens einen Vorschlag macht, wiedenn international für Regulierung gesorgt werden soll –wenigstens einen einzigen. Leider haben wir keinen ge-hört. Deshalb möchte ich drei Vorschläge, die es auf in-ternationaler Ebene gibt, noch einmal in Erinnerung ru-fen:Erstens. Wir sind der Überzeugung, dass eine Wech-selkursstabilisierung stattfinden muss. Es gibt derzeitauch Wechselkurskrisen; über diese wird viel zu weniggeredet. Es ist nötig, Bandbreiten insbesondere zwischenden Leitwährungen festzulegen. Es wäre eine interes-sante Frage, wie sich die Bundesregierung zu diesem in-ternational seit vielen Jahren gemachten Vorschlag stellt.Zweitens. Wir brauchen eine Regulierung des Kapi-talverkehrs. Wer wissen will, wie das geht, möge sichdie Regulierung der 80er-Jahre ansehen. Da gab es einenregulierten Kapitalverkehr. Oder er nehme die unge-zählten Stellungnahmen auch von Leuten, die von derDeregulierung profitiert haben, zur Kenntnis, zum Bei-spiel von Herrn Soros, und äußere sich dann dazu, inwelcher Form er den internationalen Kapitalverkehr re-gulieren will. Wer dazu aber keinen einzigen Vorschlagbringt, ist nicht in der Lage, eine sachgemäße Antwortauf die gegenwärtige Krise zu geben.
Drittens. Wenn es nicht gelingt, die wichtigsten Leit-währungen über diese Regulierungen in ein vernünftigesVerhältnis zueinander zu bringen, dann muss man aufden Vorschlag der Sonderziehungsrechte zurückgreifen,also auf den Vorschlag, den US-Dollar durch eine andereLeitwährung zu ersetzen. Es würde mich interessieren,ob die Regierung solche Vorschläge überhaupt einmalzur Kenntnis genommen und darüber diskutiert hat und,wenn ja, welche Stellung sie dazu bezieht. Ich stelle hieraber fest, dass es zwar das hehre Bekenntnis gibt, auf in-ternationaler Ebene irgendetwas zum Besten zu wenden,aber kein einziger Vorschlag gemacht wurde, wie dasdenn geschehen könnte. Die Bundesregierung hat inter-national völlig versagt.
Nun kommen wir zur Regulierung auf nationalerEbene. Es ist ja das übliche Spiel, dass man, wenn mannational nichts zustande bringt, auf die internationaleEbene ausweicht. Ich habe hier aus dem Spiegel-Artikelden Satz „Die Notenbanken teilen den KreditinstitutenRekordsummen zu“ erwähnt. Davon kommt aber nichtsbzw. – ich muss mich präzisieren – viel zu wenig beimMittelstand an. Man muss doch sagen, was man ange-sichts dessen tun will. Unsere Antwort ist klar: Wie nachder großen Depression in den Vereinigten Staaten undwie nach der Krise in Schweden ist jetzt eine staatlicheKontrolle des Bankensektors dringend notwendig, sonstbekommt man die Krise in Deutschland nicht in denGriff. Auch die Kreditklemme wird man sonst nicht inden Griff bekommen.
Es sind nämlich immer noch Risiken in einem Ausmaßin den Bilanzen, dass ein ordentliches Geschäft über-haupt nicht möglich ist. Die Analyse des Spiegel, alsonicht die der Fraktion der Linken, sagt ja alles: DasGeld, das die Notenbanken ausgeben, kommt schlichtund einfach nicht in der Realwirtschaft an. Es wäre jetztaber nicht nur wichtig, die Banken zu stabilisieren, son-dern noch viel wichtiger wäre es, die Realwirtschaft zustabilisieren. Wenn Sie nicht dafür sorgen, dass das Geldauch bei dieser ankommt, versagen Sie auch in diesemPunkt, meine Damen und Herren.
Es wäre schön, wenn Sie sich dazu durchringen könn-ten und es gelingen würde, die Banken in staatliche Re-gie zu übernehmen. Selbst Professor Sinn – er ist dochIhr Hauptratgeber – schlägt Ihnen das vor; dafür könnteman ihm auf Knien danken. Es wäre jetzt an der Zeit,dass Sie darüber nachdenken. Sie könnten einfach ein-mal experimentelle Ansätze nutzen und den schwedi-schen Weg einschlagen; die Schweden haben das jahinbekommen. Aber Sie lassen weiterhin eine Bank– ich muss das immer wieder betonen –, die Sie mit18 Milliarden Euro unterstützen und am Leben erhalten,krumme und sogar kriminelle Geschäfte machen. Damitist schon an diesem einen Fall der Commerzbank bewie-sen, dass Sie völlig ungeeignet sind, die Krise in denGriff zu bekommen oder gar zu lösen.
Ich möchte noch einmal wiederholen, welche Regu-lierungen auf nationaler Ebene notwendig sind – eskönnte ja sein, dass irgendjemand doch einmal dazuStellung nimmt –:Erstens. Wir müssen die kriminellen Geschäfte mitSteueroasen unterbinden. Das ist national regelbar, unddas ist auch überhaupt kein Problem. Man muss solcheGeschäfte mit Strafe belegen. Warum sagen Sie dazunichts? Warum reden Sie nur wolkig über die Köpfe derMenschen hinweg? Es wird weiterhin Geld in Steuer-oasen verschoben, und es werden weiterhin kriminelleGeschäfte gemacht. Sie sind die Hehlerin bzw. der Heh-ler dieser Geschäfte. Sie sollten sich endlich dieser Fragestellen.
Zweitens. Es werden weiterhin Geschäfte außerhalbder Bilanz getätigt, weil die entsprechende nationaleRegulierung fehlt. Auch hier möchte ich daran erinnern:Da man in der Lage war, die Zweckgesellschaften natio-nal zu erlauben, ist man auch in der Lage, sie nationalwieder zu untersagen.
Das Mindeste, was hier geschehen müsste, wäre, Klar-heit in den Bilanzen zu schaffen.Drittens. Es ist ja abenteuerlich: Wir haben mittler-weile sehr viel über die Giftpapiere gehört, und das isteigentlich eine harmlose Umschreibung. Es hört sich soan, als wäre lediglich ein Gift in den Bankensektor ge-flossen. Nein, es sind vielmehr Konstrukte, die Verant-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25627
(C)
(D)
Oskar Lafontainewortlichkeiten zuweisen. Aber dass diese Giftpapiereauch heutzutage noch einfach so mir nichts, dir nichtsüberall gehandelt werden, ist kaum zu glauben. SelbstBanken, die zu 100 Prozent in Bundesbesitz sind, han-deln weiterhin mit verbrieften Krediten. Diese Bankeninteressiert es überhaupt nicht, was Sie hier erzählen. Siehandeln einfach weiter mit diesen Giftpapieren. Ich for-dere hier für meine Fraktion, den Handel mit solchenSchrott- bzw. Giftpapieren zu untersagen.
Ich komme viertens zur Regulierung der Hedge-fonds. Diesen Punkt hat die Kanzlerin immerhin allge-mein angesprochen. Hier wüssten wir gerne konkret, wiedies aussehen soll. Da geht es in erster Linie um die un-geheure Hebelwirkung und die daraus resultierendenFolgen. Hierzu muss man eine Regulierung konkret vor-schlagen und hier in der Bundesrepublik anfangen. Sokann es doch nicht weitergehen, weil das Wirken derHedgefonds letztendlich zum Verlust von vielen Arbeits-plätzen führt, um einmal den Zusammenhang an dieserStelle deutlich zu machen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, aus Zeit-gründen möchte ich einen weiteren Punkt nur kurz an-sprechen: Hier wird des Öfteren der Klimawandel ange-führt. Auch dieser hat etwas mit der Finanzkrise zu tun.Denn das Stichwort Deregulierung hat auch etwas mitder Frage, wie international gewirtschaftet worden ist, zutun. Ich möchte es noch deutlicher sagen: Solange25 Prozent Rendite die Ziele der Akteure auf den Fi-nanzmärkten sind, ist eine nachhaltige CO2-Reduzierungbis 2050 eine pure Illusion.
Solche Renditeziele zwingen dazu, die Kosten zu ex-ternalisieren, wie es so schön im Fachchinesisch heißt.Sie zwingen dazu, den Umweltschutz zu vernachlässi-gen, weil der Umweltschutz als lästiger Kostenfaktor be-trachtet wird. Deshalb ist eine Umkehr bei den interna-tionalen Renditevorgaben Voraussetzung, wenn man einnachhaltiges Wirtschaften in Angriff nehmen will.
Es ist interessant, dass bei solchen Regierungserklä-rungen immer wieder gesagt wird: Wir wollen alles tun,damit sich eine solche Krise nie wieder wiederholt. –Diesen Satz habe ich auch von der Kanzlerin, die übri-gens weg ist, gehört. Ich möchte wissen, was sie damitbezweckt
und wem sie damit imponieren will. Ich möchte es hiereinmal sagen, Herr Präsident: Wenn ein Regierungschefauf kommunaler, Landes- oder Bundesebene eine Erklä-rung abgibt, dann ist es parlamentarische Gepflogenheit,dass er sich auch die Ausführungen der Opposition dazuanhört. Wer dies nicht tut, verrät schlicht und einfach,dass er parlamentarische Gepflogenheiten nicht kennt.
– Ich weiß nicht, wo ich die Frau Bundeskanzlerin su-chen soll.
Sie äußert so oft, dass Deutschland gestärkt aus derKrise hervorgehen wird. Ich wünsche mir, dass Sie inso-weit gestärkt aus der Krise hervorgehen, dass Sie sichkritische Reden anhören können. Das wäre die Mindest-voraussetzung für eine Kanzlerin, damit sie gestärkt ausder Krise hervorgehen kann.
Wir haben in den letzten Jahren vor allem eines fest-gestellt: Verantwortungsloses Handeln nicht nur im Ban-kensektor, sondern auch in der Realwirtschaft hat immermehr Arbeitsplätze zerstört. Ich erinnere an die Fälle, diein aller Munde sind, in denen mit dem Industrievermö-gen spekuliert worden ist: Schaeffler, Porsche, Merckle –auch tragische Fälle sollen hier genannt werden.Unsere Antwort auf diese Krise ist die, dass die Be-legschaften in Zukunft stärker an all diesen Entscheidun-gen beteiligt werden müssen. Denn wir sind von einemzutiefst überzeugt: Einzelne, die ein Milliardenvermö-gen ihr Eigen nennen, werden es auch in Zukunft nichtunterlassen, weiter zu spekulieren, sondern nur die Ge-samtbelegschaft, die haftet und um die Existenz ihrerArbeitsplätze fürchtet, wird solche unverantwortlichenSpekulationen verhindern. Das ist für uns die entschei-dende Antwort auf die Finanzkrise.
Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen: DieFrage ist zunächst einmal, ob wir zu regulieren bereitsind. Ich stelle hier fest, dass ich von der Bundeskanzle-rin keinen einzigen Regulierungsvorschlag gehört habe.Sie hat sich damit das denkbar schlechteste Zeugnis aus-gestellt.Die zweite Frage ist: Wer soll eigentlich die Zechefür die Krise zahlen? Ich muss anerkennen, dassWesterwelle immerhin etwas vorsichtiger geworden ist.Er redet jetzt von einem fairen Steuersystem.
Ich weiß nicht, ob Sie die Akzentverschiebung bemerkthaben. Er hat anscheinend erkannt, dass Steuersenkungs-versprechen in der jetzigen Situation mehr oder wenigeralbern und lächerlich sind.Die entscheidende Frage ist aber die: Wer soll die Ze-che für diese Krise zahlen? Alles, was wir gehört haben– zum Beispiel in Sachen Mehrwertsteuer –, deutet da-
Metadaten/Kopzeile:
25628 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Oskar Lafontainerauf hin, dass Sie wie bisher weitermachen wollen. Dieswird die entscheidende Auseinandersetzung der kom-menden Monate sein. Es darf nicht sein, dass Arbeitneh-mer, Rentner und sozial Bedürftige die Zeche für diesesverantwortungslose Handeln zahlen müssen.
Nächster Redner ist der Kollege Laurenz Meyer,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieDebatte, die wir heute führen, findet an einem Wende-punkt dieser Krise statt. Wir sind allgemein der Mei-nung, dass wir einen gewissen Tiefpunkt erreicht haben.Jetzt geht es darum, einen Weg aus der Krise zu findenund langfristig die Weichen dafür zu stellen – auch inter-national –, dass es zu einer solchen Krise nicht wiederkommt.Ich will zu Beginn zwei Argumente aufgreifen, diehier schon vorgetragen wurden. Herr Westerwelle, eswar ein bisschen kurz gesprungen und unnötig, wie Siesich in Ihrer Rede dazu geäußert haben, was wir für diedeutsche Wirtschaft gemacht haben. Dass wir so gut da-stehen – auch international, wie sich jetzt zeigt –, hatwesentlich damit zu tun, dass die deutschen Unterneh-men sowohl durch die Unternehmensteuerreform alsauch durch die Senkung der Sozialabgaben in einer her-vorragenden Ausgangslage sind. Insbesondere die gutenWachstumsraten, die wir in den letzten Jahren gehabt ha-ben, haben zu einer verbesserten Eigenkapitalquote ge-führt. Aus all diesen Gründen können sich die deutschenUnternehmen in dieser Krise verantwortungsvoll verhal-ten. Diesen Unternehmen, insbesondere den mittelstän-dischen Unternehmen, muss man dafür danken – ich tuedies im Namen meiner Fraktion –, dass sie sich für ihreMitarbeiter und deren Familien auf solch verantwor-tungsvolle Weise einsetzen. Dass von der Kurzarbeit sogroßer Gebrauch gemacht wird, hätte man eigentlichnicht erwarten können.
Ich will ganz klar sagen, dass wir diesen Weg weiter-gehen müssen. Wir haben bestimmte Punkte in dieserKoalition eben nicht so umsetzen können, wie wir woll-ten. Ich nenne die Stichworte Wagniskapital, For-schungsförderung und all das, was damit zusammen-hängt. Angesichts der schwierigen Situation, in derIndustrieprodukte und Industrieexporte besonders be-troffen sind, bekennen wir uns klipp und klar zum Indus-trieland Deutschland.Lassen Sie mich einen Punkt aufgreifen, der in denvergangenen Tagen eine große Rolle gespielt hat und si-cherlich in den kommenden Wochen noch eine großeRolle spielen wird. Ich sage an die Adresse der Bankenin unserem Land, insbesondere an die Adresse der Ban-ken, denen wir mit einem Schutzschirm geholfen habenoder die in kommunaler Obhut sind: Wer in dieser Lagestärker auf Wertpapiere setzt und ein „Weiter so!“ propa-giert, aber nicht in erster Linie die Verantwortung für dieKreditversorgung von Unternehmen, insbesondere dievon kleinen und mittleren Unternehmen, übernimmt, derhat seine Aufgabe nicht richtig verstanden. Dagegenmüssen wir angehen.
Herr Eichel, Sie haben sich zu den Themen Steuernund sozialer Zusammenhalt geäußert. Es ist richtig,dass der soziale Zusammenhalt gerade in einer solchenSituation von enormer Bedeutung ist. Aber mit Blick aufSteuermaßnahmen in der nächsten Legislaturperiodesage ich: Hier ist ein Stück weit das Gerechtigkeitsge-fühl der Menschen betroffen. Der normale Arbeitnehmerin unserem Land, der Facharbeiter, die Krankenschwes-ter und der Handwerker, hat das Gefühl, dass wir unsschwerpunktmäßig zu viel mit denen beschäftigen, dieTransferleistungen empfangen, und zu wenig mit denen,die den Karren aus dem Dreck ziehen sollen. SteuerlicheMaßnahmen müssen durchgeführt werden, um auchdeutlich zu machen, dass diese Menschen im Mittel-punkt der Politik in der nächsten Legislaturperiode ste-hen.
Verehrte Frau Bundeskanzlerin, Sie haben vor zweiJahren in Heiligendamm die Themen Klimapolitik undFinanzmärkte angesprochen. Vielleicht war es noch zufrüh dafür; auf jeden Fall waren die Vereinigten Staatenund Großbritannien noch nicht in der Lage, auf dieseThemen adäquat einzugehen. Diese Themen stehen jetztwieder bzw. immer noch an. Ich bin sicher, dass es gutist – Sie haben das angesprochen –, wenn über die Re-geln der sozialen Marktwirtschaft, über die PrinzipienFreiheit, Wettbewerb, Leistung, Verantwortung und ins-besondere Nachhaltigkeit international stärker diskutiertwird. Gerade die Nachhaltigkeit wird eine große Rollespielen. Gegen dieses Prinzip hat man sich in der Ver-gangenheit versündigt. Die Beschleunigung der Pro-zesse, die durch Entwicklungen im Medienbereich ver-stärkt wurde, hat sicher dazu geführt, dass in einersolchen Art und Weise kurzfristig optimiert wurde, dassdas Ganze langfristig Schaden nehmen musste.Deswegen sind insbesondere die Gedanken, die dieBundeskanzlerin nach meinem Eindruck als Einzige indieser Form vorgetragen hat, wichtig und zu beachten:Was passiert eigentlich gegen Ende der Programme, diejetzt weltweit laufen? Wir müssen aufpassen, dass amEnde der Programme keine neuen Einbrüche stehen. Wirmüssen aufpassen – das wissen insbesondere diejenigen,die sich mit der Philosophie und der Wirtschaftstheorievon Keynes beschäftigt haben –, dass am Ende nichtwieder solche Kanten entstehen, wie wir sie jetzt hatten.Letztlich war der Auslöser für die jetzige Krise ein gi-gantisches Konjunkturprogramm in den USA, wie wir esaus der Geschichte nicht gekannt haben. Deswegen müs-sen jetzt die Weichen für einen gleitenden Übergang ge-stellt werden. Es müssen die Weichen für offene Welt-märkte – Stichwort: Doha-Runde – gestellt werden, unddie Weichen müssen so gestellt werden, dass insbeson-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25629
(C)
(D)
Laurenz Meyer
dere beim Klimaschutz am Ende des Jahres verbindli-che Ergebnisse herauskommen.Wir begrüßen es sehr, dass in den Vereinigten Staatenein Umdenken – ich sage das ganz bewusst – begonnenhat; denn wenn die Vereinigten Staaten nicht deutlichumsteuern, wird man die übrigen Länder, insbesonderedie Schwellenländer, nicht dazu bewegen können, mit-zuziehen. Das heißt, wenn die G-8-Staaten nicht zuwirklich verbindlichen Ergebnissen kommen, werdendie Schwellen- und Entwicklungsländer ganz bestimmtnicht bereit sein, den Prozess zu unterstützen. Ich sageaber auch ganz klar – das gilt für Deutschland wie fürEuropa –: Bei den Abmachungen muss es sich um welt-weit verbindliche und kontrollierbare Vereinbarungenhandeln. Ich befürchte, dass die große Zustimmung inunserer Bevölkerung zu den Klimazielen der Regierungsehr schnell umschlagen könnte, wenn man den Ein-druck hätte, dass Deutschland alleine vorwegmarschiere,man die Ziele ohnehin nicht erreichen könne und manzusätzlich erhebliche Wettbewerbsnachteile und Belas-tungen in Kauf nehmen müsse. Dann hätten wir diesel-ben an der Spitze der Bewegung gegen diese Ziele, diedas Erreichen dieser Ziele vorher lautstark eingeforderthaben. Wir haben das im letzten Jahr bei den nachwach-senden Rohstoffen deutlich erleben können.
– Was sagten Sie gerade? Frau Höhn, es hat mich ge-freut, dass Sie sich wieder einmal zu Wort gemeldet ha-ben.
Es besteht offenkundig ein wechselseitiges Interesse
an dem Stellen und der Beantwortung einer Zwischen-
frage.
– Frau Kollegin Höhn, Sie haben das Wort.
Herr Meyer, Sie haben wiederholt gesagt, dass Kli-
maschutz Arbeitsplätzen entgegensteht und dass man
in Sachen Klimaschutz zurückstecken muss, weil Ar-
beitsplätze gefährdet sind. Warum können Sie nicht end-
lich einsehen, dass Klimaschutz Arbeitsplätze schafft,
dass sogar Wirtschaftsvertreter zunehmend sagen, dass
sie Millionen von Arbeitsplätzen im Umweltbereich
schaffen können? Warum sehen Sie nicht die Chancen,
sondern betonen immer vor allen Dingen die Risiken des
Klimaschutzes? Ich muss ehrlich sagen: Das kann ich
nicht verstehen. Sie müssten es eigentlich besser wissen.
Verehrte Frau Höhn, wahrscheinlich handelt es sichum ein akustisches Problem; denn ein intellektuellesProblem mag ich Ihnen ungern unterstellen. Ich habe dasüberhaupt nicht gesagt.
Ich habe allerdings gesagt – ich glaube, auch das ist seitAdam Riese ziemlich bekannt –, dass man jeden Euronur einmal ausgeben kann.
– Bei Adam Riese gab es noch den Taler; aber das ist in-zwischen unser Euro. – Diese Tatsache dürfen wir nichtvernachlässigen. Das heißt, wenn der Staat und die Bür-ger in die Bereiche des Klimaschutzes investieren, dannkönnen sie das, was sie ausgegeben haben, nicht für et-was anderes ausgeben. Hier findet also eine Verlagerungvon Arbeitsplätzen statt – diese halten wir für sinnvoll –hin zu den neuen Bereichen, die wir in großem Maßeund nachhaltig unterstützen. Natürlich fallen in den an-deren Bereichen aufgrund ausfallender Nachfrage Ar-beitsplätze weg; das darf man nicht unterschlagen.
Wenn wir das machen sollen und wenn das zum Errei-chen der Klimaziele sinnvoll ist – dieser Meinung sindwir –, dann muss es international geschehen, und zwarinternational verbindlich. Es hat keinen Sinn, Klimazielenational erreichen zu wollen. Wer das behauptet, streutden Menschen Sand in die Augen oder möchte irgend-welche Ideologien vertreten, aber nicht Klimaziele errei-chen. Wir brauchen eine international verbindliche undkontrollierbare Umsetzung der Klimaziele, und zwarweltweit.
Ich bin ganz sicher, dass wir nur dann, wenn dieGrundvoraussetzungen – neue Strukturen und mehrTransparenz an den Finanzmärkten, kontrollierbare Pro-dukte und Aufsichtsbehörden auch auf der internationa-len, auf der europäischen Ebene – jetzt umgesetzt wer-den und wenn wir bei der Erreichung der Klimazielewesentlich vorankommen, mit unseren Stärken als In-dustrieland wieder eine Chance haben. In der nächstenLegislaturperiode müssen wir dafür Folgendes tun: Wirmüssen Investitionen in Innovationen und in Bildungvornehmen, und wir müssen die Arbeitnehmer unterstüt-zen durch eine Aufwertung und eine Richtigstellung ih-rer Wichtigkeit als diejenigen, die den Karren bei unsziehen und die Leistungen erbringen, damit unser So-zialstaat insgesamt auch in Zukunft funktionsfähig seinkann.Das alles liegt vor uns. Wer hier ein „Weiter so!“ pro-pagiert, dem werden wir entschieden entgegentreten, seies auf nationaler Ebene – ich habe eben den Bankenbe-reich genannt, wo gewisse Tendenzen erkennbar sind –,sei es auf internationaler Ebene. Deswegen wünschenwir der Bundeskanzlerin, dass sie die Kraft hat, das, wassie über zwei Jahre intensiv vertreten hat, bei den kom-menden Konferenzen – beginnend in der kommendenWoche in Italien – umzusetzen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Metadaten/Kopzeile:
25630 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Renate Künast ist die nächste Rednerin für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun-deskanzlerin – –
– Danke für den Hinweis; wenn sie ihren Stuhl jetztschon freiwillig räumt, ist man ja froh, festzustellen, wosie überhaupt ist.
Es wäre auch schön, wenn sie von dort aus zuhörenwürde, statt die Interna der CDU/CSU zu besprechen.
– Wie Herr Kollege Westerwelle sagt: In der erstenRunde gehört es sich so.Frau Merkel hat von einem entscheidenden Jahr ge-sprochen. Sie hat jedoch zu jedem Punkt in ihrer Rede inder Art eines überfliegenden Bundesadlers gesprochen.Ich sage aber ganz klar: Frau Merkel, es reicht nicht, alsNaturwissenschaftlerin die Welt mit ihren Naturgesetz-mäßigkeiten jetzt einfach zu beschreiben und dann zu sa-gen, dieses Jahr sei wichtig. Jeder Tag ist wichtig, FrauMerkel, und noch wichtiger ist, dass man selber eineRichtung und ein Ziel vor Augen hat und dass man dannentsprechend führt. Das tun Sie nicht. Das haben Sie hierheute auch nicht getan.
– Doch, Herr Kauder, das stimmt.
Sie beschreiben hier Dinge. Sie beschreiben so schön,man müsste sich wieder einmal mehr mit sozialer Markt-wirtschaft beschäftigen. Ihre ganze Rede zeigt, dass Siegar nicht gemerkt haben, dass wir in der Finanzpolitikund in der Wirtschaftspolitik einen Epochenwechselaufgrund der Klimakrise und der Hungerkrise haben.Sie haben gar nicht gemerkt, wie sehr sich die Politikder USA durch Barack Obama verändert hat. Ich mussIhnen ehrlich sagen: Es gehört wirklich einiges dazu,nach all dem, was bei uns in der Finanz-, der Wirt-schafts- und der Klimapolitik versäumt wurde, zu sagen:Wir möchten die USA ermutigend führen. – Das ist derBeweis dafür, dass Frau Merkel nicht verstanden hat,dass die USA und andere Länder längst losgegangensind.
– Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Siebrauchen das, was von der grün-roten Regierung in die-sem Land angerichtet
und in Bewegung gesetzt wurde, jetzt nicht zu verdre-hen.
In diesen Politikbereichen ist seit vier Jahren Still-stand zu verzeichnen. China, Indien, Südkorea und dieUSA schließen, obwohl sie einen gewissen Rückstandhaben, zu uns auf oder überholen uns sogar. Sie habenunsere Technologieführerschaft aufs Spiel gesetzt. Dasist die Wahrheit.
Wir brauchen jetzt eine Green Economy. Selbst BanKi-moon fordert dies. Neulich haben in New York20 UN-Organisationen diese Forderung erhoben, undselbst die Weltbank vertritt seit einiger Zeit diese Auf-fassung. Heute hat die Kanzlerin gesagt: Ich freue mich,dass Deutschland und die USA gemeinsam für eineCharta des nachhaltigen Wirtschaftens eintreten. – FrauMerkel, das haben Sie zum wiederholten Male erzählt.Passiert ist aber nichts. Wir wollen keine Ankündigun-gen nach dem Motto „Im Himmel ist Jahrmarkt“. Wirsind der Meinung, dass Sie jetzt endlich einmal losgehenmüssen.
Frau Merkel, Sie wissen selbst, dass in Ihrer PolitikMängel vorhanden sind. Ich habe mir einmal die Rede,die Sie in der letzten Woche beim Bundesverband derEnergie- und Wasserwirtschaft gehalten haben, durchge-lesen. Dort haben Sie sehr schön formuliert – jetzt kön-nen Sie wieder laut johlen, meine Herren von der Union –,wenn man sich die Konjunkturprogramme der USA undChinas vor Augen halten würde, könne man feststellen,dass man in diesen Ländern beides im Blick habe: diegrüne Erneuerung der Wirtschaft und die Ankurbelungder Binnenkonjunktur. Dann hat die Kanzlerin gesagt:
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25631
(C)
(D)
Renate KünastDiesen Weg sollten auch wir beschreiten. – Frau Merkel,das hätten Sie längst tun können!
– Wo sind jetzt eigentlich Ihre Zwischenrufe, meine Her-ren?
Frau Merkel ist, wie gesagt, der Meinung, dass dieUSA strukturell weiter sind als wir. Das sagen Sie aller-dings erst jetzt, nachdem Ihre Regierung, ohne sozialeund ökologische Kriterien zu beachten, 80 MilliardenEuro herausgehauen hat, zum Beispiel für eine Ab-wrackprämie oder für neue Bestellkataloge von Versand-häusern, bei denen letztlich doch niemand bestellt.
Frau Bundeskanzlerin, eines geht nicht: Sie könnennicht nur mit milden Worten fordern, man müsse hierweiterhin die soziale Marktwirtschaft fördern, wäh-rend man über die soziale – ich füge hinzu: die ökologi-sche – Marktwirtschaft auf internationaler Ebene erst ir-gendwann in der Zukunft diskutieren müsse. Die Frage,was man unternehmen muss, um nicht auf Kosten kom-mender Generationen zu leben, wird hier und heute undauch in Deutschland entschieden. Darauf kommt es an.
Sie, Frau Merkel, spielen immer noch das alte Spiel„Klimaschutz gegen Arbeitsplätze“. Ich sage Ihnen ei-nes: Von Ihnen hört man schöne Worte, allerdings immerin sehr allgemeiner Form. Als es aber Ende letzten Jah-res darum ging, klare Kante zu zeigen und innerhalb derEuropäischen Union das weitere Vorgehen abzustim-men, waren Sie diejenige, die den Klimaschutz gegenArbeitsplätze gestellt hat. Damals haben Sie hier und an-dernorts versprochen – Zitat –:Der EU-Gipfel wird keine Klimaschutzbeschlüssefassen, die in Deutschland Arbeitsplätze … gefähr-den. Dafür werde ich sorgen.Damit haben Sie die europäische Klimaschutzpolitikverwässert.Frau Merkel, Sie hätten zumindest sagen können,dass wir in Deutschland neue Arbeitsplätze schaffen.Aber Sie verhalten sich nach dem Motto „Ich darf michnicht trauen, loszugehen“. Sie haben das vorhandeneGeld nicht so investiert, dass in diesem Land und in derEuropäischen Union ein Schwung entsteht und neue Ar-beitsplätze geschaffen werden.
Wir sagen Ihnen: Innerhalb von vier Jahren kann man indiesem Land zwar nicht nur, aber auch durch Energie-und Klimapolitik 1 Million neue Arbeitsplätze schaffen.
Darauf kommt es an. So setzt man eine ökologisch-so-ziale Marktwirtschaft in die Tat um.
Sie wollen die Richtung vorgeben, haben sich aberselber nie entschieden, wofür Sie stehen. Sie reden vomPrimat der Politik, haben das Primat der Politik in denletzten vier Jahren und gerade in den letzten zwölf Mo-naten aber nicht an sich gezogen und genutzt.
Das Primat der Politik zeigt sich nicht am Ansteigen derZahl der Gesetze, das Primat der Politik zeigt sich daran,dass man sich selber fragt – der Kollege Eichel hat dasangesprochen –: Was ist unsere soziale Aufgabe undVerantwortung? Was ist unsere Verantwortung gegen-über nachfolgenden Generationen? Was ist unsere Ver-antwortung beim Erhalt unserer natürlichen Lebens-grundlagen? Wenn man dieses in Gesetze gießt, darfaber nicht Herr Ackermann der Autor sein.
Dann, meine Damen und Herren, muss man wirklich aufNeuausrichtung setzen, auf nachhaltiges Wirtschaften,auf Reformen jetzt, und darf nicht wie Sie sagen: Wirsollten uns jetzt nach den USA und China richten.Wir haben in diesem Land ein Minus von438 Milliarden Euro. Mindestens genauso stark wie dasMinus ist die Politikverdrossenheit in diesem Land ge-stiegen, weil man nicht erkennen kann, dass in Zeitender Krise die Politik – Sie haben es nicht gemacht – sichein Herz nimmt und sagt: Wir bestimmen jetzt, wie Ge-meinwohlorientierung und Generationengerechtigkeit inGesetze gegossen werden. – Frau Merkel, wie kann manhier über soziale Marktwirtschaft reden, sich gleichzeitigaber dazu treiben lassen, trotz dieses Minus von438 Milliarden Euro Steuererleichterungen für Besser-verdienende zu versprechen? Herr Meyer, Sie haben ge-sagt: Man kann das Geld nicht zweimal ausgeben.
Welchen Teil von diesem Minus von 438 MilliardenEuro wollen Sie denn ein zweites Mal ausgeben für dieversprochenen Steuersenkungen? Sie haben doch erklärt,dass das nicht geht.
Wenn ich in diesem Saal einmal nach rechts schaue,sehe ich die Partei, die Frau Merkel immer treibt. Dakann ich nur sagen: Diese Doublebind-Aktivitäten ken-nen wir nur zu gut: Hier fordern Sie immer, die Steuernzu senken und finanziell nicht einzugreifen. Doch wer istüberall, wohin der Bundesadler mit dem Geldsäckelfliegt, ob in Nordrhein-Westfalen, in Hessen oder amEnde in Bayern, ob bei Opel oder bei Quelle, der Erste,
Metadaten/Kopzeile:
25632 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Renate Künastder sich beim Bundesadler hinten an den Bürzel hängtund zustimmt? Es ist immer die FDP. So viel zu IhrerGlaubwürdigkeit.
Meine Damen und Herren, Frau Bundeskanzlerin,Lobesreden über sich selber halten und eine Art Füh-rungsanspruch international behaupten kann man erst,wenn man den Acker zu Hause bestellt hat. Ich will Ih-nen zwei, drei Punkte nennen, wo Sie das, auch in IhrerRede, nicht getan haben.Erstens, bei der Finanzmarktregulierung. Sie habenbeim G-20-Gipfel in London gesagt: Kein Staat, keinProdukt, kein Institut soll unreguliert bleiben. – Jetztmacht Barack Obama eine umfassende Finanzmarkt-reform, stellt alle wichtigen, systemrelevanten Instituteunter eine Aufsicht, macht den Stresstest für Banken,verstaatlicht, zwingt die Banken zur Kooperation. Undwas passiert hier? Frau Merkel, wo bleibt die einheitli-che Bankenaufsicht? Wo bleibt die Bankenaufsicht, diealle Produkte zertifiziert und notfalls nicht auf den Marktlässt? Wo bleibt der Schutz der Verbraucher? Wo bleibenRegelungen, die verhindern, dass so eine Krise wiederpassiert?
Stattdessen sitzen wir auf Bürgschaften und Beteiligun-gen, und es gibt immer noch keine Neuausrichtung.Staatsgelder werden gegeben, und die gleichen Bankeninvestieren immer noch und haben Dependancen inSteueroasen. So nicht, Frau Merkel! Das ist keine neuePolitik, und das ist auch nicht soziale Marktwirtschaft.
Schauen wir uns Ihre Wirtschaftspolitik an! Von derCharta für nachhaltiges Wirtschaften, die Sie soschön versprochen haben, war schon oft die Rede. Siereden hier von der Bekämpfung des Hungers, sagen,dass wir uns um Afrika kümmern müssen. Das ist allesrichtig. Aber wenn man das will, Frau Merkel, darf mannicht zeitgleich sagen, dass wir sofort einen Abschlussder WTO-Verhandlungen brauchen. So, wie der Standder WTO-Verhandlungen im Augenblick ist, ginge daszulasten der am wenigsten entwickelten Länder. Wer denHunger bekämpfen will, wer die Ernährung sichern will,der muss bei der WTO dafür sorgen, dass die Industrie-länder einen neuen Vorschlag machen, einen Vorschlag,bei dem anders gewirtschaftet wird, sozial und ökolo-gisch.
Sie tun auf der einen Seite so, als wollten Sie den Hun-ger bekämpfen, auf der anderen Seite wollen Sie abermit der WTO das Gleiche noch einmal tun.Ich habe es schon gesagt: Sie haben die Klimazielezur Erreichung von mehr Klimaschutz verwässert. Siehaben es nicht geschafft, für den Gipfel in L’Aquila et-was vorzulegen, mit dem wirklich dafür gesorgt wird,dass für die Zukunft – für den Gipfel in Kopenhagen unddie Gespräche dort – Vorgaben gemacht werden. Statt-dessen wollen Sie mehr Braunkohlekraftwerke bauenund die Atomkraftwerke länger am Netz lassen. Auchdas ist keine soziale und ökologische Marktwirtschaft.Meine Damen und Herren, wir erwarten – und zwarkohärent: mit nationaler und internationaler Politik –,dass Sie in L’Aquila wirklich für Klimaschutz und einenErfolg in Kopenhagen eintreten, dass Sie eine Finanzie-rungszusage für die Entwicklungsländer geben und die-ses Geld auch zahlen, weil nur dann die anderen in Ko-penhagen mitmachen werden – nicht mehr und nichtweniger.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich komme zu meinen letzten Sätzen. – Frau Merkel,
Sie haben die letzte Regierungserklärung abgegeben. Sie
haben in dieser Legislaturperiode gesagt, Sie wollten
dem Land dienen. Wenn ich zurückschaue, sehe ich aber
keinen Aufbruch, sondern Stillstand.
Es wird Zeit für eine Regierung, die eine gemeinsame
Richtung hat. Es wird Zeit für eine Regierung, die den
Menschen keine Steuerlügen und auch keine alten Re-
zepte auftischt. Es wird Zeit für eine Regierung, die den
Mut und die Courage hat, mit einer ökologisch-sozialen
Vision tatsächlich den Umbau dieses Landes zu organi-
sieren,
weil nur so die Jobs entstehen, auf die die Menschen
warten.
Das Wort erhält nun der Kollege Jörg-Otto Spiller für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wie lange wird die weltweite Rezession nochandauern? Wann kommt Deutschland aus der Krise he-raus? Welche Konsequenzen sind zu ziehen – auch überdie bloße Krisenbewältigung hinaus?Erste Lichtschimmer sind erkennbar – der KollegeMeyer ist schon darauf eingegangen –: Die Auftragsein-gänge in der deutschen Industrie, die seit dem Herbst2008 massiv zurückgegangen sind, haben sich stabili-siert, aber mehr als die Stabilisierung des Rückgangs– so nenne ich es einmal – ist dabei noch nicht erreicht.Am Arbeitsmarkt sind die Auswirkungen bisher erfreu-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25633
(C)
(D)
Jörg-Otto Spillerlicherweise moderat geblieben. Allerdings zeigt sich beinäherer Betrachtung, dass dabei insbesondere ein Instru-ment hilfreich war – ich muss sagen, dass die Regierunghier gut gehandelt hat; in diesem Falle an vordersterStelle der Arbeitsminister Olaf Scholz –,
nämlich die Verlängerung der Bezugszeit des Kurzarbei-tergeldes, was sehr zum Auffangen der Beschäftigungs-probleme beigetragen hat.
Aber: Es gibt 1,4 Millionen Kurzarbeiter.Beim Übergang hin zu einer hoffentlich besseren kon-junkturellen Entwicklung darf keine Rückkehr zur Rou-tine erfolgen. Diese Krise ist nicht einfach nur ein Kon-junktureinbruch, sondern sie ist durch eine weltweiteFinanzkrise ursächlich verschärft worden.Der Bundesbankpräsident hat vor kurzem darauf hin-gewiesen, dass es nicht angemessen ist, wie es gelegent-lich geschieht, hier von einem Erdbeben zu sprechenoder das Ganze mit einem Tsunami zu vergleichen. Daswaren keine Naturgewalten. Ich zitiere Herrn Weber:Von Naturgewalten kann jedoch nicht die Rede sein… Es ist eine von menschlichen Fehlleistungen ver-ursachte Katastrophe.
Ich gehe noch einen Schritt weiter: Es handelte sichnicht nur um Fehlleistungen Einzelner, sondern um dasScheitern des marktradikalen Modells.
Der Finanzmarkt braucht Regeln: internationale Re-geln, durchsetzbare Regeln. Es muss auch darum gehen,falsche Anreize zu beseitigen, beispielsweise bei derVergütung des Managements.
Die Bundesregierung hat bemerkenswerterweise, wieich finde, schon viel erreicht. Bei dem letzten G-20-Tref-fen in London ist die Konkretisierung von gemeinsamenRegeln für den internationalen Finanzmarkt verabredetworden. Daran wird aber weiter gearbeitet werden müs-sen. Ich wage einmal die Prognose: Wenn sich das langehinzieht, dann wird die Zahl derjenigen, die sagen: „Wirknüpfen an das Vergangene an, die Krise ist ja bewäl-tigt“, massiv zunehmen. Wir müssen das Eisen schmie-den, solange es heiß ist.
Ich sage in Abwandlung eines bekannten Wortes vonGeorges Clemenceau: Das Finanzsystem ist zu wichtig,als dass man es den Bankern überlassen könnte.
Herr Westerwelle, der spätere Schwiegervater vonTheodor Heuss, Georg Friedrich Knapp, hat 1905 seinBuch „Staatliche Theorie des Geldes“ veröffentlicht. Da-mals nannten sich Professoren, die Makroökonomie andeutschen Universitäten lehrten, noch Staatswissen-schaftler.
Der erste Satz dieses Buches lautet: „Das Geld ist einGeschöpf der Rechtsordnung.“ In der FDP, die Sie füh-ren, hätte dieser Mann keine Chance gehabt.
Sie haben bei aller trotzigen Lernunwilligkeit derletzten Jahre heute nur leichte Anzeichen von Nachdenk-lichkeit – es könnte doch notwendig sein, dass der Staateine Aufgabe mit Blick auf die Finanzmärkte hat – er-kennen lassen.
Sie befinden sich offenbar doch in einem, ich sage ein-mal: Erkenntnisprozess. Ich wünsche Ihnen dabei vielErfolg. Es hat allerdings auch sehr lange gedauert. Siehaben jahrelang versucht, uns einzureden, alles Übelkomme von zu vielen staatlichen Regeln und zu vielenstaatlichen Eingriffen.
Sie haben in den ersten Monaten nach der Krise ver-sucht, alle Probleme abzuwälzen, indem Sie die Theseformuliert haben, es handele sich eigentlich nur um einBehördenversagen, nicht etwa um eine Krise des Ban-kensystems.Zum Abschluss möchte ich allerdings auch sagen:Der Verlust an Vertrauen in das Bankensystem war sogroß, dass staatliche Stabilisierungsmaßnahmen in ei-nem Umfang erforderlich waren, den eigentlich niemandvon uns gewollt hat. Aber es kann nicht auf Dauer dasGeschäftsmodell der Banken sein: Wenn etwas schiefgeht, wird der Staat es schon richten.
Deswegen müssen wir so schnell wie möglich zu einemSystem mit klarer Verantwortung zurückkehren. Versa-gen muss dann auch sanktioniert werden.
Gestatten Sie auch mir eine letzte, persönliche Be-merkung: Ich möchte mich bei Ihnen allen für das leb-hafte Interesse bedanken, das Sie seit langem an meinemWahlkreis haben.
Es ist allerdings auch der interessanteste, den das Landzu bieten hat: Berlin-Mitte. 28 Jahre lang verliefen durchdiesen Wahlkreis die Berliner Mauer und der Todesstrei-fen. Das ist nicht vergessen. Das relativiert auch ein
Metadaten/Kopzeile:
25634 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Jörg-Otto SpillerStück weit, Herr Kollege Lafontaine, die jetzige Pro-blemlage. Dieses Land ist schon mit größerem System-versagen gut klargekommen.
Ich werde Ihnen natürlich auch weiter verbundenbleiben. Wenn allerdings demnächst der Bundeskanzlerseine Regierungserklärung abgibt, werde ich einen Platzauf dem Rang haben.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Michael
Meister, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich möchte zunächst einmal dem Kollegen HansEichel im Namen meiner Fraktion für die Zukunft allesGute wünschen. Wir waren in den finanzpolitischen De-batten nicht immer einer Meinung, aber ich glaube, wirhatten einen fairen Umgang. Deshalb wünsche ich Ihnenim Namen meiner Fraktion alles Gute für Ihre Zukunft,Herr Eichel.
Lieber Herr Spiller, ich freue mich, wenn wir Sie imHerbst wiedersehen. Ich habe bisher nicht gewusst, dassSie sich so darauf freuen, der Bundeskanzlerin AngelaMerkel Ihr Ohr zu leihen. Herzlichen Dank, dass Sie sogesinnt sind!
Bei allen drei Krisen, die uns momentan begegnen– die Finanzkrise, die Konjunkturkrise und die Struktur-krise in einigen Branchen –, sind wir als Nation, die alsExportweltmeister am stärksten in den internationalenHandel integriert ist, massiv von dem betroffen, was beider internationalen Konferenz der G-8-Staaten bzw. G-8-plus G-5-Staaten verabredet wird, weil unsere eigeneZukunft am meisten von der Frage abhängt, ob es hier zubelastbaren Ergebnissen kommt. Deshalb ist es wichtig,dass wir hier gemeinsam über diese Frage diskutieren.Ich will zu Beginn feststellen, dass wir als Land in derKrise handlungsfähig sind. Das ist eine wichtige Voraus-setzung dafür, dass wir unsere Stimme bei solchen De-batten erheben können. Der Blick nach vorne magmanchmal die Leistung, die hinter einem liegt, etwasverstellen, Herr Westerwelle. Deshalb möchte ich daraufhinweisen, dass wir im letzten und im vorletzten Jahr inDeutschland ausgeglichene gesamtstaatliche Haushaltehatten. Das ist eine große Leistung dieser Koalition, dieuns die Möglichkeit gibt, uns mit der Frage zu beschäfti-gen: Wie kommen wir aus der Krise heraus?
Wir diskutieren über die Frage: Wie können wir neueArbeitsplätze schaffen? Wir haben in den vergangenendrei Jahren in Deutschland 1,5 Millionen neue Arbeits-plätze geschaffen. Diese Wachstumsstrategie, die wirbegonnen haben, müssen wir mit neuen internationalenRahmenbedingungen in der Zukunft konsequent weiter-führen, um den Menschen in Deutschland die Perspek-tive zu bieten, dass neue Arbeitsplätze entstehen. Das istunsere Verantwortung an dieser Stelle.Wir haben uns massiv auf die Zukunft ausgerichtet,weil wir trotz aller Nöte in den Haushalten dafür gesorgthaben, dass wir stärker in die Zukunft investieren. Ichnenne den Ausbau von Forschung und Entwicklung. Vorder Krise, in der Krise und, wie ich meine, auch nach derKrise muss das ein Hauptfeld sein. Wir müssen mehr fürForschung und Entwicklung tun, um unseren Beitragdazu zu leisten, aus dieser Krise herauszukommen.
Wenn wir internationale Diskussionen führen, dannsollten wir uns, denke ich, selbst vergewissern, ob wirdafür eine eigene Position und einen klaren Kurs haben.Aus meiner Sicht ist die soziale Marktwirtschaft durchdiese Krise nicht infrage gestellt. Die soziale Marktwirt-schaft mit ihren Prinzipien ist vielmehr die Antwort aufdiese Krise. Das sollten wir als Deutsche auf den inter-nationalen Konferenzen klar und deutlich vertreten.
Deshalb habe ich mich heute Morgen etwas über FrauKollegin Künast geärgert, die Anstand in der Debatteeingefordert und bemerkt hat, dass angeblich einigenicht anwesend sind, aber jetzt, wenn es vielleicht ange-messen wäre, den anderen Rednern zu lauschen, selberdurch Abwesenheit auf sich aufmerksam macht.Frau Künast, Sie haben die soziale Marktwirtschaftinfrage gestellt. Deshalb sage ich klar und deutlich: Wirals Union halten an der sozialen Marktwirtschaft fest,und wir wollen diese Prinzipien bei den internationalenKonferenzen durchsetzen.
Ich glaube, wir müssen den Hinweis, den der KollegeEichel gegeben hat, ernst nehmen. Wir werden als Euro-päer nur dann eine Chance haben, uns bei diesen Konfe-renzen bemerkbar zu machen, wenn wir mit einer ge-schlossenen europäischen Position auftreten.
Die Hinweise, die aus der City of London kommen, seheich als hochgradig gefährlich dafür an.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25635
(C)
(D)
Dr. Michael MeisterBei der ersten Finanzkrise, die wir jetzt erleben, ha-ben die Menschen akzeptiert, dass wir mit einem gutenKrisenmanagement reagieren. Eine zweite Finanzkrisemit gutem Krisenmanagement würden sie uns nichtmehr nachsehen. Wir sind jetzt in der Pflicht, einenneuen Rahmen für die Finanzmärkte zu schaffen, dereine bessere Krisenprävention bietet. Wenn wir dasnicht leisten, dann werden wir als Politiker in unsererGlaubwürdigkeit und Verantwortung infrage gestelltwerden. Das dürfen wir nicht zulassen.
Es geht darum, dass wir neues Vertrauen in die Fi-nanzmärkte organisieren. Wir sind, glaube ich, die Einzi-gen, die das können. Es gibt bedauerlicherweise keinenanderen, der dafür sorgen kann. Mir geht es in der De-batte nicht um mehr oder weniger Regeln oder darum,ob alles geregelt werden soll oder ob es überhaupt keineRegeln geben soll. Das ist nicht die entscheidende Frage.Vielmehr muss es um die Frage gehen, wie wir bessereRegeln finden können, die die Wahrscheinlichkeit einerneuen Krise verringern. Wir dürfen keine Regeln aufstel-len, die möglicherweise dazu führen, dass wir in eineneue Krise laufen. Darüber müssen wir debattieren. Wirsind gerne bereit, darüber zu streiten.Ich glaube, der Weg, der in Heiligendamm angelegtworden ist, ist richtig. Wir brauchen mehr Transparenz.Es muss klar sein, was geschieht. Halbwahrheiten undHalboffenheit sind nicht hinreichend. Wir brauchenvolle Transparenz.Wir müssen selbstkritisch, aber auch mit Blick nachdraußen sagen: Wir brauchen national und internationaleine bessere Aufsicht für den Finanzsektor. Wir müssendas nicht nur in Deutschland durchsetzen – die Dualitätsehe ich an dieser Stelle kritisch –, sondern auch dazukommen, dass in Europa und international eine abge-stimmte Aufsicht stattfindet. Die Aufsicht darf nichtplötzlich an den nationalen Grenzen enden.
Die Vergütungssysteme müssen zudem so ausgerich-tet werden, dass die Menschen Interesse an einem nach-haltigen Erfolg und nicht an kurzfristiger und ungesun-der Gewinnmaximierung haben. Wir haben nun dieChance, dafür zu sorgen.
Ich gebe der Frau Bundeskanzlerin mit auf den Weg:Sie hat die ausdrückliche Unterstützung meiner Fraktionauf dem Gipfel in L’Aquila. Dabei darf nicht nur überdiese Fragen geredet werden. Wir brauchen vielmehr Er-gebnisse am Ende des Gipfels, damit wir wirklich glaub-würdig sind.
Wir müssen bei diesem Prozess die Menschen mit-nehmen. Die Menschen werden wir nicht mitnehmen,wenn wir sie gegeneinander ausspielen. Wir müssen ver-suchen – ich bin sehr optimistisch, da die Stimmung inunserem Land trotz Krise noch immer gut ist –, die Men-schen zu motivieren, gesellschaftlich geschlossen ausder Krise herauszukommen; das kann gelingen. Wir soll-ten alles unterlassen, was unsere Gesellschaft spaltet,und alles dafür tun, dass alle motiviert sind, gemeinsamnach vorne zu gehen.
Ich will drei Punkte ansprechen, die ich für zentralhalte.Erstens. Wir brauchen nicht nur in Europa, sondernauch weltweit stabile Währungen. Darüber muss drin-gend gesprochen werden. Entscheidend sind folgendeFragen: Wie unabhängig – hier blicke ich vor allem inRichtung USA – sind die Zentralbanken? Halten wir anden Zielen von Maastricht fest oder nicht? Darüber wirdin Europa diskutiert. Ich bin der Meinung, dass wir auchin der Krise an diesen Zielen festhalten müssen. Wir ha-ben mit der Schuldenbremse ein vorbildliches Zeichengesetzt. Unser Weg führt nicht in den Schuldenstaat. Wirwollen die Krise bekämpfen. In diesem Zusammenhangweise ich darauf hin, dass wir international nicht kriti-siert werden, weil wir zu viel tun und zu viele Schuldenmachen, sondern weil wir angeblich zu wenig tun. Tat-sächlich haben wir genau über den Finanzrahmen nach-gedacht. Trotzdem wird die Situation nach der Krise ex-trem schwierig sein. Es wird nicht leicht sein, aus ihrherauszukommen. Aber es ist eine Mär, dass wir unver-antwortlich handeln. Wir tun das Notwendige, aber auchnicht mehr. Das ist verantwortliche Politik.
Der zweite eng mit den Staatshaushalten verknüpftewichtige Punkt ist die Geldwertstabilität. Die Geld-wertstabilitätspolitik der Notenbanken und die Finanz-politik der öffentlichen Hand müssen Schritt für Schrittwirken. Auch wir haben hier Verantwortung. Ich persön-lich gehe davon aus, dass die Notenbanken zu einemZeitpunkt, zu dem wir alle noch mit der Bewältigung derKrise befasst sind, möglicherweise schon dabei sind,über die Geldwertstabilität nachzudenken. Ich appellierean die Kollegen in diesem Haus, diese Rolle der Noten-banken zu akzeptieren und nicht zu rufen: Ihr tut das Fal-sche! – Die Notenbanken tun das Richtige. Wir müssenunter den Rahmenbedingungen arbeiten, die sie setzen.Wir dürfen diese nicht infrage stellen.Der dritte Punkt betrifft die offenen Märkte. Michverärgern wahnsinnig Slogans wie „Buy American“ undprotektionistische Ansätze in der Automobilindustrie. Ineinigen Staaten wird gezielt etwas für heimische Herstel-ler getan. Ich glaube, dagegen muss vorgegangen wer-den; denn wenn die Märkte abgeschottet werden, wirdsich die Krise verschärfen und es wird nach der Krisenicht leichter, sondern schwieriger, eine Wachstumsstra-tegie zu verfolgen. Das hilft übrigens nicht nur uns alsExportnation, es hilft auch den Schwachen, über die wirdiskutieren; denn auch sie werden nur dann eine Chancehaben, stärker am Welthandel und an der Weltproduktion
Metadaten/Kopzeile:
25636 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Dr. Michael Meisterbeteiligt zu sein, wenn es offene Märkte gibt. Sie werdenkeine Chance haben, wenn Abschottung stattfindet. Des-halb sind offene Märkte nicht nur für uns, sondern auchfür die Schwächeren wichtig.
Ich hoffe, dass es uns gelingt, eine neue Finanzmarkt-architektur zu schaffen. Ich glaube, dass wir in einerUmbruchsituation sind. Manch einer von außerhalb, deruns in den vergangenen Jahrzehnten belächelt und ge-fragt hat, was denn die Deutschen mit ihrer sozialenMarktwirtschaft wollen, wird möglicherweise erkennen,dass diese eine richtige Grundlage ist. Wir haben jetztdie Chance, Frau Bundeskanzlerin, dies in den Gesprä-chen deutlich zu machen. Ich würde mich freuen, wennuns das gemeinsam auf dem schwierigen Weg, der voruns liegt, gelingen würde.Vielen Dank.
Ortwin Runde ist der nächste Redner für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ortund Zeitpunkt dieser internationalen Konferenz sind ausmeiner Sicht gut gewählt; denn wenn man sich die Re-aktionsmuster auf Erdbeben und auf Weltwirtschafts-und Finanzkrisen ansieht, dann stellt man fest, dassbeide den gleichen Abläufen folgen. Insofern könnte dieTagung in einem Erdbebengebiet in Italien Anlass fürentsprechende Reflexionen der Teilnehmer dieser Kon-ferenz sein. Jedes Erdbeben löst Tragödien aus, bei je-dem Erdbeben wird nach den Ursachen gefragt. Nichtselten kommen die gleichen Antworten, die die enormeZerstörungskraft erklären sollen: die kaum vorherseh-bare Stärke des Bebens, die Fehler bei der Baukonstruk-tion, die schließlich zum Einsturz von Gebäuden geführthaben, Schlamperei oder Pfusch am und beim Bau, dasUnterwandern von Regeln durch Private, um eine gutestaatliche Aufsicht zu umgehen, das alles nicht seltenvon Renditegier getrieben. Das sind die üblichen Erklä-rungsmuster bei Erdbeben.Nach dem ersten Schock kommt dann das Verspre-chen, es in Zukunft besser machen zu wollen, damit sicheine solche Katastrophe nicht wiederholen kann. Derletzte Satz könnte von der Frau Bundeskanzlerin sein.Das habe ich auch heute hier wieder so gehört.Die Frage ist: Lernen denn die Politiker aus solchenSituationen? Frau Bundeskanzlerin, ich muss sagen, eswäre wenig angemessen, wenn der italienische Minister-präsident die Kulisse von L’Aquila benutzen würde, umsich als sozialer Wiederaufbauer feiern zu lassen. Daswäre angesichts der beachtlichen Dreistigkeit, dass erdie Lage der überlebenden Opfer von L’Aquila in denprovisorischen Zeltstätten mit einem Campingurlaubverglich, wirklich ein ganz starkes Stück. Das geht nicht.
Wenn wir an die Finanzkrise denken, dann muss mansagen, dass die gegenwärtige Situation hoch wider-sprüchlich ist. Wir befinden uns noch mitten in derKrise. Es ist nicht so, dass die Regeln, die auf dem G-20-Gipfel in London deklariert wurden, schon umgesetztwären. Wir erleben gegenwärtig vielmehr, dass die Euro-päische Zentralbank den Banken 440 Milliarden Eurofür 12 Monate mit einem Zinssatz von 1 Prozent zur Ver-fügung gestellt hat, damit sie den Unternehmen besserKredite geben können. Was tun die Banken?135 Milliarden Euro davon geben sie mit einem Zinssatzvon 0,25 Prozent wieder zurück. Das heißt, das Ver-trauen der Banken untereinander ist nach wie vor nichtvorhanden. Sie kommen ihrer eigentlichen Funktion,Kredite an Unternehmen und Personen zu geben, nachwie vor nicht nach.Deswegen sind wir zu so etwas wie Bad-Bank-Lösun-gen gezwungen, wobei man feststellen muss, dass esproblematisch ist, wenn man über Zweckgesellschaftendie schlechten Teile ausgliedert, von den guten Teilentrennt. Denn diese Zweckgesellschaften haben seinerzeitgenau zu den Krisen geführt, mit denen wir gegenwärtigzu tun haben. Das ist ein Stück weit der Versuch, denTeufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Das erfordertnicht nur starken Glauben, sondern auch konsequentesHandeln, wenn das gut gehen soll. Denn das bedeutet,dass man für die Zukunft einen Rahmen für die Finanz-märkte, für die Finanzinstitutionen haben muss, der sol-che Exzesse, solche Verhaltensweisen, wie wir sie erlebthaben, für die Zukunft unmöglich macht.
Hier gibt es einige positive Anzeichen. Dennochmeine ich, die Politik macht sich in all diesen DebattenSchwierigkeiten aufgrund der Konkurrenzgelüste. Poli-tik muss, wenn der Staat eine andere Rolle gegenüberden Märkten einnehmen will, selbstbewusster sein undihrem Gestaltungsanspruch anders gerecht werden. Dashat dieser Bundestag in den letzten Wochen nach derKrise in einer Reihe von Gesetzgebungsvorhaben ge-macht. Die ersten Reaktionen, die es von allen Parteiengemeinsam gegeben hat, sind dafür beispielhaft. Hand-lungsfähigkeit des Staates ist da von diesem Parlamentgezeigt worden. Die Aufstellung von Regeln für Mana-gergehälter, die Entwicklung anderer Anreizsysteme,eine neue Definition von Managerhaftung sowie die Be-kämpfung von Steuerhinterziehung und Steueroasensind wichtige Schritte, auf die man ein Stückchen stolzsein kann.
Die Situation der Finanzmärkte ist aber nach wie vorhochkritisch. Die USA wurden gerade als Gegenbeispielzu Deutschland gelobt, dass dies dort angeblich so gutgeregelt ist. Wenn dort den Banken ermöglicht wird, sichaus der staatlichen Einflussnahme herauszukaufen, diegroßen Banken Gelder zurückgeben, um der Regulie-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25637
(C)
(D)
Ortwin Runderung des Staates zu entgehen, und die Wettbewerber, dieInvestmentbanker wieder anfangen, wie die Croupiers inden Kasinos tätig werden zu wollen, dann stimmt michdas allerdings hochnachdenklich.
Die amerikanische Bankenaufsicht als Beispiel zu neh-men, verrät wenige Kenntnisse. Wenn man sieht, wiezerfasert dort die Aufsicht ist, dann sind wir weit wegvon vernünftigen Verhältnissen.Bei dem G-8-Gipfel wird es darauf ankommen, dassdas, was damals beim G-20-Gipfel in London begon-nen worden ist, in einem Prozess weitergeführt wird,dass die verschiedenen Teilnehmer, angefangen von denBriten über die Amerikaner bis zu allen anderen, dieGrundsätze, die sie sich beim G-20-Gipfel vorgenom-men haben, jetzt auch umsetzen und nicht schon wiederaufgrund der Konkurrenz der Finanzplätze jede konkreteund konsequente Regulierung erschweren und unmög-lich machen. Hier kommt auf den Gipfel wirklich eini-ges zu.Im Gegensatz zu Erdbeben handelt es sich hier umeine von Menschen gemachte Krise. Deswegen ist esMenschen auch möglich, Vorkehrungen zu treffen, damitzukünftig eine solche Krise nicht mehr eintritt. Ich hoffe,dass insoweit der Gipfel erfolgreich sein wird.Schönen Dank.
Das Wort erhält der Kollege Dr. Georg Nüßlein,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! DerG-8-Gipfel wird wie auch diese Debatte im Zeichen derKrise stehen. Ursachen für diese Krise gibt es etliche.Weil es bisher noch nicht deutlich hervorgehoben wurde,möchte ich an dieser Stelle unterstreichen: Die meistenUrsachen liegen nicht in Deutschland. Zu den Ursachenzählen fehlende Finanzmarktkontrollen – insbesonderein den USA –, gekaufte Ratingagenturen, Beleihung biszum letzten Dachziegel, Vernachlässigung von Risiko-Rendite-Zusammenhängen sowie verbriefter Lug undTrug.Ich kann all das auch ohne Aufzählung formulieren:In einigen Ländern praktiziert man Wirtschaftsmodelle– oder hat dies zumindest getan –, die auf jegliche Steu-erungsinstrumente der Märkte verzichten. Man fährtdort also ohne die Leitplanken der sozialen Marktwirt-schaft. Das ist das Problem. Ich hebe dies deshalb sodeutlich hervor, weil es interessierte Kreise, insbeson-dere auf der linken Seite, gibt, die so tun, als wäre die so-ziale Marktwirtschaft das Problem. Nein, das ist sienicht. Wären andere Nationen unserem Erfolgsmodellder sozialen Marktwirtschaft stringent gefolgt, hättenwir diese Verwerfungen heute nicht. Gleiches gilt für dieReform der internationalen Finanzmärkte. Die Bundes-regierung unter Angela Merkel hat sich bereits bei ihrerG-8-Präsidentschaft vor zwei Jahren für eine bessere Fi-nanzmarktregulierung eingesetzt. Leider geschah diesnicht mit dem notwendigen und gewünschten Erfolg.Gestatten Sie mir, dass ich zunächst einmal denBlick auf Deutschland richte. In guten Tagen konntedie unionsgeführte Regierung unser Land in vielen Be-reichen weit nach vorne bringen. In guten Tagen – dassage ich an die Adresse der Grünen, weil ich die Redevon Frau Künast noch im Ohr habe – haben wirDeutschland nach langen Jahren des Stillstands wiederzur Wachstumslokomotive Europas gemacht.
Mehr als 1 Million neue Arbeitsplätze wurden ge-schaffen. Die Arbeitslosigkeit befindet sich auf demniedrigsten Stand seit über zwölf Jahren. Ohne die Krisehätten wir mit einer hohen Erfolgswahrscheinlichkeit be-reits im Jahre 2011 einen ausgeglichenen Haushalt er-reicht. Das war eine gute Ausgangsposition, die wir inguten Tagen geschaffen haben. Ich sage aber ganz offen:Niemand hat geglaubt, dass wir diese Ausgangslage sosehr strapazieren müssen.Noch vor einem Jahr hat niemand gedacht, dass wirso häufig über zusätzliche Milliardenausgaben disku-tieren müssen und das Wort Milliarde überhaupt überunsere Lippen gehen wird. Dies geschah aber nicht ausLeichtfertigkeit, sondern mangels Alternativen. Das for-muliere ich insbesondere an die Adresse der FDP, diedas Privileg der Opposition so strapaziert. Sie sagt, dasshier Furchtbares passiert, zeigt aber nicht auf, was sie anunserer Stelle alternativ machen würde. Sie muss sichmehr Verantwortungsbewusstsein zulegen, um fähig zusein, nach der Wahl mit uns zu regieren.Noch vor einem Jahr hat niemand gedacht, welcheAnstrengungen wir dieser Tage unternehmen müssen,um die Banken funktionsfähig zu halten. Noch vor ei-nem Jahr hat niemand daran gedacht, dass gerade dieKurzarbeit zu den wirkungsvollsten und wichtigsten ar-beitsmarktpolitischen Instrumenten zählen wird, um Ka-pazität und Kompetenz nach der Krise sicherzustellen,gerade und besonders im Mittelstand.Ich sage ganz offen: Natürlich kosten diese nationalenAnstrengungen Geld. Ich meine aber, dass angespannteHaushalte letztendlich kein Politikverbot sein können.Der Durchschnittsverdiener in Deutschland verzweifeltnicht an den öffentlichen Haushalten und an den öffentli-chen Kassen, sondern an der eigenen. Ihm ist die Finanz-krise im eigenen Haushalt doch viel näher als die Fi-nanzkrise der Volkswirtschaft. Deshalb muss die Politikihn entlasten. Es gibt keine Alternative. Das sind im Üb-rigen keine Wahlkampfversprechen. Das ist Realität. DerKollege Eichel hat selber zugegeben, dass wir auf einemguten Wege sind und mit 28 Milliarden Euro jetzt schonEntlastungen bringen.Die Verankerung der Schuldenbremse war einePflicht gegenüber der jungen Generation, aber insbeson-dere auch wichtig als Beispiel für andere Nationen. Die
Metadaten/Kopzeile:
25638 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Dr. Georg NüßleinStabilität der Währung – Kollege Meister hat es ange-sprochen – treibt niemanden so sehr um wie – aufgrundder gemachten Erfahrungen – die Deutschen. Auch hier-bei muss Politik ein hohes Maß an Verlässlichkeit zei-gen.
Natürlich fordert eine globale Krise auch globale Ant-worten. Wichtig bei der Bekämpfung der aktuellen Krisesind vor allem offene Märkte. Protektionismus mauerteine Wirtschaft ein. Ich halte es für bemerkenswert, dassAngela Merkel einen Schwerpunkt ihrer Regierungser-klärung auf die Themen „Entwicklungshilfe“ und „Kli-maschutz“ gelegt hat. Ich weiß, dass das die Grünen är-gert – man hat das bei der Rede von Frau Künast ganzdeutlich gespürt –, weil ihnen die Klimakanzlerin dieButter vom Wahlkampfbrot nimmt. Es würde auch michbewegen, wenn ich meine Überflüssigkeit so deutlichspürte wie Sie bei den Grünen.
Es ist evident, dass gerade die Entwicklungs- undSchwellenländer besonders leiden. Den Hunger zu be-kämpfen, ist zunächst Christenpflicht, aber es ist auchein Gebot der politischen Vernunft; denn ein Fünftel derMenschheit kann weder psychisch noch physisch inFrieden leben, wenn es vier Fünfteln auf der Weltschlecht geht. Das ist so ähnlich wie mit den Steuerent-lastungen. Es gibt kein Politikverbot. Es wäre politischweder akzeptabel noch verantwortlich, mit Blick auf denHaushalt die Entwicklungshilfe zurückzuführen.Allerdings: Nicht mit bilateralen, sondern nur mitmultilateralen Lösungen können Entwicklungs-, Schwel-len- und Industrieländer einen fairen Interessenausgleicherreichen. Gerade für die Lösung der weltweiten Finanz-und Wirtschaftskrise – unter dieser Krise leiden die Ent-wicklungsländer besonders – ist es wichtig, dass Dohabald Erfolge vermelden kann.Ähnliches gilt im Übrigen für den Klimaschutz.Auch der funktioniert nur global. Ich möchte Ihnen einBeispiel sagen. Der europäische Emissionshandel be-günstigt russisches Gas und verteuert heimische Kohle.Das reduziert zunächst den CO2-Ausstoß in der EU.Russland allerdings nutzt Kohle mit veralteter Technolo-gie, um Gas zu substituieren, das dann teuer in die EUexportiert wird. Klimaschutz funktioniert eben nur welt-weit. Die Kanzlerin hat das heute richtig akzentuiert undwird das auch in L’Aquila tun. Die Froschperspektiveder Grünen ist hier jedenfalls nicht angemessen.Bereits 2007 hat die Bundeskanzlerin beim Gipfel inDeutschland zu Recht darauf hingewiesen, welch großeRolle die Schwellenländer für eine intakte Weltwirt-schaft spielen, und das Format „G 8 plus G 5“ als the-menbezogenen Dialog der G 8 mit den großen Schwel-lenländern initiiert. Das war eine Initiative dieserBundeskanzlerin. In den Arbeitsgruppen „Investitio-nen“, „Geistiges Eigentum“, „Energie“ und „Afrika“wurden viele Schritte aufeinander zu getan.In L'Aquila soll eine gemeinsame Erklärung abgege-ben werden, eine Erklärung mit dem Bekenntnis zu offe-nen Märkten, zur Förderung der Investitionsfreiheit undzu Entwicklungsprinzipien. Es geht darum, den in Heili-gendamm erfolgreich begonnenen Prozess fortzusetzen;denn nur gemeinsam können wir die Herausforderungender aktuellen Krise meistern, und nur gemeinsam kön-nen wir die globalen Probleme der Menschheit lösen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Sascha Raabe für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kollegen undKolleginnen! Eines ist unstrittig: Die Entwicklungslän-der sind an der jetzigen Finanz- und Wirtschaftskriseganz unschuldig – diese Krise ging von der Wall Streetaus –, aber sie sind doppelt betroffen, zum einen des-halb, weil ihre eigene Wirtschaft darunter leidet und Ar-beitsplätze bei ihnen wegbrechen, aber zum anderenauch deshalb: Arbeitsmigranten, die in Industrieländernleben und oft in fragilen Arbeitsverhältnissen beschäftigtsind, werden in solchen Zeiten als erste entlassen, sodassihre Überweisungen in die Heimatländer ausbleiben. Ineinigen Ländern, zum Beispiel in Jamaika, machen dieseZahlungen 20 Prozent des Bruttonationaleinkommensaus. Deswegen haben wir eine Verpflichtung, diesenMenschen besonders beizustehen. Nur 1 Dollar pro Tagzum Leben bedeutet bei einer vierköpfigen Familie, dasssie nicht woanders einsparen kann, weil das Geld für Le-bensmittel ausgegeben werden muss. Und wenn dannnur noch die Hälfte zur Verfügung steht, kann das direktzum Hungertod führen.Die Anzahl der Hungernden auf der Welt ist auf-grund der Finanz- und Wirtschaftskrise auf 1 MilliardeMenschen angestiegen. Die Europäische Union, dieOECD-Länder und die G-8-Staaten haben sich mehr-mals dazu verpflichtet, bis zum Jahr 2015 die Anzahl derhungernden Menschen zu halbieren. Sie haben in Glen-eagles und Heiligendamm bekräftigt, bis zum Jahr 20100,51 Prozent und 2015 sogar 0,7 Prozent des Bruttoso-zialproduktes für die Entwicklungshilfe zur Verfügungzu stellen. Frau Bundeskanzlerin, wir müssen jetzt se-hen, dass wir in Italien alle Länder dazu anhalten, dieseVersprechen einzuhalten. Das sind wir den Ärmsten derArmen schuldig.
Vor zehn Jahren fand der G-8-Entschuldungsgipfelin Köln statt. Dort hat unsere Ministerin HeidemarieWieczorek-Zeul die Initiative hervorragend vorangetrie-ben. Aus diesem Grund können jetzt 30 Millionen Kin-der unter anderem in Afrika wieder zur Schule gehen.Das war ein wichtiges Signal. Genauso wichtig ist esjetzt, dass auch in diesem Jahr auf dem G-8-Gipfel ein
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25639
(C)
(D)
Dr. Sascha RaabeZeichen gesetzt wird. Die Glaubwürdigkeit steht aufdem Spiel. Wir müssen zu unseren Versprechen stehen.Das Leben von Millionen von Menschen steht auf demSpiel. Deswegen müssen wir sehen, dass wir diesen G-8-Gipfel in Italien wirklich zu einem Erfolg führen.
Es bereitet uns Sorge, dass ausgerechnet Italien alsGastgeber die Mittel für Entwicklungshilfe kürzt, seineVersprechen bricht und die Ärmsten der Armen buch-stäblich verhungern lässt. Mir ist es schnurzegal, mitwem Silvio Berlusconi Poolpartys feiert oder wem erGeschenke macht. Das ist nicht der Skandal. Aber es isteine Schande, wenn Silvio Berlusconi die Menschen inAfrika im Stich lässt, sie verhungern lässt und seine Ver-sprechen gegenüber den Ärmsten der Armen bricht.
Das dürfen wir ihm nicht durchgehen lassen. Ich bin
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bevor Sie nette Fotos
beim Cappuccino-Trinken mit Herrn Berlusconi machen
lassen, werden Sie ihm – ich kenne Sie – reinen Wein
einschenken. Sie werden ihm sagen: Silvio, so geht es
nicht. Du hältst erst einmal deine Versprechen ein. Dann
können wir schöne Fotos machen lassen und Cappuccino
trinken. – Ich vertraue Ihnen, Frau Bundeskanzlerin.
Hauen Sie mit der Faust auf den Tisch! Sagen Sie ihm
die Meinung! Wir wollen, dass dieser Gipfel ein Erfolg
wird.
Wir in Deutschland haben in den letzten Jahren – da-
rauf haben Sie zu Recht hingewiesen – unsere Verspre-
chen eingehalten. Trotz der schwierigen Situation haben
wir die Mittel im Haushalt für Entwicklungszusammen-
arbeit erhöht. Wir werden uns jetzt daran messen lassen,
dass wir 2010 die Mittel für Entwicklungshilfe tatsäch-
lich auf 0,51 Prozent des Bruttosozialproduktes steigern.
Wir als SPD haben das in unser Wahlprogramm aufge-
nommen. In Ihrem Programm ist immerhin das 0,7-Pro-
zent-Ziel enthalten.
Anders als die Kollegen, die hier vorher ihre Ab-
schiedsreden gehalten haben, bin ich voraussichtlich
auch in der nächsten Legislaturperiode wieder dabei.
Frau Bundeskanzlerin, Sie sind auch Parteivorsitzende.
Ich freue mich, wenn ich dann hier im Plenum überprü-
fen kann, ob Sie aus der Opposition heraus unserem
Haushalt zustimmen werden, um das 0,51-Prozent-Ziel
durchzusetzen, oder gemeinsam mit uns in der Regie-
rung dafür stimmen werden. Den Ärmsten der Armen ist
das letztlich völlig wurst. Hauptsache, wir halten unsere
Zusagen ein. Ich bin mir sicher, hier besteht Einigkeit
darüber, das bis zur nächsten Legislaturperiode zu errei-
chen.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben richtig gesagt, dass
wir bei den WTO-Verhandlungen sehen müssen, dass
sich die USA und Indien bewegen. Hier geht es wieder
um die Glaubwürdigkeit. Wenn wir wollen, dass auch
ein Land wie Indien einem WTO-Abschluss zustimmt,
dann müssen wir in der Europäischen Union aufhören,
den Export von Milchprodukten zu subventionieren;
denn wir wollen nicht nur faire Preise für die Milchbau-
ern in Deutschland, sondern auch für die Milchbauern in
Indien und Afrika. Dieses Ziel können wir nur zusam-
men erreichen. Deswegen müssen wir glaubwürdig blei-
ben und uns entsprechend verhalten.
Ein letzter Punkt, den ich im Zusammenhang mit dem
G-8-Gipfel ansprechen möchte. Sie setzen sich sehr da-
für ein, eine Charta für nachhaltiges Wirtschaften zu
vereinbaren. Das unterstützen wir. Auch unsere Ministe-
rin, Heidemarie Wieczorek-Zeul, fordert bei den Verein-
ten Nationen die Schaffung eines Rates für wirtschaftli-
che, soziale und ökologische Entwicklung. Auch diese
Idee haben Sie unterstützt.
Wir sollten beim G-8-Gipfel ein deutliches Zeichen
setzen, dass wir auch im Welthandel ökologische und so-
ziale Mindeststandards weltweit durchsetzen wollen.
Kollege Raabe, achten Sie bitte auf die Zeit.
Genauso wichtig wie Mindestlöhne in Deutschland
sind faire und gerechte Löhne auf der ganzen Welt. Des-
halb hoffe ich, dass wir das beim G-8-Gipfel in Italien
hinbekommen – im Sinne der Menschen hierzulande,
aber auch im Sinne der Ärmsten der Armen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs-antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/13606.Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschlie-ßungsantrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, derSPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion DieLinke abgelehnt.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 g auf:a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Sportausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Klaus Riegert,Wolfgang Bosbach, Norbert Barthle, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Swen Schulz ,Dagmar Freitag, Dr. Peter Danckert, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der SPDSport fördert Integration– Drucksachen 16/13177, 16/13578 –
Metadaten/Kopzeile:
25640 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Vizepräsidentin Petra PauBerichterstattung:Abgeordnete Klaus RiegertSwen Schulz
Detlef ParrKatrin KunertWinfried Hermannb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Sportausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Klaus Riegert,Wolfgang Bosbach, Norbert Barthle, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU,der Abgeordneten Dagmar Freitag, Swen Schulz
, Dr. Peter Danckert, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der SPDsowie der Abgeordneten Detlef Parr, Dr. MaxStadler, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der FDPUnterstützung der Bewerbung der Landes-hauptstadt München zur Ausrichtung derXXIII. Olympischen und XII. ParalympischenWinterspiele 2018– Drucksachen 16/13481, 16/13649 –Berichterstattung:Abgeordnete Klaus RiegertDagmar FreitagDetlef ParrKatrin KunertWinfried Hermannc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Sportausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Klaus Riegert,Norbert Barthle, Antje Blumenthal, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Dagmar Freitag,Dr. Peter Danckert, Martin Gerster, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der SPDDuale Karrieren im Spitzensport fördern undden Hochschulsport strategisch weiterentwi-ckeln– Drucksachen 16/10882, 16/13057 –Berichterstattung:Abgeordnete Klaus RiegertDagmar FreitagDetlef ParrKatrin KunertWinfried Hermannd) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Sportausschusses
– zu dem Antrag der Abgeordneten KlausRiegert, Wolfgang Bosbach, Norbert Barthle,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUsowie der Abgeordneten Dagmar Freitag,Dr. Peter Danckert, Martin Gerster, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDGesellschaftliche Bedeutung des Sports– zu dem Antrag der Abgeordneten Detlef Parr,Joachim Günther , Miriam Gruß, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der FDPPositive Auswirkungen des Sports auf dieGesellschaft nutzen und weiter fördern– zu dem Antrag der Abgeordneten WinfriedHermann, Katrin Göring-Eckardt, Volker Beck
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMaßnahmen für eine moderne und zu-kunftsfähige Sportpolitik auf den Weg brin-gen– Drucksachen 16/11217, 16/11174, 16/11199,16/13058 –Berichterstattung:Abgeordnete Klaus RiegertDagmar FreitagDetlef ParrKatrin KunertWinfried Hermanne) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Sportausschusses zudem Bericht des Ausschusses für Bildung, For-
Technikfolgenabschätzung
TA-Projekt: Gendoping– Drucksachen 16/9552, 16/13059 –Berichterstattung:Abgeordnete Klaus RiegertDagmar FreitagDetlef ParrKatrin KunertWinfried Hermannf) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Sportausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Monika Lazar,Winfried Hermann, Katrin Göring-Eckardt, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENAlle Formen von Diskriminierungen themati-sieren – Bürgerrechte von Fußballfans stärken –Für einen friedlichen und integrativen Fuß-ballsport– Drucksachen 16/12115, 16/13504 –Berichterstattung:Abgeordnete Klaus RiegertDagmar FreitagDetlef ParrKatrin KunertWinfried Hermanng) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Sportausschusses zudem Antrag der Abgeordneten WinfriedHermann, Katrin Göring-Eckardt, Volker Beck
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25641
(C)
(D)
Vizepräsidentin Petra Pau
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDopingvergangenheit umfassend aufarbeiten– Drucksachen 16/13175, 16/13579 –Berichterstattung:Abgeordnete Klaus RiegertDagmar FreitagDetlef ParrKatrin KunertWinfried HermannNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegePeter Rauen für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freuemich darüber, dass wir heute in der Kernzeit eine De-batte zum Thema Sport führen können, in der wir einigeDinge etwas grundsätzlicher ansprechen können.Ich war immer und bin nach wie vor überzeugt davon,dass einem Kind, einem jungen Menschen nichts Besse-res passieren kann, als Sport in einer Mannschaft zubetreiben.
Hier lernt es, sich einzuordnen, sich unterzuordnen, aberauch sich durchzusetzen – eine hervorragende Schulungfürs Leben. Durch Sport werden logisches Denken wieauch praktische Fertigkeiten, die Fähigkeit zum nonver-balen Ausdruck wie auch Willensstärke entwickelt – Ei-genschaften, die die geistige und körperliche Entwick-lung des Menschen enorm befördern. Sport führt zurgesunden Balance zwischen sozialem Miteinander undangemessener Durchsetzungsfähigkeit.Eine der überzeugendsten Anhörungen für mich imSportausschuss war die zum Thema „Sport und Gesund-heit“. Die Wissenschaftler haben zu Recht den schlech-ten Gesundheitszustand unserer Kinder aufgrund man-gelnder Bewegung angeprangert. Zu viele Kinder sitzenzu häufig viel zu lange vor dem Fernseher oder an ihrenComputern. Sie werden dadurch bewegungsunfähig undträge; das ist vielfach mit Krankheiten verbunden undhat unübersehbare Folgen für die Kosten unseres Ge-sundheitswesens in der Zukunft. Die Wissenschaftler ha-ben aber auch unisono nachgewiesen, dass es einenengen Zusammenhang zwischen Bewegungsfähigkeitund der Aufnahmefähigkeit für andere Lernziele gibt.Ihre Ausführungen gipfelten in der Feststellung: EinKind, das nicht greifen kann, kann auch nicht begreifen.Die gängige Unart, Sportstunden in der Schule alsPuffer für Ausfallstunden zu verwenden, oder auch dieNeigung von Eltern, ihre Kinder vom Schulsport zu be-freien, sind wegen ihrer negativen Auswirkungen aufdas gesamte Leben des Kindes nicht häufig genug anzu-prangern. Wir als Sportpolitiker dürfen dies nicht hin-nehmen. Wir bleiben aufgefordert, das Bewusstsein fürdie Zusammenhänge zwischen Sport, Bewegung, Lern-fähigkeit und Gesundheit zu schaffen bzw. zu schärfen.
Die vor einigen Jahren auch von Teilen des Parla-ments gestellte Forderung, Sportler, die Risikosportar-ten betreiben, mit Zuschlägen bei den Krankenkassen zubelegen, ist, liebe Freunde, so abwegig wie die Forde-rung, Menschen nach ihrer Schuhgröße zu besteuern.
Auch dank der Sportpolitiker ist dieses Thema Gott seiDank heute vom Tisch, und fast alle Krankenkassen sindheute bereit, sportliche Aktivitäten ihrer Mitglieder auseigenem Interesse heraus zu fördern. Das war ein weiterWeg, der dafür in den letzten Jahren zurückgelegt wer-den musste.Sport ist ein zwischenmenschliches Bindeglied, dasüber die Familienbande hinausgeht: eine Klammer, dieaus kleinen sozialen Einheiten ein großes Ganzes bis hinzur staatlichen Gemeinschaft zusammenschweißt. Ichdenke beispielsweise an die Fußballweltmeisterschaftvon 1954 oder auch die riesige Bewegung anlässlich derWeltmeisterschaft im Jahre 2006, im Rahmen derer wirauf großen Fanmeilen nationale Gemeinsamkeiten erle-ben durften.Deshalb ist es fast eine Selbstverständlichkeit, dassdieses Parlament über alle Parteigrenzen hinweg die Be-werbung Münchens für die Olympischen Winterspieleim Jahre 2018 voll und ganz und mit allen seinen Mög-lichkeiten unterstützt, um diese Spiele nach Deutschlandzu holen.
Basis für die breite Sportbewegung in Deutschlandsind die circa 91 000 Vereine und die vielen Menschen,die sich aus purer Hingabe und ohne Eigensinn in ihrerFreizeit ehrenamtlich oder für eine geringe Aufwands-entschädigung im Sport engagieren. Insofern ist es rich-tig und wichtig, dass der Gesetzgeber immer wieder dieStellschrauben justiert, um diese ehrenamtliche Tätigkeitzu befördern und nicht unnötig durch Bürokratie zu be-hindern. Dies war in jüngster Zeit die Anhebung derÜbungsleiterpauschale. Ferner wurden die Vereins-freigrenzen für Körperschaft- und Gewerbesteuer auf35 000 Euro erhöht, und heute Abend werden wir die ge-setzliche Begrenzung der Haftung von ehrenamtlichenoder geringfügig vergüteten Vereinsvorständen beschlie-ßen; diesen Punkt haben wir in der Sportpolitik langediskutiert und angestrebt.
Sport ist nicht nur die schönste Nebensache der Welt,sondern Sport ist Teil der wesentlichen Natur eines jeden
Metadaten/Kopzeile:
25642 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Peter RauenMenschen und unverzichtbarer Bestandteil unserer Ge-sellschaft.Ich werde nach 23 Jahren mit dieser Wahlperiode ausdem Deutschen Bundestag ausscheiden. Dies ist abernicht meine letzte Rede; diese werde ich heute Nachmit-tag für den Ausschuss für Arbeit und Soziales halten.Ich möchte mich jedoch hier bei den Sportpolitikernfür das stets faire und zielgerichtete Miteinander bedan-ken, das ich in den letzten Jahren als Vorsitzender undstellvertretender Vorsitzender des Sportausschusses erle-ben durfte.Wenn es um den Sport geht, ist die Einigkeit über alleParteigrenzen hinweg weit größer als in anderen Politik-bereichen. Bleiben Sie bitte auch in Zukunft bei dieserGrundhaltung. Denn das ist gut für den Sport, gut für dieMenschen in unserem Lande und gut für Deutschland.Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Detlef Parr
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für deneinen – Peter hat es gesagt – ist Sport die schönste Ne-bensache der Welt: Wohlfühlelixier, Lebensbegleiter undOrientierungshilfe. Für den anderen hat er nicht dieseherausragende Bedeutung. Für den Dritten ist er Leis-tungsherausforderung mit der Aussicht auf persönlichenErfolg, und für den Vierten besteht der Sport nur ausAuswüchsen, die es auf Teufel komm raus zu skandali-sieren gilt: Geldgier, Randale, Leistungsmanipulation.Zwischen öffentlicher Wahrnehmung und veröffentlich-ter Meinung liegen oft Welten.Am Montag wurden unsere U-21-Fußballer Europa-meister.
Dies ist ein Musterbeispiel für die integrative Kraft desSports. Die Siegerdusche der Jungprofis kam aus Mine-ralwasserflaschen. Wir erlebten bodenständige Freudeder deutschen Nachfahren aus ganz unterschiedlichenKulturen. Das ist das Ergebnis einer Sportentwicklung,auf die wir stolz sein dürfen.Wir? – Das sind zunächst einmal Millionen Ehren-amtliche, die Woche für Woche den Sportbetrieb auf-rechterhalten. Das sind manchmal despektierlich behan-delte Sportfunktionäre, die in den Vereinen undVerbänden Verantwortung übernehmen. Das sind Sport-politiker in Städten und Kreisen, im Land und im Bund,die sportfreundliche Rahmenbedingungen schaffen unddie Finanzen sichern. Das sind Privatpersonen und Un-ternehmen, die als Mäzene oder Sponsoren die staatli-che Finanzierung wesentlich ergänzen, und das sind dieMedien, die die Sportentwicklung ins Licht der Öffent-lichkeit rücken.Wir – gestern haben wir, Peter Danckert, während derFeierstunde im Reichstag noch darüber gesprochen –sind eine Sportfamilie, in der man sich versteht und inder es auch einmal knirscht, etwa beim Thema Doping.Zweifellos ist Doping eine Geißel des Hochleistungs-sports. Aber ist es richtig, aktuell den Reitsport pau-schal zu verurteilen, wie viele das mit anderen Sportar-ten bereits getan haben, wenn es Regelverstöße, ja auchBetrug in Grenzbereichen gegeben hat? Vorgestern beider Eröffnung des CHIO in Aachen wurde wieder deut-lich: Der Reitsport lebt. Er bietet ästhetische Bilder vonTier und Mensch im Einklang. Er zeigt begeisterte Ama-teurreiterinnen und -reiter. Der Verband hat konsequentund schnell reagiert, die Aktiven haben offene Worte ge-sprochen. Reagieren wir also angemessen, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, und rufen nicht wieder lautstarkgleich nach dem Staatsanwalt!
Der ehemalige Richter am BundesverfassungsgerichtProfessor Udo Steiner spricht zu Recht von einem sport-politischen Elchtest bei den Dopingkontrollmethoden.Sein Richterkollege Professor Jahn sieht den Einsatz vonStrafrecht nur als Ultima Ratio, als absolut letztes Mittelim Kampf gegen Doping.Aktuell sind wir dabei, eine neue Sau durchs Dorf zutreiben – Reizwort Materialdoping. Ist es wirklich dieMinimierung des Faktors Mensch, die das Geschäft vonEinrichtungen wie dem IAT in Leipzig oder dem FES inBerlin oder Sportartikelherstellern bestimmt, denen wirjetzt nach der Weiterentwicklung von Schwimmanzügendas Handwerk zu legen haben? Bleibt der Mensch hierwirklich auf der Strecke?Wir waren uns eigentlich immer darin einig, dass For-schung und Entwicklung zum Sportbereich und zum in-ternationalen Wettbewerb gehören und von uns gefördertwerden müssen. Sicherlich sollte das Reglement derFachverbände rechtzeitig reagieren und Grenzen setzen.Aber wo fangen wir an, wo hören wir auf? Die Diskus-sion über Gendoping ist ebenfalls mit Bedacht zu führen.Ich warne vor überhasteten, oberflächlichen Reaktionen.Eindeutige Grenzen müssen wir uns in einem anderenBereich setzen. Wer in der öffentlichen sportpolitischenDebatte zum Beispiel den DFB-Präsidenten einen „un-säglichen Demagogen“ nennt, mag sich auf die Presse-freiheit berufen können. Hier sind aber die Grenzen desAnstands überschritten.
Wer einen Staatssekretär dazu zwingt, sich schriftlichgegen einen Zeitungsartikel als bewusst ehrverletzend zuwehren, überschreitet die Grenzen des guten Ge-schmacks. Wer in Interviews unsachliche persönlicheAngriffe startet und damit das Fernbleiben von einerVeranstaltung provoziert, trägt nichts zum kritischenSchulterschluss von Sport und Politik bei. Das muss derVergangenheit angehören.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25643
(C)
(D)
Detlef Parr
Sportgroßveranstaltungen gehören zum Salz in derSuppe der Angebote in unserer Gesellschaft. Die Fuß-ball-WM 2006 hat einen enormen Schub im Selbstver-ständnis von uns Deutschen bewirkt; Peter hat bereitsdarauf hingewiesen. Das waren schöne Wochen. Von derLeichtathletik-WM im August in Berlin, DagmarFreitag, erwarten wir neuen Schwung.Das gilt auch für die Bewerbung Münchens für dieOlympischen Winterspiele 2018. Erstmals würden ineiner Region nach Sommerspielen auch Winterspielestattfinden, ein weltweit bisher einmaliges Ereignis. DieKonkurrenz, insbesondere die koreanische mit Pyeong-chang als Bewerber, schläft nicht. Deshalb müssen wirunsere Bewerbung zu einer nationalen Sache machenund frühzeitig um breite Zustimmung werben. Die FDPstimmt dem entsprechenden Antrag zu. Detailfragenmüssen wir sachgerecht im Laufe des Verfahrens klären.Wenn wir jetzt Bedenken hochstilisieren, brauchen wiruns gar nicht erst auf den Weg zu machen.
Sport und Gesundheit gehören zusammen. Die Zu-nahme des Übergewichts in unserer Gesellschaft und derdamit verbundenen Juniordiabetes – der Begriff allein istschon absurd – bei Kindern und Jugendlichen ist alar-mierend. Die Sportvereine haben bereits darauf reagiert.Inzwischen bieten rund 30 Prozent von ihnen Pro-gramme zur Gesundheitsförderung, Prävention und Re-habilitation unter anderem in Kooperation mit Kranken-kassen an – Tendenz steigend. Dieser Trend basiert aufEigeninitiative der Vereine. Wir brauchen also kein Prä-ventionsgesetz zur Gängelung und zu bürokratischerUmverteilung vorhandener Mittel.
Auch die Zusammenarbeit des DOSB mit der Bun-deszentrale für gesundheitliche Aufklärung klappt vor-züglich. Die Aktionswoche „Alkoholfrei Sport genie-ßen“ ist ein gutes Beispiel und dient der konsequentenUmsetzung des Jugendschutzgesetzes. Die „Rauchfrei“-Kampagne kann ohne gesetzliche Vorschriften ebensozum Ziel eines sportlichen und gesundheitsorientiertenLebensstils führen.
Die FDP mahnt noch einmal die notwendigen Initiati-ven im Schulsport an, die nach der Sprint-Studie seitJahren überfällig sind. Der Schulsport legt die entschei-denden Grundlagen für den Breitensport und damit auchfür den Leistungssport. Diese Studie darf nicht länger inder Schublade vor sich hin schimmeln. Sie muss endlichzu politischem Handeln führen.
Die Diskussion über den „Goldenen Plan Ost“ hat ge-zeigt, dass auch im Westen der Zustand unserer Sport-stätten große Sorgen bereitet. Ohne Sportstätten keinSchulsport und kein Sport im Verein. Ein „GoldenerPlan Deutschland“ ist dringend geboten. Die Konjunk-turpakete hätten zum Einstieg genutzt werden können.Die Bundesregierung hat diese Chance leider durch zuenge Auflagen vertan.
Ein neuer Anlauf ist nötig. Dabei müssen wir auch dieFrage nach den Normen stellen. Eine Nummer kleinerund damit preiswerter, wäre in vielen Fällen vielleichthilfreich.Noch ein Wort zum Antrag „Sport fördert Integra-tion“: ja, aber nicht nur der Migrantenfamilien, wie es indiesem Antrag herausgearbeitet wird. Wir sind sehrglücklich darüber, dass der Sport von Menschen mit kör-perlicher und geistiger Behinderung immer mehr in dieMitte unserer Gesellschaft rückt. Der Deutsche Behin-dertensportverband und die Special Olympics leistenhierzu einen unschätzbaren Beitrag, der kontinuierlicheUnterstützung verdient.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich verabschiedemich ähnlich wie Peter Rauen heute als Sprecher meinerFraktion für die Sport-, die Sucht- und die Drogenpoli-tik. Ich möchte allen Kolleginnen und Kollegen imSport- und im Gesundheitsausschuss Dank sagen fürspannende Jahre. Sie haben viel Geduld mit meinemTemperament gehabt.
Wir haben uns nichts geschenkt, aber gerade dadurchviel gegeben. Dafür danke ich Ihnen allen.
Zum Schluss noch eine persönliche Bitte an dennächsten Bundestag: Liebe Kolleginnen und Kollegen,lasst den Menschen in unserer Gesellschaft ihre Eigen-verantwortung. Lasst ihnen die Freiheit, ihr Leben selbstzu bestimmen. Wir verhindern keinen Amoklauf durchein Verbot von Computerspielen. Wir verhindern dieschmutzige Kinderpornografie nicht durch eine Sper-rung von Internetseiten.
Wir verhindern Alkoholmissbrauch nicht durch Werbe-und Verkaufsverbote. Wir verhindern, um zum Sport zu-rückzukehren, kein Doping durch die strafrechtlicheVerfolgung unserer Aktiven. Wir verhindern solcheMissstände und Fehlentwicklungen nur durch Aufklä-rung, Information und Prävention.Wir müssen mit unserer Politik die Köpfe der Men-schen erreichen, viel stärker aber noch ihre Herzen. MitHerz und Verstand kann die überwältigende Mehrheit inunserem Land ihre Probleme selbst und in der Gemein-schaft lösen. Vergessen wir bei all dem Netzwerkeln
Metadaten/Kopzeile:
25644 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Detlef Parrüber Taktik und Strategie nicht die Mitmenschlichkeitund den Gemeinsinn. Sie, und nicht der Staat als Super-nanny, sind der Schlüssel zu einer lebenswerten Gesell-schaft.Glück auf für uns alle, und als Düsseldorfer sage ich:Macht et jot! Danke!
Kollege Parr, die guten Wünsche des gesamten Hau-
ses begleiten Sie in Ihren neuen Lebensabschnitt, auch
wenn ich vernommen habe, dass die meisten der Kolle-
ginnen und Kollegen aus den anderen Fraktionen, die
Sie angesprochen haben, die Debatte zu den einzelnen
Themen mit Ihnen gerne fortgesetzt hätten.
Das Wort hat die Kollegin Dagmar Freitag für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Ende einer Legislaturperiode ist Anlass genug, ei-nen kurzen Blick zurückzuwerfen und Bilanz zu ziehen.Dabei fällt der Blick zwangsläufig auf die große, offeneFlanke: Doping. Es geht um eine wirklich erfolgverspre-chende Bekämpfung des Dopings, weil es verheerendeAuswirkungen auf den gesamten Sport hat.Lieber Kollege Parr, Sie wissen, dass ich besondersgerne nach Ihnen im Plenum spreche, weil Sie immer sowunderbare Vorlagen liefern. Ich glaube nicht, dass Re-lativierungen bei der Bewältigung des Dopingproblemsweiterhelfen. So einfach, wie es im Reitsport nach IhrenWorten zu sein scheint, ist es, glaube ich, nicht. Deshalbwerden wir uns mit der gebotenen Konsequenz auch die-ser Sportart zuwenden.
Lassen Sie mich einen kurzen Blick auf den Bericht derSchäfer-Kommission werfen. Dieser Bericht müssteauch dem Letzten die Augen geöffnet haben. Er hat unsEinblicke in ein zutiefst perfides, verkommenes Doping-system geliefert, in dem alle – ich betone: alle – ein ein-ziges Ziel eint: zu manipulieren und zu betrügen,
und zwar den Konkurrenten, die Zuschauer, die Sponso-ren, die gesamte Gesellschaft und natürlich auch sichselbst.All das ist unweigerlich mit der Zerstörung derGrundwerte des Sports verbunden. In diesem üblen Spielbleiben die Sportler eben nicht außen vor. Dies ist wun-derbar nachzulesen in den Offenbarungen des überführ-ten Dopers Bernhard Kohl vor wenigen Tagen in derNeuen Zürcher Zeitung. Auf die Frage, ob das Profilebenohne Doping nicht viel angenehmer sei, antwortete erfolgendermaßen – ich zitiere –:Viel angenehmer. Wie viel Zeit ich für das Themaverwendete, wie oft ich mir überlegen musste, wieich negativ sein kann in Tests – das sind schlimmeMomente, aber sie gehören dazu … Das Dopingmuss zu deinem Körper passen … du musst für dichselber das perfekte Doping herausfinden.Noch Fragen, liebe Kolleginnen und Kollegen?
Doping funktioniert nur mit Wissen des Sportlers. Aberdie Selbstwahrnehmung von Dopern ist offensichtlicheine andere. Frank Mantek, Trainer von OlympiasiegerMatthias Steiner, berichtete, dass er Pillen bekam, die ernahm, ohne zu fragen. Es waren Anabolika. Bald merkteer, was in seinem Körper vorging:Da ging die Post ab.So sagte er wörtlich. Es habe aber für ihn keine Alterna-tive gegeben, außer aufzuhören. Er sagte weiter:Ich wollte aber Leistungssport machen.Und die Mittel hätten ihn seinem sportlichen Ziel näher-gebracht.Was sagt er zum Schluss?Ich bin Opfer, nicht Täter.Was für ein Unfug. Wer sich an Betrug durch Dopingbeteiligt, ist Täter und kein Opfer.
Daher bedarf die Frage nach Opfern und Tätern sehrwohl einer differenzierten Betrachtung, und zwar um derwirklichen Dopingopfer willen. Dass es sie gibt, bestrei-tet niemand.In zugegebenermaßen seltenen Fällen lohnt ein Blicknach Bayern,
hier insbesondere auf die Bemühungen der bayerischenJustizministerin, Beate Merk.
Lieber Herr Kollege Barthle, ich darf Sie bitten, herzli-che Grüße nach Bayern auszurichten. Ich sage Ihnenjetzt, warum.
– Herr Ramsauer, ich freue mich, dass auch Sie anwe-send sind. Ich will Sie gerne bitten, Frau Merk zukünftigzu unterstützen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25645
(C)
(D)
Dagmar FreitagFrau Merk hat einen guten Anti-Doping-Gesetzentwurfvorgelegt. Frau Merk mahnt ständig die Umsetzung die-ses Anti-Doping-Gesetzes an. Sie hat unsere volle Un-terstützung.
– Lieber Detlef Parr, das ist kein Fehler.
Ich mache nur deutlich, woran die CSU-MinisterinMerk scheitert: am Bundesrat – er ist bekanntlichunionsdominiert – und an der CDU/CSU-Bundestags-fraktion. Herr Dr. Ramsauer, ich finde, Sie sollten in Ih-rer eigenen Truppe ein wenig Unterstützung für Ihre Mi-nisterin organisieren.
Ein anderes Thema. Lieber Detlef Parr, da kommenwir zu einem ganz spannenden Punkt: Stichwort Kon-junkturpaket.
Ich habe die kleinkarierte Mäkelei zur Kenntnis genom-men. Für die Kommunen allerdings ist es ganz wichtig,Mittel aus diesem Konjunkturpaket auch für den Sport-stättenbau nutzen zu können.
Wir, die Koalitionspolitiker, haben einen Antrag in denBundestag eingebracht, durch den vorgesehen wird, dieNutzung der Mittel auch für Sportstätten zu ermögli-chen. Das ist uns bekanntlich gelungen. Leider nicht ge-lungen ist die rasche Umsetzung vor Ort. Was lässt dieschwarz-gelbe Landesregierung in Düsseldorf in Personihres Innenministers, FDP, hierzu verlauten? Wörtlichaus einer Debatte des Landtages vom vergangenenFreitag:Wenn es Probleme bei der Umsetzung gibt, dannliegen sie beim Bund.So Wolf vergangene Woche im Landtag.
Die Bremse bestehe darin, dass sich der Bund geweigerthabe, das Geld direkt an die Städte weiterzuleiten.
Diese Aussage macht mich einigermaßen fassungslos.Der Mann ist Innen- und damit auch Verfassungsminis-ter,
weiß aber ganz offensichtlich nicht, dass es laut Verfas-sung keine direkten Finanzbeziehungen zwischen Bundund Kommunen gibt.
Lieber Detlef, sprich einmal mit deinem Innenminister.Ich empfehle ihm ganz dringend einen Blick ins Grund-gesetz.
Das Stichwort, Herr Minister Wolf, heißt Kooperations-verbot.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch eine gute Bi-lanz – meine Kollegen werden noch einige Punkte auf-greifen – ist nie gut genug. Meine Fraktion wäre bei derDopingbekämpfung gerne weiter gegangen. In dieserFrage sind wir an unserem Koalitionspartner und an gro-ßen Teilen des organisierten Sports gescheitert. Hinzukommt – das betrifft die Gesundheitspolitik –, dass dasPräventionsgesetz gescheitert ist. In dieser Frage wuss-ten wir den organisierten Sport allerdings an unsererSeite. Die Forderung, Sport und Kultur als Staatszieleins Grundgesetz aufzunehmen, bleibt auf der Tagesord-nung
Kollegin Freitag, achten Sie bitte auf die Zeit.
– ebenso wie die Frage: Wie weit soll der Gesetzgeber
bei der Dopingbekämpfung gehen? Ich sage Ihnen: Er
wird weiter gehen müssen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Katrin Kunert das Wort.
Liebe Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Vertreterinnen und Vertreter des Sports! LiebeGunhild Hoffmeister! Auf der Zielgeraden dieser Wahl-periode absolvieren wir heute einen Mehrkampf. Geradein den letzten Tagen wurde immer wieder auf die soge-nannte Fraktion Sport im Bundestag hingewiesen, da wiralle den Sport würdigen. Was die Anträge, die heute ab-schließend beraten werden, angeht, kann ich feststellen:Meine Fraktion kann zumindest ihre Überschriften un-terstützen. Die Überschriften der Anträge benennen Pro-bleme und einzelne Aspekte, die im Sport eine Rollespielen oder bei denen der Sport die Rolle spielt. In denAnträgen wird aber überhaupt nicht reflektiert, dass derSport nur so gut funktionieren kann, wie es die Gesell-schaft zulässt. So werden die Anträge nette Lippenbe-kenntnisse bleiben, in dieser Legislaturperiode abernicht mehr in Angriff genommen werden können. Es
Metadaten/Kopzeile:
25646 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Katrin Kunertbleibt abzuwarten, wie sich der neue Bundestag zu die-sen Anträgen verhält.Die Linke sagt: Es fehlt ein Sportfördergesetz desBundes, in dem der Sport als Ganzes gesehen wird unddas den Bund zu einem konsequenten und verbindlichenHandeln anleitet.
Das will ich Ihnen an drei Beispielen deutlich machen.Erstes Beispiel: die gesellschaftliche Bedeutung desSports. Im Antrag der Koalitionsfraktionen wird die Si-tuation richtig beschrieben, indem die vielen Funktionendes Sports benannt werden. Aber die angeführten Forde-rungen haben nur appellarischen Charakter. Wir appel-lieren nämlich immer nur an Gremien, den Sport weiter-hin zu unterstützen.Da die Gesellschaft den Sport würdigt, müssen wiruns die Frage stellen: Erreichen die Funktionen desSports, die wir immer benennen, alle Menschen imLand? Haben alle gleichermaßen Zugang zum Sport?Können Migrantinnen und Migranten, Frauen und Men-schen mit Behinderung an allen sportlichen Angebotenteilhaben?In Sachsen werden an Kinder der dritten Klassen Gut-scheine für Jahresmitgliedschaften in Sportvereinen ver-geben, weil man erkannt hat, dass der Geldbeutel derEltern mit darüber entscheidet, ob Kinder Zugang zuSportangeboten haben. Im Hinblick auf das Bildungs-system beklagen wir immer wieder, dass der Geldbeutelder Eltern darüber entscheidet, ob ein Kind einen höhe-ren Bildungsabschluss erreicht oder nicht. Im Kinder-und Jugendbereich des Leistungssports ist die Situationallerdings genauso.In Sachsen-Anhalt kostet ein Internatsplatz an derLandessportschule 230 Euro im Monat. Das ist selbst fürNormalverdiener nicht gerade aus der Portokasse zu be-zahlen. Wie aber stellt sich die Situation für ein Kind,das aus einer einkommensschwachen Familie kommt,dar? Ich habe Ihnen schon oft von Bianca erzählt, diediese 230 Euro nur aufbringen kann, weil private Spen-derinnen und Spender diesen Betrag übernehmen.Dieses Mädchen wurde von der ARGE aus der Bedarfs-gemeinschaft herausgerechnet. Ich sage: Das ist einSkandal! Der Geldbeutel der Eltern darf nicht darüberentscheiden, ob Kinder und Jugendliche an weiterfüh-rende Sportschulen gehen können.
Eigentlich hätte man diesen Fall bis zum Schluss „durch-klagen“ müssen; denn es ging um eine zweckgebundeneZuweisung. Ich finde, dieses Beispiel macht deutlich,dass wir über diese Themen gesamtgesellschaftlich dis-kutieren müssen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, im kürzlich vorge-stellten Sportentwicklungsbericht werden die Entwick-lungen der Vereinslandschaft im Sport und ihreProbleme deutlich. Die Bereitschaft, Verantwortung inVereinen zu übernehmen, nimmt ab, es fehlt an Übungs-leitern, der Leistungssport ist leider auch nicht mehr soattraktiv wie früher, und die Vereine haben zunehmendfinanzielle Probleme. 15,3 Prozent der Vereine sind inihrer Existenz gefährdet, weil sie finanzielle Lasten nichtmehr schultern können. In Buna zum Beispiel hat einSportverein einen Kredit aufnehmen müssen, um eineInsolvenz abzuwenden.Die 127 000 Sportstätten in Deutschland werden zu66 Prozent durch die Kommunen, zu 32 Prozent durchdie Länder und zu 1,6 Prozent durch den Bund gefördert.Schaut man sich die derzeitige Finanzsituation der Kom-munen an, erkennt man: Der Bund muss den Kommunenendlich ausreichende Finanzen verlässlich zur Verfü-gung stellen. Immer mehr Aufgaben werden vom Bundauf die Kommunen übertragen, das Geld wird ihnen abernicht weitergegeben. Den Kommunen dann vorzuwer-fen, sie könnten mit Geld nicht umgehen, das ist nichthinnehmbar.Auch wenn ich mich wiederhole: Es ist nicht kleinka-riert, darauf hinzuweisen, dass das Konjunkturpaket IIgerade bei Sportstätten kaum Anwendung findet,
weil die Kriterien streng gestrickt sind. Das muss man sosagen. Wir haben uns das vor kurzem in den Sportverei-nen und in den Kommunen angeschaut.
– Du kannst gerne mit in die Sportvereine kommen.Petra Sitte und ich, wir waren in Halle unterwegs undhaben es uns von den Leuten in den Sportvereinen erklä-ren lassen. Ihr müsst auch einmal schauen, was ihr be-schließt!
Gesellschaftliche Bedeutung erfordert auch gesamt-gesellschaftliche Verantwortung. Die Linke lehnt denAntrag der Koalition ab. Die Linke bleibt dabei: Wirbrauchen ein Sportfördergesetz des Bundes, in dem ver-bindlich geregelt wird: Erstens. Zugang für alle zumSport, sowohl zum Breiten- als auch zum Spitzensport.Zweitens. Weiterentwicklung des Schulsports, und zwarnach bundeseinheitlichen Qualitätsstandards. Drittens.Chancengleichheit für Menschen mit Behinderungen.Viertens. Sicherung des Sports, gerade vor dem Hinter-grund der Wirtschafts- und Finanzkrise.Zweites Beispiel. Sport fördert die Integration. DieFunktion des Sports bei der Integration ist unbestritten.Viele Forderungen im Antrag der Koalition sind begrü-ßenswert. Dass Sie in Ihrem Antrag so großen Wert aufdie Würdigung des Sports im Nationalen Integrations-plan legen, ist allerdings kritisch zu sehen. Im Nationa-len Integrationsplan wird der Sport zwar hervorgehoben;zu einer erfolgreichen Integrationspolitik gehört abermehr als Projektarbeit. Es fehlen so wichtige Fakten wieEinbürgerungsrechte und Einbürgerungsentwicklungenund Wahlrecht. Ein kommunales Wahlrecht für Dritt-staatler haben Sie in diesem Haus vor einigen Wochen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25647
(C)
(D)
Katrin Kunertabgelehnt. Das Recht, zur Wahl zu gehen, bedeutet auchTeilhabe und Integration von Menschen mit Migrations-hintergrund. Auch eine Rücknahme der Einschränkun-gen beim Ehegattennachzug und die Integration vonFlüchtlingen fehlen.Laut Ihrem Antrag wollen Sie den Sport für die inter-nationale Verständigung nutzen. Das strenge Visums-recht und seine Praxis versagen aber Sportlerinnen undSportlern, die keine Spitzensportler sind, die Einreise.So hat man im Zusammenhang mit der Fußballweltmeis-terschaft 2006 Mannschaften aus Ghana und Nigeria zurTeilnahme am Straßenfußball in Kreuzberg nicht einrei-sen lassen. Wenn man den Sport hervorheben will, mussman das gesamtgesellschaftlich betrachten und auch diePraxis sehen.
Ich will Ihnen an einem Beispiel aus Bitterfeld deut-lich machen, wie Integration aussieht, wenn man nurnach den Intentionen Ihres Antrages geht: Eine vietna-mesische Familie lebt seit 1992 in Deutschland. Alleihre drei Kinder sind hier geboren. Sie sind in Sportver-einen integriert, nehmen an dem Programm „Integrationdurch Sport“ teil. Die beiden Mädchen sind Landesmeis-terinnen im Turnen. Diese Familie sollte letztes Jahrausgewiesen werden. Durch die Einreise mit neuen Pa-pieren über ein Drittland leben sie jetzt legal in Deutsch-land. Wir sagen: Diskriminierungsfreie Integrationspoli-tik sieht anders aus, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sie versuchen, durch den Sport Probleme zu lösen,die der Sport allein nicht lösen kann. Der Sport kann dieLösung von Problemen positiv begleiten, aber gerade inFragen der Integration braucht es mehr als Projekte; ichsage das, ohne die Bedeutung des Sports kleinreden zuwollen.
Die Linke sagt: In einem Sportfördergesetz des Bundeskann auch die Integration entsprechend verankert wer-den.Drittes Beispiel. Duale Karriere im Spitzensportfördern und den Hochschulsport strategisch weiterentwi-ckeln. Die Große Koalition will mit ihrem Antrag errei-chen, dass sich die Akteure des Bildungssystems ihrerVerantwortung für die Athletinnen und Athleten bewuss-ter werden. Wenn ich jetzt Ihrer Logik folge, mich alsonur auf den Sport konzentriere, muss ich sagen: Ja,Sportlerinnen und Sportler müssen bessere Bedingungenvorfinden, um Sport – Training, Wettkampf – und Stu-dium unter einen Hut zu bekommen. Sie müssen auchnach der Sportkarriere eine Zukunft haben.Im derzeitigen Hochschulsystem, Frau Freitag, habenaber nicht nur Sportlerinnen und Sportler Probleme, ihrStudium in der Regelzeit abzuschließen. Studierende mitKind, Studierende aus einkommensschwachen Familien,Studierende mit einer Behinderung, ausländische Studie-rende und Studierende, die einen Familienangehörigenpflegen, haben genau die gleichen Probleme, ihr Stu-dium in der Regelzeit abzuschließen.
Heute müssen 60 Prozent der Studierenden nebenbeijobben, weil das BAföG nicht ausreicht, und nur29 Prozent bekommen überhaupt BAföG.Hier liegt einiges im Argen. Deshalb fordert dieLinke, dass allen Studierenden gute Zugangsbedingun-gen zum Studium garantiert werden, und der Zugangmuss auch für alle gleichermaßen gestaltet werden. Esreicht also nicht, eine Nische in einem System zu verbes-sern, um eine bestimmte Gruppe besserzustellen – es istja richtig, dass sie den Sport in Ruhe ausüben sollen –,sondern man muss das gesamte System verbessern, da-mit sich auch alle wirklich frei entfalten können. Dasmuss für alle zutreffen.
Wir fordern die Verbesserung der sozialen Situationvon Studierenden, das Verbot von Studiengebühren, dieMöglichkeit eines umfassenderen BAföGs, und wir sa-gen auch, dass das Studium nicht die Fortsetzung derSchule sein darf. Studierende brauchen mehr Freiräume.Die Präsenzzeiten müssen verringert werden, und wirsollten den Ausbau von Möglichkeiten eines Teilzeitstu-diums im Blick haben. Auch das – die Vereinbarkeit vonSport und Berufsausbildung oder Arbeit – ist in einemSportfördergesetz festzuschreiben.Lassen Sie mich abschließend noch etwas zur Fami-lie des Sports sagen: Lieber Peter Rauen, ich schätzedich sehr, und ich werde dich im Sportausschuss vermis-sen, wenn ich denn dort weiter arbeite.Diese viel beschworene Einigkeit über Parteigrenzenhinweg ist ein Problem. Deutschland bewirbt sich für dieOlympischen Spiele 2018, und ihr formuliert in euremAntrag, das sei ein nationales Anliegen. Es gab erst ein-mal in der Geschichte der Olympischen Spiele den Fakt,dass ein Land von Olympischen Spielen ausgeschlossenwurde, weil der olympische Gedanke sehr groß ist.Ich frage die CDU/CSU-Fraktion, wann sie endlichihren unsäglichen Beschluss zurücknimmt bzw. aufhebt,nichts, aber auch gar nichts in diesem Deutschen Bun-destag gemeinsam mit den Linken zu verabschieden.Das ist mein Wunsch für die nächste Legislaturperiode;denn ansonsten macht ihr euch unglaubwürdig.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Winfried Hermann für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Durch dielange Latte an Anträgen, die heute zur Verabschiedungansteht, wird deutlich, wie groß und breit das Spektrum
Metadaten/Kopzeile:
25648 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Winfried Hermanndes Sportausschusses in den vergangenen Monaten undin dieser Legislaturperiode war. Ich glaube, wir könnenzu Recht sagen, dass wir nahezu jedes brennende Pro-blem im Sport aufgegriffen und über fast alle Problemezumindest diskutiert haben. Ich glaube, das ist wirklichein großes Verdienst dieses Ausschusses und auch derje-nigen, die jetzt gehen.
Es war uns stets wichtig, dass Sportler mit und ohneHandicaps gleich behandelt werden und dass wir sie ingleicher Weise auch in diesem Ausschuss engagiert be-handeln. Ich will heute aber keine lange Bilanz über dasziehen, was wir alles gemacht haben, was gut gewesenist und was schlecht war, sondern ich möchte eher eineBilanz ziehen im Sinne von: Was ist unbefriedigend,nicht gut erledigt und noch anstehend, oder was habenwir wirklich nicht geschafft? – Es gibt hier einigePunkte, die gewissermaßen auch Teil der Arbeitsliste derNächsten im Sportausschuss sind:Erster Punkt. Sport und Prävention, Sport und Re-habilitation. Wir haben eigentlich einen Konsens darü-ber, dass der Sport hier eine wichtige Bedeutung hat. Ichbedauere es für die Grünen aber außerordentlich, dass esuns nicht gelungen ist, ein Präventionsgesetz zu verab-schieden, und zwar nicht, weil wir glauben, dass man al-les mit Gesetzen regeln kann, Kollege Parr – das ist nichtder Ansatz –, sondern weil mit dem Entwurf eines Prä-ventionsgesetzes ein moderner Präventionsgedanke miteinem modernen Ansatz auch für den Sport entwickeltwurde. Es geht um Lebenswelten und Lebensstile; dortwird angesetzt. Mit diesem Präventionsgesetz wäre eineneue finanzielle Grundlage in Form eines Präventions-fonds geschaffen worden, mit dem die Präventionsarbeitdurch den Sport für alle hätte ermöglicht und finanziertwerden können.Das ist der eigentliche Schaden; das bedauern wir.Das ist ein Auftrag, den der nächste Deutsche Bundestagunbedingt aufgreifen muss.
Zweiter Punkt. Die internationale Dimension desSports. Auch darüber haben wir diskutiert. Ich glaube,es gibt hier einen breiten Konsens darüber, dass derSport friedensstiftend sein kann, zur Völkerverständi-gung beitragen und helfen kann, Vorurteile abzubauen.Durch den Sport kann eine ganze Menge geleistet wer-den – auch in den internationalen Beziehungen. Das tuter aber nicht automatisch und von selber. Ich finde, hierhaben wir insgesamt noch einen ziemlichen Nachholbe-darf.Es wird auf Dauer nicht reichen, nur die Mittel für dasAuswärtige Amt etwas zu erhöhen und ein paar Trainer-lehrgänge mehr durchzuführen, vielmehr glaube ich,dass wir ein umfassendes Gesamtkonzept dafür brau-chen, wie wir den Sport sozusagen als Friedensarbeitbzw. Friedensprojekt ausbauen können.
Ich bin auch nach wie vor der Meinung, dass es ein gro-ßer Fehler ist, dass im Haushalt des BMZ keine Extra-mittel für den Aufbau des Sports in den Entwicklungs-ländern vorhanden sind, als Beitrag zum Aufbau derZivilgesellschaft in diesen Ländern.Das ist dringend notwendig und überfällig. Auch dasist ein Projekt für die nächste Legislaturperiode.
Dritter Punkt: Sport und Integration. Wenn MinisterSchäuble über Sport redet und dabei ein bisschen insSchwärmen kommt, dann sagt er eigentlich immer, dasses in der Gesellschaft kaum etwas gibt, das besser inte-grieren kann als Sport.
Da gebe ich ihm auch vollkommen recht. Das ist absolutrichtig. Aber wenn wir das erkennen, dann, finde ich,sind die gerade einmal 6 Millionen Euro, die seit Jahrenfür Integrationskurse im Sport ausgegeben werden,ziemlich dürftig – insbesondere angesichts dessen, waswir vom Sport erwarten und in einigen Bereichen fürSport ausgeben. Ich war unlängst in Kreuzberg in demberühmten Türkiyemspor-Club. Das ist ein berühmterMultikulti-Sportclub, der viel Integrationsarbeit leistet.Wenn Sie dort hingehen, dann erfahren Sie, dass solcheVereine, in denen viel ehrenamtliche Arbeit geleistetwird, mit der großen Integrationsaufgabe, die an sie her-angetragen wird, völlig überfordert sind. Sie brauchenkeine komplette staatliche Alimentierung – darum gehtes nicht –, sondern sie brauchen mehr Förderung undprofessionelle Unterstützung, damit sie ihre ehrenamtli-che Arbeit in diesem Bereich besser leisten können. Des-halb: mehr Geld für Integrationsarbeit im Sport.
Wir haben immer wieder über Sportstätten gespro-chen. Manche von uns sagen dann: Wir brauchen einengoldenen Plan. – Ich sage Ihnen: Wir brauchen keinengoldenen Plan.
Wir brauchen eine Zukunftskonzeption für die Entwick-lung von Sportstätten und Bewegungsräumen, und zwarfür 2020, in der der demografische Wandel und neueFormen der Bewegung und der Bewegungskultur be-rücksichtigt und in der auch ökologische Fragen wie Kli-mawandel und Klimaschutz mit bedacht und mit entwi-ckelt werden. Das wäre eine neue Dimension; das isteine neue Aufgabe für den nächsten Deutschen Bundes-tag.
Die Kollegin Freitag hat in den Mittelpunkt ihrerRede zu Recht den Kampf gegen Doping gestellt. Ich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25649
(C)
(D)
Winfried Hermannglaube, das ist und bleibt eine Daueraufgabe. Der Sport-ausschuss muss sich als die Institution verstehen, die anerster Stelle gegen Doping im Sport kämpft, und zwarsehr konsequent. Aber es wird auch hier nicht ausrei-chen, nur die Mittel für die NADA zu erhöhen, was ichausdrücklich begrüße und wofür ich immer gekämpfthabe. Das ist absolut richtig. Aber nur die Mittel für dieNADA zu erhöhen, das ist nicht genug. Wir brauchenauch mehr Mittel für die Prävention. Ich bedaure es, dasswir immer noch nur gerade mal 300 000 Euro für Prä-vention ausgeben. Das ist ein Witz angesichts der Tatsa-che, dass alle sagen: Das ist das Wichtigste. – Dann müs-sen auch mehr Mittel in die Prävention investiertwerden. Das würde zeigen, dass man es ernst meint.Wir müssen auch deutlich machen, dass öffentlicheMittel zurückgezogen werden, wenn Sportorganisatio-nen gegen Anti-Doping-Richtlinien verstoßen, wenn sieim eigenen Verband bei den Trainern nicht konsequentgegen Doping vorgehen. Wir müssen ein Exempel statu-ieren, wenn Politik glaubwürdig sein will.
In Deutschland muss ganz klar sein: Nur absolut saube-rer Sport kann mit öffentlicher Förderung rechnen.Ein weiterer Punkt betrifft gewissermaßen eine Öff-nung der Themenbereiche des Sportausschusses. Wir ha-ben uns mit vielen Fragen beschäftigt, aber tendenziellhaben wir uns sehr stark mit dem herkömmlichen Brei-ten- und Spitzensport befasst. Es gibt aber neben denolympischen Disziplinen viele nicht olympische Diszi-plinen, die in der Gesellschaft übrigens eine sehr großeBedeutung haben. Es gibt zahlreiche Massensportarten,zum Beispiel Klettern, Akrobatik, Tanzen oder Inline-skaten. Ich glaube, eine moderne Sportpolitik muss auchdiesen Bereich von Bewegung und Bewegungskulturbesser reflektieren und aufgreifen und sich Gedankendarüber machen, wie man diese Formen, die genausosinnvoll und richtig sind wie die anderen Formen vonSport und Bewegung, besser unterstützen und fördernkann. Auch das ist eine Zukunftsaufgabe.
Der letzte Punkt betrifft die Bewerbung von Münchenzur Ausrichtung der Olympischen Winterspiele in2018. Wir Grüne diskutieren darüber – das sage ich ganzoffen –, wir haben eigentlich ein Herz für den Sport undeigentlich auch für die Olympischen Spiele.
Wir würden die Olympischen Spiele gerne in Münchendurchführen, aber wir knüpfen das an Kriterien. LiebeKolleginnen und Kollegen, man kann nicht einfach nurbedingungslos Geld rausschmeißen für eine Olympiade,von der man nicht weiß, was dabei rauskommt.
Darum geht es auch nicht. Ich hoffe, dass auch ihr be-stimmte Kriterien und Voraussetzungen erfüllt wissenwollt. Unsere Kriterien sind: Es muss klargestellt wer-den, dass bei diesen Winterspielen, die in einer ökolo-gisch hochsensiblen alpinen Region stattfinden sollen,alles getan wird, damit in dieser sensiblen Natur keinSchaden durch Sportstättenbau, durch die Spiele selbst,die Gäste usw. angerichtet wird. Das ist für uns ein wich-tiges Kriterium, und das ist in der Konzeption noch nichtsichergestellt. Wir erwarten immer noch eine umfas-sende Umweltkonzeption. Wenn sie vorliegt, kann mansie beurteilen und dann auch entscheiden.
Der zweite wichtige Gesichtspunkt ist, dass Mobilitätbzw. Verkehr klimaneutral und ökologisch organisiertsein muss. Auch hier gibt es bisher nur ein großes Ver-sprechen; in der Konzeption wurde noch nicht belegt,wie dies gewährleistet werden soll.Beim letzten Punkt geht es um Geld. Die Finanzie-rung muss transparent sein. Es kann nicht sein, dass dieinternationalen Sportorganisationen wie das IOC einenHaufen Geld einkassieren und am Ende die Kommunenund das Land zahlen. Auch hierbei müssen wir genaudarauf achten, woher die Mittel kommen und wohin siefließen. Dabei ist Transparenz gefragt. Auch hier istnoch nicht alles klargestellt worden. Deswegen fordernwir, dass zunächst alles geklärt werden muss. Dann wer-den wir entscheiden, ob wir dem Vorhaben zustimmen.
Ich komme zum Schluss. Ich habe es immer genos-sen, dass wir im Sportausschuss eine offene und öffentli-che Debatte führen; denn der Sportausschuss tagt über-wiegend öffentlich. Damit hat er etwas geschafft, wasviele andere Ausschüsse nicht hinbekommen haben: dieThemen in die Öffentlichkeit zu tragen.Ich hoffe sehr, dass auch der nächste Sportausschussso offen diskutiert und die Themen des Sports so offenaufgreift und dass er nicht nur gut diskutiert und ab undzu gute Anhörungen durchführt, sondern auch konse-quent Konzepte entwickelt, um die Probleme zu lösen.Ich bedanke mich.
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Bernd
Heynemann das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Zu unserem Antrag „Gesellschaftli-che Bedeutung des Sports“ dürfte es eigentlich keine an-dere Auffassung geben, aber es ist schon manchmal be-merkenswert, welche Werte sich eine Gesellschaft sucht.Wir sind uns im Sportausschuss fraktionsübergreifendeinig, dass der Sport eine sehr zentrale Rolle im gesell-schaftlichen Leben spielt. Ein jeder kann bei sich selbstüberprüfen, wie der Sport täglich in sein Leben eingreiftbzw. wie jeder Einzelne seinen Tag mit Sport organisiert.
Metadaten/Kopzeile:
25650 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Bernd HeynemannOb Freizeitsport, Vereinssport oder die Funktionärstätig-keit: Der Sport ist der rote Faden in der Gesellschaft.Wir haben es so beschrieben: Wer Sport treibt, lernt,Regeln zu akzeptieren und den Gegner zu achten. Dabeiwerden auch Werte vermittelt. Aber wir wissen, dass inunserer heutigen Gesellschaft gerade der Sport im früh-kindlichen Alter – du hast es bereits angesprochen,Detlef –, im Vorschulalter und auch in den ersten Schul-jahren zum Teil vernachlässigt wird. Die Sprint-Studieund andere Untersuchungen haben ergeben, dass es da-durch zu motorischen Defiziten kommt, die uns als Ge-sellschaft in Form von Krankheiten oder anderen Behin-derungen in späteren Jahren wieder auf die Füße fallen.Es geht also nicht nur um den Sport an sich, sondernauch um eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung, Gesund-heitsvorsorge und auch um die Organisation von Er-folgserlebnissen. Es ist schon angesprochen worden,dass die deutsche U-21-Mannschaft soeben den Europa-meistertitel errungen hat. Man kann Matthias Sammernur gratulieren, der immer wieder eine Siegermentalitäteingefordert hat. Der Sport prägt, egal ob in der Kreis-klasse, im Verbandsmaßstab oder im internationalenMaßstab.Der Sport ist ein unverzichtbares Element aktiverGesundheitsvorsorge geworden. Gerade in einer Ge-sellschaft, die heute nur noch auf kurzfristigen Erfolg,egoistisches Denken und Ellenbogenmentalität ausge-richtet ist, bringt der Sport die Menschen wieder zusam-men, lässt sie gemeinsame Zeiten erleben und schafft da-mit Bindungen.Sport – ich sagte es bereits – ist aber nicht nur aktiveTeilnahme an der Bewegung, sondern Sport ist auch, alsFunktionär oder Betreuer zu wirken. Wir können fest-stellen, dass viele Funktionäre – ob Übungsleiter, Be-gleiter oder Betreuer – nicht nur gebraucht werden, son-dern manchmal diejenigen sind, die den ganzen Ladenam Laufen halten. Viele Sportler und auch Eltern habenmir gesagt, dass sie für diese ehrenamtliche Tätigkeitsehr dankbar sind und auch wissen, dass dann, wenndiese Betreuung und Anleitung fehlen, häufig in Pro-blemgebieten die Sportschuhe mit den Springerstiefelngetauscht werden.Es ist ein sehr wichtiger gesellschaftspolitischer An-satz, den Sport und damit auch das Ehrenamt in ihrer Be-deutung aufzuwerten.
Ich glaube, man kann sagen: so wie der Sport, so die Ge-sellschaft. Sie sollte aktiv, motivierend, selbstbewusst,zielstrebig, kreativ und erfolgreich sein.Der Sport hat auch eine nicht zu unterschätzende Vor-bildwirkung. Die sportlichen Vorbilder resultieren ausder Leistungspyramide, von der Breite bis hin zur Spitze.Das beste Beispiel, wie motivierend für alle die Heldendes Sports sind – das wurde schon angesprochen –, ha-ben wir 2006 mit unserem Fußballsommermärchen und2008 mit dem Handballwintermärchen in Deutschlanderleben können – Begeisterung, Patriotismus, Euphorie –,ein gemeinschaftliches Erfolgserlebnis, das weit überden sportlichen Wert hinausging. Die Helden des Sportssind die Helden des Alltags. Sie motivieren Millionen, esihnen gleichzutun, und setzen Akzente. Was wären wirohne unsere Idole wie Becker,
Graf, Beckenbauer, Weißflog und viele andere mehr? Sierepräsentieren die Werte des Sports und sind damit auchein Spiegel der Gesellschaft.Wir, der Deutsche Bundestag, speziell der Sportaus-schuss, setzen uns weiterhin für die Stärkung des Sportsein und wissen, dass die finanziellen Mittel, die von unsbereitgestellt werden, nicht nur der Spitze, sondern auchder Breite zugutekommen. Die technische Basis als Vo-raussetzung für das Sporttreiben aller Bürger zu schaf-fen, ist eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund, Land undKommune. Wir sind auf einem guten Weg. Die Gesell-schaft, die diesen Sport will und die den Sport braucht,muss umfassend Hilfe – auch zur Selbsthilfe – gebenund sich ihre Erfolge organisieren.Ich bitte Sie, unserem Antrag zuzustimmen.
Das Wort hat der Kollege Swen Schulz für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte Ih-nen ein paar Namen aus der Zeitung vorlesen: JeromeBoateng, Dennis Aogo, Sami Khedira,
Mesut Özil, Gonzalo Castro, Änis Ben-Hatira
und Ashkan Dejagah. – Die Sportexperten der SPD-Fraktion kennen sich aus.
Aber die Namen sind auch darüber hinaus bekannt. Eshandelt sich um die Namen von Fußballnationalspielern,und zwar von deutschen Fußballnationalspielern. Das istein schönes Beispiel dafür – das wurde schon erwähnt –,welche Kraft der Sport hat. Er bringt Menschen zusam-men. Er unterscheidet nicht nach Arm und Reich, nachHerkunft, Hautfarbe oder Religion. Sport integriert undvermittelt Werte wie Respekt, Teamwork und Fair Play.Aber das macht der Sport nicht automatisch; das dürfenwir in den Debatten, die wir führen, nicht vergessen.Man muss das schon gut machen und den Sport entspre-chend gestalten. Dass das gut gemacht wird, ist in aller-erster Linie das Verdienst der Millionen Ehrenamt-lichen in Deutschland, der Menschen, die sich in ihrerFreizeit um den Sport, andere Menschen, die Gesell-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25651
(C)
(D)
Swen Schulz
schaft kümmern. Diese Ehrenamtlichen haben unser al-ler Dank und Anerkennung verdient.
Bei allem, was im Sport zweifelsohne gut läuft, gibtes einige Dinge, um die wir uns als Politikerinnen undPolitiker noch kümmern müssen. Wir haben viel für dieEhrenamtlichen getan, gerade in dieser Legislatur-periode. Ich erinnere an das Programm „Hilfen für Hel-fer“, die Übungsleiterpauschale und anderes mehr. PeterRauen hat es bereits angesprochen: Heute werden wirverbesserte Regelungen für die Haftung von ehrenamtli-chen Vereinsvorständen verabschieden.
Aber manchmal gibt es Probleme, bei deren LösungTrainer und Betreuer noch mehr Unterstützung brau-chen. Wir haben in unserem Antrag „Sport fördert Inte-gration“ einen entsprechenden Impuls gesetzt. Es gibtmanchmal Schwierigkeiten mit Kindern, Jugendlichen,Erwachsenen und Eltern, die Ehrenamtliche in der Frei-zeit nicht gut klären können. Dabei brauchen sie tatsäch-lich Hilfe. Wir wollen, dass die Ehrenamtlichen künftigverstärkt professionelle Hilfe abrufen können; denn wirwollen die Ehrenamtlichen in ganz schwierigen Situatio-nen, wie sie häufig im wahren Leben auftreten, nicht al-leine lassen.Es gibt ein Grundproblem: Nicht alle haben dieChance, in einen Sportverein einzutreten. Es gibt sozialeund kulturelle Hürden. Das hat manchmal etwas mit demGeld zu tun, das die Familien haben oder auch nicht. Dashat manchmal auch etwas mit religiösen Motiven zu tun.Wir wollen – wir haben das in unserem Antrag „Sportfördert Integration“ formuliert; das ist der erste undwichtigste Punkt auf unserer Agenda – einen Aktions-plan „Sport für alle“ gemeinsam mit den Ländern, denKommunen, dem organisierten Sport und den gesell-schaftlichen Gruppen ins Leben rufen, damit wirklichalle die Chance auf Teilhabe am Sport bekommen. Dasist ein wichtiger Beitrag für die Menschen und auch fürdie Gesellschaft.
Wir haben in unserem Antrag verschiedene Punkteaufgelistet, die ich jetzt nicht alle ausführlich darstellenkann. So ist es zum Beispiel wichtig, dass wir den Sportin den Städtebau mit einbeziehen.
Es braucht Sport- und Bewegungsräume für Kinder undJugendliche.
– Wir haben das Förderprogramm „Soziale Stadt“; darinmuss der Sport integriert werden. – Dafür müssen aberauch Rahmenbedingungen geschaffen werden.Ich will in diesem Zusammenhang ein Thema anspre-chen, auf das ich immer wieder von den Vereinen hinge-wiesen werde, und zwar den Lärmschutz. Ich habeschon vor einiger Zeit einen Kreuzberger Fußballvereinbesucht. Er hat seit Jahrzehnten mitten in einem Wohn-gebiet einen großen Fußballplatz und daneben noch ei-nen kleinen Platz als Trainingsgelände. Hunderte vonKindern und Jugendlichen aus 25 oder 30 verschiedenenNationen treiben dort Sport. Der Verein leistet eine her-vorragende Integrationsarbeit. Weil das Gelände mittenin einem Wohngebiet ist, gibt es in der NachbarschaftWohnhäuser. Es sind Leute neu in diese Häuser eingezo-gen und haben angefangen, sich über den Lärm zu be-schweren. Sie haben geklagt und teilweise Recht bekom-men. Das kann einfach nicht sein.
Diese Klagen haben dazu geführt, dass die Spielzeiteneingeschränkt wurden und dass der Trainingsplatz nichtmehr genutzt werden kann. Gleichzeitig stehen zig Kin-der und Jugendliche auf der Warteliste, die Mitglied desVereins werden und Sport treiben wollen. Zurzeit stehensie auf der Straße. Was werden sie dort wohl tun? Eskann nicht sein, dass die Mittagsruhe wichtiger ist als dieZukunft und die Integration der Kinder und Jugendli-chen in diesem Land. Ich glaube, da müssen wir etwasändern.
Wir haben in unserem Antrag den Auftrag an die Bun-desregierung formuliert, sich mit den Ländern zusam-menzusetzen, um eine Lösung herbeizuführen. Ich gehedavon aus, dass dieser Auftrag engagiert ausgeführtwird.
Ich hatte am Anfang meiner Rede Namen von deut-schen Nationalspielern vorgelesen. So viele fremdlän-disch, ausländisch klingende Namen in einer deutschenNationalmannschaft fallen heute noch vielen auf. Irgend-wann einmal wird es ganz normal sein. Es wird keinerauch nur einen Gedanken daran verschwenden, es wirdRealität sein. Das ist der Zustand, den wir anstreben soll-ten. Das, was der Sport macht, strahlt auf die Gesell-schaft aus. Der Sport ist Vorreiter der Integration, unddas ist großartig.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Bundesminister des Innern,Dr. Wolfgang Schäuble.
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des In-nern:Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In vie-len Beiträgen der Debatte, die wir heute gegen Ende derLegislaturperiode führen, wurde auf die große gesell-schaftliche Bedeutung hingewiesen, die der Sport in un-serem Land und für unser Land hat. Dazu trägt ganzsicher auch bei, dass wir in dieser Familie des Sportaus-
Metadaten/Kopzeile:
25652 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Bundesminister Dr. Wolfgang Schäubleschusses – denn das ist er schon ein wenig, wie wir ges-tern beim 40-jährigen Jubiläum gesehen haben – bei al-len Unterschieden ein hohes Maß an Gemeinsamkeit indieser grundsätzlichen Frage haben. Dafür möchte ichmich als der innerhalb der Regierung Zuständige aus-drücklich zum Ende dieser Legislaturperiode bedanken.Es ist viel zu den Werten, die der Sport vermittelt, undzu dem, was der Sport für die Gesundheit der Menschen,angefangen vom Kindesalter bis ins Seniorenalter, be-deutet, gesagt worden. Wir haben große Fortschritte er-zielt und haben – auch wenn wir weiter daran arbeitenmüssen – den Sport für Menschen in allen Sonderberei-chen, insbesondere für Behinderte, wesentlich vorange-bracht. Ich finde, dass das Parlament nicht nur im Laufedieser Legislaturperiode einen großen Beitrag dazu ge-leistet hat.Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, welchgroße integrierende Kraft der Sport über alle sozialenSchichten und alle Gruppen der Bevölkerung hinweghat. Das gilt auch für Menschen, deren Vorfahren bzw.Eltern aus anderen Teilen der Welt zu uns gekommensind. Es gibt in der Breite kaum ein besseres Instrument.Ich bleibe voller Dankbarkeit für das, was der Sport fürunser Land und für uns alle leistet, auch wenn Sie, HerrKollege Hermann, das als Schwärmen bezeichnen. Ichhabe noch in Erinnerung, was alles vor dem Sommer-märchen öffentlich befürchtet wurde und welche Äuße-rungen es gab. Selbst wenn es mit zwei Straßenfußbal-lern ein Problem gegeben hat,
war es am Ende doch so, dass, gemessen an dem, wasvorher geredet wurde, die Wirklichkeit in unserem Landvon aller Welt so gesehen worden ist, wie sie ist, undnicht so, wie sie manche Miesmacher immer wiederfalsch darstellen.
Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden – KollegeSchulz hat es zuletzt noch einmal getan – und das gehörtmit zu dem ganz Großartigen, was der Sport in unseremLande und für unsere Gesellschaft leistet: nämlich aufdie ehrenamtliche Organisation des Sports – auf die Frei-heit im Sport, die sich gerade auch in der Freiheit undEigenverantwortung der autonomen Sportorganisationenausdrückt.
Das Prinzip des Freiwilligen, des Ehrenamtlichen kannüberhaupt nicht hoch genug als Voraussetzung für denZusammenhalt einer freiheitlich verfassten Gesellschafteingeschätzt werden. Auch dies leistet der Sport in einerganz außergewöhnlichen Weise. Deswegen müssen wirdie Autonomie und die Eigenverantwortung desSports wieder und wieder schützen und achten.Wir dürfen auch nicht glauben, wir wüssten alles bes-ser und könnten alles, weil wir es doch so gut meinen.Vielleicht sind wir manchmal in der Gefahr, es zu gut zumeinen und deshalb die Autonomie des Sportes eher ein-zuschränken. Deswegen müssen wir unsere Verantwor-tung wieder und wieder einschränken.Herr Kollege Parr, in aller Verbundenheit zu Ihrerletzten sportpolitischen Rede in diesem Hohen Hausebin ich bezüglich der Regeln ein bisschen anderer Mei-nung als Sie. Ich meine schon, dass wir Regeln brau-chen.
– Dann habe ich Sie falsch verstanden. – Jede Freiheits-ordnung lebt davon, dass sie Regeln hat. Diese Regelnmüssen eingehalten werden, und irgendjemand muss da-für sorgen, dass sie eingehalten werden. Sonst zerstörtsich jede freiheitliche Ordnung selbst. Das haben wir beiden Finanzmärkten gesehen, das werden wir – dies sageich Ihnen voraus – im Internet erleben, und das erlebenwir beim Sport mit dem Doping.Frau Kollegin Freitag, an dieser Stelle dürfen wirnicht aufhören. Das wird uns übrigens lange begleiten.
Es betrifft ja gar nicht spezifisch den Sport. Wir Men-schen neigen dazu, durch Übertreibung, durch Überspit-zung das Großartige, das wir haben, immer auch zu zer-stören. Deswegen ist die eigentliche Frage – hier sindwir nicht einer Meinung –: Kann der Staat alle diese Fra-gen wirklich lösen, oder ist es nicht besser, wenn er sichein Stück weit auf das zurückzieht, was er kann, auch imSinne von Subsidiarität, und diejenigen unterstützt, dienäher dran sind, wenn er sich also für die Eigenverant-wortung und Autonomie des Sports einsetzt?
– Deswegen müssen wir es richtig kombinieren. – Wirunterstützen ja den Sport im Kampf gegen Doping. Dasist völlig unstreitig. Wir haben die Mittel für die NADAund für die Forschung gegen Doping erhöht. Dies mussauch weitergehen. Aber wir dürfen nicht den Fehler ma-chen, dass wir der Gesellschaft gewissermaßen die Illu-sion vermitteln: Der Staat kümmert sich, jetzt haben wirein Strafgesetz und damit ist sie ihre Verantwortung los. –Das wäre genau das Falsche. Nein, wir brauchen beides.
Sprechen Sie einmal mit Juristen und anderen, die mitStrafrecht zu tun haben, darüber, warum die Funktiondes Strafrechts begrenzt sein muss, damit wir nicht einzentrales Merkmal unserer abendländischen Freiheitsge-schichte aufgeben. Ich bin lange genug in meinem LebenJurist, um festzustellen, dass es eine Illusion ist, zu glau-ben, allein das Strafrecht und die staatlichen Strafverfol-gungsbehörden könnten das Dopingproblem lösen. Dasgeht in die falsche Richtung.
Ich bin dankbar, dass der Kollege Ramsauer seine Mi-nisterin in dieser Frage völlig unterstützt. Mit den ge-setzlichen Regelungen und den staatlichen Mitteln, bishin zum Bundeskriminalamt, unterstützen wir die Be-kämpfung von Doping und der damit verbundenen kri-minellen Organisationen. Wahr ist, dass nicht alle Sport-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25653
(C)
(D)
Bundesminister Dr. Wolfgang Schäubleler nur Opfer sind. Wir sollten bei mancher auf dieVergangenheit gerichteten Debatte ein bisschen daraufachten – das habe ich gestern anlässlich des Jubiläumsdes Sportausschusses schon gesagt –, dass es nicht zuneuen Verletzungen zwischen Ost und West in unseremso lange geteilten und doch seit schon 20 Jahren wieder-vereinigten Land kommt. Keiner hat einen Grund dafür,nur auf den anderen zu zeigen. Wir haben schließlich ge-sehen, dass es Doping im gesamten Land gibt.
– Das sage ich schon seit langem; das glauben Sie garnicht. Sie haben vielleicht nicht immer so genau zuge-hört, wie auch ich Ihnen vielleicht nicht immer so genauzugehört habe. Ich sage es aber trotzdem. Besser mansagt es heute, als gar nicht. Es ist jedenfalls wichtig.Ich warne nur vor der Illusion, zu glauben, dass wirdas Problem allein durch strafrechtliche und gesetzgebe-rische Lösungen bewältigen können. Nein, wir müssendie autonome Organisation des Sports weiterhin stützen.Ich glaube, dass in den letzten Jahren die Einsicht ge-wachsen ist – auch in den internationalen Sportorganisa-tionen –, dass Doping eine der großen Bedrohungen fürden internationalen Sport geworden ist.Ich möchte eine weitere Bemerkung machen, die mirwichtig ist. Viele Menschen sind zwar ungeheuer faszi-niert von Spitzenleistungen im Sport. – Meist wird indiesem Zusammenhang vom Fußball gesprochen; auchich bin ein großer Fußballanhänger. Nachdem TommyHaas das Halbfinale von Wimbledon erreicht hat, wirdvielleicht auch der Tennissport wieder mehr Aufmerk-samkeit auf sich ziehen. – Aber wir sollten die Breite desSports, die vielen Sportarten nicht aus dem Blick verlie-ren.Wir sollten ebenfalls anerkennen, welch große Bei-träge der autonome Sport leistet, um den Zusammenhaltder Gesellschaft zu erhalten, und welch große Erfolge erdabei erzielt. Wir sollten alles dafür tun – auch kartell-rechtlich und europarechtlich –, dass die Autonomie desSports gestärkt und nicht geschwächt wird. Ansonstenwerden wir am Ende unter den Gesichtspunkten Marktund Wettbewerb nur noch einen hoch kommerzialisier-ten Spitzensport mit ein paar Millionären haben, wäh-rend der andere Sport Not leidet. Das ist nicht der Sport,den wir wollen. Deswegen müssen wir ihn stärken.
Vor diesem Hintergrund ist es besser, wir verstehenunsere Verantwortung im Sinne von Subsidiarität. Diesgilt übrigens nicht allein für den Bund, sondern auch fürdie Länder und Kommunen. Im Rahmen der Ordnungdes Grundgesetzes leisten Länder und Kommunen vielmehr für den Sport als der Bund. Dieser hat, von Spe-zialbereichen und der Förderung des Spitzensports aufnationaler Ebene abgesehen, keine umfassenden Zustän-digkeiten; auch das muss man sagen.Ich komme zu meiner letzten Bemerkung. Herr Kol-lege Schulz, wir sollten uns aufgrund der mit einer be-sonders klagefreudigen Bevölkerungsschicht gemach-ten Erfahrungen – nicht nur in Berlin, aber speziell inBerlin – für die nächste Legislaturperiode gemeinsamvornehmen, darauf zu achten und zu erreichen, dass wirim Hinblick auf imissionsrechtliche Aspekte – welcheGesetze das auch immer sind – den Sport und vor allemEinrichtungen, die für Kinder vorgesehen sind, stärkerprivilegieren. Es muss klar sein, dass Lärm in diesemZusammenhang keine Nachbarschaftsbeeinträchtigungist. Die schlimmste Nachbarschaftsbeeinträchtigungwäre, wenn es keinen Sport, keine Sportstätten und keineKinder mehr in unserem Land gäbe.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Martin Gerster für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnenund Kollegen! Die gesellschaftliche Bedeutung desSports ist so groß, dass wir mit Worten eigentlich kaumbeschreiben können, wie groß sie ist. Aber was der Sportkann und welche Werte wir mit ihm verbinden, ist schonin einigen Redebeiträgen deutlich geworden. Es geht nichtnur um Leistung, sondern auch um Integration – der Kol-lege Swen Schulz hat das, wie ich finde, sehr eindrucks-voll geschildert –, um Prävention, aber auch um fairesMiteinander und Respekt vor dem anderen. Deswegenist es so wichtig, dass wir das bewahren und den Sportfördern. Wir müssen aufpassen, weil Gefahren vorhan-den sind, weil es Feinde gibt, die die Grundwerte desSports bekämpfen wollen und die Axt an das anlegenwollen, was wir mit dem Sport verbinden.Es gibt aus meiner Sicht zwei große Probleme, zweigroße Herausforderungen. Doping ist an erster Stelle zunennen. Wir müssen alles daransetzen, um den Machen-schaften, die dahinterstecken, die unseren Sport gefähr-den können, wirklich etwas entgegenzusetzen. DagmarFreitag hat schon etwas dazu gesagt, und Peter Danckertwird auch noch darauf eingehen.Das zweite wichtige Thema, bei dem ich eine großeGefahr für den Sport sehe, ist die Diskriminierung. Wirbeobachten seit Jahren die Entwicklung, dass Rechts-extreme den Sport, insbesondere den Fußball, missbrau-chen wollen, um ihre gefährlichen Ideologien zu verbrei-ten. Wir müssen alles daransetzen, diesen Bestrebungeneine klare Absage zu erteilen.
Für mich war es sehr eindrucksvoll, im Sportaus-schuss zu hören, welche Umtriebe es da gibt. Ich binsehr dankbar dafür, dass der organisierte Sport, derDOSB, die Sportverbände und die Vereine sowie letzt-lich auch der DFB, hier ein klares Signal setzt. Ich
Metadaten/Kopzeile:
25654 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Martin Gersterdenke, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Mit unserenFanprojekten setzen wir ein klares Signal gegen Rechts-extremismus im Sport. Das ist eine wichtige Aufgabe.Ich bin dankbar dafür, dass sich jetzt auch die Landes-regierung von Baden-Württemberg an der Drittelfinan-zierung, an der Finanzierung durch die jeweilige Kom-mune, das Land und den DFB, beteiligt, sodass dieVereine in Baden-Württemberg bei den Fanprojektenmitmachen können. Das ist eine wichtige Sache. Umauch das deutlich zu machen: Ich finde es richtig, dasswir von Bundesseite aus die Koordinierungsstelle für dieFanprojekte in Frankfurt, die bei der Deutschen Sportju-gend angesiedelt ist, finanziell stärker unterstützen.
Es ist eine ganz wichtige Sache, dass wir die Sozialarbeitin den Vereinen voranbringen und unsere Ehrenamtli-chen für den Kampf gegen Rechtsextremismus in diesemBereich fit machen.
Ein zweiter Punkt zur Diskriminierung. Wir in derSportpolitik hier im Deutschen Bundestag müssen dafürsorgen, dass Menschen mit Behinderungen vom Sportnicht ausgegrenzt werden. Herr Minister Schäuble, Siehaben beim Festakt gestern darauf hingewiesen, dass derSportausschuss des Deutschen Bundestages sich in denletzten Jahren große Verdienste dabei erworben hat, dassMenschen mit Handicaps tatsächlich am Sport teilhabenkönnen. Es ist auch wichtig gewesen, dass wir den Deut-schen Behindertensportverband in den letzten Jahrenwieder auf Vordermann bringen konnten. Ich weise da-rauf hin, dass der Stabwechsel beim Behindertensport-verband noch nicht einmal zwei Wochen her ist.An dieser Stelle will ich – ich denke, im Namen vonuns allen – noch einmal Danke sagen an Karl HermannHaack, der in schwieriger Situation viel für den Behin-dertensport in unserem Land getan hat. Er hat für seineArbeit Beifall von uns verdient. Es waren nicht geradeeinfache Zeiten, aber er hat das Richtige getan.
Friedhelm Julius Beucher, sein Nachfolger, ist auf derTribüne anwesend. Friedhelm, ich grüße dich und wün-sche dir als ehemaligem Kollegen alles Gute, eine glück-liche Hand und viel Erfolg für die wichtigen Weichen-stellungen. Ich denke, du hast große Herausforderungenvor dir. Wir brauchen barrierefreie Sportstätten, und na-türlich müssen wir unsere Sportlerinnen und Sportler soausstatten, dass sie ihren Sport auch ausüben und daskostenträchtige Equipment finanzieren können.Ich kann mich noch an ein sehr eindrucksvolles Ge-spräch bei den Paralympics in Peking erinnern. Ein Teil-nehmer aus meinem Wahlkreis, Ralph Brunner, Roll-stuhlfahrer, hat mir erzählt, nach langem Kampf habe eres geschafft, monatlich 50 Euro an Unterstützung vonder Sporthilfe zu bekommen. Für die 50 Euro ist er zwardankbar, aber davon kann er sich nicht einmal einen SatzReifen für den Rollstuhl kaufen.Ich glaube, es muss unser Ziel im Deutschen Bundes-tag sein, hier weiter voranzugehen und diese Sportlerin-nen und Sportler so auszustatten, dass wir nicht von Dis-kriminierung sprechen müssen, dass sie wirklich aufAugenhöhe mit den anderen an internationalen Wettbe-werben teilnehmen können. Das heißt auch, Möglichkei-ten für eine duale Karriere zu schaffen: für die Teilneh-mer an den Olympischen Spielen genauso wie für dieTeilnehmer der Paralympics.Dazu gehört für mich im Übrigen auch, dass wir dieDeaflympics besser unterstützen. Ich habe es als Ar-mutszeugnis empfunden, dass für die Deaflympics vonden öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten ARD undZDF keine Sendeminute bereitgestellt wurde. Hier istwiederum die Politik gefordert, dafür eine Lanze zu bre-chen und mitzuhelfen, dass wir ein Stück weit in eineneue Ära eintreten und auch die Teilnehmerinnen undTeilnehmer der Deaflympics in den Medien und in derdeutschen Öffentlichkeit Beachtung finden.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Fischbach für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sport tut gut und fördert die Fitness und das Wohlbefin-den. Es gibt kein Medium, das darüber nicht berichtet.Wir kennen sogar die Personal Trainer der großen Stars.Aber worüber sehr wenig berichtet wird, ist die gesamt-gesellschaftliche Bedeutung und vor allen Dingen die in-tegrative Bedeutung des Sports. Ich möchte gerne, ob-wohl der Kollege Schulz schon darauf hingewiesen hat,noch einmal auf die Integrationsaspekte des Sports zusprechen kommen.In der Bundesrepublik gibt es heute rund 7 MillionenMenschen mit einer ausländischen Staatsbürgerschaft.Das sind immerhin 8,1 Prozent der Gesamtbevölkerung.Jeder fünfte Einwohner unseres Landes hat einen Migra-tionshintergrund. Bei den unter 25-Jährigen ist es mitt-lerweile schon jeder Vierte. Das zeigt: Wir stehen hiervor einer großen Herausforderung, die wir anzugehenhaben. Wir müssen die Integration, die wir schon auf denWeg gebracht haben, verbessern. Ich glaube, dafür gibtes kein besseres Mittel als den Sport; denn Sport ist ge-lebte Integration.Herr Schulz, Sie haben deutlich gemacht, dass es hiermehrere Ebenen gibt. Integration bedeutet Teilhabe amSport. Sie haben die Namen der Fußballer der U 21 auf-gelistet. Sie hätten sich sicherlich schwergetan, wenn Siedie Namen einer Frauenmannschaft hätten aufzählenmüssen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25655
(C)
(D)
Ingrid Fischbach
– Zu Ihnen komme ich gleich noch, aber an andererStelle. – Das zeigt, dass es wichtig ist, Frauen viel stär-ker einzubinden. Dieses große Feld muss bearbeitet wer-den.
Wie schaffen wir es, dass Migrantinnen, Mädchen miteinem Migrationshintergrund, nicht nur am Sportunter-richt teilnehmen, sondern auch in Führungsverantwor-tung kommen? Das gilt für beide Geschlechter, für diemännlichen wie die weiblichen Migranten. Es ist ganzwichtig, dass wir die Führungsebene, die Vorstände, vielstärker mit Migranten besetzen und hier vorankommen.Das würde ich sehr gerne unterstützen. Das machen wirauch deutlich mit dem, was wir in unserem Antrag for-muliert haben.Wenn wir über Sport als Integrationsmöglichkeitsprechen, dürfen wir die Sportvereine nicht vergessen.Sie sind die Orte, wo sich junge Menschen treffen undwo sie eine Menge lernen. Wir haben gerade schon ge-hört, dass dort Werte vermittelt werden und Integrationgelebt wird. Die jungen Menschen müssen Verantwor-tung und den Respekt voreinander lernen. Wir werdendeshalb nicht müde werden, die Sportvereine zu stärkenund ihnen die Möglichkeit zu geben, integrativ zu wir-ken.Frau Kunert, ich schätze Sie sehr. Ich glaube, dass Siedas, was Sie hier sagen, ernst meinen. Aber dann ist eswichtig, dass man die eigenen Vorstellungen da, wo manetwas bewirken kann, auch umsetzt. Deshalb versteheich nicht, dass Sie im Doppelhaushalt in Berlin die Mit-tel für die Sportverbände im zweistelligen Bereich ge-kürzt haben und dass Sie Schwimmbäder schließen, wasden Schulsport fast unmöglich macht.
Ich würde mir wünschen – bei allem Verständnis für IhreÄußerungen –, dass wir gemeinsam dafür sorgen, dassvor Ort diese Möglichkeiten vorhanden sind.
Das ist, wie ich denke, ganz wichtig. Hier könnten Sieintensiv Einfluss nehmen und auch etwas erreichen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Mit-gliedschaft in Sportvereinen und überhaupt das Führeneines sportlichen Lebensstils ist eine zentrale Gesund-heitsressource – das sagt nicht nur der 13. Kinder- undJugendbericht, das wissen wir auch. Durch Trainingwerden motorische Fähigkeiten genutzt und gestärkt;Bewegung wird gefördert.Ich glaube, es ist wichtig, dass unseren Kindern derZugang zum Sport nicht an den Stellen, wo er ihnenleicht ermöglicht werden kann, verwehrt wird. Deshalbist es wichtig, auch den Schulsport zu stärken, und es ist,wie ich glaube, auch richtig und wichtig, im Sportaus-schuss unsere Verantwortung für den Breitensport, ob-wohl wir ja eigentlich nicht für diesen zuständig sind,nicht zu vernachlässigen, sondern auch diesen zu thema-tisieren.
Es ist kaum zu bestreiten, dass die Sportvereine zumGemeinwohl beitragen, nicht nur im integrativen Be-reich, sondern auch bezogen auf die Gesamtbevölke-rung. Rund 2,1 Millionen Menschen engagieren sich inSportvereinen; es werden allerdings 1,4 Millionen Posi-tionen von Männern besetzt. Angesichts dessen – dassage ich an dieser Stelle noch einmal – wäre ich froh,wenn es uns gelingen würde, Frauen noch stärker einzu-binden.
Es würde auch guttun – ich schaue jetzt einmal zurDOSB-Riege auf der Tribüne hoch –, wenn der weibli-che Einfluss in den Führungsriegen ein wenig stärkerwäre.
– Genau.
Ich habe gerade gesagt, die Bundesregierung und derBundesinnenminister werden die Verantwortung, die wirauch für den Breitensport haben, nicht vergessen. Wirhaben bereits 1989 das Programm „Integration durchSport“ aufgelegt, das mittlerweile in fast 500 Stütz-punktvereinen sportliche Angebote unterstützt.
Ich glaube, auch das ist ein Punkt, an dem wir weiterar-beiten sollten und wofür wir werben sollten. Das stehtauch in unserem Antrag. Deshalb werbe ich dafür, dassSie unseren Antrag „Sport fördert Integration“ unterstüt-zen.Schließen möchte ich mit einem Wort von Ringelnatz.Er hat einmal gesagt:Sport stärkt Arme, Rumpf und Beine,Kürzt die öde Zeit,Und er schützt uns durch VereineVor der Einsamkeit.
Metadaten/Kopzeile:
25656 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Ingrid FischbachIn diesem Sinne: Stärken wir den Sport und unsere Ver-eine!
Das Wort hat der Kollege Peter Danckert für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle-gen! Ich möchte zu Beginn meiner kurzen Rede zunächsteinmal den Spitzen der Koalitionsfraktionen danken,dass sie uns zu so prominenter Zeit, allerdings am Endeder Legislaturperiode,
75 Minuten Redezeit eingeräumt haben. Ich danke alsoHerrn Kauder – ihm kann ich es jetzt nicht mehr persön-lich sagen – und Herrn Struck, vertreten durch FritzRudolf Körper.
Ich denke, das muss angesichts der umfangreichen Ta-gesordnung, die heute bis weit über Mitternacht hinaus-reicht, auch einmal gesagt werden: Dass wir hier einein-viertel Stunden über den Sport reden dürfen, ist etwasganz Besonderes.Ich möchte die Gelegenheit auch nutzen, um mich beiunserem Bundesinnenminister, dem Sportminister, sehrherzlich dafür zu bedanken, dass er uns in den letztenvier Jahren in so positiver Weise begleitet hat. Ich weiß,Ihr Herz schlägt für den Sport.
Ich denke aber, auch angesichts der hohen Prominenzdes organisierten Sports, über die ich mich sehr freue, istes wichtig, zu sagen, dass das Innenministerium uns im-mer positiv begleitet hat. Das gilt auch für StaatssekretärBergner, der regelmäßig an unserer Seite sein konnte,
für Herrn Dr. Kass und die von ihm geleitete Abteilungund seinen Vorgänger Herrn Pöhle. Die Zusammenarbeitwar immer sehr erfolgreich. Man konnte hören, dass de-ren Herz für den Sport schlug. Wir waren mit der Arbeitsehr zufrieden.Ich freue mich auch, dass heute eine Reihe von Kolle-gen zu Wort gekommen sind, die mit ihrer Schlussredehier noch Akzente gesetzt haben. Lieber Detlef, deinVermächtnis werden wir in unseren Herzen bewahren;ich würde fast sagen: verschließen.
Vermutlich nicht alle werden das, was du gesagt hast, zurRichtschnur ihres Handelns in der 17. Legislaturperiodemachen,
aber wir denken an dich. Die Zusammenarbeit mit dirwar immer durch interessante Wortduelle geprägt. Dasgehört mit zur parlamentarischen Arbeit. Alles anderewäre dröge.Wolfgang Grotthaus von der SPD-Fraktion ist jetztnicht da. Er bereitet sich in seinem Büro wahrscheinlichauf seine Schlussrede vor.Ich möchte mich speziell an meinen Freund PeterRauen wenden. Peter, ich habe es zwar bereits gesternwährend der Feierstunde gesagt, aber ich möchte esheute noch einmal vor der deutschen Öffentlichkeit sa-gen: Du hast dich in vielfältiger Weise um den Sport ver-dient gemacht. Ich danke dir vor allen Dingen für deineArbeit hier im Parlament, als Ausschussvorsitzender, alsmein Vorgänger, und als mein Stellvertreter. Wir habensuper zusammengearbeitet, und ich hoffe, dass der per-sönliche Kontakt erhalten bleibt, damit die Arbeit in die-sem Sinne fortgeführt werden kann.
Herzlichen Dank dafür, Peter Rauen!
Ich denke still an einige, die heute möglicherweiseihre letzte Rede gehalten haben. Ich wünsche ihnen, dassihre Hoffnungen in Erfüllung gehen und sie weiterhinMitglied des Parlaments sein werden. Sie müssen dafürkämpfen. Denn die Wahlkreise sind umstritten. – Mehrmöchte ich zu dem Thema nicht sagen.Sehr verehrter Herr Minister Schäuble, Sie haben hierein Stichwort genannt, das ich eigentlich nicht behan-deln wollte, nämlich Doping und strafrechtliche Sank-tionen. Als ehemaliger Strafverteidiger bin ich weit da-von entfernt, zu glauben, dass man mit Strafrecht allesregeln könnte – gar keine Frage. Trotz eines umfangrei-chen Strafgesetzbuches wird gegen Gesetze verstoßen.Dies ist allerdings kein Grund, nicht auch in diesem Zu-sammenhang das Strafrecht mit ins Spiel zu bringen, unddarum ging es.
Es war eine ganze Zeit lang so – da es meine letzteRede in dieser Legislaturperiode ist, möchte ich sie nichtmit besonderen Hinweisen garnieren –, dass der Sportdie Dinge regelt, weil er einfach näher an ihnen dran ist.Dazu sage ich schlicht: Der Sport konnte nur die Fälle inden Blick nehmen, in denen eine positive DopingprobeHinweise darauf gab,
dass dort etwas geschehen ist. Mehr konnte der Sportnicht machen. Der Sport konnte weder Hausdurchsu-chungen machen noch Zeugenvernehmungen durchfüh-ren.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25657
(C)
(D)
Dr. Peter DanckertDeshalb haben wir uns dafür eingesetzt – wir habendann ja auch einen Kompromiss gefunden –, dass wirdas Strafrecht an dieser Stelle nachjustieren. UnsererAuffassung nach ist das zu wenig gewesen, aber ichdanke Klaus Riegert dafür, dass wir zumindest das er-reicht haben, was wir hier auf den Weg gebracht haben.Das möchte ich anerkennen.Ich bin allerdings der Meinung, dass wir noch mehrhätten tun müssen. An die bayerische Staatsministerinrichte ich meinen herzlichen Dank für ihre Bemühungen,dieses Thema noch umfassender zu behandeln. Das istder richtige Weg, und wahrscheinlich kommen wir einesTages dazu. Wir müssen dieses Thema Hand in Hand be-wältigen.Der Sport muss machen, was er auch machen kann.Ich glaube allerdings, dass seine Möglichkeiten recht be-grenzt sind. Dabei wünsche ich mir, dass vom IOC mehrMittel beispielsweise für die WADA zur Verfügung ge-stellt werden. 25 Millionen Dollar sind nämlich ein lä-cherlicher Betrag, und angesichts des Vermögens desIOC könnte man diese Summe locker verdoppeln oderverdreifachen.
12,5 Millionen Dollar fließen von allen Nationen derWelt in die WADA. Auch dies ist ein lächerlicher Be-trag. Das ist zwar ein guter Anfang an dieser Stelle, abernicht mehr. Hier müssen wir ansetzen und weiterarbei-ten.
Wir haben etliches geschafft, und heute Abend wirdder Kollege Parlamentarischer Staatssekretär, der sichgerade mit Karl Diller unterhält – –
– Nur über den Sport. Etwas anderes hatte ich auch garnicht erwartet.
Wir werden heute Abend im Deutschen Bundestagein Gesetz verabschieden, an dem wir alle mitgearbeitethaben. Das ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass dieParlamentarier das Heft in die Hand genommen haben.Ich bedanke mich bei allen, die ich sehe, insbesonderebei Klaus Riegert, Peter Rauen, Jürgen Gehb, DagmarFreitag und Fritz Rudolf Körper, die an dieser Stellenicht das mitgemacht haben, was vorgesehen war; ichmöchte hier keinen besonderen Hinweis in RichtungBundesregierung geben.Wir haben die Initiative aufgegriffen und etwas gere-gelt, was wirklich gut ist für die Ehrenamtlichen imSport. Wir haben nämlich eine Beschränkung der Haf-tung der Vereinsvorstände und Stiftungsvorständedurchgesetzt und damit einem Anliegen des organisier-ten Sports Rechnung getragen. Wir werden hier Haf-tungserleichterungen beschließen, die sehr wichtig sind.
Kollege Danckert, achten Sie bitte auf die Zeit?
Ja. – Ich darf mich bei allen, die mit mir im Sportaus-
schuss zusammengearbeitet haben, bedanken. Ich weiß,
dass die Arbeit mit mir nicht immer leicht war. Aber ich
habe versucht, mein Bestes zu geben. Einigen hat es ge-
fallen, anderen hat es nicht so sehr gefallen. Jeder muss
seinen Stil finden. Ich habe diese Sache gerne gemacht.
Diejenigen, denen ich auf die Füße getreten habe, bitte
ich heute um Nachsicht. Ich habe nun einmal ein ent-
sprechendes Temperament. Bei denjenigen, denen die
Arbeit gefallen hat, bedanke ich mich. Es war eine
schöne Zeit mit euch.
Ich nehme heute keinen Abschied; denn ich komme
wieder – jedenfalls wenn der Wähler es will.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Sportaus-schusses zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSUund SPD mit dem Titel „Sport fördert Integration“. DerAusschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 16/13578, den Antrag der Fraktionen derCDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/13177 anzuneh-men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion undder SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion DieLinke bei Enthaltung der FDP-Fraktion und der FraktionBündnis 90/Die Grünen angenommen.Beschlussempfehlung des Sportausschusses zu demAntrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP mitdem Titel „Unterstützung der Bewerbung der Landes-hauptstadt München zur Ausrichtung der XXIII. Olym-pischen und XII. Paralympischen Winterspiele 2018“.Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlungauf Drucksache 16/13649, den Antrag der Fraktionender CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 16/13481anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DieBeschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unions-fraktion, der SPD-Fraktion und der FDP-Fraktion beiEnthaltung der Fraktion Die Linke und der FraktionBündnis 90/Die Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 5 c: Beschlussempfehlung desSportausschusses zu dem Antrag der Fraktionen derCDU/CSU und SPD mit dem Titel „Duale Karrieren imSpitzensport fördern und den Hochschulsport strategischweiterentwickeln“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Metadaten/Kopzeile:
25658 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Vizepräsidentin Petra PauBeschlussempfehlung auf Drucksache 16/13057, denAntrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD aufDrucksache 16/10882 anzunehmen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion ge-gen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltungder FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen angenommen.Tagesordnungspunkt 5 d: Beschlussempfehlung desSportausschusses auf Drucksache 16/13058. Der Aus-schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-empfehlung die Annahme des Antrages der Fraktionender CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/11217 mitdem Titel „Gesellschaftliche Bedeutung des Sports“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion undder SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion DieLinke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-haltung der FDP-Fraktion angenommen.Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags derFraktion der FDP auf Drucksache 16/11174 mit dem Ti-tel „Positive Auswirkungen des Sports auf die Gesell-schaft nutzen und weiter fördern“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, derFraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenom-men.Noch Tagesordnungspunkt 5 d. Schließlich empfiehltder Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussemp-fehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11199 mit dem Ti-tel „Maßnahmen für eine moderne und zukunftsfähigeSportpolitik auf den Weg bringen“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und derFDP-Fraktion gegen die Stimmen der FraktionBündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion DieLinke angenommen.Tagesordnungspunkt 5 e: Beschlussempfehlung desSportausschusses zu dem Bericht des Ausschusses fürBildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ge-mäß § 56 a der Geschäftsordnung mit dem Titel „Tech-nikfolgenabschätzung – TA-Projekt: Gendoping“.Der Sportausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 16/13059, in Kenntnis des ge-nannten Berichts auf Drucksache 16/9552 eine Ent-schließung anzunehmen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion ge-gen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenbei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der FDP-Fraktion angenommen.Tagesordnungspunkt 5 f: Beschlussempfehlung desSportausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Alle Formen von Dis-kriminierungen thematisieren – Bürgerrechte von Fuß-ballfans stärken – Für einen friedlichen und integrativenFußballsport“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 16/13504, den An-trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 16/12115 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen dieStimmen der Fraktion Die Linke und der FraktionBündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der FDP-Frak-tion angenommen.Tagesordnungspunkt 5 g: Beschlussempfehlung desSportausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Dopingvergangenheitumfassend aufarbeiten“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13579, denAntrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 16/13175 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmender Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 76 auf:Erste Beratung des von den Abgeordneten VolkerBeck , Monika Lazar, Claudia Roth (Augs-burg), weiteren Abgeordneten und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Einführung desRechts auf Eheschließung für Personen glei-chen Geschlechts– Drucksache 16/13596 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendEs handelt sich um eine Überweisung im verein-fachten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann ist so beschlossen.Interfraktionell ist vereinbart, den Tagesordnungs-punkt 77 p – Beschlussempfehlung des Ausschusses fürBildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zudem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zurstudentischen Mobilität – von der Tagesordnung abzu-setzen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann ist so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 77 b bis 77 o, 77 qbis 77 y und 77 aa bis 77 tt sowie die Zusatzpunkte 2 abis 2 z auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zuVorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie mir den
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25659
(C)
(D)
Vizepräsidentin Petra PauHinweis, dass von uns jetzt sehr viel Konzentration ge-fordert ist. Wir haben viele Seiten abzuarbeiten.Tagesordnungspunkt 77 b:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Umsetzung der Verbraucherkreditrichtli-nie, des zivilrechtlichen Teils der Zahlungs-diensterichtlinie sowie zur Neuordnung derVorschriften über das Widerrufs- und Rück-gaberecht– Drucksache 16/11643 –Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 16/13669 –Berichterstattung:Abgeordnete Marco WanderwitzDirk ManzewskiMechthild DyckmansWolfgang NeškovićJerzy MontagDer Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 16/13669, denGesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache16/11643 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent-wurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurfist in dritter Beratung mit den Stimmen der Unionsfrak-tion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Frak-tion Die Linke und der FDP-Fraktion bei Enthaltung derFraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 16/13669 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschlie-ßung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Die Beschlussempfehlung ist angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs-antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/13698.Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschlie-ßungsantrag ist abgelehnt.Tagesordnungspunkt 77 c:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2006/783/JI des Rates vom 6. Oktober 2006 über dieAnwendung des Grundsatzes der gegenseiti-gen Anerkennung auf Einziehungsentschei-
– Drucksache 16/12320 –Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 16/13673 –Berichterstattung:
Klaus Uwe BenneterDr. Peter DanckertDr. Matthias MierschJörg van EssenWolfgang NeškovićJerzy MontagDer Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/13673, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12320 inder Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um dasHandzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratungmit den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Frak-tion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und derFraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung derFDP-Fraktion angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie inzweiter Beratung angenommen.Tagesordnungspunkt 77 d:Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck
, Wolfgang Wieland, weiteren Abgeord-
neten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Verbesserung der sozialen Situationvon Ausländerinnen und Ausländern, dieohne Aufenthaltsstatus in Deutschland leben– Drucksache 16/445 –Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 16/13493 –Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelRüdiger VeitDr. Max StadlerUlla JelpkeJosef Philip WinklerDer Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 16/13493, den Ge-setzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 16/445 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die
Metadaten/Kopzeile:
25660 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Vizepräsidentin Petra Paudem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DerGesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damitentfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Bera-tung.Tagesordnungspunkt 77 e:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,Sevim Dağdelen, Kersten Naumann, Petra Pauund der Fraktion DIE LINKEFür die unbeschränkte Geltung der Men-schenrechte in Deutschland– Drucksachen 16/1202, 16/13493 –Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelRüdiger VeitDr. Max StadlerUlla JelpkeJosef Philip WinklerDer Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 16/13493 die Ableh-nung des Antrags der Fraktion Die Linke aufDrucksache 16/1202. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen.Tagesordnungspunkt 77 f:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für die Angelegenheitender Europäischen Union zu demAntrag der Abgeordneten Christian Ahrendt,Markus Löning, Michael Link , wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der FDPDen Kommunen an den Grenzen zu Polen undder Tschechischen Republik die Zusammenar-beit mit diesen Ländern erleichtern– Drucksachen 16/456, 16/9696 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Stephan EiselDr. Margrit WetzelMarkus LöningDr. Diether DehmRainder SteenblockDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/9696, den Antrag der Fraktionder FDP auf Drucksache 16/456 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist angenommen.Tagesordnungspunkt 77 g:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,Wolfgang Nešković, Sevim Dağdelen, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKE15 Jahre nach Änderung des Grundrechts aufAsyl – Für einen rechtsstaatlichen Umgangmit Schutzsuchenden in Deutschland und inder Europäischen Union– Drucksachen 16/8838, 16/10512 –Berichterstattung:Abgeordnete Helmut BrandtRüdiger VeitHartfrid Wolff
Ulla JelpkeJosef Philip WinklerDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/10512, den Antrag der FraktionDie Linke auf Drucksache 16/8838 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist angenommen.Tagesordnungspunkt 77 h:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu demAntrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl,Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENVon der Abfallpolitik zur Ressourcenpolitik –Von der Verpackungsverordnung zur Wert-stoffverordnung– Drucksachen 16/8537, 16/11974 –Berichterstattung:Abgeordnete Michael BrandGerd BollmannHorst MeierhoferEva Bulling-SchröterSylvia Kotting-UhlDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/11974, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8537 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-schlussempfehlung ist angenommen.Tagesordnungspunkt 77 i:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu demAntrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl,Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENMehrwegsysteme durch Lenkungsabgabe aufEinwegverpackungen stützen– Drucksachen 16/11449, 16/11985 –
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25661
(C)
(D)
Vizepräsidentin Petra PauBerichterstattung:Abgeordnete Michael BrandGerd BollmannHorst MeierhoferHans-Kurt HillSylvia Kotting-UhlDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/11985, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11449 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-schlussempfehlung ist angenommen.Tagesordnungspunkt 77 j:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend zu dem An-trag der Abgeordneten Diana Golze, Klaus Ernst,Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter undder Fraktion DIE LINKEMitbestimmungsrechte von Kindern und Ju-gendlichen erweitern – Partizipation umfas-send sichern– Drucksachen 16/7110, 16/12984 –Berichterstattung:Abgeordnete Katharina LandgrafSönke RixMiriam GrußDiana GolzeEkin DeligözDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/12984, den Antrag der FraktionDie Linke auf Drucksache 16/7110 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist angenommen.Tagesordnungspunkt 77 k:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Josef PhilipWinkler, Wolfgang Wieland, Jerzy Montag, wei-terer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENVisumfreie Einreise türkischer Staatsangehö-riger für Kurzaufenthalte ermöglichen– Drucksachen 16/12437, 16/13313 –Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelRüdiger VeitHartfrid Wolff
Ulla JelpkeJosef Philip WinklerDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/13313, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12437 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-schlussempfehlung ist angenommen.Tagesordnungspunkt 77 l:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Kerstin Andreae,Peter Hettlich, Christine Scheel, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENZügig Grundsteuerreform auf den Weg brin-gen– Drucksachen 16/1147, 16/13445 –Berichterstattung:Abgeordnete Christine ScheelDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/13445, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1147 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-schlussempfehlung ist angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 77 m:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Dr. GerhardSchick, Winfried Hermann, Bettina Herlitzius,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBesteuerung von Dienstwagen CO2-effizientausrichten und Privilegien abbauen– Drucksachen 16/10978, 16/13447 –Berichterstattung:Abgeordnete Christine ScheelDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/13447, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/10978 abzu-lehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Werist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-lung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenund der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der FraktionBündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion DieLinke angenommen.Tagesordnungspunkt 77 n:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz zudem Antrag der Abgeordneten Undine Kurth
, Cornelia Behm, Ulrike Höfken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENBleihaltige Jagdmunition verbieten– Drucksachen 16/13173, 16/13529 –
Metadaten/Kopzeile:
25662 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtBerichterstattung:Abgeordnete Dr. Hans-Heinrich JordanDr. Gerhard BotzHans-Michael GoldmannDr. Kirsten TackmannUlrike HöfkenDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/13529, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/13173 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstim-men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen undEnthaltung der Fraktion Die Linke.Tagesordnungspunkt 77 o:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,Dr. Martina Bunge, Sevim Dağdelen, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEVielfalt der Lebensweisen anerkennen undrechtliche Gleichbehandlung homosexuellerPaare sicherstellen– Drucksachen 16/5184, 16/13668 –Berichterstattung:Abgeordnete Ute GranoldDaniela RaabChristine LambrechtJörg van EssenWolfgang NeškovićJerzy MontagDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/13668, den Antrag der FraktionDie Linke auf Drucksache 16/5184 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage-gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist an-genommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenund der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der FraktionDie Linke und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen.Tagesordnungspunkt 77 q:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. GesineLötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, Karin Binder,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEKeine Lobbyisten in den Ministerien– zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck
, Birgitt Bender, Alexander Bonde, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENTransparenz herstellen – Empfehlungen desBundesrechnungshofes zur Mitarbeit vonBeschäftigten aus Verbänden und Unterneh-men in obersten Bundesbehörden zügig um-setzen– Drucksachen 16/9484, 16/8762, 16/13660 –Berichterstattung:Abgeordnete Helmut BrandtMichael Hartmann
Dr. Max StadlerPetra PauWolfgang WielandDer Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seine Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/13660 die Ablehnung desAntrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/9484mit dem Titel „Keine Lobbyisten in den Ministerien“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer istdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-nen, der Fraktion der FDP und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke.Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehltder Ausschuss die Ablehnung des Antrags der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8762 mitdem Titel „Transparenz herstellen – Empfehlungen desBundesrechnungshofes zur Mitarbeit von Beschäftigtenaus Verbänden und Unternehmen in obersten Bundesbe-hörden zügig umsetzen“. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmender Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der FraktionDie Linke bei Enthaltung der FDP-Fraktion.Tagesordnungspunkt 77 r:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses
– zu dem Antrag der Abgeordneten SevimDağdelen, Karin Binder, Dr. Barbara Höll, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEEffektiven Diskriminierungsschutz verwirk-lichen– zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck
, Irmingard Schewe-Gerigk, Markus
Kurth, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDas europäische Antidiskriminierungsrechtweiterentwickeln– zu dem Entschließungsantrag der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der Beratungder Großen Anfrage der Abgeordneten VolkerBeck , Irmingard Schewe-Gerigk,Marieluise Beck , weiterer Abgeord-neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENEuropäisches Jahr der Chancengleichheitfür alle– zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne-ten Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25663
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENzu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs derBundesregierungEntwurf eines Gesetzes zur Umsetzung euro-päischer Richtlinien zur Verwirklichung desGrundsatzes der Gleichbehandlung– Drucksachen 16/9637, 16/8198, 16/7536,16/2033, 16/13675 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Jürgen GehbChristine LambrechtMechthild DyckmansSevim DağdelenJerzy MontagDer Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 16/13675 die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke aufDrucksache 16/9637 mit dem Titel „Effektiven Diskri-minierungsschutz verwirklichen“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke beiEnthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags derFraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8198mit dem Titel „Das europäische Antidiskriminierungs-recht weiterentwickeln“. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit denStimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktionbei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenund der Fraktion Die Linke.Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe cseiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Ent-schließungsantrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 16/7536 zu ihrer Großen Anfragemit dem Titel „Europäisches Jahr der Chancengleichheitfür alle“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stim-men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltungder Fraktion Die Linke.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unterBuchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnungdes Entschließungsantrags der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 16/2033 zu der dritten Beratungdes Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Umsetzungeuropäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grund-satzes der Gleichbehandlung. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –Dann ist diese Beschlussempfehlung angenommen mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Frak-tion und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen derFraktion Bündnis 90/Die Grünen.Tagesordnungspunkt 77 s:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu demEntschließungsantrag der Abgeordneten BärbelHöhn, Thilo Hoppe, Hans-Josef Fell, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENzu der Abgabe einer Regierungserklärungdurch die Bundeskanzlerin zum Europäi-schen Rat am 19./20. März 2009 in Brüsselund zum G-20-Gipfel am 2. April 2009 in Lon-don– Drucksachen 16/12298, 16/13626 –Berichterstattung:Abgeordnete Andreas Jung
Frank SchwabeMichael KauchEva Bulling-SchröterBärbel HöhnDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/13626, den Entschließungsan-trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 16/12298 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-alitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stim-men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltungder Fraktion Die Linke angenommen.Tagesordnungspunkt 77 t:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Abgeordneten Krista Sager,Kai Gehring, Priska Hinz , weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENZukunft schaffen, Bildung stärken – Bildungs-politische Herausforderungen als gesamtstaat-liche Aufgabe ernst nehmen– Drucksachen 16/12687, 16/13587 –Berichterstattung:Abgeordnete Marcus WeinbergDr. Ernst Dieter RossmannPatrick MeinhardtCornelia HirschKrista SagerDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/13587, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12687 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen,der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke gegen dieStimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenom-men.
Metadaten/Kopzeile:
25664 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtTagesordnungspunkt 77 u:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-PeterFriedrich , weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Annette Faße, RenateGradistanac, Siegmund Ehrmann, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der SPDTourismuskooperation und Jugendaustauschmit den neuen EU-Staaten fördern– Drucksachen 16/12730, 16/13580 –Berichterstattung:Abgeordnete Jürgen KlimkeRenate GradistanacJens AckermannDr. Ilja SeifertBettina HerlitziusDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/13580, den Antrag der Fraktio-nen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/12730anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-fraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei Enthaltungder FDP-Fraktion angenommen.Tagesordnungspunkt 77 v:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung zu dem Antragder Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, BettinaHerlitzius, Winfried Hermann, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENCarsharing-Stellplätze baldmöglichst privile-gieren– Drucksachen 16/12863, 16/13582 –Berichterstattung:Abgeordneter Klaus HofbauerDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/13582, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12863 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenund der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der FraktionBündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke an-genommen.Tagesordnungspunkt 77 w:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
– zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Barth,Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDPUmsetzung der Bologna-Beschlüsse kritischbegleiten– zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,Krista Sager, Priska Hinz , weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBologna-Reform verbessern – Studienquali-tät erhöhen und soziale Dimension stärken– zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,Krista Sager, Priska Hinz , weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENProblem der ungenutzten Studienplätze inzulassungsbeschränkten Studiengängen um-gehend lösen – Staatsvertrag jetzt vereinba-ren– Drucksachen 16/11910, 16/12736, 16/12476,16/13586 –Berichterstattung:Abgeordnete Anette HübingerDr. Ernst Dieter RossmannCornelia PieperCornelia HirschKai GehringUnter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung empfiehltder Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktionder FDP auf Drucksache 16/11910 mit dem Titel: „Um-setzung der Bologna-Beschlüsse kritisch begleiten“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage-gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist an-genommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenund der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen.Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehltder Ausschuss die Ablehnung des Antrags der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12736 mitdem Titel: „Bologna-Reform verbessern – Studienquali-tät erhöhen und soziale Dimension stärken“. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltun-gen der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke ange-nommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei-ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antragsder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 16/12476 mit dem Titel: „Problem der ungenutz-ten Studienplätze in zulassungsbeschränkten Studien-gängen umgehend lösen – Staatsvertrag jetzt vereinba-ren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werist dagegen? – Enthaltungen? – Diese Beschlussempfeh-lung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitions-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25665
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldtfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen derFraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung derFraktion Die Linke.Tagesordnungspunkt 77 x:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordneten
Klaus Ernst, Volker Schneider ,Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKEArbeitslosengeld I in der Krise befristet auf24 Monate verlängern– Drucksachen 16/13368, 16/13627 –Berichterstattung:Abgeordnete Andrea NahlesDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/13627, den Antrag der FraktionDie Linke auf Drucksache 16/13368 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage-gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist an-genommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen,der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke.Tagesordnungspunkt 77 y:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung zu dem Antragder Abgeordneten Winfried Hermann, RenateKünast, Hans-Christian Ströbele, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENBahnanbindung für den Flughafen BerlinBrandenburg International optimieren undbeschleunigen– Drucksachen 16/13397, 16/13653 –Berichterstattung:Abgeordneter Jörg VogelsängerDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/13653, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/13397 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stim-men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltungder Fraktion Die Linke.Tagesordnungspunkt 77 aa:Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-ausschusses
Übersicht 14über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-gericht– Drucksache 16/13676 –Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer istdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 77 bb:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu derVerordnung der BundesregierungErste Verordnung zur Durchführung des Bun-
– Drucksachen 16/13100, 16/13263 Nr. 2.1,16/13678 –Berichterstattung:Abgeordnete Andreas Jung
Detlef Müller
Michael KauchLutz HeilmannSylvia Kotting-UhlDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/13678, der Verordnung aufDrucksache 16/13100 zuzustimmen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommenmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Frak-tion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen und bei Enthaltung der FDP-Fraktion.Tagesordnungspunkt 77 cc:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu derVerordnung der BundesregierungVerordnung zur Weiterentwicklung des bun-
– Drucksachen 16/13188, 16/13263 Nr. 2.2,16/13651 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Maria FlachsbarthDirk BeckerMichael KauchHans-Kurt HillHans-Josef FellDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/13651, der Verordnung aufDrucksache 16/13188 zuzustimmen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommenmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen und der Fraktion Die Linke.Tagesordnungspunkt 77 dd:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung zu der Unter-richtung durch die Bundesregierung
Metadaten/Kopzeile:
25666 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtGrünbuch TEN-V: Überprüfung der PolitikEin besser integriertes transeuropäisches Ver-kehrsnetz im Dienst der gemeinsamen Ver-kehrspolitikKOM(2009) 44 endg.; Ratsdok. 6135/09– Drucksachen 16/12188 Nr. A.25, 16/13585 –Berichterstattung:Abgeordnete Renate BlankDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/13585, in Kenntnis der Unter-richtung eine Entschließung anzunehmen. Auch überdiese Beschlussempfehlung müssen wir abstimmen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage-gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist an-genommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionengegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der FDP-Fraktion.Tagesordnungspunkt 77 ee:Beratung des Antrags der Abgeordneten Hellmut
der FDPNeubau der Dresdner Bahn beschleunigen –Schienenanbindung Berlin Brandenburg In-ternational– Drucksache 16/13183 –Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer ist dagegen? –Wer enthält sich? – Der Antrag ist damit mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Frak-tion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenabgelehnt.Tagesordnungspunkt 77 ff:Beratung des Antrags der Abgeordneten HorstFriedrich , Michael Kauch, OttoFricke, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDPInnovativen Lärmschutz an Schienenwegenerproben – Strecke Emmerich–Oberhausenzur Teststrecke machen– Drucksache 16/13179 –Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist damit mehrheit-lich abgelehnt.Tagesordnungspunkte 77 gg bis 77 tt; das sind dieBeschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.Tagesordnungspunkt 77 gg:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 585 zu Petitionen– Drucksache 16/13453 –Wer stimmt dafür? – Ist jemand dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 585 ist damit mit denStimmen des ganzen Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 77 hh:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 586 zu Petitionen– Drucksache 16/13454 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Auch die Sammelübersicht 586 ist mit den Stim-men des ganzen Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 77 ii:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 587 zu Petitionen– Drucksache 16/13455 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 587 ist angenommen mit denStimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktionbei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthal-tung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.Tagesordnungspunkt 77 jj:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 588 zu Petitionen– Drucksache 16/13456 –Wer stimmt dafür? – Ist jemand dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 588 ist damit einstimmigangenommen.Tagesordnungspunkt 77 kk:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 589 zu Petitionen– Drucksache 16/13457 –Wer ist dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –Sammelübersicht 589 ist damit angenommen mit denStimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktionund der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen.Tagesordnungspunkt 77 ll:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 590 zu Petitionen– Drucksache 16/13458 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 590 ist angenommen mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FraktionBündnis 90/Die Grünen und der FDP-Fraktion bei Ge-genstimmen der Fraktion Die Linke.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25667
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtTagesordnungspunkt 77 mm:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 591 zu Petitionen– Drucksache 16/13459 –Wer ist dafür? – Ist jemand dagegen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 591 ist angenommen mit denStimmen der Koalitionsfraktionen, der FraktionBündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke beiGegenstimmen der FDP-Fraktion.Tagesordnungspunkt 77 nn:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 592 zu Petitionen– Drucksache 16/13460 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 592 ist angenommen mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FraktionBündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der FraktionDie Linke und Enthaltung der FDP-Fraktion.Tagesordnungspunkt 77 oo:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 593 zu Petitionen– Drucksache 16/13461 –Wer ist dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –Die Sammelübersicht 593 ist angenommen mit denStimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktionbei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenund der Fraktion Die Linke.Tagesordnungspunkt 77 pp:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 594 zu Petitionen– Drucksache 16/13462 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 594 ist angenommen mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FraktionDie Linke bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und derFraktion Bündnis 90/Die Grünen.Tagesordnungspunkt 77 qq:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 595 zu Petitionen– Drucksache 16/13463 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 595 ist angenommen mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FraktionBündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke.Tagesordnungspunkt 77 rr:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 596 zu Petitionen– Drucksache 16/13464 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 596 ist angenommen mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstim-men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthal-tung der Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke.Tagesordnungspunkt 77 ss:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 597 zu Petitionen– Drucksache 16/13465 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 597 ist angenommen mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-men der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke.Tagesordnungspunkt 77 tt:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 598 zu Petitionen– Drucksache 16/13466 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 598 ist angenommen mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-men der Oppositionsfraktionen.Nun kommen wir zum Zusatzpunkt 2 a:Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Dr. Volker Wissing, Frank Schäffler,Dr. Hermann Otto Solms, weiteren Abgeordnetenund der Fraktion der FDP eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ein-kommensteuergesetzes– Drucksache 16/7519 –Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 16/13530 –Berichterstattung:Abgeordnete Christian Freiherr von StettenMartin GersterDer Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/13530, den Gesetzent-wurf der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/7519 ab-zulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer ist dage-gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit inzweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak-tionen, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der
Metadaten/Kopzeile:
25668 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtFraktion Die Linke abgelehnt. Damit entfällt nach unse-rer Geschäftsordnung die weitere Beratung.Zusatzpunkt 2 b:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Koczy,Thilo Hoppe, Irmingard Schewe-Gerigk, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFrauen stärken – Frieden sichern – Geschlech-tergerechtigkeit in der Entwicklungszusam-menarbeit und der Konfliktbearbeitung vor-antreiben– Drucksachen 16/10340, 16/13505 –Berichterstattung:Abgeordnete Sibylle PfeifferChristel Riemann-HanewinckelDr. Karl AddicksHeike HänselUte KoczyDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/13505, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/10340 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-nen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen ange-nommen.Zusatzpunkt 2 c:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Koczy,Thilo Hoppe, Dr. Gerhard Schick, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENEntwicklungsländer bei der Bewältigung derWirtschafts- und Finanzkrise unterstützen– Drucksachen 16/13003, 16/13706 –Berichterstattung:Abgeordnete Jürgen KlimkeStephan HilsbergHellmut KönigshausHeike HänselUte KoczyDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/13706, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/13003 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist damit angenommen mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der FraktionBündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke beiEnthaltung der FDP-Fraktion.Zusatzpunkt 2 d:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-rungVorschlag für eine Verordnung des Euro-päischen Parlaments und des Rates zur Än-derung der Verordnung Nr. 726/2004zur Festlegung von Gemeinschaftsverfah-ren für die Genehmigung und Überwa-chung von Human- und Tierarzneimittelnund zur Errichtung einer EuropäischenArzneimittel-Agentur in Bezug auf die In-formation der breiten Öffentlichkeit überverschreibungspflichtige Humanarzneimit-
KOM(2008) 662 endg.; Ratsdok. 17498/08– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-rungVorschlag für eine Richtlinie des Europäi-schen Parlaments und des Rates zurÄnderung der Richtlinie 2001/83/EG zurSchaffung eines Gemeinschaftskodexes fürHumanarzneimittel in Bezug auf die Infor-mation der breiten Öffentlichkeit über ver-schreibungspflichtige ArzneimittelKOM(2008) 663 endg.; Ratsdok. 17499/08– Drucksachen 16/11819 A.15, 16/11819 A.16,16/13266 –Berichterstattung:Abgeordneter Michael HennrichDer Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-tungen eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung des Ausschusses? – Gibt esGegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenund der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegen-stimmen der Fraktion der FDP und Enthaltung der Frak-tion Die Linke angenommen.Zusatzpunkt 2 e:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses zuder Unterrichtung durch die BundesregierungVorschlag für eine Richtlinie des EuropäischenParlaments und des Rates zur Änderung derRichtlinie 2006/116/EG des Europäischen Par-laments und des Rates über die Schutzdauerdes Urheberrechts und bestimmter verwand-
KOM(2008) 464 endg.; Ratsdok. 12217/08– Drucksachen 16/10286 Nr. A.21, 16/13674 –Berichterstattung:Abgeordnete Michael Grosse-Brömer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25669
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtDirk ManzewskiMechthild DyckmansSevim DağdelenJerzy MontagDer Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit ange-nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen undder FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion DieLinke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen.Zusatzpunkt 2 f:Beratung des Antrags der Abgeordneten HorstFriedrich , Paul K. Friedhoff, PatrickDöring, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDPKommunen bei der Finanzierung von Bahn-übergängen entlasten– Drucksache 16/13448 –Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer ist dagegen? –Enthaltungen? – Der Antrag ist damit abgelehnt mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmender Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke beiEnthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.Zusatzpunkt 2 g:Beratung des Antrags der Abgeordneten UweSchummer, Stefan Müller , MichaelKretschmer, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU,der Abgeordneten Willi Brase, Ulla Burchardt,Dieter Grasedieck, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der SPD,der Abgeordneten Patrick Meinhardt, Uwe Barth,Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDPsowie der Abgeordneten Priska Hinz ,Kai Gehring, Krista Sager, weiterer Abgeordneterund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGestaltung des Deutschen Qualifikationsrah-mens– Drucksache 16/13615 –Dazu liegen drei Erklärungen zur Abstimmung nach§ 31 unserer Geschäftsordnung vor, und zwar von denKollegen Petra Sitte, Cornelia Hirsch und VolkerSchneider.1) Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer ist da-gegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist damit ange-nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, derFDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenbei Enthaltung der Fraktion Die Linke.Zusatzpunkt 2 h:Beratung des Antrags der Abgeordneten PeterGötz, Dirk Fischer , Dr. Klaus W.1) Anlage 2Lippold, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSUsowie der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, SörenBartol, Christian Carstensen, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der SPDDie Zulässigkeit von Kindertagesstätten in rei-nen Wohngebieten verbessern– Drucksache 16/13624 –Wer stimmt für diesen Antrag? – Ist jemand dagegen? –Enthaltungen? – Der Antrag ist damit mit den Stimmendes ganzen Hauses angenommen.Wir kommen nun zu den Zusatzpunkten 2 i bis 2 z. Eshandelt sich um weitere Beschlussempfehlungen desPetitionsausschusses.Zusatzpunkt 2 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 599 zu Petitionen– Drucksache 16/13628 –Wer stimmt dafür? – Gibt es Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Die Sammelübersicht 599 ist mit den Stim-men des ganzen Hauses angenommen.Zusatzpunkt 2 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 600 zu Petitionen– Drucksache 16/13629 –Wer stimmt dafür? – Ist jemand dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 600 ist ebenfalls ein-stimmig angenommen.Zusatzpunkt 2 k:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 601 zu Petitionen– Drucksache 16/13630 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 601 ist damit angenommenmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke undEnthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.Zusatzpunkt 2 l:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 602 zu Petitionen– Drucksache 16/13631 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 602 ist damit angenommenmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FraktionBündnis 90/Die Grünen und der FDP-Fraktion bei Ent-haltung der Fraktion Die Linke.
Metadaten/Kopzeile:
25670 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtZusatzpunkt 2 m:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 603 zu Petitionen– Drucksache 16/13632 –Wer stimmt dafür? – Ist jemand dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 603 ist einstimmig an-genommen.Zusatzpunkt 2 n:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 604 zu Petitionen– Drucksache 16/13633 –Wer stimmt dafür? – Ist jemand dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 604 ist damit angenom-men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, derFDP-Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beiEnthaltung der Fraktion Die Linke.Zusatzpunkt 2 o:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 605 zu Petitionen– Drucksache 16/13634 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 605 ist damit angenommenmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beiGegenstimmen der Fraktion Die Linke.Zusatzpunkt 2 p:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 606 zu Petitionen– Drucksache 16/13635 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 606 ist damit angenommenmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktionder FDP und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmender Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.Zusatzpunkt 2 q:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 607 zu Petitionen– Drucksache 16/13636 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 607 ist damit angenommenmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FraktionBündnis 90/Die Grünen und der FDP-Fraktion bei Ge-genstimmen der Fraktion Die Linke.Zusatzpunkt 2 r:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 608 zu Petitionen– Drucksache 16/13637 –Wer stimmt dafür? – Ist jemand dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 608 ist damit angenom-men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, derFraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion.Zusatzpunkt 2 s:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 609 zu Petitionen– Drucksache 16/13638 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 609 ist damit angenommenmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke.Zusatzpunkt 2 t:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 610 zu Petitionen– Drucksache 16/13639 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthält sichjemand? – Die Sammelübersicht 610 ist angenommenmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke undEnthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.Zusatzpunkt 2 u:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 611 zu Petitionen– Drucksache 16/13640 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 611 ist damit angenom-men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und derFraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen derFDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke.Zusatzpunkt 2 v:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 612 zu Petitionen– Drucksache 16/13641 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 612 ist damit angenommenmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25671
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtZusatzpunkt 2 w:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 613 zu Petitionen– Drucksache 16/13642 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 613 ist damit angenommenmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Frak-tion Die Linke gegen die Stimmen der FDP-Fraktion undder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.Zusatzpunkt 2 x:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 614 zu Petitionen– Drucksache 16/13643 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 614 ist damit angenommenmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen derFDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke.Zusatzpunkt 2 y:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 615 zu Petitionen– Drucksache 16/13644 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht 615 ist damit angenommenmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke.Zusatzpunkt 2 z:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 616 zu Petitionen– Drucksache 16/13645 –Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Wer enthältsich? – Die Sammelübersicht 616 ist damit angenommenmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen der Oppositionsfraktionen.Nun kommen wir zu den Zusatzpunkten 3 a und 3 b;es handelt sich um Beschlussempfehlungen des Ver-mittlungsausschusses.Ich rufe zunächst Zusatzpunkt 3 a auf.Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
Änderung des Gesetzes zur Durchführung derGemeinsamen Marktorganisationen und derDirektzahlungen– Drucksachen 16/12231, 16/12517, 16/13081,16/13607 –Berichterstattung:Abgeordneter Wolfgang ZöllerDer Berichterstatter im Bundesrat ist Herr Staats-minister Geert Mackenroth.Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? –Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zu sonstigen Erklä-rungen gewünscht? – Auch das ist nicht der Fall.Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Vermitt-lungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Ge-schäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundes-tag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist.Dies gilt auch für die noch folgende weitere Beschluss-empfehlung des Vermittlungsausschusses. Wer stimmtfür die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschus-ses auf der Drucksache 16/13607? – Wer ist dagegen? –Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist ange-nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, derFraktion der FDP und der Fraktion Die Linke bei Enthal-tung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.Ich rufe nun den Zusatzpunkt 3 b auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
Änderung des Gesetzes zur Regelung derRechtsverhältnisse der Helfer der Bundes-anstalt Technisches Hilfswerk– Drucksachen 16/12854, 16/13016, 16/13358,16/13608 –Berichterstattung:Abgeordneter Wolfgang MeckelburgDer Berichterstatter im Bundesrat ist Herr Staats-minister Jörg-Uwe Hahn.Wird hierzu das Wort zu einer Berichterstattung odereiner Erklärung gewünscht? – Auch das ist nicht derFall.Wir kommen damit zur Abstimmung. Wer stimmt fürdie Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschussesauf Drucksache 16/13608? – Wer ist dagegen? – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommenmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktionder FDP und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung derFraktion Bündnis 90/Die Grünen.Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:Wahl von Mitgliedern des Stiftungsrates der„Stiftung Berliner Schloss – Humboldtforum“– Wahlvorschläge der Fraktionen der CDU/CSU,SPD und FDP– Drucksache 16/13661 –– Wahlvorschläge der Fraktionen DIE LINKEund BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN– Drucksache 16/13705 –Wir stimmen zuerst über den Wahlvorschlag derFraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 16/13705 ab. Wer stimmt für diesen Wahl-
Metadaten/Kopzeile:
25672 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldtvorschlag? – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – DerWahlvorschlag ist damit mit den Stimmen der Koali-tionsfraktion bei Enthaltung der FDP-Fraktion abge-lehnt.Wir stimmen nun über den Wahlvorschlag der Frak-tionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Druck-sache 16/13661 ab. Wer stimmt für diesen Wahlvor-schlag? – Wer ist dagegen? – Enthält sich jemand? – DerWahlvorschlag ist damit angenommen mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegendie Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen undder Fraktion Die Linke.Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt haben wir denAbstimmungsmarathon konzentriert über die Bühne ge-bracht. Ich danke Ihnen für die Disziplin.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 5 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENHaltung der Bundesregierung zu Meinungs-verschiedenheiten in der CDU/CSU über Steu-ersenkungsvorhaben und deren FinanzierungIch eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Fritz Kuhn für die FraktionBündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Jetzt haben Sie michdamit überrascht, dass die Aktuelle Stunde doch nochanfängt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns inden letzten Wochen doch gewundert. Angesichts derZahlen des Haushaltsentwurfs 2010 und der dazugehöri-gen mittelfristigen Finanzplanung auf der einen Seiteund der Beschlüsse der FDP sowie der Diskussionen beider CDU auf der anderen Seite ist mir als einfachem Ge-müt aufgefallen: Das passt nicht zusammen.
Es gibt eine gigantische Neuverschuldung. Wir kom-men im Jahr 2010 nicht auf die 86 Milliarden Euro, dieim Haushaltsentwurf stehen. Wenn man die Mittel fürden SoFFin und andere Dinge dazurechnet, kommt manauf eine realistische Neuverschuldung des Bundes von100 Milliarden Euro. In den fortfolgenden Jahren gehtdas so weiter.Dies geht mit zusätzlichen Risiken wie der Unter-finanzierung aller Sozialversicherungskassen einher. Ichmöchte das in meinen fünf Minuten Redezeit nicht wei-ter ausführen; aber es betrifft die Rente, die Krankenver-sicherung und die Bundesagentur für Arbeit. Man hatübrigens nichts davon, jetzt Kredite auszugeben wie beider Krankenversicherung, wo 4 Milliarden Euro in denGesundheitsfonds geflossen sind.Ein weiteres zusätzliches Risiko besteht dadurch, dassextreme Wachstumsannahmen die mittelfristige Finanz-planung stabilisieren sollen. Ab 2011 sollen es 1,9 Pro-zentpunkte sein. Ein solches Wachstum haben wir zu-letzt nur in den Jahren 2002 und 2007 erreicht. Weiterhinsoll es in den Folgejahren gigantische Ausgabenkürzun-gen geben. Das sind sehr optimistische Annahmen, unterdenen die Riesenschulden wenigstens gehalten werdenkönnen sollen.Die Herrschaften von den Gelben aber treiben dieSchwarzen gemütlich vor sich her und führen uns dieOper auf: Wir senken dennoch die Steuern. Macht janichts; auf die eine oder andere Milliarde kommt esschließlich nicht an.
Was Sie da vorbereiten, nenne ich einen organisiertenWählerbetrug, weil Sie die Steuersenkung, deren war-men Wind Sie genießen wollen, auf der Grundlage die-ser Haushaltsdaten in der Praxis nie und nimmer gestal-ten und in die Tat umsetzen können.
Meine Damen und Herren von der FDP und von derUnion, zusätzlich versprechen Sie mehr Investitionen inBildung. Ich habe noch keinen Niebel oder wie sie alleheißen, auch niemanden von der Union, gehört, der nichtdavon redet. Außerdem versprechen Sie Investitionen inden Klimaschutz. Darüber hinaus fordert die FDP in derFöderalismuskommission II nicht nur eine Schulden-bremse, sondern ein absolutes Schuldenverbot. Ich sagees noch einmal: Was Sie da erzählen, passt nicht zusam-men.Die Ein-Punkt-Partei FDP – Steuern senken; das istder eine Punkt – hat angesichts der Zahlen des Haus-haltsentwurfs 2010 mit dem Steuerprogramm, das sieaufgestellt hat, schon jetzt den Bruch ihrer Wahlverspre-chen organisiert.
Die CDU eifert dem nach, spürt aber, dass es so nichtgeht. Die Äußerungen von Oettinger und anderen sindnur ein Reflex, keine gerechnete Antwort darauf, dass et-was an dem, was Sie jetzt dennoch ins Wahlprogrammgeschrieben haben, faul ist. Die Leute fragen übrigens inden Veranstaltungen – ich nehme an, dass auch die Kol-legen von der Union gefragt werden –, wer diese Kriseeigentlich bezahlen soll. Das ist eine Frage, die sich auf-drängt und auf die Sie sich im Wahlkampf alle einstellendürfen.Eine Antwort lautet, dass die nächsten Generationenbezahlen sollen. Das sagt man nicht so gerne; aberSchulden machen heißt, dass unsere Kinder dafür zahlenmüssen. Deshalb müssen wir jetzt energisch gegensteu-ern. Die andere Antwort heißt laut Oettinger Mehrwert-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25673
(C)
(D)
Fritz Kuhnsteuererhöhung. Das halten wir für einen völlig verkehr-ten Weg.
Sie haben die Mehrwertsteuer schon kräftig erhöht. Wirwerden aus der Konjunkturkrise nicht herauskommen,wenn wir so etwas noch einmal machen.Die richtige Antwort ist, dass wir uns die Frage stel-len müssen, ob nicht diejenigen, die viel haben, einengrößeren Beitrag zur Tilgung der Schulden und Zinsenleisten müssen. Deswegen sind wir zum Beispiel nichtnur für eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes, sondernauch für eine zeitlich befristete Abgabe auf große Ver-mögen. Denn Sie können niemandem in der Gesellschafterklären, dass die Großen die Krise angerichtet habenund die Kleinen jetzt dafür bezahlen sollen. Das ist nichtgerecht.
Das ist auch nicht mit einem christlichen Gerechtigkeits-begriff zu vereinbaren.Wer Steuersenkungen verspricht und sich nicht aufdie Frage einlässt, wie das bezahlt werden soll, der kannnur einen Weg gehen – das ist Ihr versteckter Weg –: Erwird in den Sozialsystemen kürzen; denn darin stecktviel Geld des Bundes. Nach dem, was FDP und CDU be-schlossen haben, sind sie keine Steuersenkungsparteien,sondern Sozialkürzungsparteien, sollten sie – was ichnicht hoffe – in der nächsten Legislaturperiode regieren.Vielen Dank.
Nach meiner Rednerliste ist der Kollege Otto
Bernhardt der nächste Redner.
Offenbar liegt mir eine falsche Liste vor. Da der Kollege
Hans Michelbach bereitsteht und in der Fraktion wohl
vereinbart ist, dass er jetzt reden soll, erteile ich ihm das
Wort.
Frau Präsidentin, vielen Dank! – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Herr Kuhn, mit Kassandrarufen bewälti-gen wir die Krise sicher nicht. Wir müssen den Men-schen Orientierung geben, für Wachstum sorgen undneue Sicherheit erreichen. Das sind die Voraussetzungenfür die Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzmarkt-krise.Dafür haben wir am Sonntag einstimmig ein Regie-rungsprogramm für 2009 bis 2013 beschlossen. Darüberwerden die Menschen in 88 Tagen zu entscheiden haben.Ich bin ganz sicher, dass sie uns ihr Vertrauen schenkenund unserem Dreiklang von Konsolidieren, Investierenund Entlasten ihre Zustimmung geben werden. Denn dasist der richtige Ansatz, die richtige Konzeption, um dieseKrise zu bewältigen.
Wir werden mit dem Regierungsprogramm die schlei-chenden Steuererhöhungen durch die kalte Progressionzurückführen, eine flachere Tarifkurve für die Entlastungder Mittelschicht bis zur Spitzensteuersatzschwelle von60 000 Euro schaffen und den Eingangssteuersatz von14 Prozent auf 12 Prozent senken.
Wir dürfen angesichts der Wirtschafts- und Finanz-marktkrise keine Steuerpolitik der ruhigen Hand undkeine leistungsfeindliche Bereicherung des Staates prak-tizieren. Eine Steuerreform ist deshalb notwendig. Sie istökonomisch sinnvoll, für das Wachstum nötig und imRahmen dieses Dreiklangs auch machbar. Aus diesemGrunde muss sie weiter als Kernziel auf der politischenAgenda bleiben. Nichts zu tun und auf die Haushaltsent-wicklung wie das Kaninchen auf die Schlange zuschauen, wäre völlig fatal. Sie müssen wie ein Kauf-mann zunächst investieren und werben, um Anreize zuschaffen. So überwinden Sie in einem Unternehmen eineKrise. Genauso muss es in dieser Krise der Staat ma-chen.
Wir brauchen eine wachstumsfreundliche Steuerpoli-tik, die Kaufkraft und Investitionen begünstigt. Mit Steu-ersenkungen lässt sich die Wirtschaft stärker stimulieren,sodass anschließend der Staat auch wieder mehr einneh-men wird. Ein Erfolgsprogramm ist ein Policy-Mix, einDreiklang von Schuldentilgung, Investitionen und steu-erlicher Entlastung. Ohne neues Wachstum kommen wirnicht aus der Krise und erreichen keine Konsolidierung.Zwei von drei Menschen in Deutschland halten Steu-ersenkungen für das beste Mittel gegen die Krise. Demkann man nur zustimmen. Die Menschen spüren, wasnotwendig ist. In unserem jetzt beschlossenen Bürger-entlastungsgesetz sind Steuerentlastungen schon vorge-sehen. Im Jahr 2010 wird es mit diesem Bürgerentlas-tungsgesetz eine erste Steuerentlastung geben. Alleindurch die Absetzbarkeit von Krankenversicherungsbei-trägen werden die Bürger um 9 Milliarden Euro entlas-tet.Es wird gesagt, in der Krise könne es keine Steuer-erleichterungen geben. So wie es jetzt für 2010 beschlos-sen ist, muss es natürlich bis 2013 weitergehen. Washeute in der Krise richtig ist, kann doch morgen nichtfalsch sein. Deswegen ist es wichtig, dass wir eine Steu-ervereinfachung und eine Veränderung der Steuerkurve,insbesondere bei der Progression, beschlossen haben.50 Prozent der oberen Steuerzahler zahlen schon heute93 Prozent des Einkommensteueraufkommens. Es kanndoch nicht sein, dass bei Lohnerhöhungen zum Infla-tionsausgleich nicht die Arbeitnehmer, sondern nur derFiskus begünstigt wird.
Metadaten/Kopzeile:
25674 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Dr. h. c. Hans MichelbachDie Menschen müssen das Gefühl haben: Leistunglohnt sich. Insbesondere muss deutlich sein, dass vonLohnerhöhungen in dieser Zeit mehr Netto vom Bruttoübrig bleibt und nicht bei 1 Prozent Lohnerhöhung2 Prozent mehr Steuern zu zahlen sind.
Das ist der falsche Weg. Wir brauchen einen ökonomi-schen Ansatz für mehr Wachstum und Beschäftigung.Dann werden wir aus dieser Krise herauskommen.
Eine Verweigerungshaltung und eine Politik der ruhigenHand wären völlig fatal für unser Land. Das, was wirjetzt beschlossen haben, ist der richtige Ansatz. Deswe-gen werden wir dafür die Zustimmung der Bürger undder Wirtschaft bekommen.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Carl-Ludwig Thiele
für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenKolleginnen und Kollegen! Die Irritationen der Unionüber die Steuerpläne scheinen ein zeitweiliges Ende ge-funden zu haben. Als FDP begrüßen wir ausdrücklich,dass sich nunmehr auch die Union klar zu Steuersenkun-gen bekennt.
Es ist leider richtig, dass wir eine Wirtschaftskrise ha-ben. Es ist leider richtig, dass wir eine Finanzkrise ha-ben. Ebenso ist leider richtig, dass die Nettoneuverschul-dung so hoch ist und sein wird, wie sie noch nie inunserem Lande war. Aber wenn wir Arbeitsplätze erhal-ten wollen, wenn wir Arbeitsplätze schaffen wollen,dann brauchen wir Wachstum. Wenn wir Wachstum wol-len, müssen wir uns doch fragen, ob wir dieses Wachs-tum durch Steuersenkungen oder Steuererhöhungenerhalten. Wir als FDP sagen klipp und klar: Steuererhö-hungen beschädigen das Wachstum; Steuererhöhungenwirken gegen Beschäftigung. Das ist der Grund, warumwir gegen Steuererhöhungen sind.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ins-besondere von der SPD: Bei der letzten Bundestagswahlhat sich die SPD für ihr Versprechen wählen lassen, dieSteuern nicht zu erhöhen. Sie hat sich vehement gegeneine Erhöhung der Mehrwertsteuer ausgesprochen underklärt, dass sie eine Mehrwertsteuererhöhung – siesprach sogar von einer „Merkelsteuererhöhung“ – nichtmitmachen würde. Nach der Wahl haben sich die Sozial-demokraten mit der Union auf eine 3-prozentige Mehr-wertsteuererhöhung geeinigt. Das war die höchste Steuer-erhöhung, die es jemals in der Geschichte unseres Lan-des gegeben hat.
Wenn Ihr Kanzlerkandidat Steinmeier nunmehr erklärt,wer von Steuersenkungen rede, veräpple die Bevölke-rung,
dann muss er sich doch fragen lassen, wie er selbst unddie SPD bei der letzten Bundestagswahl mit der Bevöl-kerung umgegangen sind.
Wenn sich Ihr Parteivorsitzender Franz Müntefering inder Großen Koalition darüber beklagt, dass es unfair sei,dass die SPD an dem gemessen werde, was sie in Wahl-kämpfen gefordert habe, dann zeigt dies doch das ge-samte Dilemma der SPD: Sie sind wortbrüchig gegen-über dem Wähler geworden. Sie haben sich für eineandere Politik wählen lassen, als Sie sie beschlossen ha-ben. Sie haben sich komplett disqualifiziert, Werturteileüber andere Parteien überhaupt abzugeben.
Die Wählerinnen und Wähler in unserem Land, HerrPoß, sehen das im Übrigen genauso. Mit Ihrem Kurs ge-gen Steuererhöhungen erreichten Sie bei der letztenBundestagswahl ein Ergebnis von 34,2 Prozent; bei derEuropawahl haben Sie nun 20,8 Prozent erhalten. Das istdie Quittung der Wähler für eine unglaubwürdige Politikder Sozialdemokraten in Hessen, aber auch hier imBund.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt ei-nen fundamentalen Unterschied zwischen den privatenund den öffentlichen Haushalten: Jeder private Haushaltschaut zuerst, was er einnimmt. Wenn er weniger ein-nimmt, kann er weniger ausgeben. Bei den öffentlichenHaushalten ist es leider genau umgekehrt: Zuerst werdendie Ausgaben festgelegt, und dann muss dafür das Geldher. Wenn so die Bürger in unserem Lande haushaltenwürden, wenn so die Unternehmen in unserem Landewirtschaften würden, dann wären die Bürger und auchdie Unternehmen pleite. Das kann nicht richtig sein.
SPD, Linkspartei und Grüne sehen das Wohl desStaates insofern nur darin, die Steuern zu erhöhen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25675
(C)
(D)
Carl-Ludwig ThieleWarum reden eigentlich alle nur von Steuererhöhungenund von Steuermehreinnahmen des Staates zulasten derBürger und der Wirtschaft, Herr Kuhn? Warum wirdnicht auch einmal von Sparen und von Kürzen öffentli-cher Ausgaben gesprochen?
Wenn jetzt von der SPD die Behauptung aufgestelltwird, Steuersenkungen für Bürgerinnen und Bürgerseien nicht möglich, dann ist damit politisch etwas ganzanderes gemeint:
Sie wollen weitermachen mit der Steigerung der Staats-ausgaben. Der Stimmenkauf von der Abwrackprämie biszur Rentenerhöhung wird zum politischen Prinzip erho-ben. Niemandem wehe und allen wohl – das ist das Prin-zip der Großen Koalition, und zwar in guten wie inschlechten Zeiten. Das kann nicht funktionieren.
Eine Steuerreform für ein einfacheres und faires Steu-ersystem ist nicht nur nötig, sie ist auch möglich. Nurmuss man sich an die Staatsausgaben heranwagen.
Natürlich tut das Streichen von Subventionen weh; na-türlich ist der Verkauf von Staatsbesitz nicht ohne Wi-derstände möglich. Das haben wir ja bereits vor einigenJahren erlebt, als wir seitens der FDP den Antrag gestellthaben, die IKB zu verkaufen. Rot-Grün hat genau diesesabgelehnt. Mit welchem Ergebnis? Die IKB hat einePleite sondergleichen hingelegt, und die Quittung dafürhaben Sie einfach an die Steuerzahler weitergereicht.Das ist eine Politik, die wir nicht wollen. Wir wollen ei-nen klaren ordnungspolitischen Rahmen. Dafür setzenwir uns ein.
Die Große Koalition ist vor vier Jahren mit demMotto angetreten: Investieren, Sanieren, Reformieren.Die Bilanz sieht komplett anders aus: Der Haushalt istruiniert, der Steuerzahler wird abkassiert, und das Ge-sundheitssystem ist deformiert. Das ist die Situation, vorder wir heute in unserem Lande stehen.
Die Politik der Großen Koalition ist gescheitert, undwir als FDP stehen für eine marktwirtschaftliche Erneue-rung unseres Landes und einen Politikwechsel. Dafürhaben wir in dieser Periode geworben, und dafür werdenwir bis zum Wahltag werben. Wir benötigen zum Wohleder Bevölkerung, zum Wohle der Arbeitsuchenden undzum Wohle der Beschäftigten in unserem Lande eine an-dere Mehrheit.Herzlichen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Joachim
Poß das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! ZuHerrn Thiele möchte ich jetzt nicht einmal ein Wort ver-lieren. Das lohnt sich wirklich nicht.
Vielmehr möchte ich etwas zu Frau Merkel sagen, dieals Bundeskanzlerin im Bundeskabinett vor wenigen Ta-gen einen Haushaltsentwurf und eine Finanzplanung hatbeschließen lassen, die bis 2013 eine Neuverschuldungdes Bundes von rund 300 Milliarden Euro vorsieht. Esgibt Schätzungen, die darüber hinausgehen.
– Ja, aber unter der Leitung von Frau Merkel.
Wer diese hohe Verschuldung wieder abbauen will,kann nicht zusätzlich zu den Steuersenkungen, die dieseKoalition bereits beschlossen und die Herr Thiele ver-schwiegen hat, weitere Steuersenkungen vornehmenwollen. Wir haben in diesem Jahr Steuersenkungen von16,5 Milliarden Euro. Im nächsten Jahr werden es28 Milliarden Euro sein. Ein Teil davon ist auf das Bür-gerentlastungsgesetz zurückzuführen. Im Jahre 2011 ha-ben wir eine Steuerentlastung von über 30 MilliardenEuro als Teil unserer konjunkturellen Strategie.
Es ist auch richtig so, dass wir diese Steuersenkungenbeschlossen haben, aber mehr geht eben angesichts derExplosion der Verschuldung in unserem Land nicht.Mehr wäre verantwortungslos.
Es geht allerdings nicht, dass Frau Merkel am Montagim Kabinett dies für die nächsten Jahre so feststellt
und am Sonntag beim gemeinsamen Treffen von CDUund CSU als Parteichefin ein Wahlprogramm beschlie-ßen lässt, das deutliche Steuersenkungen verspricht. Un-
Metadaten/Kopzeile:
25676 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Joachim Poßseriöser und verantwortungsloser kann Politik wohlkaum auftreten.
Wer behauptet, er könne alles gleichzeitig erreichen,also den Abbau der Neuverschuldung, Steuersenkungund Zukunftsinvestitionen, nimmt weder sich selbstnoch die Bürgerinnen und Bürger ernst, denen ein sol-ches Wahlprogramm angeboten wird. So etwas kanntenwir bisher nur von der Spaßpartei FDP, bei der ja gesell-schaftspolitische Verantwortungslosigkeit ein zentralerProgrammpunkt ist.
Nun sieht sich zu meinem Bedauern unser Koalitions-partner CDU/CSU offenbar gezwungen, hier in einenWettlauf einzutreten. Es ist unverantwortlich, solcheSteuersenkungen auf Pump zu versprechen. Das istPopulismus, der auf Dauer auch die Grundlagen unseresdemokratischen Verständnisses erschüttert. Ein solch ge-planter und langfristig angelegter Wahlbetrug ist einma-lig in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,meine Damen und Herren.
Gesellschaftspolitische Verantwortungslosigkeit kanndoch wohl nicht die Antwort auf die schwerste wirt-schaftliche Krise in der Geschichte der Republik sein.
Das haben die Bürgerinnen und Bürger nicht verdient,und dagegen werden wir Sozialdemokraten uns mit allerKraft wehren.Offenkundig verabschiedet sich die Union mit ihrenSteuersenkungsversprechen von der Politik, mit der dieGroße Koalition in den letzten Wochen und Monaten derKrise entschlossen und wirksam entgegengetreten ist.Wer angesichts der genannten Haushaltsdefizite zusätzli-che Steuersenkungen verspricht, der kann und will künf-tig nicht mehr so viel zur Sicherung von Arbeitsplätzenin Deutschland tun, wie wir dies in den letzten Monatengetan haben. Übrigens geschah dies in dieser Koalitionimmer auf Druck und Vorschlag der SPD.Nur wenige Wochen nachdem wir hier im DeutschenBundestag nach jahrelangen Vorarbeiten in der Födera-lismuskommission eine Schuldenbremse im Grundge-setz verankert haben, fallen CDU und CSU – von derFDP gar nicht zu reden – wieder genau in das Verhal-tensmuster zurück, das in den letzten 40 Jahren ständigzum Anstieg der Staatsverschuldung geführt hat, meineDamen und Herren. Anstatt nach einer Rezession ersteinmal im Aufschwung die Steuermehreinnahmen zumAusgleich der unvermeidlichen Defizite zu verwenden,werden noch während der Krise diese zukünftigen Mehr-einnahmen wieder verteilt, und der Staat bleibt auf denSchulden sitzen.Wir waren in der Koalition in den Jahren 2005 bis2008 mit einem anderen Verhaltensmuster erfolgreich:In allen Aufschwungjahren wurden erhebliche Steuer-mehreinnahmen realisiert. Damit wurden die Neuver-schuldung und ebenso das strukturelle Defizit zurückge-fahren. Die Wahlversprechen von CDU und CSU zeigen,dass eine Rückkehr zu dieser Politik wirksamer Haus-haltskonsolidierung nur mit der SPD möglich ist. Daswerden wir in den nächsten Wochen klarstellen.Danke schön.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Barbara Höll
für die Fraktion Die Linke.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Was hier abläuft, ist ein demokratiefeindlichesund wirklich schändliches Schauspiel auf Kosten derBürgerinnen und Bürger.
Es ist eine einstudierte, vielfach erprobte Vernebelungs-taktik: Einerseits werden wahlkampftaktisch motivierteSteuersenkungen versprochen. Andererseits wird die Be-völkerung mental auf steuerliche und soziale Grausam-keiten in der nächsten Wahlperiode vorbereitet. Den Bo-den hierfür bereiten Sie mit einzelnen Wissenschaftlernund Wirtschaftsverbänden.Die gigantische Neuverschuldung wurde schon mehr-fach genannt. Natürlich fragen sich die Bürgerinnen undBürger: Wer soll das bezahlen? Frau Bundeskanzlerinmimt die Beinharte: Keine Steuererhöhungen nach derBundestagswahl! Wenn ich Nein sage, ist es ein Nein.
Nicht einmal die Bild-Zeitung, die Ihnen weiß Gottwohlgesonnen ist, glaubt Ihnen noch. Sie verlangt viel-mehr eine schriftliche Erklärung dazu. Dass die Bild-Zeitung einen schriftlichen Steuerschwur verlangt, hatschon eine neue Qualität.
Sie versprechen frisch-fröhlich weitere Steuersenkun-gen in Höhe von 15 Milliarden Euro. Das ist Wolkenku-ckucksheim und nichts anderes. Das Entscheidende ist:Geld wäre da. Das sagt Ihnen die Linke. Man muss aberbereit sein, das Geld da zu holen, wo es durch Ihre Poli-tik – Sie alle zusammen waren daran beteiligt – in denletzten Jahren massiv angehäuft wurde. Wenn man dastut, dann hat man eine Chance, wirtschaftlich gut zu ar-beiten.
Ihre Versprechen sind ein Wolkenkuckucksheim undnichts anderes.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25677
(C)
(D)
Dr. Barbara HöllIch will ein Beispiel nennen, das ich sehr treffendfinde. Vor 22 Jahren, also 1987, waren die Bezüge ei-nes DAX-Vorstandes mit durchschnittlich 446 000Euro 14-mal so hoch wie die eines Arbeiters. Heute istder Unterschied auf das 52-Fache angewachsen. Das istdas Ergebnis der Politik sowohl von Rot-Grün – ich er-wähne nur die Senkung des Spitzensteuersatzes – alsauch von CDU/CSU und FDP.
Heute verdient ein Vorstandsmitglied eines DAX-notier-ten Unternehmens im Schnitt 3,33 Millionen Euro. AberSie wollen nicht ran an eine tatsächliche Reform der Ein-kommensteuer, die sozial gerecht ist, mit der man denProgressionsbauch abflacht, zu einer linearen Besteue-rung kommt und den Spitzensteuersatz erhöht. Sie wol-len nicht ran an eine Vermögensbesteuerung. Die Ver-mögenden selber machen Ihnen Vorschläge und sagen,dass eine Vermögensabgabe durchführbar ist. Das alleslehnen Sie aber ab.Was bleibt noch an Maßnahmen übrig? Es ist völligklar; das pfeifen die Spatzen von den Dächern und kannin jeder Zeitung täglich nachgelesen werden: Es bleibenSteuererhöhungen, Erhöhungen der Sozialabgaben unddrastische Kürzungen bei den Sozialleistungen. Ich findees schon interessant, dass die bereits angekündigten Kür-zungen bei den Sozialleistungen nicht dementiert wur-den. Bisher wurden nur Steuererhöhungen dementiert.Natürlich geht es um die Mehrwertsteuer. Eine Erhö-hung würde alle treffen. Aber es trifft vor allem diejeni-gen, die heute für Minilöhne schuften müssen, und dieje-nigen, die auf Hartz IV angewiesen sind, weil dieArbeitsplätze nicht in ausreichender Zahl vorhandensind. Vor allem diese Menschen zahlen die Zeche. HerrPoß, wenn man im Glashaus sitzt, sollte man nicht mitSteinen werfen. Wer hat denn diese Mehrwertsteuererhö-hung gemeinsam mit der CDU/CSU durchgesetzt?
Das waren schließlich Sie!
Beispiel Abgeltungsteuer. Der eine oder andere Ein-kommensmillionär hat vielleicht 1 Million Euro ganznormal auf dem Sparbuch liegen.
– Regen Sie sich nicht so auf!
Vor der Abgeltungsteuer hat er ordentlich Steuernzahlen müssen, weil der Spitzensteuersatz gegriffen hat:112 500 Euro Steuern auf Zinseinnahmen in Höhe von250 000 Euro.
Heute muss er nur noch 62 500 Euro zahlen, weil Sie dieAbgeltungsteuer durchgebracht haben.
Herr Steinbrück hat das so begründet: Ehe die gar nichtszahlen, nehmen wir lieber ein bisschen weniger. Sie ha-ben die Reichen und Vermögenden in dieser Gesellschaftmassiv entlastet.
Die Mehrwertsteuer war ein Mittel zur Gegenfinanzie-rung. Das ist mit uns nicht zu machen.Sie glauben anscheinend, dass dieser Streit, dass das,was Sie hier abliefern, Menschen motiviert. Dazu kannich Ihnen nur sagen: Das ist und bleibt demokratiefeind-lich. Sie veralbern die Bevölkerung und verkaufen siefür blöd. Das ist mit uns nicht zu machen.Wenn Sie den Umsatz stärker besteuern wollen, wa-rum besteuern Sie dann bitte schön nicht den Kapitalver-kehr? Warum führen wir nicht eine Börsenumsatzsteuerein, die Milliarden in die Bundeskasse spülen würde?Das könnten Sie doch machen.Ich glaube, nun ist endgültig klar, was Bundeskanzle-rin Angela Merkel meint, wenn sie sagt, dass Deutsch-land gestärkt aus der Krise hervorgehen wird. IhrDeutschland, das sind die Reichen, die Vermögendenund die großen Unternehmen. Die Masse der Bevölke-rung darf das dann zahlen. Die einen wollen Sie stärken,und die anderen werden dafür zur Kasse gebeten. Das isteine riesengroße Wahllüge.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun das Wort der
Kollege Manfred Kolbe.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben die seit vielen Jahrzehnten schwerste Finanz-und Wirtschaftskrise in Deutschland.
Die Menschen erwarten ehrliche Antworten und keinegegenseitigen Beschimpfungen, gerade von uns imDeutschen Bundestag.
Ehrliche Antworten erwarten die Menschen auch vonder Opposition, Herr Kuhn. In Ihrem Redebeitrag haben
Metadaten/Kopzeile:
25678 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Manfred KolbeSie uns und alle anderen beschimpft, aber eine ehrlicheAntwort habe ich Ihrem fünfminütigen Redebeitragnicht entnehmen können. Die einzige Antwort war: Er-höhung des Spitzensteuersatzes. Wissen Sie eigentlich,ab welchem Betrag der Spitzensteuersatz heute greift?Das sind 52 000 Euro jährlich. Das ist viel Geld. Das istein gutes Gehalt, aber das sind nicht Superreiche. Das isteine etwas zu billige Antwort. Das war eine Antwort aufdem Niveau der Linken. Die Grünen sind da sonst bes-ser.Sie haben uns organisierten Wählerbetrug vorgewor-fen. Das kann ich nur zurückweisen. Schauen Sie sicheinmal die Koalitionsvereinbarung an, die die Sozialde-mokraten und die Union vor vier Jahren geschlossen ha-ben.
Wir haben diese Koalitionsvereinbarung sauber abgear-beitet. Wir haben uns im Wesentlichen an das gehalten,was wir dort angekündigt haben.
Das fing in der Tat sehr schmerzhaft an: mit einer Um-satzsteuererhöhung. Für die Union kann ich aber sagen:Wir haben dies im Wahlkampf angekündigt. Wir alle ha-ben diese Mehrwertsteuererhöhung in Podiumsgesprä-chen verteidigt. Wir wussten, dass das nicht populär war.Wir haben den Wähler aber nicht täuschen wollen. Wirhaben vor vier Jahren diese Mehrwertsteuererhöhung an-gekündigt.Herr Koalitionspartner Poß, ehe Sie der Bundeskanz-lerin – ich zitiere Sie – Wahlbetrug
oder die Vorbereitung eines Wahlbetrugs vorwerfen,
was ich entschieden zurückweise, sollten Sie auf dasschauen, was Sie vor vier Jahren gesagt haben. Ihre Ar-gumentation steht auf verdammt schwachen Füßen.
Schauen wir uns die Koalitionsvereinbarung docheinmal an: Wir haben die Reform der Unternehmensbe-steuerung durchgeführt. Wir haben einen Körperschaft-steuersatz von 15 Prozent erreicht. Die Gesamtbelastungder Körperschaften liegt bei knapp 30 Prozent. Wir ha-ben wieder ein international wettbewerbsfähiges Körper-schaftsteuerrecht. Wir haben auch eine ganze Reihe vonEntlastungen bei der Einkommensteuer durchgeführt,zuletzt mit dem Konjunkturpaket. Wir haben das Kinder-geld und die Kinderfreibeträge erhöht. Wir haben dieMöglichkeiten des Absetzens haushaltsnaher Dienstleis-tungen, insbesondere von Handwerkerrechnungen, ver-bessert. Wir haben eine Abgeltungsteuer eingeführt unddie Abgaben in ganz erheblichem Umfang gesenkt. Ichdenke nur an den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung:Wir sind mit dem Beitragssatz von 6,5 auf 2,8 Prozentheruntergegangen. Das ist eine Entlastung in Höhe von30 Milliarden Euro; das bedeutet minus 500 Euro fürden durchschnittlichen Arbeitnehmerhaushalt. Dies alleshaben wir bei gleichzeitiger Konsolidierung des Staats-haushaltes bewerkstelligt. Wenn wir nicht die internatio-nale Finanz- und Wirtschaftskrise gehabt hätten,
die nun wahrlich nicht allein in der Verantwortung derBundesregierung liegt –
– nein, das habe ich Ihnen auch nicht vorgeworfen; ichhabe Ihnen nur die Vorbereitung des Wahlbetrugs vorge-halten –, dann hätte der Bundesfinanzminister einen neu-verschuldungsfreien Haushalt vorlegen können.
Wir haben in der Tat Haushaltskonsolidierung und maß-volle Entlastungen vereinbart, Herr Kuhn. Das ist dasErgebnis der letzten vier Jahre.
Ich darf noch einen ganz anderen Punkt nennen, dermir als Berichterstatter immer am Herzen liegt: die Be-kämpfung der Steuerhinterziehung. Was hat denn Rot-Grün in acht Jahren gegen die Steuerhinterziehung ge-tan?
Ich weiß nicht, ob Ihnen etwas einfällt. Mir fällt da we-nig ein.
Ich denke an diesen verkorksten § 370 a der Abgaben-ordnung, den wir haben wieder aufheben müssen. Au-ßerdem war eine Amnestie vorgesehen, die 5 MilliardenEuro bringen sollte und dann bei 300 Millionen Eurohängen blieb.
– Herr Poß, jetzt wollte ich gerade einmal die Gemein-samkeiten betonen.Diese Koalition, Herr Poß, hat in den letzten vier Jah-ren Entscheidendes gegen die Steuerhinterziehung aufden Weg gebracht, und zwar Union und SPD gemein-sam.
Wir müssen uns nicht Wahlbetrug vorhalten lassen. Wirwerden auch in Zukunft gegenüber den Bürgerinnen undBürgern ehrlich sein. Dieses Wahlprogramm ist ein Pro-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25679
(C)
(D)
Manfred Kolbegramm der Ehrlichkeit. Wir sagen ganz deutlich: Haus-haltskonsolidierung hat Priorität. Wir können die Schul-den nicht auf die nächste Generation verlagern.
Dazu zwingt uns übrigens auch verfassungsrechtlich dieSchuldenbremse, die wir beschlossen haben und dieganz entscheidende Auswirkungen haben wird.Wir haben maßvolle Steuerentlastungen in den Raumgestellt – übrigens ohne eine Zeitangabe –, weil wir siefür sinnvoll halten. Herr Poß, ich frage Sie noch einmal:Halten Sie es für sinnvoll, dass wir die kalte Progressionabfedern?
Das steht in unserem Regierungsprogramm; Sie solltendas einmal nachlesen. Wir wollen die schleichende Steu-ererhöhung abmildern. Wir wollen den Eingangssteuer-satz von 14 auf 13 und vielleicht einmal auf 12 Prozentsenken. Wir wollen die Einkommensgrenze, ab der derSpitzensteuersatz gilt, die jetzt bei 52 000 Euro liegt,maßvoll absenken.
Wir wollen das Ehegattensplitting im Grundsatz bewah-ren. Wir wollen den Kinderfreibetrag auf 8 004 Euro er-höhen. Das sind maßvolle Steuererleichterungen, die wirin Aussicht stellen. Das ist eine ehrliche und leistungsge-rechte Steuerpolitik.
Ich bin überzeugt, der Wähler wird der Union dies hono-rieren.Danke.
Nächster Redner ist der Kollege Alexander Bonde für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Kollege Kolbe, Sie haben gerade die Wirkung der Schul-denbremse gelobt. Ich finde, diese kann nur funktionie-ren, wenn man eine Fahrerin hat, die sie vom Gaspedalunterscheiden kann. Die aktuelle Situation des Haushaltsmacht deutlich, dass nirgendwo Schulden gebremst wer-den, sondern im Gegenteil: Sie häufen den größtenSchuldenberg auf, den diese Republik jemals erlebt hat.
Wir diskutieren heute vor dem Hintergrund konkreterMilliardenlöcher über die Fragen: Was sind ehrliche An-sagen gegenüber den Menschen? Auf welche Ansagenvon Politik können sie sich verlassen? Sie als Union be-haupten hier ernsthaft, Sie könnten Steuerentlastungenin Höhe von 15 Milliarden Euro versprechen. Bei derFDP verliert man ein bisschen den Überblick. Ich weißnicht, wo Sie inzwischen sind: 50 Milliarden Euro,100 Milliarden Euro oder gar keine Steuern mehr.Im Kern muss man all diejenigen, die Steuersenkun-gen versprechen, fragen: Wie soll das bewerkstelligtwerden?
Sie sagen uns heute: Gegenfinanzierung braucht mannicht, wir machen das mit Wachstum.
Das ist, historisch betrachtet, ein erfolgreiches Modell,wenn ich das einmal zynisch sagen darf.
Das Entscheidende ist: Man muss sich einmal an-schauen, wie viel Fantasie bezüglich des künftigenWachstums schon in den Zahlen enthalten ist, die heuteauf dem Tisch liegen. Ihr Kabinett hat diese Woche denHaushalt 2010 beschlossen. Im Finanzplan ist folgendeWachstumsentwicklung für diese Republik vorgesehen:dieses Jahr – das wissen wir alle – minus 6 Prozent,nächstes Jahr laut Ihrem Kabinettsentwurf 0 Prozent.Das ist eine interessante Wachstumsentwicklung. Abdem Jahr 2011 und in den folgenden Jahren rechnen Siedurchgängig mit einem Wachstum von 1,9 Prozent. Dasist mutig. Ich frage einmal in den Raum: Wer von Ihnenist in der Lage, mehr als zwei der letzten 20 Jahre zunennen, in denen diese Republik annähernd 2 ProzentWachstum generiert hat? Sie sind also der Auffassung,dass wir direkt nach der Krise für eine Rekordzahl vonJahren ein Rekordwachstum erzielen werden, das wir inden letzten Jahrzehnten nur sehr selten erreicht haben.Nur indem Sie diese Rechnung aufstellen, schaffen Siees, über den von Ihnen genannten Zeitraum den Rekord-betrag zusätzlicher Verschuldung in Höhe von 300 Mil-liarden Euro zu rechtfertigen. Gleichzeitig erzählen Sieuns, dass Sie infolge von Steuersenkungen – Stichwort:Laffer-Kurve und Ihr ganzer Theoriescheiß –
in der Lage sein werden, über das Rekordwachstum von2 Prozent hinaus zusätzliches Wachstum zu generieren.Mit Verlaub, wie viel Unehrlichkeit wollen Sie den Leu-ten eigentlich noch zumuten?
Ich finde, an dieser Stelle muss man sich die Zahleneinmal so ansehen, wie sie sind. Die Neuverschuldungdes Bundes beträgt in diesem und im nächsten Jahr100 Milliarden Euro. Weil es für die Leute langsamschwierig wird, das Jonglieren mit Milliardenbeträgenüberhaupt noch nachzuvollziehen, füge ich hinzu: Wirreden über einen Bundeshaushalt in der Größenordnungvon etwas mehr als 300 Milliarden Euro. Das sage ich,damit Sie ein Gespür dafür bekommen, welch riesige
Metadaten/Kopzeile:
25680 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Alexander BondeNeuverschuldung von dieser Koalition unter Zugrunde-legung positiver Wachstumserwartungen – sie sind posi-tiver als die Prognosen aller Wirtschaftsforschungsinsti-tute – aufgenommen wird. Darauf weise ich auchdeshalb hin, damit Sie einschätzen können, wie realis-tisch es ist, auf eine derart hohe Neuverschuldung zu re-agieren, indem man die Einnahmen, die heute schonnicht reichen, steigert, indem man sie senkt. Das ist dieLogik, die uns die Union vorexerzieren will.
Sie wissen genau, an wem Sie sich versündigen. Inder aktuellen HWWI-Studie werden sogar die Jahr-gänge, die besonders betroffen sind, erwähnt. DieHauptlast Ihrer Verschuldung sollen die Jahrgänge zwi-schen 1980 und 2000 tragen. Es ist spannend, sich vorAugen zu führen, was der Betrag von 310 MilliardenEuro, den Sie in Ihrem Finanzplaner als Neuverschul-dung ausweisen, bedeutet. Wenn man ausrechnet, wel-che zusätzliche Zinslast dieser Betrag zur Folge hat,heißt das, dass wir ab dem Jahre 2014 jedes Jahr etwa11 Milliarden Euro zusätzliche Zinsen machen. Das sind11 Milliarden Euro, die, egal wer regiert, jedes Jahr fürInvestitionen fehlen werden.Sie nennen, wie gesagt, den Betrag von 310 Milliar-den Euro. Verschwiegen haben Sie dabei allerdings dieBankenrettung, die milliardenschwer auf dem Steuerzah-ler lastet, und die angeblichen Investitionen im RahmenIhres Konjunkturpaketes, die Sie in Schattenhaushaltenverstecken. Wenn man all dies mitberücksichtigt, kommtman, betrachtet man den gesamten Zeitraum, auf einenBetrag von 438 Milliarden Euro. Dann ist man, was diezusätzliche jährliche Zinsbelastung ab 2014, die Sie pro-duziert haben, angeht, schwuppdiwupp bei genau15 Milliarden Euro. Diesen Betrag wollen Sie durchSteuersenkungen verdoppeln. Mit Verlaub, das glaubtIhnen kein Mensch.Herzlichen Dank.
Für die Bundesregierung erteile ich nun der Parla-
mentarischen Staatssekretärin Nicolette Kressl das Wort.
N
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Titel der heutigen Aktuellen Stunde lautet „Haltungder Bundesregierung zu Meinungsverschiedenheiten inder CDU/CSU über Steuersenkungsvorhaben und derenFinanzierung“. Natürlich ist es nicht Aufgabe der Bun-desregierung, sich zu Debatten oder Meinungsverschie-denheiten in Parteien oder Fraktionen zu äußern oderdiese zu kommentieren.
Allerdings gehört zu den Aufgaben der Bundesregie-rung, die Grundlagen einer klaren Analyse deutlich zumachen, auch einer Analyse der Frage, ob im Hinblickauf Steuersenkungen gewisse Möglichkeiten bestehenund, wenn ja, welche.
Ich möchte betonen: Für die Beantwortung der Frage,welche Entscheidungen in der Steuerpolitik getroffenwerden können, ist diese Analyse sehr wichtig.Für diese Grundlagenanalyse muss man drei Kriterienheranziehen. Anhand dieser drei Kriterien möchte ichdeutlich machen, wo wir uns im Moment befinden.Die erste Frage, die beantwortet werden muss, ist:Welche Steuerentlastungen hat es schon gegeben undwelche wird es durch bereits gefasste Beschlüsse nochgeben? Die zweite Frage ist: In welcher wirtschaftlichenSituation bewegen wir uns? Die dritte Frage ist: In wel-cher Haushaltssituation befinden wir uns? Lassen Siemich zu diesen drei Punkten ein paar Fakten nennen.Wie sieht es bei der Steuerentlastung aus? Bereitsjetzt belaufen sich die steuerlichen Entlastungen in die-ser Legislaturperiode auf rund 25 Milliarden Euro.
Dazu kommt noch das Bürgerentlastungsgesetz, dasrund 10 Milliarden Euro Entlastung bringt.
Um das noch einmal deutlich zu machen: Wir reden hiernicht von einer einmaligen Entlastung, sondern von ei-ner Entlastung, die jedes Jahr gilt. – Das bedeutet, dasswir in dieser Legislaturperiode bei insgesamt 35 Milliar-den Euro Entlastung sind.
– Herr Thiele meint, er könne durch die Frage nach denBelastungen einen Punkt machen.
Die Wahrheit ist – in aller Ruhe, Herr Thiele –, dass mitdiesen Entlastungen die Steuerquote von 22,5 Prozentauf 21,5 Prozent fällt. Damit ist Ihre Frage, ob das Nettoist, beantwortet.
Insofern haben Sie sich mit dieser komischen Zwischen-bemerkung keinen Gefallen getan.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25681
(C)
(D)
Parl. Staatssekretärin Nicolette KresslDie Steuerquote fällt also. Wir können natürlich da-rüber diskutieren, ob das auf Dauer der richtige Weg ist.
Herr Thiele, Sie haben so getan, als würden die Steuer-einnahmen an den Moloch Staat, in ein dunkles Loch,fließen. Das ist aber nicht die Wahrheit. Deshalb will ichnoch einmal klarstellen – es ist wichtig, dass man dasden Menschen deutlich macht –: Steuern werden einge-nommen, um zum Beispiel Lehrerinnen und Lehrer zubezahlen, um jungen Menschen die Chance auf Bildungzu geben.
Steuern werden eingenommen, um zum Beispiel Ver-kehrsinfrastruktur zu finanzieren, um unserer Wirtschaftdie richtigen Bedingungen für Wachstum zu geben. Siesollten sich einmal überlegen, wie viel Politikverdros-senheit Sie erzeugen, wenn Sie hier immer so tun, alswären staatliche Maßnahmen des Teufels.
Es muss die richtige Mischung auf den Weg gebrachtwerden. Das haben wir gemacht.
Das zweite Kriterium: In welcher wirtschaftlichen Si-tuation bewegen wir uns? Sie wissen, dass wir uns in ei-ner Wirtschaftskrise befinden, die wir nicht nur in dieserHöhe, sondern auch in dieser Form noch nicht erlebt ha-ben. Diese Tatsache hat die Bundesregierung dazu be-wogen, zwei Konjunkturpakete mit einer Mischung aussteuerlichen Entlastungen und Investitionsunterstützungauf den Weg zu bringen. Ich will noch einmal daraufhinweisen, dass eines der Herzstücke das Konjunkturpa-ket für kommunale Investitionen in Höhe von 10 Milliar-den Euro gewesen ist. Dieses Konjunkturpaket ist – dasist mir wichtig – orientiert an einer nachhaltigen Ent-wicklung, indem wir beispielsweise massiv in Bildungs-infrastruktur investieren. Hier erzielen wir eine sofortigekonjunkturelle Wirkung und verstärken gleichzeitig dieChance für die jungen Menschen auf Bildung noch ein-mal nachhaltig.Diese Maßnahmen mussten wir, um konjunkturpoliti-sche Wirkung zu erzielen, durch neue Schulden finanzie-ren. Damit bin ich beim dritten Kriterium, über das wirreden sollten. Wir treffen diese Entscheidung jetzt. Wirkonnten das übrigens aufgrund der Haushaltskonsolidie-rung der letzten Jahre. Stellen Sie sich vor, wir hätten sienicht gemacht! Dann hätten wir jetzt die Freiräume fürdiese Möglichkeiten nicht gehabt. Wir haben uns füreine höhere Schuldenaufnahme entschieden. Gleichzei-tig – das muss uns klar sein – müssen wir uns dafürentscheiden, für die kommenden Generationen den Kon-solidierungspfad in den nächsten Jahren wieder aufzu-nehmen. Wir müssen uns überlegen, ob breit verteilteSteuerentlastungen und Konsolidierungspfad zusam-mengehen. Ich bin der Überzeugung, dass es angesichtsder notwendigen Konsolidierung sehr wichtig ist, dassjetzt niemand der Versuchung erliegt, sehr populistischden Menschen überall Steuerentlastungen zu verspre-chen; denn wir sehen nicht, wie man das generationen-gerecht finanzieren kann.
Im nächsten Jahr werden wir nach jetziger Planung86 Milliarden Euro an neuen Schulden aufnehmen müs-sen.
Dieser Betrag wird langsam sinken, aber die Verschul-dung wird 2013 immer noch um 300 Milliarden Eurohöher sein als im Moment. Das bedeutet, wir müssen al-les daransetzen, dass wir weder die Handlungsfähigkeitdes Staates noch die Gestaltungsmöglichkeiten der jun-gen Menschen einschränken, die nach uns politischeVerantwortung tragen. Wir sind in der Verantwortung,beides so auf den Weg zu bringen, dass wir eine sinn-volle Politik unterstützen.Um zum Ausgangspunkt zurückzukommen: Ich habegesagt, dass wir als Regierung eine Analyse schuldigsind. Einen Teil davon habe ich beschrieben. Wer dieseFakten seriös zur Kenntnis nimmt, der muss auch zu denentsprechenden seriösen und ehrlichen Schlussfolgerun-gen kommen – auch in den Parteien, was ich hier nichtzu kommentieren habe. Die Wählerinnen und Wählerwerden dann entscheiden, wo nach ihrer Überzeugungseriöse, ernsthafte und ehrliche Konzepte vorgestelltwerden.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Christian Freiherr
von Stetten für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich glaube, durch die heutige Debatte wurde gezeigt: Esgibt keinen Steuerstreit in der Union.
Wir haben unser Wahlprogramm am Sonntag einstimmigverabschiedet. Dadurch haben wir gezeigt: CDU undCSU kämpfen gemeinsam für eine seriöse steuerlicheEntlastung der Bürgerinnen und Bürger.
Metadaten/Kopzeile:
25682 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Christian Freiherr von StettenHerr Kuhn, wenn Sie unser einstimmig verabschiede-tes Wahlprogramm aufmerksam gelesen hätten,
dann hätten Sie gemerkt, dass wir alles, was wir in derFinanz- und Steuerpolitik verändern und fortentwickelnwollen, unter der Überschrift „Einfach, niedriger und ge-rechter“ tun.
Sie hätten dann ebenfalls gemerkt, dass es nicht nur da-rum geht, die Bürger weniger zu belasten, sondern dasses vor allem auch darum geht, dass es einfacher wird
und dass die Bürgerinnen und Bürger in Zukunft auchohne eine Steuerberaterausbildung verstehen, was sie je-des Jahr unterschreiben. Denn nur, wenn sie das Steuer-system in Gänze verstehen, empfinden sie es auch alsgerecht.Ich glaube, eine unserer Hauptaufgaben in den nächs-ten vier Jahren muss es sein, das Steuersystem transpa-rent zu machen, damit der Bürger weiß, warum wir Steu-ern einziehen, und er nachvollziehen kann, in welcherHöhe ihn das betrifft.
Dies gilt selbstverständlich auch bei den Unterneh-mensteuern. Wenn ein Unternehmen Gewinne macht,dann muss es selbstverständlich einen Teil seines Ge-winns in Form von Steuern abführen, um mitzuhelfen,unser Staatswesen zu finanzieren.
Jetzt kann man darüber streiten, ob der Steuersatz hochgenug ist oder ob wir ihn weiter senken sollten, aber ei-nes muss doch völlig klar sein: Wenn ein mittelständi-sches Unternehmen gar keine Gewinne mehr macht,wenn es also, wie zum Beispiel jetzt in der Krise, mitseinen Mitarbeitern ums Überleben kämpft, dann darfder Staat dieses Unternehmen nicht durch zusätzlicheSubstanzsteuern zerstören und am Weiterarbeiten hin-dern. Denn sonst kann auf uns die Problematik zukom-men, dass Unternehmen durch Substanzsteuern zerstörtwerden und der Staat anschließend durch Darlehen undZuschüsse wieder helfen soll.
– Ich habe den Zwischenruf aus der SPD sehr wohl ge-hört.Wir sind ja noch einige Wochen in der gemeinsamenKoalition.
Deswegen hätte ich mich mit dem eigentlichen Problem,nämlich der SPD, heute nicht beschäftigt, aber nachdemder Kollege Poß, der gerade gegangen ist
– hoffentlich kommt er rechtzeitig wieder –, die Bundes-kanzlerin von diesem Pult aus doch stark angegriffenhat, darf man hierzu die Wahrheit sagen, wenn wir aufden Grund der heutigen Debatte zurückkommen:CDU und CSU sind sich völlig darüber einig, wasrichtig und wichtig für unser Land ist. Es kann sein, dasses einen Streit zwischen der SPD und der Union darübergibt, in welche Richtung wir in den nächsten Wochenund Monaten laufen.
Herr Poß, die Wahrheit ist, dass Sie sich monatelang ge-weigert haben, die krisenverschärfenden Elemente beider Unternehmensteuerreform zu korrigieren.
Wir haben uns jetzt in letzter Sekunde gemeinsam übereinige Punkte verständigt, die wichtig und dringend not-wendig waren. Bei der Zinsschranke haben wir die Frei-grenze von 1 Million Euro auf 3 Millionen Euro angeho-ben. Wir haben bei der Verlustverrechnung einigesverbessert und auch die Istbesteuerung bei Unternehmenmit einem Umsatz bis zu 500 000 Euro bundeseinheit-lich verbessert.
Wichtig zu betonen ist dabei, dass wir die Regelungenzu diesen Maßnahmen im Gesetz mit einer Beschrän-kung versehen haben, sodass diese Regelungen auslau-fen. Es wäre sicherlich gut gewesen, wenn in dieser De-batte einer der SPD-Redner erklärt hätte – FrauWestrich, Sie haben ja noch die Möglichkeit, hier einzu-greifen und das klarzumachen –, wie man sich die Zu-kunft vorstellt, wenn diese Gesetze auslaufen.
– Die Krise ist in diesem Bereich noch lange nicht vor-bei.
Wir hoffen, dass Sie dazu gleich etwas sagen.Substanzsteuern, liebe Kolleginnen und Kollegen,gibt es auch noch in anderen Bereichen: Ich denke nur andie gewerbesteuerliche Zurechnung bei Mieten undPachten. Das ist bisher nicht geändert worden. Der Bür-ger versteht, dass ein Verpächter für die Pachtzahlungen,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25683
(C)
(D)
Christian Freiherr von Stettendie er bekommt, Gewerbesteuer zahlt, wenn er Gewinnemacht. Aber nicht verstanden wird, dass ein Pächter fürgezahlte Gewerbesteuer auch noch veranlagt wird undselbst dann Gewerbesteuer zahlen muss, wenn das ge-samte Unternehmen keinen Gewinn gemacht hat.
Das können Sie den Betroffenen nicht erklären.
Im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Diskus-sion um die Kaufhauskette Karstadt bin ich gespannt, in-wiefern das Gesetz und die zusätzliche Steuerbelastungzu dem jetzigen Ergebnis des Unternehmens geführt ha-ben, das Steuern zahlen musste, obwohl es keine Ge-winne gemacht hat.Ich möchte noch kurz zwei Punkte ansprechen.Erstens. Wir haben in den letzten Wochen noch einigeVerbesserungen beim Agrardiesel durchgesetzt. Auchdiese sind nur auf 2008 und 2009 beschränkt. Wir wollenim nächsten Jahr weitere Verbesserungen erreichen.Der zweite Punkt ist auch in unserem Wahlprogrammerwähnt: Wir wollen die Erbschaft- und Schenkung-steuer fortentwickeln. Wir wollen nach der Wahl – hof-fentlich mit anderen Mehrheiten – das verbessern, waswir mit den Sozialdemokraten nicht verbessern konnten.Man kann in aller Freundschaft sagen: Das, was von Fi-nanzminister Steinbrück zum Schluss noch durchge-drückt worden ist, kommt bei den Wählern – zumindestin meinem Wahlkreis – nicht an, nicht bei den Unterneh-mern und auch nicht bei den Belegschaften, die gerne inFamilienunternehmen arbeiten und die wissen wollen,wo ihr Unternehmen in Zukunft steht. Sie wollen ge-meinsam mit den Familienunternehmen für eine Ände-rung sorgen. Wir werden dies nach der nächsten Bundes-tagswahl mit hoffentlich guten Mehrheiten machen.Herzlichen Dank.
Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Lydia
Westrich.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Eigentlich bin ich ziemlich deprimiert da-rüber, welche Märchenstunden wir von HerrnMichelbach gehört haben. Die Meinung von HerrnStetten kannte ich ja schon lange; darüber habe ich michalso nicht so sehr gewundert. Aber ich hätte doch ge-dacht, dass sich die Kolleginnen und Kollegen von derCDU/CSU-Fraktion über das Wochenende und in denletzten Tagen besonnen hätten.
Wir haben vier Jahre lang in der Koalition im Finanz-ausschuss, so finde ich, gute Arbeit geleistet. Das ist hierschon mehrfach erwähnt worden. Ich kann gar nicht alleSteuergesetze, die wir verabschiedet haben, aufzählen.Joachim Poß hat ebenso wie die ParlamentarischeStaatssekretärin darauf hingewiesen. Es waren wichtigeEntscheidungen wie die Erbschaftsteuerreform, auchwenn Sie sie immer noch nicht lieben. Sie sichert denLändern weiterhin notwendige Einnahmen. Das ist ganzeinfach. Das Unternehmensteuerreformgesetz stärkt dieWettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen. Durch dieStabilisierung der Gewerbesteuer haben wir unserenKommunen die Luft zum Investieren gegeben, die siejetzt ganz dringend brauchen. Deswegen halten wir andieser Besteuerung fest. Das waren gute Gesetze.
Wir haben kleine Einkommen entlastet und Familienmit der Erhöhung des Kindergeldes und des Kinderfrei-betrags geholfen. Wir haben gestritten wie die Kesselfli-cker; und das war auch gut so. Aber wir sind auch immerzu einem akzeptablen Ergebnis gekommen. Die boo-mende Konjunktur hat unserer maßvollen Politik bis zurFinanzkrise im Endeffekt recht gegeben.Die Finanzkrise hat eigentlich uns alle gelehrt, dass esmit das Wichtigste unserer Arbeit hier ist, Herr Thiele– auch wenn Sie das nie glauben –, den Staat stark undhandlungsfähig zu halten, wie wir das auch bisher ge-meinsam vertreten haben.
Aber an Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen vonder CDU/CSU, scheint der Lernprozess der letzten vierJahre spurlos vorbeigegangen zu sein. Das hätte ichnicht erwartet.
Die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland haben esnicht verdient, dass Sie, unbeleckt von allen Erfahrun-gen, weiter nach Steuersenkungen rufen, obwohl Sie dieZahlen des Haushalts genauestens kennen. Wir jonglie-ren doch täglich mit Milliardenbeträgen und werdenmorgen Gesetzentwürfe verabschieden, bei denen uns obder Höhe der Belastungen, die eventuell auf uns zukom-men können, selber schwindlig wird.Sie machen die Menschen sowieso schon schwindligund versprechen jetzt noch Steuersenkungen. Aber wiesollen sie aussehen? Sie versprechen denjenigen Steuer-senkungen – darüber bin ich sehr enttäuscht, HerrBernhardt –, bei denen sie in Zeiten der Krise Ihrer An-sicht nach anscheinend am besten aufgehoben sind,nämlich den Beziehern großer Einkommen, die sich um
Metadaten/Kopzeile:
25684 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Lydia Westrichihre Zukunft, ihren Arbeitsplatz und die Finanzierung ih-res kleinen Häuschens keine Sorgen machen müssen.Die von Ihnen so genannten Leistungsträger wollen Sieentlasten, nicht die Krankenschwester, den Feuerwehr-mann oder den Schichtarbeiter. Der Müllmann mit sei-nem niedrigen Einkommen wird von Ihrer geplantenSteuersenkung nicht profitieren. Sie haben vorhin be-schrieben, wen Sie entlasten wollen, Herr Kolbe. DerMüllmann ist anscheinend kein Leistungsträger. SeineKinder aber werden die von Ihnen geplanten Steuerent-lastungen für Reiche irgendwann zurückzahlen müssen.Denn in dieser Situation kann das alles nur auf Pump ge-schehen.
Ihr Konzept – sollte es jemals Wirklichkeit werden –wird unseren Staat zerreißen. Die Diskussion Ihrer Par-teifreunde zeigt, wohin Ihr Weg führen soll. Sie erhöhendie Mehrwertsteuer auf Lebensmittel und Produkte, diealle brauchen: Kinder, Familien, Rentner, Groß- undKleinverdiener. Sie brauchen sie jeden Tag, von der Ba-bynahrung bis zur Zeitung. Die Milliarden Cents, dievom Haushaltseinkommen der Familien abgespart wer-den, geben Sie dann den Gastwirten. Diese haben bereitserklärt, dass sie eine mögliche Steuersenkung, die sieschon lange fordern – die CSU unterstützt das mächtig –,nicht für eine Senkung ihrer Preise nutzen wollen, son-dern dass sie in ihre Unternehmen investieren müssten.Es wird also nichts mit billigerer Pizza für die Familien.Sie können sich wegen der höheren Ausgaben für Le-bensmittel den Restaurantbesuch dann sowieso nichtmehr leisten.Ich habe schon zehn Briefe erhalten, in denen Kultur-organisationen darum bitten, noch in dieser Woche imBundestag zu bekräftigen, dass uns geistige Nahrung inunserer Kulturnation so viel wert ist, den bisherigen er-mäßigten Steuersatz beibehalten zu wollen. Sie habenSie und Ihre Vorstellungen, Kolleginnen und Kollegenvon der CDU/CSU, ernst genommen, ja sie haben Angstdavor, was ihnen unter einer CDU/CSU-Regierungblühen könnte. Deshalb verlangen sie jetzt noch die Be-stätigung vom alten Bundestag. Nicht nur die Kultur-schaffenden sollten vor dem Versprechen einer unverant-wortlichen Steuerpolitik Angst haben.Sie haben leider in all diesen Jahren nichts gelernt.Das ist mehr als traurig. Dass die FDP in ihrem Glaubenan die Zauberkräfte des Marktes, wie Herr Thiele siewieder beschrieben hat, selbst durch die Finanzkrisenicht erschüttert werden kann, verwundert mich nicht.Ich erlebe täglich im Finanzausschuss, dass sie selbst diegravierendsten Managementfehler noch in Mängel derPolitik umdeutet. Es ist manchmal verheerend.Die FDP braucht keinen starken Staat – das sehe ichein –,
der den Schwachen helfen und die Schwächen der Ge-sellschaft ausgleichen kann. Sie ziehen ungeniert dieSchecks auf die Zukunft mit Forderungen nach Steuer-senkungen in großem Stil. Der Markt wird es schon rich-ten, und diejenigen, die auf der Strecke bleiben, haben esnicht anders verdient: Das ist Ihre Meinung.
Die Linke schlägt mit ihren ausufernden Forderungenin die gleiche Kerbe. Sie schwächt den Staat in gleicherWeise. Dass Sie sich diesem gefährlichen Spiel ergeben,Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, ent-täuscht mich zutiefst.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Unsere Bürgerinnen und Bürger brauchen Klarheit
und die Sicherheit, dass der Staat eingreifen kann, wenn
es notwendig ist. Mit dem Steuerkonzept der CDU/CSU
ist das nicht mehr gewährleistet.
Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Otto Bernhardt für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Thema dieser Aktuellen Stunde sind Meinungs-verschiedenheiten in der CDU/CSU über Steuersen-kungsvorhaben. Die Debatte hat gezeigt: Es gibt in derCDU/CSU keine Meinungsunterschiede über diesesThema.
Wir sind uns einig und haben uns entschlossen, in dernächsten Legislaturperiode eine Einkommensteuerre-form einzuführen. Das steht in unserem Programm, unddas werden wir machen.Dass es im Vorfeld der Verabschiedung von Parteipro-grammen unterschiedliche Auffassungen gibt, ist in al-len Parteien der Fall. In der SPD wurde lange über dieFrage gestritten, ob man eine Vermögensteuer in dasProgramm aufnehmen soll. Letztlich wurde entschieden,sie nicht aufzunehmen. In der Tat hat man bei uns überdie Frage diskutiert: Ist es sinnvoll, eine große Einkom-mensteuerreform aufzunehmen? Wir haben uns dannentschieden, dies zu tun.Im Vorfeld gab es einige Irritationen; das gebe ich zu.Ich selber habe aber nie gefordert, den ermäßigten Mehr-wertsteuersatz zu streichen. Das wäre auch eine blödeForderung; denn dieser stellt eine starke soziale Kompo-nente dar. Ich habe gesagt – das wiederhole ich; das stehtauch in unserem Programm –: Wir überprüfen, ob dieVerteilung von ermäßigtem und vollem Mehrwertsteuer-satz, die 1968 festgelegt wurde, heute noch in allen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25685
(C)
(D)
Otto BernhardtPunkten zeitgemäß ist. In den Diskussionen wird oft alsBeispiel angeführt, dass auf Katzenfutter ein ermäßigterMehrwertsteuersatz in Höhe von 7 Prozent und auf Mi-neralwasser der volle Mehrwertsteuersatz in Höhe von19 Prozent erhoben wird. Ich sage sehr deutlich: Ich sehehier nicht viel Spielraum; denn ich kenne fast nur Wün-sche, den Mehrwertsteuersatz von 19 auf 7 Prozent zusenken. Man hat aber kaum die Chance, bei bestimmtenProdukten den Mehrwertsteuersatz von 7 auf 19 Prozentanzuheben, wenn man nicht in eine schwierige Gefechts-lage kommen will.Ich stelle allerdings auch fest: Die Große Koalitionhat nicht nur Steuern erhöht, wie immer gesagt wird. Da-mit haben wir angefangen; das ist richtig. Aber wirhaben zum Beispiel die Unternehmensteuern in erhebli-chem Umfang gesenkt. Das haben wir getan, um Ar-beitsplätze zu sichern und zu schaffen. Der Erfolg in denersten drei Jahren hat uns recht gegeben. Wir haben unsbei der Unternehmensteuerreform auf ein Entlastungs-volumen von 5 Milliarden Euro geeinigt. Durch das Bür-gerentlastungsgesetz, das letzte große Gesetzeswerk,entlasten wir zum 1. Januar kommenden Jahres die Wirt-schaft noch einmal um 3 Milliarden Euro und die Bürgerum 10 Milliarden Euro.Das entscheidende Problem in der Diskussion übereine Steuerreform ist schlicht der Tatbestand: Wenn wirnichts täten, wie einige sagen, oder sogar Steuererhöhun-gen vornähmen, bedeutete dies, dass die Bürger, wennsie nur Gehaltserhöhungen in Höhe der Inflationsrate er-hielten – sie hätten faktisch nicht mehr –, relativ und ab-solut mehr Steuern zahlten. Dies ist aus unserer Sichtkontraproduktiv. Dies soll es mit uns nicht geben. An-dere Länder haben übrigens einen Tarif auf Rädern, derautomatisch an die Inflationsrate angepasst wird.Die Grünen haben mich ein bisschen enttäuscht. Siewollen nicht nur den Spitzensteuersatz erhöhen, sonderndenken auch – so ist zu hören – über eine Vermögensab-gabe für Reiche nach. Wir sollten hier vorsichtig sein,selbst wenn solche Forderungen populär sind. Wer dieZahlen kennt, weiß: Die 10 Prozent in Deutschland, diedie meisten direkten Steuern zahlen, zahlen weit über dieHälfte. Wenn Sie wissen wollen, wohin es führt, wennwir hier übertreiben, dann empfehle ich Ihnen, einenBlick in die Statistik zu werfen und festzustellen, wohinDeutsche auswandern. Sie wandern in erster Linie nichtmehr nach Kanada oder Australien aus. An erster Stellesteht vielmehr die Schweiz und an zweiter Stelle Öster-reich.
Viele, die in Deutschland im Sport und in der Kunstumjubelt werden, zahlen längst keine Steuern mehr beiuns. Wenn wir die Steuerkurve in der Spitze noch stärkeransteigen lassen, werden wir erleben, dass noch mehrGutverdienende Deutschland verlassen und wir dann mithöheren Steuersätzen weniger Geld einnehmen. Dazusind wir nicht bereit. Wir wollen die Leistungsträger ent-lasten.
Das werden wir gemeinsam mit der FDP – ich habe fest-gestellt, dass das mit den Grünen nicht geht – in dernächsten Legislaturperiode durchführen.Herzlichen Dank.
Die Kollegin Simone Violka von der SPD-Fraktion ist
die nächste Rednerin.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Selbst wenn man nach dieser Debatte vondem ausgeht, was Herr Bernhardt gerade gesagt hat,nämlich dass es keinen Steuerstreit in der Union gibt,muss man fragen: Ist das, was im Wahlprogramm derUnion steht, tatsächlich ernst gemeint? Im Vorfeld hatsich Herr Oettinger geäußert und eine Anhebung des er-mäßigten Mehrwertsteuersatzes gefordert, während an-dere genau das Gegenteil wollten und Steuersenkungengefordert haben. Es gab auch Kollegen in Ihren Reihen,die die Idee hatten, drei Mehrwertsteuersätze einzu-führen. Ein sehr hilfreicher Beitrag zur Steuerver-einfachung! Auch der Ministerpräsident von Sachsen,Stanislaw Tillich, hat noch vor Wochen vehement gegeneine Steuersenkung gewettert, und jetzt verteidigt er siegenauso vehement. Herr Tillich ist flexibel; auch daswissen wir.Richtig chaotisch wird es, wenn Herr Pofalla sagt:Das sind alles zu vernachlässigende Einzelmeinungen.Wenn man genau hinschaut, dann stellt man fest, dass essich um Ministerpräsidenten und Landesvorsitzendehandelt. Das sind zum Teil auch regionale CDU-Vorsit-zende. Das sind keine kleinen Parteimitglieder ohne Ein-fluss. Es wäre mir neu, wenn jemand in einer solchenPosition in der CDU/CSU in Berlin keinen Einflusshätte. Wenn das so wäre, würde Herr Seehofer wahr-scheinlich sehr kribbelig werden und sich fragen, wie esmit dem Einfluss von Bayern in Berlin weitergeht.Deshalb sollte man ganz genau hinschauen. Dannkommt man nämlich zu dem Ergebnis, dass diese Män-ner – es waren nur Männer – reflexartig schlicht und er-greifend gesagt haben: Wenn wir das, was wir im Wahl-programm festschreiben, finanzieren wollen, brauchenwir Steuererhöhungen. – Das ist nicht verwerflich, son-dern das ist eine ganz normale Reaktion. Wesentlich ver-werflicher ist es in meinen Augen, wenn man jetzt so tut,als hätten sie unrecht, und man weiter an den Vorschlä-gen zu Steuersenkungen und Ausgabenerhöhungen fest-hält – das steht so im Wahlprogramm –, ohne eine Ge-genfinanzierung vorzuschlagen. Diese Steuersenkungenwerden übrigens ohne genauen Fahrplan für irgendwanneinmal in Aussicht gestellt. Wahrscheinlich will man dasvom Wohlverhalten der Wählerinnen und Wähler abhän-gig machen nach dem Motto: Wenn du schön lieb bist
Metadaten/Kopzeile:
25686 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Simone Violkaund brav jubelst, dann überlegt sich Tante Merkel, ob duvom Weihnachtsmann Steuersenkungen bekommst.Aber auch das funktioniert nur mit einer Gegenfinan-zierung. Wenn man diesen Punkt betrachtet, dann stelltman fest, dass es keine gibt. Stattdessen gibt es Mehraus-gaben für Bildung, Mehrausgaben für Familien, Mehr-ausgaben für den sozialen Bereich und Mehrausgabenfür den Umweltbereich. Einzelnen Maßnahmen kannman in vielen Bereichen zustimmen, aber doch nur dann,wenn eine Gegenfinanzierung dahintersteht. Aber auchhier Fehlanzeige! Stattdessen gibt es einen Rückfall inaltbekannte Zeiten: Mehrausgaben und Steuersenkungenwerden mit der Hoffnung auf eine Konjunkturbelebungverbunden. Das ist grob fahrlässig und hat schon zuHelmut Kohls Zeiten zu einem enormen Aufwuchs derStaatsverschuldung geführt, an der wir noch heute knab-bern und an der zukünftige Generationen noch knabbernwerden, weil das Ganze nicht funktioniert hat.
– Wenn es andere Gründe gegeben hat, dann sollte mandas im Vorfeld ehrlich sagen. Aber man hat gesagt, dassdie Gründe bekannt seien, man auf die Konjunkturbele-bung setze und das deshalb kein Problem sei.
Das Wachstum ist ausgeblieben, und deshalb haben wirnach wie vor ein Problem.Den Gestaltungsspielraum heute und auch für kom-mende Generationen einzuschränken – das geschahschon damals –, halte ich für grob fahrlässig. Niemandkäme auf die Idee, einen Kredit aufzunehmen und alseinzige Rückzahloption auf einen Lottogewinn zu spe-kulieren; dieses Risiko ist den Menschen viel zu hoch.Es gibt natürlich eine kleine Chance, dass das funktio-niert; aber wenn es nicht funktioniert, dann sitzt man aufeinem großen Haufen Schulden, für den man sein Lebenlang geradestehen muss. Genau auf diese Idee kommtdie CDU/CSU, und die FDP klatscht auch noch fleißigBeifall. Das ist die Einladung zu einer finanziellen undwirtschaftlichen Geisterfahrt, für die die Bürgerinnenund Bürger im Land erst das Ticket kaufen müssen undanschließend für den Schaden und die Heilkosten in Haf-tung genommen werden – und das alles für das windigeVersprechen, dass irgendwann einmal die Steuern ge-senkt werden.Was geschieht denn, wenn das alles nicht funktio-niert? Worin besteht denn dann die Gegenfinanzierung?Der größte Posten in unserem Haushalt ist das Geld fürdie Sozialsysteme. Sagen Sie doch, wo Sie kürzen wol-len! Die FDP hat schon damals den Hartz-IV-Gesetzennicht zugestimmt, weil sie ihr nicht weit genug gegangensind und die Leute in den Augen der FDP noch zu vielGeld bekommen.
Da sieht man doch, wohin es geht. Aber hallo!
Statt solche steuerpolitischen Jo-Jo-Aktionen durchzu-führen,
sollten Sie Ihre Kraft und Ihren Gestaltungswillen lieberzur Bekämpfung von Steuerhinterziehung einsetzen.
Wir haben im Finanzausschuss wirklich Wochen undMonate gekämpft – mein Kollege Lothar Binding kannein Lied davon singen –,
dass das endlich zum Abschluss kommt. Wir waren danicht im Bremserhäuschen, sondern das waren die ande-ren. Das ist der Bereich, wo die Milliarden verloren ge-hen. Wenn wir von diesen Leuten, die nicht mehrbelastetwerden sollen, sondern die schlicht und ergreifend nurdas tun sollen, was jeder Steuerbürger macht, nämlichseine Steuern ordentlich zu zahlen, das einfordern, wasim Gesetz steht, dann gibt es mit Sicherheit auch wiederSpielraum für Ausgaben, die wir uns wünschen, die wiruns aber noch nicht leisten können, solange wir das Geldnicht im Säckchen haben.Das sollte man den Leuten sagen. Sie können damitanfangen, das mit umzusetzen. Wir werden es ja im Bun-desrat sehen. Der Bundesrat hat das Ganze schon einmalblockiert. Wir haben wahrscheinlich noch vor Beendi-gung der Sommerpause Gelegenheit, im Bundesrat zusehen, ob Sie dazu bereit sind oder nicht.
Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Reinhard Schultz für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich habe vergleichbare Aktuelle Stunden in früherer undjüngerer Zeit öfter mit bestreiten müssen. In der Regeldienen sie mehr dem Augenblick und nicht sozusagender Geschichtsschreibung. Trotzdem müssen sie stattfin-den, weil sowohl das Parlament als auch die Öffentlich-keit das dringende Bedürfnis hat, Licht in Fragestellun-gen zu bringen, die sie bewegt. Das ist auch hier so. Hiergeht es eigentlich gar nicht in erster Linie um die Steuer-politik, sondern um Wahrhaftigkeit unmittelbar vorWahlen. Das ist ein ganz ernstes Thema. Ich werde keineWetten darüber abschließen, was die Union in Regie-rungsverantwortung steuerpolitisch macht. Bei der FDPhabe ich ein bisschen mehr Klarheit. Aber ich finde esbeachtlich, in welcher Art und Weise Versprechen zele-briert werden und man sich gleichzeitig Schlupflöcherlässt, sich von den Versprechen zurückzuziehen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25687
(C)
(D)
Reinhard Schultz
Die gesamte Führung der Union im Bund – derKollege Poß hat darauf hingewiesen – hat einem Bun-deshaushalt zugestimmt, der in der mittelfristigenFinanzplanung eine steigende Neuverschuldung bis zu300 Milliarden Euro im Jahre 2013 vorsieht, in der Steu-ersenkungen nicht vorkommen. Es ist nicht einmal derVersuch einer Steuersenkung unternommen worden, aus-genommen das, was wir bereits vorher mit einer Entlas-tungswirkung von 28 Milliarden Euro gemeinsam be-schlossen haben. Das ist angesichts der ökonomischenSchwierigkeiten eine beachtliche Zahl.Sie versprechen jetzt eine große Steuerreform im Um-fang von 15 Milliarden Euro. Das ist ungeheuerlich. DieEntlastung, die wir gerade gemeinsam beschlossen ha-ben, ist doppelt so hoch, wenn man das überhaupt „Steu-erreform“ nennen würde. Sie glauben, die Menschenkapieren nicht die Dimension. Sie versprechen Entlas-tungen für alle, bieten ein Placebo und schreiben gleich-zeitig dahinter: Wann das denn eintritt, das weiß nur derHerrgott. – Das ist ungefähr so wie die biedere Hausfrau,die ordentlich den Haushalt zusammenzieht, aber abendsdas Röckchen lüpft und, wenn die Leute an sie heran-wollen, sagt: Nein, heute nicht! Mal sehen, vielleichtmorgen. – Das ist Ihre Grundhaltung. Das ist eine ganzmerkwürdige Wahlstrategie.
– Ich habe das ja als System gemeint, nicht als Person.
– Es ist ja verstanden worden.
Ich sehe ja auch, dass sich innerhalb der Union ver-antwortungsvolle Leute ebenfalls mehr oder wenigerSorgen über diesen Kurs machen. Der Ministerpräsidentvon Schleswig-Holstein, Carstensen, erklärt in einemAnfall von Erleuchtung:Ich wäre sehr dankbar, wenn es nach der Bundes-tagswahl nicht zu Steuergeschenken kommt. Mansollte nicht so tun, als seien Steuern etwas Böses.Ich finde, er hat in zwei Sätzen eine Grundweisheitzusammengefasst, die Sie sich in Ihr Stammbuch schrei-ben können. Auch ein Ministerpräsident wie Oettingerhat große Probleme damit, Steuerversprechen zu ma-chen. Im Gegenteil: Er spielt mit merkwürdigen Steuer-erhöhungen, nämlich der Erhöhung des ermäßigtenMehrwertsteuersatzes. In derselben Woche wird aus dergleichen Ecke dann allerdings gefordert, dass die Gas-tronomie auf den ermäßigten Steuersatz heruntergefah-ren wird. Diese Ungereimtheiten sind dem Tagesge-schäft geschuldet. Aber trotzdem unterstreiche ich:Oettinger macht sich Sorgen über die Entwicklung derStaatsfinanzen. Ich finde es auch sehr richtig, dass sicheiner der Erfinder der Föderalismusreform II Gedankendarüber macht. Denn die Schuldenbremse, die wir einge-baut haben, ist mit den Versprechungen, die Sie letztend-lich gemacht haben, nicht zu halten.
Aber auch aus der Werkstatt des Kollegen Fuchs isteiniges zu hören. Er als Mittelstandsvertreter hat nichtnur ein eigenes Programm mit 43 Milliarden Euro Ent-lastung, sondern sagt auch noch, dass das alles problem-los zu finanzieren ist. Er nennt, wie viele andere, nurzwei Punkte; ich halte diese im Übrigen für merkwürdig.Erstens. Die Streichung der Entwicklungshilfe fürChina; das sind 80 Millionen Euro und somit ein nen-nenswerter Deckungsbeitrag für die 43 Milliarden Euro,die er versprochen hat.
Zweitens. Der Verzicht auf Beteiligung an Mondfahrt-programmen. Das sind die einzigen Deckungsvor-schläge.
– Ja, bei Ihnen. Ich rede gar nicht über Sie. Das ist garnicht notwendig und auch zwecklos.Fuchs, der CDU-Vorsitzende in Rheinland-PfalzBaldauf und der Generalsekretär in Baden-WürttembergStrobl haben in diesen Tagen gefordert, den Solidaritäts-zuschlag abzuschaffen. Das widerspricht der Haltung derBundesregierung völlig. Das wäre auch unverantwort-lich, sowohl angesichts der allgemeinen Krise als auchder noch notwendigen Leistungen für den Osten. Trotz-dem wird diese Forderung einfach in den Raum gestellt.Glauben Sie, dass Sie, indem Sie einfach so weiterma-chen, einen Beitrag zur Glaubwürdigkeit der Politik leis-ten?Herr Thiele, Sie haben eben gefragt, was die SPDzum Thema Mehrwertsteuer sagt. Als Ausscheidendermöchte ich etwas dazu sagen: Wir haben das beschlos-sen, weil es zu diesem Zeitpunkt notwendig war, etwasfür die Staatsfinanzen zu tun. Es geschah auch ange-sichts der damals befürchteten Situation, dass uns derHimmel auf den Kopf fällt. Was die Frage der apodikti-schen Ablehnung einer solchen Maßnahme angeht, mussich sagen: Es hat sich gerächt. Denn die Wähler fandendie Kehrtwende, die wir gemacht haben, überhaupt nichtwitzig.Wir haben daraus gelernt und sagen heute: Gerade beizentralen Fragen wie die der Steuerbelastung und derStaatsfinanzierung sollte man nach Möglichkeit dieWahrheit sagen. Das hat auch etwas mit Schlüsselerleb-nissen zu tun, die in unserer Geschichte stattfanden. Wirstehen nun aber vor der kommenden Bundestagswahl.Sie machen aus meiner Sicht sehr große Fehler, weil Sieden Mund voll nehmen und dabei genau wissen, dass SieIhre Versprechen nicht halten können.Vielen Dank.
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Metadaten/Kopzeile:
25688 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtWir kommen zu den Tagesordnungspunkten 6 abis 6 c:a) Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenJürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Volker Beck
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENZur Energieaußenpolitik der Bundesregierung– Drucksachen 16/10386, 16/13276 –b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie
– zu dem Antrag der Abgeordneten GudrunKopp, Dr. Werner Hoyer, Michael Kauch, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der FDPEnergieaußenpolitik für das 21. Jahrhun-dert– zu dem Antrag der Abgeordneten MonikaKnoche, Hans-Kurt Hill, Heike Hänsel, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEKonsequente Energiewende statt Militarisie-rung der Energieaußenpolitik– zu dem Antrag der Abgeordneten JürgenTrittin, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, UteKoczy, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEnergie, Sicherheit, Gerechtigkeit– Drucksachen 16/6796, 16/8881, 16/8181,16/9826 –Berichterstattung:Abgeordneter Rolf Hempelmannc) Beratung des Antrags der Abgeordneten JürgenTrittin, Winfried Nachtwei, Volker Beck ,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFür eine zukunftsfähige Energieaußenpolitik– Drucksache 16/13611 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich sehe, Sie sinddamit einverstanden. Dann können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat derKollege Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LieberKollege Schultz, auch wenn es Ihre letzte Rede war: Siesollten noch einmal darüber nachdenken, ob Sie die FDPund die CDU wirklich kritisiert haben oder ob Sie mitIhrem Vergleich nicht eher die Frauen in diesem Landeherabgesetzt haben.
Wir haben für die Debatte zur Energieaußenpolitikeine Aussage des Außenministers zum Anlass genom-men, die lautet: Die Energieaußenpolitik müsse wiederso etwas wie Chefsache werden. Wir haben also eineGroße Anfrage gestellt und wissen jetzt, wer Chef in derEnergieaußenpolitik ist. Es ist nicht Herr Steinmeier,sondern Freiherr zu Guttenberg. Die Große Anfragewurde vom Wirtschaftsministerium beantwortet. Wie esin solchen Unternehmen so ist, weiß der Chef nicht im-mer alles, was im Betrieb so passiert.Lieber Herr Hintze, wir hatten zum Beispiel nachge-fragt, wie es mit der Förderung von Projekten der erneu-erbaren Energien im Ausland aussieht. Es gibt zum Bei-spiel das Projekt „Erneuerbare Energien auf denGalapagos-Inseln“, das vom BMZ und dem Umweltmi-nisterium über die GTZ gefördert wird. Dem Wirt-schaftsministerium ist davon ausweislich der GroßenAnfrage nichts bekannt. Ich finde es bezeichnend – auchwenn es sich nur ein kleines Beispiel handelt –, dass dasfederführende Ministerium dieser Bundesregierung ineiner so existenziellen und strategischen Frage keineÜbersicht über das hat, was in anderen Häusern passiert.Das war meine erste Feststellung. Ich finde es falsch,dass es in diesem Lande keine Kohärenz in der Energie-außenpolitik gibt.
Interessant ist, wie das Wirtschaftsministerium defi-niert, was Energieaußenpolitik ist. Demzufolge gehe esin einem sich weltweit verschärfenden Wettbewerb umEnergieressourcen darum, Chancen besser nutzen zukönnen. Da frage ich mich, ob das Auswärtige Amt die-ses Verständnis tatsächlich teilt.Hat es sich nicht schon herumgesprochen, dass dieStrategie, Energiesicherheit dadurch zu erreichen, dassalle gegeneinander rennen und jeder auf seinen eigenenVorteil bedacht ist, in einer Welt begrenzter Ressourcenautomatisch zum Scheitern verurteilt ist? Hat man nichtbegriffen, dass die Vorstellung, im Wettlauf vorne seinzu müssen, nicht zu mehr, sondern zu weniger Sicherheitführt? Ist nicht bekannt, dass der Wettlauf um das iraki-sche Öl – nach dem Motto „Wie kommt unser Öl unterderen Sand?“ – ein Konzept gewesen ist, das grausamgescheitert ist?Hat es sich in der Bundesregierung nicht herumge-sprochen, dass es Energiesicherheit nicht in nationalerForm gibt – weder für Deutschland noch für die EU,Russland, Saudi Arabien oder Herrn Chávez –, sondernnur gemeinsam? Es gibt sie nur, wenn wir es schaffen,einen vernünftigen Ausgleich zwischen Angebot undNachfrage sowie zwischen Herstellern, Exporteuren undImporteuren begrenzter Ressourcen hinzubekommen.
Die Vorstellung, dass man das als einen Wettlauf or-ganisieren kann, ist wirklich abenteuerlich, und sie wirdauch den zentralen Sicherheitsproblemen, die diesbezüg-lich eine Rolle spielen, nicht gerecht. Wir müssen allestun, um den Wettbewerb um knappe Ressourcen zu min-dern, statt ihn anzustacheln.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25689
(C)
(D)
Jürgen TrittinWir müssen alles tun, um einseitige Abhängigkeitenzu mildern. Das geht nicht nur, indem man noch mehrPipelines baut. Die Nabucco- oder die Nord-Stream-Pipeline mögen für sich genommen sinnvoll sein. Esmuss aber im Kern eine Strategie entwickelt werden, dieauf der einen Seite Ländern, die in bitterer Armut leben,den Zugang zu Energie ermöglicht – das ist neben demZugang zu sauberem Wasser eine zentrale Voraussetzungfür Entwicklung und die Überwindung von Armut – undauf der anderen Seite den Nachfragedruck auf begrenzteRessourcen mindert. Das ist eine widersprüchliche undsehr komplizierte Aufgabe.Aber diese Aufgabe werden wir nicht bewältigenkönnen, wenn wir als ein Land mit einem erheblichenEnergiebedarf – pro Kopf liegt er weit über dem Welt-durchschnitt – so tun, als könnten uns die anderen egalsein und als müssten wir hauptsächlich schneller als dieanderen Länder sein.
Es gibt aber auch andere wichtige Bereiche. Man ex-portiert und ist energieaußenpolitisch nicht untätig.Diese Bundesregierung hat den Weg dafür frei gemacht,Atomtechnologie nach Indien zu exportieren. DieseBundesregierung hat mit Zustimmung des Umweltmi-nisteriums – angeblich ist man in der Atomfrage ja zer-stritten – ein neues Kooperationsabkommen mit Brasi-lien über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet derAtomenergie geschlossen.
Es ist erstaunlich, dass Sie in ein Land, das 90 Prozentseines Stroms aus erneuerbaren Energien erzeugt unddas über riesige Gas- und Ölvorräte verfügt, die Techno-logie zur vollständigen Beherrschung des Brennstoff-kreislaufes, zur Wiederaufarbeitung und zur Anreiche-rung exportieren.
Das ist proliferationspolitischer Wahnsinn.
Außerdem ist es energiepolitischer Unsinn, weil we-der Brasilien noch andere auf diese Weise ihren Energie-bedarf decken können. Denn eine Nischentechnologie,die heute gerade einmal 3 Prozent der auf der Welt ver-brauchten Endenergie bereitstellt, wird die Energienöteder sich entwickelnden Welt nicht beheben können.
Wir müssen die Internationale Energie-Agentur öff-nen und sie von einer Veranstaltung allein der Industrie-länder zu einer, bei der alle Länder mit am Tisch sitzen,machen. Sie prognostiziert, dass wir es mit einer Verdop-pelung des weltweiten Energiebedarfs bis zum Jahr 2030zu tun haben. Das ist die Herausforderung. Lassen Sieuns im Hinblick darauf nicht über Seitenthemen spre-chen.Was ist die erste Aufgabe für uns? Die Grundaufgabeder Energieaußenpolitik ist es, den Nachfragedruck zumindern.
Es kann nicht sein, dass die entwickelten Länder im-mer noch über 50 oder 60 Prozent des Gases und Ölesfür 15 Prozent der Weltbevölkerung beanspruchen.Wenn wir eine solche Entwicklung einleiten wollen,dann müssen wir den Nachfragedruck mindern. Das gehtnur mit einer Strategie, die auf mehr erneuerbare Ener-gie, mehr Energieeffizienz und mehr Energieeinsparungsetzt.Das Interessante ist: Diese Strategie führt im Ergebnisdazu, dass unsere Abhängigkeit von Importen drastischgemindert wird. Würden wir das Ziel erreichen, bis 2030die Treibhausgasemissionen in Europa um 40 Prozent zureduzieren, dann würde unsere momentane Abhängig-keit in Europa von Energieimporten von über 75 Prozentauf unter 50 Prozent sinken. Das ist praktische Energie-außenpolitik. Das ist etwas anderes, als sich in energie-politischen Fragen gegenseitig zu blockieren.
Ich gebe dem Parlamentarischen Staatssekretär Peter
Hintze das Wort.
P
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Die Energiepolitik der Bundesregierung zeich-net sich durch Versorgungssicherheit, Ressourcenscho-nung, Klimaschutz und Nachhaltigkeit aus.Nun haben die Grünen eine beachtliche Arbeit geleis-tet. Sie haben eine Große Anfrage mit 273 Fragenkom-plexen und insgesamt annähernd 1 000 Einzelfragen ge-stellt. Da ich Herrn Trittin gut zugehört habe, was ichimmer mit Gewinn tue, muss ich zu dem Schluss kom-men, dass alle Kraft in diese 1 000 Fragen gegangen istund dass die Kraft nicht mehr ausreichte, die Antwortenzu lesen. Sonst hätte er hier eben eine andere Rede ge-halten.
Er ist nur auf einen einzigen Punkt eingegangen, dersich in der Tat auf Seite 1 unserer gründlichen und inner-halb der gesamten Bundesregierung abgestimmten über250 Seiten umfassenden Antwort befindet. Selbst derVersuch, die Antwort zur Frage 2 der Grünen paraphra-sierend wiederzugeben – er hat ungefähr 38 Zeilen aufzweieinhalb Zeilen zusammengeschrumpft –, hat zur to-talen Verfehlung des Inhalts geführt. Wenn das schon aufSeite 1 so losgeht, dann ist es natürlich kein Wunder,dass die Schlussfolgerungen, die Sie aus dem nicht gele-senen Rest ziehen, falsch sind.
Metadaten/Kopzeile:
25690 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
P
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Selbst die Antwort auf Seite 2,lieber Herr Kollege Trittin, macht nicht nur deutlich,dass wir die Antworten in der Bundesregierung gründ-lich abgestimmt haben, sondern dass unsere Energiepoli-tik zentrales Element unserer Zukunftssicherung im glo-balen und europäischen Kontext ist, abgestimmt in derWirtschaftspolitik, in der Umweltpolitik, in der Politikfür wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, inder Außenpolitik, in der Forschungspolitik, in der Si-cherheitspolitik, dass wir einen sehr kohärenten Ansatzhaben.Vielleicht ist der eine oder andere Kollege bereit, dieüber 250 Seiten durchzuarbeiten, die in gründlichem undrespektvollem Eingehen auf Ihr Fragerecht entstandensind. Dann könnten Sie zu dem Schluss kommen, dass esauf der Welt kein Industrieland gibt, das eine derartigpositive energiepolitische Bilanz hat wie wir in Deutsch-land. Darauf können wir in der Großen Koalition stolzsein.
Alles, was Sie hier einfordern, ist von dieser Regie-rung auf den Weg gebracht worden: Energieeinsparung,Energieeffizienz, Ausbau erneuerbarer Energien, Versor-gungssicherheit. Das in dieser Legislaturperiode be-schlossene Integrierte Energie- und Klimaprogramm derBundesregierung ist das umfassendste Maßnahmenpa-ket, das hierzu je beschlossen wurde. Der unter deut-scher Ratspräsidentschaft beschlossene energiepolitischeAktionsplan der EU bildet heute das Fundament für eineEnergieaußenpolitik der EU, die mit einer Stimmespricht.
– Herzlichen Dank.
– Am Ende der Legislaturperiode freut sich der Rednernach einem spannenden Tag natürlich auch über einzel-nen Zuspruch.
– Dieser Zuspruch hatte inhaltlich ein höheres Gewichtals Ihre ganze Rede. Das muss man bei dieser Gelegen-heit einmal sagen.
Die Prioritäten in unserer Energieaußenpolitik sindklar. Wir müssen Energiequellen, Energielieferanten undTransportwege weiter diversifizieren. Wir müssen nochmehr Energie sparen und diese effizienter nutzen. Wirbrauchen einen ausgewogenen Energiemix. Dazu gehörtauch der weitere Ausbau der erneuerbaren Energien. Wirintensivieren auch den Dialog mit Erzeuger-, Transit-und Verbraucherländern, um weltweit die Rahmenbedin-gungen für Investitionen in eine effiziente und klimaver-trägliche Energieversorgung zu verbessern.Der schwelende Transitstreit zwischen Russland undder Ukraine führt uns deutlich vor Augen, wie wichtigein breit gefächertes Angebot an Bezugsquellen ist. Da-rum unterstützt die Bundesregierung die deutsche Ener-giewirtschaft, wenn es darum geht, die bestehendeEnergieinfrastruktur sicherer zu machen, ihre Störungs-und Krisenanfälligkeit zu verringern und neue Versor-gungskorridore zu entwickeln. Zu den neuen und wichti-gen Infrastrukturinvestitionen im Gasbereich zählen dieNord-Stream-Pipeline und die Nabucco-Pipeline – inbeiden Fällen bemühen sich ja prominente Persönlich-keiten um qualifizierte Beratung; das ist zu begrüßen –,
über die in stärkerem Maße Gas aus Zentralasien verfüg-bar würde.Zusätzlich zu unseren traditionellen Lieferanten vonKohlenwasserstoffen – Russland, Norwegen und Groß-britannien – haben wir neue Partner in Afrika und Zen-tralasien gewonnen. Zur Deckung des Zusatzbedarfs beiGas in Europa wird auch LNG an Bedeutung gewinnen.Um mit Lieferunterbrechungen bei der Gasversor-gung innerhalb Europas zukünftig besser umgehen zukönnen, hat die Bundesregierung in der EU wichtige Ini-tiativen ergriffen. Diese betreffen auf Verbrauchs- undImportstrukturen der Mitgliedstaaten abgestellte Min-deststandards für die Krisenvorsorge, die Möglichkeit,künftig zentrale Gaspipelines flexibler nutzen zu kön-nen, sogenannte Reverse Flows, und eine Intensivierungder regionalen Zusammenarbeit der Gaswirtschaft.Deutschland ist weltweit Vorreiter bei erneuerbarenEnergien. Bei der Stromerzeugung haben wir bereits ei-nen Anteil von circa 15 Prozent; bis 2020 sollen es min-destens 30 Prozent werden. Bei Energieeffizienz und er-neuerbaren Energien haben deutsche Unternehmenweltweit vielfach die Technologie- und Systemführer-schaft erlangt, die sich in Exporterfolgen niederschlägt.Mit den Exportinitiativen „Erneuerbare Energien“ und„Energieeffizienz“ unterstützt die Bundesregierung ge-zielt deutsche Unternehmen und die weltweite Verbrei-tung deutscher Spitzentechnologie, gerade auch inEntwicklungs- und Schwellenländern. Die DeutscheEnergie-Agentur engagiert sich in Effizienzpartnerschaf-ten, unter anderem mit Russland, Indien, China oder inZentralasien, für konkrete Pilotprojekte.Der im Antrag der hochgeschätzten FDP geforderteDialog mit Produzenten- und Transitländern
ist ebenfalls im Gange. Die Bundesregierung flankiertdie Arbeit unserer Unternehmen durch die Pflege engerwirtschaftlicher und politischer Beziehungen zu unserenEnergiepartnerländern. Energiepartnerschaften zum bei-derseitigen Vorteil sind wesentlicher Bestandteil unsererEnergieaußenpolitik. Ein Beispiel dafür ist die Zusam-menarbeit mit Russland und die geplante Russisch-Deut-sche Energieagentur; aber auch das 2006 gegründete
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25691
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Peter HintzeDeutsch-Indische Energieforum mit Schwerpunkten beiKraftwerksmodernisierung, erneuerbaren Energien, de-zentraler Energieversorgung und Clean DevelopmentMechanism verdeutlicht, wie, lieber Herr Trittin, Ener-gieaußenpolitik, Entwicklungspolitik und Klimapolitikder Bundesregierung ineinandergreifen.
Die Redezeit erlaubt es mir nicht, auf das Galapagos-Problem einzugehen,
aber um dieses eine Beispiel, verehrter Herr KollegeTrittin, für die angeblich nicht vorhandene Kohärenz zufinden, mussten Sie Ihren Globus schon ziemlich gründ-lich absuchen.Darüber hinaus engagiert sich die Bundesregierungauch multilateral im G-8-Rahmen in der InternationalenEnergie-Agentur und dem Internationalen Energieforumfür freie, offene und transparente Energiemärkte. Das In-ternationale Energieforum erarbeitet unter deutschemKo-Vorsitz seit dem vergangenen Jahr Vorschläge, wiewir bei der Ölpreisbildung mehr Transparenz erreichenund preistreibende Effekte des Handels mit spekulativen,auf Energieressourcen basierenden Finanzprodukten ein-schränken können.Die Bundesregierung verfolgt eine aktive, kohärenteund erfolgreiche Energieaußenpolitik.
Wir verfolgen das wichtige Ziel, in enger Zusammen-arbeit mit unseren Partnern in Europa und in der Welt füreine sichere, preisgünstige und klimaschonende Energie-versorgung in Deutschland zu sorgen. Darauf bin ichstolz. Darauf können wir alle stolz sein. In diesem Sinnekönnen wir weiterarbeiten.Herzlichen Dank.
Für die FDP-Fraktion gebe ich das Wort der Kollegin
Gudrun Kopp.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren undDamen! Am Ende dieser Legislaturperiode haben wirein wichtiges Thema auf der Tagesordnung, nämlich dieEnergieaußenpolitik. Unter diesem Begriff sollten in derTat die Energie-, Außen-, Sicherheits-, Umwelt- undEntwicklungshilfepolitik zusammengefasst werden. Alldas versucht die FDP-Bundestagsfraktion auf den Wegzu bringen. Seit 2007 treibt sie die Bundesregierung indiese Richtung an. Es ist nicht so, dass die Bundesregie-rung schon ein kohärentes Konzept verfolgte undwüsste, wohin die Reise geht.
Ich habe nicht jede Seite der Großen Anfrage derGrünen durchgelesen, aber das meiste ist ziemlich in-haltsleer und beschreibt das, was eigentlich sein müsste,aber noch längst nicht in die Realität umgesetzt wordenist.
Eine Bundesregierung, die innerhalb der EU, aberauch weltweit eine Zusammenarbeit in Energiefragen, inEntwicklungshilfefragen und in sicherheitspolitischenFragen fordert, sich allerdings zu Hause im DeutschenBundestag – so drückte es die SPD-Kollegin vorhin aus –in jedem Themenbereich wie die Kesselflicker streitet,weist eine alles andere als gute Bilanz auf.
Ich nenne ein paar Beispiele. Innerhalb dieser Bun-desregierung ist die Frage der Verlängerung der Laufzei-ten für die Kernkraftwerke überhaupt noch nicht beant-wortet und fern jeden Konsenses. Lieber Herr KollegeTrittin, ich glaube nicht, dass wir anderen Staaten vor-schreiben können – das ist auch richtig so –, wie dieseals entwickelte Industriestaaten ihre Energiesicherheitbetreiben und somit den Umweltschutz integrieren.
Gestern fand zum 50. Jahrestag des Atomforums inDeutschland ein Festakt statt, zu dem die Kanzlerin alsRednerin eingeladen war. Sie hat dort ein flammendesPlädoyer für die fortgesetzte Nutzung des Stroms ausKernenergie gehalten. Das finden wir richtig, und dasfindet auch die Unterstützung der FDP. Allerdings istdies im eigenen Haus eine hochstrittige Frage, und daranwird sich auch nichts ändern.Der Ministerkollege Trittin versteigt sich in einerRede,
die an Peinlichkeit kaum zu überbieten ist, indem er ges-tern sagte, das Atomforum gehöre auf den Misthaufender Geschichte.
– Entschuldigung, das stimmt.
Völlig unerledigt ist zweitens die Endlagerfrage. Icherinnere an die letzte Sitzungswoche und die letzten
Metadaten/Kopzeile:
25692 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Gudrun KoppTage, als die ersten Versuche, einer neuen Technologieden Weg zu bahnen, kläglich gescheitert sind. Es gingum die CO2-Abscheidung bei der Kohleverstromung,also um die sogenannte CCS-Technologie. Diese war alsTechnologieexport gerade mit Blick auf China gedacht,um eine saubere Nutzung von Kohle auf den Weg zubringen.
Genauso war es bei der Umsetzung der Energieeffi-zienzrichtlinie. Auch an dieser Stelle konnten Sie sichnicht einigen. Es gibt kein Konzept zur nötigen deut-schen Netzagentur, geschweige denn ein integriertesKonzept, wie wir wenigstens europaweit die Netze zu-sammenführen können. Darüber hinaus sind wir nochweit entfernt vom nötigen Energiebinnenmarkt.Das alles kann man mit folgender Aussage unterstrei-chen: Diese Bundesregierung hat in Wahrheit weder na-tional noch europaweit und schon gar nicht weltweit einkonsistentes Energiekonzept. Das ist mehr als peinlich.
Wir haben einen Antrag zur Energieaußenpolitik ein-gebracht und in diesem Antrag sehr deutlich aufgezeigt,wie eine solche Politik unserer Meinung nach auszuse-hen hat. Wir fordern ein Klimaschutzregime, das effek-tiv, wettbewerbskonform und kosteneffizient ist. Wirmöchten, dass zum Beispiel der begonnene Kioto-Pro-zess um eine globale Technologiezusammenarbeit er-gänzt wird.Wir möchten ein Konzept zur Sicherung und Identifi-zierung der kritischen Energieinfrastrukturen, und wirwollen einen Ausbau der Netzkapazitäten für Strom undGas.Ferner finden wir, dass die Energieaußenpolitik unddie Außenwirtschaftspolitik kohärent gestaltet werdenmüssen, um den Weg für deutsche Firmen in ausländi-sche Märkte politisch zu begleiten. Auch an dieser Stellegeschieht herzlich wenig.Zu den eben angesprochenen Energieleitungen willich noch bemerken, dass manchmal Gegensätze zwi-schen der Nord-Stream-, der South-Stream- und derNabucco-Gaspipeline aufgebaut werden. Ich finde esrichtig, jede Möglichkeit der Diversifizierung von Ener-gietransportleitungen zu nutzen und auf diesem Gebieteine verstärkte Zusammenarbeit voranzutreiben. Wirsollten ohne Ideologie da herangehen, um unsere Abhän-gigkeit von Energieimporten, die in der Zukunft nochenorm steigen wird, zu vermindern.
Ein wirklich interessantes Projekt, an dem sichdeutschlandweit und auch weltweit einige Firmen betei-ligen werden, ist das Desertec-Projekt. Im Rahmendieses Projektes sollen in Nordafrika und im Mittelmeer-raum riesige Solarthermieanlagen entstehen. Auf der ei-nen Seite kann damit die Eigenversorgung Nordafrikasmit Strom aus erneuerbaren Energien sichergestellt wer-den – das ist mit Blick auf die Entwicklungshilfepolitiksehr interessant –, und auf der anderen Seite kann imbegrenzten Rahmen – man muss sehen, in welchem Um-fang Leitungen gelegt werden können – der auf dieseWeise erzeugte Strom mithilfe einer speziellen Übertra-gungstechnik nach Europa transportiert werden.Es ist ein interessantes Projekt, das dazu beiträgt, wei-terhin zu diversifizieren trotz aller politischen Probleme,die es möglicherweise mit den Partnerländern an der ei-nen oder anderen Stelle gibt. Ich unterstreiche ganz aus-drücklich, dass solcherlei politische Differenzen, die ander einen oder anderen Stelle bestehen, dadurch über-wunden werden können, dass wir in der EnergiepolitikGrenzen überschreiten, Kooperationen bilden und zu derEinsicht kommen, dass die Sicherstellung des Wohlstan-des weltweit nur durch eine vertrauensvolle Zusammen-arbeit möglich ist und nicht durch ein ständiges Gegen-einander. Darin liegt eine sehr große Chance.Für die FDP-Bundestagsfraktion möchte ich sagen:Wir möchten alle Chancen auf dem Gebiet der Energie-sicherheit nutzen. Dazu gehört, dass wir zuerst deutsch-landweit, aber dann sicherlich auch europa- und welt-weit entsprechende Konzepte aufstellen. Ich bin ganzsicher, das wird der Außenpolitik guttun und nebenbeider Friedenssicherung einen guten Dienst erweisen.Vielen Dank.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Rolf Hempelmann,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Wir haben es mit einer Serie von Anträgen der Op-position und auch mit einer Großen Anfrage der Grünenzu – nicht nur, aber im Wesentlichen – energieaußenpoli-tischen Fragen zu tun. Ich möchte aber unterstreichen,dass es zu der Großen Anfrage eine substanzielle Ant-wort der Bundesregierung gibt, mit der sich die Bundes-regierung unter Federführung des Bundeswirtschafts-ministeriums eine Menge Arbeit gemacht hat. Dafüreinen herzlichen Dank.
Diese Antwort, die zwar unter der Federführung desWirtschaftsministeriums, aber in enger Abstimmung mitanderen Häusern entstanden ist, zeigt, dass es durchauseine abgestimmte Energieaußenpolitik innerhalb derBundesregierung gibt. Sie zeigt auch, dass wir in dieserLegislaturperiode einen sehr viel deutlicheren Akzentauf diesen Punkt gelegt haben, als es in vorherigen Le-gislaturperioden der Fall gewesen ist. Deswegen einen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25693
(C)
(D)
Rolf Hempelmannherzlichen Dank für die Große Anfrage. Sie ermöglichtes uns, noch einmal sehr deutlich auf unsere Erfolgsbi-lanz der letzten Jahre hinzuweisen.
Wenn man die Begriffe Außenpolitik und Energie-außenpolitik hört, dann denkt man sehr schnell an dasAuswärtige Amt und den Außenminister. Man kann inder Tat sagen, dass der Bundesaußenminister schon sehrfrüh in dieser Legislaturperiode deutlich gemacht hat,dass für ihn die Energieaußenpolitik ein Kernfeld ist.Das war Anfang 2006, also in den ersten Monaten dieserKoalition, der Fall, als er anlässlich der Münchner Si-cherheitskonferenz eine Grundsatzrede gehalten hat. Erhat das auch durch Strukturveränderungen in seinemHaus dokumentiert, indem er dort unter anderem eineabteilungsübergreifende Arbeitsgruppe „Energieaußen-politik“ installiert hat. Ich denke, diese Dinge zeigensehr deutlich, dass diese Bundesregierung und das Au-ßenministerium verstanden haben, dass die Energie-außenpolitik deutlich mehr Aufmerksamkeit verdient,als sie in den vergangenen Jahren bekommen hat.
Die Bundesregierung hat diesen Schwerpunkt imJahr 2007, als sie den Vorsitz in der G 8 innehatte, deut-lich werden lassen. Energieaußenpolitik war bei den G-8-Sitzungen ein ganz wesentliches Thema. Wir sind voran-gekommen. Wir haben in sehr vielen Punkten Überein-stimmung erzielen können, gerade im Zusammenhangmit der Klimapolitik. Ich glaube, dass das in sehr star-kem Maße der Initiative der deutschen Bundesregierungzu verdanken ist. Es freut uns natürlich, dass wir dasdank der Großen Anfrage und der Anträge an dieserStelle noch einmal deutlich machen können. VielenDank dafür!Unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft imJahr 2007 sind infolge des sehr starken Drucks der Bun-desregierung, insbesondere des Bundesumweltministeri-ums und des Kanzleramtes, ein Klima- und Energiepaketder EU, ein Energieaktionsplan und ein Schwerpunkt-programm zur Energieaußenpolitik verabschiedet wor-den. Dieses Programm hat es uns ermöglicht, unsere na-tionale Energieaußenpolitik in eine von uns wesentlichmitgestaltete EU-Energieaußenpolitik einzubetten.Erwähnt worden ist hier auch – das ist in der Tat nureine Facette der Energiepolitik – die große Importabhän-gigkeit der EU und Deutschlands bei Öl, Gas und Kohle.Gerade im Bereich des Erdgases ist das in den letztenJahren deutlich geworden. Der Gaskonflikt zu Beginndieses Jahres zwischen Russland und der Ukraine hatnoch einmal deutlich gemacht, in welch starkem Maßewir von Erdgasimporten und insbesondere von Importenaus Russland abhängig sind. Im Zusammenhang mit die-ser Krise ist aber auch deutlich geworden, dass dieseBundesregierung und die Unternehmen in Deutschlanddie Jahre seit 2006, als es erstmals eine solche krisen-hafte Zuspitzung in der Ukraine gab, gut genutzt haben.Es gab kein Mengenproblem beim Gas. Die deutscheBevölkerung und die deutschen Unternehmen wurdenmit Gas versorgt, auch in den Tagen dieser Krise. Mehrnoch: Deutsche Unternehmen haben wesentlich dazubeigetragen, dass es auch in den NachbarländernDeutschlands keine Engpässe gab. Wir haben dazu bei-getragen, dass die Gasversorgung auch dort ununterbro-chen funktioniert hat.
Das ist sicherlich auch ein Erfolg deutscher Politik; dennwir haben uns bei diesen Vorsorgemechanismen ganz er-heblich eingeschaltet.Allerdings sind auch Defizite deutlich geworden. Wirhaben beobachten können, dass es in Südosteuropa zuVersorgungsengpässen kam. Dadurch ist klar geworden,dass wir bessere Netzverbindungen und Lückenschlüssein Nord-Süd-Richtung brauchen. Es ist gehandelt wor-den: Die Europäische Union hat unverzüglich ein Pro-gramm aufgelegt, um genau diese Lückenschlüsse zu fi-nanzieren. Insgesamt hat dieses Programm einMilliardenvolumen. Wir sind also, sollte sich ein solcherVorfall wiederholen, bestens vorbereitet.Das reicht allerdings nicht. Uns ist klar, dass Präven-tion angesagt ist. Prävention heißt in diesem Fall, dassdie EU aus der Zuschauerrolle in die Moderatorenrollewechseln muss, gerade beim Konflikt innerhalb derUkraine. Das ist inzwischen geschehen, und zwar auchaufgrund der Einflussnahme und des Drucks Deutsch-lands in Brüssel. Es hat mehrere Konferenzen gegeben,die alle nicht einfach waren. Meine Prognose: Am Endewird ein Beteiligungsmodell stehen. Das ukrainischeGastransportsystem wird saniert, und zwar durchausauch mit Geldern europäischer Unternehmen. DiesesModell wird eine Beteiligung der entsprechenden Unter-nehmen am Gastransport in der Ukraine vorsehen, übri-gens auch eine Beteiligung der russischen Seite. Ein sol-ches Modell, bei dem alle drei Seiten beteiligt sind, führtzu gleichlaufenden Interessen. Alle haben dann ein Inte-resse am kommerziellen Erfolg dieser Pipeline. Das istdie beste Basis dafür, dass diese Pipeline in Zukunft im-mer gut mit Gas gefüllt sein wird.
Wir haben heute in dieser Debatte schon ein paarWorte über eine andere Pipeline gehört, über die Nord-Stream-Pipeline. Ich denke, auch da ist es gut, dass sichdie deutsche Bundesregierung – auch ehemalige Mitglie-der der Bundesregierung – um dieses Projekt kümmern.Dies ist im deutschen, aber auch im europäischen und imrussischen Interesse. Die Russen wissen: Sie brauchendiese Pipeline, um ihr Gas langfristig absetzen zu kön-nen und entsprechende Einnahmen zu erzielen. DieWesteuropäer wissen: Sie brauchen diese Pipeline, umden langfristigen Gasbezug sichern zu können.Es wird sehr darauf ankommen, die Anrainerstaatenim laufenden Prozess noch mehr als bisher mit ins Bootzu nehmen und auch die Umweltfragen, insbesonderebezüglich der Ostsee, zu klären. Das ist auf dem Weg.Ich bin ganz optimistisch, dass das funktionieren wird.Diese Pipeline wird nicht von einer Seite, nicht von denRussen allein, finanziert, sondern von beiden Seiten,vom Lieferanten genauso wie von den Empfängerlän-
Metadaten/Kopzeile:
25694 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Rolf Hempelmanndern. Das ist eine gute Basis für den ökonomischen Er-folg dieses Projekts und dafür, dass die Gasversorgungfür Europa in Zukunft funktionieren wird.Ein Punkt in diesem Zusammenhang ist, dass dasGas, das fließen soll, vorher gefördert werden muss. Wirhaben ein massives Interesse daran, dass auch in Zeitender Krise – Russland ist noch stärker in der Krise als wirhier in Europa – die Förderinvestitionen in Russland ge-tätigt werden. Geld westeuropäischer Unternehmen istda durchaus willkommen. Russland ist aufgefordert, dieRahmenbedingungen so zu gestalten, dass es für europäi-sche Unternehmen attraktiv ist, sich dort zu beteiligenund zu investieren. Nur so können engere Partnerschaf-ten und Verflechtungen entstehen. Nur so ist es möglich,dass sich die Russen in Europa, beispielsweise inDeutschland, im Downstream-Bereich, im Endkunden-geschäft – das wollen sie ja – betätigen können.Es gäbe weit über das Thema Gas hinaus noch vielzur Energieaußenpolitik zu sagen. Es gibt noch eineRednerin unserer Fraktion, die sich insbesondere denThemen erneuerbare Energien und Energieeffizienz wid-men wird. Deswegen danke ich Ihnen hier für Ihre Auf-merksamkeit und darf meine Rede beenden.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Kurt Hill,
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Herr Trittin, ich bin bei vielem, was Sie gesagthaben, bei Ihnen.
Aber eines steht fest: Die deutsche Energieaußenpolitikist damals von SPD und Grünen militarisiert worden.
– So sieht es aus; sie wurde militarisiert.Fest steht: Um an Kohle, Öl, Gas und Uran zu kom-men, scheut auch der heutige Außenminister vor der Be-teiligung an Kriegen nicht zurück. Das ist Fakt.
Hinzu kommt die ungebremste weltweite Verbren-nung fossiler Energieträger, die zudem Hauptursache desKlimawandels ist. Die Folgen der globalen Erwärmungsind heute Trinkwassermangel und Ernteausfälle welt-weit. Für Millionen von Menschen bedeutet das Hunger,Elend und Heimatlosigkeit. Viele Regionen der Welttreiben von Krise zu Krise. Konflikte verschärfen sich,und der Kampf um Wasser und Ressourcen gehört invielen Ländern, zum Beispiel in vielen Ländern Afrikas,zum Alltag. China, die USA und Russland erhalten Öl-und Gaszusagen gegen Waffenlieferungen. Ich nennenur ein Beispiel: Libyen. So entsteht ein Pulverfass nachdem anderen. Die Bundesregierung betreibt Aufrüstung,weil sie fossile Energiequellen und die Transportwegesichern will.
Die weltweite Militarisierung der Energieaußenpoli-tik ist unübersehbar – das ist kein Quatsch, Herr Pfeiffer –,und Deutschland und Europa beteiligen sich daran. AlsNATO-Mitgliedstaat akzeptiert Deutschland das NeueStrategische Konzept der NATO, das die Verfolgungökonomischer Interessen glasklar zu einer militärischenAufgabe erklärt. Auf knappe Ressourcen und Klimafol-gen reagiert die NATO nicht etwa mit Abrüstung oderAlternativen, sondern mit Atombomben. Ich zitiere:Nukleare Streitkräfte werden weiterhin eine we-sentliche Rolle spielen.Auf der Strecke bleiben dabei Frieden, Menschenrechteund eine sichere und nachhaltige Versorgung mit Ener-gie.
Meine Partei fordert eine radikale Energiewende hinzu erneuerbaren Energien. Die Umstellung auf einenachhaltige Energieversorgung ist eine Überlebensfrage.Sie ist eine zentrale Investition in ein friedliches21. Jahrhundert. Wer heute auf erneuerbare Energiensetzt und dieses Wissen mit Schwellen- und Entwick-lungsländern teilt, wird sich morgen nicht an Kriegenum Öl und Gas beteiligen. Machen wir uns endlich un-abhängig von Öl, Gas und Uran!
Ich sage: Eine dezentrale Vollversorgung mit erneuer-baren Energien ist bis 2040 machbar. Hören Sie docheinfach auf Ihre eigenen Experten, zum Beispiel auf denSachverständigenrat für Umweltfragen. Nur so bremsenwir den Klimawandel, und nur so schaffen wir einefriedliche Energieaußenpolitik.Wer weiter auf Atomstrom setzt, bringt nicht nur unsalle in Gefahr, sondern stiftet auch instabile Staaten zumMissbrauch der Kernenergie an. Die angeblich friedlicheNutzung der Atomkraft ist und bleibt für mich die Ein-stiegsdroge zum Bau der Atombombe. Wer Atomkraft-werke länger laufen lassen will und den Ausbau erneuer-barer Energien damit gezielt bremst, wie es CDU/CSUund FDP tun, erweist der Friedenspolitik einen Bären-dienst,
lässt aber die Kassen der Energiekonzerne richtig klin-geln.
Das Gleiche gilt für das absurde Herumzocken imHinblick auf den Bau neuer Gaspipelines nach Westeu-ropa. Den Preis für diesen kostspieligen Unsinn, promi-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25695
(C)
(D)
Hans-Kurt Hillnent ausgetragen zwischen SPD-Altkanzler Schröder inSachen Nord Stream und dem Altgrünen Fischer in Sa-chen Nabucco, zahlen ausschließlich die Verbraucherin-nen und Verbraucher.
Nabucco, das Prestigeobjekt der EU, soll9 Milliarden Euro kosten, obwohl nicht ein einziger Ku-bikmeter der Erdgaslieferungen aus den Förderregionensicher ist. In diesem Fall nenne ich als Beispiel Tadschi-kistan.
Klug wäre es, diese Mittel in Maßnahmen zur Schaf-fung von mehr Energieeffizienz und in den schnellerenAusbau erneuerbarer Energien zu stecken. Stattdessensoll Erdgas aus Krisenregionen bezogen werden. Derehemalige grüne Außenminister muss aufpassen, dass ernicht sehenden Auges in eine gut bezahlte Falle tapptund nebenbei noch Kriege befördert. Am Ende wird esohnehin von Russland kontrolliertes Gas sein, das, durchwelche Röhre auch immer, nach Deutschland kommt.Entscheidend ist, die Abhängigkeit vom Gas zu sen-ken. Das geht nur, wenn wir den wertvollen RohstoffGas nicht einfach in Gebäuden verheizen. Statt Einzel-heizungen brauchen wir hierzulande Fernwärmenetzeund Kraft-Wärme-Kopplung, also die gleichzeitigeStrom- und Wärmeerzeugung in dezentralen Gaskraft-werken zur Unterstützung einer schnell wachsenden Ver-sorgung durch erneuerbare Energien.
Das ist ohne Weiteres möglich. Die vorhandenen Ge-setze und Fördermaßnahmen reichen aus, um den Gas-verbrauch im Gebäudebereich zu halbieren, wenn dieBundesregierung sie nur umsetzen würde. Mit den soeingesparten Mengen könnte ein erdgasbefeuerter Kraft-werkspark um ein Drittel vergrößert werden, und durchdas steigende Wärmeangebot hocheffizienter Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen würde der Gasverbrauch so-gar deutlich sinken. Deshalb sage ich: Kluge Energienut-zung ist auch Friedenspolitik. Das muss der Maßstab ei-ner vorausschauenden und nachhaltigen Energiepolitiksein.
Wichtig ist: Wir müssen unser energietechnologischesWissen mit den Ländern des Südens, zum Beispiel denLändern Afrikas, vorbehaltlos teilen. Erneuerbare Ener-gien müssen Bestandteil einer Friedens- und Entwick-lungspolitik sein. Eine Möglichkeit ist das Projekt De-sertec, bei dem es um ein Sonnenkraftwerk in der Saharageht.
Auf den Punkt gebracht, Herr Kollege: Wer weiterfossile und atomare Großprojekte finanziert, schadetdem Klima und befördert Konflikte in vielen Regionender Welt. Investitionen in Sonne, in Wind und in Bio-masse sichern Klimaschutz und vor allen Dingen dasfriedliche Zusammenleben der Völker.Ich danke Ihnen.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Joachim Pfeiffer,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke,heute, in der letzten regulären Sitzungswoche, ist einegute Gelegenheit, einmal über Energieaußenpolitik zusprechen. Die Initiative der Grünen ist zu loben, weil wirda erläutern können, was bisher geschah. StaatssekretärHintze hat dargestellt, was unternommen wurde, aberauch, was die zukünftigen Herausforderungen sind. Ichmöchte versuchen, aus Sicht der CDU/CSU-Bundestags-fraktion auf die Herausforderungen einzugehen.Es ist festzustellen, dass die Reserven und die Res-sourcen an fossilen Energieträgern länger ausreichenwerden, als man dachte; das wurde uns erst vor wenigenTagen noch einmal statistisch unterlegt. Das ist die guteNachricht.Andererseits wird die Energieimportabhängigkeit vonganz Europa in den nächsten zwanzig Jahren drastischzunehmen. Ganz Europa ist auf dem Weg dorthin, woDeutschland bereits heute ist, nämlich bei einer Ener-gieimportabhängigkeit von fast 100 Prozent bei Erdölund von 80 Prozent, 90 Prozent bei Erdgas. Deshalb sindwir gut beraten, uns nicht auf die Zahlen zu verlassen,sondern darauf mit einer kohärenten und konsistentenEnergieaußenpolitik zu reagieren.Die Volatilität nimmt zu. Wir beobachten weltweit– leider; auch durch die Finanz- und Wirtschaftskrise undtrotz gegenteiliger Beteuerungen im Bereich der G 20 –Renationalisierungen. Beispielsweise sind von den25 Top-Ölgesellschaften der Welt 16 vollkommen unterstaatlicher Kontrolle und weitere unter staatlichem Ein-fluss. Diese Tendenz wird zunehmen. Auch der Protek-tionismus nimmt gerade in dieser Wirtschafts- undFinanzkrise zu. Darauf müssen wir uns einstellen.Auch konzentrieren sich die Ressourcen und Reser-ven vor allem auf die sogenannte strategische Ellipse,also den Bereich um Russland und den gesamten Nahenund Mittleren Osten, wo sich ja – denken wir an dasStichwort „Versorgungssicherheit“ – nicht nur vergnü-gungsteuerpflichtige Regionen und Länder befinden.
Metadaten/Kopzeile:
25696 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Dr. Joachim PfeifferWir stehen an einer Zäsur. Das Jahr 2008 war daserste Jahr, in dem die Entwicklungs- und Schwellenlän-der mehr Energie als die OECD-Länder verbraucht ha-ben. Das wird so bleiben. In zwanzig, dreißig Jahrenwerden sie sogar 70 Prozent der Energie verbrauchenund die OECD-Länder 30 Prozent. 1970 war das Ver-hältnis noch genau umgekehrt.Noch heute haben 2 Milliarden bis 3 Milliarden Men-schen keinen Zugang zu modernen Formen von Energiewie Strom, Wärme, Kühlung oder Mobilität, wie wir siein Deutschland oder in Europa genießen.Auch die Energiesicherheit – die Stichworte „Iran“und „Libyen“ sind bereits gefallen – wird ein Themasein.Die größte Herausforderung, vor der die Menschheitsteht, wird jedoch der Klimaschutz sein. Klimaschutzlässt sich nicht national erreichen, Klimaschutz ist eineweltweite Aufgabe.Das sind die Herausforderungen, vor denen wir ste-hen und auf die eine Energieaußenpolitik Antworten ge-ben muss. Was sind die Antworten aus Sicht der Union?Ich möchte einige kurz skizzieren.Der Königsweg – Energieeffizienz – muss an ersterStelle beschritten werden. Das ist eine Win-win-Situa-tion: Alle Beteiligten können Geld sparen, es hilft demKlima, es erhöht die Versorgungssicherheit und kannbeispielgebend sein für die gesamte Welt. Ich glaube, dasind wir uns schnell einig.
Wir brauchen eine Diversifizierung, und zwar eineDiversifizierung bei den Transportwegen, Lieferquellenund Energieträgern. Nur mit einer solchen Diversifizie-rung sind wir in der Lage, die gerade angesprochenenHerausforderungen hinsichtlich der fossilen Energien zumeistern. Insofern können wir nicht genug Pipelines ha-ben, egal ob Nord Stream, Nabucco oder South Stream.Wir brauchen alle, wenn wir die Herausforderungen, dievor uns liegen, annehmen wollen.Hier kann es auch schnell einmal sein, dass die Ener-gieaußenpolitik quasi wieder zur deutschen Innenpolitikwird. Herr Fischer ist seit dieser Woche aktiv. HerrSchröder steht für Nord Stream, Herr Fischer für Na-bucco. Ich bin einmal gespannt, wofür Herr Gabriel undvielleicht auch Herr Trittin in der nächsten Legislatur-periode auf diesem Gebiet tätig sein werden. Insofern istdie Energieaußenpolitik schnell auch einmal deutscheInnenpolitik – zumindest vergangene deutsche Innen-politik.
Jetzt aber dazu, was weitere Diversifizierungen sind.Ich nenne das Thema LNG. Es geht also nicht nur umPipelines, sondern auch um den Transport mit Schiffen:hoch verdichtet und entsprechend heruntergekühlt.Wir müssen auch die Chance nutzen, die durch dasBiogas geboten wird. Das Biogas kann nicht nur inner-halb der Europäischen Union, sondern auch in angren-zenden Ländern erzeugt und über das vorhandene Pipe-linesystem gut und nachhaltig transportiert werden, dasheißt, es bieten sich ganz neue Möglichkeiten, fossileEnergien von heute über eine solche Infrastruktur in Zu-kunft mit erneuerbaren Energien zu verbinden.Es ist beispielsweise möglich, Biogas beizumischen.Es ist auch möglich, dort Wasserstoff beizumischen, derbeispielsweise auch an anderer Stelle erzeugt werdenkönnte. Dieses Biogas, das hierher transportiert wird,kann wiederum für alle Sektoren verwendet werden: Eskann Strom erzeugt werden, es kann für die Erwärmungoder die Kühlung genutzt werden, es kann zur Sicher-stellung der Mobilität verwendet werden, indem bei-spielsweise mithilfe entsprechender Verfahren aus Bio-gas Treibstoff hergestellt wird, und es kann auch für dieElektromobilität genutzt werden. Das sind die Antwor-ten, die wir dort suchen und finden müssen.Die Energieprobleme sind auch nicht nur bilateral zulösen. Hier sind enge Grenzen gesetzt. Ansätze dafür hatHerr Staatssekretär Hintze vorhin ja dargelegt.Die Energieaußenpolitik ist für mich zunächst aucheuropäische Innenpolitik. Es ist unsere allererste Auf-gabe, dass wir den europäischen Binnenmarkt und denWettbewerb im Energiebereich stärken. Wir müssen dieInfrastruktur weiter ausbauen. So, wie wir transeuropäi-sche Netze auf der Schiene und der Straße haben, brau-chen wir auch transeuropäische Netze hinsichtlich derEnergieversorgung. Hier sind zum Beispiel auch derVertrag von Lissabon und andere Dinge wichtig. Diesermuss bald vorliegen, damit wir dort klare Zuständigkei-ten und Aufgaben haben.Herr Trittin, hier stimme ich Ihnen in der Tat zu – dasfällt mir schwer, das gebe ich zu; es kommt auch nicht sooft vor –: Sie haben vorhin gesagt, wir hätten noch keinekohärente Energiepolitik. Diese hatten wir auch nicht,als Sie Umweltminister waren. Die Zuständigkeiten wa-ren damals nämlich auch aufgeteilt. Heute sind die Zu-ständigkeiten noch immer aufgeteilt. Deshalb wollenund brauchen wir – das haben wir erkannt, und das stehtin unserem Regierungsprogramm – eine Energiepolitikaus einem Guss, mit der die verschiedenen Kompeten-zen gebündelt werden.
Damit müssen wir zu Hause anfangen, nämlich beiuns in Deutschland. Diese Energiepolitik müssen wirdann kohärent auch in Brüssel vertreten, und wir müssenvon Brüssel aus dafür sorgen, dass Europa mit einerStimme spricht und dieses nach außen vertritt, weil dieNachfragemacht Europas entsprechend abnehmen wird.Deshalb ist das sehr wichtig.
Herr Kollege.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25697
(C)
(D)
Ich hätte zwar noch viel zu sagen, Frau Präsidentin,
aber ich komme zum Schluss.
Aber Sie haben nicht mehr die Zeit, viel zu sagen.
Lassen Sie mich mit zwei Bemerkungen schließen:
Die Energieaußenpolitik ist vor allem auch Entwick-
lungspolitik. Es ist vorhin angesprochen worden: Bei
Desertec geht es nicht nur darum, den Strom hierher zu
bringen, sondern das ist auch eine Chance, vor Ort Win-
win-Situationen zu erreichen.
Last but not least ist die Energieaußenpolitik insbe-
sondere auch Wirtschaftsförderung und Wirtschaftspoli-
tik, weil wir durch die Energieeffizienz unserer Techno-
logien und die ganzen Technologien, die es in der
Industrie gibt – –
Herr Kollege, Sie wissen aber schon, dass Sie auf
Kosten Ihres nachfolgenden Kollegen reden?
Nein, das weiß ich nicht. Dann komme ich sofort zum
Schluss.
Ich bedanke mich.
Ich gebe der Kollegin Gabriele Groneberg, SPD-
Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ein Konsens über die Notwendigkeit einer kohärentenEnergieaußenpolitik ist wohl da. Das hat die Debatte ge-zeigt. Aber die Vorstellungen darüber, wie diese kohä-rente Energieaußenpolitik gestaltet werden soll, gehenoffensichtlich ganz weit auseinander.In dieser Legislaturperiode, Herr Pfeiffer, haben – imGegensatz zur letzten – immerhin einige Debatten zudiesem Thema stattgefunden. Ich habe einfach einmalunter diesem Stichwort nachgeschaut. Hier im Plenumsind wir also schon einige Schritte weiter.Ganz unbescheiden will ich an dieser Stelle einmaldarauf hinweisen, dass es diese Koalition gewesen ist,die bereits am 17. Januar 2007 einen Antrag vorgelegthat, der sich intensiv mit dem Feld Energie- und Ent-wicklungspolitik auseinandergesetzt hat. Frau Kopp,deshalb verstehe ich überhaupt nicht, dass Sie sagen, Siebearbeiten dieses Feld seit 2007 ganz intensiv. Das kamerst zehn Monate nach unserem Antrag, das möchte ichan dieser Stelle nur kurz erwähnen.
Wenn Sie dann von uns abschreiben, mag uns das rechtsein. Das bestätigt uns zumindest in dem, was wir ma-chen.
Vieles von dem, was wir damals eingebracht und mitder Mehrheit im Haus verabschiedet haben, ist von derBundesregierung auf den Weg gebracht und umgesetztworden und findet sich jetzt sinnigerweise in den Anträ-gen der Opposition wieder. Damit wird unsere Hand-lungsweise bestätigt. Das beruhigt schon.
Unsere Energieaußenpolitik – das will ich hier nocheinmal deutlich sagen – beinhaltet vor allem das Inter-esse an der Vermeidung von Zielkonflikten, Herr Hill.Denn eine Lösung im Energiebereich werden wir natio-nal oder international nur erreichen, wenn wir sektor-übergreifende und multilaterale Strategien entwickeln.Deshalb ist es notwendig, dass die Politikbereiche Ent-wicklungs-, Energie-, Sicherheits- und Klimaschutzpoli-tik miteinander verzahnt werden. Herr Trittin, die Bei-spiele, die Sie genannt haben, mag es durchaus geben.Das heißt aber nicht, dass dadurch die große Linie unddie Erfolge, die wir vorzeigen können, kleingeredet wer-den können. Unser politikfeldübergreifender Ansatz be-deutet nach unserem Verständnis nämlich nicht, dassEntwicklungspolitik Mittel zum Zweck wird. Das istganz wichtig. Das ist von Ihnen aber gar nicht erwähntworden.Entwicklungspolitik soll eben nicht Mittel zumZweck sein, um die Sicherheit fossiler Rohstoffimportezu gewährleisten. Diese Vorstellung wiederum findenwir im Antrag der FDP wieder. Sie entwerfen eine Ener-gieaußenpolitik für das 21. Jahrhundert, die genau vondiesem Gedanken getragen wird: die Gewährleistung dereigenen Versorgungssicherheit. Die Diversifizierungwird hier zuerst hinsichtlich der Bezugsquellen fossilerEnergie gesehen, es geht weniger um die Diversifizie-rung der Energiequellen an sich. Das macht den Unter-schied aus. Bei Ihnen ist eine Überbetonung fossilerEnergieträger festzustellen. Auch Ihr wenig innovativerVorschlag, den Ausstieg aus der Kernenergie zu revidie-ren, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, zeugt lei-der von einer Politik für das Energiemuseum.
Wir brauchen heute eine nachhaltige und ressourcen-schonende Energiepolitik; diese ist vor allem mit Blickauf die unterschiedlichen Bedrohungen durch den Kli-mawandel wichtig. Herr Pfeiffer hat darauf hingewiesen.Bestandteil einer modernen Energie- und Klimapolitikist sicherlich nicht eine Renaissance der Atomenergie.Das will ich an dieser Stelle deutlich feststellen.
Metadaten/Kopzeile:
25698 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Gabriele GronebergWenn wir über einen politikfeldübergreifenden An-satz reden, dann kann man am Beispiel der Kernenergiesehr wohl deutlich machen, was wir darunter verstehen.Wir folgen dem Grundsatz unserer Politik in der ent-wicklungspolitischen Zusammenarbeit mit unseren Part-nerländern. Das heißt: Für uns ist es selbstverständlich,dass Projekte im Bereich Kernenergie wegen ihrer Risi-ken in der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit we-der bilateral noch im Rahmen von Korbfinanzierung vonuns unterstützt werden. Wir sind aus solchen Verträgenauch schon ausgestiegen. Auch das zeichnet – das mussman durchaus sagen – die Politik dieser Koalition aus.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Entwicklungspoli-tik ist für uns immer auch globale Strukturpolitik. Dasheißt, eine zukunftsweisende Entwicklungspolitik mussauch zu entwicklungsfreundlichen internationalen Rah-menbedingungen beitragen. Wenn wir Politik so verste-hen, dass wir gleichzeitig Hilfe für diejenigen leistenwollen, die dringend unsere Unterstützung brauchen,dann heißt das für uns, dass wir vor allem auch im Be-reich der Energiepolitik, bei der Anpassung an den Kli-mawandel Unterstützung leisten und Hilfe anbieten müs-sen.Den Antrag der Linksfraktion halten wir in diesemPunkt – ganz ehrlich, Herr Hill – für absolut entbehrlich.Sie beweisen damit und auch mit Ihrer Rede hier leiderGottes wieder einmal, dass Sie die real existierende Poli-tik in Deutschland vollkommen ausblenden. Sie haben inden letzten Jahren offensichtlich weder gelesen noch zu-gehört.
Die von Ihnen geforderte Energiewende ist längst ein-geleitet worden.Wenn es denn hilft, zur Erinnerung für Sie: Vor zehnJahren haben wir mit Beginn der rot-grünen Koalition– ich komme noch auf den ehemaligen grünen Koali-tionspartner zu sprechen – einen Paradigmenwechsel ein-geleitet; um das an dieser Stelle noch einmal klarzustellen.Es ist uns gelungen – das ist ein Erfolg der SPD –, diesenParadigmenwechsel unter dieser Koalition nicht wiederrückgängig zu machen. Dafür stehen wir heute, und da-rüber sind wir auch froh.
Dass wir eine weltweite Energiewende hin zu einemstärkeren Einsatz erneuerbarer Energien und zu einer ef-fizienteren Nutzung von Energie brauchen, spielt in un-serer Entwicklungspolitik schon seit vielen Jahren eineentscheidende Rolle. Deshalb freut es mich besonders,dass uns die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit ihrerGroßen Anfrage die Möglichkeit gegeben hat, die ganzePalette umfassend darzustellen. In der Tat ist die Ant-wort der Bundesregierung ein dickes Paket mit einer um-fassenden Darstellung, wie man sie sich nicht besserwünschen kann. Ich kann dem Kollegen Hintze nur rechtgeben: Das war eine massive Kleinarbeit, für die mandankbar sein kann.Auch ich hätte mir einen Hinweis darauf gewünscht,lieber Jürgen Trittin, dass das unter Rot-Grün aufgelegteProgramm eine Erfolgsstory ist. Das ist von Ihnen leidernicht gewürdigt worden.
Insofern wäre das an dieser Stelle durchaus einen Kom-mentar wert gewesen. Die Versprechen, die Bundeskanz-ler Schröder 2002 beim Weltgipfel in Johannesburggegeben hat, wurden nämlich in der Zwischenzeit weitübertroffen. Die von uns gemachten Zusagen von500 Millionen Euro im Bereich erneuerbare Energien inder internationalen Zusammenarbeit wurden bereits in-nerhalb von drei Jahren erfüllt. In dem vorgesehenenZeitraum von 2003 bis 2007 wurden in der bilateralenZusammenarbeit insgesamt 1,3 Milliarden Euro für er-neuerbare Energien zugesagt. Ich finde, das kann sichsehen lassen.
Wir haben diese Politik auch in der Großen Koalitionfortgeführt. Allein für 2009 stehen ODA-fähige Neuzu-sagen von rund 625 Millionen Euro bereit. Das ist einErfolg.Ebenfalls sehr erfolgreich war die bei der KfW ange-legte Sonderfazilität für erneuerbare Energien und Ener-gieeffizienz, die sogenannte 4-E-Sonderfazilität. Hierwar die Nachfrage ebenfalls so groß, dass die Mittel be-reits innerhalb von drei Jahren – statt wie geplant inner-halb von fünf Jahren – komplett ausgeschöpft waren.Unsere Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul hatdurchgesetzt, dass die Geltungsdauer dieser Fazilität bis2011 verlängert wird.Im Übrigen ist diese Fazilität ein Teil der neu ins Le-ben gerufenen Initiative für Klima und Umweltschutz,kurz IKLU. Bei IKLU handelt es sich um eine Weiter-entwicklung der angemahnten Kohärenz, Herr Trittin:Förderbereiche sind neben erneuerbaren Energien undEnergieeffizienz auch der industrielle Umweltschutz und– das ist ganz wichtig – Maßnahmen zur Anpassung anden Klimawandel.Wie erfolgreich hier investiert worden ist, zeigenauch die neusten Berechnungen des Netzwerks REN 21.Demnach hat die KfW Entwicklungsbank im Jahr 2008bei der Finanzierung erneuerbarer Energien in Entwick-lungsländern sogar die Weltbank überrundet und stehtnun auf Platz eins. Ist das etwa keine positive Bilanz?
Dass Ihnen das nicht so gut gefällt, liebe Kolleginnenund Kollegen von den Grünen, weil es zurzeit nicht indie politische Landschaft passt, mag zwar sein, ist abernicht zu ändern.Als ich Ihren Antrag gelesen habe, war ich betroffen,dass Sie Deutschland ein Versagen bei der Gründung derInternationalen Agentur für erneuerbare Energien – kurz
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25699
(C)
(D)
Gabriele GronebergIRENA – unterstellen. Darüber war ich schwer ent-täuscht.
Denn eigentlich war das doch unser Baby. Wir habendies seit Jahren im Parlament gefordert. Endlich ist esumgesetzt worden. Die Gründungskonferenz im Januarwar ein voller Erfolg. 76 Länder sind sofort beigetreten.Seit letztem Montag, seit 29. Juni, sind es 136 Länder,darunter so große Länder wie Australien, Japan und end-lich auch die USA. Wenn das kein Erfolg ist!
– Genau, Abu Dhabi.Ich bekomme ein Zeichen, dass ich zum Ende kom-men muss. Ich will nur noch kurz auf Abu Dhabi einge-hen. Wenn 136 Länder darüber entscheiden, wo dieAgentur ihren Sitz haben soll und die Standortfrage klä-ren, dann ist es gut, wenn Abu Dhabi Sitz der Agenturwird, aber wir das Technologiezentrum nach Bonn be-kommen. Das ist ein großer Erfolg, weil wir uns mit un-serer Technik für erneuerbare Energien gut profilierenkönnen. Wenn Wien ein Verbindungsbüro für Kontaktezu den Vereinten Nationen erhält, dann ist das, denkeich, eine gerechte und vernünftige Lösung. Man möchtegerne alles bei sich verorten.
Frau Kollegin.
Das ist keine Frage. Aber wir können damit zufrieden
sein.
Ich bedanke mich.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Manfred Grund, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! DieRussen haben Erdgas und Erdöl. Die Norweger habenErdgas. Die Schweden haben Wasserkraft. Die Franzo-sen haben Atomkraft. Und wir Deutsche? Wir haben dieDiskussion und in absehbarer Zeit eine veritable Strom-lücke.
In den nächsten Jahren gehen 17 deutsche Atomkraft-werke mit einer installierten Leistung von 20 000 Mega-watt bzw. 20 Gigawatt vom Netz. Die deutsche Energie-wirtschaft schätzt den Erneuerungsbedarf bei denKraftwerkskapazitäten in Deutschland auf 30 Gigawattbzw. 30 000 Megawatt. Die Deutsche Energie-Agentur,dena, stellt in einem Gutachten fest, dass im Jahre 2020,gleichbleibenden Energieverbrauch vorausgesetzt, dieDifferenz zwischen Energieerzeugung bzw. Kraftwerks-leistung und Jahreshöchstlast 15 800 Megawatt beträgt,also knapp 16 Gigawatt bei einer Energieerzeugung von80 Gigawatt in Deutschland insgesamt.Zur Stromerzeugung in Deutschland tragen die Atom-kraft mit 22 Prozent, die Steinkohle mit 22 Prozent, dieBraunkohle mit 24 Prozent, Gas mit 12 Prozent und dieerneuerbaren Energien – Wasserkraft, Windkraft, Bio-masse und Fotovoltaik – mit ungefähr 10 Prozent bei.Die erneuerbaren Energien sind in den letzten Jahren mit10 Milliarden Euro – zu zahlen von allen Stromverbrau-chern – subventioniert worden. Wenn es bei dieserStromlücke bleibt – diese lässt sich schlecht wegdisku-tieren –, stellt sich die Frage, wie sie geschlossen werdensoll, woher die neuen Anlagen kommen sollen und wel-che Leistung sie erzeugen werden. Atomstrom wirdwahrscheinlich nicht mehr infrage kommen, genausowenig wie die Kohle. Es gibt starke Widerstände gegenneue Kohlekraftwerke. Die neue Technologie CCS wirdes in Deutschland wahrscheinlich nicht geben.
Es gibt auch Widerstände gegen Windkraftanlagen. Oftheißt es: Bitte nicht vor der Haustür! Bitte nicht im Meervor der schönen Insel Sylt! Biomasseanlagen wollen wirauch nicht haben, weil sie stinken. – Man kann inDeutschland so gut wie folgenlos gegen alles sein, auchgegen neue Stromtrassen. Denn die Politik soll sich da-rum kümmern, wie der Strom in die Steckdose kommt,hoffentlich kostengünstig und 24 Stunden am Tag.Bei Betrachtung dieser Tatsachen stellt sich die Frage,wie es weitergehen wird. Es bleiben eigentlich nur nochGaskraftwerke übrig, um die Energielücke zu schließen.Das hat zwei Konsequenzen für Deutschland, aber auchfür Europa: Unsere Abhängigkeit von Gasimporten wirddrastisch zunehmen. Deutschland ist zurzeit zu 34 bzw.35 Prozent von Gaslieferungen aus Russland abhängig.Diese Abhängigkeit wird wahrscheinlich auf über40 Prozent steigen. Die Europäische Union ist zurzeit zu57 Prozent von Gaslieferungen aus Ländern außerhalbder Europäischen Union abhängig. Diese Abhängigkeitwird wahrscheinlich auf über 70 Prozent steigen. EineAbhängigkeit Europas bzw. Deutschlands von Russlandist nicht problematisch, wohl aber, dass das Gas durchLeitungen zu uns kommt, die zu 80 Prozent durch dieUkraine verlaufen. Wir werden daher ständig in den un-geklärten Konflikt zwischen Gazprom und der Ukrainehineingezogen und laufen jeden Winter Gefahr, zur Gei-sel zu werden.Als Alternative bleiben zwei zusätzliche Pipelines– das wurde bereits angesprochen –: zum einen dieNabucco-Pipeline, um kaspisches Gas nach Europa zubringen, und zum anderen die Ostseepipeline. Es wärewünschenswert, dass sich nicht nur ehemalige großeStaatsmänner um diese Projekte verdient machten, son-dern dass auch Europa und die Bundesregierung diesebeiden Projekte viel stärker vorantrieben. Des Weiterenwäre es wünschenswert – das hat schon mein KollegePfeiffer angesprochen –, dass einer konsistenten Ener-
Metadaten/Kopzeile:
25700 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Manfred Grundgieaußenpolitik eine kohärente Energieinnenpolitik vo-rausginge. Es wäre wünschenswert, dass die neue Bun-desregierung die Zuständigkeiten für die Energiepolitikin einem Ministerium – noch besser: in einem Energie-ministerium – bündelte, damit wir hier besser vorankom-men als in der Vergangenheit.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Wirtschaft und Technologie auf Druck-sache 16/9826. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 sei-ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antragsder Fraktion der FDP auf Drucksache 16/6796 mit demTitel „Energieaußenpolitik für das 21. Jahrhundert“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD,des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSU beiGegenstimmen der Fraktion der FDP angenommen.Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehltder Ausschuss die Ablehnung des Antrags der FraktionDie Linke auf Drucksache 16/8881 mit dem Titel„Konsequente Energiewende statt Militarisierung derEnergieaußenpolitik“. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen derFraktion Die Linke mit den restlichen Stimmen des Hau-ses angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seinerBeschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags derFraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8181mit dem Titel „Energie, Sicherheit, Gerechtigkeit“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und Gegen-stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit demRest der Stimmen des Hauses angenommen.Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/13611 mit demTitel „Für eine zukunftsfähige Energieaußenpolitik“.Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen derSPD, der CDU/CSU und der FDP bei Enthaltung derFraktion Die Linke und Gegenstimmen des Bündnis-ses 90/Die Grünen abgelehnt.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des 1. Untersuchungsausschusses nachArtikel 44 des Grundgesetzes– Drucksache 16/13400 –Berichterstattung:Abgeordnete Stephan Mayer
Michael Hartmann
Dr. Max StadlerDr. Norman PaechHans-Christian StröbeleNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeSiegfried Kauder, CDU/CSU-Fraktion.Siegfried Kauder (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Herkules brauchte für das Einfangen der KerynitischenHirschkuh ein geschlagenes Jahr. Wir brauchten, um un-sere Aufgabe zu bewältigen, über drei Jahre. In 60 Be-weisaufnahmesitzungen mit insgesamt 400 Stunden ha-ben wir 140 Zeugen vernommen, es fielen 5 700 SeitenVernehmungsprotokolle an. Es war eine große Aufgabe,die uns der Deutsche Bundestag übertragen hat. Wir hat-ten insgesamt sechs Aufgabenkomplexe abzuarbeiten.Wir haben tiefe Einblicke in die Arbeiten des Bundeskri-minalamts und der Geheimdienste Deutschlands erlangt.Die Mitarbeiter dieser Dienste leisten eine wertvolle Ar-beit für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger inDeutschland. Dafür müssen wir ihnen außerordentlichdankbar sein. Die Arbeit ist gut gemacht worden, wie-wohl wir zu dem Ergebnis gekommen sind, dass man ei-niges noch verbessern könnte.Wir haben aber auch Einblick in den amerikanischenWeg, Terrorismus zu bekämpfen, bekommen. Guan-tánamo, Rendition und Waterboarding sind Begriffe, dieich mit nichts Gutem verbinden kann.
Das ging Murat Kurnaz nicht anders. Die Frage, die hiergestellt werden wird – auch wir im Untersuchungsaus-schuss haben versucht, sie zu ergründen –, ist: Hätte manMurat Kurnaz früher aus Guantánamo abholen können?Musste es so lange dauern, bis die Kanzlerin AngelaMerkel dafür gesorgt hat, dass er aus Guantánamo ent-lassen wurde? Sie werden bei der Erörterung dieserFrage sehr schnell feststellen, dass ein Untersuchungs-ausschuss kein Gericht ist. Ich hätte mir aber manchmalgewünscht, Vorsitzender Richter einer Großen Strafkam-mer zu sein.
Ein Untersuchungsausschuss ist ein politisches Kampf-mittel. Da gibt es am Ende kein Urteil, sondern politi-sche Beurteilungen, und es findet sich jeder im Ergebnisder Beweisaufnahme wieder.Es war eine umfangreiche Aufgabe, die wir zu bewäl-tigen hatten. Eine weitere Frage, die zu beantworten war,war: Hat Rot-Grün unter Kanzler Schröder undSteinmeier der Bevölkerung die Unwahrheit gesagt?Wurde der Wähler bei der Frage, ob sich Deutschlandam Krieg der Amerikaner im Irak beteiligt hat odernicht, belogen? Auch dazu werden Sie politische Wer-tungen hören. Ich bin mir sicher, dass sich auch dabeiwieder ergeben wird, dass wir kein Gericht sind, dass
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25701
(C)
(D)
Siegfried Kauder
wir kein Urteil fällen, sondern dass es politische Beurtei-lungen geben wird.Die Arbeit im Untersuchungsausschuss war außeror-dentlich umfangreich. Ein weiterer Komplex wird hiereher nicht angesprochen werden, nämlich die soge-nannte Journalistenbespitzelung. Auf die hat der Deut-sche Bundestag mit dem Gesetz zur Neuordnung der Te-lekommunikationsmaßnahmen bereits angemessenreagiert. Die Rechte der Journalisten sind hinreichendgeschützt. Sie brauchen Quellen nicht offenzulegen.Auch die Politik hat darauf reagiert, indem man nichtmehr wie früher Journalisten als Quellen nutzt.Mir war von Anfang an klar, dass man einen derartumfangreichen Untersuchungsausschuss mit einem ge-wissen Konzept über die Hürden bringen muss. Gleicham Anfang habe ich mit den Ausschussmitgliedern Ver-einbarungen getroffen, dass wir kein Themen-Hoppingmachen. Wir haben einen Komplex nach dem anderenabgearbeitet. Dies hat weitgehend gut funktioniert. AmEnde darf ich festhalten, dass die Zusammenarbeit mitallen Ausschussmitgliedern zwar hin und wieder an-strengend gewesen ist, aber, da auf einer sachlichen Ba-sis debattiert wurde, immer zu Ergebnissen geführt hat.Ich danke den Obleuten aller Fraktionen für die koopera-tive Zusammenarbeit. Ich danke allen Ausschussmitglie-dern und insbesondere dem Stenografischen Dienst, deres mit uns bei den Wechseln zwischen öffentlichen,nichtöffentlichen und geheimen Sitzungen nicht immerleicht hatte.
Wir wurden von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern desDeutschen Bundestages hervorragend begleitet. Das giltauch für das Ausschusssekretariat, insbesondere HerrnDr. Berg, dem ich für seine kooperative Zusammenarbeitaußerordentlich danke.
Ein Untersuchungsausschuss ist kein Gericht. JedeMaßnahme muss durch einen Beschluss vorbereitet wer-den, und der Ausschussvorsitzende hat eine außerordent-lich schwache Position. Das heißt, er muss sich, wenn ernicht scheitern will, mit dem Ausschuss bei allen Fragenarrangieren. Ich kann mich noch daran erinnern, als dasThema anstand, einen Ermittlungsbeauftragten zu instal-lieren, der uns die Arbeit erleichtern sollte. Hier bin ichbeim Lesen des Gesetzestextes schier verzweifelt; derEingeweihte weiß, was ich meine. Wenn man sich § 10des Parlamentarischen Untersuchungsausschussgesetzesanschaut, der besagt, welche Prozedur zu bewerkstelli-gen ist, um einen Ermittlungsbeauftragen zu installieren,dann erkennt man sofort: Kooperatives Zusammenarbei-ten ist leichter. So habe ich mich von Anfang an dazuentschlossen, nicht zu polarisieren, sondern den Vorsitzdes Ausschusses möglichst neutral wahrzunehmen. Ichbin der Auffassung, dass dies für den Ausschuss gut ge-wesen ist.Am Ende bleiben für mich Fragen, die wir in diesemdeutschen Parlament vielleicht einmal diskutieren soll-ten: Kann man die Arbeit eines Untersuchungsausschus-ses nicht effizienter gestalten? Braucht man dazu dreiJahre? Bedarf es eines Abschlussberichtes von 1 400Seiten? Ich komme zu folgendem Ergebnis: Wenn mandie Position des Ausschussvorsitzenden stärkt, wennman ihm das Recht gibt, flexibler über Redezeiten zuverfügen, wäre einiges einfacher. Es war mir hin undwieder – zugestandenermaßen – ein Dorn im Auge, dassdie Redezeiten nach der sogenannten Berliner Stundevergeben wurden. Die kleinen Fraktionen hatten geringeRedezeiten. Ich kann mich an die eine oder andere Fra-gerunde des Kollegen Ströbele erinnern, wo ich den si-cheren Eindruck hatte, dass nur noch eine Frage fehlte,
bis er sich in einem Bereich zufriedengestellt fühlte. Ichkonnte sie aber nicht mehr zulassen, weil seine Zeit ab-gelaufen war.
– Ich korrigiere mich hiermit: Seine Fragezeit war abge-laufen. Dann ist er sicherlich zufrieden. – Da kann ichmir durchaus eine Änderung vorstellen.Ich habe auch überlegt, ob es gut ist, dass der Vorsit-zende und der stellvertretende Vorsitzende eines Unter-suchungsausschusses aus einer Regierungskoalitionkommen. Das bedeutet nicht, dass ich etwas gegen denstellvertretenden Vorsitzenden einzuwenden gehabthätte; aber es gibt im Untersuchungsausschuss das soge-nannte Vorsitzendenverfahren, bei dem „Geheim“ einge-stufte Akten nur von den Vorsitzenden eingesehen wer-den können. Die Akzeptanz wäre größer, wenn derstellvertretende Vorsitzende aus einer Oppositionsfrak-tion gekommen wäre. Ich könnte mir auch durchaus vor-stellen, diesen beiden mehr Rechte einzuräumen. Auchdas würde zu einer Verfahrensbeschleunigung führen.Darüber hinaus ist meines Erachtens der Aspekt über-legenswert, ob man einem Untersuchungsausschussnicht ein Zeitfenster vorgibt, innerhalb dessen er seineArbeit erledigt haben muss.
Das führt zu ein bisschen mehr Druck für die Untersu-chungsausschüsse. Ist die Arbeit nicht erledigbar, mussman einen Zwischenbericht erstellen und dem ParlamentRechenschaft ablegen, warum es länger dauert. – Sie se-hen, ich habe mir durchaus Gedanken gemacht, wie maneinen Untersuchungsausschuss effizienter gestaltenkann.Ich hoffe, ich habe diese Arbeit ordentlich über dieHürden gebracht. Ich bin der Meinung, dass der Aus-schuss insgesamt effizient gearbeitet hat. Über die Er-gebnisse wird man lange streiten können. Ich freue michschon auf die Redebeiträge, die sicherlich genauso kon-trovers ausfallen werden wie die im Untersuchungsaus-
Metadaten/Kopzeile:
25702 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Siegfried Kauder
schuss. Ich danke allen, dass sie mir genügend Spiel-raum für die Führung dieses Untersuchungsausschussesgelassen haben, und hoffe, dass sie unter meiner Leitungnicht zu stark gelitten haben.Danke schön.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Max Stadler, FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Dieser Untersuchungsausschuss war notwendig,und er war erfolgreich. Wir haben zahlreiche neue Er-kenntnisse zutage gefördert. Nur ein Untersuchungsaus-schuss konnte es leisten, die verschiedensten Vorgängeminutiös zu überprüfen. Aus Sicht der FDP kam er amEnde zu einem klaren Ergebnis. Dieses Ergebnis lautet:Nach dem 11. September 2001 sind leider auch inDeutschland wiederholt rechtsstaatliche Grundsätze beider Gefahrenabwehr massiv verletzt worden. Der Grundhierfür liegt in einer Fehlentwicklung im Denken; denndie Bundesregierung war der Meinung, die Rechte Ein-zelner müssten hinter einer vermeintlichen Staatsräsonzurücktreten. Das ist die Hauptursache all der Fälle, beidenen etwas schiefgelaufen ist und die wir untersuchthaben.Heute gab es zu unserer Debatte eine gewisse Be-gleitmusik aus dem Bundesinnenministerium. Dort hataufgrund terroristischer Bedrohungen eine Konferenzstattgefunden. Es ist richtig, dass sich die Sicherheitsbe-hörden darüber Gedanken machen. Es ging dort auch umdie Beschaffung und Verarbeitung von Informationen.Das ist selbstverständlich eine Grundaufgabe der Sicher-heitsbehörden. In einem Rechtsstaat müssen sich Nach-richtendienste und Polizei aber an die Regeln halten, dieihnen dieses Hohe Haus und die Verfassung vorgeben.
Es darf keine Sicherheitspolitik zulasten der Grund-rechte geben. Genau das mussten wir aber im Ausschussfeststellen.
– Die wesentlichen Ergebnisse nenne ich Ihnen gerne,Herr Kollege Oppermann.Erstens. Der Bundesnachrichtendienst hat rechtswid-rig Journalisten bespitzelt. Das war ein Eingriff in Per-sönlichkeitsrechte und in die Pressefreiheit.
Es war eine Provokation gegenüber dem DeutschenBundestag, dass diese Praxis fortgesetzt worden ist, in-dem E-Mails einer Journalistin erfasst worden sind, kurznachdem der Bundestag diese Praxis des BND öffentlichkritisiert hatte.
Zweitens. Die rot-grüne Bundesregierung hat durchden Bundesnachrichtendienst vor und während des Irak-kriegs Informationen aus Bagdad gewinnen und an dieUSA übermitteln lassen. Diese Informationen waren fürdie Kriegsführung durchaus von Bedeutung. Damit hatdie damalige rot-grüne Bundesregierung ein zentralesWahlversprechen gebrochen, nämlich sich nicht am Irak-krieg zu beteiligen. Das ist in diesem Ausschuss ganzdeutlich geworden.
Drittens. Das offizielle Nein der früheren Bundesre-gierung zum Irakkrieg führte zugleich dazu, dass mankeine zusätzlichen Streitpunkte mit den USA riskierenwollte. Joschka Fischer brachte dies in Bezug auf dieVerschleppung des unschuldigen deutschen Staatsange-hörigen Khaled el-Masri durch die Amerikaner deutlichzum Ausdruck. Der frühere Außenminister Fischerwurde in der Zeit vom 21. Dezember 2005 zitiert:El-Masris wegen wollte Berlin nicht den großenKrach anzetteln.Er hat der befreundeten Nation aber nicht einmal dendezenten Hinweis gegeben, dass die Methoden derBush-Administration zur Terrorabwehr nicht unsere Me-thoden sind.
Weil dies so war, sind wir der Auffassung: Es reichtnicht aus, sich im Bundestag in Resolutionen für dieSchließung von Guantánamo auszusprechen. Auch dasHandeln der Behörden in Einzelfällen muss an unsereneigenen rechtsstaatlichen Maßstäben gemessen werden.
Viertens. Als zwei Beamte des BundeskriminalamtsHerrn Khafagy kurz nach dem 11. September 2001 inBosnien vernehmen sollten, lehnten sie eine Verneh-mung vor Ort ab, weil Khafagy unter folterähnlichenUmständen inhaftiert war. Das rechtsstaatliche Gewissenwar zu diesem Zeitpunkt noch intakt. Die richtige Ent-scheidung der beiden Beamten lautete, dass es keine In-formationsgewinnung um jeden Preis geben darf.
Das war ein richtiger Grundsatz.Fünftens. In der Folgezeit kam es zu einem Paradig-menwechsel in der deutschen Sicherheitspolitik. Es galt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25703
(C)
(D)
Dr. Max Stadlerder von Otto Schily hier im Plenum oft vertreteneGrundsatz: „In dubio pro securitate“ – im Zweifel für dieSicherheit.
– Nein. – Es ist eigentlich selbstverständlich, dass manfür die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger eintritt;aber dieser Grundsatz führte in der Praxis dazu, dass dieGrundrechte Einzelner nicht mehr geachtet wurden. DasGrundgesetz verlangt aber eine Sicherheitspolitik unterBeachtung der Grundrechte, nicht unter ihrer Verletzung.
Im Zweifel für die Freiheit – das ist der Geist der Verfas-sung. Dagegen ist verstoßen worden.Ich nenne aus Zeitgründen nur ein einziges Beispiel,das verdeutlicht, wozu dieser Denkansatz geführt hat. Erhat zu einer von der Mehrheit im Bundestag getragenenGesetzgebung geführt, die das Bundesverfassungsge-richt immer wieder korrigieren musste, beispielsweisedas verfehlte Luftsicherheitsgesetz.Sechstens. Der Paradigmenwechsel im Denken wirktesich auch auf das Regierungs- und Behördenhandelnaus. Gegen Murat Kurnaz lagen keine stichhaltigen Be-weise, sondern nur vage Verdachtsmomente vom Hören-sagen vor. Da setzte aber die unerbittliche Logik des Prä-ventionsstaates ein. Die rot-grüne Bundesregierung setztesich nicht etwa für die Freilassung von Kurnaz aus Gu-antánamo ein, sondern verfügte – ganz im Gegenteil –eine Wiedereinreisesperre. Die schreckliche Wirkungwar eine Art Verbannung auf Verdacht. Diese Verdachts-mentalität war prägend für die Sicherheitspolitik.Murat Kurnaz war ironischerweise einer der Gewin-ner der Bundestagswahl 2005, weil die BundeskanzlerinAngela Merkel und der Außenminister Frank-WalterSteinmeier ihn nach jahrelanger Folter und Inhaftierungaus Guantánamo herausholten.
– Moment, meine Damen und Herren. – Warum Kanz-leramtschef Frank-Walter Steinmeier 2002 nicht einmalden Versuch unternommen hat, Kurnaz aus Guantánamofreizubekommen, bleibt für die FDP nach wie vor völligunbegreiflich. Ein Wort der Entschuldigung gab es bisheute nicht.
Herr Kollege Stadler.
Ich komme zum Schlusssatz, Frau Präsidentin.
Ralf Dahrendorf hat in seinem letzten Buch vor der
Gegenaufklärung als Reaktion auf den Terrorismus ge-
warnt. Diese Mahnung sollten wir ernst nehmen. Wir
müssen eine Sicherheitspolitik betreiben, die sich an den
Werten der Aufklärung und des Grundgesetzes orien-
tiert. Wenn der Untersuchungsausschuss dazu einen Bei-
trag geleistet hat, dann hat sich die viele Arbeit gelohnt.
Vielen Dank.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Michael Hartmann,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses hat esbereits ausgeführt: Es waren drei lange Jahre mit Ver-handlungen, Vernehmungen und Diskussionen zu sechsThemenkomplexen. Alles wurde gründlich und amSchluss in durchaus großer Kollegialität abgewickelt.Diese wurde vom Vorsitzenden gefördert und von na-hezu allen Mitgliedern des Ausschusses gezeigt. Des-halb will auch ich mit einem Dank an den Ausschuss, andas Ausschusssekretariat, an die Kolleginnen und Kolle-gen sowie an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter be-ginnen. Es sind schon tolle Leute, die einen in einemUntersuchungsausschusses unterstützen. Vielen Dankdafür!
Alle Komplexe – bis auf einen, den Journalistenkom-plex – befassten sich mit den Reaktionen Deutschlandsund der westlichen Welt auf die schrecklichen An-schläge vom 11. September. Deshalb möchte ich uns al-len noch einmal vor Augen führen, wie die Situation da-mals war. Es war die Hamburger Zelle um MohammedAtta, von der die dramatischen Anschläge in den USAausgegangen waren. Ganz Deutschland, die ganze west-liche Welt war in Aufregung. Natürlich hatte man in denUSA und anderswo sehr wohl im Auge, dass Deutsch-land Ausgangspunkt der Anschläge war.Deshalb war es richtig, dass wir mit US-amerikani-schen Stellen und mit anderen befreundeten Staaten imInteresse unserer eigenen Sicherheit gut und eng zusam-mengearbeitet haben. Es war überhaupt eine gute Zu-sammenarbeit der westlichen Welt im Kampf gegen denTerror. Wie dramatisch das war, scheinen viele, die der-zeit als Pharisäer und Schriftgelehrte auftreten, verges-sen zu haben. Ich bin froh, dass in jener Zeit genausoentschlossen wie besonnen, genauso freiheitlich wiekonsequent agiert wurde durch den damaligen Bundesin-nenminister Otto Schily und die damalige Bundesregie-rung, vor allem aber durch die vielen Beamtinnen undBeamten des mittleren, gehobenen oder höheren Diens-tes unserer Sicherheitsorgane. Wir haben allen Grund,ihnen – auch im Rückblick – Danke schön zu sagen.
Dieser Dank ist auch deshalb notwendig – Herr Kol-lege Dr. Stadler, Sie sind darauf eingegangen –, weil die
Metadaten/Kopzeile:
25704 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Michael Hartmann
Sicherheitslage in Wirklichkeit nicht so entspannt ist,wie wir uns es gemeinsam wünschen würden. Man mussdeshalb immer sehr aufpassen, dass in Debatten, wie wirsie nun zu führen haben, nicht zu viel Porzellan zerbro-chen wird. Am besten ist es, wenn kein Porzellan zerbro-chen wird. Wir brauchen nämlich gut funktionierende,hoch motivierte und engagierte Menschen in diesen Be-hörden, denen wir mit dem Ausschuss als politischemKampfinstrument nicht in die Beine treten dürfen, HerrKauder. Eigentlich geht es doch darum, sie zu unterstüt-zen.Deshalb greife ich gerne den Fall Khafagy auf, lieberHerr Dr. Stadler, den Sie eben erwähnt haben. HerrKhafagy war – in München lebend, aber mit ägypti-schem Pass – auf dem Balkan auf übelste Weise von US-Truppen festgesetzt worden. Dabei wurde er misshan-delt. Davon wussten wir, die deutsche Seite, nichts, alsuns das Angebot gemacht wurde, ihn dort nicht nur zubesuchen, sondern auch zu befragen. Das ist dann ge-schehen. Das Befragerteam ist ordnungsgemäß hinge-reist; denn es wäre möglich gewesen, dass wir Erkennt-nisse darüber erzielen, ob er eine Bedrohung fürDeutschland darstellt oder Erkenntnisse über Bedrohun-gen hat. Dann stellte man aber fest, ohne die Person ge-sehen zu haben, dass die Dokumente blutverschmiertwaren. Es wurde klar, dass dieser Mensch übel behandeltworden war. Deshalb war es gut und richtig und keineFrage eines langen Abwägens, dass die Beamten sichgegen eine Vernehmung entschieden haben. Dazubrauchten sie keine Extrarichtlinien oder besondere An-weisungen. Das sind gute deutsche Polizei- und Sicher-heitsbeamte gewesen, die ohne zusätzliche Anweisunggehandelt haben.
Das zeigt, dass Deutschland auch in dieser Ära korrektund positiv gehandelt hat.
Ich übertrage das auch auf alle weiteren Fälle, die wirim Ausschuss zu behandeln hatten. Auch dort gab eskein Mitmachen, kein Dulden oder ein Akzeptieren desüberzogenen Agierens der Vereinigten Staaten von Ame-rika. Wenn dieser Untersuchungsausschuss sich mit ei-nem Skandal befasst hat, dann ist das der Skandal, dassdie damalige Bush-Administration in ihrem berechtigtenund notwendigen Kampf gegen den Terror jedes Maßverloren hat und nicht den Terror bekämpft hat, sonderndurch Abu Ghureib und Guantánamo Generationen vonTerroristen gezüchtet hat. Das ist das Fehlverhalten, daswir öffentlich anzuprangern haben.Das gilt auch für den Fall des Murat Kurnaz. DieserMann war – wenn wir ehrlich sind – nicht gerade engels-gleich. Angeblich um seine religiöse Bildung zu vertie-fen, reiste er wenige Wochen nach dem 11. Septemberausgerechnet ins pakistanische Bergland. Um seine reli-giöse Bildung zu vertiefen, war er mit Springerstiefeln,Khakihosen und Feldstecher ausgerüstet. Ausgerechnetum seine religiöse Bildung im pakistanischen Berglandwenige Wochen nach dem 11. September zu vertiefen,ist dieser Mann mit einem Ticket gereist, das von einembekannten Gefährder bezahlt wurde. Um seine religiöseBildung zu vertiefen, hat dieser Mensch, der kein WortArabisch spricht – er ist türkischer Staatsbürger –, beivielen Adressen angeklopft, wurde aber immer wiederabgewiesen. Um nicht missverstanden zu werden: Dasrechtfertigt nicht für eine Sekunde das, was ihm wider-fahren ist, nachdem er in die Hände der US-Streitkräftegeraten war.
Ich sage das deshalb, weil es zu jener Zeit richtig war,dass deutsche Sicherheitsbehörden wenige Wochen nachdem 11. September der Meinung waren, dass er eine ge-fährliche Figur sei, eine Figur, die man im Blick behal-ten müsse. Das war gut, richtig und notwendig.
– Wenn Sie versuchen würden, Ihre Gedanken zuordnen, dann würden Sie feststellen, liebe KolleginDağdelen, dass Guantánamo eine Einrichtung der USAwar. Die damalige Bundesregierung hat sehr früh undsehr deutlich – übrigens unter heftigem Protest der da-maligen Opposition – gegen dieses menschenrechtswid-rige Lager interveniert.
– Es gab Briefe, sehr geehrter Herr Stadler, und Stellung-nahmen, beispielsweise durch Außenminister Fischer.Diese haben wir auch im Ausschuss behandelt. Darauf-hin gab es wütende Reaktionen der damaligen Opposi-tion, die forderte,
dass man doch nicht in einer solchen Sicherheitslage ge-schmäcklerisch mit diesem Thema umgehen sollte.
Wie dem auch sei, meine Damen und Herren, ich sageeines: Wer sich im Jahre 2005 für die Freilassung desHerrn Kurnaz – der so zu bewerten war, wie ich es sagte– eingesetzt hat, der sollte sich heute wahrhaftig nichtanstellen, wenn es darum geht, Personen, die eindeutigunschuldig sind, hier in Deutschland im Zuge eines hu-manitären Aktes aufzunehmen. Hier können wir unsereGlaubwürdigkeit unter Beweis stellen.
Gut, wenn die Kanzlerin gemeinsam mit Bundesaußen-minister Steinmeier für Herrn Kurnaz gekämpft hat,noch besser, wenn wir jetzt die Leute, die die USA frei-lassen wollen und die nicht in ihre Heimatländer zurück-kehren können, ausnahmsweise im Zuge eines humani-tären Aktes aufnehmen. Helfen Sie mit dabei, damit wirdas gemeinsam hinbekommen!
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25705
(C)
(D)
Michael Hartmann
Ich sage das vor allem in Richtung der Innenpolitiker derUnion.Der größte Aufreger – anscheinend nicht für FrauDağdelen, sondern für die breite Öffentlichkeit – war inder Tat das Thema Bagdad. Deshalb möchte ich einenMoment lang auch an die tatsächliche Geschichte erin-nern. Es war so, dass sich Deutschland eindeutig undunmissverständlich von diesen illegitimen und men-schenrechtswidrigen Kriegsbemühungen der US-ameri-kanischen Seite abgewandt hatte.
Deshalb war es auch klar, dass wir es in dieser Zeit sehrschwer hatten, eigene Informationen zu erhalten. Des-halb war es richtig, dass wir damals mit eigenen Agentenin Bagdad präsent waren, um ein eigenes Lagebild zu er-halten.
Das war ebenfalls gut, richtig und notwendig. Diese In-formationen, die wir erhalten haben,
wurden zu keinem Zeitpunkt genutzt, um die taktisch-operative Kriegsführung der USA zu unterstützen. Werim Ausschuss dabei war – ich hatte den Eindruck, Sieseien dabei gewesen –, kann sich vielleicht dunkel daranerinnern, dass jede einzelne Meldung, die das SET ausBagdad geliefert hat,
von mir dem relevanten Zeugen 38B präsentiert wurde.Keines dieser Daten hat dazu gedient, um die taktisch-operative Kriegsführung zu unterstützen.Ich sage Ihnen noch eines: Die USA hätten uns auchgar nicht gebraucht. Sie haben unsere Unterstützung inder Zeit auch gar nicht gewollt. Das Verhältnis war nichtgerade freundschaftlich.
Sie hätten uns erstens nicht gebraucht, weil sie selbst mitnahezu 100 eigenen sogenannten Rockstars in Bagdadunterwegs waren, und zweitens, weil sie mit Drohnenund anderen technischen Möglichkeiten jeden Parksün-der in Bagdad ermitteln konnten. Da sollen die zweiAgenten, die im Keller der französischen Botschaft wäh-rend der Bombenangriffe um ihr Leben fürchten muss-ten, tatsächlich Kriegsrelevantes geliefert haben? Das istabsurd und grotesk.
Eines verstehe ich nicht, Herr Ströbele: Ich kann zwarnachvollziehen, warum die Union in der Form agiert,wie sie agiert – sie will nämlich den Kanzlerkandidatender SPD beschädigen –,
ich kann aber nicht nachvollziehen, dass Sie einer Des-avouierung der damaligen rot-grünen Friedenspolitik dieHand reichen. Das werde ich niemals verstehen, sehr ge-ehrter Herr Ströbele.
Gut, Sie kommen zu dem Ergebnis, die bösen Schurkenwaren bei der SPD, aber Fischer, der reine Tor, schwebtedamals durch die Hallen des Auswärtigen Amtes, nichts-wissend und nichtsahnend. Wer soll Ihnen das eigentlichglauben, Herr Ströbele? Überlegen Sie einmal, ob Siesich da nicht ganz falsche Themen und ganz falscheBündnispartner ausgesucht haben.
In Richtung der Union sei eines gesagt: Wer mag,kann gerne das Thema „Agenten in Bagdad“ zum Wahl-kampfschlager erheben. Ich freue mich darauf, einmaldarüber zu diskutieren, wer damals unter Inkaufnahmevon Nachteilen und Repressionen bereit war, eine konse-quente Friedenspolitik durchzusetzen und durchzuhal-ten, oder wer damals bei George W. Bush auf dem Schoßsaß und ihm versicherte, nicht alle in Deutschland wür-den so wie Rot-Grün denken, und die Meinung vertrat,ein Kriegseinsatz sei möglicherweise nötig und Deutsch-land solle sich daran beteiligen.
Ich bin froh, dass wir zwei Agenten in Bagdad hatten,um uns ein eigenes Lagebild machen zu können. Ich binfroh, dass wir niemals auch nur einen Soldaten nachBagdad geschickt haben.
Sie, meine Damen und Herren, werden keinem Sozialde-mokraten den Stolz darauf nehmen können, dass sich dieSPD damals eindeutig als Friedenspartei erwiesen hat.Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Untersu-chungsausschuss mit ganz spannenden Phänomenen istzu Ende gegangen. Da gab es Zeugen aus den USA, ehe-malige Geheimdienstmitarbeiter, ehemalige Offiziere,die gravierende Vorwürfe erhoben haben und alles insWanken hätten bringen können. Aber wenn es ernstwurde, sind sie trotz Vorladung nicht erschienen. Dies istspannend, interessant und bemerkenswert auch in punctoGlaubwürdigkeit der Aussagen.Wir befinden uns nun am Ende eines Untersuchungs-ausschusses, der viele Feststellungen getroffen hat, dieman bereits in uralten Berichten an das ParlamentarischeKontrollgremium nachlesen konnte. Aber, sehr geehrterHerr Stadler, wir sind auch am Ende eines Untersu-
Metadaten/Kopzeile:
25706 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Michael Hartmann
chungsausschusses, dem es gelungen ist, diesen wirklichskandalösen Fall der Journalistenbespitzelung aufzuar-beiten. Er hat es geschafft, dass die parlamentarischeKontrolle unserer Nachrichtendienste verbessert und op-timiert wurde. Das ist gutes und konstruktives Zusam-menarbeiten im Interesse unserer inneren Sicherheit, undso sollten wir weitermachen, wenn sich der Pulverdampfverzogen hat.Vielen Dank.
Ich gebe dem Kollegen Dr. Norman Paech für die
Fraktion Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sie haben es gehört: Es waren drei Jahre harte Arbeit,
und auch ich frage mich natürlich, ob sie erfolgreich war.
Lieber Kollege Hartmann, es ist ganz anders. Denn unser
Befund über die Rolle der Regierung und der Sicher-
heitsdienste ist miserabel ausgefallen.
Um es zusammenzufassen: Seitdem die Terrorismus-
bekämpfung ab dem 11. September 2001 zu einem zen-
tralen Element der deutschen Innen- und Außenpolitik
geworden ist, hat bei Regierung und Sicherheitsbehör-
den eine erschreckende Erosion der Maßstäbe des
Rechtsstaats und der Vorstellungen der Rechtsstaatlich-
keit eingesetzt.
Der Krieg gegen den Terror, den die USA ausgerufen
haben, hat die Bundesregierung in eine vollkommen
falsch verstandene Bündnistreue zu ihrem NATO-Part-
ner geführt und sie letztlich zum Komplizen schwerer
Menschenrechtsverletzungen gemacht.
Die Bundesregierung hat nämlich nicht nur der CIA
pauschale Überflugsrechte über deutsches Territorium
und logistische Unterstützung bei ihren Verschleppungs-
flügen Terrorverdächtiger gewährt. Vielmehr hat sie
durch eigene Vernehmungen der Verschleppten und In-
haftierten selbst von der Folter profitiert. Die Bundesre-
gierung hat Hilfe für die Inhaftierten in ihrer wirklich
menschenrechtswidrigen Situation unterlassen, aber zu-
gleich Personendaten an die USA und an Staaten, die
überhaupt keinen Datenschutz kennen, weitergeleitet.
Und schließlich hat sie den USA direkte und auch aktive
Beihilfe in ihrem Krieg gegen den Irak im Jahr 2003 ge-
leistet.
Ich will Ihnen das an vier Beispielen kurz erläutern.
Erstens. Anfang Dezember 2001 wurde der Deutsch-
Syrer Mohammed Haydar Zammar von US-Kräften in
Marokko entführt und nach Syrien gebracht. Nach
Marokko war Zammar Ende Oktober von Hamburg aus
gereist, obwohl der Generalbundesanwalt zu der Zeit
gegen Zammar wegen Mitgliedschaft in einer terroristi-
schen Vereinigung nach § 129 a StGB ermittelt hat. Er
war der massiven Unterstützung von al-Qaida und auch
der massiven Unterstützung des und Kontakten zum
Osama-bin-Laden-Netzwerk verdächtig.
Er stand zwar unter ständiger Beobachtung, erhielt
aber in Hamburg ohne Weiteres und ohne Probleme ei-
nen Reisepass, obwohl ihm der Pass nach den geltenden
Bestimmungen des Passgesetzes hätte vorenthalten wer-
den müssen.
Seine Reisedaten wiederum wurden den USA und auch
Marokko übermittelt. Und erst diese rechtswidrige Er-
möglichung der Ausreise Zammars aus Deutschland
nach Marokko
hat ihn dort in die Situation gebracht, die dann zu der
Entführung nach Syrien führte.
– Lesen Sie das im Bericht nach. All das ist dokumen-
tiert.
Herr Kollege, der Herr Kollege Oppermann würde
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Gerne.
Herr Kollege Paech, ist Ihnen bekannt, dass in derBundesrepublik Deutschland allgemeine Reisefreiheitherrscht?
– Auch Ausreisefreiheit. – Ist Ihnen auch bekannt, dassjemandem, gegen den nichts vorliegt, die Gewährung ei-nes Passes nicht verweigert werden kann?
Ich bitte Sie, einmal darzustellen, warum die Ausstel-lung eines Passes an Herrn Zammar eine rechtswidrigeMaßnahme gewesen sein soll.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25707
(C)
(D)
Herr Oppermann, Sie sind Jurist. Sie werden daher si-
cherlich § 7 des Passgesetzes kennen. Darin heißt es,
dass ein Pass zu versagen ist,
wenn ein Verdacht auf Gefährdung der Sicherheit
Deutschlands, also beispielsweise ein Terrorismusver-
dacht, vorliegt. Das heißt, es ist nicht nur „kann“,
sondern das ist dann so. Dann wird der Pass verweigert.
Diese Prüfung ist gemacht worden. Obwohl wegen
Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung er-
mittelt wurde, hat man gesagt, dass eigentlich nichts vor-
liegt. Das ist rechtswidrig.
Sie wissen auch: Nachdem Zammar dann von den
Amerikanern nach Syrien verschleppt worden war,
wurde er in syrischer Haft – er befindet sich noch heute
dort – gefoltert. Es war schon damals bekannt, dass es in
Syrien dieses Foltergefängnis gibt. Dennoch reisten Be-
amte des Bundeskriminalamtes nach Syrien, befragten
Zammar und haben ihre Erkenntnisse danach dem Gene-
ralbundesanwalt übermittelt. Das ist ein Hohn auf ein
rechtstaatliches Verfahren und ein Hohn auf das Folter-
verbot.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Stadler?
Ja.
Herr Kollege Professor Paech, Sie haben gerade dar-
gestellt, dass es ziemlich eigenartig anmutet, dass man
jemandem, der verdächtig war, die Ausreise gestattet
hat. Man hat am Flughafen sogar einen Beamten plat-
ziert, der überprüfen sollte, ob er wirklich ausreist. Dann
ist derjenige spurlos von der Bildfläche verschwunden.
Jetzt haben viele, die sich mit dieser Thematik wahr-
scheinlich noch nicht befasst haben, empört reagiert und
sich gefragt, wie man denn auf die Idee kommen könnte,
jemandem einen Reisepass zu verweigern. Der Spiegel
hat am 30. Mai 2009, also vor Kurzem, auf Seite 19 un-
ter der Überschrift „Ausreiseverbot nach Pakistan“ be-
richtet, es sei nach Erkenntnissen einer Arbeitsgruppe
von Polizisten und Verfassungsschützern eine stark ver-
mehrte Reisetätigkeit zu beobachten. Weiter heißt es
wörtlich:
Wenn möglich, wollen die Sicherheitsbehörden ihre
Abreise verhindern, indem die Polizei beispiels-
weise den Reisepass einzieht.
Das ist Praxis im Jahr 2009.
Stimmen Sie mit mir überein, dass man sich zumin-
dest Gedanken darüber machen kann, warum das, was
2009 von den Sicherheitsbehörden praktiziert wird, im
damaligen Fall nicht praktiziert wurde und der Betrof-
fene dann anschließend verschleppt worden ist?
Das ist mir bekannt. Der Fall, den Sie zitieren, istnicht der erste Fall seiner Art. Schon bei anderen Gele-genheiten – zum Beispiel dann, wenn Oppositionelle zuG-8-Treffen reisen wollten – ist Personen die Ausreiseverboten worden.
Das ist Praxis. In diesem Fall ist es sogar so, dass zweiBKA-Beamte zur Passstelle nach Hamburg gefahrensind, um sich zu erkundigen, ob dort etwas vorliegt. Alsdieses verneint wurde, waren sie zufrieden. Diese Beam-ten haben auch am Flughafen nachgefragt und zurückge-meldet, dass nichts vorliegt und eine Ausreise möglichist. Die entsprechenden Daten wurden an die USA undMarokko übermittelt. Schließlich kam es dazu, wozu eskommen musste, nämlich dass die Personen nach Syrienentführt und dort gefoltert wurden. Dieser Weg ist widerjegliches rechtstaatliche Verfahren. Man wusste, dass siein Syrien im Gefängnis Far-Filastin gefoltert wurden.Dieses ist ein Hohn auf das Folterverbot. Das ist die Tat-sache.
Ich möchte jetzt das zweite Beispiel nennen. DasSchicksal des Bremers Murat Kurnaz ist Ihnen weithinbekannt. Wir werfen der damaligen Regierung vor, dasssie auch ihn trotz Kenntnis seiner menschenunwürdigenInhaftierung vernehmen ließ, ohne irgendetwas gegenseine skandalöse Verhaftung zu unternehmen und ohneihm aus dieser gegen alle Menschenrechte verstoßendenSituation zu helfen. Darüber hinaus haben sich deutscheBehörden bis 2006 geweigert, Murat Kurnaz wieder inDeutschland aufzunehmen. Auch das zeugt von einerVerwilderung der rechtsstaatlichen Vorstellungen. Au-ßerdem zeugt der Umgang mit diesem Menschen von er-heblichen moralischen Defiziten.
Ein drittes Beispiel. Bereits Wochen nach den An-schlägen von jenem September kam es zu den erstenEntführungen deutscher Staatsbürger. Die Bundesregie-rung erfuhr von diesen illegalen Verschleppungen nochim selben Jahr. Gleichwohl versorgte sie die US-Behör-den intensiv mit ihren Erkenntnissen über die Ver-
Metadaten/Kopzeile:
25708 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Dr. Norman Paechschleppten. Ja, sie hat das Netz der Verschleppungsflügeder USA über Jahre gefördert, nämlich dadurch, dass sieeinfach weggehört und weggesehen hat, wenn die CIAdeutschen Luftraum und deutschen Boden nutzte. Wasist das für ein Verständnis von Souveränität, wenn mansie opfert, um illegale Verschleppungsflüge zu ermögli-chen?Ein viertes Beispiel. Die Untersuchungen haben ein-deutig ergeben, dass die Bundesregierung mit dem Ein-satz ihrer BND-Mitarbeiter in Bagdad wie in Doha einensehr konkreten und sehr aktiven Beitrag zu der Kriegs-führung der USA geleistet hat. Herr Hartmann, das ha-ben uns selbst Militärs, die dabei gewesen sind, bestä-tigt. Die permanente Versicherung, man habe sich nurauf die Weitergabe sogenannter Non-Targets beschränkt,hat sich als vollkommen substanzloses Gerede herausge-stellt. Nicht umsonst – auch daran ist zu erinnern – ha-ben diese BND-Mitarbeiter von der US-Heeresführungwegen ihrer wertvollen Tätigkeiten nicht ganz unwich-tige Verdienstmedaillen bekommen. Noch schlimmer istFolgendes: Der Krieg war nicht nur ein Bruch des Ver-sprechens der SPD, sich nicht am Krieg zu beteiligen,sondern der Krieg war eindeutig völkerrechtswidrig,
und jede Beteiligung daran war ebenfalls ein schwererVerstoß gegen das Völkerrecht.Die Frage ist natürlich, wer für all diese Verfehlun-gen, für diesen Verlust an rechtsstaatlichem Bewusstseinverantwortlich ist. Auf jeden Fall natürlich die Spitzender Sicherheitsbehörden, aber auch der damalige Chefdes Kanzleramtes und Beauftragte der Bundesregierungfür die Sicherheitsbehörden, der jetzige AußenministerSteinmeier, der es offensichtlich vorzieht, sich dasGanze heute bei Phoenix anzuschauen. Der Außenminis-ter war über alle Verschleppungsfälle frühzeitig infor-miert. Spätestens seit der Inhaftierung von Kurnaz imJanuar 2002 wusste er von der illegalen Verschleppungs-praxis der USA. Er war dafür verantwortlich, dass dierechtsstaatlichen Maßstäbe in geradezu rasantem Tempoeiner falsch verstandenen Loyalität und Bündnisver-pflichtung gegenüber den USA geopfert wurden. Vielschlimmer ist: Bis heute behauptet er trotz ganz eindeuti-ger Beweise des Ausschusses, dass er erst 2005 von alldem sicher gewusst habe. Dieses beharrliche Leugnen– ich will es einmal vorsichtig ausdrücken – ist beileibekeine Empfehlung für weitere, vielleicht sogar höhereRegierungsverantwortung.
Was folgt daraus? Wir stellen drei Forderungen auf:Erstens. Die Linke fordert eine peinlich genaue Kon-trolle aller Flugbewegungen der CIA, und zwar auch aufden Militärstützpunkten der USA. Zudem fordern wirein strafbewehrtes Verbot, deutsches Hoheitsgebiet fürGefangenentransporte zu nutzen.Zweitens. Wir fordern, dass Befragungen von Perso-nen, die unter Bedingungen inhaftiert sind, die Foltergleichen, definitiv verboten werden. Bis heute sind Be-fragungen ohne Haftbefehl in ausländischen Haftanstal-ten nicht generell untersagt. Es besteht nicht einmal diePflicht, dass man sich vorher informiert, welche Zu-stände in diesen Gefängnissen herrschen. Das ist unhalt-bar und verletzt die absolute Pflicht, der Folter keinenVorschub zu leisten.Letztens. Die Kontrolle der Geheimdienste ist nachwie vor lückenhaft. Daran hat sich nichts Entscheiden-des durch das, was die Presse das jüngste „Reförmchen“des Parlamentarischen Kontrollgremiums nennt, geän-dert. Nach wie vor sind die Rechte der Minderheiten völ-lig unzureichend.
Dies ist eines der größten Defizite, die wir während un-serer Arbeit im Untersuchungsausschuss erfahren muss-ten. Lesen Sie sich einmal die Voten der Koalitiondurch! Dann werden Sie merken, dass die Opposition –
Herr Kollege!
– ich komme gleich zum Ende – die einzige Kraft
war, die einen wirklichen Aufklärungswillen gehabt hat.
Dieser wurde aber nicht nur durch die restriktive Infor-
mationspolitik der Regierung, sondern zum Teil auch
durch massive Blockade seitens der Koalitionsfraktionen
behindert.
Herr Kollege, Sie wollten jetzt zum Ende kommen.
Ich bin mehrmals unterbrochen worden.
Ich habe für diese Zeit die Uhr gestoppt; die Redezeit
ist da nicht weitergelaufen. Sie hatten sowieso mehr Re-
dezeit. Ich bitte Sie, jetzt nur noch einen Schlusssatz zu
sagen.
Wo die Kontrolle bei der Mehrheit wirklich zur Weiß-
wäsche verkommt, müssen die Rechte der Minderheiten
gestärkt werden.
Ein allerletztes Wort. Diese Untersuchung wird nur
dann erfolgreich sein, wenn sich die Regierung in Zu-
kunft wieder auf die rechtsstaatlichen Prinzipien besinnt
und die Reformen, die wir machen, durchsetzt.
Und ein allerletztes Wort des Dankes – –
Herr Kollege, ich schalte Ihnen jetzt das Mikrofon ab.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25709
(C)
(D)
Gut, dann werde ich den Dank an meine Mitarbeiterin
Sandra Obermeyer und meinen Mitarbeiter Jens
Lehmann zu Protokoll geben.
Danke schön.
Nächster Redner ist der Kollege Hans-ChristianStröbele, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Ich glaube, am Anfang muss ich zwei Sätze dazusagen – das wollte ich eigentlich gar nicht –, was Auf-gabe eines Untersuchungsausschusses ist. In einem Un-tersuchungsausschuss, Herr Kollege Hartmann, geht esnicht darum, dass die einen die Regierung gesundbetenund weißwaschen, während die anderen sagen: Wir müs-sen die „bashen“, wir müssen alles auf sie abladen undihnen alles Böse unterstellen.
Bündnis 90/Die Grünen und ich selber haben damalsdiesen Untersuchungsausschuss gefordert, obwohl wirwussten, dass es zentral um die Zeit der rot-grünenKoalition ging; denn wir wollten aufklären. Wir habengesagt: Ohne Ansehen von Personen, Parteien und Re-gierungskonstellationen klären wir auf.
Wir wollen die Fakten auf den Tisch bekommen, Fakten,die wir leider damals im Parlamentarischen Kontrollgre-mium nicht aufklären konnten. Deshalb stehe ich jetzthier und versuche, nüchtern ein Ergebnis vorzutragen.
Ich werde – das muss ich Ihnen leider sagen, HerrKollege Paech – hier jetzt nicht den Vorwurf gegen diedamaligen Behörden oder gar die damalige Bundesregie-rung richten, dass sie jemanden haben ausreisen lassen,der angegeben hatte, aus familiären Gründen wolle ernach Marokko reisen. Genauso wenig werde ich michdem anschließen, Herr Kollege Stadler, was ich in IhremBericht lese: Die Mitglieder der rot-grünen Bundesregie-rung haben die Akteneinsicht im Untersuchungsaus-schuss verweigert. Dazu kann ich nur sagen: Da musszeitlich etwas durcheinander gegangen sein; denn dierot-grüne Koalition gab es nicht mehr, als der Untersu-chungsausschuss eingerichtet worden ist.
Man sollte nicht immer versuchen, die Schuld nur nachParteizugehörigkeit, Opposition und Koalition, zu ver-teilen. Es bleibt genug übrig.Bevor ich in die Einzelheiten gehe, stelle ich als Ers-tes fest, dass eine erhebliche Verantwortung bei denBundesregierungen der 90er-Jahre liegt im Fall der Jour-nalistenbeobachtung, bei der rot-grünen Bundesregie-rung, aber auch bei der neuen Bundesregierung, die seit2005 am Ruder ist. Einen Vorwurf mache ich allen. Erbetrifft unsere Möglichkeiten als Parlament, die Bundes-regierung und die ihr unterstellten Sicherheitsdienste zukontrollieren. Wir alle haben übereinstimmend festge-stellt, dass alle Bundesregierungen ihren Verpflichtun-gen, das Parlamentarische Kontrollgremium oder gardieses gesamte Parlament zu informieren und uns Kon-trollmöglichkeiten zu geben, nicht nachgekommen sind.Das geht so nicht. Das ist eine Missachtung des Parla-ments. Wenn über solch wichtige Vorkommnisse und be-sondere Vorgänge nicht informiert wird, kann man sichdas Parlamentarische Kontrollgremium auch sparen.
Jetzt komme ich auf die einzelnen konkreten Punktezu sprechen – Herr Kollege Hartmann, an dieser Stellemuss ich mich mit Ihnen auseinandersetzen –: In Bagdadwaren damals zwei deutsche Soldaten im Dienst desBundesnachrichtendienstes, und ein weiterer deutscherSoldat im Dienst des Bundesnachrichtendienstes warbeim US-Hauptquartier in Katar. Die beiden Soldaten,die in Bagdad waren, haben Informationen geliefert, vondenen man schlechterdings nicht sagen kann, dass sienicht militärische Objekte oder mögliche Angriffszielebetrafen. Sie betrafen unter anderem die Republikani-schen Garden, Zwillingsgeschütze, einen Offiziersklubder Luftwaffe und ein Ausweichquartier des irakischenGeheimdienstes; das sind nicht gerade humanitäre Ob-jekte. Die Informationen, die ich Ihnen genannt habe,wurden von den beiden Soldaten nach Deutschland undan das US-Hauptquartier weitergeleitet.
Wer immer noch nicht glaubt, dass es sich um mögli-che militärische Ziele handelte, der sollte folgende Mel-dung, die diese Soldaten kurz vor Ende des Krieges ausBagdad geschickt haben, lesen: Bei uns um die Ecke, inder Straße neben der Botschaft, befinden sich Militär-quartiere, offenbar Quartiere von Würdenträgern des Mi-litärs. Dieser Meldung haben sie hinzugefügt: „Bittenicht mit Artillerie oder mit Raketen angreifen, sondernmit Special Forces“. Offensichtlich fürchteten sie, dasssie, wenn man diese Ziele mit der Luftwaffe angreift, zuden Kollateralschäden gehören.Lassen Sie mich aus den zahlreichen Mails, die ver-sandt worden sind, ein zweites Beispiel anführen. DerGardist schrieb aus dem CENTCOM, dass er nicht ver-steht, warum die Meldungen immer so spät kommen, daauf eine Anfrage nach gewissen Standorten in der Regelkonkrete Operationen vor Ort folgen. Er wollte die ent-sprechenden Meldungen also viel zeitnaher bekommen.
Metadaten/Kopzeile:
25710 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Hans-Christian Ströbele
Er hat deshalb gefordert, dass die Meldungen schnellerverschickt werden.
Das ist nicht zu bestreiten oder infrage zu stellen. Dassollte man auch nicht leugnen, sondern man sollte dieFrage stellen, wer die Verantwortung dafür trägt, dassder Bundesnachrichtendienst die Kriegführung der USAim Irak konkret unterstützt hat.Mir tut leid, dass das Ganze geschehen ist. Auch icherkenne hier einen erheblichen Widerspruch zu der Poli-tik, die ich vertreten habe und die die rot-grüne Koalitionvertreten hat. Ich kann nur sagen: Ganz offensichtlichsind Teile des Bundesnachrichtendienstes außer Kon-trolle geraten. Wenn man das nicht zur Kenntnis nimmt,wird man so etwas auch in Zukunft nicht verhindernkönnen.
Die Verantwortung dafür trägt der damalige Chef desKanzleramtes, der von den Einzelmeldungen wahr-scheinlich nichts gewusst hat; jedenfalls gibt es keine ge-genteiligen Beweise. Dennoch trägt er die politischeVerantwortung dafür, dass die Weisungen, die er ausdem Kanzleramt erteilt und an Herrn Hanning gegebenhat, ganz offensichtlich nicht nach unten weitergeleitetworden sind und deren Einhaltung nicht genügend kon-trolliert worden ist. Das ist eine Schuld, mit der er zu-rechtkommen muss. Deswegen hätte ich ihn gern heutehier gesehen.Jetzt komme ich zu einem anderen Punkt, der hier be-reits mehrfach erörtert worden ist: zur Lieferung vonInformationen des Bundeskriminalamtes und des Bun-desnachrichtendienstes an die Amerikaner. Dass die Si-tuation damals schwierig war, weiß auch ich. Trotzdemmüssen wir kritisieren, dass das Bundeskriminalamt undder Bundesnachrichtendienst seinerzeit ohne gesetzlicheGrundlage, sogar unter Verstoß gegen die damalige ge-setzliche Grundlage vorhandene Informationen schran-kenlos an die USA weitergegeben haben.Im Fall Zammar, aber auch im Fall Kurnaz wurdendiese Informationen sogar in Vorhaltungen und Verneh-mungen, die unter Folter durchgeführt wurden, benutzt.Somit hat man auch Vernehmungen unter Folter unter-stützt. Dass man damals konkrete Informationen überden in einem syrischen Geheimgefängnis sitzendenZammar gar an den syrischen Geheimdienst gebenkonnte, übrigens wiederum schrankenlos, verstehe ichbis heute nicht.Ich meine: Der Bundesnachrichtendienst hat sich da-mals schuldig gemacht, hat sich verwickelt in die Kriegs-führung der USA, die ohne Rücksicht auf das Völker-recht und ohne Rücksicht auf die Menschenrechte diesenKrieg gegen den Terrorismus geführt haben. Das müssenwir kritisieren, und damit müssen wir uns auseinander-setzen. Wir müssen sehen, wie wir damit in Zukunft bes-ser umgehen können.
Lassen Sie mich eine abschließende Bemerkung ma-chen. Ich glaube, die damals in der BundesregierungVerantwortlichen, die damals im Innenministerium Ver-antwortlichen, die damals im Kanzleramt Verantwortli-chen, haben die schwierige Situation nicht gemeistert,haben die rote Linie mehrfach überschritten.
Sie haben damit – das muss man feststellen – schwereVerantwortung auf sich geladen.Ich sage aber auch: Wir sollten nicht hochmütig sein!Wir alle, die wir hier sitzen, und auch die Medien inDeutschland haben nicht die notwendige Sensibilität da-für gezeigt, wie man in einer solchen Situation mit denMenschenrechten und dem Völkerrecht umgehten muss.Auch wir hatten Informationen: Es gab Meldungen. Esgab Warnungen von Amnesty International. Wir hattenerste Hinweise auf den Fall Kurnaz und den Fall Zammar,haben darauf aber nicht genügend reagiert. Diese Kritikziehe ich mir auch persönlich an.Ich frage mich – diese Frage sollten wir alle uns stel-len –, ob ich beim nächsten Mal, auch wenn es un-bequem ist, nicht mehr Courage zeigen kann, die Ein-haltung des Völkerrechts und die Achtung derMenschenrechte öffentlich einzufordern.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Kristina Köhler von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieCDU/CSU hatte in diesem Untersuchungsausschuss eineschwierige Aufgabe: Auf der einen Seite stand der Willenach umfangreicher Aufklärung der Vorwürfe gegen dierot-grüne Bundesregierung, und auf der anderen Seitestand mit der SPD unser Koalitionspartner im Zentrumder Kritik. Nun muss man einander in einer Koalitionnicht unbedingt schonen; aber man geht auch nicht hinund stellt Sachverhalte, an denen es begründete Zweifelgibt, als Tatsachen dar. Diese Art der Skandalisierung istein Mittel der Opposition; daran wollen wir uns auchheute halten.
Verkompliziert wurde die Sache auch dadurch, dasseine der Hauptfiguren des Untersuchungsausschussesder Zeuge Frank-Walter Steinmeier war. Es ist ganz klar,dass die SPD ihren Kanzlerkandidaten verteidigt undversucht, ihn zu beschützen. Lieber Michael Hartmann,auch Sie haben eben versucht, all das, was die Union
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25711
(C)
(D)
Dr. Kristina Köhler
sagt, als Wahlkampfgerede abzutun. Das kann ich nichtverhindern. Aber ich kann eines sagen: Was wahr ist, dasist wahr, und das gilt auch in einem Wahljahr.
Man muss feststellen, dass die Koalitionspartner inzentralen Fragen zu unterschiedlichen Bewertungen ge-kommen sind. Beginnen wir in Bagdad. Über die Rolledes BND in Bagdad haben meine Vorredner bereits ge-sprochen. Fakt ist: Es gab zwei BND-Agenten inBagdad, und sie haben Informationen an die USA wei-tergeleitet. Fakt ist auch: Das alles geschah trotz desWahlversprechens von Gerhard Schröder aus demJahr 2002, dass sich Deutschland weder direkt noch indi-rekt am Irakkrieg beteiligen werde.
Die zentrale Frage für uns war: Welche Informationenwurden weitergegeben, und bedeutete diese Weiterlei-tung, dass sich Deutschland doch indirekt am Irakkriegbeteiligt hat? Die Konsequenz ist klar: Wenn es eine in-direkte Kriegsbeteiligung gab, dann kam Rot-Grün 2002nur durch eine Wahllüge an die Regierung.
Die Aufgabe, diese Fragen zu beantworten, hatte derehemalige Kanzleramtschef und Geheimdienstkoordina-tor Steinmeier. Er war dabei unglaubwürdig. Ich will dasan drei Punkten deutlich machen.Erstens. Herr Steinmeier hat es so dargestellt, als sei esin erster Linie, primär, darum gegangen, Nichtziele – völ-kerrechtlich geschützte Objekte wie Botschaften, Kran-kenhäuser etc. – an die USA zu melden. Fakt ist: Tat-sächlich betrafen weniger als 10 Prozent der Meldungensolche völkerrechtlich geschützten Objekte.
Das war eindeutig nicht der Schwerpunkt der Meldun-gen; das war ein untergeordneter Aspekt. Steinmeierzeichnete hier ein anderes Bild, und das macht ihn un-glaubwürdig.
Zweitens. Steinmeier behauptete, man habe die ge-sammelten Informationen primär für ein eigenes Lage-bild benötigt. Nun ist vollkommen klar: Es ist ein wichti-ges und legitimes Anliegen der Bundesregierung, sichum ein eigenes Lagebild zu kümmern. Deswegen gibt esauch keine grundsätzliche Kritik meiner Fraktion an demEinsatz der beiden BND-Agenten in Bagdad; das sageich ausdrücklich.
Frau Kollegin Köhler, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Ströbele?
Wir haben uns jetzt dreieinhalb Jahre lang so vieleFragen gestellt. Lassen Sie mir jetzt einmal diese achtMinuten, um mein Fazit vorzutragen.
Die Frage ist jedoch, wozu die rot-grüne Bundesre-gierung präzise Koordinaten von Stellungen irakischerFlugabwehrkanonen, Flugabwehrraketen und anderermilitärischer Einrichtungen brauchte. Diese Informatio-nen konnte nur einer wirklich gebrauchen, und das wa-ren die USA. Die USA waren mit den gelieferten Infor-mationen offenkundig sehr zufrieden. Sie haben denbeiden BND-Agenten eine Auszeichnung verliehen,nämlich die höchste Auszeichnung für Nichtkombattan-ten. Jedem der beiden BND-Agenten wurde in einerLaudatio gedankt für die – ich zitiere wörtlich –… wichtigen Informationen, die er dem Zentral-kommando der Vereinigten Staaten zur Unterstüt-zung der Kampfhandlungen im Irak zur Verfügungstellte …
Ich will hier gar nicht auf dieser Unterstützung derKampfhandlungen herumreiten; schließlich ersetzt eineLaudatio keinen Untersuchungsausschuss. Es ist abereindeutig Fakt: Die USA wollten Informationen; dieUSA haben Informationen angefordert; die USA habenInformationen vom deutschen Nachrichtendienst erhal-ten, und die USA waren glücklich mit diesen Informatio-nen.
Drittens – das ist der wichtigste Punkt –: Der damalszuständige Kanzleramtschef Steinmeier gab die Paroleaus, es dürften keine Informationen mit operativ-militä-rischer Bedeutung an die USA weitergeleitet werden.Das war also die Messlatte, die wir zu prüfen hatten.Steinmeier behauptete dann, diese Messlatte sei nichtgerissen worden. Es wurden aber Informationen an dieUSA weitergegeben, etwa die Positionen von Flugab-wehrstellungen, die Koordinaten von Schützengräben,der Zustand von Brücken, der Zustand eines bereitsbombardierten Offiziersklubs und die Koordinaten vonStellungen der Republikanischen Garde, der Elitetruppevon Saddam Hussein. Haben diese Informationen etwakeine militärisch-operative Bedeutung? Das habe ichHerrn Steinmeier im Untersuchungsausschuss gefragt.Was antwortete Herr Steinmeier? Er sagte mir, er könnedas nicht beurteilen, er sei nämlich kein militärischerExperte, sondern – ich zitiere wörtlich – „nur Oberge-freiter der Bundeswehr – und das im Jahr 1974“.
Metadaten/Kopzeile:
25712 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
Dr. Kristina Köhler
Was denn nun? Der Kanzlerkandidat Steinmeiersagte, diese Informationen hätten keine militärisch-ope-rative Bedeutung gehabt, der Obergefreite a. D.Steinmeier sagte, er könne nicht einschätzen, ob dieseInformationen militärisch-operative Bedeutung hatten.Wem von beiden sollen wir denn jetzt Glauben schen-ken?
Fakt ist: Einer dieser beiden Steinmeiers lügt.Deswegen halte ich fest: Es wurden Informationenvon militärischer Relevanz an die USA weitergegeben.Die rot-grüne Bundesregierung hat während des Irak-kriegs ein doppeltes Spiel gespielt. Deutschland hat sichindirekt am Krieg im Irak beteiligt. Die Aussage vonGerhard Schröder aus dem Jahr 2002 war nichts andersals eine Wahllüge, und für diese Wahllüge trägt auchFrank-Walter Steinmeier politische und moralische Ver-antwortung.
Kurz noch zu einem weiteren Punkt, zum Fall desBremers Murat Kurnaz. Hier sagen wir nicht, dass derAusschuss beweisen konnte, dass ein Angebot vorlag,Murat Kurnaz freizulassen. Wir wissen nicht, obDeutschland damals eine Chance hatte, Murat Kurnazfreizubekommen. Nur: Chancen muss man sich auch er-arbeiten. Ich kann nicht feststellen, dass sich das Bun-deskanzleramt hierbei besonders angestrengt hat,
und zwar im Gegensatz zum Auswärtigen Amt – dasmuss man sagen –: Dort hat man sich damals offensivfür eine Freilassung von Murat Kurnaz eingesetzt.Schlaglichtartig wird die Haltung des Kanzleramtesdeutlich, wenn man sich eine Notiz anschaut, die an eineE-Mail der deutschen Botschaft in Washington ange-hängt war. Ein Mitarbeiter von Steinmeier hat geschrie-ben – ich zitiere wörtlich –:Wenn die Botschaft Interesse an MK [MuratKurnaz] bekundet, muss doch auf US-Seite derEindruck entstehen, wir wollen ihn zurückhaben.Scheint mir etwas unkoordiniert zu verlaufen.Das ist an Zynismus kaum zu überbieten.
Dies hat sich erst unter der Kanzlerschaft AngelaMerkels geändert. Um den Anwalt von Murat Kurnaz zuzitieren:Das war eine Situation, wie wenn ein Schalter um-gelegt worden ist. Plötzlich liefen die Kontakte zumKanzleramt und Auswärtigen Amt so, wie ich mirdas vorher immer gewünscht habe.Meine Damen und Herren, offensichtlich lagen im FallKurnaz Welten zwischen dem humanitären Anspruchvon Rot-Grün und der tatsächlichen humanitären Hilfeim Einzelfall.
Ohnehin hat der Untersuchungsausschuss gezeigt:Bei Rot-Grün liegt Schein und Sein weit auseinander –bis hin zur Wahllüge.
Das Wort hat jetzt der Kollege Hellmut Königshaus
von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LieberKollege Ströbele, das mit Rot-Grün erklärt sich so: Esgab vorher den Visa-Untersuchungsausschuss. Dort ha-ben wir genau die gleichen Verhaltensweisen seitens dergrünen Mitglieder der Bundesregierung erlebt. Übrigenswar Joschka Fischer bei der Debatte über den Abschluss-bericht hier ebenfalls nicht anwesend. Wir haben ihn ge-nauso vermisst; Jerzy Montag wird sich daran erinnern.Es sind also die gleichen Verhaltensweisen. Deshalbsollten wir diesen Punkt etwas vorsichtiger angehen.Was die Union angeht: Das klang eben sehr gut. Wirhätten uns gewünscht, dass die Union nicht erst drei Mo-nate vor der Bundestagswahl, sondern schon etwas frü-her etwas mehr Aufklärungsintensität, etwas mehr Auf-klärungsinteresse zeigt. Aber ich weiß, dass Sie das nichtdurften.
Der Aufklärungswille der Koalition war – um es ein-mal vorsichtig zu sagen – insgesamt sehr gebremst. Zu-nächst wurde ein angeblich vollständiger Bericht, deralle Fakten enthalten sollte, vorgelegt, verbunden mit derBehauptung, ein Untersuchungsausschuss sei damitnicht mehr erforderlich. Dieser Bericht musste Punkt fürPunkt, Stück für Stück korrigiert werden, bis wir ein völ-lig neues Bild bekommen haben. Die Herausgabe vonAkten wurde in ungeahntem Ausmaß verweigert. Das,was wir vorher im Visa-Untersuchungsausschuss erlebthaben, wurde noch weit übertroffen. Es gab Schwärzun-gen in den Akten, die zum Teil an schwarze Messen er-innert haben.
Ich glaube, wir haben viele Dinge schon vergessen,zum Beispiel den großen Datenverlust bei der Bundes-wehr im Zusammenhang mit den dortigen Aufklärun-gen. Selbst der Tagesspiegel, der mit der Koalition beidiesem Thema sonst immer sehr nachsichtig war, hat da-mals geschrieben, mit den Daten sei wohl auch das Ver-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25713
(C)
(D)
Hellmut Königshaustrauen gelöscht worden. Ich glaube, das ist eine Feststel-lung, der wir uns noch heute anschließen können.
Selbst jetzt, wo wir von den Vorfällen dort wissen unddie Verdachtsmomente kennen, wird nichts getan, umder Frage nachzugehen, ob es in Europa Geheimgefäng-nisse gibt, ob beispielsweise in den Coleman Barracksbestimmte Bereiche abgesondert waren, ob dort Leutegefoltert wurden, wie manche Indizien zumindest andeu-ten. Im Ausschuss konnten wir das aus verschiedenenGründen nicht klären: wieder keine Daten und kein Inte-resse. Wenn man die Bundesregierung gefragt hat, dannhat sie uns dazu ebenfalls keine Auskünfte gegeben; al-lenfalls hat sie nichtssagende Erklärungen abgegeben.Das zeigt: Das war und ist eine gezielte, bis heute andau-ernde Verweigerung von Aufklärung.
Deutlich wird dies insbesondere an einem äußerenUmstand, den man leicht nachvollziehen kann. Es sindHaftbefehle gegen die bekannten Entführer erlassenworden; aber die Bundesregierung leitete sie nicht wei-ter. Auch dies zeigt, wie wenig Interesse an der Aufklä-rung tatsächlich besteht.
Damals gab es – das ist eben schon dargestellt worden –eine Solidarität aufseiten von Rot-Grün in Form von ge-meinsamem Wegsehen, Verschweigen und vorsätzli-chem Nichtwissen nach dem Vorbild der drei Affen:nichts hören, nichts sehen und dann, wenn man etwasweiß, nichts sagen. Was haben wir denn mit Otto Schilyerlebt? Botschafter Coats sagt: Wir haben jemanden ent-führt, offenbar den Falschen, aus Versehen; aber dudarfst niemandem etwas weitererzählen. Was macht OttoSchily, immerhin Innenminister und damit auch Verfas-sungsminister? Er sagt niemandem etwas darüber. Dasist Strafvereitelung im Amt. So kann das doch nicht lau-fen.
Ich will auch die Frage der CIA-Flüge ansprechen. Eswurde immer behauptet, das alles sei der Bundesregie-rung und dem Minister, der als Kanzleramtschef mit denGeheimdiensten vertraut war, erst später bekannt gewor-den; man habe das alles erst 2004 erfahren. Es war aberalles schon vorher – seit 2002 – in allen möglichen Zei-tungen zu lesen.
Es stand auf der Homepage von EUCOM – dessen Sitzist Stuttgart –, dass sich das Hauptquartier an den Rendi-tions, der Verbringung von Gefangenen nach Guan-tánamo, beteiligt. Die Bundesregierung behauptet, siehabe von all dem nichts gewusst. Das ist doch ein Ar-mutszeugnis für den Umgang der Bundesregierung mitden Nachrichtendiensten.Was hat die Bundesregierung getan, nachdem sie da-von erfahren hatte? Sie hat seitdem nichts getan, und siekann uns auch nicht garantieren, dass so etwas nicht wie-der passieren kann.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Es tut mir leid, Herr Präsident. Ich habe das Signal
gesehen und komme zum Schluss.
Das gestrige Urteil des Bundesverfassungsgerichts
lehrt uns, dass jeder in diesem Hause – auch aufseiten
der Koalition – die Verpflichtung hat, seinen Aufgaben
nachzukommen und die Regierung nicht nur zu unter-
stützen, sondern auch zu kontrollieren. Wenn wir diese
Erkenntnis in Zukunft auch auf Untersuchungsaus-
schüsse übertragen, dann schaffen wir in der Öffentlich-
keit ein besseres und, wie ich finde, verlässlicheres Bild
von der Arbeit dieses Parlamentes.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Johannes Jung von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ich kann mich sehr genau an den Tag erinnern, andem ich – damals noch nicht Mitglied des DeutschenBundestages – als langjähriger Abonnent der Süddeut-schen Zeitung auf Seite 3, glaube ich, einen der erstengroßen Berichte über die Entführung des deutschenStaatsbürgers el-Masri gelesen habe. Ich hätte mir da-mals nicht träumen lassen, dass mir als Mitglied einessolchen Untersuchungsausschusses einmal das Opferdieser Entführung leibhaft gegenübersitzt und ich dieGelegenheit habe – um es einmal so auszudrücken –, mitdiesem Herrn, mit diesem Landsmann über diesen un-glaublichen Vorgang zu sprechen und zu versuchen, einbisschen Licht ins Dunkel zu bringen.Wir sollten im Rahmen dieser Debatte auch einmalfeststellen, dass es weniger die Mitglieder des DeutschenBundestages waren, die Licht ins Dunkel gebracht ha-ben, als vielmehr die unnachlässig arbeitenden Damenund Herren der Staatsanwaltschaft, in diesem Fall derStaatsanwaltschaft München, auch im Verein mit Berufs-kolleginnen und -kollegen aus Italien und Spanien. Dassind für mich die wenigen Lichtblicke der dreijährigenArbeit dieses Untersuchungsausschusses. Deshalb ist esangemessen, ihnen von dieser Stelle aus im Rahmen die-ser Debatte dafür Respekt und der Anerkennung auszu-sprechen.
Wer zu Recht bemängelt, dass im sogenannten Kampfgegen den Terror die Rechtsstaatlichkeit beachtet wer-den muss – sie hat durch staatliches Handeln allzu oft
Metadaten/Kopzeile:
25714 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Johannes Jung
gelitten –, der muss froh sein, dass es aufseiten der drit-ten Gewalt noch einige gibt – ich hoffe, es gibt sie zu-hauf –, die das Maß nicht verlieren.Im krassen Gegensatz dazu stand nach meinem Emp-finden – ich habe das seinerzeit zum Ausdruck gebracht –der Auftritt des Vertreters der Bundesanwaltschaft, als esum die Causa Mannheim, die Coleman Barracks, ging.Dieser Herr kam mit einer – freundlich beschrieben –Nonchalance daher – ich habe das damals Nihilismus ge-nannt – und hat auf beharrliches Nachfragen aller Mit-glieder des Untersuchungsausschusses, ungeachtet derFraktionszugehörigkeit und der mutmaßlichen Verteidi-gungsstellung, in der man sich bei diesem taktischenSpiel befand, schulterzuckend zu verstehen gegeben, dassInteresse weder an diesem Thema noch daran bestand– das ist aus meiner Sicht das eigentlich Schlimme –, derÖffentlichkeit darzulegen – das war eine öffentliche Sit-zung –, weshalb die Bundesanwaltschaft möglicher-weise überhaupt nicht zuständig ist. Die Gelegenheitwurde nicht genutzt, sich ein bisschen verständlich zumachen. Dann wären wir auf die durchaus interessantenThemen zu sprechen gekommen: Welche internationalenVertragsverpflichtungen haben wir? Sind sie heute nochangemessen? Ich glaube, dann hätten wir die Chance ge-habt, eine andere politische Diskussion zu führen.Als Außenpolitiker haben sich mir noch ein paar an-dere Fragen gestellt. Wie ist es zum Beispiel um die Sou-veränität eines kleinen und phasenweise instabilen Lan-des wie Mazedonien bestellt, das offenkundig durcheinen mächtigen Verbündeten dermaßen unter Druck ge-setzt werden kann, dass die rechtsstaatliche Entwicklungin diesem Land – das ist ein durchaus interessantesThema – erhebliche Rückschläge erleidet, und das zulas-ten eines ausländischen, eines deutschen Staatsbürgers?Nun muss ich aber sagen – das erleben wir heute wie-der –, dass das große Taktieren in diesem Untersu-chungsausschuss überhandgenommen hat. Ich möchteauf das eingehen, was Frau Köhler stellvertretend fürzwei, drei andere zum Besten gegeben hat. Leiderspricht hier das ganz große schlechte Gewissen wegender Debatte in der eigenen Partei seinerzeit – das giltübrigens teilweise auch für die FDP –, wie man es mitder Loyalität zur Bush-Administration und der Frage„Krieg oder Frieden im Irak?“ halten soll. Am heutigenTag, an dem die US-Truppen langsam, aber sicher abzie-hen, muss ich feststellen: Mit Ihnen damals in der Regie-rung würden wir bestenfalls in diesen Tagen aus demIrak abziehen.
Die rot-grüne Regierungskoalition hat damals dafür ge-sorgt, dass wir uns dort nicht engagieren. Das ist dieschlichte Wahrheit.
Wenn ich höre, wie einige über die Brillanz und dieEffizienz der beiden BND-Beamten in Bagdad reden,muss ich annehmen: Wenn es doppelt so viele gewesenwären, dann hätten wir offensichtlich auch die Ölfelderin Kirkuk besetzt.Dabei möchte ich auf einen Punkt aufmerksam ma-chen, der in der Tat ernst zu nehmen ist und der viel-leicht in der politischen Debatte unter den Tisch gefallenist. Wer wie die beiden BND-Beamten in Bagdad statio-niert ist, weiß nicht, was tatsächlich passieren wird – al-les ist völlig ereignisoffen –, und kommt unweigerlich ineine gewissensmäßig sehr diffizile Situation: Leite ichdas, was ich weiß, komplett oder nur dosiert weiter? Dieeinzige Entlastung, die wir anbieten konnten, war, dass– richtigerweise – nur nach Pullach weitergeleitet wurde.
Herr Kollege Jung, erlauben Sie zum Schluss Ihrer
Rede – Ihre Zeit ist abgelaufen – eine Zwischenfrage?
Dann würde sich Ihre Redezeit verlängern.
Ich führe noch diesen Gedankengang zu Ende. Dann
kann der Kollege Königshaus seine Frage stellen.
Automatisch entsteht eine diffizile Situation: Was ma-
che ich mit den Informationen, die selbstverständlich
kriegsverkürzend sein können, die Opfer vermeiden hel-
fen können?
– Nein, das sage ich nicht auf einmal. Versuchen Sie,
mitzudenken! Denken Sie nicht nur in Ihren Schubladen!
– Da auch diese Frage gestellt und beantwortet werden
musste, haben wir zumindest dafür gesorgt, dass nur
nach Pullach gemeldet wurde und die beiden BND-Be-
amten in Bagdad in dieser Sache nichts selbst entschei-
den mussten.
Nun die Frage des Kollegen Königshaus.
Bitte eine kurze Frage und eine kurze Antwort. Die
Zeit ist längst abgelaufen.
Wie erklären Sie, Herr Kollege Jung, sich dann die
Tatsache, dass die beiden Beamten die höchste Aus-
zeichnung der Vereinigten Staaten für nichtamerikani-
sche Militärangehörige, die überhaupt zu vergeben ist,
bekommen haben, und zwar ausdrücklich mit der Be-
merkung „für außergewöhnliche Verdienste“ im Zusam-
menhang mit Kampfhandlungen? Wie erklären Sie sich
das angesichts einer doch offenbar völlig bedeutungslo-
sen und irrelevanten Aktion?
Da auch wir als Mitglieder einer Regierungsfraktionein großes Aufklärungsinteresse haben, haben wir unsdiese Frage natürlich ebenfalls gestellt und herausgefun-den, dass diese Medaillen zigtausendfach verliehen wer-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25715
(C)
(D)
Johannes Jung
den, aber nicht für Kampfhandlungen, wie Sie geradesagten.
– Das schauen wir noch einmal zusammen nach. – Faktist, dass sie zigtausendfach verliehen werden.
Damit ist die Frage eigentlich beantwortet: keine Rele-vanz. Uns hätte auch noch interessiert, wie es tatsächlichdazu gekommen ist. Deshalb wollten wir einige dieserfamosen Zeugen aus der US-Army und den US-Dienstenhören, die sich so nebulös und gezielt zu einem be-stimmten Zeitpunkt in der bundesdeutschen Presse geäu-ßert haben. Aber leider sind sie nicht aufgetaucht, ob-wohl wir sie geladen hatten. Dann hätten wir alle dasgenauer erfahren. So bleibt Ihnen leider Platz zur Speku-lation.
Vielen Dank. – Als nächster Redner hat der Kollege
Stephan Mayer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenKolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Die heutige De-batte zeigt wieder einmal sehr eindrucksvoll, dass dieBewertung der Notwendigkeit, der Sinnhaftigkeit undauch der Ergebnisse des Untersuchungsausschussesdurchaus auseinandergeht. Ich möchte aber – hoffentlichfür alle – feststellen, dass es ein wichtiges Ergebnis desBND-Untersuchungsausschusses gibt, nämlich dass dasInstrument des Untersuchungsausschusses ein außeror-dentlich bedeutsames, wichtiges parlamentarisches Gutist.
Die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses ist einwichtiges Minderheitenrecht. Ich möchte für uns alle imAusschuss in Anspruch nehmen, dass wir in den mehrals drei Jahren, in denen wir in dem Untersuchungsaus-schuss arbeiten durften – das war sehr arbeits- und zeit-aufwendig, teilweise auch nervenaufreibend –, die Ar-beit insgesamt außerordentlich ernst genommen und sehrseriös betrieben haben. Ich möchte dies insbesondere fürdie Unionsbundestagsfraktion in Anspruch nehmen. An-ders als von einigen Vorrednern behauptet, haben wirunser Aufklärungsinteresse deutlich zum Ausdruck ge-bracht, nicht immer zum Wohlgefallen unseres Koali-tionspartners.Gleichwohl muss man feststellen: Auch wenn der Un-tersuchungsausschuss meines Erachtens durchaus einBeispiel für hochqualitativen Parlamentarismus ist, gibtes Verbesserungsbedarf. Es gibt Verbesserungsbedarf,was das Gesetz zur Regelung des Parlamentarischen Un-tersuchungsausschusses betrifft. Das ist schon angespro-chen worden. Ich halte das Verfahren der BerlinerStunde nach wie vor für anachronistisch und vollkom-men unsinnig. Es stimmt eben nicht, was von manchenbehauptet wurde, nämlich dass manche Fragen von Ver-tretern der kleinen Parteien nicht gestellt werden durften.Am Ende des Tages durfte jede Frage gestellt werden.Die Frage war nur, wann. Ich halte es wirklich für voll-kommen widersinnig, dass ein Fragefluss unterbrochenwird. Ich glaube, man sollte hier zu einer anderen Vorge-hensweise übergehen.
Wir haben unsere Aufgabe sehr ernst genommen, wassich auch darin niederschlug, dass wir das Gesetz zurparlamentarischen Kontrolle unserer Geheimdienste undder Nachrichtendienste novellieren mussten, sowohl wasdas Formelle als auch was das Materiell-Rechtliche an-belangt. Wir haben die Novelle mit deutlicher Mehrheitim Deutschen Bundestag verabschiedet. Auch in dieserHinsicht haben wir einen wichtigen Auftrag, den dieserUntersuchungsauftrag hatte, erfolgreich umgesetzt.Eines möchte ich über alle Themenkomplexe hinwegfesthalten: Es gibt keinerlei Hinweise, dass die Bundes-regierung und Vertreter der deutschen Sicherheitsbehör-den direkt oder indirekt an der Entführung, an der Ver-schleppung oder an der Folter der Personen, mit denenwir uns auseinandersetzen mussten, beteiligt waren. Umes klar festzuhalten: All diesen Personen – MuratKurnaz, Khaled el-Masri, Khafagy, Zammar – ist außer-ordentlich großes Unrecht widerfahren. Sie sind gefol-tert, misshandelt und gedemütigt worden, teilweise überJahre hinweg. Das ist in keiner Weise zu rechtfertigen.
Aber es gibt – das möchte ich festhalten – keine Hin-weise, dass deutsche Sicherheitsbehörden an diesenMisshandlungen in irgendeiner Form beteiligt waren.
Auch das war ein wichtiges Ergebnis dieses Untersu-chungsausschusses.Es ist immer leicht, Dinge nach sechs oder sieben Jah-ren zu beurteilen.
In der Retrospektive ist so etwas immer einfacher.Gleichwohl muss man festhalten: Geheimdienste heißennun einmal Geheimdienste, weil sie geheim vorgehen.Deswegen muss man, was die Transparenz und die Öf-fentlichkeit der Arbeit der Geheimdienste anbelangt, im-mer gewisse relative Maßstäbe ansetzen. Das sollten wiruns ins Stammbuch schreiben.An dieser Stelle möchte ich ganz deutlich und ganzbewusst den Sicherheitsbehörden danken. Die Einsätzewaren zum Teil hochgefährlich, teilweise lebensgefähr-
Metadaten/Kopzeile:
25716 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Stephan Mayer
lich. Die beiden BND-Agenten, die ja einer der Haupt-knackpunkte in diesem Untersuchungsausschuss waren,haben einen lebensgefährlichen Einsatz gewagt. Ihnengilt der ausdrückliche Dank des gesamten Parlamentes.
Weil zuletzt ein etwas sonderbarer Zungenschlag indie Debatte kam, möchte ich eines feststellen: LieberHerr Kollege Jung, ich halte es für unanständig und un-redlich, uns als Unionsbundestagsfraktion zu unterstel-len, wir wären für den Einsatz von deutschen Bundes-wehrsoldaten im Irak gewesen. Das Gegenteil war derFall.
Sie als rot-grüne Bundesregierung haben sich als Ersteaus der Allianz der Weltgemeinschaft gegen SaddamHussein verabschiedet.
Das war ein großer Fehler. Ihnen ist jetzt ganz deutlichvor Augen geführt worden, dass die Mär, die Sie demdeutschen Wähler vor der Bundestagswahl 2002 erzählthaben, nämlich dass Sie die großen Friedensfürsten undwir die großen Kriegstreiber sind, ein für alle Mal ad ab-surdum geführt wurde.
Es ist festgestellt worden: Deutschland war am Irak-krieg beteiligt, zumindest indirekt in der Form, dass zweiBND-Mitarbeiter während des Irakkrieges einen, wiegesagt, hochgefährlichen, lebensgefährlichen Einsatz ge-wagt haben. Ich betone noch einmal: Ich rechtfertige imNachhinein diesen Einsatz. Aber Sie haben die Wahl ge-wonnen,
indem Sie eine List angewandt haben. Sie haben diedeutschen Wählerinnen und Wähler 2002 hinters Lichtgeführt und aufgrund dieser Wahllüge die Bundestags-wahl 2002 für sich entschieden.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, einwichtiger Komplex war die Frage, ob und inwiefernJournalisten durch den BND bespitzelt wurden. Auchhier hat sich der Untersuchungsausschuss meines Erach-tens seine Meriten verdient. Es ist klargemacht worden,dass zum Teil Journalisten großes Unrecht widerfahrenist. Insbesondere die Pressefreiheit ist in Teilbereichenmit Füßen getreten worden, um es ganz deutlich zu sa-gen.
An der Stelle möchte ich der Hoffnung Ausdruck verlei-hen, dass die Zusage des Bundesnachrichtendienstes gilt,dass zum einen Journalisten nicht mehr als Quellen ge-führt und zum anderen im Inland Journalisten nicht mehrbespitzelt werden.
Herr Kollege Mayer, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Ströbele?
Selbstverständlich; wie könnte ich diese verwehren!
Bitte schön, Herr Ströbele.
Herr Kollege, heute wurde bereits mehrfach von Lüge
geredet. Sie selber sind ja Jurist und Rechtsanwalt. Eine
Lüge ist immer eine bewusste Erklärung der Unwahr-
heit.
– Ja, Vorsatz. – Bezüglich des Bagdad-Einsatzes habe
ich selber festgestellt, dass dies eine Unterstützung war.
Aber wenn Sie dem Herrn Steinmeier – ich bin nicht un-
bedingt bekannt dafür, dass ich mich immer auf seine
Seite stelle – vorwerfen, er habe damals bewusst die Un-
wahrheit gesagt, also gelogen, dann müssten Sie eigent-
lich einen Beleg dafür haben, dass er darüber informiert
gewesen ist, welche Informationen aus Bagdad nach
Pullach und von dort an das US-Hauptquartier weiterge-
geben worden sind. Sonst sollten Sie mit dem Begriff
„Lüge“ in diesem Zusammenhang sehr vorsichtig sein.
Ich habe nach solchen Beweisen gefragt und gesucht.
Wir haben auch Zeugen dazu vernommen. Ich kenne sol-
che Beweise nicht. Können Sie mir welche nennen?
Vielen Dank für die Frage, lieber Herr KollegeStröbele. Sie wissen, ich komme aus Altötting, dem ka-tholischsten Wallfahrtsort Deutschlands. Deswegenzitiere ich auch gern aus der Bibel. In der Bergpredigtsteht: An ihren Taten sollt ihr sie messen. – An dieserStelle möchte ich unseren früheren BundeskanzlerSchröder zitieren, der in einer Fernsehansprache am20. März 2003 – das war der Tag, an dem die Luftan-griffe der US-Amerikaner auf den Irak begonnen haben –gesagt hat: „Deutschland beteiligt sich nicht an diesemKrieg.“ Wenige Wochen zuvor, am 13. Februar 2003,hatte er in seiner Regierungserklärung gesagt, es gebekeine direkte oder indirekte Beteiligung an diesemKrieg.
– Das war offenkundig gelogen; das haben wir im Unter-suchungsausschuss durch sehr intensive und akribischeArbeit zutage gefördert.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25717
(C)
(D)
Stephan Mayer
Ich muss an der Stelle ganz offen sagen: HerrSteinmeier hat in dieser Zeit eine sehr verantwortungs-volle Position innegehabt. Er war der Koordinator derSicherheitsbehörden.
Es ist davon auszugehen, dass ihm bekannt war, dasssich zwei BND-Mitarbeiter während des Irakkriegs inBagdad aufgehalten haben. In Bagdad gab es zu dieserZeit nicht allzu viele ausländische Agenten. Bagdad wardamals ein hochsensibles Gebiet und großes Kriegsfeld.
Es war keine Selbstverständlichkeit, zwei BND-Mitar-beiter in dieses schwierige Gefechtsfeld zu schicken.
Ich nehme an, dass der Koordinator der Sicherheits-behörden und der Nachrichtendienste in Deutschlandund somit auch das Bundeskanzleramt davon Kenntnishatten.
Deswegen hat sich die rot-grüne Bundesregierung, derSie damals angehörten, einer Wahllüge schuldig ge-macht hat;
denn Sie haben immer versucht, uns weiszumachen,Deutschland wäre keinesfalls am Irakkrieg beteiligt. Tat-sächlich war genau das Gegenteil der Fall.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ichmöchte zum Ende etwas versöhnlichere Töne anschla-gen und eine Lanze für unsere Sicherheitsbehörden bre-chen. Der Fall Khafagy wurde bereits erwähnt. HerrStröbele, Sie haben vorhin davon gesprochen, dass derBND außer Kontrolle geraten sei.
– Auch wenn Sie sagen, dass nur Teile des BND außerKontrolle geraten sind, trifft dies nicht zu. Es werdenFehler gemacht. Im Parlament werden Fehler gemacht;das haben wir vom Bundesverfassungsgericht vor zweiTagen deutlich vor Augen geführt bekommen. Es wer-den überall Fehler gemacht. Es werden natürlich auch ineiner Behörde wie dem BND mit ungefähr 7 000 Mitar-beitern Fehler gemacht. Insgesamt aber üben die Sicher-heitsbehörden – insbesondere die Nachrichtendienste inDeutschland, vor allem der Bundesnachrichtendienst –eine außerordentlich schwierige, hochverantwortungs-volle und sehr seriöse Tätigkeit aus.
Das gilt auch für die beiden Bundeskriminalamtsmitar-beiter, die Herrn Khafagy hätten vernehmen sollen. Siehaben sofort aufgehört, weitere Anstrengungen zu unter-nehmen,
als sie sahen, dass die Papiere blutverschmiert und dieAsservaten mit Blut kontaminiert waren, und haben so-fort die Rückreise angetreten. Das ist meines Erachtensein herausragendes und bemerkenswertes Beispiel fürdas sehr verantwortungsbewusste Handeln unserer Si-cherheitsbehörden.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Mayer.
In diesem Sinne darf ich Ihnen ganz herzlich für die
kooperative und sehr interessante Zusammenarbeit in
den letzten drei Jahren danken.
Vielen Dank.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich dem Kollegen Thomas Oppermann von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Im Jahre 2005 hat diese Bundesregierung – nicht dierot-grüne Bundesregierung, sondern die Große Koalition –einen Bericht mit den Stimmen der CDU-Minister und-Ministerinnen einstimmig beschlossen. Dieser Berichtan das Parlamentarische Kontrollgremium enthält zweiwesentliche Grundaussagen: Erstens. Die deutschen Be-hörden haben beim Krieg gegen den Terror die rote Liniezu keinem Zeitpunkt überschritten. Zweitens. Deutsch-land war nicht Kriegspartei im Irakkrieg. Wenn Sie, FrauKöhler und Herr Mayer, jetzt zu einer etwas anderen Be-wertung kommen, ist das ganz offenkundig dem näherrückenden Wahltermin geschuldet.
Eigentlich wollte ich jetzt gar nicht mehr über denIrakkrieg sprechen. Er ist schon so lange her; aber seinenegativen Wirkungen sind noch allgegenwärtig. Die Si-cherheitslage Israels hat sich verschlechtert, der Iran hateine Vormachtstellung bekommen, die Auseinanderset-zung in Afghanistan ist schwieriger geworden usw.
Metadaten/Kopzeile:
25718 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Thomas Oppermann
Dieser Krieg war falsch, und diesen Krieg haben wir da-mals politisch nicht gewollt; die Regierung hat ihn nichtgewollt.
Das sah bei der damaligen Opposition allerdingsganz anders aus. Die CDU-FraktionsvorsitzendeDr. Angela Merkel hat sich in einem Namensartikel inder Washington Post unter der Überschrift „GerhardSchröder spricht nicht für alle Deutschen“ ganz klar fürdie Option des Krieges geöffnet.
Wenn Sie daran Zweifel haben, Frau Köhler, dann zi-tiere ich einmal die heutige Bundeskanzlerin aus derFrankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 22. De-zember 2002:Die Union steht zu allen bisherigen politischen undmilitärischen Maßnahmen, dem Aufbau einerglaubwürdigen Drohkulisse gegenüber dem Irakund, das sage ich deutlich, auch der Bereitschaft, inletzter Konsequenz notfalls auch militärische Mitteleinzusetzen.
Mit anderen Worten: Sie waren kriegsbereit. Vor demHintergrund finde ich es nicht sonderlich überzeugend,wenn Sie hier unsere Ablehnung des Krieges in Zweifelziehen.
Das kann insbesondere nicht auf Grundlage der Tatsa-che geschehen, dass wir zwei BND-Mitarbeiter inBagdad hatten. Sie waren da völlig zu Recht.
Die Bundesregierung brauchte ein eigenes Lagebild. ImÜbrigen war eines völlig klar: Obwohl wir gegen denKrieg waren und trotz der damit verbundenen enormenBelastung der deutsch-amerikanischen Beziehungendurften die Bündnisverpflichtungen nicht infrage gestelltwerden. Die Bundesregierung hat damals ganz offenFolgendes getan: Die amerikanischen Militäreinrichtun-gen in Deutschland wurden während des Irakkrieges vondeutschen Sicherheitskräften bewacht,
der US-Regierung wurden Überflugrechte eingeräumt,und selbstverständlich haben die USA auch ihre militäri-schen Stützpunkte in Deutschland für den Irakkrieg nut-zen können. Es war völlig klar, dass wir in diesem Kon-flikt nicht neutral waren. Aber wir haben den Amerika-nern in der operativen Kriegsführung nicht geholfen. Esist keine Bombe auf Bagdad gefallen, es ist keine Raketeim Irakkrieg abgeschossen worden,
die auf Informationen der BND-Mitarbeiter zurückgeht.
Frau Köhler, wenn Ihre Fraktion damals hätte ent-scheiden müssen, dann wären nicht zwei BND-Beamtein Bagdad gewesen, sondern dann wären Tausende vonBundeswehrsoldaten dort gewesen. Das wäre ein Dramageworden.
Wenn Sie sagen, das sei ein Doppelspiel, dann spieleich Ihnen den Ball gerne zurück. Wissen Sie, was ichdoppelzüngig finde? Sich erst bei George W. Bush ein-schleimen und dann Barack Obama ganz toll finden!
Ich finde es gut, dass Deutschland es geschafft hat,beim Kampf gegen den Terrorismus die rechtsstaatlichenPrinzipien zu wahren. Ich hatte im Ausschuss manchmalden Eindruck – daran bin ich wieder erinnert worden, alsSie, Herr Paech, und auch Sie, Herr Stadler, gesprochenhaben –, als sei dieser ein Tummelplatz für Gesin-nungsethiker, die alle noch keine echte politische Verant-wortung getragen haben, aber höchst moralische An-sprüche formulieren, die so hoch sind, dass ihnen amEnde niemand gerecht werden kann.
Wer Verantwortung für die Sicherheit der Menschenträgt, der kann sich nicht mit Gesinnungsethik zufrieden-geben, sondern der muss sich entscheiden. Wir habenuns für höchstmögliche Sicherheit in Deutschland unddie gleichzeitige uneingeschränkte Geltung der Grund-rechte entschieden. Das ist nicht vielen Ländern im Anti-terrorkampf gelungen. Auch den Amerikanern ist dasnicht gelungen; ihnen ist beides misslungen. Deshalbsollten wir bei der Bewertung der Arbeit der Sicherheits-organe fair sein. Diese Fairness lassen Sie vermissen,wenn Sie ausgerechnet am Beispiel von Herrn Zammaraufzeigen wollen, dass wir offenkundig mit amerikani-schen Agenten kollaboriert hätten, um Herrn Zammar zuverschleppen und möglicherweise der Folter auszulie-fern. Herr Zammar wollte aus Hamburg ausreisen. SeinReiseziel war Marokko. Er hat angegeben, dass er sich inMarokko von seiner marokkanischen Frau scheiden las-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25719
(C)
(D)
Thomas Oppermannsen will. Kein deutsches Recht, Herr Stadler, erlaubtoder gebietet es, dass ihm aufgrund dieser Tatsache einPass verweigert oder seine Reise- und Ausreisefreiheiteingeschränkt wird. Ich wundere mich, dass Sie eine sol-che Position vertreten.
Dass die Linke historisch gesehen mit der Reise- undAusreisefreiheit Probleme hat, war mir immer klar.
Aber die FDP und die Linkspartei unterstellen hierHandlungen, die nicht dem geltenden Recht entsprechen.Natürlich steckt eine Absicht dahinter, und die ist leichtzu durchschauen, Herr Stadler.
Sie unterstellen, die deutschen Behörden hätten ge-wusst, dass in Marokko CIA-Agenten warten, umHerrn Zammar festzusetzen und nach Syrien zu ver-schleppen. Dafür haben Sie aber keine Belege. Deshalbkonstruieren Sie juristische Argumente in Bezug auf dasPassgesetz. Sie haben keine Beweise! Wer keine Be-weise hat und solche Behauptungen aufstellt, diffamiertund verhält sich intellektuell unredlich. Sie verhaltensich in hohem Maße intellektuell unredlich, wenn Siesich an solchen Kampagnen beteiligen.
Die deutschen Sicherheitsorgane haben es nicht ver-dient, dass ihre Arbeit so unfair dargestellt und bewertetwird. Deshalb bin ich froh, dass der Untersuchungsaus-schuss – er war zwar nicht notwendig, aber doch erfolg-reich – für die vielen Anschuldigungen, Behauptungenund Diffamierungen am Ende keinerlei Belege gefundenhat, wie auf den circa 3 400 Seiten des Abschlussbe-richts dokumentiert wird. Das ist ein gutes Ergebnis die-ses Ausschusses und auch ein gutes Ergebnis für unserenRechtsstaat. Ich bin froh, dass diese Debatte nach überdrei Jahren zu Ende ist.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des 1. Untersuchungsausschusses auf
Drucksache 16/13400. Der Ausschuss empfiehlt, den
Bericht zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-
nommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Feststellung eines Zweiten Nachtrags
zum Bundeshaushaltsplan für das Haushalts-
– Drucksachen 16/13000, 16/13386 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts-
ausschusses
– Drucksachen 16/13588, 16/13589 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Carsten Schneider
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Alexander Bonde
Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion
der FDP und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Wider-
spruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort als
erster Rednerin der Kollegin Erika Ober von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Bis vor wenigen Wochen hätte ich es mir nichtträumen lassen, dass ich als neues Mitglied des Haus-haltsausschusses im Deutschen Bundestages eine Redezu einem zweiten Nachtragshaushalt halten werde.
Es ist – auch ohne Bundesregierung – eine ungewöhnli-che Rede; denn es ist eine doppelte Rede: Ich halte dieerste Rede in dieser Legislatur, und es wird auch meineletzte als Abgeordnete des Deutschen Bundestages sein.
– Doppeltes Jubiläum, Herr Kollege.Ich halte diese Rede zu einem Zeitpunkt, an dem sichdie deutsche Wirtschaft in der schärfsten Rezession derNachkriegszeit befindet. Damit haben sich die Rahmen-bedingungen für die Haushaltspolitik ganz entschiedengeändert. Die Notwendigkeit von zwei Nachtragshaus-halten weist auf eine Ausnahmesituation hin. Mit ihnenhaben wir umgehend auf die Herausforderungen derKrise reagiert. Dazu musste im Ausschuss jeweils überMilliardenbeträge beraten werden. Auch für langjährigeMitglieder im Haushaltsausschuss sind diese Summensicherlich außergewöhnlich.Gestatten Sie mir, bevor ich auf den aktuellen Haus-halt eingehe, einen Rückblick auf die vergangenenHaushalte. Der Rückblick zeigt, dass unser finanzpoliti-sches Konzept stimmig war. Hätten wir in den vergange-nen Jahren nicht erfolgreich und mit Augenmaß konsoli-
Metadaten/Kopzeile:
25720 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Dr. Erika Oberdiert, hätte die Krise den Bundeshaushalt mit noch vielgrößerer Wucht getroffen.
Wir haben den Haushalt Schritt für Schritt saniert.Wir haben die Neuverschuldung des Bundes im Laufedieser Legislaturperiode deutlich zurückgeführt. ImJahre 2005 belief sich die Neuverschuldung des Bundesnoch auf 31,2 Milliarden Euro. Mit einer Neuverschul-dung in Höhe von 11,5 Milliarden Euro haben wir imJahre 2008 das niedrigste Niveau seit der Wiedervereini-gung erreicht. Auch die strukturelle Lücke, also dieSumme aus Neuverschuldung und Privatisierung sowieähnlichen Einmalmaßnahmen, haben wir ein ganzesStück weit schließen können. Noch im Jahre 2005 beliefsich diese Lücke auf 51,4 Milliarden Euro. Sie wurde biszum Jahre 2008 auf 18,1 Milliarden Euro reduziert.Gleichzeitig haben wir wichtige Politikfelder voran-getrieben: Wir haben massiv in Forschung und Bildungsowie in Familien investiert. Wir haben die klassischenInvestitionen auf hohem Niveau verstetigt. Wir sindauch unseren internationalen Verpflichtungen nachge-kommen und haben unsere Ausgaben für die Entwick-lungshilfe spürbar gesteigert.
Die Finanzkrise, die ihren Ursprung in den USAhatte, und die daraus folgende weltweite Wirtschafts-krise haben zu einem Einbruch der Nachfrage aus demAusland geführt. Die Folgen der globalen Krise machenvor uns nicht halt, und die Wirtschaft des Exportwelt-meisters Deutschland ist davon besonders heftig betrof-fen. Das Bruttoinlandsprodukt wird, so die Erwartung,real um 6 Prozent schrumpfen. Auch im nächsten Jahrwird die Krise fortwirken. Das Wachstum wird dann mit0,5 Prozent voraussichtlich nur leicht positiv ausfallen.Auch bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigtenzeigen sich die Auswirkungen der Finanz- und Wirt-schaftskrise. Der Arbeitsmarkt wird von der Krise mitzeitlicher Verzögerung getroffen werden.Die Krise wirkt sich unmittelbar auf die Haushaltspo-litik aus. Der im Frühsommer 2008 erstellte Regierungs-entwurf sah noch eine Nettokreditaufnahme in Höhe von10,5 Milliarden Euro vor. Das wäre die niedrigste dervergangenen Jahre gewesen. Wegen schlechterer Steuer-einnahmen, geringerer Privatisierungserlöse infolge un-günstigerer Märkte und des im November auf den Weggebrachten ersten Konjunkturpaketes „Beschäftigungssi-cherung durch Wachstumsstärkung“ wurden die parla-mentarischen Beratungen mit einer Neuverschuldung inHöhe von 18,5 Milliarden Euro abgeschlossen.Die parlamentarischen Beratungen im Herbst 2008ließen die Ausnahmesituation für die Haushaltspolitiksichtbar werden. Die Entwicklung zur Jahreswendemachte konjunkturbedingte Belastungen sowie ein zwei-tes Konjunkturpaket und dadurch eine weitere Erhöhungder Neuverschuldung unumgänglich. Der Ende Februar2009 in Kraft getretene erste Nachtragshaushalt weistdeshalb eine Neuverschuldung in Höhe von 36,9 Mil-liarden Euro aus.Weitere Steuermindereinnahmen sowie konjunkturbe-dingte zusätzliche Ausgaben für den Bereich der sozia-len Sicherung zwingen uns jetzt, noch mehr neue Schul-den aufzunehmen. So wird sich die Nettokreditaufnahmeim Bundeshaushalt in diesem Jahr auf rund 49 Milliar-den Euro belaufen.Die haushaltspolitische Redlichkeit gebietet es, indiesem Zusammenhang auch die im Zuge der Finanz-und Wirtschaftskrise errichteten Sondervermögen – denInvestitions- und Tilgungsfonds, ITF, und den Sonder-fonds Finanzmarktstabilisierung, SoFFin – zu nennen.Beide Sondervermögen verfügen über eine eigene über-jährige Kreditermächtigung. Darüber, in welcher Höhediese im laufenden Jahr in Anspruch genommen werden,kann man im Vorhinein nur spekulieren. Sicher ist aber,dass die gesamte Neuverschuldung des Bundes im lau-fenden Jahr weit über 50 Milliarden Euro liegen wird.Und die Krise wird im Bundeshaushalt weiter fortwir-ken. Nach dem Entwurf des Haushaltes 2010 wird dieNeuverschuldung des Bundes im nächsten Jahr eine ein-malige Höhe von 86,1 Milliarden Euro erreichen. DieNeuverschuldung des Bundes wird in diesem und in dennächsten Jahren eine Dimension erreichen, die wir unsso alle nicht gewünscht haben und die wir uns so alleauch nicht haben vorstellen können.Nur: Was wäre die Alternative gewesen? – Ich binüberzeugt, es besteht hier in diesem Hause ein allgemei-ner Konsens, dass wir keine Alternative haben. Dennman darf einer Krise eines solchen Ausmaßes nicht hin-terhersparen. Man muss agieren und nicht reagieren.
Im Gegenteil, meine sehr verehrten Damen und Her-ren: Eine expansive Finanzpolitik, wie sie die Große Ko-alition verfolgt, ist der einzig richtige Weg, um die wirt-schaftliche Talfahrt gezielt abzufedern und mittel- undlangfristig höhere gesamtstaatliche Folgekosten zu ver-meiden. Ohne unsere expansive Finanzpolitik würde un-sere Wirtschaft noch stärker schrumpfen. Ohne ein ge-zieltes Gegensteuern würde die Rezession noch längerdauern,
und ohne die von der Großen Koalition getroffenenMaßnahmen wären die Kosten für unser Land und fürunsere Bürgerinnen und Bürger noch weit höher.
Deshalb ist es richtig, dass wir erstens die automati-schen Stabilisatoren voll wirken lassen. Steuerminder-einnahmen und rezessionsbedingte zusätzliche Ausga-ben für die Systeme der sozialen Sicherung nehmen wirbewusst hin. Steuererhöhungen und Kürzungen bei denSozialausgaben wären angesichts der wirtschaftlichenLage reines Gift. Sie wären verantwortungslos und wür-den die Krise nur verschärfen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25721
(C)
(D)
Dr. Erika OberZweitens ist es richtig, dass wir mit unseren beidenKonjunkturpaketen gezielt wichtige Impulse setzen.
Wir investieren schwerpunktmäßig in staatliche Infra-struktur und entlasten Arbeitnehmer und Arbeitgeberdurch Steuer- und Abgabensenkungen. Als Beispielemöchte ich an dieser Stelle die Wiedereinführung derPendlerpauschale und die steuerliche Absetzbarkeit derBeiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung nennen.Sie stehen stellvertretend für die Entlastungen der Bür-gerinnen und Bürger in Höhe von 21,4 Milliarden Euroab dem Jahre 2010.
– Richtig, die Wiedereinführung der Pendlerpauschaleist die Folge einer Gerichtsentscheidung, das andere abernicht. Vielen Dank für den Einwurf.Das stützt unsere Binnenkonjunktur nachhaltig, unddies ist in Anbetracht des schwierigen weltwirtschaftli-chen Umfeldes umso wichtiger. Die SPD-Fraktion wirddeshalb dem zweiten Nachtragshaushalt zustimmen.Die Auswirkungen der Krise haben einen ausgegli-chenen Bundeshaushalt zwar in weite Ferne rücken las-sen, aber einen Haushalt ohne neue Schulden aufzustel-len, muss dennoch unser Ziel bleiben. Dazu soll die inder vergangenen Sitzungswoche neu beschlosseneSchuldenregel ein wichtiger Baustein sein.Der Finanzplan bis zum Jahre 2013 sieht mit Blickauf die neue Schuldenregel eine schrittweise Rückfüh-rung der Neuverschuldung des Bundes vor. Sie wird al-lerdings im Jahre 2013 mit rund 46 Milliarden Euro im-mer noch auf einem Niveau sein, das wir vor Ausbruchder Finanz- und Wirtschaftskrise als vollkommen inak-zeptabel betrachtet hätten. Wer hier trotzdem Spielräumefür weitere Steuersenkungen erkennt, leidet ganz offen-sichtlich unter Realitätsverlust.
Bis 2016 werden wir die strukturelle Neuverschul-dung Schritt für Schritt auf 0,35 Prozent des Brutto-inlandsproduktes zurückführen müssen. Dies wird einhartes Stück Arbeit sein, und ich wünsche allen, die alsAbgeordnete weiter dabeibleiben werden, bereits jetztviel Kraft und Erfolg bei dieser Umsetzung. Und lassenSie mich ergänzen: Als Ärztin wünsche ich Ihnen allen,dass Sie gesund bleiben, damit Sie diese Arbeit leistenkönnen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Koppelin von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieArbeit hier im Plenum habe ich mir immer so vorge-stellt, dass man Argumente unter den Fraktionen und na-türlich auch mit der Regierung austauscht. Angesichtsder hohen Neuverschuldung und dieses zweiten Nach-tragshaushalts, der 30 Milliarden Euro neue Schuldenvorsieht, empfinde ich es schlicht und ergreifend als ei-nen parlamentarischen Skandal, dass auch dieses Malder Bundesfinanzminister nicht anwesend ist.
Schon bei der Einbringung dieses Nachtragshaushaltswar er nicht anwesend.
Man kann über den früheren Finanzminister TheoWaigel sagen, was man will; auch er musste unange-nehme Tatsachen hier vortragen. Aber er war präsentund hat sich der Diskussion gestellt, während HerrSteinbrück immer kneift.
Ich habe allerdings nach dem Zuruf des KollegenKampeter und angesichts der Abwesenheit der Regie-rungsmitglieder den Eindruck – lassen Sie mich auch dassagen –, dass sich die Regierung gerade in voller Auflö-sung befindet. Anders kann man ein solches Verhaltennicht erklären.Liebe Kolleginnen und Kollegen, bereits einen Monatnachdem wir den Bundeshaushalt verabschiedet hatten– das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen las-sen –, musste die Regierung schon den ersten Nachtrags-haushalt vorlegen. Nun geht es um den zweiten Nach-tragshaushalt. Es ist ohne Frage so – das wollen wirnicht bestreiten –, dass wir uns in einer Finanz- undWirtschaftskrise befinden. Wir sind in schwerem Wetter.Ein Nachtragshaushalt wäre sicherlich auch notwendiggewesen, wenn wir an der Regierung beteiligt wären.
Allerdings wäre eine Neuverschuldung in dieserHöhe nicht notwendig – das ist unsere Auffassung –,wenn Sie in den letzten Jahren, also zu Zeiten einer gu-ten Konjunktur, nicht entscheidende haushaltspolitischeFehler begangen hätten. Sie hatten unglaublich hoheSteuermehreinnahmen aufgrund der guten Konjunkturund aufgrund der Erhöhung der Mehrwertsteuer, die wirabgelehnt hatten. Was aber haben Sie gemacht? Sie ha-ben 100 Milliarden Euro neue Schulden während IhrerRegierungszeit aufgenommen. Das sollte hier nicht ver-schwiegen werden.
Die Koalition hat eine große Chance verspielt, denHaushalt zu sanieren. Die Mehrwertsteuererhöhung umdrei Punkte in der Phase der boomenden Konjunktur
Metadaten/Kopzeile:
25722 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Dr. h. c. Jürgen Koppelinbrachte sehr viel Geld in die Staatskasse. Allerdings wardie Mehrwertsteuererhöhung – das zeigen die Zahlenvon damals – eine bedeutende Konjunkturbremse. Ohnediese Erhöhung hätten wir wahrscheinlich am Endemehr Steuereinnahmen gehabt.Herr Kollege Poß, ich habe Ihren Beitrag im Rahmender Aktuellen Stunde gehört. Ich kann mir folgende Be-merkung nicht verkneifen: Da Sie jedes Mal vonWählerbetrug sprechen, wenn wir Steuersenkungen for-dern – ich komme nachher noch darauf zurück –, habeich Ihnen dieses frühere Wahlplakat der SPD mitge-bracht. Darauf heißt es: „Am 18. September verhindern:Konjunkturbremse Merkelsteuer“ Dieses Plakat schenkeich Ihnen nachher. Sie können es sich dann in IhremBüro an die Wand hängen und sich dann mit dem ThemaWählerbetrug auseinandersetzen.
Wo lag das Problem in dieser Koalition? Anstatt mas-siv die Neuverschuldung zu drücken, hat die KoalitionMilliarden für Vorhaben bereitgestellt, die dem einenoder dem anderen Koalitionspartner wichtig waren. Da-für haben Sie auch noch Schulden gemacht. Dieses Geldwar der Kitt dieser Koalition. Nichts anderes hat den La-den zusammengehalten. Das muss man in aller Deutlich-keit sagen. Jeder konnte sich reichlich bedienen. Das ha-ben wir in den letzten Tagen – ich komme darauf nochzurück – auch im Haushaltsausschuss erlebt.Nun sitzt die Koalition in der Schuldenfalle. Die Bür-gerinnen und Bürger, die Steuerzahler, stellen sich dieFrage: Wie kommt die Regierung aus dieser Schulden-falle wieder heraus? Der Bundesfinanzminister hätteheute Rede und Antwort stehen und den Bürgern erklä-ren können, wie man aus der Schuldenfalle heraus-kommt. Stattdessen stellt die Regierung selber Fragen.Politiker werden aber gewählt, damit sie Fragen beant-worten können und nicht, wie diese Regierung, selberFragen stellen.Mit diesem Nachtragshaushalt steigt die Nettokredit-aufnahme um 50 Milliarden Euro. Ich will Ihnen einkleines Beispiel nennen, das zeigt, Herr Kollege Poß– ich weiß gar nicht, warum ich immer auf Sie zurück-komme –,
wie Sie mit dem Geld umgehen. Die Abgeordneten derOpposition im Haushaltsausschuss haben erst gesternUnterlagen zum Nachtragshaushalt bekommen. Sie hat-ten also nicht viel Zeit, darüber zu beraten, was die Kol-legen von der Koalition natürlich tagelang tun konnten.Darin jedenfalls findet sich eine Position in Höhe von40 Milliarden Euro
– Entschuldigung, 40 Millionen Euro; man ist ja fastschon in einem Zahlenrausch – für Aluminiumwerke.Man hört auch gerüchteweise, die SPD wollte eigentlich100 Millionen Euro bereitstellen. Die Begründung dafürist, dass der Strompreis in Deutschland über dem inEuropa liegt. Man müsse diese Subvention zahlen, damitunsere Unternehmen konkurrenzfähig bleiben. Was istdas für eine Haushaltspolitik? Machen Sie lieber einebessere Steuerpolitik und versuchen Sie nicht, über denHaushalt den Unternehmen Subventionen vorne und hin-ten reinzuschieben. Das will ich sehr deutlich sagen.Was Sie da gemacht haben, ist ein einziger Skandal undauch umweltpolitisch nicht akzeptabel.
Im Haushaltsausschuss habe ich den Bundesfinanz-minister, der hier nicht Stellung bezieht, gefragt: Wiewerden bei dieser Neuverschuldung in der Spitze unsereZinsen aussehen? Die Antwort des Bundesfinanzminis-ters lautete – das muss man wissen –: In der Spitze sindes 53 Milliarden Euro jährlich an Zinsen. Für unsere Zu-schauerinnen und Zuschauer zum Vergleich: Nach demHaushaltsplan 2010 – der liegt im Entwurf vor – bekommtzum Beispiel das Bundeswirtschaftsministerium imnächsten Jahr 6,3 Milliarden Euro, das Verkehrsministe-rium 26 Milliarden Euro, das Verteidigungsministerium31 Milliarden Euro, das Familienministerium 6,4 Mil-liarden Euro und das Bildungsministerium 10 MilliardenEuro. Für Zinsen werden im Haushaltsjahr 2010 demge-genüber 53 Milliarden Euro ausgegeben. Wissen Sie,liebe Kolleginnen und Kollegen, damit bilden die Zinsenfür Ihre Schulden die zweitgrößte Position nach demEtat des Ministers für Arbeit und Soziales.
Das ist ein Skandal. Das ist gegenüber kommendenGenerationen nicht zu verantworten. Sie wagen es janoch nicht einmal, der Bevölkerung deutlich zu sagen,wer das eines Tages zahlen muss. Inzwischen gibt esGutachten, die besagen, dass die Generation der zwi-schen 1980 und 2000 Geborenen das zahlen muss. Nein,liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie hoffen auf eine guteKonjunktur. Ihr Motto ist: hoffen, hoffen, hoffen. Viel-leicht klappt das alles, dann können wir mehr einneh-men, und dann können wir auch die Schulden abbauen. –Das ist nicht der richtige Weg. Nach Auffassung derFDP – das haben wir in den Haushaltsberatungen immergesagt – brauchen wir einen Staat der Bescheidenheit.Als FDP sind wir der Meinung, dass man sich genau an-schauen muss, wo auf der Ausgabenseite Einsparungenvorgenommen werden können.
Wenn wir uns für Steuersenkungen, für eine Entlas-tung der Bürger einsetzen wollen – das werden wirdurchsetzen –, werden wir um eine Betrachtung der Aus-gabenseite nicht herumkommen.
Die Sozialdemokraten drücken sich davor, sich die Aus-gabenseite im Haushalt anzuschauen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25723
(C)
(D)
Herr Präsident, habe ich noch das Wort?
Ja.
Der Kollege Kampeter darf heute wahrscheinlich
nicht reden und macht deswegen so viele Zurufe.
Sie müssten sich die Ausgabenseite anschauen, und
dann müssten wir uns einmal darüber unterhalten, wel-
che Ausgaben sinnvoll und welche weniger sinnvoll
sind. Diese Diskussion scheuen Sie. Das ist Ihr Problem.
Es führt aber kein Weg darum herum: Wir müssen uns
zwischen sinnvollen und nicht so sinnvollen Ausgaben
entscheiden. Wir müssen uns über Kürzungen unterhal-
ten.
Wir müssen uns darüber unterhalten, welche Aufgaben
der Staat hat. Hat der Staat nicht zu viel an sich gezogen,
was er jetzt bezahlen muss? Wir sind der Meinung, dass
wir in einer Schuldenfalle stecken. Mit dieser Bundes-
regierung werden wir auf keinen Fall aus dieser Schul-
denfalle herauskommen. Wir lehnen den Nachtragshaus-
halt ab.
Zum Schluss darf ich sagen – das ist mein letzter Satz –:
Ich weiß, dass der eine oder andere von uns Mitgliedern
des Haushaltsausschusses aus dem Bundestag ausschei-
det;
einige davon sprechen in dieser Debatte. Meine Fraktion
und ich wünschen allen Kolleginnen und Kollegen, die
jetzt ausscheiden, alles Gute, Gesundheit und alles, was
sie sich für ihren kommenden Lebensabschnitt wün-
schen. Es hat manchmal heftige Auseinandersetzungen
gegeben, aber die Zusammenarbeit mit allen, egal ob
von der Koalition oder der Opposition, war in all den
Jahren angenehm. Insofern: Glück auf! Ich weiß – Kol-
lege Poß kennt diese Tradition der Haushälter nicht –,
dass wir auch weiter Kontakt halten werden. Davon bin
ich fest überzeugt. Alles Gute für Sie persönlich!
Das Wort hat jetzt die Kollegin Susanne Jaffke-Witt
von der CDU/CSU-Fraktion.
Unser charmanter Jürgen, er heischt immer nach Bei-fall. Das macht er geschickt. Im Ausschuss ist er mit-unter ein kleiner Filibuster, aber wir mögen das.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ei-nen zweiten Nachtragshaushalt für einen laufenden Etatzu verabschieden, macht keinem Haushälter Freude. Ichglaube, dass wir über die Ursachen in der Debatte heuteVormittag ausführlich und umfänglich diskutiert haben.Ja, wir befinden uns ohne Zweifel in einer der schwers-ten Krisen weltweit. Wir befinden uns in einer Rezes-sion. Gemessen am BIP minus 6 Prozent „Wirtschafts-wachstum“ – das ist ein historischer Tiefstand. Ja, dieseKrise hat ihren Ursprung im amerikanischen Finanzsys-tem. Ja, auch deutsche Finanzinstitute haben spekuliert.Ja, die Finanzkrise hat sich auf die Realwirtschaft ausge-wirkt; sie ist in der Realwirtschaft angekommen.Ich bin der Kanzlerin besonders dankbar, dass sieheute Morgen in der Debatte nochmals klar und deutlichStellung bezogen und darauf hingewiesen hat, dass siebeim kommenden G-8-Gipfel seitens Deutschlands in-tensiv auf eine Regulierung der Finanzmärkte hinwirkenwird.
Denn wir sind uns sicher alle einig: Eine Wiederholungeiner solchen Krise muss ausgeschlossen werden.
Wir sind uns sicher auch darin einig, dass durch dieseKrise das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht erheb-lich gestört ist
und dass wir nun mit diesem zweiten Nachtrag zumBundeshaushalt darauf reagieren müssen. Wir müssenüber eine Rekordneuverschuldung in Höhe von 49 Mil-liarden Euro befinden; das ist wohl wahr. Natürlich wol-len wir damit auch ein Stück öffentliche Investitionenbefördern, sei es im Straßenbau, bei der Sanierung vonKulturgütern
oder vor allen Dingen bei Sanierungen im Hinblick aufden Klimaschutz.Die größten Positionen im Etat machen aber immerwieder unsere sozialen Sicherungssysteme aus.
So werden beispielsweise der Etat des Gesundheitsmi-nisteriums um 4 Milliarden Euro und der des Sozialmi-nisteriums um 1,6 Milliarden Euro aufgestockt.
Metadaten/Kopzeile:
25724 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Susanne Jaffke-Witt
Dabei handelt es sich um die vielgerühmten automati-schen Stabilisatoren, die wir damit wirken lassen. Aber– das möchte ich an dieser Stelle besonders erwähnen –wenn wir nicht ab dem Jahr 2006 eine erfolgreiche Kon-solidierungspolitik – vor allen Dingen durch die CDU/CSU – betrieben hätten, könnten wir heute über diesezugegebenermaßen nicht erfreuliche Neuverschuldungnicht beschließen.
Diese Anpassungen im Bundeshaushalt sind notwendig,da wir die bereits erwähnten automatischen Stabilisato-ren wirken lassen und keine desaströse Sparorgie vor-nehmen.
Wir haben in diesem Haushalt die von der GroßenKoalition angestoßenen Maßnahmen zur Sicherung vonBeschäftigung und Stabilität abgebildet.
Damit sind erhebliche Minderungen von Steuer- undBeitragseinnahmen verbunden; die Kollegin hat daraufhingewiesen. Damit sind aber auch Erhöhungen vonAusgaben verbunden, durch die Beschäftigung gesichertund geschaffen werden soll und durch die die Grundlagefür einen späteren Konjunkturaufschwung verbessertwird. Es gibt also keine Alternative zu dieser Neuver-schuldung.
Wir wissen auch, dass wir aufgrund dieser Neuver-schuldung die Defizitkriterien des Maastricht-Vertragesnicht einhalten werden. Zukünftige Haushalte werdenalso weiterhin einem besonderen Ehrgeiz der sparsamenMittelausgaben unterliegen. Dem kommt sicher zugute,dass uns eine Einigung zwischen Bund und Ländern ge-lungen ist, im Grundgesetz eine Schuldenbremse zu ver-ankern. Zur Realisierung dieser Schuldenbremse ab demJahr 2011 wird es der Anstrengung aller in unserem fö-deralen Staatswesen bedürfen.
Dies ist eine besondere Herausforderung für die neuenBundesländer. Sie müssen und wollen ab 2019 auf eige-nen Füßen stehen, und sie haben sich mehrheitlich in dieSolidargemeinschaft der Geber- und Empfängerländerzur Realisierung der Schuldenbremse eingebracht.
Ich begrüße das ausdrücklich.
Wenn in der Zukunft politisches Handeln noch mög-lich sein soll und wir die junge Generation nicht überfor-dern wollen, werden die nächsten Haushalte für die dannVerantwortung tragenden Kolleginnen und Kollegen einKraftakt. Der in dieser Woche häufig beschriebene Ver-gleich, dass das Wort „Krise“ im Chinesischen auch mit„Chance“ übersetzt werden kann, sollte zum Maßstabder zukünftig Handelnden, aber nicht nur der Haushälterallein werden.Ich werde an den zukünftigen Haushalten nicht mehrmitwirken. Nach nun fast 20-jähriger Tätigkeit als Haus-hälterin werde ich nicht wieder kandidieren. Dabei mussich sagen, dass ich eigentlich zufällig Haushälterin ge-worden bin.
Ich kam am 18. März 1990 in die letzte frei gewählteVolkskammer –
– in die erste und letzte frei gewählte Volkskammer;danke, Kurt – und wurde dort dem Haushaltsgremiumzugeschlagen.Durch die Hilfe vieler Kollegen aus der gestandenenCDU/CSU-Bundestagsfraktion konnte ich viel lernen.Ich durfte im Ausschuss Deutsche Einheit mitwirken,und ich habe aktiv am Einigungsvertrag mitarbeiten dür-fen. Seit dem 3. Oktober 1990 bin ich Haushälterin imDeutschen Bundestag. Jeweils am 3. Dezember einesJahres bin ich wiedergewählt worden: zuerst für denWahlkreis 270 – für die Südländer: von Anklam am Stet-tiner Haff bis an die Müritz – und nach der Wahlkreisre-form für den Wahlkreis 18, wiederum vom Stettiner Haffbis an die Müritz, allerdings einschließlich der StadtNeubrandenburg.Unterschiedlichste Themenbereiche durfte ich imHaushaltsausschuss betreuen: Frauen und Jugend, dasFinanzressort mit dem Treuhand-Etat, das Innenressortund zum Schluss das Verteidigungsressort. Auch diespannende Zeit von der Einheit Deutschlands bis zumUmzug nach Berlin habe ich mitmachen dürfen. Außer-dem habe ich eine Reihe gestandener Ausschussvorsit-zender erleben dürfen: von Rudi Walther, HelmutWieczorek und Adolf Roth bis hin zu Otto Fricke, derden Generationswechsel eingeleitet hat.Ich sage allen Kollegen für die kurze oder lange Zu-sammenarbeit Dank. Dank sage ich natürlich insbeson-dere meiner AG. Ich wünsche euch allen für die Zeit biszur Wahl und denjenigen, die diese schwierige Aufgabein Zukunft zu bewältigen haben, auch für die Zeit da-nach alles Gute! Ich sage es in meiner Heimatsprache:Holt juch fuchtig!
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25725
(C)
(D)
Frau Kollegin Jaffke-Witt, ich darf mich bei Ihnen im
Namen des ganzen Hauses für die langjährige und gute
Zusammenarbeit bedanken. Wir wünschen Ihnen für Ih-
ren weiteren Lebensweg alles Gute!
Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch von der
Fraktion Die Linke.
Vielen Dank, Herr Präsident! – Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Der zweite Nachtragshaushalt desJahres 2009 ist eine Zeitbombe, die erst nach der Bun-destagswahl in die Luft gehen wird. Die Bundesregie-rung überschuldet sich in einer atemberaubenden Ge-schwindigkeit. Die gesamten Steuereinnahmen brechenim Vergleich zum Vorjahr so heftig ein wie noch nie inder bundesdeutschen Geschichte. Der Haushaltsexperteder CDU geht von einer historischen Neuverschuldungdes Bundes in der Größenordnung von insgesamt90 Milliarden Euro aus. In dieser Summe sind die Kre-dite des Finanzmarktstabilisierungsfonds und des Ban-kenrettungsschirms sowie das kommunale Investitions-programm enthalten. Für die Bürger und uns lautet diezentrale Frage: Wer soll diese Schulden eigentlich be-zahlen?
Weder CDU/CSU noch FDP beantworten diese Frageehrlich. Im Gegenteil, sie versprechen für die nächsteLegislaturperiode weitere Steuersenkungen in Höhe von15 Milliarden Euro.
Meine Damen und Herren von der rechten Seite diesesHauses, das ist eine neue Dimension von Populismus,
die die Bürger in diesem Land noch nie erlebt haben.
Die Antwort auf die entscheidende Frage, wie dieseSchulden bezahlt werden sollen, sollte, wie schon 2005,eigentlich erst nach der Bundestagswahl gegeben wer-den. Sie lautet: durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer.Doch dummerweise hat sich Ministerpräsident Oettingervor kurzem verplappert.
Er forderte, den verminderten Mehrwertsteuersatz von7 auf 9,5 Prozent anzuheben.
Das hieße, dass jeder Bürger, der Butter, Brot, Wurstoder Käse kauft, von der Regierung zwangsverpflichtetwird, die Kosten der Finanzkrise zu tragen.
Schlimmer noch: Der Vorsitzende des Wissenschaftli-chen Beirats des Bundesfinanzministeriums befürwor-tete eine 2-prozentige Mehrwertsteuererhöhung
und erklärte gegenüber dem Handelsblatt vom 22. Junidieses Jahres – für den Fall, dass Sie das nachlesenmöchten –, dass diese Einnahmen auch zur Senkung derUnternehmensteuer verwendet werden könnten.
Ich wiederhole – hören Sie bitte gut zu –: Die Bürgersollen nicht nur die Maßnahmen zur Bekämpfung der Fi-nanzkrise und der Bankenkrise finanzieren. Nein, siesollen auch noch zur Ader gelassen werden, damit dieUnternehmensteuer weiter gesenkt werden kann. Nochnie haben Politiker und sogenannte Experten vor einerWahl so unverschämt die Enteignung der Bürger gefor-dert. Wir, die Linke, stellen uns dem entgegen.
Die Kanzlerin hat nun ein sogenanntes Machtwort ge-sprochen: Keiner habe die Absicht, nach der Wahl dieMehrwertsteuer zu erhöhen.
Die Kanzlerin wird zitiert: Mit mir ist eine Steuererhö-hung in der nächsten Legislaturperiode nicht zu machen.Mit ihr vielleicht nicht; aber was ist mit einem KanzlerMerz oder Koch?Die FDP, die sich ja schon in der nächsten Bundesre-gierung sieht, hat in ihrem Entschließungsantrag dieHaushaltspolitik der Bundesregierung scharf kritisiert,ohne jedoch selbst einen einzigen konkreten Vorschlagzu machen. Ihr Antrag, meine Kollegen von der FDP, istaugenscheinlich aus einem veralteten Ökonomielehr-buch abgeschrieben.
Sie gehen in keiner Weise auf die aktuelle Lage in unse-rem krisengeschüttelten Land ein. Sie vermitteln denEindruck, größere Sparanstrengungen in den vergange-nen Jahren hätten die enorme Verschuldung, die wir jetztkrisenbedingt erleben, verhindern können. Sie nennenkeine konkreten Beispiele; aber wir alle wissen ja, was
Metadaten/Kopzeile:
25726 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Dr. Gesine Lötzschdie FDP meint: Sozialabbau, Sozialabbau, Sozialabbau.Das ist mit uns, der Linken, nicht zu machen.
Im Entschließungsantrag der Grünen wird die Haus-haltslage in ihrer Dynamik und Dramatik korrekt be-schrieben. Die Grünen weisen zu Recht darauf hin, dassdieser Haushalt nur wenig transparent ist.
Aber auch die Grünen sagen nicht, wer den Schulden-berg abtragen soll.Wir als Linke werden immer mit dem unredlichenVorwurf attackiert, unsere Forderungen seien unbezahl-bar
und wir würden nicht an die nächste Generation denken.
Das, meine Damen und Herren, ist falsch. Es sind dieRegierungsparteien, die weder über die Bezahlbarkeitihrer verworrenen Rettungspolitik nachdenken noch sichfür die nächste Generation interessieren.
Die Wahrheit ist: Jede Partei, die nach der Wahl dieRegierungsverantwortung übernimmt, muss die Steuernerhöhen, um die Schulden abzubauen. Die Linke ist dieeinzige Partei, die ganz klar sagt,
wer die Zeche zahlen soll.
Wir wollen nicht die Steuer auf Brot, Butter und Milcherhöhen. Nein, wir wollen, dass zum Abbau der Schul-den diejenigen herangezogen werden, die sich in denletzten 20 Jahren eine goldene Nase verdient haben.
Das ist der richtige Weg, und dies werden wir vorantrei-ben.
Ein Kommunalpolitiker, der jetzt häufiger interviewtwird, warf der Linken vor, dass wir die Reichen enteig-nen wollen. Das ist Unsinn. Wir wollen, dass endlichSchluss ist mit der Enteignung der Mehrheit der Bevöl-kerung durch eine gierige Minderheit.
Mit dem zweiten Nachtragshaushalt versuchen Sienicht im Ansatz, der dramatischen Situation, in der sichunser Land befindet, gerecht zu werden. Er ist schonheute Makulatur, übrigens genauso wie das Wahlpro-gramm von CDU und CSU.
Auf Seite 3 des Wahlprogramms von CDU und CSUsteht – ich darf zitieren –:Wir haben gezeigt, dass wir die Finanzen sanierenkönnen. Erstmals seit langem haben wir 2007 einenausgeglichenen Gesamthaushalt der öffentlichenHände erreicht.Sie wollen den Wählern – das wäre eine Meisterleistung –im Sommer 2009 Schnee von 2007 verkaufen. Aber da-mit werden Sie kaum jemanden überzeugen.
Die haushaltspolitische Bilanz dieser Koalition istnicht, wie es dargestellt wurde, positiv, sondern negativ.Mit Ihrem Ziel, den Haushalt zu konsolidieren, sind Sieauf der ganzen Linie gescheitert.
– Nicht nur beim Haushalt; da haben Sie recht, Herr Kol-lege.Sie können die Schuld nicht allein auf die gierigenBankmanager schieben. Auch die Koalition ist für dieKrise verantwortlich. Wir haben das schon heute Mor-gen bei der Diskussion über den G-8-Gipfel gesehen: Siehaben das Finanzkasino geöffnet; aber außer schönenWorten haben Sie bisher kaum etwas getan,
um wenigstens Spielregeln für die Zocker zu erlassen.Es wird weiter gezockt. Sie schauen zu und halten hierschöne Reden; aber Sie machen keine konkreten Vor-schläge, wie der Zockerei endlich ein Ende gemachtwerden kann.
Wir als Linke verlangen, dass gegengesteuert wird. Esmuss endlich Schluss sein mit der Umverteilung von un-ten nach oben. Wir werden diese Forderung immer wie-der erheben. Wir werden beitragen zur Aufklärung indiesem Land, damit die Menschen am 27. Septemberwissen, wem sie guten Gewissens ihre Stimme gebenkönnen.Vielen Dank.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25727
(C)
(D)
Dr. Gesine Lötzsch
Das Wort hat jetzt die Kollegin Anna Lührmann von
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Vor fünf Jahren bin ich in den Haushaltsaus-schuss gewählt worden. Ich muss sagen, dass ich schonsehr stolz war, als meine Fraktion mit dem Wunsch anmich herantrat, dass ich in den Haushaltsausschuss gehe,weil dem Haushaltsausschuss im Parlament allgemeinein sehr großer Respekt entgegengebracht wird. DieHaushälter gelten als eine sehr verschworene Gemein-schaft und vor allen Dingen als sehr gründliche Arbeiterund auch Wächter der Steuergelder. Es gibt stundenlangeBerichterstattergespräche und Haushaltsausschusssit-zungen bis tief in die Nacht. Deswegen war ich sehrstolz, diesem Gremium anzugehören.
– Danke schön.
– Ja, das hätten Sie gerne, genau. Sie ahnen schon, wasjetzt kommt.
Natürlich bin ich noch immer in gewissem Maße stolzdarauf, dem Haushaltsausschuss anzugehören; aber nichtnur ich, sondern auch viele andere sind der Meinung,dass der Haushaltsausschuss und auch das Budgetrechtdes Parlaments unter dem Druck der Finanzmarkt- undWirtschaftskrise signifikant an Bedeutung verloren ha-ben. Ich muss leider auch sagen, dass sich die Mentalitätim Ausschuss leider etwas zum Schlechteren veränderthat.
Ich will das hier einmal an drei Beispielen deutlichmachen:Erstes Beispiel. Es ist ja ein hohes Grundprinzip unse-rer Verfassung, dass das Parlament und nicht die Regie-rung das Budgetrecht hat. Das ist auch sehr wichtig, weilwir in der Lage sein sollten, mit dem Steuergeld, das unsanvertraut wurde, verantwortungsvoll umzugehen.Das Finanzmarktstabilisierungsgesetz, der Rettungs-schirm für Banken, wurde verabschiedet. Das Volumender Bürgschaften und Kredite betrug insgesamt 500 Mil-liarden Euro, die zugegebenermaßen nicht unbedingtvollständig in Anspruch genommen werden müssen;hoffentlich geschieht dies nur in geringer Größenord-nung. Was sind dabei die Befugnisse des Haushaltsaus-schusses? Er hat fast keine.
– Ich habe „fast keine“ gesagt.Es gibt ein Gremium zur Finanzmarktstabilisierung,
das freitagmorgens geheim tagt. Mein Obmann sitzt da-rin. Er wird dort sicherlich gut arbeiten, aber es ist ge-heim. Er kann mir kein einziges Wort darüber berichten.
Wie soll ich denn mein Kontrollrecht hier vernünftigausüben, wenn er mir nichts erzählen darf?
Zweites Beispiel: der Deutschlandfonds. Darin sinddie Großbürgschaften für Unternehmen wie Opel undandere zusammengefasst. Das Volumen beträgt 115 Mil-liarden Euro. In diesem Umfang sind Kredite und Bürg-schaften möglich.
Welche Rechte hat der Haushaltsausschuss, der die Bud-gethoheit des Parlaments ausüben soll? Er hat das Rechtzur Kenntnisnahme.
– Das wollten Sie so. Ich halte das aber für falsch, weildas mit den Grundprinzipen der parlamentarischen De-mokratie nicht zu vereinbaren ist.
Es ist unsere Aufgabe, zu kontrollieren,
Metadaten/Kopzeile:
25728 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Anna Lührmannwas die Regierung mit den Geldern der Steuerzahlermacht, und wir haben die Hoheit über den Haushalt. Hierwerden Summen, die wir, wenn wir ehrlich sind, in nor-malen Haushaltsverhandlungen noch nicht einmal bewe-gen könnten, „rausgehauen“,
ohne dass der Haushaltsausschuss explizit mitentschei-den kann. Das finde ich falsch, und das zeugt auch nichtvon einem verantwortungsvollen Umgang mit den Steu-ergeldern.
Drittes Beispiel. In der Haushaltspolitik bzw. unterHaushaltspolitikern galt ja immer die Maxime der mög-lichst sparsamen und effizienten Mittelverwendung; dasist in der Bundeshaushaltsordnung so festgeschrieben.Es gibt daher immer viele Nachfragen und Diskussionenüber die Prioritätensetzung. Dann kam die Krise, und eswurde gesagt: Es muss investiert werden. Das ist ja auchrichtig.Wofür geben Sie das Geld aber aus? Sie geben zumBeispiel 5 Milliarden Euro für die Abwrackprämie aus.
5 Milliarden Euro sind ja eine gewaltige Summe. Das istso viel wie das Elterngeld und der Kinderzuschlag zu-sammen und doppelt so viel, wie Sie im Jahr für den Kli-maschutz ausgeben. 5 Milliarden Euro landen einfachauf dem Schrottplatz. Trotzdem wollen Sie mir sagen,dass Sie sparsam und effizient mit den Mitteln umge-hen? Das ist das Gegenteil von nachhaltiger Politik.
In den letzten Sitzungen des Haushaltsausschusseshaben wir Diskussionen über Kulturdenkmäler erlebt,wobei es zugegebenermaßen um ein geringeres Volumenging. Auch hier werden Gelder nach nicht nachvollzieh-baren Maßstäben ausgegeben.Ein Beispiel: Das Seltersmuseum im Hochtaunuskreiserhält 1,8 Millionen Euro für seinen Fast-Neubau. Wa-rum das so ist, konnte mir niemand beantworten. Dassoll sozusagen unter der Maßgabe des Konjunkturpaktesgeschehen, wonach jetzt Geld ausgegeben werden soll.Es gibt Keynesianisten, die sagen, man könne theore-tisch auch Löcher buddeln und wieder zuschütten; dasschaffe auch Arbeitsplätze und sei damit konjunkturellwirksam. Warum geben Sie aber so viel Geld für dasSeltersmuseum?
Ich komme übrigens aus Lich, wo auch das Bier her-kommt. Das ist meine Heimatstadt, dort wurde ich gebo-ren. Warum finanziert man nicht auch ein Museum fürdas Licher Bier? Das kann mir hier keiner beantworten.
Das ist vielleicht ganz lustig; aber das, was gestern inder Haushaltsausschusssitzung geschah, war nicht mehrlustig. Wir haben dort über den Nachtrag zum zweitenNachtragshaushalt verhandelt. Das ist an und für sichschon eine krasse Sache; zugegebenermaßen kann das inder Krise notwendig werden. Sie haben noch nachmit-tags eine Vorlage aus der Schublade gezogen, die einezusätzliche Neuverschuldung von 1,5 Milliarden Eurovorsah. Das wurde einfach so, ohne großes Aufhebens,aus der Schublade gezogen und verteilt. Ich würde sa-gen, da galt das Motto: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt essich ganz ungeniert.
Das gilt erst recht, wenn man sich anschaut, was sichin der Vorlage verbirgt, ohne dass in den zuständigenGremien gründlich darüber beraten wurde.
Die Vorlage sieht 85 Millionen Euro an Subventionenfür die energieintensive Großindustrie vor. Darin sindStromkostenzuschüsse für die Stahlwerke in Eisenhüt-tenstadt und Salzgitter enthalten. Die Stahlwerke be-kommen dicke Subventionen, und das alles in einerNacht-und-Nebel-Aktion.
Ich verstehe auch die inhaltliche Zielsetzung der Bun-desregierung nicht. In den USA lässt sie sich als Klima-schutzhelden feiern; hier zu Hause werden klimaschädli-che Subventionen einfach so im Haushaltsausschussdurchgedrückt,
ohne dass es bis jetzt – ich hoffe, das ändert sich – je-mand mitbekommen hätte.Zum Schluss gehe ich auf ein anderes wichtigesHaushaltsprinzip ein: Klarheit und Wahrheit. Wir redenjetzt über einen Nachtragshaushalt, der eine Nettokredit-aufnahme von 49 Milliarden Euro vorsieht; aber dieWahrheit ist noch viel schlimmer. Mit den Sondervermö-gen haben Sie lauter Schattenhaushalte aufgestellt: die
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25729
(C)
(D)
Anna Lührmannganzen Konjunkturpakete, die Bankenrettungspläne, derWirtschaftsfonds, über den ich gerade geredet habe. Die-ses Sondervermögen ist in den 49 Milliarden Euro nichtenthalten. Wir gehen deshalb davon aus, dass wir in die-sem Jahr eine Neuverschuldung von 90 Milliarden Euroerreichen werden. Das ist wirklich eine krasse Zahl. Dasschnürt künftigen Generationen, aber auch den Politike-rinnen und Politikern, die in der nächsten Legislatur-periode die Verantwortung tragen, die Handlungsspiel-räume ab.
Ich gehöre dem nächsten Bundestag nicht mehr an.Ich werde also nicht vor der schwierigen Aufgabe ste-hen, diese Suppe auszulöffeln. Ich hoffe aber sehr, dassdieser unkontrollierte Ausgabenrausch ein Ende habenwird, dass sich der Bundestag wieder auf nachhaltige In-vestitionen konzentriert.
Das ist ein Wunsch, den ich hier zum Schluss äußernmöchte.Zum Schluss möchte ich mich auch in aller Form ver-abschieden. Ich möchte mich für die gute Zusammenar-beit jenseits der inhaltlichen Auseinandersetzungen be-danken. Als ich 2002 als jüngste Abgeordnete, mit19 Jahren, in den Bundestag gewählt worden bin, habeich gleich gesagt, dass ich erst einmal höchstens zweiLegislaturperioden hier vertreten sein möchte, weil ichauch andere Lebens- und Berufserfahrungen sammelnmöchte. Ich werde hier jetzt kein Resümee ziehen; dafürfühle ich mich noch etwas zu jung. Wer weiß, vielleichtstehe ich eines Tages wieder hier.
Ich bedanke mich in aller Form bei den Kolleginnenund Kollegen, bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiternim Ausschuss und insbesondere bei den Mitarbeiterin-nen und Mitarbeitern in meinem Abgeordnetenbüro,ohne die ich das alles nicht geschafft hätte und die ichdeshalb namentlich erwähnen möchte. Mein Dank gehtan Katja Borns, Heiko Engling, Ole Barnick, ChristianWussow, Klaus Strzyz, Evrim Kaynak und KerstinLyrhammer sowie an alle Ehemaligen.Vielen Dank.
Frau Kollegin Lührmann, ich darf Ihnen im Namen
des ganzen Hauses für die gute Zusammenarbeit über
zwei Legislaturperioden hinweg Dank sagen. Sie sind
noch jung, Sie haben noch einen langen Lebensweg vor
sich. Ich hoffe, dass Sie einen schönen Lebensweg vor
sich haben und dass wir heute lediglich Ihre vorerst
letzte Rede erlebt haben. Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Bettina Hagedorn von
der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Zu Beginn muss ich ein paar Sätze zumeinen Vorrednern sagen. Ich fange mit Ihnen an, HerrKollege Koppelin. Sie haben auf den Schuldenberg hin-gewiesen. Ich glaube, wir können sagen, dass er eine Be-lastung für uns alle ist. Allerdings haben Sie verschwie-gen, dass dieser Schuldenberg seit 1969 aufgetürmtworden ist und dass mehr als die Hälfte der Zeit die FDPmitregiert hat. Seit 1969 wurden keine Haushalte mehrverabschiedet, in denen mehr eingenommen als ausgege-ben wurde. Der Schuldenberg hat sich allmählich aufge-türmt.
– Ich habe die Zahlen, danke schön.
Ich leide sehr wohl auch darunter; aber es ist völlig ver-antwortungslos von Ihnen, dass Sie versuchen, sich ei-nen schlanken Fuß zu machen und die Verantwortungnur einem bestimmten Kreis von Abgeordneten anzu-hängen. Dagegen verwahre ich mich.
Die Kollegin Lötzsch hat die Zeitbombe kritisiert. Esist etwas ganz Neues, dass Sie Mehrausgaben skandali-sieren. Ausgerechnet Sie! Sie haben zwar gefragt: „Wersoll das alles bezahlen?“, und dazu Vorschläge unterbrei-tet, von denen Sie genau wissen, dass sie in Bundestagund Bundesrat – sie brauchten in beiden Häusern dieMehrheit – nicht mehrheitsfähig sind. Damit sind sie un-realistisch. Antworten habe ich aber von der Oppositionbisher nicht gehört.
Ich gebe Ihnen in einem einzigen Punkt recht. Ich willIhnen gerne zugestehen, dass in dieser Haushaltssitua-tion die Forderung nach Steuersenkungen Populismusist. Meine Kolleginnen Frau Jaffke und Frau Ober sindausführlich auf die Zahlen zum Nachtragshaushalt ein-gegangen, die ich mir deshalb sparen kann. Ich möchteaber angesichts der Neuverschuldung eines ansprechen:Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass heute verdächtigviele Frauen am Rednerpult stehen. Lieber KollegeKoppelin, Frauen, die Kinder und Enkelkinder haben,müssen Sie über Nachhaltigkeit und die Verantwortunggegenüber künftigen Generationen nichts erzählen.
Metadaten/Kopzeile:
25730 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Bettina HagedornIch denke dabei zum Beispiel an meine persönlicheSituation. Ich habe drei Söhne. Sie sind 25, 28 und30 Jahre alt. Alle drei sind Handwerker, die hart für ih-ren Lohn arbeiten, brav Steuern zahlen und denen keinegebratenen Tauben in den Mund fliegen. Ihnen werdeich erklären müssen, was wir heute tun.Am nächsten Sonntag wird meine erste Enkeltochtergetauft. Heute haben Mädchen eine statistische Lebens-erwartung von 100 Jahren. Die kleine Leni wird – wieübrigens auch Deine Tochter, liebe Anna – später denSchuldenberg abtragen müssen, der über 40 Jahre aufge-türmt worden ist. Wenn ich in ihre Augen schaue, dannwird die Verantwortung für künftige Generationen plas-tisch.Wir alle, die wir gemeinsam in der Großen Koalitiondiesen Nachtragshaushalt aufgestellt haben, haben esuns nicht leicht gemacht. Dass Sie zugestanden haben,dass Sie das alles auch hätten tun müssen, wenn Sieheute Regierungsverantwortung tragen würden, ist daseinzige, was ich an Ihrer Rede wirklich gut fand, HerrKoppelin. Denn wir wollen mit diesem Nachtragshaus-halt und den darin vorgesehenen Mehrausgaben zur An-kurbelung der Konjunktur gerade im Bereich Arbeits-markt Menschen in Lohn und Brot halten, statt – wie wires sonst nämlich tun müssten – die Arbeitslosigkeit zubezahlen. Das Wegbrechen der Einnahmen sowohl aufder Steuerseite als auch bei den sozialen Sicherungssys-temen ist der eigentliche Grund dafür, dass wir diesenNachtragshaushalt beschließen müssen.Allerdings haben wir in Deutschland die Angewohn-heit, uns häufig noch ein bisschen schlechter zu reden,als wir wirklich sind. Darum lohnt ein Blick in eine Vor-lage, die gestern im Haushaltsausschuss verteilt wordenist. Dabei geht es um die Bewertung der EU-Kommis-sion zu dem Haushaltsdefizit in Europa. Wenn man sichdas genau anschaut, dann kann man sehen, wo Deutsch-land steht. Dann wird das Defizit sichtbar, das wir unbe-stritten haben und das größer ist als jedes Defizit, das wirin der Vergangenheit gekannt haben. Darum ist die He-rausforderung so groß.Dennoch stehen wir im Vergleich mit Nachbarländernwie Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Öster-reich besser da. Ich will gar nicht darauf eingehen, dasswir selbstverständlich viel besser dastehen als Griechen-land, Spanien, Portugal und Polen. Du hast das Defizitmit 6 Prozent angegeben, Susi Jaffke. Das ist eine un-glaublich große Zahl. Aber man sollte vielleicht eineswissen: Die Schulden im Haushalt von Theo Waigel1996, der mit 40 Milliarden Euro die höchste Nettokre-ditaufnahme aufwies, wurden gemacht, als es einWachstum von plus 1 Prozent gab. Jetzt beträgt es minus6 Prozent. Aber in Großbritannien – das große Great Bri-tain – beträgt das Wachstum 2009 minus 11,5 Prozent.2010 werden es voraussichtlich minus 13,8 Prozent sein.Dieses Land der Privatisierung, dieses Zentrum der Fi-nanzwirtschaft, das für eine freie, ungefesselte Markt-wirtschaft und eine minimale soziale Absicherung seinerBevölkerung steht, kommt mindestens doppelt soschlecht durch die Krise wie Deutschland. Unter denLändern, denen es nach dieser Statistik besser geht, be-finden sich Dänemark, Schweden und Finnland, alsonordische Länder, die genau das Gegenteil eines anglo-amerikanischen Gesellschaftsmodells pflegen und sichgemeinsam, parteiübergreifend zu einem starken, hand-lungsfähigen Staat sowie zu hohen Staatseinnahmen undSteuerquoten als Voraussetzung für Investitionen in Bil-dung und Forschung, starke soziale Sicherungssystemeund eine wirklich solidarische Gesellschaft bekennen.
Herr Kollege Koppelin, Sie haben vorhin davon ge-sprochen, dass Sie auf die Ausgabenseite schauen wol-len. Ihr sogenanntes Sparbuch, das Sie uns jedes Malzeigen, kennen wir.
– Nein, es handelt sich um 6 Milliarden bis 8 MilliardenEuro, wenn überhaupt. Schließlich enthält es auch Ver-tragsbrüche.Abgesehen davon können Sie mit diesen 6 Milliardenbis 8 Milliarden Euro gegen die Löcher, die sich im Mo-ment auftun, nicht ansparen.
Wenn Sie dennoch behaupten, es tun zu wollen, obwohlein großer Teil der Ausgaben zum Beispiel durch unseresozialen Sicherungssysteme gesetzlich gebunden ist,dann ist das praktisch die Ankündigung, genau dort ein-zugreifen. Das bedeutet, Herr Kollege Koppelin, dassSie in Wahrheit die Axt an den Sozialstaat, wie wir ihnin Deutschland kennen, anlegen wollen.
Meine Kolleginnen und Kollegen haben viele Zahlenbereits genannt. Daher will ich zusammenfassend nur ei-nes sagen: Vor einem Jahr hat die Regierung den Haus-halt 2009 aufgestellt. Heute, wo wir den zweiten Nach-tragshaushalt verabschieden, haben wir es mit einemSteuereinnahmeminus von in der Summe 23,2 Milliar-den Euro zu tun. Daran wird deutlich: Wir haben einEinnahmeproblem, das einen Nachtragshaushalt erfor-derlich macht. Auf die Ausgaben für den Arbeitsmarktund die sozialen Sicherungssysteme hast du, liebe Susi,schon zu Recht hingewiesen.Zum Schluss meiner Rede möchte ich auf meine Fa-milie zurückkommen, mit der ich meine Rede begonnenhabe. Ich habe bereits gesagt, dass wir uns die angekün-digten Steuersenkungen in dieser Situation nicht leistenkönnen und dass man den Menschen etwas vormacht,wenn man das Gegenteil behauptet. Denn an dem demo-grafischen Faktor kommt keine Partei, die in diesemLand Verantwortung trägt, vorbei. Vor knapp fünf Wo-chen konnten wir den 85. Geburtstag meines Vaters fei-ern,
der seit 27 Jahren Pensionär ist. 1960 lag die durch-schnittliche Rentenbezugsdauer wegen der deutlich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25731
(C)
(D)
Bettina Hagedornniedrigeren Lebenserwartung bei neun Jahren. Heute hatsich die Bezugsdauer mit 17 Jahren fast verdoppelt.Meine Mutter ist 80 Jahre alt.
Vor zehn Tagen feierten wir den 104. Geburtstag meinerOma.
Ich finde, es ist ein Grund, sich zu freuen, dass dieMenschen länger gesund bleiben und lange eine hoheLebensqualität haben. Daran, wie die Politik im Gesund-heits- und Pflegebereich mit der älteren Generation um-geht, wird sich künftig messen lassen, wie wir es mitdem Schutz der Würde des Menschen halten.
Wer unsere bewährten Sozialleistungen – auf diese soll-ten wir alle gemeinsam stolz sein; denn fast alle Parteienhaben in den letzten Jahrzehnten daran mitgewirkt, sieaufzubauen und zu erhalten – nicht infrage stellen will,muss den Menschen die Wahrheit sagen: Für Steuersen-kungen ist kein Spielraum.
Das Wort hat jetzt der Kollege Kurt Rossmanith von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren Kollegen! Sicherlich gibt es schönere Momente,als hier zu stehen und den Bürgerinnen und Bürgern inunserem Lande sagen zu müssen, dass wir einen zweitenNachtragshaushalt vorlegen. Es gibt sicher schönereThemen, und das ist kein erfreuliches Ereignis. Ich hättees übrigens gewiss nicht kritisiert, wenn – bei allem Re-spekt vor unserem Parlamentarischen Staatssekretär KarlDiller – auch der Finanzminister anwesend gewesenwäre.
Herr Vorsitzender, ich danke Ihnen für Ihre Arbeit.Das möchte ich vorneweg sagen, weil ich mich jetzt aufdas Thema beschränken will. Danksagungen hat esschon gegeben, und dem Dank möchte ich mich hiermitanschließen.Die Situation ist, wie sie ist: Wir haben eine Finanz-krise. Dass eine Finanzkrise immer auch eine Wirt-schaftskrise nach sich zieht, steht außer Frage. Das darfman nicht einfach so laufen lassen, sondern man mussMaßnahmen ergreifen, die natürlich etwas kosten. Manmuss also Geld in die Hand nehmen. Das ist bedauerlich,aber in dieser Situation unabweisbar. Es ist einfach er-forderlich. Deshalb sollten wir nicht polemisieren oderuns gegenseitig angreifen, sondern wir sollten in solcheiner Situation zusammenstehen und die Realitäten aner-kennen. Das sollten wir in aller Ehrlichkeit den Bürge-rinnen und Bürgern von dieser Stelle aus sagen. Wahl-kampf können wir draußen in den Städten, in denGemeinden und in den Dörfern führen. Der ist notwen-dig; das steht außer Frage. Aber hier sollten wir unsererVerantwortung gerecht werden. Dafür sind wir gewähltworden.
Keinen freut es, und ich hätte lieber etwas anderes ge-sagt, als mitzuteilen, dass wir mit einer Gesamtsummevon 303,3 Milliarden Euro im Haushalt 2009 erstmalsdie Schallmauer von 300 Milliarden Euro durchbrechenwerden. Es ist auch nicht schön, dass sich die Nettokre-ditaufnahme in diesem Jahr auf 49 Milliarden Euro be-laufen wird, nicht auf 50 Milliarden Euro, lieber KollegeKoppelin.
Dazu muss ich sagen, dass man den Antrag der FDP aufDrucksache 16/13688 schon deshalb ablehnen muss,weil er inhaltlich falsch ist – wir müssten geradezu einenVerfassungsbruch begehen –, denn Sie legen den Antragmit der Begründung vor, dass die Nettokreditaufnahmein diesem Jahr 47,6 Milliarden Euro betragen wird.
– Zu eurem Antrag sage ich nichts mehr. Man hätte ihnauch verbessern können. Ein Antrag sollte immer aufdem neuesten Stand sein. Wir mussten gestern – das istrichtig – noch eineinhalb Milliarden Euro einstellen.Aber die Situation ist nun einmal so, wie sie ist. Ichmuss Ihnen sagen, dass Sie etwas gänzlich vergessen ha-ben – ich bin der Kollegin Hagedorn dankbar, dass siedarauf hingewiesen hat –: Wir geben immerhin ein Dar-lehen von 4 Milliarden Euro dieser Summe an den Ge-sundheitsfonds, und 1,6 Milliarden Euro stellen wir fürdas Arbeitslosengeld II zur Verfügung. Damit entlastenwir die Bürgerinnen und Bürger; denn das Geld kommtdiesen Menschen zugute. Das sage ich, weil es immerheißt, dass wir von den Kleinen mehr als von den Gro-ßen verlangen. Nein, das ist bei Gott nicht so.Gestern hatten wir eine relativ lange Sitzung desHaushaltsausschusses. Wir haben uns viel Mühe gege-ben und haben schon im Vorfeld um ein gutes Ergebnisgerungen. Man kann sicher darüber streiten, ob die eineoder andere Maßnahme notwendig ist. Aber einige Maß-nahmen dienen der Energieeffizienz, dem Umweltschutzusw. usf. Wenn sie der Umwelt dienen, dann sagt man,die 40 Millionen Euro sollen es halt sein.Gott sei Dank sind jetzt auch die wirtschaftswissen-schaftlichen Institute der Meinung, dass nach diesem si-
Metadaten/Kopzeile:
25732 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Kurt J. Rossmanithcherlich sehr schlimmen Jahr 2009 die Talsohle erreichtist und wir – beginnend mit dem Jahr 2010, spätestensmit 2011 – Wirtschaftswachstum haben werden, um alldas, was wir vorhaben, umzusetzen, nämlich dass dieArbeitslosigkeit nicht weiter steigt, sondern abgebautwird, und dass in der Einkommensbesteuerung im Be-reich der kalten Progression ein Regulator eingeführtwird. Wir wollen – das hat die Linke offensichtlich nichtverstanden – den Eingangssteuersatz senken. Das wirddie niedrigen Einkommen entsprechend entlasten.Deswegen schlage ich vor und bitte Sie, die beidenEntschließungsanträge, zum einen von Bündnis 90/DieGrünen und zum anderen von der FDP – zum FDP-An-trag habe ich bereits gesagt, dass allein der Zahlenfehlerein Grund ist, diesen abzulehnen –, abzulehnen und an-sonsten dem Nachtragshaushalt und damit dem Haushalt2009 Ihre Zustimmung zu geben.Herzlichen Dank.
Herr Kollege Rossmanith, auch Ihnen darf ich im Na-
men des ganzen Hauses für die langjährige Zusammen-
arbeit danken. Sie waren seit 1980 über acht Legislatur-
perioden hinweg im Deutschen Bundestag. Ich wünsche
Ihnen für Ihren weiteren Lebensweg alles Gute.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich dem Kollegen Norbert Barthle von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Wenn man als letzter Rednerzu einem Thema spricht, dann haben die Vorredner inder Regel zur Sache schon alles gesagt. Aber es ist ebennoch nicht von allen etwas gesagt worden. Ich würdedeshalb gerne die Gelegenheit nutzen, nicht noch einmalauf die Details des Nachtragshaushaltes einzugehen,sondern diese Debatte etwas abzurunden.Zunächst möchte ich auf die Kritik der KolleginLührmann von den Grünen eingehen. Frau Lührmann,ich gestehe Ihnen eines zu: Wenn in Zeiten einer Krise– dass wir es mit der größten Krise zu tun haben, diediese Republik je erlebt hat, ist unbestritten; in den 70er-Jahren hatten wir 0,9 Prozent, jetzt minus 6 ProzentWirtschaftswachstum; eine solche Rezession gab esnoch nie – Regierung und Parlament schnell handelnmüssen, dann kann es durchaus sein, dass man Gesetzesehr schnell durch den Bundestag durchziehen muss.Deswegen will ich Ihnen gerne zugestehen, dass in demeinen oder anderen Fall, auch in diesem Fall, die Bera-tungszeit nicht ganz so lang war, wie sie es üblicher-weise ist. Da haben Sie ein Stück weit recht.Nicht recht haben Sie bezüglich Klarheit und Wahr-heit. Mit diesem Nachtragshaushalt bilden wir genau dieDinge ab, die andernfalls durch außerplanmäßige oderüberplanmäßige Ausgaben über Regierungsvollzug vor-genommen würden, sozusagen am Parlament vorbei.Erst im Nachhinein würden wir sie zur Kenntnis bekom-men. Deshalb ist es richtig und dient es der Haushalts-klarheit und -wahrheit, wenn wir diese Dinge jetzt in denohnehin vorliegenden Nachtragshaushalt packen. Dassieht das Haushaltsgesetz so vor; das müssen wir so ma-chen. Insofern wahren wir durchaus das Budgetrecht desParlaments, das auch ich als eines der vornehmstenRechte unseres Parlamentes betrachte. Darauf achten wirsehr sorgsam. – Das zu diesem Punkt.
Lassen Sie mich etwas zu der Kritik der Linken sa-gen, die fragen: Wer soll das alles bezahlen? Außerdemhat ihrer Auffassung nach die Koalition Schuld an dieserKrise. Liebe Frau Kollegin Lötzsch, Sie haben gehört,dass wir in Deutschland nahezu die Hälfte unseres Brut-toinlandsprodukts über die Außenwirtschaft erzielen.Wir sind wie keine andere Nation in dieser Welt – dienächsten sind die Japaner mit etwa 25 Prozent, die USAerzielen gerade einmal 10 bis 15 Prozent des BIP überAußenwirtschaft – auf funktionierende Außenwirt-schaftsbeziehungen angewiesen. Diese Krise ist eineweltweite Krise. Wenn Sie der Koalition die Schuld andieser Krise in die Schuhe schieben wollen, dann frageich Sie, wie wir diese weltweite Krise verursacht habenkönnten. Mir ist das unerklärlich. Das passt nicht zusam-men.
Ich möchte noch etwas zur FDP sagen. Herr KollegeKoppelin, Sie haben die Höhe der Neuverschuldung, derNettokreditaufnahme, kritisiert. Natürlich ist es alsHaushälter nicht erfreulich, eine höhere Nettokreditauf-nahme vornehmen zu müssen. Ein Blick über unsereGrenzen hinaus lehrt uns aber – Frau Hagedorn hat Eng-land angesprochen –, dass Amerika, England, Frank-reich, Italien und andere Länder noch wesentlich mehrmachen als wir. Von dort wird kritisiert, dass wir zu we-nig machen. Wenn die Opposition uns kritisieren würde,dass wir zu wenig machen und mehr tun sollten, dannhätten wir Schwierigkeiten, die richtigen Argumentevorzubringen. Sie kritisieren aber, dass wir zu viel ma-chen. Aus meiner Sicht ist das eigenartig und kleinesKaro. Anscheinend ist das Ausmaß dieser Krise bei derOpposition noch gar nicht angekommen.
Ich möchte auf das, was die Kollegin Hagedorn ange-sprochen hat, zurückkommen. Welche Konsequenzen er-geben sich aus dieser neuen hohen Verschuldung, auf diewir uns auch in den kommenden Jahren einstellen müs-sen? Ich höre immer wieder – wie aus einer Drehorgel –,dass es keinen Spielraum für Steuersenkungen gibt.
Im Rahmen des Bürgerentlastungsgesetzes haben wirgemeinsam mit der SPD eine Verschiebung des Steuerta-rifs nach rechts beschlossen, um die kalte Progression et-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25733
(C)
(D)
Norbert Barthlewas abzumildern. Das ist eine Steuersenkung. Wenn Siemir jetzt sagen können, dass das der Finanzminister ausder Hosentasche bezahlt, dann glaube ich Ihrer Kritik. Erbezahlt aber auf Pump, mit neuen Schulden. Was lernenwir also daraus?
Steuersenkungen zulasten neuer Schulden, beschlossenvon der Großen Koalition, sind gut.
Steuersenkungen, vorgeschlagen von der CDU, sind un-möglich. Das geht nicht. – Das hat keine innere Logik.
In den kommenden Jahren müssen wir diejenigenMenschen in diesem Lande, die uns aus der Krise he-rausführen können – das sind diejenigen, die Tag für Tagarbeiten und Steuern zahlen –, aus der kalten Progres-sion befreien. Wir müssen ihnen das Geld, das sie ver-dient haben, lassen. Wir dürfen es nicht über die kalteProgression wieder wegsteuern. Deswegen müssen wirdieses Momentum aus dem Steuerrecht entfernen. Daswollen wir. Das ist gut und richtig; denn das hilft uns ausder Krise heraus.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über
die Feststellung eines Zweiten Nachtrags zum Bundes-
haushaltsplan für das Haushaltsjahr 2009. Der Haus-
haltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf den Drucksachen 16/13588 und 16/13589, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen
16/13000 und 16/13386 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion ge-
gen die FDP-Fraktion, die Fraktion Die Linke und die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
SPD-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion, der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungs-
antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/13688? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ent-
schließungsantrag ist abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/13689
? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, Dr. Karl
Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Die Alterssicherung der Selbständigen verbes-
sern
– Drucksache 16/11672 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Erwin Lotter für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Meine Damen und Herren! Freiheit und Verantwor-tung sind die Leitmotive liberalen Handelns. Das giltauch für die Arbeitsmarktpolitik und für die Sozialpoli-tik. Als Gesetzgeber sind wir in der Verantwortung, allenBürgerinnen und Bürgern einen fairen Zugang zur Al-tersvorsorge zu ermöglichen. Wir wollen aber auch dieFreiheit, dass jeder selbst entscheiden kann, welcheForm der Altersvorsorge er gerne möchte.
Bei den angestellten Arbeitnehmern gibt es die ge-setzliche Altersvorsorge, die private Vorsorge und diebetriebliche Vorsorge. Bei den Selbstständigen dagegenbesteht Handlungsbedarf. Selbstständige Erwerbstätig-keit gewinnt in Deutschland zunehmend an Bedeutung.Sie ist eine Konsequenz des Strukturwandels von derIndustrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. 2008 habenschon 4,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger ihr Ein-kommen mit selbstständiger Tätigkeit erwirtschaftet.Eine besondere Bedeutung haben dabei die sogenanntenSoloselbstständigen, also Einpersonenunternehmen. IhrAnteil hat sich in den vergangenen Jahren rasant vergrö-ßert. Sie stellen mittlerweile mehr als die Hälfte allerSelbstständigen in Deutschland.Soloselbstständige sind in den verschiedensten Beru-fen tätig, zum Beispiel als Handwerker, Ärzte, Journalis-ten, Taxifahrer oder Landwirte. Viele dieser Einperso-nenunternehmen erwirtschaften aber vor allem amAnfang der Selbstständigkeit nur ein sehr geringes Ein-kommen. So bezieht ein Drittel dieses Personenkreisesein Monatseinkommen von nur 1 100 Euro. Da ist es na-
Metadaten/Kopzeile:
25734 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Dr. Erwin Lottertürlich naheliegend, dass man zunächst nicht an die Al-tersvorsorge denkt, sondern diese auf später verschiebt.Aber es kann sehr lange dauern, bis es dazu kommt,oder auch nie stattfinden, wenn sich die Unternehmungals Misserfolg herausstellt. Die Folge sind Lücken in derRentenbiografie, die später gar nicht oder nur mit erheb-lichem finanziellen Aufwand zu kompensieren sind.Deshalb müssen wir die Altersabsicherung der Selbst-ständigen verbessern und an die Bedürfnisse einerDienstleistungsgesellschaft im 21. Jahrhundert anpas-sen.
Wir wollen verhindern, dass Selbstständige später aufGrundsicherung angewiesen sind, und treten deshalb füreine Versicherungspflicht Selbstständiger ein. DieSelbstständigen sollen aber selbst entscheiden können,wie sie sich versichern:
freiwillig in der gesetzlichen Rentenversicherung, privatoder in einer Kombination aus beidem. Denn die Ein-kommens- und Vermögenssituation eines jeden Selbst-ständigen ist anders. Deshalb macht es gerade keinenSinn, einen Selbstständigen in die gesetzliche Renten-versicherung zu zwingen.
Es ist deshalb auch konsequent, selbstständigenHandwerkern sowie Hebammen und Entbindungspfle-gern die freie Wahl der Versicherungsform zu ermögli-chen.
Es gibt keinen Grund, sie weiter in die gesetzliche Rentezu zwingen. So wie wir diesen eine private Altersabsi-cherung ermöglichen sollten, sollten wir auch anderenGruppen von Selbstständigen den Verbleib in ihren Al-terssicherungssystemen, zum Beispiel den berufsständi-schen Versorgungswerken, garantieren.Selbstständige stehen im Alter vor den gleichen He-rausforderungen wie Nichtselbständige. Durch die stei-gende Lebenserwartung wird der Lebensabend immerlänger. Umso niedriger fallen aber auch die Renten aus,wenn nicht während der Erwerbsphase deutlich höhereBeiträge eingezahlt werden, als es heute der Fall ist.Deshalb wurde mit der Riester-Förderung für angestellteArbeitnehmer ein Anreiz zu privater Vorsorge geschaf-fen. Diesen Anreiz müssen wir auch Selbstständigen ge-währen. Gerade die Soloselbstständigen und Kleinunter-nehmer, die keine großen Rücklagen bilden können,würden von diesem Förderinstrument stark profitieren.
Deshalb müssen wir die Riester-Förderung für Selbst-ständige öffnen.Zu den abzusichernden Altersrisiken zählt aber zwei-fellos auch die Gefahr der Erwerbsunfähigkeit oder Er-werbsminderung. Daher soll jeder Versicherungsnehmerbei der Rürup- oder Riester-Rente frei wählen können,welcher Anteil der Beiträge in den Schutz gegen Er-werbsminderung und welcher Teil in die Lebensstan-dardsicherung fließt. Es geht um Wahlfreiheit bei derVorsorge.Mit diesen Vorschlägen bekennen wir Liberale uns zuunserer sozialen Verantwortung für Selbstständige.
Wir begrüßen es, dass immer mehr Menschen in dieSelbstständigkeit starten und ihre Geschäftsideen umset-zen. Deshalb müssen wir Rahmenbedingungen schaffen,die es Selbstständigen in gleicher Weise wie Angestell-ten ermöglicht, für das Alter vorzusorgen. Besonderswichtig ist dies für Familien; denn dann sind auch nochPartner und Kinder von Erfolg oder Misserfolg derSelbstständigkeit abhängig.Mit unseren Regelungen zur Alterssicherung Selbst-ständiger verschaffen wir also noch weit mehr MenschenSpielräume für soziale Sicherheit als allein den Selbst-ständigen. Deshalb bitte ich um Unterstützung für unse-ren Antrag.
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Peter
Rauen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit ihremAntrag möchte die FDP den Aufbau der Alterssicherungfür Selbstständige verbessern. Für die einzelnen Forde-rungen haben meine Fraktion und ich sehr viel Sympa-thie und Verständnis.Über einige Punkte muss man jedoch reden, zum Bei-spiel über die Aufhebung der Pflichtversicherung fürselbstständige Handwerker. Ohne die Pflicht hätte ich alsjunger Unternehmer, als 21-, 22-Jähriger, nie daran ge-dacht, in eine Versicherung einzubezahlen; vielmehrhätte ich für das Geld eher Maschinen gekauft. Manmuss also darüber reden, ob eine Aufhebung der Versi-cherungspflicht sinnvoll ist.Dass dieser Antrag in der letzten Sitzungswoche die-ser Wahlperiode diskutiert wird, macht eines klar, liebeKolleginnen und Kollegen von der FDP: Es ist ein reinerSchaufensterantrag mit Blick auf die Bundestagswahl inwenigen Wochen. Es gibt keinerlei Chancen, ihn in die-ser Wahlperiode gesetzeskonform umzusetzen. Deshalbwerden wir ihn ablehnen.Dennoch sollten wir über die Struktur der Selbststän-digkeit in Deutschland und die sich daraus ergebendenFolgen ernsthaft diskutieren. Von 2001 bis 2007 hat sichdie Zahl der Selbstständigen insgesamt um 530 000 er-höht, obwohl die Zahl der Selbstständigen mit Beschäf-tigten im gleichen Zeitraum fast gleich geblieben ist.Das heißt im Umkehrschluss: Die Zunahme ist fast aus-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25735
(C)
(D)
Peter Rauenschließlich bei den Einmann- oder Einfraubetrieben zuverzeichnen. Ende 2007 war die Zahl der Selbstständi-gen ohne Beschäftigte mit 2 323 000 um fast 500 000höher als die Zahl der Selbstständigen mit Beschäftigten.Mit der Verschärfung der Finanzmarkt- und Wirt-schaftskrise im September 2008 können wir ein deutlichansteigendes Interesse an Existenzgründungen beobach-ten. Der Grund ist offensichtlich: Wie schon in den Jah-ren 2004 und 2005 liegt das gesteigerte Gründungsinte-resse vor allem in einer drohenden Erwerbslosigkeit be-gründet. Auf den Punkt gebracht: Steigende Arbeitslo-sigkeit beflügelt Gründungsinteressen. Für 56 Prozentder Teilnehmer an IHK-Gründungsberatungen war Ar-beitslosigkeit das ausschlaggebende Gründungsinte-resse.Die FDP schreibt in ihrem Antrag, dass 2007 lautGutachten des Sozialbeirates 37 Prozent der Soloselbst-ständigen über ein monatliches Nettoeinkommen vonweniger als 1 100 Euro verfügt hätten. Das sind 860 000Personen. Glauben wir wirklich, dass dieser Personen-kreis in der Lage ist, sich ausreichend gegen Krankheit,Unfall oder Pflegefall – ganz zu schweigen von einer Al-tersvorsorge, die später auch trägt – zu versichern?Schließlich müsste ein 35 Jahre alter Selbstständiger30 Jahre lang jeden Monat einen Beitrag von 1 000 Euroin die gesetzliche Rentenversicherung einbezahlen, umeine Rente von etwa 1 700 Euro monatlich zu erhalten.Hier gibt es ein breites Feld – davon bin ich zutiefstüberzeugt –, um das wir uns in der Sozialpolitik küm-mern müssen.Leider scheiterten in den letzten Jahren viel zu viele,weil es oft an den unverzichtbaren betriebswirtschaftli-chen Kenntnissen fehlte, das Marktpotenzial überschätztwurde und oft keine stabile Finanzplanung gegeben war.Hier rächt sich unübersehbar die Vernachlässigung vonwirtschaftspraktischem Unterricht an Schule und Uni-versität. Über die Möglichkeit zur beruflichen Selbst-ständigkeit steht in vielen Schulbüchern nämlich über-haupt nichts, oder sie wird nur dann angeraten, wennArbeitslosigkeit droht. Häufig wird das Bild des Unter-nehmers sogar einseitig negativ dargestellt. Darum soll-ten besonders an der Praxis, also am richtigen Lebenorientierte Gründerseminare in Schulen und Universitä-ten zur Pflicht werden.
Ich bin überzeugt davon, dass solide Selbstständigkeitder sicherste Weg aus der Krise, vor allem aus der Be-schäftigungskrise sein wird. Das wird im Wesentlichennur über die kleinen und mittleren Betriebe gehen. Diezuletzt verfügbaren Zahlen sind dafür ein schlagenderBeweis. Allein die Betriebe mit bis zu 20 Mitarbeiternstellten 2007 mit 6,5 Millionen Beschäftigten ein Viertelaller Beschäftigten und damit deutlich mehr als die ge-samte Industrie; denn die Betriebe mit über 500 Mitar-beitern hatten lediglich 5,7 Millionen Beschäftigte.Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Ende die-ser Legislaturperiode scheide ich nach 23 Jahren ausdem Deutschen Bundestag aus. Gestatten Sie mir, dassich in dieser letzten Rede ein Grundanliegen anspreche,das mich sowohl als Unternehmer als auch als Parlamen-tarier immer angetrieben hat und das auch zu dem heuti-gen Thema passt.Für mich war Mittelstandspolitik gleichzeitig immerauch Arbeitnehmerpolitik. Es war für mich nie ein Wi-derspruch, neun Jahre lang Bundesvorsitzender der Mit-telstands- und Wirtschaftsvereinigung von CDU undCSU und gleichzeitig Mitglied der CDA zu sein, obwohlmanche mir das vorgehalten haben. Warum auch? Alsgelernter Maurer habe ich in den ersten Jahren meinerSelbstständigkeit körperlich mitgearbeitet, und mir warimmer klar, dass ich als Unternehmer nur erfolgreichsein kann, wenn es auch meinen Leuten gut geht.
Das heißt, dass sie gut verdienen, ihre Familie ernährenkönnen und sich auch sonst etwas leisten können. DieEinstellung meiner Mitarbeiter war von dem Motto ge-prägt: Wenn es unserem Chef gut geht, geht es auch unsgut. Ich weiß, dass diese soziale Miteinander und dasVerständnis füreinander die Regel in mittelständischenBetrieben ist.
Es gibt auch Ausnahmen, aber diese Ausnahmen bestäti-gen nur die Regel.Ich kenne aber auch die Regeln der Marktwirtschaft.Aufträge und damit Beschäftigung kann man nur solange sichern, wie die Kunden bereit und in der Lagesind, den Preis für die geleistete Arbeit oder das Produktzu zahlen. Ich habe deshalb mein ganzes Politikerleben,egal, in welcher Funktion, dafür gekämpft, dass dieBruttoarbeitskosten niedrig bleiben und gleichzeitig dieNettoeinkommen der Arbeitnehmer steigen, und zwarkräftiger, als dies in den letzten 20 Jahren der Fall war.
Leider ist mir das nicht oder nur unzureichend gelungen.Es ist in den letzten Jahren zwar gelungen, die Sozialver-sicherungsbeiträge zu stabilisieren und sogar etwas zureduzieren. Durch die Eingriffe in die sozialen Kassen inden letzten zwei Jahren, aus welchen Gründen auch im-mer, werden zulasten der Nettoeinkommen der Arbeit-nehmer und der Bruttoarbeitskosten die Beiträge aberwahrscheinlich wieder steigen.Ich mache mir darüber große Sorgen, dass in den letz-ten acht Jahren in Deutschland aus der ehemals starkenMittelschicht – das sind Arbeiter und Selbstständigegleichermaßen – mehr als 5 Millionen Menschen in diearmutsgefährdete Schicht abgedriftet sind und damit, inwelcher Form auch immer, am Tropf des Staates hängen.Vor diesem Hintergrund ist es gut, dass durch Verfas-sungsgerichtsurteil die alte Kilometerpauschale wiedereingeführt wurde und zukünftig die Krankenkassenbei-träge steuerlich abgesetzt werden können.
Metadaten/Kopzeile:
25736 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Peter RauenEs ist auch gut und richtig, dass im Rahmen der Kon-junkturprogramme der Lohn- und Einkommensteuertarifin zwei Stufen nach rechts verschoben wird. Dennochbleibt dieser Tarif zutiefst arbeitnehmerfeindlich. Es istnicht in Ordnung, dass ein Facharbeiter mit 17 EuroStundenlohn von 100 Euro Lohnerhöhung im Monat jenach Steuerklasse und Familienstand nur zwischen43 und 48 Euro übrig behält, für den Unternehmer abergleichzeitig Bruttokosten in Höhe von circa 125 Euroanfallen.Diese Ungerechtigkeit kann man nur beseitigen, wenndie kalte Progression endgültig abgeschafft wird. Das istsie erst dann, wenn der Tarifverlauf zwischen Eingangs-steuersatz und Spitzensteuersatz linear verläuft, der Tarifauf Räder gestellt wird und mindestens alle zwei Jahreder Inflation angepasst wird. Für mich ist dies ein Fallvon Gerechtigkeit, von zukunftsgerichteter Wachstums-,Konjunktur- und Wirtschaftspolitik und nicht von eng-stirnigen haushalterischen Betrachtungen.Wir haben keine Bodenschätze, die den Wohlstandmehren könnten. Wir haben in Deutschland für Wachs-tum, Wohlstand und Beschäftigung nur eine Ressource:Das ist der Mensch mit seiner Intelligenz, seinem Fleiß,seiner Strebsamkeit, egal ob als Arbeitnehmer oderSelbstständiger. Diese Tugenden kann man aber aufDauer nur befördern, wenn derjenige, der arbeitet, im-mer mehr hat, als derjenige, der aus welchen Gründenauch immer nicht arbeitet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bedanke mich,dass Sie mir noch einmal zugehört haben. Ich habe indiesen 23 Jahren viele prächtige, beeindruckende Men-schen kennengelernt – über die Parteigrenzen und überdie Parlamentsgrenzen hinaus. Ich durfte in vielen Poli-tikbereichen und in verschiedenen Funktionen mitgestal-ten, und dafür bin ich sehr dankbar.Besonders bedanken möchte ich mich bei Ihnen undbei vielen, die jetzt nicht im Saal sind oder sein können.Ich denke da auch an Kollegen, die bereits aus dem Bun-destag ausgeschieden sind. Ich bin dankbar dafür, dassviele menschliche Bindungen aus dieser Zeit diesen Tagüberdauern werden.Wir können uns in der Sache ruhig streiten und unter-schiedlicher Meinung sein. Das ist wesentlicher Be-standteil der Demokratie. Wichtig ist jedoch der Respektvor dem politisch Andersdenkenden, der im Zweifelsfallauch das Beste für die Menschen in unserem Land will.In diesem Sinne möchte ich mich von Ihnen verabschie-den und ganz herzlich bedanken.
Kollege Rauen, das gesamte Haus würdigt Ihre 23-jäh-
rige Tätigkeit und wünscht Ihnen für diesen neuen Le-
bensabschnitt alles Gute, Gesundheit und vielleicht auch
den Freiraum für das eine oder andere, für das in den
letzten 23 Jahren keine Zeit war.
Das Wort hat der Kollege Volker Schneider für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die FDP stellt in ihrem Antrag fest, dass die Alterssiche-rung der Selbstständigen gegenwärtig nicht ausreichendgeregelt sei. Hier findet sie die Zustimmung der Linken.Weiter wird ausgeführt, es liege im Interesse der All-gemeinheit, dass auch die Selbstständigen eine so weitausreichende Altersvorsorge betreiben, dass sie im Alternicht auf die Grundsicherung angewiesen seien. Abgese-hen davon, dass aus Sicht der Linken niemand im Alterauf Grundsicherung angewiesen sein sollte, findet dieFDP auch hier unsere uneingeschränkte Zustimmung.Und auch ihren Verweis auf die besondere Problematikvon Soloselbstständigen finden wir richtig und wichtig.Ergänzend könnten wir noch darauf hinweisen, dassin der AVID-Studie – das steht für Altersvorsorge inDeutschland – Personen mit einem niedrigen Altersein-kommen fast dreimal so lange Phasen der Selbstständig-keit in ihrem Erwerbsleben aufgewiesen haben wiePersonen mit einem höheren Alterseinkommen. Kurzgesagt: Selbstständigkeit ist ein wesentliches Risiko fürAltersarmut.Damit enden dann aber auch die Gemeinsamkeiten.Sie fordern, dass es den Selbstständigen im Rahmen ei-ner Pflicht zur Versicherung freigestellt werden soll, obsie sich privat, gesetzlich oder durch eine Kombinationaus beidem im Alter absichern wollen. Wieso soll dieseigentlich nur für Selbstständige und nicht auch für an-gestellte Erwerbstätige gelten?
Vor allem wollen Sie den Selbstständigen wahrschein-lich den Zugang zur hochsubventionierten Riester-Renteeröffnen.Nun kenne ich den Kollegen Kolb – ich denke, dass erder geistige Vater dieses Antrags ist; heute ist er leidernicht da – als jemanden, der sich akribisch mit Datenund Fakten auseinandersetzt. Insofern kann ich mirkaum vorstellen, dass er das in Ihrem Antrag zitierteGutachten des Sozialbeirats nicht gründlich gelesenhätte. Dann hätte ihm nämlich folgender Satz zu denkengeben müssen:Die Einkommenssituation einer steigenden Zahlvon Soloselbstständigen deutet aber auf eine be-grenzte Sparfähigkeit hin …Das heißt nicht mehr und nicht weniger, als dass vieleSoloselbstständige finanziell gar nicht in der Lage sind,sich individuell abzusichern. Da hilft bei einem Einkom-men von 1 100 Euro, das rund 40 Prozent dieser Selbst-ständigen beziehen, nun wirklich keine Riester-Rentemehr weiter.Das eigentliche Problem, nämlich die bestehenden Si-cherungsdefizite aufgrund der niedrigen Erwerbsein-kommen, wird in Ihrem Antrag völlig ausgeblendet.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25737
(C)
(D)
Volker Schneider
Übrigens könnten darüber auch die Grünen und die SPDeinmal sehr gründlich nachdenken; denn in deren Re-gierungszeit fiel der massive Anstieg der Zahl der zuDumpinglöhnen arbeitenden Selbstständigen, verur-sacht durch die enorme Ausweitung des Niedriglohnsek-tors im Zuge und als Ergebnis der von ihnen beschlosse-nen Hartz-Gesetze.Insoweit, liebe Kolleginnen und Kollegen von derFDP, geht es in Ihrem Antrag nicht wirklich um einenwirksamen Schutz gegen Altersarmut für Selbstständige.Begreifen Sie doch endlich: Mit Privatisierung und derIndividualisierung von Lebensrisiken lösen Sie die Pro-bleme nicht.
Lassen Sie sich doch endlich einmal etwas anderes ein-fallen als diese immer gleiche Leier! Es ist bei Ihnenoffensichtlich immer noch nicht angekommen. DassMenschen, die in fondsgebundene Riester-Verträge ein-gezahlt haben, zwischen 20 und 80 Prozent des einge-zahlten Betrages verloren haben, dass die Betriebsrentenin den Niederlanden vor der Pleite stehen und dass inden USA über 4 Billionen US-Dollar in den Renten- undPensionskassen verloren gegangen sind, interessiert dieFDP anscheinend nicht. Letztlich wollen Sie der Versi-cherungswirtschaft durch die Zufuhr neuer Kunden drin-gend benötigtes frisches Kapital verschaffen.Außerdem: Was heißt schon Wahlfreiheit in der ge-setzlichen und privaten Altersvorsorge? Wer sich dieprivate Altersvorsorge nicht leisten kann, nimmt die So-lidarität der gesetzlichen Rentenversicherung in An-spruch. Die anderen machen sich einen schlanken Fuß inberufsständischen Versorgungswerken.Aus Sicht der Linken ist es höchste Zeit, die Privati-sierungs- und Individualisierungstendenzen in der Al-tersvorsorge zu stoppen, die vergangenen Leistungskür-zungen in der gesetzlichen Rente zurückzunehmen unddie staatliche Subventionierung der Riester-Rente end-lich zu beenden. Das wäre die Lösung.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Anton Schaaf für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LieberPeter Rauen, von Maurer zu Maurer: Mach et jut! DieSPD-Fraktion und auch die Mitglieder des Ausschussesfür Arbeit und Soziales haben gerne mit dir zusammen-gearbeitet, auch wenn du sehr streitbar warst. Viele vonuns werden deine außerordentlich angenehme Art ver-missen. Mach et jut! Bleib gesund!
Sehr geehrter Herr Lotter, Sie haben vorhin in IhrerRede gezeigt, welches Verhältnis Sie zu dem solidari-schen, paritätisch finanzierten Sicherungssystem in un-serem Land haben. Das fand ich sehr bezeichnend. DennSie haben im Zusammenhang mit den Handwerkern ge-sagt, dass man sie in die gesetzliche Rentenversicherungzwingt. Sie tun so, als sei es eine Strafe, in diesem Landrentenversichert zu sein. Wenn wir uns beispielsweisedie Entwicklung in Amerika anschauen, wo sich dieMenschen nur privat für das Alter absichern können,dann muss man doch feststellen: Es gibt kein besseresSystem, um vor Altersarmut geschützt zu sein, als diegesetzliche, paritätische und umlagefinanzierte Renten-versicherung. Das ist doch völlig klar.
Aber dies zeigt, wie Ihr Verhältnis zu diesem solidari-schen und paritätisch finanzierten System ist. In IhremAntrag machen Sie deutlich – da hat Volker Schneidervöllig recht –, dass nach Ihrer Meinung Individualisie-rung und Privatisierung die Maxime sein sollen nachdem Motto: Jeder kümmert sich um sich selbst, dann istjedem geholfen. Das funktioniert eben nicht. Wir habenin unserem Land die besseren Systeme. Das beweist sichgerade jetzt in der Krise.Gehen wir nun in die Details. So viel Sorgen Sie sichin Bezug auf die Soloselbstständigen machen – in Bezugauf die Altersvorsorge haben Sie da durchaus recht –, soviel Sorgen könnte man sich auch um die machen, diefür Niedrigstlöhne arbeiten müssen und denen keine ge-setzlichen Mindestlöhne zugestanden werden.
Aber um diese Menschen machen Sie sich weniger Sor-gen. Sie machen sich vielmehr darüber Gedanken, wieauch Selbstständige die Vorteile, die wir bei der Förde-rung der Riester-Rente eingeräumt haben, in Anspruchnehmen können, allerdings ohne dass sie gegenüber derVersichertengemeinschaft in der gesetzlichen Rentenver-sicherung verpflichtend solidarisch sein müssen. In Ih-rem Antrag schlagen Sie genau das vor.Das wird an dem Punkt „Öffnung der Riester-Rentefür Selbstständige“ sehr deutlich. Sie sprechen vonWahlfreiheit. Diejenigen, die in der gesetzlichen Renten-versicherung sind, können die Riester-Rente in An-spruch nehmen, und zwar aus folgendem Grund: Wirhaben festgestellt, dass das Leistungsniveau der gesetzli-chen Rentenversicherung nach und nach sinkt. Um einenAusgleich zu schaffen, haben wir die Riester-Rente ein-gerichtet. Damit die Menschen die Riester-Rente nutzen,fördern wir sie. Das ist der entscheidende Punkt. DieLeute, die gesetzlich versichert sind, sind Teil einerSolidargemeinschaft, die zum Beispiel auch die Er-werbsminderung absichert. Sie wollen den Vorteil anSelbstständige weitergeben, die Verpflichtung, in der ge-setzlichen Versicherung solidarisch zu sein, wollen Sieaber auf jeden Fall vermeiden. Das kommt bei Ihnenheraus.
Metadaten/Kopzeile:
25738 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Anton SchaafIch sage für meine Fraktion: Wir wollen die Pflicht-versicherung für Handwerker nicht aufgeben. Die ge-setzliche Rentenversicherung ist in der Tat die beste Al-tersvorsorge für Geringverdiener; denn sie haben alsSoloselbstständige nicht das Einkommen, mit dem mansich privat vernünftig und adäquat absichern kann. Des-wegen ist die Solidargemeinschaft die bessere und siche-rere Alternative. Das ist der entscheidende Punkt.Wir sind der festen Überzeugung, dass es das Sinn-vollste wäre, dafür zu sorgen, dass insbesondere alle So-loselbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherungeinzahlen, weil das, was sie einzahlen müssen, von ih-rem Verdienst abhängt. Das ist in der Tat leistbar. Beiprivaten Altersvorsorgesystemen ist die entscheidendeFrage: Welche Rendite kann man erzielen? Je mehr maneinzahlt, desto höher die Rendite, und für eine gute Ren-dite braucht man hohe Einzahlungen. Aber wie soll manbei dem, was Sie gesagt haben – ein Drittel der Solo-selbstständigen hat nur 1 100 Euro –, privat vorsorgen?Wie sollen sie das bei dem Einkommen schaffen? Daswird nicht funktionieren. Deswegen sind wir der festenÜberzeugung – daran halten wir fest –, dass Soloselbst-ständige besser in die gesetzliche Rentenversicherungeinzahlen und wir die Wege öffnen sollten.Wenn man in die gesetzliche Rentenversicherung ein-zahlt, kann man übrigens auch die Riester-Förderung inAnspruch nehmen. Da gibt es einen unmittelbaren Zu-sammenhang; das muss man wissen.
– Herr Niebel, da gebe ich Ihnen vollkommen recht. EinSelbstständiger müsste dann in der Tat den vollen Bei-trag zahlen. Man muss sicherlich einen Weg finden, da-mit sich die Menschen ordentlich absichern können.Völlig klar ist aber auch – und das muss auch Ihnen klarsein –: Wenn ein Soloselbstständiger im Schnitt1 100 Euro hat – das gilt für etwa ein Drittel –, kann ersich nicht adäquat absichern; das ist doch völlig klar.
Man wird damit niemals ein ausreichendes Altersein-kommen erarbeiten können. Das ist der entscheidendePunkt. Die Wahlfreiheit, die Sie einräumen wollen, be-steht in dem entsolidarisierenden Faktor, den Sie ein-bauen wollen. Die Leute, die in der Gesetzlichen sindund zu Recht eine Riester-Förderung bekommen, erhal-ten diese als Kompensation, weil wir das Leistungs-niveau absenken. Wenn man aber nicht in der Gesetzli-chen ist und diesen Weg nicht mitgehen muss, dannsollte man sich auf der anderen Seite den Vorteil auchnicht sichern dürfen. Übrigens gibt es auch noch die Ba-sisrente für Selbstständige als zusätzliches Instrumenta-rium, um sich gefördert zusätzlich etwas aufzubauen.Ich glaube, das sind die wesentlichen Punkte, die an-zusprechen sind. Wir haben den Vorschlag gemacht, dieErwerbstätigenversicherung einzuführen: Alle zahlenauf Basis aller Einkommensarten in die gesetzliche Ren-tenversicherung und in alle anderen gesetzlichen Siche-rungssysteme ein. Das würde diese Sicherungssystemeleistungsstark machen, die Solidarität und vor allem dieParität erhalten, was ein ganz wichtiges Element ist.Sie sind auf einem völlig anderen Weg. Das haben Sieheute auch an einer anderen Stelle zum Ausdruck ge-bracht. In der Debatte über den Nachtragshaushalt hatHerr Koppelin hier gesagt: In dieser Krise hätten wir, an-statt mehr Schulden zu machen, besser darüber nachge-dacht, wo wir im Haushalt mehr sparen können.
Dann ist aufgezählt worden, welche Haushaltstitel esgibt. Bei den Familien will man natürlich nichts kürzen,und bei Bildung will man auch nichts kürzen. Dann sindwir ganz schnell beim Sozialetat, beim Etat des Bundes-ministeriums für Arbeit und Soziales. Ich hätte es gernegesehen, wenn Herr Koppelin hier ganz klar benannthätte, was er im Bereich „Arbeit und Soziales“, imSozialetat, real einsparen möchte. Da haben wir zumBeispiel einen Zuschuss in Höhe von 79 Milliarden Euroan die gesetzliche Rentenversicherung. Sparen wir andiesem Beitrag, oder sparen wir am Arbeitslosengeld II?An welcher Stelle wollen Sie denn einsparen? Ich sageIhnen: Wir können im Moment verdammt froh sein, dasswir einen leistungsfähigen Staat und leistungsfähige so-ziale Sicherungssysteme haben. Bei uns brauchen dieMenschen keine Angst zu haben, dass am nächsten Ers-ten ihre Rente nicht kommt. Sie wird zuverlässig undpünktlich gezahlt. Sie bleiben diese Antworten schuldig.Herr Koppelin, wenn man das, was Sie hier treiben, inKombination mit dem sieht, was die Union jetzt be-schlossen hat – Steuersenkungen –, wird das hochspan-nend. Sie sagen: Wir senken in dieser Situation die Steu-ern und sparen gleichzeitig im Haushalt. Das heißt imKlartext: Sie müssen am Sozialetat sparen. Sagen Sieden Menschen ehrlich, dass Sie den Sozialetat in dernächsten Legislaturperiode kürzen wollen, sofern Siehier tatsächlich Regierungsverantwortung übernehmenkönnen. Ich gehe zunächst einmal davon aus, dass Sie,wenn die Menschen erkennen, was Sie vorhaben, nichtin der Lage sein werden, Regierungsverantwortung zuübernehmen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigkfür die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die FDP hat mit ihrem Antrag eigentlich ein wichtigesAnliegen aufgegriffen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25739
(C)
(D)
Irmingard Schewe-Gerigk– Ich sagte: eigentlich. Klatschen Sie nicht zu früh.
Es geht um die fehlende Absicherung von Selbststän-digen und Freiberuflern im Alter. Dabei – jetzt hören Sieauf, zu klatschen – entstehen schnell Zweifel, ob es derFDP tatsächlich um Lösungen zugunsten der sogenann-ten neuen oder Soloselbstständigen geht, von denenmehr als ein Drittel weniger als 1 100 Euro verdient, wiewir wissen.
Die Forderungen der FDP stehen in einem eigenarti-gen Kontrast zur Lebensrealität dieser Gruppe,
der vor allen Dingen die Zahlungskraft fehlt. Der Sozial-beirat und der Sachverständigenrat haben einen Korrek-turbedarf bei der Alterssicherung der sogenannten neuenSelbstständigen angemahnt. Dabei geht es nicht um dieklassischen Selbstständigen, die üblicherweise gut abge-sichert sind. Die Warnung vor steigender Altersarmutbezieht sich auf die Soloselbstständigen.Wir teilen die Einschätzung, dass bei vielen Existenz-gründungen abhängige und selbstständige Erwerbsfor-men zunehmend fließender geworden sind. Beide Er-werbsformen werden häufig für eine begrenzte Zeitausgeübt; abgesichert ist aber in der Regel nur die Zeitder Lohnarbeit. Die meisten bringen ausschließlich ihreeigene Arbeitskraft ein, besitzen wenig Eigenkapital undverdienen wenig. Die Mehrzahl der Selbstständigen istnicht Mitglied in einem gesetzlichen Pflichtsystem derAlterssicherung.Aus der Studie „Altersvorsorge in Deutschland“ wis-sen wir, dass Personen mit niedrigen Alterseinkommenlange Phasen der Selbstständigkeit in ihrer Erwerbsbio-grafie aufweisen. Viele dieser Selbstständigen könnennicht aus eigener Kraft eigenständig für das Alter vorsor-gen. Die FDP hat in ihrem Antrag den Begriff „Alters-armut von Selbstständigen“ vermieden, obwohl es docheigentlich genau darum geht; dieses Wort findet sich inihrem Antrag nicht.
Ich habe mich deshalb gefragt: Geht es Ihnen um einebessere Absicherung von kleinen Selbstständigen, die zuwenig verdienen und deshalb nicht ausreichend für dasAlter vorsorgen können?
Die FDP geht aber auf die fehlenden materiellen Mög-lichkeiten dieser Selbstständigen gar nicht ein. Statt-dessen behaupten Sie, die bestehenden Regelungen wür-den Selbstständige am Aufbau einer ausreichendenAltersvorsorge hindern. In dieser Logik wollen Sie unteranderem die Pflichtversicherung von selbstständigenHandwerkern, Hebammen und Entbindungspflegernaufheben. Werden wir damit wirklich weniger Selbst-ständige haben, die im Alter auf Grundsicherung ange-wiesen sind, Herr Kollege Lotter? Mit Sicherheit nicht.Dieser Vorschlag von Ihnen ist kontraproduktiv.
Wir Grünen fordern eine obligatorische Rentenversi-cherungspflicht für alle Selbstständigen und Freiberuf-ler, die in kein anderes Alterssicherungssystem einzah-len. Wir sind uns mit vielen Experten und Expertinnendarin einig, dass es heute viel mehr Selbstständige gibt,die nicht aus eigener Kraft ausreichend für ihr Alter vor-sorgen können. Deshalb muss der Schutzcharakter aus-geweitet werden und darf nicht noch verengt werden,wie Sie das wollen.
Historisch wurden genau aus diesem Grund Hausan-gestellte, Erzieher, Handwerker und Hebammen zuPflichtversicherten gemacht. Die Sicherung vor Armutim Alter muss in der ersten Säule, also in der gesetzli-chen Rentenversicherung, garantiert werden. Die geän-derten Erwerbsstrukturen, aber auch die Vernichtungvon Altersvermögen im Kontext der Bankenkrise ver-deutlichen: Der Schutzgedanke bei der gesetzlichen Al-terssicherung muss auf einen größeren Personenkreisausgeweitet werden und darf nicht verengt werden, wieSie das in Ihrem Antrag fordern.
Wir fordern deshalb kurzfristig die Weiterentwick-lung der gesetzlichen Rentenversicherung zu einer Er-werbstätigenversicherung und langfristig den Ausbau zueiner Bürgerversicherung, wie das gerade der KollegeSchaaf geäußert hat. Wer ein kleines Einkommen hat,soll nach dem Konzept der Grünen, dem Progressivmo-dell, weniger Sozialversicherungsbeiträge entrichten alsleistungsfähigere Versicherte.Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Nachunserem grünen Rentenkonzept sollen auch Selbststän-dige mit geringem Einkommen eine Hochwertung ihrerVersicherungsentgelte erhalten. So kann die Altersarmutvon Selbstständigen verhindert werden.
Wir lehnen den Antrag der FDP ab.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/11672 an den Ausschuss für Arbeit undSoziales vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-sen.
Metadaten/Kopzeile:
25740 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Vizepräsidentin Petra PauIch rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:– Beratung der Beschlussempfehlung und des
Beteiligung deutscher Streitkräfte am Ein-satz von NATO-AWACS im Rahmen derInternationalen Sicherheitsunterstützungs-
der NATO auf Grundlage der Resolution1386 und folgender Resolutionen, zu-letzt Resolution 1833 des Sicherheits-rates der Vereinten Nationen– Drucksachen 16/13377, 16/13597 –Berichterstattung:Abgeordnete Eckart von KlaedenDetlef DzembritzkiDr. Werner HoyerDr. Norman PaechMarieluise Beck
– Drucksache 16/13680 –Berichterstattung:Abgeordnete Herbert FrankenhauserLothar MarkDr. h. c. Jürgen KoppelinMichael LeutertOmid NouripourÜber die Beschlussempfehlung werden wir später na-mentlich abstimmen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeWalter Kolbow für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt der Unterstützungdes ISAF-Einsatzes durch das NATO-FrühwarnsystemAWACS über Afghanistan nach sehr gründlicher Bera-tung heute mit großer Mehrheit zu.
Das vorgelegte Mandat ist inhaltlich begründet. Es fügtsich in den vorgegebenen ISAF-Rahmen und in die in-ternationalen Anstrengungen zur Stabilisierung, zur Ent-wicklung und zum Wiederaufbau des Landes ein. DerEinsatz findet zudem die ausdrückliche Zustimmung derafghanischen Regierung.Wir stimmen dem Mandat auch deshalb zu, weil dieBundesregierung durch Herrn Staatsminister Erler undHerrn Verteidigungsminister Jung in der ersten Lesungüberzeugend dargelegt hat, dass die in Afghanistan der-zeit praktizierte Luftraumüberwachung hinter dem stän-dig wachsenden zivilen wie militärischen Flugaufkom-men zurückgeblieben ist und dass diese Entwicklunganhalten wird. In Prognosen der NATO wird für die naheZukunft ein weiteres starkes Wachstum um das Drei- bisFünffache vorausgesagt.Die afghanische Regierung ist demgegenüber auf ab-sehbare Zeit nicht in der Lage, eine funktionsfähigeFlugsicherung aufzubauen. Die AWACS-Flugzeuge sinddas beste Mittel, um hier kurzfristig Abhilfe zu schaffen.Sie werden im Rahmen von ISAF ausschließlich imafghanischen Luftraum eingesetzt. Sie sollen den gesam-ten Luftverkehr über Afghanistan sicherer machen undauch die militärische Operationsführung von ISAF un-terstützen. Denn auch die Zahl der militärischen Flugbe-wegungen wird in den nächsten Monaten weiter wach-sen. Das ist angesichts des Aufwuchses von ISAF-Kräften im laufenden Jahr, insbesondere infolge der Ab-sicherung der Präsidentschaftswahlen, und angesichtszusätzlich angekündigter US-Truppen absehbar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, dass eswichtig ist, darauf hinzuweisen, dass eine verbesserteLuftraumkoordinierung auch dem Schutz deutscher Sol-daten, sowohl der Piloten und der Besatzungen unsererFlugzeuge als auch der Soldaten am Boden, dient, die inNotsituationen auf Unterstützung aus der Luft angewie-sen sind. Des Weiteren ist der AWACS-Einsatz durch dieVerbesserung der Flugsicherheit auch dem Schutz der af-ghanischen Bevölkerung und der zivilen Helfer dienlich.Im Zusammenhang mit den aktuellen Diskussionensollte auch darauf hingewiesen werden, dass NATO-AWACS weder eine Bodenaufklärungs- noch eine Feu-erleitfunktion hat, sondern lediglich navigatorische Un-terstützung leistet. NATO-AWACS kann auch keine dau-erhafte Lösung darstellen, weil wir in diesem Rahmenauch Ausbildung und Vorbereitung im Hinblick auf diezivile Luftsicherung in Afghanistan betreiben. Das istrichtig, notwendig und gut so.
Meine Damen und Herren, es ist für mich persönlichsehr berührend, dass wir am heutigen Tage, an dem dreiin Afghanistan gefallene Soldaten beigesetzt werden,eine weitere Einsatzentscheidung treffen müssen. UnsereGedanken und unser Mitgefühl sind bei den Familienund bei den Kameraden der Toten.Mich berührt dieser Tag umso mehr, als ich nach par-lamentarischer Arbeit in 29 Jahren Mitgliedschaft imDeutschen Bundestag auf dem Gebiet der Verteidigungs-und Sicherheitspolitik heute die letzte Rede vor demDeutschen Bundestag halten darf.Ich erinnere mich – und ich setze mich damit ausei-nander –, dass ich aus meiner politischen Funktion undVerantwortung heraus von dieser Stelle aus häufig, ja zuhäufig den Tod von Soldaten beklagen musste.Bis 1989 waren es meist Manöver-, Dienst- und Ver-kehrsunfälle, die den Tod von Soldaten verursachten. Ab
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25741
(C)
(D)
Walter Kolbow1993 starben Soldaten bei Auslandseinsätzen. 1993wurde beim Einsatz in Phnom Penh in Kambodscha Sa-nitätsfeldwebel Alexander Arndt ermordet. 2001 habenAufständische Oberstabsarzt Dieter Eißing im Rahmenseines Einsatzes bei der UNMIG-Mission in Georgienim Hubschrauber abgeschossen. Eißing war der Erste ineinem vom Deutschen Bundestag zu verantwortendenEinsatz gefallene Soldat.Liebe Kolleginnen und Kollegen, von den seit 1992 indie Auslandseinsätze entsandten 260 000 Soldatinnenund Soldaten starben insgesamt 81 Soldaten. 106 wur-den durch Fremdeinwirkung verwundet. Darüber hinauskamen 31 Soldaten durch natürlichen Tod, Suizid undden Umgang mit Fundmunition ums Leben.Heute haben wir von drei in Afghanistan gefallenenSoldaten Abschied nehmen müssen. In diesem bedrü-ckenden Zusammenhang wird debattiert, ob ISAF unddamit Deutschland in Afghanistan Krieg führt. DieseDiskussion ist aus meiner Sicht zumindest missverständ-lich, in jedem Fall ist sie inhaltlich verkürzt und hilft unspolitisch nicht weiter.
Sie hilft weder den Soldatinnen und Soldaten noch denMenschen in Afghanistan. Meines Erachtens erlaubenweder die rechtlichen Grundlagen der Operation ISAFnoch die völkerrechtlich gültigen Definitionen die Be-zeichnung „Krieg“.Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen: Soldatinnen undSoldaten der Bundeswehr setzen heute zur See, in derLuft und am Boden auch ihr Leben ein, um die ihnenvom Deutschen Bundestag erteilten Aufträge zu erfül-len. Das Mandat des Bundestages für ISAF, das bis13. Dezember 2009 befristet ist, beschreibt den Auftragwie folgt:Der ISAF-Einsatz hat unverändert das Ziel, Afgha-nistan bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit sozu unterstützen, dass sowohl die afghanischenStaatsorgane als auch das Personal der VereintenNationen und anderes internationales Zivilpersonal,insbesondere solches, das dem Wiederaufbau undhumanitären Aufgaben nachgeht, in einem sicherenUmfeld arbeiten können.Das ist unser Auftrag an die Soldatinnen und Soldaten.Regierungsfeindliche und zur Gewaltanwendung be-reite afghanische und ausländische Kräfte versuchen,ebendies zu verhindern. Sie stehen in einem asymmetri-schen Konflikt mit der afghanischen Regierung und derinternationalen Gemeinschaft. Die regierungsfeindlichenKräfte können auf unterster taktischer Ebene sowieräumlich und zeitlich eng begrenzt Kräftegleichheit, inAusnahmefällen auch zahlenmäßige Überlegenheit er-reichen. Der Auftrag der Soldatinnen und Soldaten derBundeswehr ist in diesen Situationen nur durch Kampfzu erfüllen. Der Kampf erfolgt nach taktischen Grund-sätzen, die auch in einem Krieg anzuwenden wären.Peter Struck hat als Verteidigungsminister, aber auchdanach immer wieder darauf hingewiesen, dass es sichbeim ISAF-Einsatz um einen Kampfeinsatz handelt, beidem Soldaten verletzt und getötet werden können undauch in die Lage kommen können, selbst töten zumüssen. Dennoch befinden sich die Soldatinnen undSoldaten – mir ist das auch für meine und unsere Arbeitwichtig – nicht im Krieg, sondern in einem Stabilisie-rungseinsatz, was Sie, Herr Bundesverteidigungsminis-ter, als Inhaber der Befehls- und Kommandogewaltheute auch noch einmal richtig ausgesagt haben.
Im Krieg dürfte jede Form von Gewalt angewendetwerden, sofern sie nicht dem Kriegsvölkerrecht wider-spricht. Im Stabilisierungseinsatz ist jede Form von Ge-waltanwendung verboten, soweit sie durch das Mandatder Vereinten Nationen nicht ausdrücklich zugelassenwird.
Bei der Anwendung militärischer Gewalt muss man sichdaher ausschließlich an den restriktiven Vorgaben desMandats orientieren, die in einem Operationsplan unterBerücksichtigung festgelegter Einsatzregeln, der soge-nannten Rules of Engagement, umgesetzt worden sind,die für alle ISAF-Kräfte verbindlich sind. Ich meine,dass diese Unterscheidung wichtig ist und im Haus he-rausgearbeitet werden muss; denn dadurch wird die mili-tärische Gewaltanwendung nach kriegsähnlichen takti-schen Grundsätzen auf die wenigen Situationenbegrenzt, in denen sich die regierungsfeindlichen Kräfteder Auftragserfüllung durch die Soldatinnen und Solda-ten der Bundeswehr mit Waffen und Sprengmitteln inden Weg stellen.Unsere Soldatinnen und Soldaten haben einen klarenund politisch legitimierten Auftrag. Wir müssen – das istunsere Pflicht – ihnen alle erforderlichen Mittel zur Ver-fügung stellen, damit sie diesen Auftrag erfüllen können.Das schließt auch gegebenenfalls den Einsatz vonschweren Waffen mit ein. Daraus darf aber nicht die Fol-gerung abgeleitet werden, dass jetzt Krieg ist. Das ist einveralteter Reflex aus den Zeiten des 20. Jahrhunderts.
Wer generell vom Krieg in Afghanistan spricht, derkann einer Entgrenzung der Anwendung militärischerMittel Vorschub leisten, die im krassen Gegensatz zumMandat der Vereinten Nationen stehen würde. DiesemRisiko sollte man sich nicht aussetzen.
So klar es ist – das wollte ich darlegen; ich hoffe, dassich das konnte –, dass wir uns nicht im Krieg befinden,so verständlich und nachvollziehbar ist es, dass es fürden einzelnen Soldaten, der im Feuerkampf steht und umsein Leben und um das Leben seiner Kameraden kämpft,keinen Unterschied macht, ob er dies im Stabilisierungs-
Metadaten/Kopzeile:
25742 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Walter Kolboweinsatz oder im Krieg tut. Mit diesem Gefühl darf wederunbedacht umgegangen noch darf es instrumentalisiertwerden. Das sind wir unseren Soldatinnen und Soldatenschuldig.
Daher sollte eine politische Diskussion über die Eskala-tion bei den Wirkmitteln sorgsam geführt und auf keinenFall zu einem Hinterfragen der mandatsrechtlichen Vo-raussetzungen für diesen Einsatz genutzt werden.
Ich denke, dass unsere Soldatinnen und Soldaten vonuns erwarten dürfen, dass die Herausforderungen desEinsatzes klar angesprochen werden. Wir verlangen vonunseren Soldaten die Erfüllung ihres Auftrags unter wid-rigen klimatischen und gesundheitlichen Bedingungen,teilweise unter erheblicher psychischer und physischerBelastung. Sie leisten Hervorragendes, und ihre Leistun-gen, die sie in unser aller Namen erbringen, verdienenAnerkennung.
Deswegen möchte ich als einer, der immer auf demGebiet der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gear-beitet hat, meine letzte Rede vor dem Deutschen Bun-destag auch dazu nutzen, die weitere Unterstützung fürunsere Männer und Frauen aus diesem Haus heraus– von Politik und Gesellschaft – zu erbitten, damit sie inschwierigen Lagen selbstbewusst und sicher bestehenkönnen. Ich habe die Bundeswehr und die Menschen, diein ihr und für sie arbeiten, in diesen 29 Jahren als Parla-mentarier in den Mittelpunkt meiner politischen Arbeitstellen dürfen. Es war mir immer wichtig, dass die Bun-deswehr nicht nur in der Gesellschaft verankert ist, son-dern dass auch die Gesellschaft unsere Bundeswehr alseinen wichtigen sicherheitspolitischen Bestandteil dieserRepublik wahrnimmt und akzeptiert.
Unsere Bundeswehr ist nämlich nicht nur eine Streit-macht; sie ist eine Parlamentsarmee, unsere Armee, inder Bürgerinnen und Bürger in Uniform und als Zivilbe-schäftigte ihren Dienst für unser Land und unsere Ge-sellschaft leisten. Sie verdient alle Zuwendung und mehrals freundliches Desinteresse.
Ich danke Ihnen für die Möglichkeit, mit Abgeordne-ten aller Fraktionen Freundschaften zu begründen, beiunterschiedlichen Positionen Respekt füreinander zu er-arbeiten, manchmal – das war in der rot-grünen Koali-tion, aber auch in der Großen Koalition so – mit zusam-mengebissenen, knirschenden Zähnen. Unter dem Strichhaben die Koalitionen, in denen ich als Parlamentari-scher Staatssekretär oder jetzt als stellvertretender Frak-tionsvorsitzender mitarbeiten durfte, für die Streitkräftegearbeitet und die Ansprüche der Streitkräfte erfüllt. Ge-ben wir uns Mühe, dies weiterhin zu tun! Nutzen wirweiterhin die Möglichkeit, mit denen, die in Verantwor-tung stehen – mit den Inhabern der Befehls- und Kom-mandogewalt, der militärischen Führung und der politi-schen Führung in diesem Land –, für unsere Streitkräftezu wirken!Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen alles erdenklichGute.
Kollege Kolbow, ich nehme Ihren letzten Satz auf.
Ich denke, ich spreche im Namen des gesamten Hauses,
wenn ich Ihnen für den nun beginnenden neuen Lebens-
abschnitt alles erdenklich Gute wünsche.
Für die Fraktion der FDP spricht nun die Kollegin
Birgit Homburger.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben heute über den Einsatz von AWACS zur Luft-raumüberwachung und Koordinierung des Luftverkehrsin Afghanistan zu entscheiden. Diejenigen von uns, dieschon mehrfach in Afghanistan waren, wissen: Wir kön-nen froh sein, dass in diesem Luftraum noch nichts pas-siert ist.
Es gibt in diesem Bereich keine zivile Luftraumüber-wachung. Ich sage hier in aller Deutlichkeit: Deutsch-land stellt für ISAF in ganz Afghanistan einen großenTeil des Lufttransports zur Verfügung. Wir haben des-halb ein hohes Eigeninteresse an einem geordneten Luft-verkehr. Diese Fähigkeit wird sowohl unseren Soldatin-nen und Soldaten als auch den ISAF-Partnern und denzivilen Flugzeugen mehr Sicherheit und Schutz bringen.Deshalb sagen wir: Diese Fähigkeit ist notwendig. DieFDP-Bundestagsfraktion stimmt also dem Mandatsan-trag der Bundesregierung zu.
In den letzten Wochen ist immer wieder öffentlich,aber auch intern argumentiert worden, diese Maßnahmesei insbesondere wegen des zivilen Flugverkehrs nötig.Immer wieder wurde die Fluglinie Frankfurt–Kabul insGespräch gebracht. Ich habe diese krampfhafte Suchenach Begründungen im zivilen Bereich als einen weite-ren Versuch der Desinformation gewertet. Ich möchtealle darum bitten, die Lage deutlich darzustellen. Das Ei-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25743
(C)
(D)
Birgit Homburgergeninteresse, den Flugverkehr zum Schutz der militäri-schen Luftfahrt zu entflechten und zu regeln, ist nichtweniger legitim als der Schutz der zivilen Luftfahrt. ImGegenteil: Wir sind das unseren Soldatinnen und Solda-ten schuldig.
Die Linke behauptet, dass diese Luftraumüberwa-chung zu mehr Luftunterstützung führen wird und damitmehr Tote bedeutet. Ich sage hier in aller Klarheit: DasGegenteil wird der Fall sein.
Die AWACS-Flugzeuge haben keine Fähigkeit zur Erd-zielzuweisung. Das müsste man bei Ihnen von der Lin-ken in der Fraktion einfach einmal zur Kenntnis nehmen.Wer in der Region Stabilisierung erreichen will,schafft das allerdings nicht nur von außen; darüber ha-ben wir schon mehrfach diskutiert. Deshalb und weil dieAWACS-Aufklärung auch weit über Afghanistan hinausin den Luftraum anderer Länder hinein möglich ist, ha-ben wir vonseiten der FDP-Fraktion die Bundesregie-rung darum gebeten, frühzeitig Kontakt mit Pakistan unddem Iran aufzunehmen. Uns wurde ursprünglich signali-siert, dass diesem Wunsch entsprochen werden soll.Deswegen war ich sehr erstaunt, als uns gestern ein Ver-treter des Auswärtigen Amtes erklärte, dass man Kon-sultationen mit Pakistan und dem Iran nicht für nötighalte. Warum hat das Auswärtige Amt Herrn Mützelburgzum Sonderbeauftragten für Afghanistan und Pakistanbenannt, wenn Konsultationen in so einer zentralenFrage für unnötig gehalten werden?
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Regie-rung, es geht sicherlich nicht um eine förmliche Konsul-tation; aber es ist eine Frage der politischen Klugheit,diese Länder zu informieren, um Missverständnissenvorzubeugen und daraus resultierende Schwierigkeitenzu vermeiden.
Wir erwarten von der Bundesregierung in Zusammen-arbeit mit der afghanischen Regierung und den interna-tionalen Partnern Anstrengungen zur Etablierung einerbodengestützten Luftraumüberwachung. Wir können sienicht auf Dauer mit AWACS-Flugzeugen durchführen;das ist uns allen klar. Deswegen sind wir unzufrieden mitder Auskunft der Bundesregierung, die zwar sagt, dassdie Lufthafeninfrastruktur in Afghanistan in den nächs-ten zwei Jahren deutlich ausgebaut werden soll, abervöllig offen lässt, bis wann eine zivile bodengestützteLuftraumüberwachung geschaffen werden soll. Wir er-warten, meine sehr verehrten Damen und Herren von derBundesregierung, dass Sie entsprechende Anstrengun-gen unternehmen. Denn Sie wissen genauso gut wie wir,dass der Einsatz, den wir heute beschließen, die Luft-raumsicherung nicht auf Dauer gewährleisten kann.
Der Kollege Kolbow hat es schon angesprochen:Heute fand die Trauerfeier für die drei gefallenen Solda-ten statt. Sie haben im Einsatz für Frieden und Wieder-aufbau in Afghanistan ihr Leben gelassen. Ich denke, wirsollten auch in einer solchen Debatte wie heute sagen,dass der Deutsche Bundestag in Gedanken bei den Fami-lien und bei den Kameraden ist, und ihnen unser Beileidaussprechen.
Ich möchte zum Abschluss kurz auf die Situation inAfghanistan eingehen. Kollege Kolbow hat sich dazuebenfalls gerade geäußert. Ich denke, das ist angesichtsdes Diskussionsverlaufs der letzten Tage auch notwen-dig. Wir alle wissen, dass die Situation in Afghanistanschwierig ist. Uns allen war klar, dass die Phase vor denafghanischen Wahlen und auch vor den deutschen Parla-mentswahlen besonders kritisch werden würde. Deshalbmöchte ich an dieser Stelle deutlich machen, dass wirvon der Bundesregierung erwarten, dass die Anstrengun-gen zur Verbesserung von Ausrüstung und Ausstattungbeschleunigt werden.Auch ich teile die Auffassung des Kollegen Kolbow,dass es niemandem, der sich vor Ort im Einsatz befindet,weiterhilft, wenn wir hier eine Debatte darüber führen,ob es ein Krieg ist oder nicht. Aber wir erwarten, dassder Bundesverteidigungsminister wie auch die Bundes-regierung klar sagen, um was es sich handelt.Sie haben wieder den Begriff „Stabilisierungseinsatz“benutzt. Es geht zwar um die Stabilisierung in Afghanis-tan, aber es steht außer Frage, dass sich die Soldatinnenund Soldaten dort in einem Kampfeinsatz befinden. Wirerwarten, dass das von der Bundesregierung offensivthematisiert wird, weil sonst die Situation beschönigtwird. Nur dann, wenn man offensiv argumentiert, erhältman auch Akzeptanz und Unterstützung für diesen Ein-satz bei der Bevölkerung.
Ich komme zum Schluss. Die Soldatinnen und Solda-ten im Einsatz brauchen Rückendeckung für die großeHerausforderung und ihre exzellente Arbeit unterschwierigen Bedingungen. Das ist die Aufgabe von unsallen; es ist aber insbesondere eine Aufgabe der Bundes-regierung. Deswegen möchte ich damit schließen, dassich denjenigen, die vor Ort im Einsatz sind, in unser allerAuftrag ein herzliches Dankeschön sage.
Das Wort hat der Kollege Eckart von Klaeden für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle-gen! Die Vorredner haben schon darauf hingewiesen:
Metadaten/Kopzeile:
25744 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Eckart von KlaedenHeute Vormittag hat in Bad Salzungen die offizielleTrauerfeier für die drei Soldaten stattgefunden, die inWahrnehmung ihres Auftrages, im Einsatz für den Frie-den und gegen den Terror, in Afghanistan gefallen sind.Ich möchte an dieser Stelle im Namen meiner Fraktionden Angehörigen, Freunden und Kameraden der dreiSoldaten unsere aufrichtige Anteilnahme und unser Mit-gefühl aussprechen.Es ist nachvollziehbar, dass die Kameraden der dreigefallenen Soldaten ihren Einsatz in Kunduz persönlichals einen Kriegseinsatz empfinden. Um ihren Auftrag zuerfüllen, der der Sicherheit unseres Landes dient, sehensie sich immer häufiger in Kämpfe und Gefechte verwi-ckelt, was mit erheblichen Gefahren für Leib und Lebenverbunden ist, wie der Tod dieser drei Soldaten zeigt. Esist trotzdem falsch, von Krieg zu sprechen. Deutschlandund die NATO befinden sich nicht im Krieg gegen Af-ghanistan. Im Gegenteil: Die Bundeswehr ist Teil vonISAF, der Internationalen Sicherheits- und Unterstüt-zungstruppe in Afghanistan. Wir unterstützen die demo-kratisch gewählte afghanische Regierung bei der Erfül-lung ihres Auftrags. Wir sind dort zur Unterstützung undDurchsetzung des Völkerrechts, mit einem Mandat derVereinten Nationen.
Die Taliban dagegen versuchen, mit terroristischenMethoden, feigen und hinterhältigen Sprengfallen, men-schenverachtenden Selbstmordattentaten sowie Entfüh-rungen und bewaffneten Überfällen auf Einrichtungendes Staates wie Schulen, Regierungsgebäude oder Poli-zeistationen den Wiederaufbau des Landes zu verhin-dern. Wir sollten dieses verbrecherische Tun der Tali-ban nicht dadurch aufwerten, dass wir von Kriegsprechen und den Eindruck erwecken, als käme ihnender Kombattantenstatus zu. In den 70er-Jahren hat dieTerrororganisation RAF in der Bundesrepublik Deutsch-land ähnlich argumentiert wie die Taliban heute. Auchdie RAF-Terroristen haben von uns erwartet, dass wir sieals Kombattanten ansehen, und haben entsprechendeRechte für sich eingeklagt. Aber sie sind keine Kombat-tanten, sondern nichts anderes als gemeine Verbrechergewesen. Das gilt genauso für die Taliban.
Von Krieg zu sprechen, ist eine falsche Darstellungunseres Einsatzes. Von Anfang an haben wir, die Frak-tionen, die dem Einsatz zustimmen, und die Bundesre-gierung deutlich gemacht, dass es sich um einenKampfeinsatz handelt. Insofern ist die Kritik, die von derFDP vorgetragen wird, unzutreffend. Aber genauso klarist immer wieder gesagt worden, dass die Aufgabe in Af-ghanistan eben nicht allein mit militärischen Mitteln zuerfüllen ist. Es geht um den Aufbau des Landes, der mi-litärisch abgesichert werden muss. Das Militär kann füreine gewisse Zeit ein sicheres Umfeld schaffen. In die-sem sicheren Umfeld müssen dann der Aufbau und dieStabilisierung des Landes stattfinden. Das gelingt in ei-nigen Regionen unseres Einsatzgebietes in ganz beein-druckender Weise. Ich denke zum Beispiel an die RegionMasar-i-Scharif. Dort hat sich die Sicherheitslage nichtverschlechtert. Im Gegenteil: Einige sprechen sogar voneiner Verbesserung.Wir haben über Jahre an unsere amerikanischen Ver-bündeten appelliert, nicht von einem War on Terror,nicht von einem Krieg gegen den Terror zu sprechen. Ichweiß, dass dieser Begriff im Amerikanischen eine an-dere Konnotation hat als im Deutschen. Aber selbst un-sere britischen Freunde haben immer wieder darauf hin-gewiesen, dass es sich nicht um einen War, einen Krieghandelt. Ein amerikanisches Sprichwort lautet: „Wennman einen Hammer hat, dann fangen alle Probleme an,wie Nägel auszusehen“. Wir müssen eine solche Veren-gung unseres Denkens vermeiden. Deswegen ist eswichtig, darauf hinzuweisen, dass das, was wir in Afgha-nistan tun, kein Krieg ist.
Entwicklung ist ohne Sicherheit nicht möglich. Das giltganz sicherlich nicht für einen Kriegseinsatz.Es ist richtig, dass gefordert wird, dass wir eine ehrli-che Debatte über die Beteiligung der Bundeswehr amISAF-Einsatz in Afghanistan führen. Wir müssen dasauch tun, damit sich die Soldaten und ihre Angehörigenbei ihrer schwierigen Aufgabe unterstützt fühlen. Essteht meiner Ansicht nach völlig außer Frage, dass sichdie im Raum Kunduz eingesetzten Soldaten in einerkriegsähnlichen Situation befinden und dass das mit ho-hem persönlichem Risiko verbunden ist. Das ändert abernichts an der strategischen Zielsetzung des Einsatzes:Aufbau und Stabilisierung Afghanistans.Ein Grund für die verstärkten Angriffe, denen unsereSoldaten ausgesetzt sind, ist das wachsende amerikani-sche Engagement im Süden und Osten, wodurch derDruck auf die Taliban erhöht wird, die versuchen, in denNorden auszuweichen. Die Aufgabe der Bundeswehrmuss sein, die afghanischen Verbände im Norden desLandes dabei zu unterstützen, dass sich die Taliban nichtin unserem Zuständigkeitsbereich festsetzen können.Die Taliban können nur besiegt werden, wenn sie inganz Afghanistan besiegt und aus dem afghanisch-pakis-tanischen Grenzraum vertrieben werden. Selbstverständ-lich müssen die in Afghanistan eingesetzten Bundes-wehreinheiten alle zur Verfügung stehenden Mittelerhalten, um ihre Aufgaben auch unter den neuen, er-schwerten Bedingungen erfüllen zu können. Ich habeden begründeten Eindruck, dass sowohl die zivile alsauch die militärische Führung der Bundeswehr sich die-ser Verantwortung bewusst sind und dieser Aufgabenachkommen.
In Afghanistan haben wir es nach wie vor mit nur ge-ring entwickelten staatlichen Institutionen, mit Korrup-tion und Drogenhandel in Kombination mit islamistischmotiviertem Extremismus zu tun. Afghanistan hat mitPakistan eine Nuklearmacht als Nachbarn, der ange-sichts der Finanz- und Wirtschaftskrise der Staatsbank-rott droht. Wir haben in den letzten Jahren die Erfahrung
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25745
(C)
(D)
Eckart von Klaedengemacht, dass die Gefahren für unser Land und für unsin Europa nicht an Grenzen haltmachen. Diesen Gefah-ren stellen sich unsere Soldaten tapfer. Tapferkeit setztVerwundbarkeit voraus. Die Gefahren für die Freiheitund das Recht unseres Volkes kennen keine geografi-schen Grenzen mehr. Deswegen ist es richtig, festzustel-len, dass die drei Soldaten für das Recht und die Freiheitunseres Volkes in Afghanistan gefallen sind.
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Monika Knoche das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren undDamen! Die USA starteten heute früh eine Großoffen-sive im Süden Afghanistans. Der NATO-Einsatz istschon lange keine Ziviloperation mehr. OEF, das nichtvon der UN gedeckte Kampfmandat, und ISAF sindschon lange miteinander verwoben. Es ist richtig: Eshandelt sich nicht um einen Krieg wie im 19. oder20. Jahrhundert, aber es handelt sich um den sogenann-ten asymmetrischen Krieg, und in diesem asymmetri-schen Krieg ist als Allererstes die Zivilbevölkerung dasOpfer.
Deshalb sprechen wir von Krieg. Die Betroffenen, so-wohl die Soldatinnen und Soldaten als auch die afghani-sche Bevölkerung, empfinden das als nichts anderes alseinen Krieg.
Die Linke verweigert die Zustimmung zu diesemAWACS-Mandat. Mit den drei bis vier AWACS-Maschi-nen sollen zunehmende Luftverkehrsbewegungen ge-schützt werden; so sagt die Bundesregierung. Das Wort„zivil“ ist hierbei völlig fehl am Platz. Schließlich han-delt es sich nicht um Charterflüge für Touristen, sondernum Flüge zum Transport von Militärgütern und Solda-ten, deren Zahl zunimmt.
Es geht in Wirklichkeit um militärische Luftoperationen.Sie sollen intensiviert werden. Die Militäroperationensollen reibungslos stattfinden können. Das ist Sinn undZweck des Einsatzes der AWACS-Flugzeuge.
Das ist eine neue Eskalationsstufe. Es wird zwar vonLuftsicherheit gesprochen, gemeint sind aber gezielteLuft-Boden-Operationen. Dabei sollen die AWACS-Flugzeuge mithelfen. Es ist klar zu sagen: Wollte manZiviles, wollte man keine Kriegsführung, würde man bo-dengestützter Luftraumüberwachung den Vorzug geben.Das aber tun Sie nicht. So können wir nur einen Schlussziehen: Mehr Militärschläge, mehr Krieg – allein darumgeht es. Und dafür braucht man eine verbesserte Organi-sation.
Die Bundesregierung muss endlich die Wahrheit aus-sprechen: Deutschland befindet sich im Krieg. Das heu-tige Mandat bedeutet noch mehr Krieg. Niemand kannabstreiten, dass die USA seit einiger Zeit die Kampfzoneauf Pakistan ausgeweitet haben. Zwar steht in dem heuti-gen Mandat, dass es auf Afghanistan beschränkt bleibensolle. Wichtig ist aber die Frage nach den Drohnen. Wiewird diese von Ihnen beantwortet? Im Verteidigungsaus-schuss kamen keine aufklärenden Antworten. KönnenSie ausschließen, dass grenzüberschreitende Daten derAWACS-Flüge für Drohnenangriffe genutzt werden? Füruns ist das eine ernste Frage, weil es für Pakistan keinvölkerrechtliches Mandat gibt.Eines ist vollkommen klar: Der Einsatz der AWACS-Flugzeuge wird zu weiteren Opfern in der Zivilbevölke-rung führen. Eine Fortführung dieses Krieges – dem wi-dersprechen wir ganz entschieden – wird nicht zum Frie-den führen.
Frieden und Sicherheit für das kriegsgeschundene afgha-nische Volk können nur erreicht werden, wenn der Kriegbeendet wird. Auch Demokratie kann nur erreicht undder Fundamentalismus nur bekämpft werden, wenn die-ser Einsatz beendet wird.Vor vier Jahren habe ich in diesem Haus eine Exitstra-tegie eingefordert und dargestellt, wie sie mit der Bevöl-kerung und den Anrainerstaaten erreicht werden kann.Dieser Tage forderte der CSU-Abgeordnete Ramsauernach dem beklagenswerten Tod der drei deutschen Sol-daten eine Exitstrategie.
Ich unterstütze alle Beweggründe, den Krieg zu been-den. Es muss aber endlich die politische Einsicht wach-sen, dass die NATO gescheitert ist. Die NATO hat keineBerechtigung, sich in Afghanistan festzusetzen.
Die NATO ist bei der afghanischen Bevölkerung zuneh-mend verhasst, weil sie ihre Angehörigen tötet und ihnendie Perspektive auf eine selbstbestimmte Politik und Ge-sellschaftsordnung nimmt. Militärisch ist der Terror oh-nehin nicht zu besiegen. Politisch sind Demokratie, Frei-heit der Frauen und Antifundamentalismus vom Westennicht durchsetzbar. Das ist nicht zuletzt deshalb der Fall,weil der Westen als Besatzungsmacht wahrgenommenwird.
Metadaten/Kopzeile:
25746 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Monika Knoche
US-Präsident Obama setzt diesen völlig irrigen undfalschen Weg fort und verstärkt den Krieg. 100 000 Sol-daten sollen alsbald dort sein. Sie sollen eine Aufstands-bekämpfung durchführen. Der Einsatz von Bodentrup-pen wird verstärkt. Nicht selten wird es dazu kommen,dass sich Soldaten aus misslichen Lagen herausbombenlassen. Dazu braucht man die Luftüberwachung. Ichhabe bereits gesagt: Die wechselseitige Einflussnahmeund das Zusammenkommen von ISAF und OEF habenschon dazu geführt, dass sich deutsche Soldaten mittenin Bodenoperationen befinden.Wir werden dem AWACS-Mandat nicht zustimmenund fordern auch heute ganz deutlich: Deutsche Soldatenmüssen aus Afghanistan abgezogen werden!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich mache Sie da-
rauf aufmerksam, dass wir in dieser Debatte noch drei
Redner haben. Ich bitte diejenigen, die vor der namentli-
chen Abstimmung unabweislich Gespräche führen müs-
sen, dies außerhalb des Plenarsaals zu tun. Ansonsten
sind genügend Sitzgelegenheiten in diesem Plenarsaal,
sodass wir auch diesen drei Kollegen die entsprechende
Achtung entgegenbringen können.
Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In der ersten Lesung vor 14 Tagen habe ich schon eini-ges zu den beiden folgenden Schlüsselfragen gesagt:Erstens: Ist der Einsatz von AWACS-Flugzeugen für dieSchaffung von mehr Flugsicherheit notwendig? Zwei-tens: Führen sie zu mehr Krieg? Wichtige Fragen mussman beantworten. Meine Prüfung und weitere Informa-tionen haben ergeben: Der Bedarf bei der Flugsicherunghat sich erhärtet.
Es gab in den letzten Jahren bei den Flugbewegungeneinen Zuwachs von 25 Prozent. In den Jahren zuvor hates zahlreiche kritische zivile Begegnungen bzw. Beina-heunfälle gegeben. Man muss feststellen, dass der Flug-verkehr immer wieder unterbrochen werden muss, weilkeine guten Sichtflugbedingungen herrschen. Dies ist füralle Nutzer des Luftraumes von erheblicher Bedeutung.Ich möchte wiederholen, was ich in meiner Rede vor14 Tagen bereits gesagt habe: Die AWACS-Flugzeugeordnen den Luftraum für alle Nutzer; das ist ihre Fähig-keit und ihre Aufgabe. Ob mehr Luftangriffe geflogenwerden und ob es mehr Ziviltote gibt, liegt nicht an denAWACS-Flugzeugen, sondern an der Strategie der ISAFund insbesondere der USA sowie an deren taktischerUmsetzung. Das ist der Knackpunkt.
In diesen Tagen komme ich zu einem anderen Ergeb-nis, als ich zum Beispiel vor einem Jahr gekommenwäre. Die Aussagen der verschiedenen Ebenen der ame-rikanischen Führung sind inzwischen eindeutig: A und Oist der Schutz der Bevölkerung. Wenn dieser nicht ge-währleistet wird, kann man alles andere vergessen. Diesgilt inzwischen auch für die taktischen Weisungen.Überall dort, wo ein Risiko für die Bevölkerung besteht,will man keine Luft-Boden-Einsätze durchführen.Ich mache es jetzt so, wie ich es in den letzten Jahrengemacht habe: Ich bin nach wie vor der Meinung, dasssolche Fragen immer nach bestem Wissen und Gewissengeprüft werden müssen. Man darf dabei nicht auf etwasanderes Rücksicht nehmen.
Mein schlichtes Ergebnis lautet: Für die sehr kritischeFlugsicherheit sind diese Geräte unabdingbar; denn diestationäre Flugsicherheit ist zurzeit nur lokal gewährleis-tet. Sie kann erst in einigen Jahren aufgebaut werden; daist mehr Energie notwendig. Abhilfe ist aber hier undheute gefragt.Ich komme zur Beantwortung der zweiten Frage: DieBefürchtung der Beihilfe zur Eskalation durch den Ein-satz der AWACS-Flugzeuge halte ich für unbegründet.
Von daher sind die AWACS-Flugzeuge für mich etwasanderes als die Tornados. Damals habe ich keine Zustim-mung empfohlen. Jetzt werde ich mit der Mehrheit mei-ner Fraktion zustimmen. Andere Mitglieder meinerFraktion werden sich aus legitimen Gründen der Stimmeenthalten oder auch den Antrag ablehnen.Dieses punktuelle Votum ändert nichts an meinergrößten Beunruhigung, die Entwicklung in Afghanistan,und auch nichts an meiner großen Beunruhigung überdie diesbezügliche Politik der Bundesregierung. IhreÄußerungen – so muss ich immer wieder feststellen –sind von Selbstzufriedenheit geprägt. Offenbar ist derErnst der Lage in Afghanistan bei der Regierung nochnicht angekommen.
Wo ist im achten Jahr des Afghanistan-Engagementseigentlich eine ehrliche Zwischenbilanz? Die Leute fra-gen zu Recht: Warum wird es immer schlechter? Damuss man eine nüchterne und ehrliche Antwort geben.Wo sind überprüfbare Zwischenziele für die deutschenAufbauanstrengungen im Norden? Wo ist der forcierte
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25747
(C)
(D)
Winfried NachtweiPolizeiaufbau? Wie kann es geschehen, dass im vorigenJahr in der Provinz Kunduz 537 afghanische Polizeistel-len gestrichen wurden? Da soll man sich nicht wundern,wenn sich Aufständische in den verschiedenen Distrik-ten festsetzen.
Zusammengefasst muss ich sagen: Beim Thema Af-ghanistan ist bei der Bundesregierung viel zu viel Halb-herzigkeit zu erkennen. Das ist gerade in der jetzigen Si-tuation brandgefährlich.
Seit 1994 habe ich im Bundestag erhebliche Umbrü-che in der deutschen Friedens- und Sicherheitspolitikmiterlebt. Manchmal war es sehr schwierig, und es kannsein, dass die nächsten Wochen und Monate noch einmalum einiges schwieriger werden. Als umso ermutigenderhabe ich es erfahren, welche neuen Friedensfähigkeitenwir im Bundestag aufbauen konnten und wie vielenMenschen, Friedenspraktikern mit Herz und Verstandich in Krisenregionen begegnen durfte.Ich möchte ausdrücklich den verschiedenen Ressortsdanken, dem Entwicklungshilfeministerium,
dem Innenministerium und den Polizisten, dem Außen-ministerium und den Diplomaten sowie dem Verteidi-gungsministerium und den Soldaten, die das genaue Ge-genteil von dem tun, was die Wehrmacht angestellt hat.Ihnen allen gilt mein ausdrücklicher Dank!
Ich danke Ihnen und euch allen für die hervorragendesowohl menschliche als auch politische Zusammenar-beit, die es immer wieder – natürlich nicht immer – gab.Ich danke meiner Fraktion für ihr Vertrauen, meinenMitarbeiterinnen und meiner lieben Frau Angela.Danke.
Kollege Nachtwei, es begleiten auch Sie die guten
Wünsche des gesamten Hauses in Ihren neuen Lebens-
abschnitt. Ich habe das heute schon mehrfach zu Kolle-
ginnen und Kollegen gesagt und mit einigen auch da-
rüber gesprochen, dass ich noch keine bessere
Beschreibung für den Zustand gefunden habe, in dem
Sie sich zukünftig wiederfinden werden. Alles, alles
Gute!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wiederhole
meine Bitte, auch den nachfolgenden Rednern noch die
notwendige Aufmerksamkeit zu widmen und sich auf
die folgende namentliche Abstimmung sitzend vorzube-
reiten.
Das Wort hat der Kollege Gert Winkelmeier.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Wenn die Politik Getriebene statt Gestalterin ist – egalauf welchem Gebiet –, dann ist etwas aus dem Ruder ge-laufen. Mit dem heutigen Antrag der Bundesregierung,AWACS-Flugzeuge über Afghanistan einzusetzen, wirddies in besonderer Weise deutlich.Der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr geht inzwi-schen in das achte Jahr. Der Fraktionsvorsitzende derSPD bereitete die Bürger im Spiegel-Streitgespräch aufweitere zehn Jahre vor. Was Anfang 2002 als Absiche-rungsmission für die Interimsregierung im Raum Kabulseinen Anfang nahm, wurde Schritt für Schritt auf dasganze Land ausgedehnt. Inzwischen sind die Maßnah-men der schleichenden Ausdehnung des Kriegseinsatzesnicht mehr zu übersehen.Ich habe den Eindruck, dass die Verantwortlichen derBundesregierung Getriebene ihrer ideologisierten undvöllig falschen Vorstellung vom Charakter des Wider-standswillens der Afghanen sind. Unter den afghani-schen Aufständischen sind sicherlich auch Kriminelle;das ist nach 30 Jahren Krieg und Bürgerkrieg kein Wun-der. Aber der Charakter des afghanischen Widerstandesliegt darin, dass die Afghanen keine Fremdherrschaftwollen. Das ist die Wahrheit.
Es kommt nicht darauf an, wie Herr Jung oder die Mehr-heit dieses Hauses das sehen wollen, sondern wie die Af-ghanen das Problem der Fremdherrschaft sehen.Im Verantwortungsbereich der Bundeswehr findet im-mer weniger von dem statt, wofür der Bundestag dasMandat ursprünglich erteilt hat: die Aufbauhilfe. Solltennicht die Tornados und die schnelle Eingreiftruppe dieRahmenbedingungen dafür verbessern? Das Gegenteilist eingetreten, und wir haben Ihnen das vorausgesagt.Nun kommen Sie mit dem Argument, dass AWACS auchder Sicherheit der Bevölkerung diene. Hören Sie dochauf, die Öffentlichkeit zum Narren zu halten! Der Ein-satzzweck von AWACS ist die Optimierung der Luft-kriegsführung. Das ist die Wahrheit, und alles andere istNebelkerzenwerfen!
Deutschland und seine Soldaten geraten immer tieferin den Schlamassel hinein. Am Mittwoch ist im Verteidi-gungsausschuss offen darüber gesprochen worden, wanndie Kampfhubschrauber Tiger und weitere Kampfpanzer
Metadaten/Kopzeile:
25748 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Gert WinkelmeierMarder in Afghanistan eingesetzt werden können. Einmögliches Datum wäre das zweite Quartal 2011.Wenn der nächste Bundestag die Armeeeinsätze nichtendlich stoppt, dann werden wir noch sehr viel mehr totejunge Menschen in Afghanistan zu beklagen haben. DieZahl der Artikel über PTBS-Geschädigte und Versiche-rungen, die im Falle eines Todes in Afghanistan nichtzahlen wollen, werden zunehmen.Ich halte es für unverantwortlich, dass Politiker derFDP mittlerweile fordern, eigene Flugzeuge für denClose Air Support, also die Luftnahunterstützung deut-scher Truppen im Kampf, einzusetzen. Die Folgen wer-den sogenannte Kollateralschäden sein, und das deut-sche Volk wird beim afghanischen Volk an Ansehenenorm verlieren. Das alles wird riskiert, damit Deutsch-land weiter seinen Weg als Juniorweltmacht an der Seiteder USA gehen kann.Ich zitiere den ehemaligen CDU-Politiker Todenhö-fer, der im Spiegel-Streitgespräch von dieser Wochesagte:Ich glaube, dass unsere Soldaten in Afghanistan ausfalsch verstandener Solidarität zu den USA sterben.Genau so ist es.
Deswegen muss die Bundeswehr umgehend schrittweiseabgezogen werden, und es muss mit einem ausschließ-lich zivilen Wiederaufbauprogramm und politischenVerhandlungen begonnen werden, an denen alle Seitenbeteiligt sind.Vielen Dank.
Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat nun die Kol-
legin Dorothee Bär für die Unionsfraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zurück zurSachlichkeit: In der vergangenen Woche wurde uns allennoch einmal deutlich und auf tragische Weise vor Augengeführt, dass die Lage in Afghanistan weit davon ent-fernt ist, stabil zu sein. Drei junge Bundeswehrsoldatensind bei einem Angriff bewaffneter Aufständischer amHindukusch gefallen. Die Trauerfeier für sie hat unsheute sehr bewegt. Auch ich möchte betonen, dass un-sere Gedanken und Gebete bei den Familien sind, denenwir viel Kraft und Gottes Segen schicken.Aus diesem schrecklichen Ereignis und den lebensge-fährlichen Herausforderungen, mit denen sich unsereBundeswehrsoldaten konfrontiert sehen, dürfen wir abernicht die falschen Schlussfolgerungen ziehen. Wir dür-fen unser Engagement in Afghanistan nicht aufgeben!Herr Kollege Nachtwei, Sie haben leider Gottes aucheinige Worte der Kritik geübt. Ich hätte auch etwas anIhrer Rede zu kritisieren gehabt, aber nachdem es Ihreletzte Rede im Deutschen Bundestag ist, verzichte ichdarauf.
Die Menschen vor Ort vertrauen auf uns. Wir haben Ver-antwortung übernommen, und wir dürfen sie jetzt nichtim Stich lassen, weil ein Rückzug zum jetzigen Zeit-punkt das Land zurück in die Hände der Taliban werfenund alles bisher Geleistete zerstören würde.Die Stabilität Afghanistans wirkt sich unmittelbar aufunser Leben in Deutschland aus: Wenn Terroristen inAfghanistan ungestört tun und lassen können, was siewollen, dann wird es nicht lange dauern, bis Terroristenwieder vom afghanischen Staatsgebiet aus gegen denWesten agieren. Taliban und al-Qaida sind weiterhin inAfghanistan aktiv. Ein einseitiger Rückzug der Bundes-wehr aus Afghanistan, wie ihn beispielsweise Die Linkefordert, wäre nur im Interesse der fundamentalistischenTerroristen, die wieder einen sicheren Rückzugsort hät-ten.Deswegen ist es richtig und wichtig, dass die Bundes-wehr weiterhin in Afghanistan präsent ist und dort wert-volle Arbeit sowohl für die Menschen vor Ort als auchfür uns in Deutschland leistet. Hierbei muss jedoch füruns als Abgeordnete des Deutschen Bundestages die Si-cherheit unserer Soldaten im Vordergrund stehen, diefern der Heimat einen wichtigen Beitrag zum Schutz un-seres Landes leisten.Sehr geehrte Damen und Herren, verehrte Kollegenund Kollegen, heute haben wir hier die Gelegenheit, un-seren Soldaten zu zeigen, dass sie in Afghanistan nichtalleine sind, dass die deutsche Öffentlichkeit hinter ih-nen steht und bereit ist, Maßnahmen zu ergreifen, dieihre Sicherheit im Einsatzgebiet erhöhen. Das sind wirunseren Soldatinnen und Soldaten schuldig.Der Einsatz der AWACS-Flugzeuge dient in erster Li-nie dem Schutz unserer Piloten, der Flugzeugbesatzun-gen sowie unserer Soldatinnen und Soldaten; denn derLuftverkehr in Afghanistan nimmt täglich zu, und dieBundeswehr führt 51 Prozent der Flüge für den Trans-port von Material und Personal im afghanischen Staats-gebiet durch. Aber auch für unsere Polizisten, unsereEntwicklungshelfer und unsere Diplomaten bedeutet derEinsatz der AWACS-Flugzeuge einen Gewinn an Schutzund Sicherheit.Wir sind uns der Verantwortung bewusst, die wir alsAbgeordnete des Deutschen Bundestages gegenüber un-seren Soldaten haben. Derzeit leisten 3 693 Angehörigeder Bundeswehr ihren Dienst in Afghanistan. Es ist un-sere Pflicht, alles dafür zu tun, das Risiko ihres Einsatzesso minimal wie möglich zu halten, indem wir die Maß-nahmen ergreifen, die dazu dienen, ihre Sicherheitslagezu verbessern. Das muss unsere Priorität sein.Solche Scheindebatten, wie sie in der vergangenenWoche von einigen initiiert wurden, sind hierbei fehl amPlatz und lenken von den wahren Herausforderungen ab.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25749
(C)
(D)
Dorothee BärDurch falsche Begrifflichkeiten dürfen wir die Talibanweder moralisch noch rechtlich aufwerten. Natürlichsind unsere Soldaten in schwere Kampfhandlungen ver-wickelt. Bei den Taliban handelt es sich jedoch nicht umKriegsgegner, sondern um Verbrecher und Terroristen –um nichts anderes!
Verehrte Kollegen, die Zunahme der Angriffe stehtoffensichtlich im Zusammenhang mit der afghanischenPräsidentschaftswahl. Sie richten sich aber auch an diedeutsche Öffentlichkeit. Die Taliban versuchen, durchGewalt und Terror gegen deutsche Soldaten Einfluss aufdie Politik in unserem Land zu nehmen. Das dürfen wirihnen nicht erlauben.Im Sinne unserer Soldatinnen und Soldaten und derBürgerinnen und Bürger in unserem Lande möchte ichSie bitten, diesem Mandat Ihre Stimme zu geben. Ichwünsche mir ein einstimmiges Votum; denn das ist dasMindeste, was wir für sie tun können.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Mir liegen vom Kollegen Wolfgang Spanier, SPD-
Fraktion, vom Kollegen Wolfgang Börnsen, Unionsfrak-
tion, und vom Kollegen Omid Nouripour, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, Erklärungen nach § 31 der Ge-
schäftsordnung vor. Wir nehmen diese zu Protokoll.1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung
zur Beteiligung deutscher Streitkräfte am Einsatz von
NATO-AWACS im Rahmen der Internationalen Sicher-
heitsunterstützungstruppe in Afghanistan. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/13597, den Antrag der Bundesregierung
auf Drucksache 16/13377 anzunehmen.
Inzwischen liegt mir eine weitere Erklärung zum Ab-
stimmungsverhalten nach § 31 unserer Geschäftsord-
nung vor; sie stammt von der Kollegin Kerstin Müller,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wir nehmen auch
diese Erklärung zu Protokoll.1)
Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung na-
mentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen, bitte ich, sich zu vergewis-
sern, dass Ihr Name auf der Abstimmungskarte steht.
Sind alle Schriftführerinnen und Schriftführer an den
vorgesehenen Plätzen? – Das ist der Fall. Ich eröffne die
Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? – Da dies nicht der Fall ist,
1) Anlage 3
schließe ich jetzt die Abstimmung. Das Ergebnis der Ab-
stimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2)
Wir setzen die Beratungen fort, und zu diesem Zwe-
cke bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, Platz
zu nehmen.
– Ich werde den nächsten Tagesordnungspunkt erst dann
aufrufen, wenn wir die Beratungen fortsetzen können.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordneten
Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Erhöhung des Schonvermögens im Alter für
Bezieher von Arbeitslosengeld II
– Drucksachen 16/5457, 16/12912 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Karl Schiewerling
Über die Beschlussempfehlung werden wir später na-
mentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Rolf Stöckel für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! Das ganze Haus stimmt wohl zu, dass esgrundsätzlich Sinn macht, die private Altersvorsorgevon Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Falle derArbeitslosigkeit besser zu schützen und damit auch ei-nen wichtigen Beitrag zur Vorsorge gegen eine späterdrohende Altersarmut zu leisten. Es macht dagegen kei-nen Sinn, Altersvorsorge, die zu einem zusätzlichen Al-terseinkommen führen soll, auf das Arbeitslosengeld IIanzurechnen, wenn ein steuerfinanzierter Grundsiche-rungsbedarf im Alter dadurch vorprogrammiert wird.Deshalb haben wir Sozialdemokraten in unseremWahlprogramm für die Bundestagswahl in 87 Tagen ein-deutig festgelegt: Vermögen, das der privaten Altersvor-sorge dient, wird nicht auf das Arbeitslosengeld II ange-rechnet. Voraussetzung ist, dass unwiderruflich mitBeginn des Ruhestandes eine monatliche Rente garan-tiert wird. Wir wollen keine Begrenzung, keine Euro-Be-träge in einem Gesetzentwurf und auch keine Vernebe-lung der Zielsetzung.Angesichts der Wirklichkeit, meine Damen und Her-ren, sind solche Festlegungen überflüssig. Dass dieLinke in ihrem Antrag nach dem typisch taktischen Mus-2) siehe Seite 25751 C
Metadaten/Kopzeile:
25750 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Rolf Stöckelter heute den konkreten Vorschlag des NRW-Sozialmi-nisters Laumann aus der CDU übernimmt, wundert unszwar schon, aber es ist nicht unser Problem. Wir lehnenIhren Antrag ab, weil wir mehr wollen, und nicht nur,weil in ihm Details und Beträge festlegt werden, dienicht sachgerecht sind. Schließlich führt bereits der Titelauf eine falsche Fährte. Es geht hier nicht allgemein umeine Erhöhung von Schonvermögen im Alter, sondernum den Schutz der privaten Altersvorsorge für alle Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in jedem Alter. Dassollte meines Erachtens auch für Schüler, Auszubil-dende, Studenten und Soloselbstständige gelten.
Sie werden wesentlich stärker von den Brüchen in ihrenArbeitsbiografien betroffen sein.Während das Rentenniveau sinken wird, steigen dieAnsprüche an den Lebensstandard. Diejenigen, die ausihrem Einkommen Rücklagen für ein späteres Ruhe-standseinkommen ab Renteneintritt bilden, werden heutemit erheblichen Mitteln staatlich gefördert. Sie sollenauch dafür belohnt werden. Nicht nur die Riester-Renteals private Eigenvorsorge, sondern auch die betrieblicheAltersvorsorge ist heute eine nicht mehr wegzudenkendeSäule einer subsidiären Sicherung des Lebensstandardsim Alter. Das gilt – in noch nicht ausreichendem Maße –auch für Geringverdiener und Transferleistungsberech-tigte, die nur geringste Eigenbeiträge dazu leisten müs-sen.Wenn ein 1968 geborener Arbeitnehmer im Jahre2035 mit 67 Jahren seinen Ruhestand antritt, wird dasNettorentenniveau in Deutschland nicht wie derzeit67 Prozent, sondern maximal 52 Prozent betragen – beivollen 45 Beitragsjahren. Um im Alter 24 Jahre lang500 Euro im Monat aus privaten Ersparnissen zu haben,muss er – bei konservativer Anlage – stolze 737 Euromonatlich zurücklegen, wenn er zehn Jahre vor dem Ru-hestand mit dem Sparen beginnt. Wer 30 Jahre vorherangefangen hat, braucht dafür „nur“ 178 Euro im Monataufzubringen.Das Problem der Mehrheit der jetzigen und zukünfti-gen Arbeitnehmer ist deshalb nicht die Rente mit 67, dieab 2029 gesetzlich gilt. Denn es ist den meisten klar,dass bei fortlaufend steigender Lebenserwartung die Le-bensarbeitszeit nicht stagnieren kann. Aber weitere flan-kierende Maßnahmen für altersgerechte Arbeit undÜbergänge und für die Stärkung der privaten und be-trieblichen Altersvorsorge bleiben unausweichlich.Der Antrag der Linken will suggerieren, er würdeeine wesentliche Verbesserung im Vergleich zur derzeiti-gen Lage bewirken. Die Fakten sprechen aber eine ganzandere Sprache: Mit dem heute bereits gesetzlich gere-gelten Schonvermögen käme ein Ehepaar – er 63 Jahrealt, mit einer privaten Lebensversicherung; sie 62 Jahrealt, mit einer privaten Rentenversicherung und beide vordem 1. Januar 1948 geboren – auf ein geschütztes Ver-mögen von mindestens 97 750 Euro. Pro Person sind dasnach Adam Riese 48 875 Euro. Zu diesem Schonbetragsind zu addieren, falls zutreffend, eine Riester- oderRürup-Rente und eine betriebliche Altersvorsorge alsDirektversicherung. Ich rechne Ihnen das auf Wunschgerne vor und nenne Ihnen auch die wesentlichen Ver-besserungen beim Schonvermögen, die wir mit den so-genannten Hartz-IV-Reformen unter Rot-Grün und inder Großen Koalition vorgenommen haben.Es war richtig, dass wir zunächst einen Schwerpunktmit den Vermögensgrundfreibeträgen für Familien – dassind immerhin zusätzlich 3 100 Euro pro Kind – gesetzthaben. Der Antrag der Linken, würde er Gesetz, wärealso keine Verbesserung, sondern eine erhebliche Ver-schlechterung für dieses Ehepaar. Sie sollten also besservermeiden, auf jeden Rechentrick von Rüttgers,Laumann und Co. hereinzufallen.
Die Schonvermögen sind beim Arbeitslosengeld IIdem Grunde nach wie bei der früheren Arbeitslosenhilfe,allerdings deutlich großzügiger als vor der Hartz-IV-Re-form. Dies trifft vor allem auf die ehemaligen Empfän-ger von Arbeitslosenhilfe zu. Ich gebe allerdings zu– und das ergibt erst das gesamte Bild –, dass die ge-schützten Altersvorsorgevermögen von Personen, dienach dem 1. Januar 1948 geboren sind, heute erheblichgeringer sind.
Aber eine Gegenfinanzierung der theoretischen Vorteilevon Jüngeren mit einer konkreten Benachteiligung derÄlteren – nichts anders bedeutet nämlich Ihr Antrag –machen wir jedenfalls nicht mit. Wir schlagen vor – ichwiederhole das –, die Altersvorsorgerücklagen insge-samt bei der Anrechnung auf Grundsicherungsleistungfreizustellen.Für die jüngeren Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer ist nicht das dringlichste Problem ein höheresSchonvermögen im Arbeitslosengeld-II-Bezug, sonderndie Frage, wie sie überhaupt aus einem regelmäßigen,zum Leben ausreichenden Einkommen Vermögen bildenkönnen, um für das Alter vorzusorgen. Die Jüngerensind in erheblich größerem Ausmaß als die ältere Gene-ration von Einstiegsproblemen, prekären Beschäfti-gungsverhältnissen und Brüchen in der Arbeitsbiografiebetroffen. Sie werden zudem die Folgen der Finanzkriseund das heute garantierte hohe sozialstaatliche Siche-rungsniveau der Älteren in besonderem Maße über Steu-ern und Beiträge zu tragen haben.Zudem sind 3 Millionen Haushalte, mehrheitlich Ar-beitnehmer- oder Erwerbslosenhaushalte, überschuldet.Diese Menschen leben an der Pfändungsgrenze, und einerheblicher Teil von ihnen erhält Leistungen nach demSGB II. Angesichts der wichtigsten Aufgabe eines vor-sorgenden Sozialstaates, nachhaltig Chancen-, Vertei-lungs-, Leistungs- und Generationengerechtigkeit zuorganisieren, greifen diese Debatte und die vorgeschla-genen Instrumente viel zu kurz.Neben den demografischen Herausforderungen undBelastungen für die beitrags- und steuerfinanzierten so-zialen Sicherungssysteme bleibt es auch in Zukunft da-bei – jedenfalls auf absehbare Zeit –, dass das Niveauder Alterseinkommen von der Wirtschaftskraft, das heißt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25751
(C)
(D)
Rolf StöckelAnke Eymer Uda Carmen Freia Heller Andreas G. LämmelCDU/CSUUlrich AdamIlse AignerPeter AltmaierDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerClemens BinningerPeter BleserAntje BlumenthalDr. Maria BöhmerJochen BorchertWolfgang BosbachKlaus BrähmigMichael BrandHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeMonika BrüningGeorg BrunnhuberCajus CaesarGitta ConnemannDr. Hans Georg FaustEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelDr. Jürgen GehbNorbert GeisEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelJürgen HerrmannBernd HeynemannErnst HinskenPeter HintzeRobert HochbaumKlaus HofbauerFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerHubert HüppeSusanne Jaffke-WittDr. Hans-Heinrich JordanAndreas Jung
Dr. Franz Josef JungBartholomäus KalbHans-Werner KammerAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderEckart von KlaedenJürgen KlimkeJulia KlöcknerDr. Kristina Köhler
Norbert KönigshofenDr. Rolf KoschorrekHelmut LampKatharina LandgrafDr. Max LehmerPaul LehriederIngbert LiebingEduard LintnerDr. Michael LutherThomas MahlbergStephan Mayer
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterDr. Angela MerkelFriedrich MerzLaurenz Meyer
Maria MichalkDr. h.c. Hans MichelbachPhilipp MißfelderDr. Eva MöllringMarlene MortlerCarsten Müller
Stefan Müller
Dr. Gerd MüllerBernd Neumann
Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldJa Ilse Falk Michael Hennrich Dr. Norbert Lammertvon der Wettbewerbsfähigkeund der Wertschöpfung ausbeitseinkommen, abhängig isdie zwar verfassungsgemäßniedrigem Niveau, hilft niemDeshalb bleibt unser ZielAktivierung, Qualifizierungwerbsfähigen Arbeitsuchendealler politischen Anstrengung
Frühförderung, Schule undund Weiterbildung für alleeitnehmer. Deshalb wollenahlt wird, die nicht krank Lebensumständen und Be-nd familienfreundlich undllegen, dem nächsten Bun-angehören. So, wie ich bin,llerdings nicht absolut aus.nlass für die zumeist gute,arbeit und für den fruchtba-Leo DautzenbergHubert DeittertAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttMaria EichhornDr. Stephan Eiselren Streit über Parteigrenzenalles Gute. Glück auf!
au:les Gute für Ihren weiterens gesamten Hauses beglei-all)fortsetzen, komme ich zuck und gebe das von dentführern ermittelte Ergeb-mung über die Beschluss- Ausschusses zu dem An-zur Beteiligung deutscher NATO-AWACS bekannt16/13377 und 16/13597 –:it Ja haben 461 Kollegin-t, mit Nein haben 81 ge-tungen. Die Beschlussemp-Hartmut KoschykMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Martina KrogmannDr. Hermann KuesDr. Karl A. Lamers
Metadaten/Kopzeile:
25752 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Vizepräsidentin Petra PauHenning OtteRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaRuprecht PolenzDaniela RaabThomas RachelDr. Peter RamsauerPeter RauenEckhardt RehbergKatherina Reiche
Klaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberFranz RomerJohannes RöringKurt J. RossmanithDr. Christian RuckAlbert Rupprecht
Peter RzepkaAnita Schäfer
Hermann-Josef ScharfDr. Wolfgang SchäubleHartmut SchauerteDr. Annette SchavanKarl SchiewerlingNorbert SchindlerGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Andreas Schmidt
Ingo Schmitt
Dr. Andreas SchockenhoffDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe SchummerWilhelm Josef SebastianKurt SegnerMarion SeibBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnErika SteinbachChristian Freiherr von StettenGero StorjohannMax StraubingerMatthäus StreblThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenHans Peter ThulAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Uwe VogelAndrea Astrid VoßhoffGerhard WächterMarco WanderwitzKai WegnerMarcus WeinbergPeter Weiß
Gerald Weiß
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannAnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerWerner WittlichDagmar WöhrlWolfgang ZöllerWilli ZylajewSPDDr. h.c. Gerd AndresNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldErnst Bahr
Doris BarnettDr. Hans-Peter BartelsSören BartolSabine BätzingDirk BeckerUwe BeckmeyerKlaus Uwe BenneterUte BergPetra BierwirthVolker BlumentrittKurt BodewigClemens BollenGerd BollmannDr. Gerhard BotzKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Ulla BurchardtMartin BurkertDr. Michael BürschChristian CarstensenMarion Caspers-MerkDr. Peter DanckertKarl DillerMartin DörmannDr. Carl-Christian DresselElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinDetlef DzembritzkiSebastian EdathySiegmund EhrmannHans EichelPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerAnnette FaßeElke FernerGabriele FograscherRainer FornahlGabriele FrechenDagmar FreitagMartin GersterIris GleickeGünter GloserAngelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnKerstin GrieseGabriele GronebergAchim GroßmannWolfgang GrotthausWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannAlfred HartenbachMichael Hartmann
Nina HauerHubertus HeilRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogPetra HeßGabriele Hiller-OhmStephan HilsbergGerd HöferIris Hoffmann
Frank Hofmann
Dr. Eva HöglEike HovermannKlaas HübnerChristel HummeBrunhilde IrberJohannes Jung
Josip JuratovicJohannes KahrsDr. h.c. Susanne KastnerUlrich KelberChristian KleimingerHans-Ulrich KloseAstrid KlugDr. Bärbel KoflerWalter KolbowKarin KortmannRolf KramerAnette KrammeNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerDr. Hans-Ulrich KrügerHelga Kühn-MengelUte KumpfDr. Uwe KüsterChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachWaltraud LehnGabriele Lösekrug-MöllerDirk ManzewskiLothar MarkCaren MarksKatja MastMarkus MeckelPetra Merkel
Ulrike MertenDr. Matthias MierschUrsula MoggMarko MühlsteinDetlef Müller
Gesine MulthauptFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDr. Erika OberHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßChristoph PriesFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertSteffen Reiche
Maik ReichelGerold ReichenbachDr. Carola ReimannChristel Riemann-HanewinckelWalter RiesterDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Ortwin RundeMarlene Rupprecht
Anton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenMarianne SchiederOtto SchilyUlla Schmidt
Silvia Schmidt
Renate Schmidt
Heinz Schmitt
Carsten Schneider
Olaf ScholzOttmar SchreinerReinhard Schultz
Swen Schulz
Frank SchwabeDr. Angelica Schwall-DürenDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzRita Schwarzelühr-SutterDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDieter SteineckeAndreas SteppuhnLudwig StieglerRolf StöckelChristoph SträsserDr. Peter StruckJoachim StünkerJella TeuchnerDr. h.c. Wolfgang ThierseJörn ThießenFranz ThönnesRüdiger VeitSimone ViolkaJörg VogelsängerHedi WegenerAndreas WeigelPetra WeisGunter WeißgerberGert Weisskirchen
Hildegard WesterLydia WestrichDr. Margrit WetzelAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützEngelbert WistubaHeidi WrightManfred ZöllmerFDPJens AckermannDr. Karl AddicksDaniel Bahr
Angelika Brunkhorst
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25753
(C)
(D)
Vizepräsidentin Petra PauBirgit HomburgerDr. Werner HoyerMichael KauchKerstin Müller
Winfried NachtweiOmid NouripourEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausMonika LazarDr. Wolfgang Strengmann-Dr. Heinrich L. KolbHellmut KönigshausGudrun KoppSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerDr. Erwin LotterPatrick MeinhardtJan MückeBurkhardt Müller-SönksenDirk NiebelHans-Joachim Otto
Detlef ParrCornelia PieperGisela PiltzDr. Konrad SchilyMarina SchusterDr. Hermann Otto SolmsDr. Max StadlerDr. Rainer StinnerCarl-Ludwig ThieleFlorian ToncarDr. Daniel VolkDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderAlexander BondeDas Wort hat der Kollegedie FDP-Fraktion.
DP): Meine sehr verehrten Da-d ist ein schönes Land:wie bei Abgeordnetenund der SPD)Sevim DağdelenWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstDiana GolzeDr. Gregor GysiHeike HänselLutz HeilmannHans-Kurt HillInge HögerDr. Barbara HöllUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenDr. Hakki KeskinKatja KippingMonika KnocheJan KorteOskar LafontaineMichael LeutertUlla LötzerDr. Gesine LötzschUlrich MaurerDorothée MenznerKornelia MöllerKersten NaumannWolfgang NeškovićDr. Norman PaechPetra PauBodo RamelowElke ReinkePaul Schäfer
Volker Schneider
Dr. Herbert SchuiDr. Ilja SeifertDr. Petra Sitteherrliche Landschaften, fleißisoziales Netz.Das heißt aber nicht, dassnicht verbessern kann, zum Bhat gesagt: Die Rente mit 67nen flexiblen Rentenanstiegsundheitskasse haben wir gfonds ist nicht das Gelbe vwieder in erster Linie Arzt ustellter sein.KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald Terpefraktionslose AbgeordneteHenry NitzscheGert WinkelmeierEnthaltenCDU/CSUDr. Wolf BauerManfred KolbeSPDDr. Wilhelm PriesmeierEwald SchurerFDPUwe BarthDr. Edmund Peter GeisenFrank SchäfflerBÜNDNIS 90/DIEGRÜNENUlrike HöfkenBärbel HöhnUte KoczyMarkus KurthClaudia Roth
Irmingard Schewe-GerigkDr. Gerhard SchickJosef Philip Winklerge Menschen und ein gutes man das gute soziale Netzeispiel die Rente. Die FDPmuss weg. Wir brauchen ei-. Zur Kranken- bzw. Ge-esagt: Dieser Gesundheits-om Ei. Die Ärzte müssennd nicht Verwaltungsange-Ernst BurgbacherPatrick DöringMechthild DyckmansUlrike FlachPaul K. FriedhoffHorst Friedrich
Dr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannMiriam GrußJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinElke HoffEkin DeligözDr. Uschi EidHans Josef FellKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannPriska Hinz
Thilo HoppeFritz KuhnRenate KünastAnna LührmannNicole MaischJerzy MontagDr. Marlies VolkmerDr. Wolfgang WodargFDPDr. h.c. Jürgen KoppelinDIE LINKEHüseyin-Kenan AydinDr. Dietmar BartschKarin BinderDr. Lothar BiskyHeidrun BluhmFrank SpiethDr. Kirsten TackmannDr. Axel TroostJörn WunderlichSabine ZimmermannBÜNDNIS 90/DIEGRÜNENBettina HerlitziusWinfried HermannPeter HettlichDr. Anton HofreiterSylvia Kotting-Uhl
Metadaten/Kopzeile:
25754 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Heinz-Peter Haustein
Die Pflegeversicherung muss endlich umgestellt werdenund effektivere Strukturen erhalten.
Auch bei der Berufsgenossenschaft müssen wir etwastun: Das Leistungsrecht muss reformiert werden. Nichtzu vergessen das ALG I. Wir haben schon längst gefor-dert, diese Strukturen aufzulösen – Stichwort: Nürnberg –,die Arbeitslosigkeit dezentral zu verwalten und dafür zusorgen, dass es weniger Arbeitslose gibt.
Und dann haben wir noch Hartz IV. Hartz IV wurde vonRot-Grün mit heißer Nadel, etwas übereilt, gestrickt. Eshat viele Mängel.
Das sieht man daran, dass es dazu ständig Gerichtspro-zesse und Urteile gibt und dass die Gerichte sogar Rich-ter einstellen mussten, damit man Hartz IV überhaupt inden Griff bekommt.Es gibt noch einen weiteren Mangel: Dieser betrifftdas Schonvermögen. Das Schonvermögen in Höhe von250 Euro – das hat damals schon unser Freund und Ge-neralsekretär, Dirk Niebel, bei den Verhandlungen ange-mahnt – ist zu niedrig. Jetzt fordert die Linke 700 Euro.Wir fordern 750 Euro,
allerdings bei einem Systemwechsel hin zum Bürgergeldund weg von Hartz IV.
Noch einmal: Hartz IV gehört abgeschafft, und das li-berale Bürgergeld gehört eingeführt. Wenn man die über100 verschiedenen Sozialleistungen aus 40 verschiede-nen Stellen zusammenfasst, spart man Bürokratie. Danngibt es nur noch einen einzigen Ansprechpartner: dasFinanzamt. Das ist eine wesentliche Erleichterung undauch viel fairer.Wie sieht jetzt das Problem mit dem Schonvermögenaus? Ich kenne einen Handwerksmeister, der nach35 Jahren redlicher Arbeit durch die Finanz- und Wirt-schaftskrise ins Strudeln gekommen, in Hartz IV gefal-len und durchgerutscht ist. Er muss bis 250 Euro pro Le-bensjahr alles aufbrauchen, ehe er überhaupt eineLeistung bekommt. Das kann doch so nicht wahr sein.
Die Leute werden durch Hartz IV dermaßen in die Engegetrieben, dass sie aus eigener Kraft nicht mehr heraus-kommen. Wir wollen mit unserem liberalen Bürgergelderreichen, dass sich Arbeit wieder lohnt und ein Anreizgesetzt wird, sich Arbeit zu suchen, statt von der solida-rischen Gemeinschaft diese Sozialhilfe – nennen wirHartz IV einmal so – zu erhalten. Freunde, dort müssenwir etwas tun!
Es kann nicht sein, dass wir 45 Milliarden Euro fürHartz IV ausgeben und trotzdem alle unzufrieden sind.
Die einen sagen: Die Regelsätze sind zu niedrig. Die an-deren sagen: Ich gehe von früh bis spät arbeiten undhabe fast weniger als jemand, der in Hartz IV ist, vor al-lem dann, wenn noch Kinder dabei sind. So kann dasnicht sein. Arbeit muss sich lohnen. Einer, der arbeitet,muss mehr bekommen als einer, der nicht arbeitet.
Da sind wir bei dem Hauptpunkt unseres liberalenWahlprogramms. Das heißt: Arbeit muss sich wiederlohnen. Arbeitsplätze schaffen, ist das Gebot der Stunde.Einige fragen da wieder: Wie wollt ihr das denn finan-zieren?
Uns wird zum Beispiel unterstellt, es sei doch nichtmöglich, Steuern zu senken. Herr Struck sagt bereitsjetzt, obwohl noch gar nicht gewählt worden ist – dieWahl ist erst am 27. September dieses Jahres –, dass dieKollegen von der Union und wir Wahlbetrüger seien.
Dabei hat ja die SPD vor vier Jahren im Wahlkampf im-mer wieder gesagt: Mit uns gibt es keine Mehrwertsteuer-erhöhung, mit uns gibt es keine Merkels-Steuer, wir ma-chen das nicht.
Sie hat das auch noch begründet. Dann sagt ihr jetzt zuuns, dass wir Wahllügner seien. Hier verkennt ihr etwas.Was ich selber denk und tu, trau ich jedem andern zu.Das sollte sich Herr Struck einmal merken.
Wir haben die Ziele, dass die Wirtschaft angekurbeltwird, dass sich Arbeit lohnt, dass Arbeit fair ist und dasses aufwärts geht in unserem Land.Liebe Freunde, in diesem Sinne ein herzliches „Glückauf!“ aus dem Erzgebirge.
Das Wort hat der Kollege Karl Schiewerling für dieUnionsfraktion.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25755
(C)
(D)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Es gibt im Sozialrecht zweiPrinzipien, die von großer Bedeutung sind: Erstens. Wervom Staat Geld haben möchte, muss hilfebedürftig sein.Zweitens. Man muss zunächst einmal die eigenen Mitteleinsetzen. Das gilt für das gesamte steuerfinanzierte So-zialrecht, also auch für den Bereich des SGB II, für dasArbeitslosengeld II und für das Sozialgeld.Dieser Regel sind die Prinzipien der Eigenverantwor-tung und der Subsidiarität zugrunde gelegt. Doch dieHilfsbedürftigen müssen nicht alles einsetzen. Ein Teilbleibt verschont. Wer Arbeitslosengeld II beantragt undnach 1947 geboren wurde, darf für sich und seinen Part-ner je 150 Euro pro Lebensjahr behalten, mindestens3 100 Euro; zusammen darf man also etwa 9 750 Eurobehalten. Wer vor 1948 geboren ist, kommt auf eine ma-ximale Summe von 33 800 Euro. Konkret heißt das fürjemanden, der heute 58 Jahre alt ist, dass er summa sum-marum 8 700 Euro behalten darf. Leben zwei Personenin einer Bedarfsgemeinschaft, sind es 17 000 Euro. Hin-zukommen Freibeträge und Härtefallregelungen.In Ihrem Antrag fordern Sie, die Linke, nun eine Er-höhung der Freibeträge für die Altersvorsorge imSozialgesetzbuch II. Dieses Anliegen hält die CDU/CSU, wie ich im Ausschuss bereits vorgetragen habe,grundsätzlich für berechtigt. Wir dürfen in der heutigenDebatte nicht vergessen, dass wir über Sätze beimSchonvermögen sprechen, die im Jahre 2004 festge-schrieben wurden. Wir dürfen auch den damaligen Kon-text nicht aus den Augen verlieren: Es gab 5 MillionenArbeitslose, und es ging um die Zusammenlegungzweier Hilfesysteme – der Arbeitslosenhilfe und der So-zialhilfe –, mit dem erklärten Ziel, die Sätze zu vereinfa-chen und Kongruenz herzustellen. Wir dürfen außerdemnicht übersehen, dass eines unserer Ziele darin bestand,die Menschen zu aktivieren, also auch einen gewissenDruck auszuüben und so dafür zu sorgen, dass die Be-troffenen zunächst ihr angespartes Geld einsetzen.Heute haben wir eine völlig andere Situation. DasSGB II ist ein lernendes System. Wir stellen fest, dassaufgrund der schwierigen wirtschaftlichen und finanz-politischen Lage in unserem Land auch Menschen, diebereits ordentlich Vorsorge für ihr Alter betrieben haben,vielleicht eine Lebensversicherung oder ein kleinesHäuschen besitzen, ihren Arbeitsplatz verlieren. DiesenMenschen wollen wir helfen, damit sie nicht schon jetztihr Erspartes einsetzen müssen. Sie sollen das Geld, dassie für ihre Altersvorsorge zurückgelegt haben, das sieselbst verdient und erwirtschaftet haben, behalten kön-nen. Es hat etwas mit Menschenwürde zu tun, dass manzunächst das Geld, das man selbst erwirtschaftet hat, ein-setzt, bevor man im Alter möglicherweise auf Transfer-leistungen des Staates angewiesen ist.Wir können die Diskussion über das Schonvermögennicht führen, ohne gleichzeitig über das Thema Alters-armut zu diskutieren. Wenn wir über die Altersarmut, diewahrscheinlich auf uns zukommt, wenn wir nicht baldhandeln, diskutieren, dann müssen wir auch die Situationder kleinen und einfachen Mittelständler im Blick haben,von denen sehr viele bereits ihr gesamtes Vermögen ein-gesetzt haben. Wir müssen überlegen, was zu tun ist, umzu verhindern, dass auch sie eines Tages, nachdem siejahrelang selbstständig tätig waren, von Transferleistun-gen des Staates abhängig sind.
Es ist sinnvoll, Hilfebedürftigen dieses Geld zu belassen,damit sie im Alter aufgrund eines geringen Freibetragesfür die Altersvorsorge nicht auf Sozialleistungen ange-wiesen sind.Diese Diskussion beginnt nicht erst heute, weil einAntrag der Linken vorliegt. Diese Diskussion findetschon seit längerer Zeit statt, auch innerhalb unserer Par-tei und unserer Fraktion. Auch die CDU Nordrhein-Westfalen und die CDA haben eine Erhöhung desSchonvermögens gefordert.
Wie Sie wissen, haben wir diese Forderung in unserWahlprogramm aufgenommen. Auch wir sind dafür, dieHöhe des Schonvermögens anzupassen. Hier könntenwir sogar schon einen Schritt weiter sein, lieber KollegeStöckel. Wenn die SPD etwas schneller nachgedachthätte, hätten wir in dieser Frage bereits den einen oderanderen Fortschritt erzielen können.
Ich glaube, dass wir insgesamt gut beraten sind, die-sen Weg zu gehen, aber nicht auf der Grundlage des vor-liegenden Antrages, der aus der Hüfte geschossen ist,sondern auf der Grundlage eines vernünftigen und or-dentlich ausgearbeiteten Gesetzentwurfs, in dem auchLebenssituationen wie die, die ich gerade geschilderthabe, berücksichtigt werden.
Eine solche Gesetzesinitiative muss das grundsätzli-che Ziel verfolgen, das für die Altersvorsorge notwen-dige Schonvermögen aufzustocken. Es ist nämlich alle-mal menschenwürdiger und zufriedenstellender, ausselbsterwirtschaftetem Geld Rentenansprüche abzulei-ten, als vom Staat abhängig zu sein. Diesen Bogen müs-sen wir daher weiter spannen, und wir müssen auch die-jenigen in den Blick nehmen, die ich vorhin erwähnthabe: Unternehmer, Kleinunternehmer und Selbststän-dige, die oft nicht genug Vorsorge betreiben konnten.Interessant an dem Antrag, der uns vorliegt, ist, dassdie Linken, jedenfalls soweit ich das sehe, zum erstenMal bestätigen, dass private Vorsorge betrieben werdenmuss.
Metadaten/Kopzeile:
25756 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Karl SchiewerlingBislang waren Riester-Vorsorge und jede andere privateForm von Vorsorge des Teufels. Ich freue mich, dass inIhrem Antrag der neue Denkansatz einmal deutlich wird.
Zum Zweiten finde ich sehr interessant, dass Sie denBegriff „Anrechnung“ in Ihr Vokabular aufgenommenhaben. Anrechnen kann man etwas nur, wenn jemand et-was hat. Ich erinnere mich an viele Debatten der vergan-genen vier Jahre in diesem Hohen Haus, in denen Sieuns erzählt haben, dass Leute, die auf Unterstützungnach dem SGB II angewiesen sind, gar nichts mehrhaben. Ich bitte Sie: Erinnern Sie sich bei künftigenDiskussionen – übrigens auch bei der Diskussion überdie Abwrackprämie – daran, dass es offensichtlich dochmöglich ist, dass jemand, der Unterstützung nach demSGB II erhält, noch etwas hat, dass das SGB II nichtarmmacht, sondern vor absoluter Armut schützt und be-wahrt.
Das SGB II ist ein lernendes System. Wir haben, seit-dem es in Kraft ist – seit 2005 –, unsere Erfahrungengesammelt. Wir haben diese Erfahrungen in die Grund-sicherung einfließen lassen. Wir sind nach der Bundestags-wahl dazu aufgerufen – davon bin ich fest überzeugt –, imSystem nachzujustieren. Als Nächstes brauchen wir eineReform der Organisation des SGB II.Ich will auf einige Punkte aufmerksam machen, dieich für wichtig halte:Zurzeit sind 3,41 Millionen Menschen erwerbslos.Dies ist trotz der Weltwirtschaftskrise gegenüber demSommer 2005 immer noch ein Rückgang um über1,2 Millionen. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigBeschäftigten ist gegenüber dem Vorjahr auf 27,4 Mil-lionen angestiegen; das sind 70 000 mehr. Dass sich seitder Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchendeviel getan hat, zeigt ein Blick in die Statistik, insbeson-dere auf die Entwicklung der Arbeitslosigkeit. ImMai 2009 hatten wir trotz der Weltwirtschaftskrise im-mer noch über 1 Million Arbeitslose weniger als imNovember 2005, übrigens auch weniger ältere Langzeit-arbeitslose, weil viele Ältere wieder in Beschäftigunggekommen sind oder in Beschäftigung gehalten wurden.Gegenüber November 2005 haben wir über 750 000 so-zialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr.Die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit war er-folgreich. Seit der Novellierung des SGB II wurde siemehr als halbiert. Mittlerweile gibt es kaum noch einenJugendlichen im SGB-II-Bereich, der länger als dreiMonate arbeitslos ist. Für eine bessere Betreuung derMenschen vor Ort wurden zusätzliche Eingliederungs-und Verwaltungsmittel geschaffen.Meine Damen und Herren, in den letzten vier Jahrensind vielfältige Initiativen ergriffen worden. Ich glaube,dass sich die Bilanz der Regierung in dieser Frage sehenlassen kann. Wir werden in diesen Fragen weiterarbeitenmüssen, damit wir den Menschen gerecht werden unddamit wir erreichen, wofür das SGB II eigentlich da ist:Menschen zu aktivieren und zu mobilisieren, dass siewieder in Beschäftigung kommen, damit sie mit ihrer ei-genen Hände und ihres eigenen Kopfes Arbeit den Le-bensunterhalt für sich und ihre Familie verdienen kön-nen. Das ist allemal ein lohnenswertes Ziel, für das wiruns gemeinsam einsetzen sollten.Ich danke Ihnen herzlich.
Nächster Redner ist der Kollege Volker Schneider für
die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Eine der ersten Aussagen der Kanzlerin in der Finanz-krise bezog sich auf die Ängste von Sparerinnen undSparern. Deren Spareinlagen seien sicher, so FrauMerkel.Eine Gruppe kann die Kanzlerin dabei nicht gemeinthaben, nämlich diejenigen, die im Zuge dieser Krise ihreArbeit verlieren oder schon verloren haben und nichtschnell genug eine neue Beschäftigung finden, sodasssie irgendwann auf den Bezug von ALG II angewiesensind; denn diese Menschen werden ihre Ersparnisseoberhalb der nicht gerade üppigen Freigrenzen einsetzenmüssen und damit verlieren. Mit der Arbeitslosigkeitwerden in diesen Fällen nicht nur kurzfristig Lebensper-spektiven zerstört; durch die Inanspruchnahme von Ver-mögen, das speziell für die Altersvorsorge aufgebautwurde, wird ihnen vielmehr auch die Hoffnung auf einfinanziell abgesichertes Leben im Alter geraubt. Deshalbfordert die Linke in ihrem Antrag, den Freibetrag für dieAltersvorsorge von 250 Euro auf 700 Euro je Lebensjahr– bei maximal 45 000 Euro insgesamt – anzuheben.
Kollege Stöckel, eine Anhebung von 250 Euro auf700 Euro als eine Verschlechterung zu verkaufen, istschon eine tolle Sache.Nun wundere ich mich ein bisschen über die Diskus-sion; denn Sie trauen sich hier plötzlich nicht mehr, alldas zu wiederholen, was Sie im Vorfeld in Bezug aufPopulismus so gerne gesagt haben. Ich greife das abertrotzdem gerne auf; denn dieser Vorwurf ist alles andereals originell und gerade in Bezug auf dieses Thema auchalles andere als intelligent. Schauen wir uns doch einmalan, wer noch alles dem Populismus frönt:Wir wollen mehr Sicherheit für Arbeitnehmer, dieihren Arbeitsplatz verlieren und wegen der welt-weiten Krise keinen neuen Arbeitsplatz finden kön-nen. … Deshalb ist der Freibetrag beim Schonver-mögen im SGB II zu erhöhen.So steht es im Wahlprogramm der CDU für die nächsteBundestagswahl.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25757
(C)
(D)
Volker Schneider
Wer das zahlenmäßig etwas genauer haben möchte,der muss sich die Beschlüsse des Dresdner Parteitagesvon 2006 anschauen. Dort forderte die CDU, das Schon-vermögen pro Lebensjahr auf 700 Euro bei maximal45 000 Euro insgesamt zu erhöhen.
Wir lernen: 700 Euro Linke ist populistisch; 700 EuroCDU ist nicht populistisch.In der Beschlussempfehlung zu dem vorliegendenAntrag, lieber Kollege Schiewerling, liest sich Ihre Posi-tion etwas anders als das, was Sie hier vorgetragen ha-ben; denn Sie begründen dort Ihre Ablehnung damit– ich zitiere –:Man müsse aber auch bedenken, dass nach demvorliegenden Antrag ein Ehepaar mit 90 000 Euroeigenem Vermögen staatliche Hilfe bekomme.Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU, Sie brauchendrei Jahre, um festzustellen, dass zweimal 45 000 Euro90 000 Euro ergibt, oder haben Sie das feststellen kön-nen, indem Sie unseren Antrag gelesen haben? Oder sind45 000 Euro, gefordert von der CDU, etwas anderes als45 000 Euro, gefordert von den Linken?
Am Rande bemerkt: In unserem Antrag geht es nicht umirgendwelches Vermögen, sondern ausschließlich umVermögen für die Altersvorsorge.Gänzlich unpopulistisch ist natürlich das, was dieFreundinnen und Freude der SPD in ihrem Wahlpro-gramm versprechen:Vermögen, das der privaten Altersvorsorge dient,wird nicht auf das Arbeitslosengeld II angerechnet.Voraussetzung ist, dass unwiderruflich mit Beginndes Ruhestandes eine monatliche Rente garantiertwird.Der Kollege Stöckel hat eben erklärt, dass es keineGrenzen gibt, sondern dass für die Anrechnung oderNichtanrechnung lediglich der Auszahlungsmodus ent-scheidend ist.
Bis dahin, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, hät-ten Sie doch immerhin schon einmal die Freibeträge an-heben können – nicht, dass die Wirtschaftskrise schonvorbei ist, bevor Sie anfangen, das umzusetzen, was Siein Ihrem Wahlprogramm versprechen.
Ganz ehrlich: Wer soll Ihnen diese Versprechen nochglauben? Hier und heute hätten CDU und SPD die Mög-lichkeit, den Menschen ganz ernsthaft und ganz konkretwieder eine Perspektive dafür zu geben, dass sie einenRest an finanzieller Sicherheit für das Alter behaltenkönnen, wenn sie schon ihren Arbeitsplatz durch dieKrise verlieren.Sie werden genau dies nicht tun, und Sie werden auchIhre diesbezüglichen Wahlversprechen brechen. Ich ahneschon, dass es Franz Müntefering wieder unfair findenwird, dass man die SPD nach der Wahl an das erinnert,was sie vor der Wahl versprochen hat.
Herr Kollege, denken Sie an die Redezeit.
Ich komme wirklich zu meinem letzten Satz. – Es
bleibt zu hoffen, dass Ihnen die Menschen eine ange-
messene Antwort auf diese Politik an der Wahlurne ge-
ben werden.
Vielen Dank.
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Markus Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich hätte es mir nicht träumen lassen, dass ich hier ein-mal erleben muss, dass die Fraktion Die Linke und dieCDU faktisch identische Vorschläge machen und dannauch noch von der FDP überboten werden. Wer hätte dasgedacht?
Ich will mich auf drei zentrale Anmerkungen be-schränken:Erstens. So, wie die Debatte über das private Schon-vermögen für die ergänzende Altersvorsorge hier geführtworden ist, könnte teilweise der Eindruck aufgekommensein, dass es ohne eine private Alterssicherung über-haupt nicht mehr geht. Ich will feststellen: Die gesetzli-che Rentenversicherung bildet die erste Säule der Alters-vorsorge; es ist unser aller Aufgabe und Ziel, sie zustärken.
Diese Säule unterliegt nämlich nicht den Schwankungendes Kapitalmarkts. In den USA haben die staatlichenPensionsfonds, die private Anlagen enthielten, 50 Pro-zent ihres Wertes verloren. Die gesetzliche Rentenversi-cherung zahlt keine Provisionen an private Finanzbera-ter. Außerdem sind ihre Verwaltungskosten niedrig. Des-wegen legen wir, Bündnis 90/Die Grünen, gerade mitBlick auf die Geringverdienenden großen Wert darauf,diese Säule zu stärken.
Metadaten/Kopzeile:
25758 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Markus KurthZum Beispiel wollen wir die Rentenanwartschaften vonlangjährig Geringverdienenden aufwerten, damit dieseMenschen eine Garantierente erhalten.
Zweitens. Der Antrag der Fraktion Die Linke gehtzweifellos in die richtige Richtung.
Meine Fraktion hat bereits in den Verhandlungen um dasSozialgesetzbuch II stets betont – das können Sie in denProtokollen nachlesen –: Wer mehr private Verantwor-tung für die Altersvorsorge fordert, muss ein höheresSchonvermögen etwa für den Fall garantieren, dassLangzeitarbeitslosigkeit eintritt.
Drittens. Auch wenn der Antrag der Linken in dierichtige Richtung geht, ist das Bessere der Feind des Gu-ten. Meine Fraktion hat ein anderes Modell entworfen,das unstetigen Lebensverläufen besser gerecht werdenund für eine größere Sicherheit der privaten Altersvor-sorge sorgen kann: das sogenannte Altersvorsorgekonto,das wir schon vor Jahren vorgeschlagen haben. Wir ha-ben den Vorschlag gemacht und machen ihn nach wievor, dass bis zu 3 000 Euro im Jahr von einer Personsteuerfrei eingezahlt und angelegt werden können. Das,was sich in der Schutzhülle des Altersvorsorgekontosbefindet, ist dem Zugriff des Jobcenters, etwa bei Lang-zeitarbeitslosigkeit, entzogen.
Es ist dann möglich, in diesem Altersvorsorgekontoverschiedene Anlageformen zu bündeln, etwa dieRiester-Rente und Direktversicherungen. Es ist möglich,verschiedene Anlagen dorthin umzuschichten und zu in-tegrieren. Es ist auch möglich – das ist meiner Fraktionebenfalls wichtig –, gewisse Qualitätsanforderungen anProdukte der privaten Altersvorsorge zu stellen, damitsie in das Altersvorsorgekonto integriert werden können.Ich denke an Transparenz für die Anleger oder gewisseMindeststandards sozialer und ökologischer Natur. Wirkönnen hier für eine vernünftige, maßvolle Regulierungdieser zusätzlichen Säule der Altersrückstellungen sor-gen. Ich glaube, das ist zielführender als die bloße Rück-kehr zu der Regelung, die vor dem 31. Dezember 2002gegolten hat.Wir werden Ihren Antrag nicht ablehnen. Aber wirwerden, weil wir die besseren Vorschläge haben, auchnicht zustimmen, sondern uns enthalten.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussfassung des Ausschussesfür Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion DieLinke mit dem Titel „Erhöhung des Schonvermögens imAlter für Bezieher von Arbeitslosengeld II“. Zur Ab-stimmung liegt eine Erklärung nach § 31 unserer Ge-schäftsordnung des Kollegen Christoph Strässer vor.1)Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlungauf Drucksache 16/12912, den Antrag der Fraktion DieLinke auf Drucksache 16/5457 abzulehnen.Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung na-mentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift-führer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind diePlätze an den Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Dann er-öffne ich die Abstimmung.Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimmkarte nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall.Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift-führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu be-ginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gege-ben.2)Wir setzen die Beratungen fort. – Liebe Kolleginnenund Kollegen, ich darf Sie bitten, Ihre Gespräche vordem Plenarsaal zu führen, damit wir uns auf die weitereDebatte konzentrieren können.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf:a) – Beratung der Beschlussempfehlung und des
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneterdeutscher Streitkräfte an der Friedensmis-sion der Vereinten Nationen im Sudan
auf Grundlage der Resolution
1590 des Sicherheitsrates der Verein-ten Nationen vom 24. März 2005 und Folge-resolutionen– Drucksachen 16/13395, 16/13598 –Berichterstattung:Abgeordnete Hartwig Fischer
Brunhilde IrberMarina SchusterDr. Norman PaechMarieluise Beck
– Drucksache 16/13681 –Berichterstattung:Abgeordnete Herbert FrankenhauserLothar MarkDr. h. c. Jürgen KoppelinMichael LeutertOmid Nouripourb) – Beratung der Beschlussempfehlung und des
1) Anlage 42) Ergebnis Seite 25760 C
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25759
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtFortsetzung der Beteiligung bewaffneterdeutscher Streitkräfte an der AU/UN-Hybrid-Operation in Darfur aufGrundlage der Resolution 1769 desSicherheitsrates der Vereinten Nationenvom 31. Juli 2007 und Folgeresolutionen– Drucksachen 16/13396, 16/13599 –Berichterstattung:Abgeordnete Hartwig Fischer
Brunhilde IrberMarina SchusterDr. Norman PaechMarieluise Beck
– Drucksache 16/13682 –Berichterstattung:Abgeordnete Herbert FrankenhauserLothar MarkDr. h. c. Jürgen KoppelinMichael LeutertOmid NouripourÜber beide Beschlussempfehlungen werden wir spä-ter namentlich abstimmen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,Sie sind damit einverstanden. Dann werden wir so ver-fahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-nerin der Kollegin Brunhilde Irber für die SPD-Fraktiondas Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Das Elend in Darfur hat die Welt inden letzten Jahren aufgerüttelt wie kaum eine andereKrise auf der Welt. Das gilt besonders für den amerikani-schen Kontinent. Neben diesem humanitären Drama ver-blassen oft die übrigen Krisen und Probleme, unter de-nen die Menschen im Sudan seit Jahrzehnten zu leidenhaben, zum Beispiel im Südsudan, wo UNMIS im Ein-satz ist. Die Hauptaufgabe von UNMIS sind die Umset-zung und die Kontrolle des 2005 zwischen dem Nordenund dem Süden geschlossenen umfassenden Friedensab-kommens, des CPA. Beide Regierungen – sowohl dienordsudanesische unter Umar al-Baschir als auch diesüdsudanesische Autonomieregierung von Salva Kiir –bekennen sich zu diesem Abkommen.Vier Jahre sind nun seit Abschluss des CPA vergan-gen. Trotzdem hat sich die Aussicht auf eine baldigefriedliche Regelung des Nord-Süd-Konflikts in den letz-ten Monaten leider verschlechtert. Die ursprünglich fürdiesen Monat vorgesehenen Wahlen mussten auf daskommende Jahr verschoben werden. Wir hoffen, dass esdann zu Wahlen kommt. Stein des Anstoßes sind die Er-gebnisse der Volkszählung. Der Zensus hat dem Südsu-dan eine Bevölkerungszahl attestiert, die weit unterhalbdes erwarteten Ergebnisses lag. Deshalb hat PräsidentSalva Kiir dieses Ergebnis nicht anerkannt. Es bedeutetnämlich, dass die bisherige Zuteilung nationaler Res-sourcen, die Aufteilung der Erdöleinnahmen, und damitzugleich das Streben des Südens nach Unabhängigkeitinfrage gestellt werden. Schwindende Einnahmen ausdem Erdölsektor infolge der Wirtschaftskrise belastendie Lage zusätzlich. Diese finanzielle Misere schwächtdie südsudanesische Regierung und fördert die Zersplit-terung der Rebellengruppen. Das hat zum Wiederauffla-ckern von Kämpfen in der Region geführt. Das destabili-siert natürlich die Gesamtsituation.UNMIS ist dazu da, die fragile Situation zu stabili-sieren, die Zivilbevölkerung zu schützen und zu ermög-lichen, dass die NGOs ihre Arbeit tun können. OhneUNMIS wird es keine Wahlen im Sudan geben. OhneWahlen wird es kein Referendum geben, und ohne Refe-rendum keinen stabilen Sudan. Deshalb sollten wir hiermit einem Comprehensive Approach herangehen undneben der militärischen Komponente insbesondere denAufbau von Verwaltung, Polizei, Infrastruktur und Zivil-gesellschaft vorantreiben.
Für die Wahlen sollten deutlich mehr direkt implemen-tierte Programme zum Kapazitätsaufbau der kleinerenParteien, zur Wählererziehung und zur langfristigen Be-gleitung des Wahlprozesses aufgelegt werden; denn nurfreie und faire Wahlen können langfristig den Frieden imSudan sichern.Nun zu Darfur. Leider sind heute, 18 Monate nachBeginn der Mission, erst zwei Drittel der insgesamt26 000 Einsatzkräfte vor Ort. Dies ist absolut kritikwür-dig. Dennoch ist UNAMID mit fast 16 000 Einsatzkräf-ten eine der größten humanitären Missionen weltweit.Die Einsatzkräfte trugen aktiv dazu bei, dass die huma-nitäre Situation in den letzten Monaten stabil gebliebenist, obwohl die nordsudanesische Regierung als Antwortauf die Ausstellung des Haftbefehls gegen al-Baschir dieausländischen Hilfsorganisationen des Landes verwiesenhat und sich die Menschenrechtssituation dadurch ver-schlechtert hat.Auch beim Aufbau von UNAMID gibt es positive Si-gnale, die gerne übersehen werden. So hat sich die Zu-sammenarbeit zwischen AU und den VN einerseits undder sudanesischen Regierung andererseits erheblichverbessert. Im Dezember wurde ein Dreiparteienaus-schuss gebildet, der die Widerstände al-Baschirs gegenUNAMID teilweise abgefedert hat. Parallel zu diesenpolitisch-administrativen Fortschritten konnten die Lo-gistik vor Ort sowie die Ausbildung und die Ausstattungder afrikanischen Kontingente durch das Engagement in-ternationaler Geber, darunter auch Deutschland, verbes-sert werden. Das trägt allmählich Früchte. Zahlreicheafrikanische Einheiten konnten nach Abschluss ihrerAusbildung endlich in das Einsatzgebiet verlegt werden.Es klappt also, wenn alle helfen. Deshalb mein Appellan Bundesregierung und Parlament: In Anbetracht der
Metadaten/Kopzeile:
25760 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Brunhilde IrberDr. Stephan Eisel Peter Hintze Katharina LandgrafCDU/CSUUlrich AdamPeter AlbachPeter AltmaierThomas BareißNorbert BarthleDr. Wolf BauerGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerClemens BinningerPeter BleserAntje BlumenthalJochen BorchertWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachKlaus BrähmigMichael BrandHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeMonika BrüningGeorg BrunnhuberCajus CaesarIlse FalkDr. Hans Georg FaustEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelDr. Jürgen GehbNorbert GeisEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersKlaus HofbauerFranz-Josef HolzenkampAnette HübingerHubert HüppeSusanne Jaffke-WittDr. Peter JahrDr. Hans-Heinrich JordanAndreas Jung
Dr. Franz Josef JungBartholomäus KalbHans-Werner KammerAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderEckart von KlaedenJürgen KlimkeJulia KlöcknerJens KoeppenDr. Kristina Köhler
Manfred KolbeNorbert KönigshofenDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykMichael KretschmerGunther KrichbaumPaul LehriederIngbert LiebingEduard LintnerDr. Michael LutherThomas MahlbergStephan Mayer
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterFriedrich MerzLaurenz Meyer
Maria MichalkDr. h.c. Hans MichelbachPhilipp MißfelderDr. Eva MöllringMarlene MortlerCarsten Müller
Stefan Müller
Dr. Gerd MüllerMichaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferBeatrix PhilippJa Anke Eymer Robert Hochbaum Dr. Max Lehmergewaltigen Aufgaben, die Uzu bewältigen haben, ist esbeiden Mandate zu verlängetrag geleistet werden, der dean den beiden Missionen hina
Liebe Kolleginnen und KoRede hier im Deutschen Bunmich bei meiner parlamentariterstützt haben, und bitte Snicht!
afrikanischen Sprichwortine Leute an vielen kleinentte tun, können das GesichtGitta ConnemannLeo DautzenbergHubert DeittertAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttMaria Eichhorn
asselfeldt:nke Ihnen herzlich für Ihrestag über vier Legislatur-e Ihnen auf Ihrem weiteren Gute, vielleicht auch den braucht und den er in der Verfügung hat. Alles Gute!all)ednerin das Wort erteile,en Schriftführerinnen undgebnis der namentlichenhlussempfehlung des Aus-ziales zu dem Antrag derrhöhung des Schonvermö-on Arbeitslosengeld II be-n 538. Mit Ja haben ge-gestimmt 53, Enthaltungenhlussempfehlung angenom-Dr. Martina KrogmannDr. Hermann KuesDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertHelmut Lamp
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25761
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtRuprecht PolenzDaniela RaabThomas RachelPeter RauenEckhardt RehbergKatherina Reiche
Klaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberFranz RomerJohannes RöringKurt J. RossmanithDr. Christian RuckAlbert Rupprecht
Peter RzepkaAnita Schäfer
Hermann-Josef ScharfHartmut SchauerteKarl SchiewerlingNorbert SchindlerGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Andreas Schmidt
Ingo Schmitt
Dr. Andreas SchockenhoffDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe SchummerWilhelm Josef SebastianKurt SegnerMarion SeibBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnErika SteinbachChristian Freiherr von StettenGero StorjohannMax StraubingerMatthäus StreblThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenHans Peter ThulAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Uwe VogelAndrea Astrid VoßhoffGerhard WächterMarco WanderwitzKai WegnerMarcus WeinbergPeter Weiß
Gerald Weiß
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannAnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschWilly Wimmer
Elisabeth Winkelmeier-BeckerWerner WittlichDagmar WöhrlWolfgang ZöllerWilli ZylajewSPDDr. Lale AkgünGregor AmannDr. h.c. Gerd AndresNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldErnst Bahr
Doris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolSabine BätzingDirk BeckerKlaus Uwe BenneterDr. Axel BergUte BergPetra BierwirthLothar Binding
Volker BlumentrittKurt BodewigClemens BollenGerd BollmannDr. Gerhard BotzKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Marco BülowUlla BurchardtMartin BurkertDr. Michael BürschChristian CarstensenMarion Caspers-MerkDr. Peter DanckertKarl DillerMartin DörmannDr. Carl-Christian DresselElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinDetlef DzembritzkiSebastian EdathySiegmund EhrmannDr. h.c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerAnnette FaßeElke FernerGabriele FograscherRainer FornahlGabriele FrechenDagmar FreitagMartin GersterIris GleickeGünter GloserAngelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnKerstin GrieseGabriele GronebergAchim GroßmannWolfgang GrotthausHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannAlfred HartenbachMichael Hartmann
Nina HauerHubertus HeilDr. Reinhold HemkerRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogPetra HeßGabriele Hiller-OhmStephan HilsbergPetra Hinz
Gerd HöferIris Hoffmann
Frank Hofmann
Dr. Eva HöglEike HovermannKlaas HübnerChristel HummeBrunhilde IrberJohannes Jung
Josip JuratovicJohannes KahrsUlrich KasparickDr. h.c. Susanne KastnerUlrich KelberChristian KleimingerHans-Ulrich KloseAstrid KlugDr. Bärbel KoflerWalter KolbowKarin KortmannRolf KramerAnette KrammeErnst KranzNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerDr. Hans-Ulrich KrügerJürgen KucharczykHelga Kühn-MengelDr. Uwe KüsterChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachWaltraud LehnGabriele Lösekrug-MöllerDirk ManzewskiLothar MarkCaren MarksKatja MastHilde MattheisMarkus MeckelPetra Merkel
Dr. Matthias MierschUrsula MoggMarko MühlsteinDetlef Müller
Gesine MulthauptFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDr. Erika OberThomas OppermannHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßChristoph PriesDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertSteffen Reiche
Maik ReichelGerold ReichenbachDr. Carola ReimannChristel Riemann-HanewinckelWalter RiesterSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Ortwin RundeMarlene Rupprecht
Anton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenMarianne SchiederOtto SchilyUlla Schmidt
Silvia Schmidt
Renate Schmidt
Heinz Schmitt
Carsten Schneider
Olaf ScholzSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Angelica Schwall-DürenDr. Martin SchwanholzRita Schwarzelühr-SutterWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDieter SteineckeAndreas SteppuhnLudwig StieglerRolf StöckelChristoph SträsserJoachim StünkerDr. Rainer TabillionJella TeuchnerDr. h.c. Wolfgang ThierseJörn ThießenFranz ThönnesRüdiger VeitSimone ViolkaJörg VogelsängerHedi WegenerAndreas WeigelPetra WeisGunter WeißgerberGert Weisskirchen
Hildegard WesterLydia WestrichDr. Margrit WetzelAndrea WickleinDr. Dieter WiefelspützEngelbert WistubaDr. Wolfgang WodargWaltraud Wolff
Heidi WrightManfred ZöllmerFDPCarl-Ludwig Thiele
Metadaten/Kopzeile:
25762 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannKlaus Ernst EnthaltenJan MückeBurkhardt Müller-SönksenNicole MaischJerzy MontagDiana GolzeDr. Gregor GysiHeike HänselLutz HeilmannHans-Kurt HillInge HögerDr. Barbara HöllUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenDr. Hakki KeskinKatja KippingMonika KnocheJan KorteOskar LafontaineMichael LeutertUlla LötzerDr. Gesine LötzschUlrich MaurerDorothée MenznerKornelia MöllerKersten NaumannWir fahren nun in der Debnerin erteile ich der KollegiFDP-Fraktion das Wort.
tin! Liebe Kolleginnen undas war kurz nach dem Ab-üd-Friedensvertrages – densudan, und dort Gesprächengehörigen geführt, die inöchte an dieser Stelle unse-elfern vor Ort für ihre Ar-rigen Bedingungen leisten,Dirk NiebelHans-Joachim Otto
Detlef ParrCornelia PieperGisela PiltzDr. Konrad SchilyMarina SchusterDr. Hermann Otto SolmsDr. Max StadlerDr. Rainer StinnerFlorian ToncarDr. Daniel VolkDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Es wird in der Öffentlichkeittan diskutiert. Ich wünsche mauch über den Sudan geführder Soldaten, die dort ihrenwerden.Ich habe bei den Gesprächversicht verspürt, dass es vosam. Leider ist bis jetzt, drekein tragfähiger stabiler Friedtionaler Bemühungen auf denen. Gerade den Menschen iser, und der Frieden zwischfragil. Jüngst flammten auchder auf. In Khartoum sitzt PrKerstin Müller
Winfried NachtweiOmid NouripourBrigitte PothmerClaudia Roth
Krista SagerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergChristine ScheelIrmingard Schewe-GerigkDr. Gerhard SchickRainder SteenblockSilke Stokar von NeufornDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeJürgen TrittinWolfgang WielandJosef Philip Winklerr CDU/CSU und demÜNEN sowie bei Ab- gerade viel über Afghanis-ir, dass eine solche Debattet wird und die LeistungenDienst tun, hier anerkannten vor Ort eine gewisse Zu-rangeht, wenn auch lang-i Jahre später, immer noche eingetreten, trotz interna-n unterschiedlichsten Ebe-n Darfur geht es nicht bes-en Nord und Süd ist sehrdie Konflikte in Abyei wie-äsident Bashir fest im Sat-NeinSPDWolfgang GunkelOttmar SchreinerFDPFrank SchäfflerDIE LINKEHüseyin-Kenan AydinDr. Dietmar BartschKarin BinderDr. Lothar BiskyHeidrun BluhmEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausSevim DağdelenWolfgang NeškovićDr. Norman PaechPetra PauBodo RamelowElke ReinkePaul Schäfer
Volker Schneider
Dr. Herbert SchuiDr. Ilja SeifertDr. Petra SitteFrank SpiethDr. Kirsten TackmannDr. Axel TroostJörn WunderlichSabine Zimmermannfraktionslose AbgeordneteHenry NitzscheGert WinkelmeierDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannMiriam GrußJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinElke HoffBirgit HomburgerDr. Werner HoyerMichael KauchDr. Heinrich L. KolbHellmut KönigshausGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerDr. Erwin LotterPatrick MeinhardtCornelia BehmAlexander BondeEkin DeligözDr. Uschi EidHans Josef FellKai GehringBritta HaßelmannBettina HerlitziusWinfried HermannPeter HettlichPriska Hinz
Ulrike HöfkenDr. Anton HofreiterBärbel HöhnThilo HoppeUte KoczySylvia Kotting-UhlRenate KünastMarkus KurthMonika LazarAnna Lührmann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25763
(C)
(D)
Marina Schustertel. Er ignoriert den Haftbefehl des Internationalen Straf-gerichtshofs und bekommt auch noch Beifall von derArabischen Liga. Die politische Gesamtsituation ist alsowirklich alles andere als hoffnungsvoll.Nun zu den Mandaten. Die FDP-Bundestagsfraktionwird beiden Mandaten zustimmen. Aber ich sage auchklar: Dass wir zustimmen, kann nicht heißen, dass wirdie Augen vor den Herausforderungen, mit denen wirumgehen müssen, verschließen.
Das betrifft zum einen die Truppenzahl. Die Truppe hatimmer noch nicht ihre volle Stärke erreicht. Das heißt, esgibt immer noch keine voll einsatzfähige UNAMID-Truppe. Ich frage die Bundesregierung, wie sie Sorge da-für trägt, dass die Mandate ein Erfolg werden, was sieaus der Vergangenheit lernt und vor allem welche politi-schen Initiativen sie jetzt auf den Weg bringen wird.Denn die Bundesregierung macht es sich zu einfach,wenn sie die Mandate dem Parlament zur Zustimmungvorlegt, ohne ihr Engagement auf eine strategische Basiszu stellen und ohne klar zu sagen, wofür sie sich einsetztund welche Initiativen sie voranbringt.
Die USA haben mit dem neuen Sonderbeauftragtenjetzt die politische Führung übernommen. Man hat zu ei-ner Konferenz in Washington eingeladen und die Kon-fliktparteien an einen Tisch gebracht. Man hat ihnen dasZugeständnis abgerungen, dass die Schiedsentschei-dung akzeptiert wird. Das ist ein sehr wichtiger Schrittfür die Befriedung im Sudan. Aber wir müssen daraufachten, dass sich die Parteien an diese Zusage halten. Ichstelle fest: Wenn es darum geht, neue Initiativen auf denWeg zu bringen, stellt sich die Bundesregierung hintenan.
Dabei hat sie gute Kontakte in die Region. Sie hat auchKontakte zum Sonderbeauftragten. Mich würde interes-sieren, wie sie die Initiativen unterstützt, wie sie das be-stärken will und wie sie mit anderen Playern in der Re-gion umgeht, zum Beispiel mit China. Wir alle wissen,dass China eine wesentliche Rolle spielt. Mich würdeauch interessieren, welche Kommunikationskanäle nachPeking genutzt werden, um eine konstruktive Politik ein-zufordern.Klar ist, dass wir alle Beteiligten in die Pflicht neh-men müssen: Bashir für den Zugang für Helfer undBlauhelme, aber auch die Rebellenführer und ebenso dieAU, die an ihre Gründungscharta erinnert werden muss;denn sie soll sich dort viel mehr einbringen, als sie dasbisher tut.Ich wiederhole daher meinen Appell – stellvertretendan Herrn Jung, da der Herr Außenminister nicht anwe-send ist –: Der Sudan muss höher auf der politischenAgenda stehen und angemessener berücksichtigt wer-den. Nach der Antwort der Bundesregierung auf unsereKleine Anfrage zum Sudan ist das alles doch sehr frag-würdig. Auf die Frage, ob die Einrichtung einer Flugver-botszone für Darfur thematisiert werde, heißt es, kon-krete Vorschläge lägen nicht vor. Auf die Frage, ob esDruckmittel gegenüber der Regierung in Khartoumgebe, wurde geantwortet, man habe den Botschafter ein-bestellt; weitere Sanktionen seien international keinThema. Immerhin seien bei anhaltender Nichtkoopera-tion der sudanesischen Regierung EU-autonome Maß-nahmen zu erwägen. Was wie wann umgesetzt wird,wird uns in der Antwort auf die Kleine Anfrage nichtmitgeteilt.Ich komme zum Schluss. Weder Bashir noch die Re-bellen dürfen die internationale Gemeinschaft länger ge-geneinander ausspielen. Nur wenn wir auf diplomati-scher Ebene vorankommen, können die Missionen ihreeigentliche Kraft entfalten. Die deutsche Bundesregie-rung könnte politisch mehr mitreden, wenn sie wollte.Ich wünsche mir den Willen und auch die Ausdauer, denSudan-Konflikt endlich oben auf die politische Agendazu setzen.
Nächster Redner ist der Kollege Hartwig Fischer für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben darüber zu entscheiden, ob zwei Mandate ver-längert werden sollen. Diese zwei Mandate beschäftigenuns seit Jahren.Ich stimme nicht mit der Einschätzung des Auswärti-gen Amtes überein, dass sich die Situation im Sudan ver-bessert hat. Wer sich im Südsudan umsieht und sieht,wie dort das Morden wieder beginnt, wer sieht, dass2 Millionen Menschen in der Hoffnung auf das CPA inihre Heimat zurückgekehrt sind, wer wie wir im vergan-genen Jahr gesehen hat, wie die Rückführung vonFlüchtlingen zum Stocken kam, als in Kenia nach denWahlen der Konflikt ausbrach, die Dieselpreise um dasVierfache anstiegen und die Menschen wieder verunsi-chert waren, wer die Dorfführer aus Uganda, wo dieseFlüchtlinge waren, gesehen hat, die in den Südsudan zu-rückgegangen sind, um sich über die aktuelle Situationzu informieren, und den Flüchtlingen in Uganda emp-fohlen haben, trotz der schwierigen Situation zurückzu-gehen, der ist sicherlich mit mir der Auffassung, dass diebegleitenden Maßnahmen im Südsudan deutlich ver-stärkt werden müssen, um den Menschen eine Perspek-tive zu geben.Wenn das CPA und das Referendum nicht zum Erfolgwerden, dann wird das Gemetzel im Südsudan wiederbeginnen und dann werden die Menschen nach derFlucht nicht wieder in diese Region zurückkehren. Wir
Metadaten/Kopzeile:
25764 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Hartwig Fischer
brauchen aber die Menschen in dieser Region zur Stabi-lisierung. Deshalb ist es dringend notwendig, dassUNMIS entsprechend gestärkt wird und den Zensus soumsetzen kann, dass er auch von der Bevölkerung ak-zeptiert wird, weil der Zensus Grundlage für die Vorbe-reitung des Referendums ist.UNMIS ist das eine Mandat. Ich meine, wir könnendafür aus dem Entwicklungsetat mehr ausgeben. Wir ha-ben den Etat so erheblich aufgestockt, dass wir meinerMeinung nach an der einen oder anderen Stelle dieBudgethilfe etwas kürzen und diesen wichtigen Bereichdurch Projektunterstützung stabilisieren können, um dieÜbergangsverfassung stärker zum Wirken zu bringen.Lassen Sie mich das zweite Mandat ansprechen. Wirals CDU/CSU-Fraktion werden natürlich beiden Manda-ten zustimmen. Aber in Darfur geht das Sterben jedenTag weiter. Herr Bashir hat null Interesse an einer Stabi-lisierung in Darfur; in diesem Punkt bin ich anderer Mei-nung als die Freundschaftsgruppe, die in Washington ge-tagt hat. Wer sieht, wie sich die Situation in denFlüchtlingslagern in den letzten Wochen und Monatenverändert hat, wer weiß, dass sich in Nyala immer nochüber 100 000 Flüchtlinge befinden und in der Trocken-zeit jeden Tag mindestens fünf Kinder sterben – in derRegenzeit vervierfacht sich diese Zahl –, wer weiß, dassdie Situation in den drei Lagern in Abu Shock mit über100 000 Menschen instabil ist, der sollte ein Interessedaran haben, dass UNAMID stabil ist und seinen Auf-trag ausführen kann. Deshalb ist es richtig, dass wir dieAfrikanische Union über das Peacekeeping Center inAccra, Ghana, mit Kapazität ausstatten und damit denMenschen eine Chance geben, gut ausgebildet dort ein-gesetzt zu werden.Bashir hat auch kein Interesse daran, dass die Hilfs-transporte in den Flüchtlingslagern tatsächlich ankom-men. Die Hilfstransporte werden zwar begleitet; einDrittel kommt aber gar nicht oder nicht rechtzeitig an.Verschiedene Hilfsorganisationen, darunter Amnesty,Brot für die Welt, der EED und die Gesellschaft für be-drohte Völker, haben einen Appell an alle Fraktionen ge-schickt. Die Entwicklungshelfer dieser Organisationensind vor Ort und können uns daher einen sachgerechtenBericht erstatten. Wir stehen in der Verantwortung, die-sen Menschen zu helfen.Als wir vor fünf Jahren, am 4. Juni 2004, das ersteMal in einem der Flüchtlingslager waren, mit den Men-schen zusammenkamen und sahen, wie es um die Ver-sorgung steht, haben wir uns Gedanken gemacht. Wirhaben dann gemeinsam beschlossen: Es muss eine ge-meinsame Verantwortung und eine Verbesserung derdortigen Situation geben. Seitdem haben sich die Nah-rungsmittelrationen für die Menschen in diesem Flücht-lingslager zeitweise um die Hälfte reduziert, zurzeit umetwa ein Drittel. Das liegt sowohl daran, dass ein Teil derMittel nicht zur Verfügung steht, als auch daran, dass dieTransporte nicht ankommen. Ich appelliere an alle, sichdafür einzusetzen, dass der Sudan – egal ob Darfur oderSüdsudan – auf der Agenda der diplomatischen Verhand-lungen ganz oben steht.
Die Menschen haben eine Perspektive verdient.Ich möchte Ihnen die Lage im Südsudan einmal ver-ständlich machen. Im Südsudan begann der Krieg vorüber 25 Jahren. Dort sind innerhalb eines halben JahresMillionen Menschen geflohen und haben dann 20 Jahrein Flüchtlingslagern in Kenia, Zentralafrika oder Ugandagelebt. Von diesen Menschen sind nun 2 Millionen wie-der in ihre Heimat zurückgekehrt und haben Hoffnung.Darunter befinden sich unglaublich viele, die nie etwasanderes als die Flüchtlingslager kennengelernt haben,weil sie in den Lagern geboren worden sind. Wenn wirdiese Menschen nun enttäuschen, weil nicht gemeinsamgehandelt wird, führt das nach meiner Überzeugung zueiner Katastrophe und destabilisiert eine Region, in derwir durch Somalia und durch den Konflikt mit Äthiopienschon genügend Probleme haben.Ich möchte den Helferinnen und Helfern sowie derBundeswehr vor Ort ausdrücklich danken. Ich glaube,dass es in Afrika generell mehr Licht als Schatten gibt.Ich bin der Bundeskanzlerin dankbar, dass sie in ihrerRegierungserklärung heute Morgen noch einmal deut-lich gemacht hat, dass wir gemeinsam Verantwortungtragen, und zwar nicht nur dann, wenn wir die Schiffe imMittelmeer und die ertrunkenen Flüchtlinge sehen, diediesen Weg aus existenzieller Not beschreiten.Lampedusa ist eines der Signale und Fanale, für diewir gemeinsam Verantwortung tragen. Wir werden nuretwas erreichen, wenn wir auf dem afrikanischen Konti-nent nachhaltig handeln, nicht nur aus humanitärenGründen, sondern auch mit Blick auf die Zukunft vonganzen Generationen; das liegt auch in unserem eigenenInteresse. Deshalb bitte ich Sie, diesen Mandaten zuzu-stimmen, weil sie die Grundlage für eine nachhaltigeEntwicklung sind.
Nächster Redner ist der Kollege Hüseyin Aydin für
die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir sollten uns nichts vormachen: In dieser Debatte zurMandatsverlängerung für die UN-Mission im Sudangeht es gar nicht um die Konflikte und Kriege in Afrikasgrößtem Land. Ich halte das für höchst problematisch.Was hier stattfindet, ist eine Ersatzhandlung für einenkonsequenten und strategisch geplanten Umgang mitdem Sudan, der eigentlich bitter notwendig wäre. HörenSie auf, der Öffentlichkeit vorzumachen, dass Sie mitder Entsendung von 31 Soldaten einen nachhaltigen Bei-trag zur Konfliktmilderung im Sudan leisten würden!
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25765
(C)
(D)
Hüseyin-Kenan AydinPolitische und diplomatische Initiativen sind geboten,um auf die sich abzeichnende Eskalation der zahlreichenKonflikte im Land reagieren zu können. Meine Fraktionhat ihre Position zur UNAMID und UNMIS bereitsmehrfach dargelegt. Daran hat sich nichts geändert.Während man über den Sinn und die Wirkung desUN-Einsatzes im Süden durchaus diskutieren kann, istdie Intervention in Darfur aus vielen Gründen ein Fehl-schlag und trägt kaum etwas zur Konfliktminderung bei.
Deshalb wird meine Fraktion die Beteiligung anUNAMID ablehnen, während sich einige meiner Kolle-ginnen und Kollegen und ich selbst im Fall von UNMISenthalten werden. Doch die Mandatsfrage ist, wie ich be-reits andeutete, nicht das eigentliche Thema, das uns be-schäftigen sollte. Vielmehr möchte ich die Bundesregie-rung fragen, welche diplomatischen Aktivitäten siegegenüber dem Sudan zu entfalten gedenkt. Bisher kannich nicht erkennen, dass es in der Bundesregierung einangemessenes Interesse gibt, sich eingehend und dauer-haft mit einem der bedeutendsten Konflikte in Afrika zubeschäftigen.Ich fordere Sie auf: Positionieren Sie sich endlich!Wie stehen Sie zur unbeirrten Unterstützung Frankreichsfür das Regime von Idriss Déby im Tschad? Sind Sie derMeinung, dass die neokoloniale Politik unseres Nach-barlandes einer Konfliktbeilegung zuträglich ist? SorgenSie dafür, dass die sich widersprechenden Interessen in-ternationaler Akteure in Bezug auf den Sudan klar be-nannt werden, und formulieren Sie Ihre eigenen Interes-sen; denn wir kennen sie nicht!
Initiieren Sie eine Sudan-Politik auf europäischer Ebene,die diesen Namen auch verdient! Bisher ist der EU-Be-auftragte für den Sudan, Torben Brylle, nicht wie seinVorgänger durch wirksame Initiativen aufgefallen.Die Ursachen für Kriege, Vertreibung und sporadischaufflammende Konflikte im Sudan – nicht nur im Wes-ten und Süden, sondern auch in anderen Landesteilen –sind sicherlich vielfältig und komplex. Doch eines ist ih-nen allen gemeinsam: Die ungleiche Machtverteilungzwischen dem Zentrum in Khartoum und der dort ton-angebenden militärischen und wirtschaftlichen Elite ei-nerseits und politisch sowie sozial marginalisierten Re-gionen andererseits schafft die Grundlage für Armut,Unzufriedenheit und Perspektivlosigkeit, die letztlich zuKrieg führen.Wir fordern einen umfassenden und langfristig ange-legten gesellschaftlichen Dialog, der allen relevantenBevölkerungsgruppen im Sudan ein Podium zur Formu-lierung ihrer Positionen bietet. Dieser Wunsch gilt fürDafur, für den Süden, aber auch für den Osten Sudans.
Außerdem halten wir es für dringend geboten, denSudan und dessen Konflikte aus einer regionalen Per-spektive zu analysieren und entsprechend darauf zureagieren. Aufseiten der Bundesregierung ist höchsteEile geboten, endlich eine Politik gegenüber der gesam-ten Region am Horn von Afrika und dem Sudan zu ent-wickeln. Ein zweites Somalia wäre eine Katastrophe –für die Sudanesen und ihre Nachbarländer.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nundie Kollegin Kerstin Müller.Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich will gleich zu Beginn für meine Fraktion klarstellen:Aus unserer Sicht sind UNAMID und UNMIS zwarkeine ausreichende Antwort auf die Frage, wie derFriede im Sudan wiederhergestellt werden kann, aber siesind ein notwendiger Bestandteil einer Friedenslösung.Deshalb werden wir den beiden Mandaten zustimmen.
Verehrter Herr Aydin, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von der Linksfraktion, wenn Sie hier großspurig er-klären, dass Sie die Völkerrechtspartei seien,
dann müssen Sie auch endlich einmal internationale Ver-antwortung innerhalb der UNO übernehmen, statt dieseMandate immer aus innenpolitischen, populistischenGründen abzulehnen. Das ist nämlich Ihr einzigerGrund.
Ich finde, es ist ein Armutszeugnis, dass Sie nichteinmal bereit sind, einfache Blauhelmmandate desUNO-Sicherheitsrates wie UNMIS zu akzeptieren. BeiUNMIS geht es um eine Beobachtermission. Sie habendie 31 deutschen Soldaten angesprochen, die derzeit ein-gesetzt werden. Anscheinend wissen Sie nicht, dass beiUNMIS 10 000 Soldaten und Polizisten stationiert sindund übrigens auch 3 600 zivile Angestellte. Es ist eineMission, die in großem Umfang zivile Aufgaben beimFlüchtlingsschutz, bei der Demobilisierung usw. leistet.Man muss im Bundestag deutlich klarstellen: Wennman solche Missionen ablehnt, dann kann man sich nichtals Völkerrechtspartei bezeichnen, weil man keine Ver-antwortung in der UNO übernimmt.
Diese Behauptung wurde von Ihrer Kollegin FrauHänsel noch getoppt – auch das muss ich erwähnen; lei-der wurden die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt
Metadaten/Kopzeile:
25766 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Kerstin Müller
beim letzten Mal zu Protokoll gegeben –, die den vomInternationalen Strafgerichtshof – eine Errungenschaftdes internationalen Rechtssystems; Grundlage ist einverbindlicher Sicherheitsratsbeschluss – erlassenenHaftbefehl gegen Bashir in ihrer Rede als kontraproduk-tiv bezeichnet, weshalb er abzulehnen sei.
Ich sage Ihnen: Das ist ein Schlag ins Gesicht der Opfer.Die Opfer fordern Gerechtigkeit, gerade von der UNO,gerade durch ein internationales Rechtssystem. Ihre Be-hauptung, eine Völkerrechtspartei zu sein, ist wirklicheine lächerliche Farce.
In Darfur herrscht immer noch die größte humanitäreKrise weltweit: 300 000 Tote, 2,7 Millionen Vertriebene;zwei Drittel der Bevölkerung sind von internationalerHilfe abhängig. Herr Kollege Fischer und andere habenes bereits erwähnt: Auch der Frieden im Südsudan rücktleider wieder in weite Ferne, und zwar trotz des gutenund umfassenden Friedensabkommens von 2005, des so-genannten CPA.Lassen Sie mich es zugespitzt formulieren: Die Ex-perten warnen bereits davor, dass das CPA vor dem Kol-laps steht. In Darfur gab es in den letzten Monaten mehrals 1 200 Tote, und die Zahl der Binnenflüchtlinge ist inganz kurzer Zeit um 20 000 hochgeschnellt. Leider ist esso, dass UNAMID und UNMIS daran wenig ändern. Ichglaube, ein Grund dafür ist, dass die internationale Poli-tik bis heute immer noch keinen ausreichenden politi-schen Willen zeigt, neben einer Friedensmission – sie isteine Voraussetzung – eben auch ein nachhaltiges Frie-densengagement und Gerechtigkeit für die Opfer voran-zutreiben.Die Wahrheit ist: Nicht nur mangels eines Friedens-prozesses kann UNAMID die Menschen in Darfur nichtausreichend schützen, sondern auch deshalb nicht, weildie internationale Staatengemeinschaft selbst nach an-derthalb Jahren immer noch nicht ihre Zusagen erfüllthat. Ich muss an dieser Stelle auch die Bundesregierungkritisieren; denn Sie schaffen es gerade einmal, zwei von250 zugesagten Soldaten zu entsenden, und das inner-halb von eineinhalb Jahren. Wir haben eben von denMissständen gehört. Herr Fischer, Sie haben es selberangesprochen. So kann es nicht weitergehen. Die Bun-desregierung muss den von ihr zugesagten Beitrag leis-ten und die Zahl an Soldaten entsenden, die notwendigist, damit UNAMID die Menschen wirksam schützenkann.
Es fehlen auch noch 18 Hubschrauber. Es ist ein Trau-erspiel, dass man selbst angesichts eines Völkermordesnicht in der Lage ist, auf internationaler Ebene18 Hubschrauber zu mobilisieren.
Ein letzter Satz zu UNMIS: UNMIS hat als Beobach-termission der eskalierenden Gewalt im Südsudan wenigentgegenzusetzen. Diese Mission muss dringend ge-stärkt werden, mit Blick auf den Schiedsspruch zuAbyei, die Wahlen 2010 und das Referendum 2011.Hierzu noch ein wichtiger Gedanke.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Ich bin gleich fertig. – Deutschland ist eine der Ga-
rantiemächte des CPA. Deshalb muss Deutschland poli-
tische Initiativen wie die der USA jetzt intensiv unter-
stützen. Möglicherweise werden wir sonst im Jahre 2011
nach den Referenden, Herr Fischer, die Geburtsstunde
eines neuen Failing State erleben, ein Auseinanderfallen
des Sudan. Verglichen mit den Gefahren von Terroris-
mus und Instabilität, für das Horn von Afrika ist die
Piraterie vor der Küste Somalias, über die wir zurzeit de-
battieren, nur ein kleines Vorspiel. Auch im internationa-
len Interesse müssen wir daher zur Stabilisierung des
Sudan beitragen. Die Menschen hoffen auf uns; sie set-
zen auf uns. Lassen Sie uns ihre Erwartungen nicht ent-
täuschen!
Als nächster Redner hat der Kollege Gert
Weisskirchen für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrte Damen undHerren! Für die SPD-Bundestagsfraktion darf ich – unddas zum letzten Mal – sagen: Wir werden den Mandatenzustimmen. Aber ich habe eine herzliche Bitte an alleKolleginnen und Kollegen – und das ist doch Konsensund Ergebnis der Debatte, Herr Fischer –: Bitte nehmenSie diese Mandate zum Anlass – das gilt besonders dann,wenn es im nächsten Jahr, in 2010, im Sudan zu Wahlenkommt –, das Engagement, das wir jetzt im Zusammen-hang mit der Zustimmung zu den Mandaten zeigen, zunutzen, damit der Sudan eine Chance hat, beim Friedens-prozess eine eigene Entwicklung zu nehmen. Nutzen Siediese Chance, nachdem diese Mandate verabschiedetworden sind! Tragen Sie dazu bei, dass der Sudan eineChance erhält, sich anders zu entwickeln, um von denZuständen, die der Kollege Fischer beschrieben hat,wegzukommen! Der Sudan darf nicht im Strudel der Ge-walt verschwinden. Die Menschen haben ein Recht da-rauf, ihren Frieden zu erarbeiten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, man muss auch sa-gen – und das weiß niemand besser als die Bundesregie-rung, die Bundeskanzlerin und die Entwicklungsministe-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25767
(C)
(D)
Gert Weisskirchen
rin –: Es gibt Regionen in Afrika, die eine andereEntwicklung genommen haben. Sie haben sich positiventwickelt. Viele Regionen Afrikas haben aufgeschlos-sen, damit die Menschen in diesen Regionen bessereChancen für ihr Leben haben, lieber Kollege Fischer.Das Land Sudan hat das innere Potenzial, zu Wachs-tumsregionen Afrikas, zum Beispiel Südafrika, aufzu-schließen. Unternehmen Sie bitte alles, damit der Sudannicht versinkt angesichts dessen, was Bashir mit denMenschen vorhat! Helfen Sie mit, dass diese Regioneine bessere Chance hat als bisher, liebe Kolleginnenund Kollegen!Zwei Drittel der Menschen, die in Afrika befragt wor-den sind, sprechen sich für Demokratie aus. Die Jünge-ren fordern von den autoritären alten Machteliten, dasssie sich dem Willen der gut ausgebildeten und klugenjungen Menschen in Afrika beugen. Wir müssen ihnenmit unserem Engagement helfen, damit sie ihre Zukunft,besser und demokratisch, selbst bestimmen können. Esist unsere Pflicht hier im Deutschen Bundestag, ihnen zuhelfen.
Lassen Sie mich, wenn ich darf, zum Schluss Fol-gendes sagen – das sage ich jetzt mit Blick auf dieBundeskanzlerin –: Nehmen Sie und die gesamte Bun-desregierung bitte das auf, was Willy Brandt uns allengemeinsam gesagt hat, als es darum ging, was die Auf-gabe Europas ist. Die Aufgabe Europas ist, aufklärendzu wirken, dafür zu sorgen, dass sich Frieden, Freiheitund Demokratie durchsetzen. Das ist unsere Aufgabeund unsere Pflicht, liebe Kolleginnen und Kollegen. DerDeutsche Bundestag muss immer an der Seite der Frei-heit und der Demokratie stehen. Das ist unsere Ver-pflichtung gegenüber der Geschichte und der Zukunftder Menschheit, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Bevor wir zur Abstimmung kommen, erteile ich nun
der Kollegin Hänsel zu einer Kurzintervention das Wort.
Danke, Frau Präsidentin. – Ich möchte auf Frau
Müller eingehen, weil sie mich direkt bezüglich der Be-
urteilung des Haftbefehls gegen al-Bashir angesprochen
hat. Für mich ist Folgendes entscheidend: Wir müssen
uns überlegen, wie wir zu einer Friedenslösung im
Sudan kommen. Dazu brauchen wir natürlich auch al-
Bashir.
Ich finde es sehr interessant, dass ich noch nie gehört
habe, dass Kriegsverbrecher in der Regierung von Af-
ghanistan sitzen, die Blut an den Händen haben. Von
Ihnen kommt niemand auf die Idee, diese als Kriegs-
verbrecher anzuklagen. Denn sie sind Ihre Verhand-
lungspartner. Diese Kriegsverbrecher, die übelste Ver-
brechen begangen haben, werden selbst ins
Entwicklungsministerium eingeladen; das ist bekannt.
Ich habe jedoch noch nie gehört, dass Sie gesagt haben:
Diese Leute müssen mit Haftbefehl gesucht werden. –
Im Gegenteil: Sie argumentieren damit, dass Sie diese
Leute zwecks strategischer Ausrichtung in Afghanistan
brauchen.
Frau Kollegin Müller, bitte.
Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Frau Hänsel, ich bin schon erstaunt, dass Sie jetzt da-
rüber entscheiden wollen, welcher Kriegsverbrecher
oder Diktator dieser Welt dem internationalen Recht un-
terliegt oder nicht und wer vor den Internationalen Straf-
gerichtshof zu treten hat. Ich darf Sie darauf aufmerksam
machen: Es gibt internationales Recht. Es gibt das Rom-
Statut zum Internationalen Strafgerichtshof. Es gibt ei-
nen Beschluss des Sicherheitsrats, in dem der Internatio-
nale Strafgerichtshof aufgefordert wird, ein Ermittlungs-
verfahren im Sudan einzuleiten und zu untersuchen, wer
für die Verbrechen in Darfur verantwortlich ist.
Es ist nicht unsere Sache, sondern allein Sache der
Richter und der Staatsanwaltschaft, darüber zu entschei-
den, ob ein Haftbefehl erlassen wird oder nicht.
Sie können doch nicht einerseits behaupten, Sie seien
die Völkerrechtspartei, sich andererseits aber hier hin-
stellen und sagen, es interessiere Sie nicht, was das Völ-
kerrecht vorsieht und wie die Institutionen zu arbeiten
haben. Schließlich haben viele Regierungen sehr müh-
sam daran mitgearbeitet – und auch Deutschland hat
über viele Regierungen fraktionsübergreifend intensiv
daran mitgewirkt –, dass es diesen Internationalen Straf-
gerichtshof überhaupt gibt. Ich bleibe dabei: Er ist eine
Errungenschaft, und er schafft Gerechtigkeit.
Und wenn Sie einmal mit den Menschen in Darfur re-
den – auch hier sind Sie ignorant –, dann werden Ihnen
selbst die Menschen in den Flüchtlingslagern sagen, dass
sie Gerechtigkeit durch das internationale Recht wollen
und dass sie diese Verfahren vor dem Internationalen
Strafgerichtshof fordern. Gerechtigkeit ist für jeden Frie-
den notwendig. Nicht wir haben zu entscheiden, welcher
Diktator in Den Haag landet und sich dort zu rechtferti-
gen hat. Das bestimmen weder Sie noch ich, sondern nur
das internationale Recht.
Ich schließe nun die Aussprache. Wir kommen zu denAbstimmungen.
Metadaten/Kopzeile:
25768 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtZunächst Tagesordnungspunkt 12 a: Es geht hier umdie Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusseszum Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung derBeteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an derFriedensmission der Vereinten Nationen im Sudan, alsoum das UNMIS-Mandat.Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/13598, den Antrag der Bundes-regierung auf Drucksache 16/13395 anzunehmen. Wirstimmen nun über diese Beschlussempfehlung nament-lich ab. Ich möchte bereits jetzt darauf hinweisen, dasswir unmittelbar im Anschluss an diese Abstimmungnoch über einen weiteren Bundeswehreinsatz namentlichabstimmen werden.Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, diePlätze einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? – Dasscheint der Fall zu sein. Dann eröffne ich die Abstim-mung.Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimmkarte nicht abgegeben hat? – Das ist nicht derFall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, auszuzählen. DasErgebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt ge-geben.1)Wir setzen die Abstimmungen fort.Tagesordnungspunkt 12 b: Beschlussempfehlung desAuswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesre-gierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneterdeutscher Streitkräfte an der AU/UN-Hybrid-Operationin Darfur. Es geht um das UNAMID-Mandat. Der Aus-schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 16/13599, den Antrag der Bundesregierungauf Drucksache 16/13396 anzunehmen. Auch über dieseBeschlussempfehlung wird namentlich abgestimmt.Ich gehe davon aus, dass alle Urnen noch besetzt sind. –Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.Sind noch Kolleginnen und Kollegen im Saal, die ihreStimmkarte für die zweite namentliche Abstimmungunter diesem Tagesordnungspunkt nicht abgegeben ha-ben? – Das ist nicht der Fall. Die Abstimmung ist ge-schlossen. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift-führer, auszuzählen. Auch dieses Ergebnis wird Ihnenspäter bekannt gegeben.2)Ich würde die Beratungen gerne fortsetzen und darfSie deshalb bitten, Ihre Gespräche vor dem Saal zu füh-ren.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 72 auf:Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Josef Philip Winkler, Volker Beck ,Ekin Deligöz, weiteren Abgeordneten und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Strei-1) Ergebnis Seite 25771 C2) Ergebnis Seite 25773 Bchung des Optionszwangs aus dem Staatsange-hörigkeitsrecht– Drucksache 16/12849 –Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 16/13556 –Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelRüdiger VeitHartfrid Wolff
Sevim DağdelenJosef Philip WinklerAuch über diesen Gesetzentwurf werden wir späternamentlich abstimmen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,Sie sind damit einverstanden. Dann können wir so ver-fahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Kollegen Reinhard Grindel für dieCDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft darfkeine Eintrittskarte für Integrationsbemühungen sein,sondern sie muss am Ende eines erfolgreichen Integra-tionsprozesses stehen. Dieser Grundsatz galt für dieCDU/CSU-Fraktion immer.Es ist richtig: Mit der sogenannten Optionsregelungist dieser Grundsatz nahezu durchbrochen worden.
Anders als bei der Einbürgerung muss der Optionsver-pflichtete keinerlei Integrationsleistungen erbringen. Ermuss nicht deutsch sprechen können. Er kann kriminellsein. Das Grundgesetz muss er auch nicht achten.
Das Einzige, was der Gesetzgeber verlangt, ist, dass ersich zwischen dem 18. und 23. Lebensjahr entscheidet,Ja zur deutschen Staatsangehörigkeit zu sagen, und dieStaatsangehörigkeit des Herkunftslandes seiner Elternniederlegt. Das ist praktisch die einzige Integrationsleis-tung, die er erbringen muss.Ich sage für unsere Fraktion: Ja, diese Integrations-leistung wollen wir sehen. Die muss erbracht werden.Diese Entscheidung muss jemand, der auf Dauer alsDeutscher mit uns leben will, treffen.
Aus dieser Pflicht wollen wir ihn nicht entlassen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25769
(C)
(D)
Reinhard GrindelIm Kern geht es bei diesem Thema um die Frage, wel-che Vorstellung von Integration wir haben. Dazu sagt derKollege Josef Winkler bei Abgeordnetenwatch:Integration bedeutet Teilhabe durch gleiche Rechteund Pflichten.
Mal ganz abgesehen davon, dass der Doppelstaatsbürgerwesentlich mehr Rechte als der Nurdeutsche hat –
er kann jederzeit, wenn es ihm bei uns nicht mehr ge-fällt, die Koffer packen und abhauen, während der Nur-deutsche unentrinnbar mit unserem Staat und der deut-schen Staatsgewalt verbunden ist –, finde ich, dass dieserIntegrationsbegriff viel zu kurz greift. Integration setztSprachkompetenz und die Akzeptanz gemeinsamerWerte voraus, die wir uns nicht gegeben haben, sonderndie Teile unserer abendländischen Kultur sind, in dieman sich einzufügen hat.Der Kollege Wolfgang Bosbach hat heute Morgen beieinem Termin von einer Reise nach Kanada berichtet,bei der er als Gast an einem Kurs für Neuzuwandererteilgenommen hat.
Er hat die Kursteilnehmer gefragt, weshalb sie den Kursbesuchen und welche Erwartungen sie damit verbinden.Darauf haben sie geantwortet: To be a good Canadian.Wir würden uns wahrscheinlich nicht trauen, die Posi-tion zu vertreten, dass jemand in unserem Land richtigintegriert ist, wenn er sagt: Ich will ein guter Deutscherwerden. Obwohl ich provozierend fragen würde: Warumeigentlich nicht? Aber es ist doch wohl völlig klar, dassich so viel Bekenntnis zu unserem Staat verlangen darf,dass der Betroffene zumindest Ja sagt zu unserer Staats-bürgerschaft und sich von der seiner Eltern trennt. Darandarf es keinen Zweifel geben. Das darf der Staat verlan-gen, um das ganz klar zu betonen.
Der Kampf um die doppelte Staatsbürgerschaftkommt mir vor wie der letzte Kampf der Multikultigläu-bigen;
nichts von den Ausländern verlangen, alles dulden, undder fromme Glaube: Wer in Deutschland geboren ist, derintegriert sich automatisch.
Mit dieser Haltung ist Rot-Grün grandios gescheitert,Frau Kollegin Roth. Das können Sie unweit des Reichs-tags täglich besichtigen.
Der frühere Innenminister Otto Schily hat 1999 dasOptionsmodell damit begründet, dass es zum Beispieltürkischstämmigen Schülern nicht zumutbar sei, dass beieiner Klassenreise nach England alle deutschen Kinderproblemlos fahren können, während die türkischstämmi-gen Kinder ein Visum brauchen, das vielleicht zu späterteilt wird. Dass die Schüler, insbesondere wenn es sichum Mädchen handelt, gar nicht mitfahren dürfen, weildie Eltern es verbieten und damit die Integration er-schweren, daran ist damals überhaupt nicht gedacht wor-den. Aber das ist die Realität, der wir uns heute stellenund auf die wir Antworten geben müssen.
Wenn jetzt argumentiert wird, dass wir Kinder, wennwir sie zur Option zwingen, in einen Konflikt mit ihrenEltern treiben, dann sage ich: Eine solche Konstellationist Indiz dafür, dass es keine ausreichende Integrationgibt. Da darf der Staat doch nicht vor mangelnder Inte-gration kapitulieren. Da sorge ich doch durch die Dis-kussion mit den Eltern über die Frage, wie man sich beider Optionsregelung entscheidet, dafür, dass man sichvielleicht erstmals Gedanken macht, welche Erwartun-gen man an sein Leben in Deutschland hat und inwieweitman in unserer Gesellschaft ankommen will. Es gehörtdoch zur Integrationsbereitschaft der Eltern, dass sie ak-zeptieren und zulassen, dass sich ihr Kind für die deut-sche Staatsbürgerschaft und damit gegen ihre eigene ent-scheidet.
Der Optionszwang ist nicht integrationsfeindlich. ImGegenteil: Auf ihn zu verzichten, wäre eine Kapitulationvor Integrationsdefiziten.
Diese Debatte führen wir reichlich früh; denn das Op-tionsmodell greift erst seit letztem Jahr. Es haben sicherst ganz wenige sogenannte Optionskinder entschieden.Es gibt bisher keinen Fall, bei dem uns in irgendeinerWeise bekannt wäre, dass es große seelische Qualen undmassive Entscheidungskonflikte gegeben hätte,
sondern ganz im Gegenteil: Nahezu alle, die bisher vordie Wahl gestellt wurden, haben sich für die deutscheStaatsangehörigkeit entschieden. Wir müssen dazu er-muntern, Ja zu Deutschland zu sagen. Wir können ihnenzum Beispiel sagen, dass sie nicht nur das Recht aufvolle politische Partizipation haben, sondern dass dieje-
Metadaten/Kopzeile:
25770 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Reinhard Grindelnigen, die sich bisher haben einbürgern lassen, lautjüngsten Untersuchungen wirtschaftlich deutlich erfolg-reicher sind.Wir brauchen eine Willkommenskultur; das ist rich-tig. Aber ich kann nur fragen: Wer hat denn bisher Ent-sprechendes gemacht? Zum Beispiel hat die Bundes-kanzlerin im Bundeskanzleramt in einer sehreindrucksvollen Veranstaltung Staatsbürgerschaftsur-kunden verliehen.
Ich kann nur sagen: Eine solch eindrucksvolle Veranstal-tung hat bisher kein SPD-Kanzler und erst recht keinGrüner zustande gebracht.
Dieses Zeremoniell haben diese ausländischen Mitbür-ger, die sich zur deutschen Staatsbürgerschaft bekannthaben, nicht, wie es von der Opposition gesagt wird, alsShowveranstaltung verstanden, sondern sie und ihre Ver-wandten haben das als eine ganz große und bedeutendeStunde in ihrem Leben verstanden und als genau das, alswas es von uns gedacht war: als ein Zeichen für ihr An-kommen, als ein Willkommen und als Zeichen dafür,dass sie zu uns gehören und auf Dauer unter uns lebensollen.
Ich will Ihnen noch etwas sagen: Wir lehnen die dop-pelte Staatsbürgerschaft auch wegen der Loyalitätskon-flikte, die sich daraus ergeben, ab.
Die Kampagne gegen die Optionsregelung unterstütztzum Beispiel der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde,Herr Kolat, der beide Staatsbürgerschaften besitzt. Wennwir von Loyalitätskonflikten sprechen, dann werden wir,wie das auch gerade geschieht, von Frau Roth und ande-ren belächelt. Ich sage Ihnen: Ihnen gefriert das Lächeln– mir ist das passiert –, wenn Sie mit türkischen Minis-tern zum Beispiel über die Frage der Notwendigkeit derverpflichtenden Deutschkenntnisse beim Familiennach-zug diskutieren. Sie stellen dann fest, dass die Minister,Ihre Gesprächspartner, Sprechzettel haben, die vonHerrn Kolat stammen. Dieses Politisch-über-die-Bande-Spielen, türkische Minister intern so zu positionierenund zu munitionieren, dass sie Druck auf unsere Minis-ter ausüben können, um in der deutschen Diskussion Er-folge zu erzielen, ist genau das, was wir als Loyalitäts-konflikte bezeichnen und nicht wollen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Edathy?
Ja, selbstverständlich.
Herr Kollege Grindel, da Sie gerade namens Ihrer
Fraktion ausgeführt haben, dass Sie Mehrstaatigkeit als
großes Problem betrachten, möchte ich Sie fragen: Ent-
spricht es erstens auch Ihrem Kenntnisstand, dass Mehr-
staatigkeit bei der Einbürgerung von Erwachsenen in-
zwischen in bis zu 50 Prozent der Fälle akzeptiert wird
und dass es zweitens ein Fakt ist, dass alle Kinder, die
aus binationalen Haushalten kommen, dauerhaft Mehr-
staater sind, ohne dass es irgendwo ablesbar zu Proble-
men kommt?
Wieso, Herr Kollege Grindel, ist es vor diesem Hin-
tergrund sinnvoll, dass wir Kinder, die aufgrund ihrer
Geburt in Deutschland die deutsche Staatsbürgerschaft
erworben haben, möglicherweise im Alter von 23 Jahren
zwangsweise ausbürgern, obwohl die ganz überwie-
gende Zahl dieser jungen Menschen eine dauerhafte
Lebensperspektive in Deutschland hätte? Wieso soll das
integrationspolitisch sinnvoll sein? Ist das unter integra-
tionspolitischen Gesichtspunkten nicht, wie es meine
Fraktion beurteilt und wie es auch die Grünen beurteilen,
absolut kontraproduktiv?
Meine Antwort auf Ihre erste Frage: Integrationspoli-tisch verlangen wir von denjenigen, die die deutscheStaatsbürgerschaft erhalten, zum Beispiel, dass siedeutsch sprechen, wirtschaftlich integriert sind und inder Vergangenheit nicht straffällig geworden sind.
Das ist ein Zugeständnis an diejenigen, die hier geborenund aufgewachsen sind. Mehr verlangen wir nicht. DasEinzige, was wir verlangen, ist, dass sie sich entschei-den, ob sie auf Dauer die deutsche Staatsangehörigkeithaben wollen oder die ihrer Eltern. Erklären Sie mir ein-mal, warum es in integrationspolitischer Hinsicht nichtsehr sinnvoll ist, diese Entscheidung, die natürlich auchein Stück weit Bekenntnis zu unserem Land und zu einerdauerhaften Perspektive in unserem Land ist, auch wei-terhin zu verlangen.
Das Zweite, Herr Edathy: Man muss Gleiches gleichund Ungleiches ungleich behandeln. Es ist doch ein ge-waltiger Unterschied, ob es um ein Kind aus einer bina-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25771
(C)
(D)
Reinhard Grindelspiel um das Problem: Was ist eigentlich mit den Options-pflichtigen – Herr Edathy, das ist eine weitere Fall- Zunächst zu Tagesordnungspunkt 12 a, Beschluss-Land auf immer und ewig verlassen und deren Kinder,die sie vor ihrem 23. Lebensjahr bekommen, sogar perAbstammung deutsche Staatsbürger sind, obwohl sie mitunserem Land möglicherweise nie etwas zu tun habenwerden? Das ist im Hinblick auf das Staatsbürger-schaftsrecht ein Bruch mit unserer Rechtstradition.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 540;davonja: 487nein: 39enthalten: 14JaCDU/CSUUlrich AdamPeter AlbachPeter AltmaierDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerClemens BinningerPeter BleserAntje BlumenthalJochen BorchertWolfgang BosbachKlaus BrähmigMichael BrandHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeMonika BrüningGeorg BrunnhuberCajus CaesarGitta ConnemannLeo DautzenbergHubert DeittertAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttMaria EichhornDr. Stephan EiselAnke Eymer
Ilse FalkDr. Hans Georg FaustEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter Flosbachtrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteili-gung bewaffneter deutscher Streitkräfte an derFriedensmission der Vereinten Nationen im Sudan, demUNMIS-Mandat: abgegebene Stimmen 542. Mit Ja ha-ben gestimmt 487, Neinstimmen 39 und Enthaltungen16. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.Herbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelDr. Jürgen GehbNorbert GeisEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingGerda HasselfeldtUrsula Heinen-EsserUda Carmen Freia HellerMichael HennrichJürgen HerrmannBernd HeynemannErnst HinskenPeter HintzeRobert HochbaumKlaus HofbauerFranz-Josef HolzenkampAnette HübingerHubert HüppeSusanne Jaffke-WittDr. Peter JahrDr. Hans-Heinrich JordanAndreas Jung
Dr. Franz Josef JungBartholomäus KalbHans-Werner KammerAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderEckart von KlaedenJürgen KlimkeJulia KlöcknerJens KoeppenDr. Kristina Köhler
Manfred KolbeNorbert Königshofengruppe, die man in den Blick nehmen muss –, die unser empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An-tionalen Ehe, in der ein Elterjemanden aus der EuropäiscMehrzahl der Fälle von Mehrlich dadurch, dass MenschenEU-Staaten stammen, heirate
Insofern kann ich nur sagenMenschen zum europäischeob sie deutsche Eltern habenzungen nicht gegeben sind.
ass wir die Mehrstaatigkeitiederlegung der ursprüngli-t möglich ist, etwa bei Ira-en hinnehmen.ren Wahlprogrammen ange-hrungen mit dem Options-gliche Schwierigkeiten bein. Dabei geht es zum Bei-
Regelung nicht korrigierter im Rahmen des verfas-llegen, es bleibt dabei: Dieund nicht am Anfang einesesses. Keine Bundesregie-ration getan wie diese Bun-ier Jahren. Integration heißtrdern ein klares Bekenntnismuss es bei der Options-ören.r CDU/CSU)asselfeldt: Redner das Wort erteile,von den Schriftführerinnen Ergebnis der namentli-en Tagesordnungspunkten
Metadaten/Kopzeile:
25772 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Martina KrogmannDr. Hermann KuesDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertHelmut LampKatharina LandgrafDr. Max LehmerPaul LehriederIngbert LiebingEduard LintnerDr. Michael LutherThomas MahlbergStephan Mayer
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterFriedrich MerzLaurenz Meyer
Maria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachPhilipp MißfelderDr. Eva MöllringMarlene MortlerCarsten Müller
Stefan Müller
Dr. Gerd MüllerMichaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferBeatrix PhilippRuprecht PolenzDaniela RaabThomas RachelDr. Peter RamsauerPeter RauenEckhardt RehbergKatherina Reiche
Klaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberFranz RomerJohannes RöringKurt J. RossmanithDr. Christian RuckAlbert Rupprecht
Peter RzepkaAnita Schäfer
Hermann-Josef ScharfHartmut SchauerteKarl SchiewerlingNorbert SchindlerGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Andreas Schmidt
Ingo Schmitt
Dr. Andreas SchockenhoffDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe SchummerWilhelm Josef SebastianKurt SegnerMarion SeibBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnErika SteinbachChristian Freiherr von StettenGero StorjohannMax StraubingerMatthäus StreblThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenHans Peter ThulAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Uwe VogelAndrea Astrid VoßhoffGerhard WächterMarco WanderwitzKai WegnerMarcus WeinbergPeter Weiß
Gerald Weiß
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannAnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerWerner WittlichDagmar WöhrlWolfgang ZöllerWilli ZylajewSPDDr. Lale AkgünDr. h. c. Gerd AndresNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldErnst Bahr
Doris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolSabine BätzingDirk BeckerUwe BeckmeyerKlaus Uwe BenneterDr. Axel BergUte BergPetra BierwirthLothar Binding
Volker BlumentrittKurt BodewigClemens BollenGerd BollmannDr. Gerhard BotzKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Marco BülowUlla BurchardtMartin BurkertDr. Michael BürschChristian CarstensenMarion Caspers-MerkDr. Peter DanckertKarl DillerMartin DörmannDr. Carl-Christian DresselElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinDetlef DzembritzkiSebastian EdathySiegmund EhrmannHans EichelPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerAnnette FaßeElke FernerGabriele FograscherRainer FornahlGabriele FrechenDagmar FreitagMartin GersterIris GleickeGünter GloserAngelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnKerstin GrieseGabriele GronebergAchim GroßmannWolfgang GrotthausWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannAlfred HartenbachMichael Hartmann
Nina HauerHubertus HeilDr. Reinhold HemkerRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogPetra HeßGabriele Hiller-OhmStephan HilsbergGerd HöferIris Hoffmann
Frank Hofmann
Eike HovermannKlaas HübnerChristel HummeBrunhilde IrberJohannes Jung
Josip JuratovicJohannes KahrsUlrich KasparickDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberChristian KleimingerAstrid KlugDr. Bärbel KoflerWalter KolbowKarin KortmannRolf KramerAnette KrammeErnst KranzNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerDr. Hans-Ulrich KrügerJürgen KucharczykHelga Kühn-MengelUte KumpfDr. Uwe KüsterChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachWaltraud LehnGabriele Lösekrug-MöllerDirk ManzewskiLothar MarkCaren MarksKatja MastHilde MattheisMarkus MeckelPetra Merkel
Dr. Matthias MierschUrsula MoggMarko MühlsteinDetlef Müller
Gesine MulthauptFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDr. Erika OberThomas OppermannHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßChristoph PriesDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertSteffen Reiche
Maik ReichelGerold ReichenbachDr. Carola ReimannChristel Riemann-HanewinckelWalter RiesterSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Ortwin RundeMarlene Rupprecht
Anton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenMarianne SchiederOtto SchilyUlla Schmidt
Silvia Schmidt
Renate Schmidt
Heinz Schmitt
Carsten Schneider
Olaf ScholzOttmar SchreinerSwen Schulz
Ewald Schurer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25773
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtFrank SchwabeDr. Angelica Schwall-DürenDr. Martin SchwanholzRita Schwarzelühr-SutterRolf StöckelHans-Michael GoldmannMiriam GrußJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanGudrun KoppBärbel HöhnThilo HoppeUte KoczySylvia Kotting-UhlJerzy MontagDiana GolzeHeike HänselLutz HeilmannHans-Kurt HillOskar LafontaineChristoph SträsserDr. Peter StruckJoachim StünkerDr. Rainer TabillionJella TeuchnerDr. h. c. Wolfgang ThierseJörn ThießenFranz ThönnesRüdiger VeitSimone ViolkaJörg VogelsängerDr. Marlies VolkmerHedi WegenerAndreas WeigelPetra WeisGunter WeißgerberGert Weisskirchen
Hildegard WesterLydia WestrichDr. Margrit WetzelAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützEngelbert WistubaDr. Wolfgang WodargWaltraud Wolff
Heidi WrightManfred ZöllmerFDPJens AckermannDr. Karl AddicksDaniel Bahr
Uwe BarthAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherPatrick DöringMechthild DyckmansUlrike FlachOtto FrickePaul K. FriedhoffHorst Friedrich
Dr. Edmund Peter GeisenTagesordnungspunkt 12 bAuswärtigen Ausschusses zugierung zur Fortsetzung dedeutscher Streitkräfte an derSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerDr. Erwin LotterPatrick MeinhardtJan MückeBurkhardt Müller-SönksenDirk NiebelHans-Joachim Otto
Detlef ParrCornelia PieperGisela PiltzFrank SchäfflerDr. Konrad SchilyMarina SchusterDr. Hermann Otto SolmsDr. Max StadlerDr. Rainer StinnerCarl-Ludwig ThieleFlorian ToncarDr. Daniel VolkDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderAlexander BondeEkin DeligözDr. Uschi EidHans Josef FellKai GehringBritta HaßelmannBettina HerlitziusWinfried HermannPeter HettlichPriska Hinz
Ulrike HöfkenDr. Anton Hofreiter, Beschlussempfehlung des dem Antrag der Bundesre-r Beteiligung bewaffneter AU/UN-Hybrid-OperationKerstin Müller
Winfried NachtweiOmid NouripourBrigitte PothmerClaudia Roth
Krista SagerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergChristine ScheelIrmingard Schewe-GerigkDr. Gerhard SchickRainder SteenblockSilke Stokar von NeufornDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeJürgen TrittinWolfgang WielandJosef Philip WinklerNeinCDU/CSUWolfgang Börnsen
Willy Wimmer
SPDGregor AmannPetra Hinz
FDPDr. h. c. Jürgen KoppelinDIE LINKEKarin BinderDr. Lothar BiskyHeidrun BluhmEva Bulling-SchröterSevim DağdelenWerner DreibusDr. Dagmar Enkelmannin Darfur, also das UNAMIDmen 531. Jastimmen 479, Ntungen 2.Ulla LötzerDr. Gesine LötzschDorothée MenznerKornelia MöllerKersten NaumannWolfgang NeškovićDr. Norman PaechElke ReinkeVolker Schneider
Dr. Herbert SchuiDr. Ilja SeifertDr. Kirsten TackmannJörn WunderlichSabine ZimmermannfraktionsloseAbgeordneteHenry NitzscheGert WinkelmeierEnthaltenCDU/CSUDr. Wolf BauerFDPDr. Heinrich L. KolbDIE LINKEHüseyin-Kenan AydinDr. Dietmar BartschDr. Martina BungeRoland ClausDr. Gregor GysiDr. Barbara HöllDr. Hakki KeskinMichael LeutertBodo RamelowPaul Schäfer
Frank SpiethDr. Axel Troost-Mandat: abgegebene Stim-einstimmen 50 und Enthal-Wolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDieter SteineckeAndreas SteppuhnLudwig StieglerHeinz-Peter HausteinElke HoffBirgit HomburgerDr. Werner HoyerMichael KauchHellmut KönigshausRenate KünastUndine Kurth
Markus KurthMonika LazarAnna LührmannNicole MaischInge HögerUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingMonika KnocheJan Korte
Metadaten/Kopzeile:
25774 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtEndgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 530;davonja: 478nein: 50enthalten: 2JaCDU/CSUUlrich AdamPeter AlbachPeter AltmaierDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerClemens BinningerPeter BleserAntje BlumenthalJochen BorchertWolfgang BosbachKlaus BrähmigMichael BrandHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeMonika BrüningGeorg BrunnhuberCajus CaesarGitta ConnemannLeo DautzenbergHubert DeittertAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttMaria EichhornDr. Stephan EiselAnke Eymer
Ilse FalkDr. Hans Georg FaustEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelDr. Jürgen GehbNorbert GeisEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingGerda HasselfeldtUrsula Heinen-EsserUda Carmen Freia HellerMichael HennrichJürgen HerrmannBernd HeynemannErnst HinskenPeter HintzeRobert HochbaumKlaus HofbauerFranz-Josef HolzenkampAnette HübingerHubert HüppeSusanne Jaffke-WittDr. Peter JahrDr. Hans-Heinrich JordanAndreas Jung
Dr. Franz Josef JungBartholomäus KalbHans-Werner KammerAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderEckart von KlaedenJürgen KlimkeJens KoeppenDr. Kristina Köhler
Manfred KolbeNorbert KönigshofenDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Martina KrogmannDr. Hermann KuesDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertHelmut LampKatharina LandgrafDr. Max LehmerPaul LehriederIngbert LiebingEduard LintnerDr. Michael LutherThomas MahlbergStephan Mayer
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterFriedrich MerzLaurenz Meyer
Maria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachPhilipp MißfelderDr. Eva MöllringMarlene MortlerCarsten Müller
Stefan Müller
Dr. Gerd MüllerMichaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferBeatrix PhilippRuprecht PolenzDaniela RaabThomas RachelDr. Peter RamsauerPeter RauenEckhardt RehbergKatherina Reiche
Klaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberFranz RomerKurt J. RossmanithDr. Christian RuckPeter RzepkaAnita Schäfer
Hermann-Josef ScharfHartmut SchauerteKarl SchiewerlingNorbert SchindlerGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Andreas Schmidt
Ingo Schmitt
Dr. Andreas SchockenhoffDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe SchummerWilhelm Josef SebastianKurt SegnerMarion SeibBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnErika SteinbachChristian Freiherr von StettenGero StorjohannMax StraubingerMatthäus StreblThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Uwe VogelAndrea Astrid VoßhoffGerhard WächterMarco WanderwitzKai WegnerMarcus WeinbergPeter Weiß
Gerald Weiß
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannAnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerWerner WittlichDagmar WöhrlWolfgang ZöllerWilli ZylajewSPDDr. Lale AkgünDr. h. c. Gerd AndresNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldErnst Bahr
Doris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolSabine BätzingDirk BeckerUwe BeckmeyerKlaus Uwe BenneterDr. Axel BergUte BergPetra BierwirthLothar Binding
Volker BlumentrittKurt BodewigClemens BollenGerd BollmannDr. Gerhard BotzWilli BraseBernhard Brinkmann
Marco BülowUlla BurchardtMartin BurkertDr. Michael BürschChristian CarstensenMarion Caspers-MerkDr. Peter DanckertKarl DillerMartin DörmannDr. Carl-Christian DresselElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinDetlef DzembritzkiSebastian EdathySiegmund EhrmannHans EichelPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerAnnette FaßeElke FernerGabriele FograscherRainer FornahlGabriele FrechenDagmar FreitagMartin GersterIris GleickeGünter GloserAngelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnKerstin GrieseGabriele GronebergAchim GroßmannWolfgang Grotthaus
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25775
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannAlfred HartenbachMichael Hartmann
Nina HauerHubertus HeilDr. Reinhold HemkerRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogPetra HeßGabriele Hiller-OhmStephan HilsbergGerd HöferIris Hoffmann
Frank Hofmann
Eike HovermannKlaas HübnerChristel HummeBrunhilde IrberJohannes Jung
Josip JuratovicJohannes KahrsUlrich KasparickDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberChristian KleimingerAstrid KlugDr. Bärbel KoflerWalter KolbowKarin KortmannRolf KramerAnette KrammeErnst KranzNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerDr. Hans-Ulrich KrügerJürgen KucharczykHelga Kühn-MengelUte KumpfDr. Uwe KüsterChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachWaltraud LehnGabriele Lösekrug-MöllerDirk ManzewskiLothar MarkCaren MarksKatja MastHilde MattheisMarkus MeckelPetra Merkel
Dr. Matthias MierschUrsula MoggMarko MühlsteinDetlef Müller
Gesine MulthauptFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDr. Erika OberThomas OppermannHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßChristoph PriesDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertSteffen Reiche
Maik ReichelGerold ReichenbachDr. Carola ReimannChristel Riemann-HanewinckelWalter RiesterSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Ortwin RundeMarlene Rupprecht
Anton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenMarianne SchiederOtto SchilyUlla Schmidt
Renate Schmidt
Heinz Schmitt
Carsten Schneider
Ottmar SchreinerSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Angelica Schwall-DürenDr. Martin SchwanholzRita Schwarzelühr-SutterWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDieter SteineckeAndreas SteppuhnLudwig StieglerChristoph SträsserDr. Peter StruckJoachim StünkerDr. Rainer TabillionJella TeuchnerDr. h. c. Wolfgang ThierseJörn ThießenFranz ThönnesRüdiger VeitSimone ViolkaJörg VogelsängerDr. Marlies VolkmerHedi WegenerAndreas WeigelPetra WeisGunter WeißgerberGert Weisskirchen
Hildegard WesterLydia WestrichDr. Margrit WetzelAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützEngelbert WistubaDr. Wolfgang WodargWaltraud Wolff
Heidi WrightManfred ZöllmerFDPJens AckermannDr. Karl AddicksDaniel Bahr
Uwe BarthAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherPatrick DöringMechthild DyckmansUlrike FlachOtto FrickePaul K. FriedhoffHorst Friedrich
Dr. Edmund Peter GeisenHans-Michael GoldmannMiriam GrußJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinElke HoffBirgit HomburgerDr. Werner HoyerMichael KauchHellmut KönigshausGudrun KoppSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerDr. Erwin LotterPatrick MeinhardtJan MückeBurkhardt Müller-SönksenDirk NiebelHans-Joachim Otto
Detlef ParrCornelia PieperGisela PiltzFrank SchäfflerDr. Konrad SchilyMarina SchusterDr. Hermann Otto SolmsDr. Max StadlerDr. Rainer StinnerCarl-Ludwig ThieleFlorian ToncarDr. Daniel VolkDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderAlexander BondeEkin DeligözDr. Uschi EidHans Josef FellKai GehringBritta HaßelmannBettina HerlitziusWinfried HermannPriska Hinz
Ulrike HöfkenDr. Anton HofreiterBärbel HöhnThilo HoppeUte KoczySylvia Kotting-UhlRenate KünastUndine Kurth
Markus KurthMonika LazarAnna LührmannNicole MaischJerzy MontagKerstin Müller
Winfried NachtweiOmid NouripourBrigitte PothmerClaudia Roth
Krista SagerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergChristine ScheelIrmingard Schewe-GerigkDr. Gerhard SchickRainder SteenblockSilke Stokar von NeufornDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeJürgen TrittinWolfgang WielandJosef Philip WinklerNeinCDU/CSUWolfgang Börnsen
Willy Wimmer
SPDGregor AmannPetra Hinz
FDPDr. h. c. Jürgen KoppelinDIE LINKEHüseyin-Kenan AydinDr. Dietmar BartschKarin BinderDr. Lothar BiskyHeidrun BluhmEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausSevim DağdelenWerner DreibusDr. Dagmar Enkelmann
Metadaten/Kopzeile:
25776 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtGrünen ab. Es hat keinen Sinn, ein Gesetz zu ändern, fürdessen Wirkung es noch keinerlei verwertbare Daten
gibt. Wir sollten die Wirkunhinreichend lange beobachtevor Ende der Legislaturperiorumzuschrauben. Es ist sinwie sich diese Regelung auman rechtliche AnpassungsmIn Deutschland aufgewaches nach Auffassung der GrünVolljährigkeit für die deutscentscheiden. Die Grünen nentionszwang. Als linksideoloGrünen mit der Wahlfreiheit,g des bestehenden Rechtsn und evaluieren, statt kurzde an der Gesetzgebung he-nvoll, Erfahrungsberichte,swirkt, abzuwarten, bevoröglichkeiten prüft.senen jungen Menschen isten nicht zumutbar, sich beihe Staatsangehörigkeit zunen das – konsequent – Op-gische Partei tun sich die der Kompetenz des Indivi-Integration in die deutschelingen, wenn man sich mit gchen Pflichten wie die andersche Gesellschaft integriert.erschwert die politische Intchen,
taatsangehörigkeit dem Irr- politisch zwei Nationenantenschicksale zeigen oft,h ist: Wer weder ganz hierwill, ist – unabhängig vomDiana GolzeDr. Gregor GysiHeike HänselLutz HeilmannHans-Kurt HillInge HögerDr. Barbara HöllUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenDr. Hakki KeskinKatja KippingMonika KnocheJan KorteOskar LafontaineMichael LeutertUlla LötzerDr. Gesine LötzschDorothée MenznerKornelia MöllerKersten NaumannWolfgang NeškovićBodo RamelowElke ReinkePaul Schäfer
Volker Schneider
Damit können wir die Debatte fortsetzen.Nächster Redner ist der Kollege Hartfrid Wolff für dieFDP-Fraktion.
Hartfrid Wolff (FDP):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wargut, Frau Präsidentin, dass Sie zwischendurch Ergeb-nisse verlesen haben; ein bisschen Sachlichkeit tut derDebatte gut.
Die Grünen fordern die Abschaffung des Options-modells. Die FDP hat dieses Modell seinerzeit vorge-schlagen. Anders war es damals nicht möglich, dieUnionsparteien zu einer Öffnung des deutschen Staats-angehörigkeitsrechts in Richtung des Jus Soli, also ineine moderne Richtung, zu bewegen. Ideologische Ver-bohrtheit auf beiden Seiten – wir haben eben ein Beispieldazu gehört –, war damals nicht anders aufzubrechen. Eswar ein entscheidender Erfolg der FDP, insbesonderevon Dr. Max Stadler, der damals die Verhandlungenführte, dass wir hier weitergekommen sind.
Aber nicht nur deshalb lehnen wir den Vorstoß derDr. Herbert SchuiDr. Ilja SeifertFrank SpiethDr. Kirsten TackmannDr. Axel TroostJörn WunderlichSabine ZimmermannfraktionsloseAbgeordneteHenry NitzscheGert WinkelmeierEnthaltenCDU/CSUDr. Wolf BauerFDPDr. Heinrich L. Kolbduums, sich entscheiden zu dürfen, offenbar schwer,Herr Winkler.
Anders als Kinder deutscher Eltern sollen die Betref-fenden durch Doppelstaatsangehörigkeit privilegiertwerden. Warum diese Bevorzugung ausgerechnet mit ei-nem Verweis auf den Gleichheitsgrundsatz begründetwird, gehört zu den Mysterien der Politik der Grünen.
Die Grünen meinen, dass Migranten emotionale Bin-dungen an ihr Herkunftsland ausgerechnet in Form derStaatsangehörigkeit beibehalten können sollen; deshalbsoll die deutsche Staatsangehörigkeit, quasi als An-hängsel, zusätzlich möglich sein. Diese Stärkung vonemotionalen Bindungen an das Herkunftsland durchdoppelte Staatsangehörigkeit ist in einigen Bereichenkontraproduktiv. Es ist bezeichnend, dass die Grünendie Bindungen an das Zielland – Deutschland – konse-quent vernachlässigen und allein an die Bindung an dasHerkunftsland der Eltern anknüpfen.
Hier sei nochmals darauf hingewiesen: Es geht umdie Staatsangehörigkeit, es geht nicht um die jeweiligeKultur der Eltern und der Kinder.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25777
(C)
(D)
Hartfrid Wolff
formalrechtlichen Status – nirgendwo als gleichberech-tigter Mitbürger akzeptiert.
Die Grünen tun so, als ob Migration allein eine geo-grafische Standortveränderung wäre.
Das ist gefährlicher Unfug. Jeder, der sich mit Migrationauseinandergesetzt hat, weiß, dass dazu mehr gehört, alsdass sich jemand einfach von A nach B bewegt.Gerade im Hinblick auf individuelle Freiheitsrechtewie die negative Religionsfreiheit, Emanzipation, Frau-enrechte und demokratische Kultur würde ich mir wün-schen, dass die Grünen ihre sonst so demonstrativ zurSchau gestellte Fortschrittlichkeit gerade gegenüber demMigrantenmilieu nachdrücklich einforderten.
Eine Einbürgerungsregelung, die von weiten Teilender Bevölkerung nicht akzeptiert wird, stärkt keinesfallsdie Akzeptanz von Migranten. Das ist sowohl für denErfolg der Integration als auch für etwaige weitere An-passungen des Staatsangehörigkeitsrechts kontraproduk-tiv. Diese sehen wir durchaus auch – gerade in Richtungeiner liberaleren Form der Staatsangehörigkeit.
Die Grünen haben die Diskussion der letzten fünfJahre zum Thema „Toleranz durch Wegschauen“ ver-schlafen
und wollen blind den Weg forcieren, durch den die Inte-grationsprobleme in Deutschland, aber auch in Frank-reich und den Niederlanden sowie anderswo überhaupterst mit verursacht wurden.
Wir brauchen mehr gesteuerte Zuwanderung und Of-fenheit von beiden Seiten.
Kulturelle Vielfalt ist ein Gewinn, die Einhaltung derWerte des Grundgesetzes ist ein Muss. Mit diesen Wer-ten sollten wir für die deutsche Staatsangehörigkeit wer-ben. Die Grünen und auch die Linken ergehen sich in ih-ren Anträgen hingegen stets in Vorschlägen dafür, wiedie deutsche Staatsangehörigkeit immer leichter erwor-ben werden können soll. Die deutsche Staatsangehörig-keit soll billiger gemacht und damit entwertet werden.
Dies läuft einem wichtigen Teil einiger Integrations-bemühungen zuwider. Die FDP lehnt diesen Antrag des-halb ab.
Nächster Redner ist der Kollege Rüdiger Veit für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Vielleicht darf man die zeitlichen Abläufe undhistorischen Wahrheiten wieder ein bisschen gerade-rücken.
Es war die rot-grüne Mehrheit damals im Bundestag,die sich Ende des Jahres 1998 und weiter im Jahre 1999aufgemacht hat,
dieses Staatsangehörigkeitsrecht aus dem Jahre 1913,das voll von wilhelminischem Zeitgeist, von völkischemGedankengut war, endlich zu entrümpeln und dahin ge-hend europatauglich zu verändern, dass wir zum Jus Soligekommen sind, nach dem Motto: Wer hier als Kind vonausländischen Eltern geboren wird, die sich hier langjäh-rig rechtsmäßig aufhalten, der hat kraft Geburt auch diedeutsche Staatsbürgerschaft.
Herr Kollege Grindel, es war nicht diese Bundes-regierung – auch nicht die jetzige Mehrheit der GroßenKoalition –, die am meisten für Integration getan hat,
sondern es waren wiederum die damalige rot-grüneParlamentsmehrheit und die Regierung, die die Voraus-setzungen für die Integrationskurse kraft Gesetzes über-haupt erst geschaffen und die entsprechenden Haushalts-mittel bereitgestellt haben.
Metadaten/Kopzeile:
25778 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Rüdiger Veit
– Herr Kollege Kauder, wenn Sie so freundlich sind, ein-mal die damaligen Haushaltsmittel mit den heutigen zuvergleichen, dann werden Sie feststellen, dass ich rechthabe.
Herr Kollege Grindel, ich komme jetzt einmal zu derFrage, wie es mit den Integrationsbemühungen gerade inIhrer Fraktion weitergegangen ist. Nun war ich nachdem Motto „Wer weiß, wozu es gut ist, wenn einenSchicksalsschläge ereilen“ in der Großen Koalition ganzfroh darüber, dass wenigstens einige in der Union – übri-gens auch Sie – ein bisschen vom Saulus zum Paulus ge-worden sind und die Integration mit vorangetrieben ha-ben.
Nachdem ich Ihren heutigen Redebeitrag gehört habe,muss ich leider sagen, dass das ein annähernd fieberhaf-ter, anfallsartiger Rückfall in frühere Gedankenvorstel-lungen war.
Ich finde das übrigens nicht lustig und auch nicht be-grüßenswert, weil ich gehofft habe, dass wir in all denJahren ein bisschen weiterkommen und dass angesichtsvon Wahlkämpfen nicht mehr versucht wird, Politik zu-lasten von Migrantinnen und Migranten zu machen.Dazu komme ich gleich noch einmal.
Herr Kollege Wolff, damit auch das klar wird: Es wa-ren nicht Sie, die uns damals sozusagen die CDU zuge-führt haben, damit sie dem Gesetz freundlicherweise zu-stimmt, sondern Sie waren es, deretwegen wir unserenursprünglichen Gesetzentwurf ändern mussten.
Wegen Rheinland-Pfalz und der Zustimmungsbedürftig-keit durch dieses Bundesland – die damalige Koalitiondort bestand aus Sozialdemokraten und Freien Demokra-ten – mussten wir den Optionszwang mit in das Gesetzaufnehmen.
Wir haben das damals sehr ungern getan. Wir waren kei-neswegs überzeugt,
und haben geahnt, dass es verwaltungsrechtliche Pro-bleme und selbstverständlich auch Probleme für die Be-troffenen selbst geben würde.In der damaligen Debatte haben alle unsere Redner– zum Beispiel Otto Schily und vor allen DingenMichael Bürsch –, aber auch alle Redner der Grünen– ich habe das in den Protokollen sicherheitshalber nocheinmal nachgeschaut: Kerstin Müller, Marieluise Beck,Claudia Roth und Cem Özdemir – gesagt: Wir musstendas leider so machen, weil wir sonst diesen historischenSchritt bei der Veränderung des Staatsangehörigkeits-rechts überhaupt nicht hätten gehen können.
Deswegen sagen wir auch heute: Eigentlich gehört die-ses Optionsmodell ersatzlos aufgehoben.
Eine entsprechend klare Aussage ist auch in unseremWahlprogramm enthalten.Wir machen uns jetzt auf den Weg, dafür die entspre-chenden Mehrheiten zu gewinnen. Leider reicht es nichtaus, im Bundestag Mehrheiten zu haben; auch hier sindwir auf den Bundesrat angewiesen. Allein das machtdeutlich: Auch wenn wir wegen des gemeinsamen Ge-dankens möglicherweise bereit wären, die vom vorzeiti-gen Zerfall bedrohte Koalition tatsächlich loszuwerden,indem wir dem Gesetzentwurf der Grünen zustimmen,würde dies – das ist der entscheidende Punkt – in der Sa-che nichts mehr nützen.Noch einmal: Worum geht es eigentlich? Damals ha-ben wir mit dieser Regelung erreicht, dass bis heute un-gefähr 300 000 Kinder ausländischer Eltern deutscheStaatsbürger sind und zugleich die Staatsbürgerschaft ei-nes Elternteils besitzen. In ungefähr 40 000 Fällen wurdeerfolgreich davon Gebrauch gemacht – der Antragmusste bis Ende des Jahres 2000 gestellt sein –, für einKind unter zehn Jahren die deutsche Staatsbürgerschaftzu beantragen. Die Kinder in dieser Fallkonstellation inder Zahl von ungefähr 3 000 im letzten Jahr sind jetzt18 Jahre alt geworden. Die Betroffenen müssen sichzwischen der deutschen Staatsbürgerschaft und der ihrerEltern entscheiden. Ich finde es fast zynisch, wenn dannder Kollege Grindel sagt: Wir verlangen von ihnen dochgar nicht mehr, als sich von der Staatsangehörigkeit ihrerEltern loszusagen; das ist doch das Mindeste, was sie tunmüssen, um ihren Integrationserfolg unter Beweis zustellen. – Wir reden hier nämlich über in Deutschlandgeborene, hier aufgewachsene, integrierte Kinder, die inerster Linie Deutsche sind.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25779
(C)
(D)
Wir bringen diese Kinder in einen Konflikt mit ihren Fa-milien, mit der Kultur ihrer Eltern, wenn wir sie zwin-gen, die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern abzulehnen undabzulegen.
Diese „Quälerei“ – Kollege Wiefelspütz bezeichnete esin der Frankfurter Rundschau vom 24. Juni richtiger-weise als „bürokratisches Monstrum, das Menschenquält“ – ist eigentlich längst abzuschaffen.
Dafür werden wir uns einsetzen.Herr Kollege Grindel, liebe Kollegen von der CDU/CSU, nachdem Sie grundsätzliche Ausführungen dazugemacht haben, wie verderblich eine doppelte Staatsbür-gerschaft ist, kann ich es Ihnen leider nicht ersparen, da-ran zu erinnern, wie sich damals, bevor wir 1998 imBundestag eine Mehrheit von Rot-Grün erreicht haben,das geltende Recht in der Realität dargestellt hat. Werauch immer die deutsche Staatsbürgerschaft erwerbenwollte – vorzugsweise türkische Staatsbürger –, gingzum Konsulat oder zur Botschaft seines Herkunftslandesund sagte dort: Ich will Deutscher werden und nichtmehr Türke sein. Dann wurde gesagt: Jawohl, das istkein Problem; tu uns und dir selber doch den Gefallen,wiederzukommen und auch die türkische Staatsbürger-schaft zu erlangen, sobald du die deutsche Staatsbürger-schaft hast.
Das war die Realität. Ich persönlich kenne keinen ein-zigen Menschen türkischer Abstammung, der nicht aufdiesem Wege die doppelte Staatsbürgerschaft erlangthat. Es war kein anderer als Bundeskanzler Kohl, der da-mals seinem türkischen Amtskollegen gesagt hat: TunSie mir doch bitte den Gefallen und sorgen Sie dafür,dass die türkischen Konsulate und Botschaften inDeutschland nicht offensiv dafür werben, dass die Be-troffenen, nachdem sie in Deutschland eingebürgert wor-den sind, die türkische Staatsbürgerschaft wiedererlan-gen können. – Es war kein anderer als BundeskanzlerKohl, der unter damals geltendem Recht die Türkei ge-beten hat, eine andere Praxis zu verfolgen. Es war alsoein bisschen verlogen, dass Sie gesagt haben: Das, wasRot-Grün macht, ist ganz schrecklich.
Kollege Edathy hat es schon gesagt: Mehr als50 Prozent haben in der Vergangenheit eine doppelteStaatsbürgerschaft erworben; sie werden es auch in Zu-kunft tun. Das erlaubt das Gesetz, das wir gemacht ha-ben. Daher kann niemand verstehen, warum man dasverteufelt. Wenn wir aber schon über die Frage derWahrhaftigkeit reden, möchte ich an dieser Stelle aufFolgendes aufmerksam machen: Im Dezember 1998 hatder damalige Kandidat für das Amt des hessischen Mi-nisterpräsidenten, Roland Koch, als aufgrund der Umfra-gen ziemlich sicher war, dass er niemals Ministerpräsi-dent wird, eine Werbeagentur beauftragt und sie gefragt,was er jetzt machen könne.
Sie kamen dann auf die Idee, die Doppelpasskampagnezu starten. So wurde das damals gemacht. Das war derHintergrund.
Das war nicht nur in besonderer Weise verlogen vor demHintergrund der rechtlichen Realität der betreffendenMenschen, sondern auch ausländerfeindlich und ist da-her abzulehnen.
Wir, die damaligen Mehrheiten im Deutschen Bun-destag, haben keine Veranlassung, unsere Auffassung,die wir hier mehrfach dargelegt haben, jetzt zu wechseln.Wir ringen für andere Mehrheiten, um entsprechendeGesetzesänderungen vorzunehmen. Jetzt in den letztenpaar Sitzungstagen des Parlaments noch etwas auf Initia-tive von Bündnis 90/Die Grünen loszutreten, macht kei-nen Sinn – ich bitte sehr um Verständnis –,
weil das Gesetzgebungsverfahren in dieser Legislatur-periode nicht mehr abgeschlossen werden kann und weilwir vor allen Dingen bei der jetzigen Besetzung auchniemals in der Lage sein werden, die Zustimmung imBundesrat zu erhalten.
Deswegen ist das leider, Herr Kollege Winkler, derzeiteine ziemlich nutzlose Übung.
Es mag zwar Spaß machen, auf den letzten Metern die-ser Koalition selbige vielleicht noch einmal im Abgangzu stellen. Aber wir können uns dieser Lust und Launeleider nicht ergeben, sondern bleiben bis zum Schlussdabei.Danke sehr.
Metadaten/Kopzeile:
25780 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Rüdiger Veit
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen
für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren!Alle Deutschen dürfen mit der Vollendung des18. Lebensjahres wählen – und manche werden zueiner Wahl gezwungen: Sie sind in Deutschland ge-boren und aufgewachsen. Sie leben als Deutsche inDeutschland. Doch im Unterschied zu ihren gleich-altrigen Landsleuten müssen sie sich für oder gegendie Staatsangehörigkeit ihres Landes entscheiden:Zehntausende junge Erwachsene fallen in den kom-menden Jahren unter den Optionszwang– wie richtigerweise schon dargestellt wurde –des deutschen Staatsangehörigkeitsrechtes. Sie sindDeutsche auf Abruf – bis zum Widerruf …In den kommenden Jahren werden Tausende, ab2018 Zehntausende von jungen Menschen, die inDeutschland geboren, als Deutsche aufgewachsensind und hier arbeiten, wählen und leben, von Amtswegen aufgefordert, sich für eine ihrer Staatsange-hörigkeiten zu entscheiden …Der bürokratische Aufwand ist enorm, komplizierteRechtsstreitigkeiten und Gerichtsverfahren sindvorprogrammiert und das integrationspolitische Si-gnal ist fatal: Ihr gehört nicht ganz, nicht auf Dauerund nicht so wie andere dazu, ihr seid Deutsche aufAbruf. Wir wollen und dürfen aber diese jungenMenschen mit ihren zahlreichen Talenten nicht ver-lieren. Weil sie zu uns gehören. Und wir zu ihnen.
Das war ein Zitat aus einem Aufruf, der letzte Wochevorgestellt worden ist. Zu den Unterzeichnern gehörendie ehemaligen Ausländerbeauftragten der Bundesregie-rung Cornelia Schmalz-Jacobsen – ja, die FDP hatte malbessere Zeiten –, Dr. Liselotte Funcke und MarieluiseBeck sowie die Vorsitzende des Paritätischen Gesamt-verbandes, der Präsident des Deutschen Kinderhilfswer-kes, der Präsident des Diakonischen Werkes der EKD,der Vorsitzende des Bundesvorstandes der Arbeiterwohl-fahrt und die Präsidentin des Deutschen Bundestagesa. D., Frau Professor Dr. Rita Süssmuth.Ich finde, es ist an der Zeit, den Optionszwang abzu-schaffen. Deshalb unterstützen wir selbstverständlichden Gesetzentwurf der Grünen.Ich möchte noch eines hinzufügen. Herr Veit, Sie ha-ben den Grünen vorgeworfen, dass man das Ganze nichtso kurzfristig bewerkstelligen könne. Ich möchte aber andieser Stelle daran erinnern, dass wir am 10. Dezember2007 eine Anhörung im Innenausschuss zum Einbürge-rungsrecht durchgeführt haben, in der sich alle Sachver-ständigen – auch die der CDU/CSU und der FDP – dafürausgesprochen haben, die Optionspflicht abzuschaffen,weil sie weltweit ein Unikat ist.
– Es gibt sie nirgendwo anders.Daraufhin haben wir im Mai 2008 einen Antrag ein-gebracht, über den im November 2008 abgestimmtwurde. Also hätten Sie die Gelegenheit gehabt, unseremAntrag zuzustimmen, wenn Sie denn wirklich für dieAbschaffung der Optionspflicht waren.
Da unser Antrag vor gut einem halben Jahr mit denStimmen der CDU/CSU, SPD und FDP im Plenum desDeutschen Bundestages abgelehnt wurde, muss der vor-liegende Gesetzentwurf der Grünen als überflüssigesWahlkampftheater gedeutet werden.
Denn das heutige Abstimmungsergebnis wird dem voreinem halben Jahr entsprechen. Die Argumente sind aus-getauscht. Sie haben alle gehört.
Bei der Problembeschreibung fehlt Folgendes: DasHohelied auf die rot-grüne Regierungszeit wurde unteranderem vom Kollegen Veit – der Gesetzentwurf lässtvermuten, dass das auch der Kollege Winkler tun wird –schon gesungen. Es zeigt sich aber, dass es einen ent-scheidenden Mangel gab, nämlich den Optionszwang.Ja, Sie haben recht: Die Aufnahme von Elementen desJus Soli in das Staatsangehörigkeitsgesetz im Jahr 2000war überfällig. Aber die Novellierung des Staatsangehö-rigkeitsgesetzes im Jahr 2000 ging auch mit Gesetzes-verschärfungen einher. Die Erhöhung der Gebühren, dieSprachanforderungen und der Wegfall der Inlandsklau-sel, all das hat mittelfristig dazu geführt, dass die Zahlder Einbürgerungen zurückgegangen ist, und zwar nichtwegen der Optionspflicht, sondern wegen Ihrer Ver-schärfung der Einbürgerungskriterien. Deshalb sollteman auch die rot-grüne Regierungszeit kritisch sehen.
An die Adresse der FDP gerichtet: Es fällt mir nichtsmehr ein. Sie hatten schon liberalere Zeiten. Sie hattenLeute wie Cornelia Schmalz-Jacobsen, die den Aufrufzur Abschaffung des Optionszwangs unterzeichnet hat.Da die Bundesregierung bis heute einen integrationspoli-tischen Diskurs betreibt – genauso wie in den letztenJahren –, der sich als verkappter Rassismus erweist –
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25781
(C)
(D)
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
– Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss –, frage
ich mich, wie man mit dem Vorurteil weitermachen
kann, dass eine doppelte Staatsangehörigkeit Vorteile
bietet; das finde ich unerhört. Wir haben das 1999, als
ein rassistischer Wahlkampf geführt wurde, bemerkt.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Wir stimmen dem Gesetzentwurf der Grünen selbst-
verständlich zu. Ich hoffe, dass er eine Mehrheit im Bun-
destag findet.
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der KollegeJosef Winkler für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnenund Kollegen! Ich will eingangs etwas zu den Vorred-nern sagen; das ist der Vorteil, wenn man der letzte Red-ner ist.An den Kollegen Grindel gerichtet: Sie haben einflammendes Plädoyer für eine Willkommenskultur à laUnionsfraktion gehalten. Sie haben sich dazu verstiegen,zu sagen, diejenigen, die eine doppelte Staatsbürger-schaft hätten, seien gegenüber denjenigen, die nurdeutsch seien, besonders privilegiert, weil sie das Rechthätten, sich aus diesem Land zu verabschieden. Das warmeiner Meinung nach völlig daneben und an Peinlich-keit nicht zu überbieten. Das entspricht erst recht keinerWillkommenskultur.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, zudem, was der Kollege Wolff eben abgezogen hat:
Die FDP soll angeblich eine liberale, weltoffene Parteisein. Was Sie hier gemacht haben, war nichts anderes alsnational-liberales Volkstheater,
und dies vor dem Hintergrund, dass sich Ihre ehemaligenIntegrationsbeauftragten Liselotte Funcke und CorneliaSchmalz-Jacobsen gemeinsam mit unserer Integrations-beauftragten der rot-grünen Bundesregierung,Marieluise Beck, in der vergangenen Woche öffentlichfür die sofortige Abschaffung des Optionszwangs ausge-sprochen haben. Das ist an Peinlichkeit für die FDPwirklich nicht mehr zu überbieten.
Die größte anzunehmende Lücke in der Integrations-politik fehlt auch heute wieder, nämlich die Integrations-beauftragte der Bundesregierung.
Nicht nur, dass sie das Anliegen nicht unterstützt. Sie istnicht einmal da. Alle ihre Amtsvorgängerinnen unter-schreiben den Aufruf, nehmen sich Zeit, erarbeiten Pa-piere und erheben politische Forderungen. Aber die Ein-zige, die nicht im Hause ist, wenn über diese Themendebattiert wird, ist Frau Staatsministerin ProfessorBöhmer. Herr Kollege Grindel, da nutzt es auch nichts,wenn sie feierliche Zeremonien mit 30 Mann im Kanz-leramt macht. Hier im Deutschen Bundestag muss dieIntegrationsbeauftragte Rechenschaft über ihre Arbeitablegen.
Weil Sie, Herr Kollege Wolff, nicht verstanden haben,dass es hier auch um Gleichberechtigung geht, will iches Ihnen jetzt erklären. Es widerspricht unserer Auffas-sung nach dem Grundsatz der Gleichberechtigung, wenneinige Kinder, die deutsch sind, dem Optionszwang un-terliegen und quasi „Deutsche light“ – auf Probe – sind,während andere Kinder, die einen deutschen Pass haben,diesem Zwang nicht unterliegen.Ein Beispiel: Nuri und Elif, zwei Jugendliche, die inDeutschland geboren sind. Sie haben wie ihre Klassen-kameraden im Gymnasium einen deutschen Pass – undeben auch den türkischen. Kurz nach ihrem18. Geburtstag erreicht Elif ein überaus kompliziert ver-fasstes Schreiben der Einbürgerungsbehörde, das sie voreine Wahl der ganz besonderen Art stellt. Wenn sie nichterkläre, dass sie die deutsche Staatsangehörigkeit behal-ten wolle und diejenige ihrer Eltern aufgebe, werde siedie deutsche Staatsangehörigkeit automatisch verlieren.Nuri hingegen hat ein solches Schreiben nicht bekom-men, weil sich seine Eltern inzwischen haben einbürgern
Metadaten/Kopzeile:
25782 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Josef Philip Winklerlassen und es deswegen hingenommen wird, dass er sei-nen türkischen Pass behält. Wie soll man diesen integra-tionspolitischen Unsinn den jungen Leuten in diesemLand auch nur im Ansatz erklären?
Im Übrigen, an die Kollegen von der FDP gerichtet:In der Anhörung, die wir dazu im Gesetzgebungsverfah-ren hatten, waren es nur die Sachverständigen von derUnion, die sich gegen die sofortige Streichung des Op-tionszwangs ausgesprochen haben. Sogar Ihre eigenenSachverständigen sind da offensichtlich anderer Auffas-sung als Sie. Jetzt gilt es, Flagge zu zeigen.Das sage ich, Herr Kollege Veit, auch in Ihre Rich-tung: Ihr Märtyrertum nimmt mich zwar seit Jahren mit,aber wer über Gesetzentwürfe oder über Anträge ab-stimmt, die für die gute Sache sind, der sollte kein Mär-tyrertum für sich in Anspruch nehmen, sondern er solltesich überlegen, was er jetzt bei der Abstimmung tut.Herzlichen Dank.
Bevor wir zur Abstimmung kommen, hat der Kollege
Dr. Keskin zu einer Kurzintervention das Wort.
Frau Präsidentin! Lieber Kollege Josef Winkler, die-
sen Entwurf eines Gesetzes zur Streichung des Options-
zwangs begrüße ich sehr. Er bestätigt aber die Tatsache,
dass von der rot-grünen Koalition seinerzeit ganz offen-
sichtlich substanzielle Fehler im Gesetz gemacht worden
sind.
– Moment, Moment! – Es ist auch zu begrüßen, dass Sie
diese Fehler sehen.
Diese Fehler führen leider Gottes dazu, dass sich die
Einbürgerungszahlen, seit dieses Gesetz in Kraft getre-
ten ist, nahezu halbiert haben. Ich hoffe, dass Sie mir in
diesem Sinne recht geben und dass diese Fehler in naher
Zukunft entsprechend korrigiert werden, und zwar so-
wohl von der SPD als auch von den Grünen.
Danke sehr.
Herr Kollege Winkler, bitte.
Werter Kollege Keskin, der historische Abriss, wie
das Gesetz entstand, wurde in der Debatte vom Kollegen
Veit etwas genauer dargelegt, als es der Kollege Grindel
gemacht hat. Insofern will ich das nicht wiederholen.
Ich will nur sagen: Es ist zu bedauern, dass die Ein-
bürgerungszahlen auf einem Tiefstand angekommen
sind. Das liegt aber nicht an den Fehlern des rot-grünen
Staatsbürgerschaftsrechts, sondern das liegt daran, was
die jetzige Bundesregierung – an der Spitze wäre gern
die Integrationsbeauftragte, nur fehlt sie immer bei den
integrationspolitischen Debatten – im Staatsbürger-
schaftsrecht geändert hat. Ich stimme zu, dass das zu be-
klagen ist, aber ich bitte, die Schuldzuweisung an die zu
richten, die in den letzten Jahren hier die Verantwortung
getragen haben. Das sind die Unionsfraktion und die
SPD-Fraktion und die zuständige Beauftragte.
Ich kann nur noch einmal sagen: Es war im Bundesrat
ein Kompromiss, sogar ein schmerzlicher Kompromiss,
weil wir wussten, dass diese Optionsregel irgendwann
geändert werden muss und dass es schwierig werden
würde. Was einmal im Gesetzbuch steht, ist nicht wieder
so schnell herauszubekommen. Aber hätten Sie mir poli-
tisch wirklich empfehlen wollen, dass es bei der alten
Regelung im Staatsbürgerrecht bleibt, dass die Kinder,
die in Deutschland geboren sind, nicht Deutsche sind,
sondern dass das Ganze nach dem Blutsrecht wie seit
1913 geregelt wird? Das war keine Alternative für uns.
Da mussten wir diese Kröte schlucken.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen nun zur Abstimmung über denGesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zurStreichung des Optionszwangs aus dem Staatsange-hörigkeitsrecht. Mir liegt eine Erklärung zur Abstim-mung nach § 31 unserer Geschäftsordnung der KolleginFrau Laurischk vor.1) Der Innenausschuss empfiehlt inseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13556,den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/12849 abzuleh-nen. Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf auf Ver-langen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen namentlichab. Ich bitte die Schriftführer, die Plätze an den Urneneinzunehmen. Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? –Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall.Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schrift-führer, auszuzählen. Das Ergebnis wird Ihnen später be-kannt gegeben.2)1) Anlage 92) Ergebnis Seite 25786 D
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25783
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtWir setzen die Beratungen fort. Ich darf diejenigen,die den weiteren Beratungen folgen wollen, bitten, Platzzu nehmen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungGutachten zu Forschung, Innovation undtechnologischer Leistungsfähigkeit 2009undStellungnahme der Bundesregierung– Drucksache 16/12900 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Tourismusb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
– zu dem Antrag der Abgeordneten Marion Seib,Stefan Müller , Michael Kretschmer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSUsowie der Abgeordneten René Röspel,Dr. Ernst Dieter Rossmann, Ulla Burchardt,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derSPDNanotechnologie – Gezielte Forschungsför-derung für zukunftsträchtige Innovationenund Wachstumsfelder– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. PetraSitte, Dr. Kirsten Tackmann, Karin Binder,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKENanotechnologie für die Gesellschaftnutzen – Risiken vermeiden– zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz
, Hans-Josef Fell, Ulrike Höfken,
weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENNanotechnologie-Bericht vorlegen– zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz
, Hans-Josef Fell, Birgitt Bender,
weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENNanotechnologie – Forschung verstärkenund Vorsorgeprinzip anwenden– Drucksachen 16/12695, 16/7276, 16/4757,16/7115, 16/13593 –Berichterstattung:Abgeodnete Marion SeibRené RöspelCornelia PieperDr. Petra SittePriska Hinz
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses zu
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENInnovationskraft von kleinen und mittlerenUnternehmen durch steuerliche Förderung ge-zielt stärken– Drucksachen 16/12894, 16/13646 –Berichterstattung:Abgeordneter Manfred Kolbed) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. PetraSitte, Monika Knoche, Heike Hänsel, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEÖffentlich finanzierte Pharmainnovationenzur wirksamen Bekämpfung von vernach-lässigten Krankheiten in den Entwicklungs-ländern einsetzen– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-rungMitteilung der Kommission an das Europäi-sche Parlament und den Rat zum Fort-schrittsbericht über das Programm „Part-nerschaft Europas und derEntwicklungsländer im Bereich klinischer
KOM(2008) 688 endg.; Ratsdok. 15521/08– Drucksachen 16/12291, 16/11517 A.35, 16/13595 –Berichterstattung:Abgeordnete Michael KretschmerRené RöspelCornelia PieperDr. Petra SittePriska Hinz
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten CorneliaPieper, Angelika Brunkhorst, Jens Ackermann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPDie Nanotechnologien — Schlüssel zur Stär-kung der technologischen LeistungskraftDeutschlands– Drucksache 16/13450 —Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Es handeltsich um die Reden der folgenden Kolleginnen und Kol-legen: Marion Seib, CDU/CSU, René Röspel, SPD,
Metadaten/Kopzeile:
25784 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsCornelia Pieper, FDP, Dr. Petra Sitte, Die Linke, PriskaHinz, Bündnis 90/Die Grünen und des Parlamentari-schen Staatssekretärs Thomas Rachel für die Bundesre-gierung.1)Tagesordnungspunkt 14 a. Interfraktionell wird Über-weisung der Vorlage auf Drucksache 16/12900 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Tagesordnungspunkt 14 b. Wir kommen zur Be-schlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, For-schung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache16/13593. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seinerBeschlussempfehlung die Annahme des Antrags derFraktionen der CDU/CSU und SPD auf Druck-sache 16/12695 mit dem Titel „Nanotechnologie – Ge-zielte Forschungsförderung für zukunftsträchtige Inno-vationen und Wachstumsfelder“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der FraktionDie Linke und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltungder FDP-Fraktion angenommen.Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehltder Ausschuss die Ablehnung des Antrags der FraktionDie Linke auf Drucksache 16/7276 mit dem Titel „Na-notechnologie für die Gesellschaft nutzen – Risiken ver-meiden“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenbei Gegenstimmen der Linken und bei Enthaltung vonFDP und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seinerBeschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags derFraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4757mit dem Titel „Nanotechnologie-Bericht vorlegen“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDPgegen die Stimmen von der Linken und Bündnis 90/DieGrünen angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 sei-ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antragsder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7115mit dem Titel „Nanotechnologie – Forschung verstärkenund Vorsorgeprinzip anwenden“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen vonBündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der FDP-Frak-tion und der Linken angenommen.Tagesordnungspunkt 14 c. Beschlussempfehlung desFinanzausschusses zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Innovationskraft von kleinenund mittleren Unternehmen durch steuerliche Förderunggezielt stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 16/13646, den1) Anlage 10Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 16/12894 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmenaller Fraktionen bei Gegenstimmen von Bündnis 90/DieGrünen angenommen.Tagesordnungspunkt 14 d. Beschlussempfehlung desAusschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen-abschätzung zum Antrag der Fraktion Die Linke mitdem Titel „Öffentlich finanzierte Pharmainnovationenzur wirksamen Bekämpfung von vernachlässigtenKrankheiten in den Entwicklungsländern einsetzen“.Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/13595, den Antrag derFraktion Die Linke auf Drucksache 16/12291 abzuleh-nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen undder FDP gegen die Stimmen von der Linken undBündnis 90/Die Grünen angenommen.Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-folgenabschätzung hat in seine Beschlussempfehlungauf Drucksache 16/13595 die Unterrichtung durch dieBundesregierung über eine Mitteilung der Kommissionan das Europäische Parlament und den Rat zum Fort-schrittsbericht über das Programm „Partnerschaft Euro-pas und der Entwicklungsländer im Bereich klinischerStudien“ einbezogen. Zu dieser Vorlage soll jetzt eben-falls ein Beschluss gefasst werden. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Unter Nr. 2 seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 16/13595 empfiehltder Ausschuss, in Kenntnis der Mitteilung der Kommis-sion an das Europäische Parlament und den Rat zumFortschrittsbericht über das Programm „PartnerschaftEuropas und der Entwicklungsländer im Bereich klini-scher Studien“ eine Entschließung anzunehmen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDPgegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Ent-haltung der Linken angenommen.Tagesordnungspunkt 14 e. Abstimmung über den An-trag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/13450 mitdem Titel „Die Nanotechnologien – Schlüssel zur Stär-kung der technologischen Leistungskraft Deutschlands“.Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen aller Frak-tionen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion abgelehnt.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts des Ausschusses für Gesundheit
– zu dem Antrag der Abgeordneten Daniel Bahr
, Heinz Lanfermann, Dr. Konrad
Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDPMoratorium für die elektronische Gesund-heitskarte– zu dem Antrag der Abgeordneten BirgittBender, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Harald
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25785
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsTerpe, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDas Recht auf informationelle Selbstbestim-mung bei der Einführung der elektronischenGesundheitskarte gewährleisten– Drucksachen 16/11245, 16/12289, 16/13650 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Rolf KoschorrekInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zuProtokoll zu nehmen. Findet das Ihre Zustimmung? –Das ist der Fall. Es handelt sich um die Reden der Kol-leginnen und Kollegen Dr. Rolf Koschorrek, CDU/CSU,Eike Hovermann, SPD, Dr. Konrad Schily, FDP, FrankSpieth, Die Linke, Birgitt Bender, Bündnis 90/Die Grünen, und der Parlamentarischen StaatssekretärinMarion Caspers-Merk für die Bundesregierung.1)Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Gesundheit aufDrucksache 16/13650. Der Ausschuss empfiehlt unterBuchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnungdes Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/11245mit dem Titel „Moratorium für die elektronische Ge-sundheitskarte“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von FDP und den Lin-ken angenommen.Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags derFraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12289mit dem Titel „Das Recht auf informationelle Selbstbe-stimmung bei der Einführung der elektronischen Ge-sundheitskarte gewährleisten“. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-alitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung von FDP und Linken ange-nommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Erleichterung elektronischer Anmeldun-gen zum Vereinsregister und anderer vereins-rechtlicher Änderungen– Drucksache 16/12813 –Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 16/13542 –Berichterstattung:Abgeordnete Andrea Astrid VoßhoffDr. Carl-Christian Dressel1) Anlage 11Mechthild DyckmansWolfgang NeškovićHans-Christian Ströbeleb) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be-grenzung der Haftung von ehrenamtlich täti-gen Vereinsvorständen– Drucksache 16/10120 –Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 16/13537 –Berichterstattung:Abgeordnete Daniela RaabDr. Peter DanckertJoachim StünkerMechthild DyckmansWolfgang NeškovićHans-Christian StröbeleNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt esWiderspruch? – Das ist nicht der Fall.Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als ers-tem Redner dem Parlamentarischen StaatssekretärAlfred Hartenbach das Wort.A
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Wir haben in Deutschland ein bürger-schaftliches Engagement, das sich sehen lassen kann. Esfindet vor allen Dingen in Vereinen und Verbänden, aberauch in Stiftungen seinen Ausdruck. Unser Vereinsrechtbietet sowohl den Vereinen als auch den Stiftungen einegute rechtliche Basis, und es bietet auch einen gutenrechtlichen Rahmen. Allerdings haben wir in der Ver-gangenheit festgestellt, dass man das noch verbessernkann.Gerade kleine Vereine, die stärker von bürgerschaftli-chem Engagement getragen werden als große Vereine,haben Mühe, ihre Vorstände, jedenfalls diejenigen, dieVerantwortung zu tragen haben, ordentlich zu besetzen.Das liegt vor allen Dingen daran, dass viele mittlerweilefürchten, dass sie in die Haftung genommen werden undaufgrund dieser Haftung möglicherweise an ihr eigenesVermögen oder das Vermögen ihrer Firma gehen müs-sen. Ich persönlich habe mich lange um eine Lösung be-müht, aber es war etwas schwierig, dies – ich sage dasdeutlich – im Inneren des Hauses zu vermitteln.Zum Glück kam ein Gesetzentwurf des Bundesrates.Das Bundesministerium der Justiz hat sich zunächst ab-wartend verhalten. Aber man kann im Laufe einer Bera-tung klüger werden. Man kann im Laufe einer Beratungauch noch etwas verbessern. So habe ich viele Gesprä-che mit Vereinsvorständen und Vereinsmitgliedern inmeinem Wahlkreis geführt. Wir hatten dann bei uns imBundesministerium der Justiz eine Besprechung mit Ab-geordneten der Koalition – Herr Ströbele wird mich
Metadaten/Kopzeile:
25786 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbachlässigkeit – also nicht mehr für einfache Fahrlässigkeit –gegenüber ihrem Verein haften. Sie können sich durchGRÜNEN]: Ach, deswegen müssen wir umMitternacht noch hier sitzen!)lassen.Ich halte das für einen guten und richtigen Weg; dennso können wir unseren Freunden in den Sportvereinen,in anderen Vereinen, vor allen Dingen auch in sozialenVereinen und Stiftungen anbieten: Ihr könnt euch wiederengagieren, ohne dass ihr um euer Vermögen fürchtenmüsst.
Wir haben einen weiteren Gesetzentwurf eingebracht,in welchem die elektronische Anmeldung zum Vereins-register ermöglicht werden soll. Wir wissen, dass viele,auch kleine, Sportvereine bereits am Netz sind und die-ses Angebot sehr gerne annehmen würden. Nur: Bishergeht es noch nicht. Im Gesetzentwurf bieten wir das an.Wir bieten den Ländern – das ist sehr wichtig – Fol-gendes an: Wenn dieses Gesetz in Kraft tritt und mög-lichst viele von der elektronischen Anmeldung zum Ver-einsregister Gebrauch machen, soll im Land einInternetportal angeboten werden, wo man das Vereinsre-gister ebenso abfragen kann wie das Handelsregister.Das ist eine einfache, saubere und klare Lösung.
Warum rede ich hier? Ich hatte einmal einen väterli-chen Freund in der hessischen SPD, mittlerweile ein al-Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 524;davonja: 93nein: 429enthalten: 2JaSPDDr. Lale AkgünAngelika Graf
Dr. Reinhold HemkerJohannes Jung
Mechthild RawertDr. Wolfgang WodargFDPSibylle LaurischkDIE LINKEHüseyin-Kenan AydinDr. Dietmar BartschDas Justizministerium hat ein Übriges getan. Wirmöchten, dass Vereinsarbeit leichter wird, dass die Men-schen in den Vereinen Hilfen bekommen. So haben wireinen Leitfaden zum Vereinsrecht herausgegeben. Seitheute kann man ihn bei uns bestellen.
Man kann ihn auch im Internet bestellen. In diesem Leit-faden finden Sie alles: von der Gründung des Vereinsüber den täglichen Betrieb bis hin zur „Beerdigung“ desVereins. So weit soll es aber nicht kommen. Deswegengibt es den Leitfaden.Ich bedanke mich sehr herzlich, dass Sie mir zugehörthaben. Ich glaube, heute Abend machen wir zwei richtiggute Gesetze.Vielen Dank.
Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile,gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen undSchriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichenAbstimmung zu dem Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen zur Streichung des Optionszwanges aus demStaatsangehörigkeitsrecht, Drucksachen 16/12849 und16/13556, bekannt: abgegebene Stimmen 525. Mit Ja ha-ben gestimmt 93, mit Nein haben gestimmt 430, Enthal-tungen 2. Der Gesetzentwurf ist abgelehnt.Karin BinderHeidrun BluhmEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausSevim DağdelenWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannDiana GolzeDr. Gregor GysiHeike HänselLutz HeilmannHans-Kurt HillInge HögerDr. Barbara HöllUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenDr. Hakki KeskinKatja KippingJan KorteOskar LafontaineMichael LeutertUlla LötzerDr. Gesine LötzschDorothée MenznerKornelia Möllerdie Satzung von der Haftung gegenüber Dritten befreiennachher fragen, wer das gewmit denen aus dem SportaussIch bin dem Kollegen Petginnen und Kollegen des Sschusses sehr dankbar, dasswollen den Gesetzentwurf deLieber Peter Danckert, deinedazu geführt, dass sich auchDas Bundesministerium derrungshilfe angeboten, die aucdie letztlich dazu führt, dassantwortung tragen, nur nochesen ist –, vor allen Dingenchuss.er Danckert und den Kolle-port- und des Rechtsaus-sie klar gesagt haben: Wirs Bundesrates übernehmen.Standfestigkeit hat letztlich bei uns etwas bewegt hat. Justiz hat eine Formulie-h akzeptiert worden ist undkünftig Vorstände, die Ver-für Vorsatz und grobe Fahr-ter Mann von 80 Jahren – deder immer zu mir gesagt hat:rede darüber! Weiterhin hat emel und läute die Schelle!
Das tue ich hiermit klar undStröbele, der diesem Gesetwird, weiß, was er Gutes verp
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25787
(C)
(D)
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelDr. Jürgen GehbNorbert GeisEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingGerda HasselfeldtUrsula Heinen-EsserUda Carmen Freia HellerMichael HennrichJürgen HerrmannBernd HeynemannErnst HinskenPeter HintzeRobert HochbaumKlaus HofbauerFranz-Josef HolzenkampAnette HübingerHubert HüppeSusanne Jaffke-WittDr. Peter JahrDr. Hans-Heinrich JordanAndreas Jung
Bartholomäus KalbHans-Werner KammerAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderEckart von KlaedenJürgen KlimkeJulia KlöcknerJens KoeppenDr. Kristina Köhler
Manfred KolbeNorbert KönigshofenDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Martina KrogmannDr. Hermann KuesDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertHelmut LampKatharina LandgrafDr. Max LehmerPaul LehriederIngbert LiebingEduard LintnerDr. Michael LutherThomas MahlbergStephan Mayer
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterFriedrich MerzLaurenz Meyer
Maria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachPhilipp MißfelderDr. Eva MöllringMarlene MortlerCarsten Müller
Stefan Müller
Dr. Gerd MüllerMichaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferBeatrix PhilippRuprecht PolenzDaniela RaabThomas RachelDr. Peter RamsauerPeter RauenEckhardt RehbergKatherina Reiche
Klaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberFranz RomerJohannes RöringKurt J. RossmanithDr. Christian RuckAlbert Rupprecht
Peter RzepkaAnita Schäfer
Hermann-Josef ScharfHartmut SchauerteNorbert SchindlerGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Andreas Schmidt
Ingo Schmitt
Dr. Andreas SchockenhoffDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe SchummerWilhelm Josef SebastianKurt SegnerMarion SeibBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnErika SteinbachChristian Freiherr von StettenGero StorjohannMax StraubingerMatthäus StreblThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenHans Peter ThulAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Uwe VogelAndrea Astrid VoßhoffGerhard WächterKai WegnerMarcus WeinbergPeter Weiß
Gerald Weiß
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannAnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschWilly Wimmer
Elisabeth Winkelmeier-BeckerWerner WittlichDagmar Wöhrl
Metadaten/Kopzeile:
25788 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsWolfgang ZöllerWilli ZylajewSPDDr. h. c. Gerd AndresNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerErnst Bahr
Doris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSabine BätzingDirk BeckerUwe BeckmeyerKlaus Uwe BenneterDr. Axel BergUte BergPetra BierwirthLothar Binding
Volker BlumentrittKurt BodewigClemens BollenGerd BollmannDr. Gerhard BotzKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Marco BülowUlla BurchardtMartin BurkertDr. Michael BürschChristian CarstensenMarion Caspers-MerkDr. Peter DanckertKarl DillerMartin DörmannDr. Carl-Christian DresselElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinDetlef DzembritzkiSebastian EdathySiegmund EhrmannDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerAnnette FaßeElke FernerGabriele FograscherRainer FornahlGabriele FrechenDagmar FreitagPeter FriedrichMartin GersterIris GleickeGünter GloserDieter GrasedieckMonika GriefahnGabriele GronebergAchim GroßmannWolfgang GrotthausWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannAlfred HartenbachMichael Hartmann
Nina HauerHubertus HeilRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogPetra HeßGabriele Hiller-OhmStephan HilsbergPetra Hinz
Gerd HöferIris Hoffmann
Frank Hofmann
Eike HovermannKlaas HübnerChristel HummeBrunhilde IrberJosip JuratovicJohannes KahrsUlrich KasparickDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberChristian KleimingerAstrid KlugDr. Bärbel KoflerWalter KolbowKarin KortmannRolf KramerAnette KrammeErnst KranzNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerDr. Hans-Ulrich KrügerJürgen KucharczykHelga Kühn-MengelUte KumpfDr. Uwe KüsterChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachWaltraud LehnDirk ManzewskiLothar MarkCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel
Dr. Matthias MierschUrsula MoggMarko MühlsteinDetlef Müller
Franz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDr. Erika OberThomas OppermannHeinz PaulaJohannes PflugChristoph PriesDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeSteffen Reiche
Maik ReichelGerold ReichenbachDr. Carola ReimannChristel Riemann-HanewinckelWalter RiesterSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Ortwin RundeMarlene Rupprecht
Anton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenMarianne SchiederOtto SchilyUlla Schmidt
Silvia Schmidt
Renate Schmidt
Heinz Schmitt
Carsten Schneider
Olaf ScholzOttmar SchreinerSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Angelica Schwall-DürenDr. Martin SchwanholzRita Schwarzelühr-SutterWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDieter SteineckeAndreas SteppuhnLudwig StieglerRolf StöckelChristoph SträsserDr. Peter StruckDr. Rainer TabillionJella TeuchnerDr. h. c. Wolfgang ThierseJörn ThießenFranz ThönnesRüdiger VeitSimone ViolkaJörg VogelsängerDr. Marlies VolkmerHedi WegenerAndreas WeigelPetra WeisGunter WeißgerberGert Weisskirchen
Hildegard WesterLydia WestrichDr. Margrit WetzelAndrea WickleinDr. Dieter WiefelspützEngelbert WistubaWaltraud Wolff
Heidi WrightManfred ZöllmerFDPJens AckermannDr. Karl AddicksDaniel Bahr
Uwe BarthRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherPatrick DöringMechthild DyckmansUlrike FlachOtto FrickePaul K. FriedhoffHorst Friedrich
Dr. Edmund Peter GeisenHans-Michael GoldmannMiriam GrußJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinElke HoffBirgit HomburgerDr. Werner HoyerMichael KauchDr. Heinrich L. KolbHellmut KönigshausGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerDr. Erwin LotterPatrick MeinhardtJan MückeBurkhardt Müller-SönksenDirk NiebelDetlef ParrCornelia PieperGisela PiltzFrank SchäfflerDr. Konrad SchilyMarina SchusterDr. Hermann Otto SolmsDr. Max StadlerDr. Rainer StinnerCarl-Ludwig ThieleFlorian ToncarDr. Daniel VolkDr. Volker WissingHartfrid Wolff
fraktionsloserAbgeordneterHenry NitzscheEnthaltenSPDGabriele Lösekrug-MöllerGesine Multhaupt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25789
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsJetzt gebe ich der Kollegin Mechthild Dyckmans vonder FDP-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen, die Sie um diese Zeit – darüber freue ich mich sehr –
doch noch sehr zahlreich anwesend sind.
Heute ist ein guter Tag für alle, die sich ehrenamtlich im
Verein engagieren.
Diesen Worten der Ministerin auf der Internetseite des
Bundesjustizministeriums kann ich für die FDP-Fraktion
nur zustimmen.
Allerdings möchte ich Folgendes nicht verschweigen – der
Staatssekretär Herr Hartenbach hat es schon gesagt –: Es
hat ganz erheblicher Anstrengungen bedurft, um dieses
Ergebnis zu erreichen. Es gab einen Vorschlag aus Ba-
den-Württemberg und dem Saarland. Die Stellungnahme
der Bundesregierung dazu war zunächst: Die Bundesre-
gierung hält es nicht für gerechtfertigt, besondere zivil-
rechtliche Haftungsbegrenzungen für Vereinsvorstände
einzuführen. – Wäre es also nach dem ursprünglichen
Willen der Bundesregierung gegangen, hätte es diese
Haftungserleichterungen nicht gegeben.
Dann wäre der heutige Tag vielleicht nicht ein so guter
Tag für all diejenigen geworden, die sich ehrenamtlich in
Vereinen engagieren.
Ich hätte mich gefreut, wenn sich die Bundesjustizmi-
nisterin auch bei anderen rechtspolitischen Initiativen
Baden-Württembergs und anderer Länder mit FDP-Re-
gierungsbeteiligung so aufgeschlossen gezeigt hätte.
Denn dann hätte es vielleicht noch mehr solcher guter
Tage gegeben, und die rechtspolitische Bilanz der Bun-
desjustizministerin wäre vielleicht noch besser ausgefal-
len,
sodass zu Recht von einer „Renaissance der Rechtspoli-
tik“ – so auch der Titel des Buches der Ministerin – die
Rede hätte sein können.
Wir sind aber am Ende einer Wahlperiode, und da
sollte man großzügig sein. Deshalb will ich es dabei be-
wenden lassen und meiner Hoffnung Ausdruck verlei-
hen, dass die heute zu beschließenden Gesetze tatsäch-
lich eine Verbesserung bringen werden. Die Weichen
scheinen mir dafür richtig gestellt. Das Gesetz zur Be-
grenzung der Haftung von ehrenamtlich tätigen Vereins-
vorständen hat im Gesetzgebungsverfahren noch Verbes-
serungen erfahren. Hierzu zähle ich die Ausweitung der
Haftungsbegrenzung für Vereinsvorstände, die für ihre
Tätigkeit eine geringe, steuerfreie Vergütung erhalten,
sowie die Ausweitung der Haftungsbegrenzung auf die
Stiftungsvorstände. Zu begrüßen ist auch, dass die ur-
sprünglich vorgesehenen sozial- und steuerrechtlichen
Haftungsbegrenzungen nicht weiter verfolgt wurden.
Mit dem heutigen Gesetz wird also – wir haben es
schon mehrfach gehört – die Haftung von Vereinsvor-
ständen begrenzt. Nicht erfasst ist dagegen die Haftung
der Vereinsmitglieder untereinander. Gegenwärtig gilt
hier der allgemeine Grundsatz: Vereinsmitglieder unter-
einander haften für Vorsatz und jegliche Art von Fahrläs-
sigkeit. Dadurch setzen sich insbesondere solche Ver-
einsmitglieder einem erhöhten Haftungsrisiko aus, die
sich ganz besonders stark im Verein engagieren. Auch
hierzu gab es bereits 2006 eine Bundesratsinitiative aus
Baden-Württemberg, wonach auch Vereinsmitglieder
untereinander nur für diejenige Sorgfalt einstehen soll-
ten, welche sie in eigenen Angelegenheiten anzuwenden
pflegen.
Die Frage der Haftung von Vereinsmitgliedern unter-
einander ist aber nach wie vor nicht geklärt. Sie sollte
bei einer weiteren Reform des Vereinsrechts wieder auf-
gegriffen werden. Denn für uns steht fest: Mit den heute
zu beschließenden Gesetzen kann die Modernisierung
des Vereinsrechts nicht abgeschlossen sein. Es ist zwar
ein erster Schritt in die richtige Richtung, aber es ist
noch viel mehr zu tun. Insbesondere müssen wir uns des
Problems annehmen, dass Vereine heute kaum noch
ohne wirtschaftliche Nebentätigkeit arbeiten können.
Hier gibt es noch Regelungsbedarf. Denn das Vereins-
recht lässt diese Frage heute noch vollständig offen, und
das führt zu schwierigen Wertungsfragen und Rechtsun-
sicherheit, weil die Gerichte diesen Punkt völlig unter-
schiedlich behandeln.
Das zweite Gesetz, das wir heute hier verabschieden,
das Gesetz zur Erleichterung elektronischer Anmeldun-
gen zum Vereinsregister und anderer vereinsrechtlicher
Änderungen, ist ebenfalls zu begrüßen. Wichtig ist hier
insbesondere, dass wir die elektronische Anmeldung
nicht als Pflicht vorschreiben. Denn es ist gerade für
kleinere Vereine besonders wichtig, dass sie auch zu-
künftig weiterhin entscheiden können, in welcher Form
sie die Anmeldung vornehmen wollen. Das begrüßen
wir ausdrücklich. Somit ist es tatsächlich ein guter Tag
für alle, die ehrenamtlich in Vereinen tätig sind.
Das Wort hat nun der Kollege Stephan Mayer von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenKolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wenn man die Me-
Metadaten/Kopzeile:
25790 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Stephan Mayer
dien verfolgt, dann möchte man den Eindruck gewinnen,dass die Große Koalition am Ende ist, dass die GroßeKoalition nichts mehr zutage fördern kann. Dass demnicht so ist, zeigen die jetzige Debatte und die Verab-schiedung der jetzt zur Beschlussfassung anstehendenGesetze.
Wir haben – das sage ich ganz offen –, von der Öffent-lichkeit leider zu wenig beachtet, in dieser Periode imBereich des Vereinsrechts und der weiteren Stärkung eh-renamtlichen Engagements durchaus Sehenswertes undBeachtenswertes hervorgebracht.
Wir haben vor zwei Jahren das Gesetz zur weiterenStärkung ehrenamtlichen Engagements verabschiedetund damit insbesondere den Hunderttausenden ehren-amtlich Tätigen in Deutschland wirklich signalisiert,dass wir es mit der Stärkung ehrenamtlichen Engage-ments ernst meinen. Wir haben die Ehrenamtspauschalein Höhe von 500 Euro eingeführt, von der durchaus regeGebrauch gemacht wird. Wir haben im Stiftungsrecht ei-niges zum Positiven verändert.
Wir haben die Freigrenzen hinsichtlich der steuerlichenAbsetzbarkeit deutlich erhöht.Mit den heute zur Beschlussfassung anstehenden Ge-setzen wird zwar am Ende der Legislaturperiode, aberdurchaus noch rechtzeitig ein weiterer Meilenstein imBereich der Verbesserung des Vereinsrechts gesetzt.Wenn man – viele von Ihnen tun dies – sich regelmä-ßig mit ehrenamtlich Tätigen oder mit Personen, die sicheigentlich gerne ehrenamtlich engagieren würden, unter-hält, dann wird häufig als Argument gegen ein ehren-amtliches Engagement vorgebracht, dass man dann miteinem Bein im Gefängnis stehe und dass die Haftungsre-gelungen für ehrenamtlich Tätige zu streng seien. Des-wegen war es meiner Meinung nach richtig, dass wir unsmit dem Gedanken beschäftigt haben, ob man bei ehren-amtlich Tätigen zumindest in der Außenhaftung dieMaßstäbe etwas reduziert.Um auch eines ganz klar zum Ausdruck zu bringen:Damit werden nicht die Rechte derjenigen reduziert, diebeispielsweise bei Übungsleiterstunden im Sportvereinoder bei Vereinsausflügen zu Schaden kommen. Natür-lich bleibt die Haftung des Vereins bestehen – um diesganz klar zum Ausdruck zu bringen. Aber – ich glaube,das war der richtige Schritt – die Haftung der ehrenamt-lich Tätigen im Verein, der Vorstände und auch derÜbungsleiter, wird auf ein Maß reduziert, das erträglichist, nämlich auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit.
Ich glaube, es ist unstreitig, dass diese beiden Haftungs-stufen nicht ausgenommen werden können. Aber im Be-reich der leichten und mittleren Fahrlässigkeit ist es rich-tig, die Haftung entsprechend zu reduzieren.Dies wird insbesondere bei den 93 000 Sportvereinen,die wir in Deutschland haben, dazu führen, dass die Haf-tungsregelungen kein Grund mehr sind, sich für eine Tä-tigkeit als Schatzmeister, als Vereinsvorstand oder alsBeisitzer in einem Vorstand nicht zur Verfügung zu stel-len.Wir reduzieren die Haftung natürlich nur für Ehren-amtliche in gemeinnützigen Vereinen.
Man darf also maximal 500 Euro pro Jahr an Entgelt be-kommen. Das ist genau der Betrag, der als Ehrenamts-pauschale ausgereicht wird. Diese Regelung gilt alsonicht für nicht ehrenamtlich Tätige im Verein.Ein weiterer wichtiger Punkt, der häufig zu einem Är-gernis geführt hat, wird bereinigt. Bei der Gründung ei-nes Vereins war es bisher so, dass alle Gründungsmit-glieder persönlich beim Amtsgericht erscheinenmussten. Das hat natürlich häufig für Unverständnis ge-sorgt. Ich glaube, deswegen ist es richtig, dass wir jetztdie Möglichkeit eröffnen, dass ein Vereinsmitglied – inden meisten Fällen wird dies der neugewählte Vereins-vorsitzende sein – mit Einzelvertretungsvollmacht beimAmtsgericht erscheint und für alle anderen Vereinsmit-glieder die Gründung vornimmt. Auch das ist ein wichti-ger Beitrag zur Entbürokratisierung im Vereinsrecht.Es war so, dass sich die Parlamentarier von der Gro-ßen Koalition – das kann man mit Recht sagen, lieberKollege Peter Danckert – sehr schnell einig waren. Daszuständige Ministerium hat uns dann richtigerweise, wiees der Staatssekretär schon erwähnt hat, die notwendigeFormulierungshilfe zur Hand gegeben. Ich darf auch sa-gen, dass das Bundesjustizministerium zunächst etwasgeschoben werden musste. An dieser Stelle möchte ichmich aber ganz herzlich für die dann erfolgte sehr enga-gierte Mithilfe und Unterstützung seitens des Bundesjus-tizministeriums bedanken.Einen weiteren wichtigen Punkt regeln wir im Rah-men dieser beiden Gesetze auch noch. In Zukunft ist esmöglich – das Zeitalter der neuen Technologien geht na-türlich auch an der Vereinswelt nicht vorbei –, dass eineAnmeldung oder eine Änderung im Vereinsregister aufdem elektronischen Weg durchgeführt wird. Auch hierhalten wir Anschluss an die modernen Kommunika-tionstechnologien. Damit machen wir klar: Uns ist eswirklich ernst mit der Stärkung des ehrenamtlichen En-gagements. Jeder spricht gerne darüber in Sonntagsre-den. Wir können nun mit Fug und Recht behaupten, dasswir in dieser Legislaturperiode Entscheidendes zur Stär-kung des ehrenamtlichen Engagements vorangebrachthaben.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25791
(C)
(D)
Stephan Mayer
Im Rahmen des Gesetzes zur weiteren Stärkung desehrenamtlichen Engagements nimmt der Bund 400 Mil-lionen Euro im Jahr in die Hand,
um die Zehntausenden von gemeinnützigen Vereinen inDeutschland zu stärken. Ich glaube, wir können allesamtstolz darauf sein und dies vor den Wählerinnen undWählern vertreten. Ich würde mich freuen, wenn mög-lichst viele seitens der Oppositionsfraktionen diesen bei-den sehr gelungenen Gesetzentwürfen ihre Zustimmungerteilen würden. Ich würde es sehr bedauern, wenn demnicht so wäre.Wie gesagt: Die Große Koalition hat im Bereich desVereinsrechtes wirklich Wort gehalten. Ich darf mich fürdie sehr konstruktive und sehr konsensuale Zusammen-arbeit in diesem Bereich bei den Kolleginnen und Kolle-gen ganz herzlich bedanken. Man kann wirklich mitStolz sagen: Heute ist – das gilt auch zu dieser spätenStunde – ein guter Tag für die ehrenamtlichen gemein-nützigen Vereine in Deutschland.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Die Rede des Kollegen Wolfgang Nešković von denLinken nehmen wir zu Protokoll.1)Jetzt hat der Kollege Hans-Christian Ströbele vomBündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Mayer, dem vielen Eigenlob schließe ichmich nicht an. Es ist auch nicht erforderlich, weil Siesich selber schon genug gelobt haben.
Dieser Gesetzentwurf ist ungeeignet für so viel Eigenlobund auch für Lob von mir. Deshalb kommt da auchnichts.Auch wir sind dafür, das ehrenamtliche Engagementzu stärken.
Auch wir haben dafür eine ganze Reihe von Vorschlägengemacht. Aber was Sie hier machen, ist der falsche Weg.Man muss sich einmal folgende Situation vorstellen: Esentsteht ein Schaden durch ein schuldhaftes Verhalten ei-nes Vorstandsmitgliedes, meinetwegen auch nur durchein fahrlässiges Verhalten. Wer übernimmt denn nun die-sen Schaden? Der Schaden ist ja nicht dadurch weg, dass1) Anlage 12Sie in den Gesetzentwurf hineinschreiben, dass der Vor-stand nicht dafür haftet. Irgendeiner muss doch dafürhaften.
– Wenn Sie jetzt gesagt hätten: „Der Staat übernimmt dieHaftung“, hätten wir darüber reden können. Aber so istdas ja nicht. – Irgendeiner muss dafür haften, entwederdie Mitglieder – das einzelne Mitglied bleibt auf seinemSchaden sitzen –, Angestellte oder Dritte. Dieses Pro-blem haben Sie nicht gelöst, sondern einfach verlagert.Wir wissen, dass heute nicht nur der nette, kleineTurnverein um die Ecke als Verein konstruiert ist, son-dern dass es auch große Wirtschaftsunternehmen mitUmsätzen in Millionenhöhe und vielen Angestelltengibt, die Vereine sind. Durch fahrlässiges Verhalten einesVorstandsmitglieds kann da schon ein erheblicher Scha-den entstehen.
Da fragt man sich: Wer haftet für diesen Schaden? Blei-ben die Leute darauf sitzen, oder gibt es Dritte oderVierte, die dafür haften?Deshalb, Herr Kollege Hartenbach, und nicht, weildie Bundesregierung ihre Meinung nicht auch einmal än-dern darf, kritisieren wir den Gesetzentwurf. Frau Kolle-gin Dyckmans, Sie haben aus der Stellungnahme derBundesregierung zitiert, warum sie den Bundesratsent-wurf abgelehnt hat. Wenn Sie weiterzitiert hätten, hättenSie die richtigen Sätze vorgelesen – jetzt zitiere ich –:Zur Entlastung der Vorstandsmitglieder müssten dieVereine und Vereinsmitglieder ein höheres Scha-densrisiko tragen.Das sagte die Bundesregierung.Verursacht ein Vorstandsmitglied erhebliche Schä-den, können die Haftungsbegrenzung und der An-spruch auf Freistellung von Ansprüchen aufgrundeinfach fahrlässiger Schädigung Dritter zur Zah-lungsunfähigkeit auch gesunder Vereine führen
oder erhebliche finanzielle Folgen für ein Vereins-mitglied haben, das schuldloses Opfer einer Pflicht-verletzung des Vorstandsmitglieds wurde.Das war damals die Begründung. Diese Begründungist bis heute nicht widerlegt worden. Sie gilt heute nochgenauso. Dass der Kollege Danckert den KollegenHartenbach, wie ich gehört habe, so sehr beeindruckt hat
oder ihm so zugesetzt hat, dass er und die anderen sichgefügt haben, das mag ja sein, aber das entwertet dieseArgumente doch nicht.
Sie haben nichts dazu gesagt, wer diesen Schaden trägt.
Metadaten/Kopzeile:
25792 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Hans-Christian StröbeleWeil wir das nicht wie Sie regeln wollen, wollen wirden alten, den bewährten Rechtszustand in diesem Punkt– es geht immer um den verschuldeten Schaden – beibe-halten.
Wenn man ehrenamtliches Engagement auch in Vor-ständen fördern will, kann man darüber reden. Ich hoffe,Sie wollen ehrenamtliches Engagement auch aufseitender Vereinsmitglieder fördern und dafür sorgen, dassmöglichst viele Vereinsmitglieder werden, auch wennsie sich damit einem Schadensrisiko aussetzen. Sie wol-len die Vorstände entlasten und diese Posten dadurch at-traktiver machen. Darüber kann man reden. Aber dafürmuss man andere Regelungen finden als die, die Sie ge-funden haben. Das ist der falsche Weg. Diesbezüglichfolgen wir der ursprünglichen Auffassung der Bundes-regierung und sagen: Nein, danke.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Dr. Peter Danckert von der SPD-
Fraktion.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Lieber Kollege
Ströbele, das ist seltsam: 93 000 Vereine applaudieren,
die Dachorganisation ist zufrieden, der DOSB ist zufrie-
den, und die Ehrenamtlichen schicken uns Mails, weil
sie zufrieden sind; nur die Grünen finden ein Haar in der
Suppe.
Das ist beklagenswert.
Ich finde, diese Debatte heute Abend ist angebracht,
und ich finde es gut, dass nur vereinzelt Reden zu Proto-
koll gegeben werden, weil das, was heute hier verab-
schiedet wird, nicht nur für die Ehrenamtlichen etwas
Besonderes ist, sondern es sich hierbei auch um eine be-
sondere Stunde des Parlaments handelt. Wir haben ge-
hört, welchen Weg dieser Gesetzentwurf genommen hat:
Anlässlich der ersten Lesung war der Ministerpräsident
des Saarlandes, Peter Müller, noch selbst anwesend.
Jetzt, wo ein von ihm initiierter Gesetzentwurf abschlie-
ßend behandelt wird, hat er leider keine Zeit dafür. Das
bedauern wir natürlich.
Wichtig ist aber, dass wir hier festhalten – das ist
schon gesagt worden –: Der Entwurf des Bundesrates,
der auf eine Initiative der Bundesländer Baden-
Württemberg und Saarland zurückgeht, sollte eine Beer-
digung zweiter Klasse erfahren. Das ist ganz klar. Das
ergibt sich aus der Stellungnahme. Doch dieses Gesetz
wollte nicht einer alleine, sondern wollten viele. Die we-
sentlichen Vertreter der Koalition im Sportausschuss und
im Rechtsausschuss haben gesagt: Augenblick, wir wol-
len mit der Bundesjustizministerin darüber reden. Wir
haben eine ausführliche Debatte geführt, und wir haben
eine Einigung gefunden, die jetzt Eingang in die Formu-
lierungshilfe gefunden hat. Ich finde, das ist der richtige
Weg. Die Haftungsbeschränkung von ehrenamtlich täti-
gen oder nur mit einer geringfügigen Vergütung ausge-
statteten Vorstandsmitgliedern soll auf Vorsatz und
grobe Fahrlässigkeit beschränkt werden. Das ist sachge-
recht. An dieser Stelle kommt niemand zu kurz.
Die Außenstehenden, über die Kollege Ströbele ge-
sprochen hat, haben weiter einen unbegrenzten An-
spruch; da ist überhaupt keine Haftungsbegrenzung ver-
einbart. Es geht nur um die ehrenamtlich tätigen
Vorstandsmitglieder. Sie sollen zulasten des Vereins eine
Beschränkung erfahren. Das ist ein wichtiger Beitrag zu
ihrer Tätigkeit.
Darüber haben wir uns geeinigt. Die Ausführungen, die
die Kollegen Hartenbach und Mayer dazu gemacht ha-
ben, sind völlig zutreffend. Ich will meine Redezeit des-
halb anlässlich der späten Stunde hier nicht bis zur letz-
ten Minute auskosten.
Ich bedanke mich bei allen, die mitgewirkt haben.
Wir verabschieden einen guten Gesetzentwurf zur Haf-
tungsbeschränkung von ehrenamtlich tätigen Vorstands-
mitgliedern in Vereinen und Vorständen von Stiftungen.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zurErleichterung elektronischer Anmeldungen zum Ver-einsregister und anderer vereinsrechtlicher Änderungen.Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 16/13542, den Gesetzentwurfder Bundesregierung auf Drucksache 16/12813 in derAusschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmenwollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratungbei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen mit denStimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25793
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsEnthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichemStimmenverhältnis angenommen.Tagesordnungspunkt 16 b. Abstimmung über den vomBundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Be-grenzung der Haftung von ehrenamtlich tätigen Vereins-vorständen. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 16/13537, den Ge-setzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 16/10120 inder Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,die zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist inzweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak-tionen und der FDP bei Gegenstimmen der FraktionenDie Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.Wenn ich das richtig sehe, sind die Reden zu allenweiteren Tagesordnungspunkten zu Protokoll gegebenworden. Allerdings müssen wir die Abstimmungen vor-nehmen. Es handelt sich um rund 100 Seiten; es könnenauch etwas mehr sein. Deswegen bitte ich um Ihre Ge-duld. Wir müssen das jetzt abwickeln. Ich hoffe, dassmich nicht die Stimme verlässt im Laufe des Prozesses.
– Ja, das wäre nett; aber ich hoffe, wir schaffen esschneller.Jetzt geht es los. Ich hoffe, die Stenografen akzeptie-ren, dass es jetzt relativ schnell geht; aber es ist ja nichtkompliziert.Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Abgeordneten BirgittBender, Elisabeth Scharfenberg, Dr. HaraldTerpe, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENPräventionsgesetz auf den Weg bringen –Primärprävention umfassend stärken– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. MartinaBunge, Klaus Ernst, Diana Golze, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion DIE LINKEGesundheitsförderung und Prävention alsgesamtgesellschaftliche Aufgaben stärken –Gesellschaftliche Teilhabe für alle ermögli-chen– zu dem Antrag der Abgeordneten Detlef Parr,Daniel Bahr , Heinz Lanfermann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derFDPEigenverantwortung und klare Aufgabentei-lung als Grundvoraussetzung einer effizien-ten Präventionsstrategie– Drucksachen 16/7284, 16/7471, 16/8751,16/13071 –Berichterstattung:Abgeordneter Hermann-Josef ScharfDie Reden der Kolleginnen und Kollegen Hermann-Josef Scharf, Dr. Margrit Spielmann, Detlef Parr,Dr. Martina Bunge und Birgitt Bender werden zu Proto-koll genommen.1)Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Gesundheit auf Drucksache 16/13071. DerAusschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7284mit dem Titel „Präventionsgesetz auf den Weg bringen –Primärprävention umfassend stärken“. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion beiGegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthal-tung der Fraktion Die Linke angenommen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-sache 16/7471 mit dem Titel „Gesundheitsförderung undPrävention als gesamtgesellschaftliche Aufgaben stärken –Gesellschaftliche Teilhabe für alle ermöglichen“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDPgegen die Stimmen der Linken und bei Enthaltung desBündnisses 90/Die Grünen angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung desAntrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/8751mit dem Titel „Eigenverantwortung und klare Aufgaben-teilung als Grundvoraussetzung einer effizienten Präven-tionsstrategie“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dann ist dieBeschlussempfehlung bei Gegenstimmen der FDP-Frak-tion mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenom-men.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Stärkung der Finanzmarkt-und der Versicherungsaufsicht– Drucksachen 16/12783, 16/13113 –– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Dr. h. c. Jürgen Koppelin, FrankSchäffler, Jens Ackermann, weiteren Abgeord-1) Anlage 13
Metadaten/Kopzeile:
25794 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solmsneten und der Fraktion der FDP eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Schließung kre-ditwirtschaftlicher Aufsichtslücken– Drucksache 16/12884 –Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 16/13684 –Berichterstattung:Abgeordnete Leo DautzenbergJörg-Otto SpillerFrank SchäfflerZu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt einEntschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.Wir nehmen die Reden zu Protokoll. Es handelt sichum die Reden der Kolleginnen und Kollegen LeoDautzenberg, Klaus-Peter Flosbach, Martin Gerster,Frank Schäffler, Dr. Axel Troost und Dr. GerhardSchick.1)Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Stärkungder Finanzmarkt- und der Versicherungsaufsicht. DerFinanzausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/13684, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12783 und16/13113 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-sung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-men der Oppositionsfraktionen in zweiter Beratung an-genommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichemStimmenverhältnis angenommen.Abstimmung über den Entschließungsantrag derFraktion der FDP auf Drucksache 16/13690. Wer stimmtfür diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag istgegen die Stimmen der FDP mit den Stimmen aller übri-gen Fraktionen abgelehnt.Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetz-entwurf der Fraktion der FDP zur Schließung kreditwirt-schaftlicher Aufsichtslücken. Der Finanzausschuss emp-fiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 16/13684, den Gesetzentwurf der Fraktionder FDP auf Drucksache 16/12884 abzulehnen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, umihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei Zustim-mung der FDP-Fraktion mit den Stimmen aller anderenFraktionen abgelehnt. Die dritte Beratung entfällt.1) Anlage 14Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Kai Gehring, Ekin Deligöz, KatrinGöring-Eckardt, weiteren Abgeordneten undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein-gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zurÄnderung des Grundgesetzes
– Drucksache 16/12344 –– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Kai Gehring, Ekin Deligöz, KatrinGöring-Eckardt, weiteren Abgeordneten undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurHerabsetzung des Wahlalters im Bundes-wahlgesetz und im Europawahlgesetz– Drucksache 16/12345 –Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 16/13247 –Berichterstattung:Abgeordnete Stephan Mayer
Klaus Uwe BenneterGisela PiltzUlla JelpkeJan KorteWolfgang WielandZu Protokoll nehmen wir die Reden von StephanMayer, Klaus Uwe Benneter, Gisela Piltz, Diana Golzeund Kai Gehring.2)Mir wurde gerade mitgeteilt, dass alle Fraktionen vor-geschlagen haben, die Namen der Redner nicht zu verle-sen.
Wenn sichergestellt ist, dass die Redebeiträge im Proto-koll erscheinen, können wir darauf verzichten.Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurfder Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zur Änderungvon Art. 38 des Grundgesetzes. Der Innenausschuss emp-fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 16/13247, den Gesetzentwurf der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12344 abzu-lehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist inzweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition und derFDP bei Zustimmung der Fraktion Die Linke und desBündnisses 90/Die Grünen abgelehnt. Die dritte Bera-tung entfällt.Abstimmung über den Gesetzentwurf der FraktionBündnis 90/Die Grünen zur Herabsetzung des Wahlaltersim Bundeswahlgesetz und im Europawahlgesetz. Der In-nenausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/13247, den Gesetzent-2) Anlage 15
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25795
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solmswurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 16/12345 abzulehnen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um dasHandzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt mit denStimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktionbei Zustimmung der Linken und von Bündnis 90/Die Grü-nen. Die dritte Beratung entfällt.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:1)Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Erb- und Verjährungs-rechts– Drucksache 16/8954 –Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 16/13543 –Berichterstattung:Abgordnete Ute GranoldChristine LambrechtDirk ManzewskiJoachim StünkerSabine Leutheusser-SchnarrenbergerWolfgang NeškovićJerzy MontagWir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf. Der Rechts-ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 16/13543, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 16/8954 in der Ausschussfas-sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, umihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommenmit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen derLinken.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustim-men wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmen-verhältnis angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie zu dem Antrag der Abge-ordneten Rainer Brüderle, Paul K. Friedhoff, JensAckermann, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der FDPDie Mitte stärken – Mittelstand ins Zentrumder Wirtschaftspolitik rücken– Drucksachen 16/12326, 16/13148 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Michael Fuchs1) Zu Protokoll gegebene Redebeiträge siehe Anlage 16
Wir befinden uns momentan in der tiefsten Rezession
seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Dass es
momentan außergewöhnliche Zeiten sind, steht außer
Frage. Doch gerade jetzt gilt es, trotz dieser Turbulenzen
die Nerven zu behalten.
In Ihrem Antrag fordern Sie zum wiederholten Male
eine Ausweitung der Maßnahmen, um ein mittelstands-
freundlicheres Klima in Deutschland zu schaffen. Ganz
konkret fordern Sie beispielsweise die Abschaffung der
Gewerbesteuer und die Senkung der Einkommensteuer.
Eine Antwort darauf, wie Sie Ihre Maßnahmen aber kon-
kret gegenfinanzieren wollen, bleibt die FDP uns erneut
schuldig.
Vor dem Hintergrund der weltweiten Finanzkrise hat
die Bundesregierung bereits Ende des vergangenen Jah-
res Maßnahmenpakete geschnürt, durch die Schäden in
unkalkulierbarer Größenordnung von der Wirtschaft und
der Allgemeinheit abgewendet werden konnten. Wir ha-
ben uns dabei zu Recht jedem blinden Aktionismus wi-
dersetzt.
Die FDP erheitert uns in regelmäßigen Abständen mit
grandiosen Ideen. Kollege Brüderle forderte noch kürzlich,
das Bundeswirtschaftsministerium in „Mittelstandsminis-
terium“ umzubenennen. Den Sinn dahinter verschweigen
Sie uns bis heute. Der Mittelstand ist – das betonen Sie in
Ihrem Antrag vollkommen richtig – die Herzkammer un-
serer Volkswirtschaft. Er ist eben „keine Recheneinheit“,
sondern vielmehr der Motor und tragende Säule unseres
Landes. Mittelstand bedeutet eben auch Wirtschaft und
Technologie. Darum trägt das zuständige Ministerium zu
Recht diese Bezeichnung. Denn die mittelständischen
Unternehmen leisten einen enormen Beitrag im Bereich
der Technik und Innovationen in allen Bereichen unserer
Wirtschaft.
Dass Mittelstandspolitik eine Querschnittsaufgabe ist,
hat die Bundesregierung vielfach unter Beweis gestellt;
ich nenne hier beispielhaft die 2006 gestartete Mittel-
standsinitiative oder das 2008 gestartete Zentrale Inno-
vationsprogramm Mittelstand. Um Innovationsprozesse
fortsetzen und Arbeitsplätze erhalten zu können, haben
wir ganz bewusst die Mittel zur Finanzierung der Tech-
nologie- und Innovationsprojekte des Mittelstands auf
670 Millionen Euro aufgestockt. Hinzu kommt eine Erhö-
hung der Mittel für das ZIM für die Jahre 2009 und 2010
um insgesamt 900 Millionen Euro.
Zusätzlich ist es uns in dieser Legislaturperiode mit
den drei Mittelstandsentlastungsgesetzen gelungen, die
bürokratischen Hemmnisse für die kleinen und mittleren
Unternehmen deutlich zu reduzieren. Seit Beginn des
Programms für Bürokratieabbau haben wir mehr als 200
überflüssige Gesetze und Rechtsverordnungen gestri-
chen. Alles in allem erreichen wir damit eine Entlastung
der Wirtschaft um jährlich 7 Milliarden Euro.
Doch nach wie vor trägt Deutschlands Wirtschaft
jährliche Bürokratielasten in Höhe von rund 40 Milliar-
den Euro. Wir haben daher in unserem Regierungspro-
gramm, das CDU und CSU am Montag gemeinsam vor-
gestellt haben, festgeschrieben, alle nationalen Statistik-
(C)
(D)
Dr. Michael Fuchs
und Berichtspflichten bis 2011 netto um 25 Prozent abzu-
bauen.
Infolge des Konjunktureinbruchs haben wir besonnen
und zielgerichtet agiert. Mit dem Kredit- und Bürg-
schaftsprogramm haben wir ein 115-Milliarden-Euro-
Programm für den Mittelstand auf den Weg gebracht.
Damit ist es uns möglich, bestehende Finanzierungslü-
cken zu schließen – allerdings nur dann, wenn das Unter-
nehmen eine langfristige Perspektive hat und unver-
schuldet, nur wegen der Krise, in Existenznot geraten ist.
Im Fokus unserer Maßnahmen stehen die Entlastung
der Bürger und Unternehmen sowie die Sicherung der
Beschäftigungserfolge der vergangenen Jahre. 2009 und
2010 fordern sie Investitionen und Aufträge von Unter-
nehmen, privaten Haushalten und Kommunen in einer
Größenordnung von rund 50 Milliarden Euro. Davon
profitiert besonders der Mittelstand.
Zusammen mit den bereits im Oktober 2008 beschlos-
senen Maßnahmen zur Senkung der steuerlichen Belas-
tungen werden wir unserer Verantwortung gerecht, auch
in solch stürmischen Zeiten das Schiff zu steuern, um den
Menschen eine Perspektive für die Zukunft und zur Über-
windung der Konjunkturschwäche zu geben.
Liebe Kollegen von der FDP, ich halte es für ange-
bracht und richtig, über das Thema Steuersenkungen zu
sprechen. Doch jetzt ist gewiss keine Zeit für Mätzchen.
In unserem Regierungsprogramm sprechen wir uns ganz
bewusst für eine Senkung des Einganssteuersatzes von 14
auf 12 Prozent aus. Darüber hinaus wollen wir, dass der
Spitzensteuersatz erst ab 60 000 Euro greift statt schon
ab knapp 53 000 Euro. Um die Auswirkungen der soge-
nannten kalten Progression zu mildern, wollen wir die
Tarifeckwerte absenken. Dadurch werden nicht nur Ar-
beitnehmer, sondern gerade auch die im Mittelstand
überwiegenden Personenunternehmer entlastet. Dies ist
ein pragmatischer Ansatz gegen die leistungsfeindlichen
Auswirkungen der kalten Progression.
Unser klares Bekenntnis zur Schuldenbremse trägt
besonders der Verantwortung für die künftigen Genera-
tionen Rechnung. Angesichts der konjunkturellen
Schieflage dürfen wir nicht die Frage der Generationen-
gerechtigkeit auf die lange Bank schieben. Nur die Schul-
denregel eröffnet uns eine nachhaltige Finanzpolitik, die
unseren Kindern und Enkeln keine ständig wachsenden
Schuldenberge hinterlässt.
Mittelstandspolitik war und ist ein Markenzeichen der
Union. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern.
Ihren Antrag, geschätzte Kollegen von der FDP, nehme
ich daher gerne zur Kenntnis, Ihre Forderungen haben
wir aber längst in die Tat umgesetzt.
Unbestritten sind mittelständische Unternehmer und
Unternehmen die Stütze der deutschen Wirtschaft. Sie
stellen die Mehrzahl der Arbeitsplätze und Ausbildungs-
plätze und bringen die meisten Innovationen hervor. Ich
denke, niemand in diesem Haus bestreitet das. Eine
„Geisteshaltung“ ist der Mittelstand aber nicht. Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich versichere
Zu Protokoll
Ihnen, auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ste-
hen morgens früh auf, auch Arbeitnehmer treffen Vor-
sorge, auch Arbeitnehmer bauen ihre Existenz auf eige-
nes Risiko und müssen selbst Vorsorge treffen. Und auch
Arbeitnehmer verdienen den Respekt aller. Diese Tugen-
den nur mittelständischen Unternehmern nachzusagen
entbehrt jeder Grundlage. Gerade die letzten Monate ha-
ben doch gezeigt, dass es auf die gesellschaftliche Ver-
antwortung und das Augenmaß aller Akteure in der Wirt-
schaft ankommt – seien sie nun Arbeitnehmer oder
Unternehmer.
Weil wir um die Bedeutung mittelständischer Unter-
nehmen für unsere Wirtschaft wissen, stehen sie auch im
Fokus aller Wirtschaftsförderinstrumente, sei es in der
Investitionsförderung, den KfW-Programmen oder bei
der Innovationsförderung. Wir haben den Mittelstand
auch von Steuern und Abgaben entlastet. Dazu zählen die
Unternehmensteuerreform 2008 und die Senkung der So-
zialversicherungsbeiträge. Wir haben die Unterneh-
mensgründung durch die GmbH-Reform erleichtert und
durch drei Mittelstandsentlastungsgesetze den Bürokra-
tieabbau eingeleitet. Wir fördern haushaltsnahe Dienst-
leistungen durch die Absetzbarkeit von Handwerkerleis-
tungen. Wir haben mit dem Forderungssicherungsgesetz
erleichterte Vorauszahlungen für die Forderung von Ab-
schlagszahlungen eingeführt und die Fälligkeit von Ver-
gütungsansprüchen verbessert.
Die beiden Konjunkturprogramme kommen vor allem
dem Mittelstand zugute durch die Aufstockung der KfW-
Programme und des CO2-Gebäudesanierungspro-
gramms. Das kommunale Investitionsprogramm stützt
die mittelständische Bauwirtschaft, bessere Abschrei-
bungsmöglichkeiten schaffen finanzielle Spielräume.
Viele Maßnahmen der Wirtschaftsförderung sind allein
nur für den Mittelstand gedacht. Besonders zu erwähnen
ist das Zentralprogramm Innovativer Mittelstand, das
bei den Innovationskräften mittelständischer Unterneh-
men ansetzt und dieses Potenzial gezielt fördert.
Ich kann daher nicht erkennen, wo der Mittelstand be-
nachteiligt wäre. Ganz im Gegenteil: Er steht im Fokus
der Wirtschaftspolitik. Auch weiterhin kommt es darauf
an, die Rahmenbedingungen für den Mittelstand zu ver-
bessern. Dazu zählen für uns eine gute Bildungs- und
Forschungspolitik und eine leistungsfähige Infrastruktur.
Auch die Einführung neuer Regeln auf den Finanzmärk-
ten bringt Mittelständlern mehr Sicherheit für ihr unter-
nehmerisches Handeln. Auf diesem Weg wollen wir als
SPD fortfahren.
Wir fordern in unserem Antrag die Schaffung einesmittelstandsfreundlichen Klimas in der bundesdeutschenPolitik. Der bisher mit den Mittelstandsentlastungsgeset-zen eingeschlagene Weg ist grundsätzlich richtig, aber ermuss mutiger und konsequenter fortgesetzt werden.Gerade in der derzeitigen Krise ist es Aufgabe derPolitik, den Belangen der mittelständischen Wirtschaftbesser Rechnung zu tragen: Die Mittelständler warenvor der Krise stark und können es auch nach der Krisesein, wenn die Politik der Koalition die Sorgen der Un-
Metadaten/Kopzeile:
25796 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Paul K. Friedhoffternehmer ernst nimmt, anstatt weiter Probleme auszu-sitzen.An erster Stelle muss der Abbau meist unnötiger und,in Krisenzeiten erst recht, wachstumshemmender Büro-kratie stehen. Gemeint sind nicht nur überflüssige Be-richts- und Statistikpflichten. Der Abbau solcher Büro-kratie ist das, worauf mittelständische Unternehmereinen Anspruch haben und was sie auch erwarten. DerKostenaufwand, den diese unzähligen Pflichten zu Anträ-gen, Berichten, Genehmigungsverfahren und Statistikenbedeuten, schmerzt in der Krise noch mehr als sonst. Einmutiger und schneller Bürokratieabbau, der diesen Na-men wirklich verdient, würde mehr bewirken als weitereKonjunkturpakete.Der Normenkontrollrat ist ein erster Anfang, um über-flüssige Bürokratie zu vermeiden. Allerdings wurde ernicht, wie von der FDP gefordert, beim Parlament alsSelbstkontrolle eingerichtet, sondern bei der Regierungim Bundeskanzleramt. Diese Konstruktion birgt den Feh-ler in sich, dass Gesetzentwürfe aus dem Parlament we-gen der Gewaltenteilung nicht auf die Bürokratiekostenüberprüft werden können. Hier bleibt Korrekturbedarf.Da außerdem ständig neue Gesetze hinzukommen, soll-ten sie mit einem Verfallsdatum versehen werden. Soläuft der Gesetzgeber nicht Gefahr, zeitweilig erforderli-che Gesetze unnötig lange in Kraft zu lassen, ohne sierechtzeitig wieder abzuschaffen. Zum Ablauf des Gültig-keitszeitraumes soll der Gesetzgeber das Gesetz auf seineNotwendigkeit überprüfen und verlängern können. Aufdiese Weise kann er die fortlaufende Legitimität der Vor-schriften sicherstellen.Mindestens ebenso belastend wie diverse neueGesetze ist jedoch das bestehende unflexible Arbeits-recht. Diese Flexibilität ist von zentraler Bedeutung.Wenn ein Unternehmen daran gehindert ist, schnell undangemessen auf Konjunktureinbrüche zu reagieren, istim schlimmsten Fall der Fortbestand des Unternehmensgefährdet. Wenn viele Aufträge wegbrechen und dasEigenkapital schrumpft, sind starre Rahmenbedingungenhochgefährlich. Ein starres Arbeitsrecht macht Unter-nehmen nicht krisenfest – ganz im Gegenteil, es raubt ih-nen die Reaktionsmöglichkeiten und bringt sie in Gefahr.Davon haben auch Arbeitnehmer, die von den vielen gutgemeinten Gesetzen geschützt werden, nichts. Was nütztihnen der hochregulierte und hochentlohnte Arbeitsplatz,wenn das Unternehmen nicht überlebt? BetrieblicheBündnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern,mit denen Arbeitsplätze gesichert werden können, müssenauf die Tagesordnung. Gerade in schwierigen Zeiten sindes am ehesten die unmittelbar Betroffenen vor Ort, diedie Notwendigkeiten für ihren Betrieb am besten kennen.Zu einer guten Mittelstandspolitik gehört auch eineBeständigkeit der Rahmenbedingungen. Dagegen ist dasam 1. Januar 2009 in Kraft getretene Bauforderungs-sicherungsgesetz ein Paradebeispiel für die Verunsiche-rung der mittelständischen Wirtschaft: Die Bundesregie-rung selbst musste in ihrer im Mai 2009 vorgelegtenNeufassung des Gesetzes einräumen, dass durch die No-vellierung vom Januar 2009 die Unternehmen in derPraxis vor Umsetzungsproblemen stünden, die „erhebli-Zu Protokollchen bürokratischen Aufwand und darüber hinaus un-vorhergesehene Liquiditätsprobleme“ verursachten. Dasich aber auch hier die Koalitionspartner nicht endgültigverständigen konnten, wurde die Reform vom Mai 2009im Juni 2009 wieder zurückgenommen. Jetzt gilt im We-sentlichen wieder das mittelstandsfeindliche Gesetz vom1. Januar 2009 – bürokratisch und praxisfremd –, dasviele Bauunternehmen im täglichen Geschäft behindert,wenn es dies nicht sogar unmöglich macht. Das Baufor-derungssicherungsgesetz muss in der nächsten Wahl-periode wieder auf die Tagesordnung.Die Liste der Ungereimtheiten zulasten der mittelstän-dischen Wirtschaft ließe sich hier noch weiter fortsetzen –als einziges weiteres Beispiel ist an dieser Stelle noch dieweiterhin geltende lebensfremde Eichpflicht für Wegstre-ckenzähler an Mietfahrzeugen zu nennen. Tachometer anmodernen Fahrzeugen arbeiten unbestritten ausreichendpräzise; deshalb wollte der Gesetzgeber die antiquierteEichpflicht im Dritten Mittelstandsentlastungsgesetz auf-heben. Dennoch verschwand diese beabsichtigte Ab-schaffung einer sinnlosen Sonderlast wieder aus dem Ge-setzentwurf, wohl weil die Bundesregierung eineGesamtreform des Eich- und Messwesens plante. Da dieaber leider nie erfolgte, müssen deshalb heute noch dieAutovermieter eine zusätzliche Belastung von rund70 Millionen Euro für das absurde Eichen von Wegstre-ckenzählern aufbringen. Auch dieses Gesetz muss gleichzu Beginn der nächsten Wahlperiode auf die Tagesord-nung.Die Marktwirtschaft ist ein lernendes System, dies giltauch für die jetzige Krise – die nicht die erste und nichtdie letzte Krise ist, die wir durchstehen. Dort, wo in unse-rem Wirtschaftssystem Fehler gemacht wurden, müssenwir die notwendigen Lehren ziehen. Dennoch ist die so-ziale Marktwirtschaft das überlegene Wirtschaftssystem,an dem wir Liberale festhalten.Damit wir auch aus dieser Krise schnell herauskom-men, muss von der Politik ein Signal ausgehen, das denmittelständischen Unternehmen wieder Zuversicht gibt.Aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, heißt nun,mit konkreten Schritten, wie sie in zahlreichen Anträgender FDP bereits formuliert und gefordert wurden, denMittelstand zu stärken.
Die Linke lehnt den vorliegenden Antrag der FDP ab.Mit ihren Vorschlägen hält die FDP weiter Kurs aufSteuer- und Abgabensenkung, auf Privatisierung und willdie Mitbestimmung abbauen.Die jetzige Politik hat uns in diese Krise gebracht. Sieist gescheitert. Sie kann deshalb keine Antwort auf dieKrise sein.Natürlich schlägt die Krise auch auf die mittelständi-sche Wirtschaft. Manchmal liest man, der Mittelstand seiwegen seiner Binnenmarktorientierung nicht so starkvon der Krise und dem Exporteinbruch betroffen. Das istin zweierlei Hinsicht falsch. Zum einen gibt es im indus-triellen Gewerbe viele mittelständische Zulieferer, derenProduktion am Export hängt und die jetzt erhebliche Pro-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25797
gegebene Reden
(C)
(D)
Sabine Zimmermannbleme haben. Zum anderen hat die Krise längst die Bin-nenwirtschaft erreicht. Auch in der Dienstleistungswirt-schaft und im Einzelhandel schrumpfen die Umsätze.Tatsache ist: Die Lage vieler mittelständischer undkleiner Unternehmen ist bedrohlich. Noch nie hat derMittelstand seine Geschäftslage so schlecht beurteilt wiein dieser Krise. Das zeigt das letzte KfW-Ifo-Mittel-standsbarometer. Und es drohen immer mehr Unterneh-menspleiten, mehr als 500 000 Arbeitsplätze sind in Ge-fahr.Kleine und mittlere Unternehmen leiden – ähnlich wiedie Großindustrie – unter zwei Grundproblemen: erstensunter schlechten Finanzierungsbedingungen, zweitensunter fehlenden Aufträgen. Im Gegensatz zur Bundesre-gierung hat die Linke auf beide Probleme klare, überzeu-gende und wirkungsvolle Antworten.Stichwort: Finanzierung.Viele Unternehmen erhalten derzeit keine Kreditemehr oder die Banken fordern horrende Zinsen. Vier vonzehn Unternehmen beklagen eine restriktive Kreditver-gabe. Jedes fünfte hat Probleme, überhaupt einen Kreditzu erhalten. Offensichtlich wirkt der Bankenrettungs-schirm ebenso wenig wie andere Maßnahmen der Regie-rung für den Finanzsektor. Die Milliarden Euro nehmendie Banken gerne, ändern aber nichts an ihrer Kreditver-gabe. Das kann nicht sein!Die Linke fordert als Sofortmaßnahme, die Großban-ken zu vergesellschaften. Nur so kann eine Kreditklemmevermieden werden. Nur so können die Banken in Staats-besitz im öffentlichen Interesse angewiesen werden, wie-der Kredite zu ordentlichen Konditionen zu vergeben.Nur so wird vielen kleinen und mittleren Unternehmengeholfen, statt dass ohne Auflagen weiteres Geld in denBankensektor gesteckt wird.Stichwort: fehlende Aufträge.Mit dem Einbruch der Konjunktur fehlen vielen mittel-ständischen Unternehmen schlicht Aufträge. Im Bau-gewerbe sind die Aufträge in den ersten vier Monatendieses Jahres gegenüber dem Vorjahr um 15 Prozent ein-gebrochen, im verarbeitenden Gewerbe der Umsatz um22 Prozent. Es muss deshalb darum gehen, die Nach-frage schnell und nachhaltig anzukurbeln. Die Bundesre-gierung hat hier zu spät, zu wenig und in die falscheRichtung gegengesteuert.Für einen Kurswechsel sind zwei Maßnahmen zentral.Zum einen: Wir brauchen ein staatliches Zukunftspro-gramm von mindestens 100 Milliarden Euro für Investi-tionen in Bildung, Gesundheit, Klimaschutz, Infrastruk-tur und Verkehr. Das bringt zwei Millionen Arbeitsplätzeund verbessert die Lebenslage vieler Menschen. DieFolge: Beim Handel, auch bei den Warenhäusern, gäbees wieder höhere Umsätze und die Arbeitsplätze wärenwieder sicherer.Zum anderen brauchen wir eine Umverteilung zuguns-ten der breiten Masse der Bevölkerung. Ein gesetzlicherMindestlohn von zehn Euro ist einzuführen, der Regelsatzbis zur Abschaffung von Hartz IV auf 500 Euro zu erhöhen.Zu ProtokollDies umzusetzen bedeutet, die Nachfrage auf demdeutschen Binnenmarkt um über 30 Milliarden Euro zuerhöhen, mit entsprechend positiver Wirkung für die vie-len kleinen und mittleren Unternehmen.Wir stehen in den nächsten Monaten vor einer Gefahr:Neben einzelnen Großunternehmen stehen Tausende mit-telständische Firmen auf der Kippe und damit Hundert-tausende Arbeitsplätze. Es darf kein „Weiter so“ geben!Die Bundesregierung sollte unsere Vorschläge ernst-haft prüfen. Nur fürchte ich, Union und SPD sind eherdamit beschäftigt, zu überlegen, wie sie trotz gegenteili-ger Versprechungen nach der Wahl die Mehrwertsteueranheben können. Das wäre nicht nur eine soziale Kata-strophe, sondern auch Gift für die Binnenwirtschaft. Einestarke Linke kann helfen, dagegen wirksam vorzugehen.
Dieser Antrag nimmt zwar vordergründig das auch fürBündnis 90/Die Grünen wichtige Anliegen auf, Wirt-schaftspolitik mittelstandsorientiert auszurichten. Aller-dings bietet die FDP hier nur einen Schaufensterantragmit seit Jahren bekannten Textbausteinen. So fehlen ge-rade für mittelständische Unternehmen besonders zen-trale Punkte. Um den Bürokratieabbau effektiv durchzu-setzen, muss der Normenkontrollrat aufgewertet werden.Bisher darf er nur Regierungsvorlagen prüfen, und auchdas nur am Anfang des Gesetzgebungsverfahrens.Wir brauchen eine mittelstandsgerechte Ausgestal-tung des Vergaberechts. Der Rechtsschutz auch bei klei-nen Aufträgen muss für die bietenden Unternehmen si-cher sein. Wir wollen ermöglichen, Unterlagen bis zumEnde des Vergabeverfahrens nachzureichen und auchFehler korrigieren zu können, statt schon am Anfang ineiner Zettelflut zu ertrinken. Wir wollen, dass sich geradekleine und mittlere Unternehmen in Präqualifizierungs-verfahren immer gleich für mehrere Vergabeverfahrenqualifizieren können.Eine engagierte Mittelstandspolitik heißt auch einebessere Förderung der Existenzgründung etwa durch Mi-krokredite. Mehr Unterstützung für Gründerinnen undGründer ist dringend notwendig. Grüne Wirtschaftspoli-tik will das Gründungsgeschehen beleben. Denn: In denletzten Jahren ist der Trend zur Existenz- und Unterneh-mensgründung rückläufig. Wir brauchen Raum für neueIdeen und Unternehmen und wollen Gründungen för-dern, nicht gängeln. Sie sind die Voraussetzung für inno-vatives Wirtschaften. Darum brauchen wir eine kleintei-lige, dezentrale und regionale Förderung, die für kleineund mittlere Unternehmen passt.Bündnis 90/Die Grünen setzen auch auf mehr Enga-gement der Unternehmen für Innovationen und wollenmit einer Steuergutschrift von 15 Prozent für alle For-schungs- und Entwicklungsausgaben kleine und mittel-ständische Unternehmen fördern. Zudem brauchen wirdie dienstleistungsorientierte Weiterentwicklung derIHKen und Handwerkskammern und eine engagierteWettbewerbspolitik, die klar gegen Oligopole zum Bei-spiel in den Bereichen Energie oder Lebensmittelhandelvorgeht.
Metadaten/Kopzeile:
25798 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25799
(C)
(D)
Kerstin AndreaeStatt in diesem Sinne ein umfassendes mittelstandspo-litisches Konzept zu bieten, greift die FDP in die Motten-kiste ihrer altbekannten Mantras wie Steuersenkung,durch die Verlagerung auf Länderebene Schwächung derErbschaftsteuer, Förderung von Lohndumping, Erschwe-rung der Gründung von Betriebsräten, Aufweichung desKündigungsschutzes, Absage an Mindestlöhne und pau-schale Gewerkschaftsschelte. Eine verantwortungsbe-wusste und durchdachte Mittelstandspolitik sieht andersaus.Der Antrag zeigt, dass die FDP mit ihrer platten De-regulierungsrhetorik nichts aus der Wirtschaftskrise ge-lernt hat und nach wie vor glaubt, dass ein unregulierterTurbokapitalismus zu mehr Arbeitsplätzen, Wirtschafts-wachstum und Mittelstandsorientierung führen würde.Und sie bleibt bei ihrem Aberglauben, dass ein Staat,dem nach einer massiven Neuverschuldung im Rahmender Konjunkturpakete die Finanzbasis entzogen wird, imSinne des Mittelstandes und einer innovativen Wirt-schaftspolitik noch handlungsfähig wäre. Das Gegenteilist der Fall. Darum lehnen wir diesen Antrag ab. Einenachhaltig wirksame und verantwortungsbewusste Mit-telstandspolitik: Dafür stehen Bündnis 90/Die Grünen,aber nicht die FDP.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/13148, den An-
trag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/12326 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion ange-
nommen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:1)
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie
– zu der Unterrichtung durch den Nationalen
Normenkontrollrat
Jahresbericht 2008 des Nationalen Normen-
kontrollrates
Bürokratieabbau – Jetzt Entscheidungen
treffen
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Bericht der Bundesregierung 2008 zur An-
wendung des Standardkosten-Modells und
zum Stand des Bürokratieabbaus
– Drucksachen 16/10039, 16/10285 Nr. 15,
16/11486, 16/13146 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Garrelt Duin
1) Zu Protokoll gegebene Redebeiträge siehe Anlage 17
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache
16/13146 zu der Unterrichtung durch den Nationalen
Normenkontrollrat „Jahresbericht 2008 des Nationalen
Normenkontrollrates. Bürokratieabbau – Jetzt Entschei-
dungen treffen“ und zu der Unterrichtung durch die Bun-
desregierung „Bericht der Bundesregierung 2008 zur
Anwendung des Standardkosten-Modells und zum Stand
des Bürokratieabbaus“. Der Ausschuss empfiehlt, in Kennt-
nis der Unterrichtungen eine Entschließung anzunehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Dr. Gregor Gysi, Dr. Gesine Lötzsch, Kersten
Naumann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Gleichberechtigte Entschädigung von Strah-
lenopfern in Ost und West schaffen – Umfas-
sendes Radaropfer-Entschädigungsgesetz ein-
führen
– Drucksachen 16/8116, 16/13662 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Brüning
Hedi Wegener
Birgit Homburger
Paul Schäfer
Winfried Nachtwei
Nach der ersten Lesung im Januar dieses Jahres be-
schäftigen wir uns heute erneut mit der sogenannten
Radarstrahlenproblematik. Ich möchte mit einem Dank
beginnen, einem Dank an den Parlamentarischen Staats-
sekretär Christian Schmidt, der in den vergangenen
Monaten zusammen mit den Berichterstattern aller Frak-
tionen, dem Deutschen Bundeswehrverband und dem
Bund der Radargeschädigten mit viel Engagement alles
darangesetzt hat, bestmögliche Lösungen für noch aus-
stehende Anliegen im Zusammenhang mit der Radarthe-
matik zu finden.
Bereits seit 2000 befassen wir uns im Deutschen Bun-
destag mit der Frage, inwieweit Soldaten durch Radarge-
räte Gesundheitsschäden erlitten haben. Eine durch den
Verteidigungsausschuss eingerichtete Expertenkommis-
sion erarbeitete hierzu einen ausführlichen Bericht. Die
in diesem Bericht erstellten großzügigen Kriterien bilden
bis heute die Grundlage für die Bearbeitung und Ent-
scheidung der Radarfälle.
Die Empfehlungen der Expertenkommission werden
eins zu eins umgesetzt, ohne dass im Einzelfall konkret
nachgewiesen werden muss, dass die jeweiligen Erkran-
kungen tatsächlich auf die konkrete Tätigkeit an Radar-
geräten zurückzuführen sind. Darüber hinaus wurde die
Interpretation der Anerkennungskriterien des Berichts
(C)
(D)
Monika Brüning
zugunsten der Betroffenen immer wieder ausgedehnt. Ich
nenne an dieser Stelle nur das Stichwort: Konkurrenzri-
siko.
Der Antrag der Fraktion Die Linke, den wir heute be-
raten, beinhaltet eine zentrale Forderung, und zwar die
Einführung eines umfassenden Radaropfer-Entschädi-
gungsgesetzes. Ein solches Vorhaben wurde bereits 2001
durch die betroffenen Ressorts umfassend geprüft. Im Er-
gebnis wurde seinerzeit von einem solchen Sondergesetz
Abstand genommen. Ein wesentlicher Grund für diese
Entscheidung ist die Tatsache, dass für die möglicher-
weise betroffenen Personen bereits Rechtsvorschriften
bestehen. Diese Vorschriften sehen Leistungen bei einer
durch dienstliche Tätigkeiten bedingten gesundheitlichen
Schädigung vor.
Erlauben Sie mir, die wesentlichen Rechtsvorschriften
kurz in Erinnerung zu holen. Für die Soldaten der Bundes-
wehr handelt es sich um Versorgungsansprüche wegen
einer – strahlenbedingten – Wehrdienstbeschädigung
nach den Bestimmungen des Soldatenversorgungsgeset-
zes, für Beamte um Regelungen des Beamtenversor-
gungsgesetzes und für Arbeitnehmer um Vorschriften der
gesetzlichen Unfallversicherung. Ehemalige Soldaten
der NVA können einen Anspruch auf Dienstbeschädi-
gungsausgleich nach dem „Gesetz über einen Ausgleich
für Dienstbeschädigungen im Beitrittsgebiet“ – das so-
genannte Dienstbeschädigungsausgleichsgesetz – gel-
tend machen.
Bei der Radarstrahlenproblematik handelt es sich um
eine sehr komplexe und sensible Thematik. Hierbei ist es
selbstverständlich, dass subjektive und emotionale Mo-
mente immer wieder mit einfließen. Es war deshalb von
Anfang an unser vorrangiges Interesse, eine bestmögli-
che Lösung für alle Betroffenen zu finden. Aber – und das
möchte ich dieser Stelle auch einmal mit Nachdruck be-
tonen – eine allumfassende Lösung kann es nicht geben.
Die Beweislage ist aufgrund fehlender Dokumentationen
und nicht mehr nachkonstruierbarer Arbeitsplatzbe-
schreibungen sehr schwierig. Darüber hinaus sind Ver-
gleiche mit ähnlichen Personengruppen aus dem zivilen
Bereich nicht möglich. Die vom Gesetzgeber getroffenen
Versorgungsregelungen sowie die Kriterien des Berichts
der Radarkommission bilden deshalb nach wie vor die
geeignete und sachgerechte Grundlage für die Bearbei-
tung, Entscheidung und Entschädigung in den Radarfäl-
len sowohl von Angehörigen der Bundeswehr als auch
der ehemaligen NVA.
Im Einigungsvertrag und im Zuge der Gesetzgebung
zur Überleitung von Ansprüchen nach dem Recht der
DDR wurde die Entscheidung getroffen, ehemalige An-
gehörige der NVA nicht in die Versorgung nach dem Sol-
datenversorgungsgesetz aufzunehmen. In Bezug auf die
in den Versorgungssystemen erworbenen Ansprüche und
Anwartschaften auf Leistungen wurde des Weiteren die
Systementscheidung getroffen, die Rentenansprüche aus
Sonderversorgungssystemen ausschließlich in nur eine
Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung zu über-
führen. Die bestehenden Unterschiede in den Versor-
gungsvorschriften ehemaliger Angehöriger der NVA im
Vergleich zu Angehörigen der Bundeswehr basieren so-
Zu Protokoll
mit auf gesetzlich gewollten Unterscheidungen! Der vor-
liegende Antrag der Fraktion Die Linke und die darin
enthaltene Forderung nach einem umfassenden Radar-
Opferentschädigungsgesetz ist deshalb abzulehnen.
Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um mich bei Ih-
nen allen für die gute Zusammenarbeit in den letzten Jah-
ren zu bedanken. Dies wird meine letzte Rede im Parla-
ment sein, denn ich werde in der 17. Legislaturperiode
nicht wieder für den Deutschen Bundestag kandidieren.
Für die zukünftigen Herausforderungen und Aufgaben
wünsche ich Ihnen viel Erfolg und persönlich alles Gute.
In den vergangenen Jahren haben wir Verteidigungs-politiker uns immer wieder mit dem Thema Radarschä-den auseinandergesetzt. Ein wesentlicher Aspekt derAngelegenheit ist, dass der Dienstherr seiner Fürsorge-pflicht in vollem Umfang gerecht wird. Das bedeutet,dass der Dienstherr dafür Sorge zu tragen hat, dass dieSoldatinnen und Soldaten, sollten sie im Dienst und inunserem Auftrag Schaden erlitten haben, versorgt sindund ihnen der entstandene Schaden ersetzt wird. Einenvollen Ersatz bei körperlichen Schäden oder garKrebserkrankungen kann es kaum geben. Umso wichti-ger ist es, die Geschädigten nicht alleinzulassen oder ih-nen gar das Gefühl zu geben, sie wären lästig.Auf Druck des Verteidigungsausschusses wurde am30. August 2002 eine unabhängige Expertenkommissioneingesetzt, die die Zusammenhänge zwischen Strahlen-einwirkungen und gesundheitlichen Gefährdungen un-tersuchen und Empfehlungen abgeben sollte, wie mit denSachverhalten umgegangen werden sollte. Ausdrücklichist der Auftrag erteilt worden, die Auswirkungen im Be-reich früherer Einrichtungen der Bundeswehr und glei-chermaßen der NVA zu untersuchen.Am 24. September 2003 billigte der Verteidigungsaus-schuss die Stellungnahme des BMVg zum Abschlussbe-richt der Radarkommission, in dem das BMVg explizitzusagte, „die Empfehlungen unter Ausschöpfen allerrechtlichen Möglichkeiten und Ermessensspielräume imPrinzip eins zu eins umzusetzen, um damit den drängen-den Anliegen der betroffenen Antragsteller bestmöglichRechnung zu tragen.“Die Kriterien für die Anerkennung von Versorgungs-ansprüchen, die die Radarkommission festgelegt hat,gelten somit für alle gleichermaßen, Ost und West, Bun-deswehr und NVA. Für eine gesetzliche Regelung zu ei-ner Gleichbehandlung, wie sie der Antrag der FraktionDie Linke fordert, besteht also keinerlei Notwendigkeit,und der Antrag ist daher abzulehnen.Gleiches gilt aus Sicht meiner Fraktion im Übrigenauch für die im Antrag genannten Probleme beim Kausa-litätsnachweis. Die Radarkommission empfiehlt einegrundsätzliche Anerkennung qualifiziert erkrankter Per-sonen, soweit sie nachweislich im vom Bericht festgeleg-ten Zeitraum an den betreffenden Radargeräten gearbei-tet haben.Als weiteres Argument für die Forderung nach einemRadaropfer-Entschädigungsgesetz wird die unterschied-
Metadaten/Kopzeile:
25800 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Hedi Wegenerliche Behandlung aufgrund unterschiedlicher Versor-gungssysteme angeführt. Grundlage dieser tatsächlichunterschiedlichen Behandlung sind jedoch die Bestim-mungen des Einigungsvertrages vom 31. August 1991.Damals wurde die Systementscheidung getroffen, dieRentenansprüche aus Sonderversorgungssystemen aus-schließlich in nur eine Rente der gesetzlichen Rentenver-sicherung zu überführen. Der Gesetzgeber hat damalsentschieden, die ehemaligen Angehörigen der NVA nichtin die Versorgung nach Soldatenversorgungsgesetz auf-zunehmen. Die Ansprüche der Soldatinnen und Soldatender ehemaligen NVA auf Entschädigungszahlungen sindalso ausschließlich nach dem übergeleiteten DDR-Rechtim Rahmen sozialversicherungsrechtlicher Abgeltung zubeurteilen. Gleiches gilt für ehemalige Wehrpflichtigeder NVA.Die SPD-Fraktion sieht keinerlei Anlass, die grund-sätzlichen Entscheidungen des Einigungsvertrages indiesem Punkt zu verändern. Eine Ungleichbehandlungder Opfer nach dem Radarbericht ist nicht gegeben, undsomit besteht auch keine Notwendigkeit für das von derLinken geforderte Gesetz.Allerdings – das betone ich an dieser Stelle ausdrück-lich – ist der Umgang seitens des BMVg mit der gesam-ten Problematik ein Lehrstück dafür, wie eine Verwaltungmit politischen Vorgaben des Parlaments umgeht undVorgaben des Ministers und der Staatssekretäre aushe-belt. Ich selbst habe mich mit der Thematik von 2002 bis2005 intensiv auseinandergesetzt. Mein Kollege RolfKramer, dem an dieser Stelle ausdrücklich Dank gebührt,hat den Kampf als Berichterstatter bis heute fortgeführt.Ohne ihn und seine Mitstreiter im Ausschuss wären wirvermutlich heute wieder bei einem Zustand wie vor demJahr 2001.Wenn ich es nicht selber miterlebt hätte, hätte ich esnicht geglaubt. Aber einige Beamte im BMVg haben kon-sequent jegliche politische Entscheidung hintertriebenund umgangen. Das BMVg hat eine Umsetzung des Ra-darberichts eins zu eins zugesagt. Das scheint aber nichtfür jeden zu gelten. Die Opfer, deren Schicksal schwergenug ist, wurden in jeder Hinsicht bei ihrem Kampf umihre rechtmäßigen Ansprüche behindert. Hat ein GerichtAkteneinsicht angeordnet, war der Schlüssel zum Akten-schrank weg. Hat der Staatssekretär eine Auslegung zu-gunsten der Betroffenen zugesagt, tauchten Fakten ausdem Nichts auf, und die Entscheidung wurde konterka-riert. Und so weiter und so weiter. So ist die Frage:Können wir es zulassen, dass seit mehr als sechs Jahrenverhindert wird, dass die Beschlüsse der gewähltenVolksvertreter umgesetzt werden?Die Beschlüsse des Parlaments und der Regierungwurden hintertrieben und umgangen. Ein gutes Beispielist erneut der Bericht des BMVg an den Verteidigungs-ausschuss. Hier wird ausgeführt, der Radarkommissions-bericht habe keinerlei Zusammenhang zwischen Radar-strahlenexposition und Krebserkrankungen der Bedienerfestgestellt. Dabei beruhen ganz im Gegenteil die Emp-fehlungen der Kommission auf genau diesem wissen-schaftlich nachgewiesenen Zusammenhang.Zu ProtokollIch sehe eine ganz wichtige Aufgabe für die nächsteLegislaturperiode für das Parlament, vor allem für dennächsten Verteidigungsminister. Es muss der Verwaltungwieder klar vor Augen geführt werden, wer legitimiertdie Entscheidungen trifft und wer sie umzusetzen hat.Entscheidungen werden nicht aus dem hohlen Bauchheraus getroffen, sondern nach Abwägung aller Argu-mente, auch derjenigen, die die Beamten eines Ministe-riums liefern. Das ist ihre Aufgabe. Ist aber die politischeEntscheidung getroffen worden, sollte es selbstverständ-lich sein, dass diese auch umgesetzt wird. Dazu sind Mit-arbeiter verpflichtet.Ich finde es gut, dass die Idee der Gründung einer Stif-tung wieder aufgenommen und erneut verfolgt werdensoll. Das war schon am Ende der letzten Legislatur-periode eine Überlegung des damit beschäftigten undsehr engagierten Parlamentarischen StaatssekretärsWalter Kolbow.Dass ich ausgerechnet meine letzte Rede im Deut-schen Bundestag zu diesem schwierigen Thema ohnegrundlegende positive Perspektiven halte, ist schade. Eszeigt aber auch, wie intensiv, lange, ausführlich und be-harrlich wir als Politiker an diesem Thema arbeiten.Dem nächsten Ausschuss wünsche ich also Mut zu un-konventionellen Entscheidungen.
Die FDP setzt sich bereits seit Anfang des Jahres 2001für eine großzügigere Entschädigung der Radarstrahlen-opfer ein. Die PDS-Fraktion als Vorgängerin der Frak-tion Die Linke hat dieses Anliegen der FDP-Bundestags-fraktion zu jener Zeit nicht mitgetragen. Das wird dieFDP-Bundestagsfraktion aber nicht davon abhalten,heute dem Antrag auf Gleichbehandlung von Radarop-fern in Ost und West bei der Entschädigung zuzustimmen.Dabei sind für die FDP zwei Gründe maßgeblich.Zum einen ist die Bundeswehr in den Jahren seit demMauerfall und der Wiedervereinigung zur Armee derEinheit zusammengewachsen. Dieses Zusammenwach-sen ist Anfang des Jahres 2008 dahin gehend vollendetworden, dass die Besoldung der Soldatinnen und Solda-ten aus den neuen Bundesländern auf das Tarifniveau ih-rer Kameradinnen und Kameraden aus den alten Bun-desländern angehoben wurde. Auch aus diesem Grundesollte bei den Radargeschädigten aus Ost und West derGedanke der Armee der Einheit angewandt werden. EineUngleichbehandlung der Radaropfer widerspricht die-sem Gedanken.Zweitens hat die Bundesregierung den Radaropfernder Bundeswehr eine großherzige und unbürokratischeUnterstützung zugesichert. Darüber hinaus hat sie zuge-sichert, dass die Empfehlungen der Radarkommission,die im Jahr 2003 dem Verteidigungsausschuss vorgelegtwurden, eins zu eins umgesetzt würden.Es ist bekannt, dass die Praxis des Bundesministe-riums der Verteidigung in der Anerkennung von Radar-fällen ehemaliger Soldaten und Angestellter der Bundes-wehr zu großem Unmut bei den Betroffenen und ihrenAngehörigen führt. Nach Auskunft der Bundesregierung
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25801
gegebene Reden
(C)
(D)
Birgit Homburgeran den Deutschen Bundestag wurden rund 36 Prozentder Anträge aus dem Bereich der ehemaligen NVA ge-stellt. Während die Anerkennungsquote bei allen ent-schiedenen Anträgen 14,2 Prozent betrug, lag sie bei denAnträgen aus dem Bereich der ehemaligen NVA lediglichbei 6,6 Prozent. Ein Grund für diese große Diskrepanz inder Anerkennung ist nicht ersichtlich. Vielmehr lassendiese Zahlen Fragezeichen aufkommen, inwiefern sichdie Bundesregierung an ihre eigenen Zusicherungenhält, Radaropfer großherzig und unbürokratisch zu un-terstützen. Es ist deshalb verständlich, wenn sich die inder NVA von Radarstrahlen Geschädigten als Opferzweiter Klasse fühlen. Das muss sich ändern.Gefragt ist folglich eine zügige politische Lösung, dieim Sinne der Ankündigungen des Bundesministeriumsder Verteidigung den Geschädigten hilft und sie nichtweiter allein lässt.
Ein wenig mehr Gerechtigkeit – um nicht mehr und
nicht weniger geht es in unserem Antrag zur Einführung
eines umfassenden Radaropfer-Entschädigungsgesetzes.
Der Umgang der Bundesregierung und vor allem des
Verteidigungsministeriums mit den Strahlenopfern in Ost
und West spricht Bände darüber, wie weit es wirklich her
ist mit der deutschen Einheit und der Fürsorge gegen-
über dem eigenen Personal. Das Aktivvermögen der NVA
wurde gerne übernommen. Die NVA-Waffen eigneten
sich zur Pflege der Beziehungen mit anderen Staaten und
wurden zum Beispiel nach Indonesien exportiert.
Anders bei dem NVA-Personal. Hier wurde von An-
fang an darauf geachtet, dass sie nicht die gleichen Ver-
sorgungs- und Soldansprüche wie das Bundeswehrperso-
nal erhielten. Man muss sich das einmal vorstellen: Erst
18 Jahre nach dem Mauerfall und erst auf Druck der
Oppositionsparteien wurde die Angleichung des Soldes
im Osten an den Westen vereinbart. Da ging es um
„Peanuts“ im Vergleich zu den gigantischen Beschaf-
fungsvorhaben, die in schöner Regelmäßigkeit von den
Regierungsparteien durchgewinkt werden.
Die Radargeräte der NVA und der Bundeswehr waren
insbesondere in den 60er- und 70er-Jahren hochgefähr-
lich für das Bedienungspersonal. Sie wurden ohne aus-
reichenden Schutz einem enormen Risiko ausgesetzt, was
bei vielen zu schweren Erkrankungen und zum Tod ge-
führt hat. Sowohl die Betroffenen als auch die Angehöri-
gen sind davon ausgegangen, dass der Staat hier seiner
Fürsorgepflicht nachkommt.
Ein Trugschluss, wie sich zeigt. Von den etwa 3 750
bekannt gewordenen und beantragten Entschädigungsre-
gelungen wurden nur etwas mehr als 700 im Sinne der
Antragsteller entschieden. Und selbst das hält das Vertei-
digungsministerium bis heute für eine äußerst kulante
Auslegung der Bestimmungen. Ihrer Lesart nach wäre
die Regierung gesetzlich zu weitaus weniger verpflichtet.
Dies gilt insbesondere für die Strahlenopfer der NVA.
Die Bundesregierung hat selber erklärt, dass die unter-
schiedliche Behandlung von ehemaligen NVA- und Bun-
deswehrsoldaten vom Gesetzgeber so gewollt sei. Erhält
ehemaliges NVA-Personal eine Unfallrente, wird dies im
Zu Protokoll
Unterschied zur Bundeswehr auf die Altersrente ange-
rechnet. Bei den NVA-Strahlenopfern wurden fast
20 Prozent der Anträge ehemaliger Angehöriger und Be-
schäftigter der NVA bzw. von deren Hinterbliebenen auf-
grund fehlender Rechtsgrundlage abgelehnt. Sowohl der
Petitionsausschuss als auch der Wehrbeauftragte haben
sich in der Vergangenheit dafür ausgesprochen, diese
Ungleichbehandlung endlich zu beenden.
De facto hat sich seit dem Abschlussbericht der Ra-
darkommission 2003 seitens des Verteidigungsministe-
riums nichts bewegt. Die Interessenvertretungen der Ra-
daropfer in Ost und West müssen mühsam von Instanz zu
Instanz klagen. Aus den Gesprächen der Betroffenen geht
klar hervor, dass das Verteidigungsministerium und des-
sen Sachverständige – um es diplomatisch auszudrücken –
nicht immer hilfreich sind. Sie reizen alle verfügbaren
Rechtsmittel aus, legen Gutachten vor, von denen sie wis-
sen, dass diese wissenschaftlich anfechtbar sind, oder er-
schweren die Einsichtnahme in die Akten. Es ist ein zyni-
sches Spiel auf Zeit, und es drängt sich der Verdacht auf,
dass es vor allem darum geht, die früheren Versäumnisse
der Verwaltung zum Schutz der Soldaten zu vertuschen
und natürlich Geld zu sparen.
Deswegen halten wir es für absolut notwendig, die
Bundesregierung endlich dazu zu zwingen, ein Radarop-
fer-Entschädigungsgesetz vorzulegen. Sowohl die Un-
gleichbehandlung muss eine Ende haben als auch der
allgemeine Umgang des Verteidigungsministeriums mit
den Radarstrahlengeschädigten beider Streitkräfte.
Seit 2001 ist im Verteidigungsministerium bekannt,dass Soldaten der Bundeswehr und der ehemaligen NVAan Radargeräten gearbeitet hatten, die lebensgefährlicheStrahlen aussendeten, an denen viele teilweise schweroder auch tödlich erkrankten. Gegenüber Soldaten undehemaligen Soldaten, die entweder zu Zeiten des Ost-West-Konflikts ohne eigenes Wissen oder auch heute inden Auslandseinsätzen ihre Gesundheit und ihr Lebenriskieren, hat der ehemalige Dienstherr eine Fürsorge-pflicht, stehen Politik und Parlament in einer besonderenVerantwortung, dem berechtigten Anspruch auf Entschä-digung und Versorgung aller betroffenen Soldaten undihrer Hinterbliebenen rasch und vollständig nachzukom-men. Das ist eine Vertrauensfrage von Soldaten und Sol-datinnen gegenüber der Bundeswehr, der Politik und denParlamentariern.Mit der 2002 auf Empfehlung des Verteidigungsaus-schusses eingesetzten unabhängigen Expertenkommis-sion hatte sich die damalige Bundesregierung grund-sätzlich auf den richtigen Weg gemacht. In ihremAbschlussbericht formulierte die Kommission großzü-gige Kriterien für die Anerkennung auf Entschädigungs-und Versorgungsleistungen für radarstrahlenerkrankteehemalige Soldaten der Bundeswehr und der NVA. Auchder damalige Verteidigungsminister Scharping hatte eine„streitfreie und großherzige Lösung“ angekündigt. DasVerteidigungsministerium sicherte zu, die Empfehlungender Kommission eins zu eins umzusetzen. Mittlerweilekann von einer großzügigen und unbürokratischen Lö-
Metadaten/Kopzeile:
25802 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25803
(C)
(D)
Winfried Nachtweisung für betroffene Soldaten sowie deren Angehörige undHinterbliebene aber wohl keine Rede mehr sein. Die An-erkennungszahlen lassen zumindest Zweifel an einerEins-zu-eins-Umsetzung aufkommen. Von den 3 700 Ver-sorgungsanträgen wurden 720 zugunsten geschädigterSoldaten beschieden. Das ist gerade einmal jeder Fünfte.Demgegenüber wurden 2 700 Anträge abgelehnt. Etwa250 Anträge sind noch offen. Sie befinden sich meist imKlage- oder Widerspruchsverfahren. Angesichts des lan-gen Weges zur Anerkennung auf Wehrdienstbeschädi-gung und des oft zermürbenden juristischen Dauerstreitsum Versorgungsleistungen sind der Frust und das Unver-ständnis vieler radargeschädigter Soldaten und ihrerHinterbliebenen nur allzu verständlich. Im Dialog mitden Betroffenen muss eine politische Lösung gefundenwerden. Die Frage einer Stiftungslösung halte ich daherauch noch nicht für abschließend beantwortet. Eine Stif-tungs- oder Fondslösung wäre aber auch aus einem wei-teren und, wie ich meine, nicht weniger bedeutendem Ar-gument zu überlegen. In eine Fonds- bzw. Stiftungslösungkönnten auch alle diejenigen im Auslandseinsatz geschä-digten Soldaten und Soldatinnen einbezogen werden, beidenen eine Versorgung nicht bzw. nicht angemessen mög-lich ist. Angesichts der derzeitigen und absehbaren Ent-wicklungen von Auslandseinsätzen müssen wir hier künf-tig viel mehr tun.Von Anfang an haben wir Grünen uns dafür einge-setzt, dass die Empfehlungen der Radarkommission ohneWenn und Aber umgesetzt werden. Dort wird eine versor-gungsrechtliche Gleichstellung für Strahlenopfer derBundeswehr und der NVA sowie deren Hinterbliebenegefordert. Aufgrund unterschiedlicher Rechtsgrundlagengeschieht dies bislang aber nicht. Für viele Betroffene istdas nicht nachvollziehbar. Während Radargeschädigteder Bundeswehr Leistungen nach Soldaten- und Bundes-versorgungsgesetz erhalten, bekommen ehemalige NVA-Soldaten Leistungen aus der Unfallrente. Anders als fürHinterbliebene von radargeschädigten ehemaligen Bun-deswehrangehörigen gibt es zudem für Hinterbliebenevon betroffenen NVA-Soldaten keine eigene Zusatzver-sorgung. Damit wird der Gleichheitsgrundsatz desGrundgesetzes zulasten der Hinterbliebenen ehemaligerNVA-Soldaten untergraben. Die bisherigen Rechtsgrund-lagen reichen ganz offensichtlich nicht aus. Wir Grünenwerden deshalb dem Antrag der Fraktion Die Linke fürein umfassendes Radaropfer-Entschädigungsgesetz zu-stimmen. Allerdings – und das will ich an dieser Stelleauch ganz klar sagen – fallen auf den Antrag der Frak-tion Die Linke dunkle Schatten. In der Begründung ihresAntrags fordert die Fraktion Die Linke, dass die Bundes-regierung sich ihrer Verantwortung stellen müsse undnicht nur die Aktiva, sondern auch die Passiva der NVAübernehmen müsse. Was die Fraktion Die Linke dabeiverschweigt: Angesichts der Tatsache, dass die ParteiDie Linke in großen Teilen Nachfolgepartei der SED ist,muss auch sie sich ihrer Verantwortung für radargeschä-digte Soldaten der NVA und deren Hinterbliebene stellen.Das aber wird mit keinem Wort erwähnt. Schließlich– und das muss ebenso deutlich gesagt werden – machtsich die Fraktion Die Linke völlig unglaubwürdig, wennsie sich nicht im selben Maße auch für die Rehabilitationund Entschädigung für die Opfer des SED-Regimes undderen Hinterbliebene einsetzt. Auf diesem Auge aberscheint die Fraktion Die Linke blind zu sein. Für unsGrüne gilt: Vorrang haben Geschädigte und deren Hin-terbliebene. Wir wollen, dass radargeschädigte Soldatenin Ost und West gleichberechtigt entschädigt werden. Ausdiesem und nur aus diesem Grund stimmen wir dem An-trag der Fraktion Die Linke zu.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Verteidigungs-ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 16/13662, den Antrag der Fraktion DieLinke auf Drucksache 16/8116 abzulehnen. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegendie Stimmen der Oppositionsfraktionen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 c auf:a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Rechtevon Verletzten und Zeugen im Strafverfahren
– Drucksache 16/12098 –– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Stärkung der Rechte von Verletzten und
– Drucksache 16/12812 –– Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver-besserung des Schutzes der Opfer vonZwangsheirat und schwerem „Stalking“– Drucksache 16/9448 –– Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-kung des Opferschutzes im Strafprozess– Drucksache 16/7617 –Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 16/13671 –Berichterstattung:
Dr. Matthias MierschJoachim StünkerJörg van EssenWolfgang NeškovićJerzy Montagb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichtsdes Rechtsausschusses zu dem Antragder Abgeordneten Jörg van Essen, Sabine Leutheusser-
Metadaten/Kopzeile:
25804 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Schnarrenberger, Mechthild Dyckmans, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP
Opferinteressen ernst nehmen – Opferschutz
stärken
– Drucksachen 16/7004, 16/13671 –
Berichterstattung:
Dr. Matthias Miersch
Joachim Stünker
Jörg van Essen
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
c) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordne-
ten Sibylle Laurischk, Irmingard Schewe-Gerigk,
Dr. Konrad Schily und weiteren Abgeordneten ein-
gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Ände-
rung des Strafgesetzbuches – Strafbarkeit der
Genitalverstümmelung
– Drucksache 16/12910 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses
– Drucksache 16/13667 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Christine Lambrecht
Jörg van Essen
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
Zu dem Gesetzentwurf der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Irmingard Schewe-Gerigk, Dr. Konrad Schily
und weiterer Abgeordneter liegt ein Entschließungsan-
trag der Fraktion Die Linke vor.
Mein Kollege Siegfried Kauder hat bereits das heutezur Abstimmung stehende 2. Opferrechtsreformgesetzumfassend erläutert. Ich möchte mich daher hier auf denAspekt der Genitalverstümmelung beschränken. Die Ko-alition hat sich dieser Problematik bereits im vergange-nen Jahr angenommen und den Antrag „Wirksame Be-kämpfung der Genitalverstümmelung von Mädchen undFrauen“ mit einem 20-Punkte-Plan verabschiedet. Da-rin werden eine Reihe von Maßnahmen genannt, die ausunserer Sicht erforderlich sind, um Mädchen und Frauenwirksamer vor Genitalverstümmelungen zu schützen.Unter gesetzgeberischen Gesichtspunkten haben wirdamals die Bundesregierung aufgefordert, für die Sicher-stellung der Verlängerung der Verjährungsvorschriftenfür die Opfer zu sorgen, die zum Tatzeitpunkt noch nichtvolljährig waren. Diese sollen noch nach dem Erreichender Volljährigkeit die Möglichkeit haben, selbst Anzeigezu erstatten. Denn nach dem bisherigen Recht ist es so,dass die Verjährungsfrist bei einer Genitalverstümme-lung, die den Straftatbestand einer gefährlichen oderschweren Körperverletzung erfüllt, maximal zehn Jahrebeträgt und bereits mit der Beendigung der Tat beginnt. Istdas Opfer also jünger als acht Jahre, läuft die Verjährungs-frist ab, bevor das Opfer volljährig ist. Dies darf nichtsein. Auf Drängen der Union enthält der vorliegendeEntwurf nun eine Änderung, die diese Vorgabe eins zueins umsetzt: § 225 StGB, also die Misshandlung vonSchutzbefohlenen, soll in die Ruhensregelung des § 78Abs. 1 Nr. 1 StGB einbezogen werden. Die Verjährungruht damit bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres desOpfers, wenn die Genitalverstümmelung zugleich denStraftatbestand der Misshandlung von Schutzbefohlenenerfüllt. Darüber hinaus werden aber auch die gefährlicheund die schwere Körperverletzung einbezogen, soweitdiese Tatbestände durch dieselbe Tat verwirklicht wer-den, durch die § 225 StGB erfüllt wird. Das bedeutetalso, dass auch die Verjährung der gefährlichen undschweren Körperverletzung dann ruht, wenn zumindestein an der Tat Beteiligter bzw. eine Beteiligte zugleichden Tatbestand der Misshandlung von Schutzbefohlenenerfüllt. Dies dürfte so gut wie immer der Fall sein; dennin der Praxis erfolgt die Genitalverstümmelung meist mitWissen und unter Duldung eines Elternteils. Obwohl dieEltern nicht selbst unmittelbar an der Körperverletzungmitwirken, machen sie sich damit zumindest einer Miss-handlung von Schutzbefohlenen strafbar.Mit dieser nun vereinbarten Änderung von § 78 StGBhat sich der heute ebenfalls zur Abstimmung stehendeEntwurf der Kolleginnen und Kollegen Laurischk,Schewe-Gerigk und Schily erledigt. Ich hatte bereits inder ersten Beratung hierzu ausgeführt, dass wir eine ex-plizite Aufnahme der weiblichen Genitalverstümmelungin den Katalog der schweren Körperverletzung wegender damit immer verbundenen erhöhten Mindeststrafeals problematisch erachten. Unsere Lösung bietet hierden entscheidenden Vorteil, dass wir die Verjährungsvor-schriften unter Einbeziehung der gefährlichen undschweren Körperverletzungsdelikte anpassen, ohne selbstdiese Tatbestände ändern zu müssen. Damit werden wirden Bedenken der Experten und auch Betroffenen ge-recht, die uns darauf hingewiesen haben, dass eine solcheStrafverschärfung unter Umständen aus Sicht der Opfersogar kontraproduktiv wirkt. Eine Mindestfreiheitsstrafevon drei Jahren und die damit zwingend einhergehendeAusweisung der Familienangehörigen könnte nämlich invielen Fällen die Opfer von einer Anzeige abhalten. Dieswollen wir aber gerade nicht. Wir sind daher zu dem Er-gebnis gekommen, die Straftatbestände nicht zu verän-dern.Im Übrigen möchte ich noch einmal darauf hinweisen,dass die Genitalverstümmelung immer auch zumindestden Straftatbestand der gefährlichen Körperverletzungerfüllt. Den Gerichten steht somit der gleiche Strafrah-men mit einer Höchststrafe von zehn Jahren zur Verfü-gung. Das gibt den Strafverfolgungsbehörden ein flexi-bles Instrument an die Hand, um auf die Tatenangemessen zu reagieren. Bei diesen sensiblen, im Nah-bereich der Familie stattfinden Verletzungen ist dies einwichtiger Vorteil, den der Entwurf der Kolleginnen undKollegen aus der Opposition leider nicht bietet.Die darüber hinaus geforderte Ergänzung der Vor-schriften zur Auslandsstrafbarkeit lehnen wir ebenso ab.Man muss hier ganz klar sagen: So wünschenswert auch
(C)
(D)
Ute Granoldeine Verfolgung sein mag, die geforderte Erweiterungwäre faktisch lediglich symbolischer Natur, da den deut-schen Strafermittlungsbehörden die Ressourcen fehlen,um diese Straftaten im Ausland zu verfolgen. Eine ent-sprechende Gesetzesänderung würde die Glaubwürdig-keit des deutschen Strafrechts infrage stellen, wenn vonvornherein feststeht, dass eine Strafverfolgung aus prak-tischen Gründen nicht realistisch ist. Aus diesen Grün-den lehnen wir den Gesetzentwurf ab.Jetzt kommt es darauf an, die erforderlichen Maßnah-men jenseits der Gesetzgebung weiter zu forcieren. Nurwenn uns dies gelingt, können wir die Mädchen und jungenFrauen wirksam vor diesen schrecklichen Verletzungenund Verstümmelungen schützen. Die Koalition hat mitihrem 20-Punkte-Plan bereits einen wichtigen Schritt ge-tan. Die weitere Umsetzung verlangt nun von uns allengemeinsame Anstrengungen.Siegfried Kauder (CDU/CSU):Die am 1. Februar 1877 verkündete Strafprozessord-nung – StPO – sah eine aktive Teilhabe des Individualop-fers am Strafverfahren nicht vor. Der Strafprozess warrein täterorientiert, und das blieb lange so. Ich kann michnoch an Zeiten erinnern, als selbst kindliche Opferzeu-gen in ihrer tatbedingten Betroffenheit auf Gerichtsflurenals persönliche Beweismittel „vorgehalten“ wurden. Esist im Wesentlichen Opferschutzorganisationen zu ver-danken, dass die Rechtspolitik begann, verstärkt den Fo-kus auf die Bedürfnisse der Opfer zu richten. Immer wie-der und beharrlich forderte insbesondere der Weiße Ringeine bessere Beteiligung des Opfers am Strafverfahrenein.Die Diskussion um das am 18. Dezember 1986 ver-kündete Opferschutzgesetz wurde begleitet von enga-gierten Einwendungen der Strafverteidiger, die wieSchünemann in der NStZ 86/193 mit der „Stunde des Op-fers“ die Beschuldigtenrechte in Gefahr sahen. AuchRichter und Staatsanwälte zeigten Skepsis unter demBlickwinkel der Verfahrensökonomie. Daran, dass es imStrafverfahren in erster Linie um die Schuld oder Un-schuld des Beschuldigten geht, hat sich nichts geändert,und es darf sich daran auch nichts ändern. Gerade dasOpferschutzgesetz aus dem Jahr 1986 hat gezeigt, dassdie Berücksichtigung von Opferrechten nicht zu einemParadigmenwechsel geführt hat. Die Zeiten aber, dassTatopfer, zum zweiten Mal traumatisiert den Gerichts-saal verlassen, sind zum Glück vorbei und dies, ohnedass Beschuldigtenrechte über Gebühr tangiert wurdenund der Wahrheitsfindung Schaden zugeführt wordenwäre.Eine weitere Stärkung der Opferrechte brachte dasOpferrechtsreformgesetz aus dem Jahr 2004, insbeson-dere im Bereich der Schadenswiedergutmachung. Straf-gerichte müssen seither über Schmerzensgeldansprüchedes Opfers im Strafverfahren entscheiden.„Sicherheit schaffen – Opfer schützen“ lautet inso-weit die Devise der Großen Koalition. In konsequenterUmsetzung dieser Maxime hat die Große Koalition imJahr 2006 das 2. Justizmodernisierungsgesetz, mit wel-Zu Protokollchem bei Sexualdelikten und Verbrechen die Nebenklageauch im Jugendstrafverfahren zugelassen wurde, verab-schiedet. Vor wenigen Wochen wurde das Recht der Op-ferentschädigung reformiert und der Rechtsanspruch desOpfers auf staatliche Entschädigung auch bei Straftatenim Ausland kodifiziert.Abgerundet wird dieses Bild nun mit dem 2. Opfer-rechtsreformgesetz, das, auf Initiativen der Länder beru-hend, langjährige strafrechtspolitische Forderungen desWeißen Rings aufgegriffen hat. Der Katalog der neben-klagefähigen Delikte wird um die Zwangsheirat – § 240Abs. 4 StGB –, das schwere Stalking – § 238 Abs. 3 StGB –,den Wohnungseinbruch – § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB –,Raub- und Erpressungsdelikte – §§ 249 bis 255 StGB –und den räuberischen Angriff auf Kraftfahrer – § 316 aStGB – erweitert. Dabei hat sich der Gesetzgeber für einabgestuftes Zulassungstableau entschieden. Beim Groß-teil der Straftaten hat das Opfer einen Anspruch auf Zu-lassung der Nebenklage; § 395 Abs. 1 StPO. Bei einemkleineren Teil müssen besondere Gründe, zum Beispieldie schweren Folgen der Tat, eine Interessenwahrneh-mung bedingen; § 395 Abs. 3 StPO. Gerade weil bei deran zweiter Stelle genannten Gruppe dem Gericht ein Er-messen zugebilligt wird, hätte ich mir gewünscht, dassdem Opfer gegen eine ablehnende Entscheidung einRechtsmittel eingeräumt wird. Dies ist nach § 396 Abs. 2Satz 2 StPO nicht der Fall. Erfahrungsgemäß führenaber nicht rechtsmittelfähige Opferrechte zu einem laxenUmgang durch die Gerichte. Der Gesetzentwurf weitet ineinem dreistufigen Zulassungstableau auch die Möglich-keiten, dem Opfer einer Straftat einen Opferanwalt aufStaatskosten beizuordnen, aus. Im ersten Rang sind esbesonders gravierende Straftaten, die einen Anspruchauf einen Opferanwalt auf Staatskosten eröffnen. Imzweiten Rang setzt eine Zulassung schwere körperlicheoder seelische Schäden des Opfers voraus, und im drittenRang wird sichergestellt, dass Verletzte, die bei Antrag-stellung das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben,auch bei Sexualvergehen einen Opferanwalt bekommen.In der Diskussion um die Verabschiedung des 2. Op-ferrechtsreformgesetzes wurde die ersatzlose Streichungder Beleidigung – § 185 StGB – und der einfachen Kör-perverletzung – § 223 StGB – aus dem Katalog der ne-benklagefähigen Delikte thematisiert. Letztlich kam aberdie Große Koalition zu dem übereinstimmenden Ergeb-nis, dass dem Opfer auch Sachverhalte, die strafrechtlichdie Voraussetzungen eines Stalkings – § 238 StGB – nichterfüllen, als Beleidigung eine Intensität erlangen kön-nen, die eine Beteiligung des Opfers am Strafverfahrengeboten erscheinen lassen. Dies gilt auch für Körperver-letzungsdelikte. Das 2. Opferrechtsreformgesetz sollteeben nicht zu einer Einschränkung bestehender Opfer-rechte führen. Dies wäre eine schlechte Botschaft gewe-sen.Der Gesetzentwurf stärkt weiterhin Informations-,Schutz- und Teilhaberechte des Opfers. So sieht § 58 aStPO nunmehr vor, dass die Vernehmung eines Zeugenbis zum 18. Lebensjahr – bisher 16 Jahre – auf Bild-Ton-Träger aufgezeichnet wird, um diesen Opferzeugen eineVernehmung in der Hauptverhandlung zu ersparen. Daswird aber nichts daran ändern, dass sich Gerichte mit
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25805
gegebene Reden
(C)
(D)
Siegfried Kauder
der Umsetzung der Vorschriften zur Videovernehmungnach § 58 a, § 255 a Abs. 2 StPO und der audiovisuellenVernehmung in der Hauptverhandlung – § 247 a StPO –schwertun. Langfristig wird deshalb zu überlegen sein,ob insoweit das richterliche Ermessen nicht mit zwingen-deren Vorgaben eingeschränkt werden muss.Unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bun-desverfassungsgerichts vom 9. Oktober 2007 zu § 406 hStPO wird auch darüber nachzudenken sein, ob nicht diereversible Ausgestaltung der Opferrechte eine bessereAkzeptanz und Berücksichtigung dieser Vorschriften her-beiführt. Der Staat darf sich nämlich nicht damit begnü-gen, dass opferschützende Vorschriften in Gesetzen ihrenNiederschlag finden. Er muss auch dafür sorgen, dass sieangewendet werden.Es ist begrüßenswert, dass die FDP-Bundestagsfrak-tion mit einem eigenen Antrag das Gesetzgebungsvor-haben der Großen Koalition begleitet und damit doku-mentiert, dass der Opferschutzgedanke auch bei ihrangekommen ist. Die FDP rennt damit aber offene Türenein. Der Antrag geht im Wesentlichen auf Opferbelangeein, die in unserem Gesetzentwurf bereits ihren Nieder-schlag gefunden haben. Wir können der FDP nur eineRücknahme des eigenen Antrags und Zustimmung zumEntwurf des 2. Opferrechtsreformgesetzes anraten.Im Interesse von Tatopfern wünsche ich mir eine breiteZustimmung zu diesem Gesetzentwurf. Es wäre aber einnoch besseres Signal, wenn dieses Gesetz nicht nur breiteZustimmung fände, sondern im Deutschen Bundestageinstimmig verabschiedet würde.
Mit dem vorliegenden Gesetz für ein 2. Opferrechtsre-formgesetz verabschiedet der Deutsche Bundestag einweiteres Gesetz, das das Strafverfahren modifiziert. Esknüpft an die Verbesserungen für Opfer in Strafverfahrenan, die bereits unter rot-grüner Bundesregierung vor al-lem durch das Opferrechtsreformgesetz vom 1. Septem-ber 2004 erreicht wurden.Das Gesetz ist in der Anhörung von allen Sachver-ständigen grundsätzlich begrüßt worden. Gleichzeitig istdarauf hingewiesen worden, dass die Stärkung der Op-fer- und Zeugenrechte im Strafverfahren stets die Stel-lung und die Rechte des Beschuldigten bzw. des Ange-klagten im Blick haben müsse. Hier dürfe es nicht zueiner einseitigen Verlagerung kommen. Ich möchte des-halb bereits an dieser Stelle ausdrücklich an die Bundes-länder appellieren: Wir haben hier vor einigen Wochendeutliche Verbesserungen im Untersuchungshaftrechtmit großer Mehrheit beschlossen. Wir haben zum Bei-spiel in großem Einvernehmen die frühzeitige Beiord-nung eines Verteidigers und gleichzeitig die Verständi-gung im Strafverfahren geregelt. Gerade die frühzeitigeBeiordnung eines Verteidigers – das zeigen zahlreichewissenschaftliche Studien – führt zu einer deutlichen Re-duzierung der Untersuchungshaft und bringt damitgleichzeitig für die Bundesländer trotz Mehraufwendun-gen bei den Vergütungen der Verteidiger eine unter demStrich deutliche finanzielle Entlastung. Nunmehr deutetsich an, dass der Bundesrat bei diesen Gesetzen den Ver-Zu Protokollmittlungsausschuss anrufen möchte, was angesichts derbevorstehenden Bundestagswahl dazu führen könnte,dass diese zentralen Gesetze, die an sich nicht zustim-mungspflichtig sind, der Diskontinuität zum Opfer fallen.Gerade weil wir hier jetzt den Opferschutz stärken,müssen wir in unseren Parteien dafür werben, dass auchdie Gesetze, die vor allem die Stellung des Beschuldigtenund Angeklagten betreffen, Wirklichkeit werden. Ich bittealle Kolleginnen und Kollegen, in den kommenden Tagenin den Landesregierungen dafür zu werben. Vielleichthilft der Hinweis, dass wir hier im vorliegenden Gesetznun auch wichtige Forderungen des Bundesrates mit be-rücksichtigt haben.Das vorliegende Gesetz bringt den Ausbau der Rechtedes Opfers und des Zeugen im Strafverfahren. Exempla-risch will ich nennen:Künftig können beispielsweise Opfer von sexuellerNötigung, Raub oder Zwangsheirat als Nebenkläger auf-treten.Wir vergrößern den Kreis derjenigen, die – unabhän-gig von ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit – einen Op-feranwalt auf Staatskosten beanspruchen dürfen. Geradedadurch sichern wir einerseits die konsequente Interes-senswahrnehmung, andererseits schaffen wir aber aucheine gute Grundlage, durch die professionelle Begleitungder potenziellen Täter- und Opferseite besser zu konflikt-schlichtenden Verabredungen zum Beispiel im Rahmendes Täter-Opfer-Ausgleichs zu gelangen.Wir setzen zudem die Altersgrenze für Aussagen min-derjähriger Opfer und Zeugen vor Gericht von derzeit16 Jahren auf 18 Jahre herauf. Mit der neuen Schutzal-tersgrenze werden künftig 17-Jährige von den speziellendie Jugend schützenden Vorschriften erfasst.Ferner haben wir die Beiordnung eines Rechtsanwaltsals Zeugenbeistand besonders schutzbedürftiger Zeugenvereinfacht. Gleichzeitig haben wir die Rechte von Zeu-gen bei der polizeilichen Vernehmung eindeutiger be-stimmt: Neu ist, dass Zeugen in bestimmten Fällen ihrenWohnort nicht angeben müssen. Diese Angabe muss auchnicht mehr in die Anklageschrift aufgenommen werden.Klargestellt haben wir überdies, dass Verletzte, die ineinem anderen EU-Mitgliedstaat Opfer einer Straftat ge-worden sind, diese Tat in Deutschland anzeigen können.Diese Beispiele verdeutlichen, dass wir eine klare Ver-besserung der Opfer- und Zeugenrechte erreicht haben,wie es auch durch die Sachverständigen in der Anhörunggewürdigt worden ist.Ich möchte schließlich darauf hinweisen, dass wir dasGesetz zum Anlass genommen haben, auch die Situationvon Opfern einer Genitalverstümmelung zu verbessern.Dazu haben wir die strafrechtliche Verjährungsfrist fürBetroffene verlängert, die zum Tatzeitpunkt noch nichtvolljährig waren. Damit haben minderjährige Mädchennoch nach Erreichen der Volljährigkeit die Möglichkeit,selbst Anzeige zu erstatten. Auch dieser Schritt stellt einedeutliche, aber unstreitig auch notwendige Verbesserungvon Opfern entsprechender Straftaten dar.
Metadaten/Kopzeile:
25806 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Matthias MierschNun zu einem anderen Bereich. Ich will nicht ver-schweigen, dass wir lange diskutiert haben, inwieweit beiVerstößen gegen gewerbliche Schutzrechte die Nebenkla-gebefugnis gemäß § 395 StPO beibehalten werden sollte.Wir belassen es nunmehr beim Status quo, erhöhen je-doch die Voraussetzungsschwelle bei den Beleidigungs-delikten durch die Verschiebung in den Absatz drei.Wir werden uns künftig nicht zuletzt aufgrund der Dis-kussion der Rechteinhaber gewerblicher Schutzrechteauf der Ebene der Europäischen Union auch im Deut-schen Bundestag mit der Frage beschäftigen müssen, obder Bereich der gewerblichen Schutzrechte nicht primärAngelegenheit des Zivilrechts sein muss. Die Überlastun-gen einiger Staatsanwaltschaften mit entsprechendenVerfahren zeigen, dass die Behörden an ihre Grenzen sto-ßen. Auf der anderen Seite sind die berechtigten Interes-sen der Rechteinhaber selbstverständlich zu berücksich-tigen. Ich meine, wir sollten die Entwicklung imStrafrecht bzw. im Strafverfahren auch durch die Beibe-haltung der Nebenklagebefugnis aufmerksam beobach-ten.Abschließend möchte ich noch zu einem Punkt kom-men, der ebenfalls künftig näher beleuchtet werdensollte: In § 58 a Abs. 1 Satz 2 Strafprozessordnung istnunmehr die Aufzeichnung einer Zeugenaussage aufBild-Ton-Träger bei Personen unter 18 Jahren unter be-stimmten Voraussetzungen mit einer Soll-Vorschrift ver-sehen. Damit sollen zum Beispiel mehrmalige belastendeAussagesituationen vermieden werden. Auch in derSachverständigenanhörung haben wir erörtert, dass voneiner entsprechenden Regelung und der damit verbunde-nen authentischen Dokumentation der Strafprozessgrundsätzlich profitieren kann. Es ist insoweit unter an-derem vom Deutschen Anwaltsverein vorgeschlagenworden, diese Form der Dokumentation über den Ent-wurf hinausgehend grundsätzlich – oder zumindest inweiteren, bestimmten Fallkonstellationen – obligatorischvorzusehen. Allerdings sind von den Praktikern bei einerzu breiten Einführung Umsetzungsprobleme befürchtetworden, sodass ich froh bin, dass das Bundesjustizminis-terium in den Beratungen zugesichert hat, in bestimmtenLandgerichtsbezirken im Rahmen von Kapitaldeliktenentsprechende Pilotprojekte durchführen zu wollen. Dasist ein wichtiger und positiver Schritt, um später aufGrundlage der gewonnenen Erkenntnisse über die wei-tere Modifikation des § 58 a nachdenken zu können.Zusammenfassend kann man feststellen, dass mit demvorliegenden Gesetz das deutsche Strafverfahrensrechtweiter verbessert wird. Im Zusammenspiel mit dengleichzeitigen Verbesserungen im Bereich der Rechte desBeschuldigten bzw. des Angeklagten ergibt sich ein ad-äquates Bild, sodass ich abschließend noch einmal anden Bundesrat appellieren möchte, dieses Bild auch zurealisieren.
Die Bundesregierung hat einen Themenschwerpunktfür die Rechtspolitik in der 16. Wahlperiode überschrie-ben mit dem Motto „Sicherheit schaffen – Opfer schüt-zen“. Mangelnden Aktionismus bei der Vorlage von Si-Zu Protokollcherheitsgesetzen kann man der Bundesregierungwahrlich nicht vorwerfen. Den Opferschutz hingegenhat die Bundesregierung erst zu Ende der Wahlperiodeentdeckt. Es hat viele Jahre gedauert, bis die Bundesre-gierung endlich bereit war, die Forderung der FDP-Bundestagsfraktion aufzunehmen, das Opferentschädi-gungsgesetz zu ergänzen, um auch solchen Staatsbür-gern, die Opfer eines Terroranschlags im Ausland wer-den, einen Entschädigungsanspruch zuzubilligen. Ich binfroh, dass es in diesem Jahr doch noch gelungen ist, hierzu einer Einigung zu kommen. Auch der Beschluss, dender Deutsche Bundestag heute über das 2. Opferrechts-reformgesetz fasst, erfolgt kurz vor Schluss der Wahlpe-riode. Zeitweise bestand sogar die Gefahr, dass die Ver-abschiedung der Initiative aus Verfahrensgründen zuscheitern drohte. Ich bin dankbar dafür, dass es frak-tionsübergreifend gelungen ist, sich auf ein parlamenta-risches Beratungsverfahren zu einigen, das zum Endedoch noch einen Abschluss des Gesetzgebungsverfahrensermöglicht.Die FDP-Bundestagsfraktion wird dem 2. Opfer-rechtsreformgesetz zustimmen. Der Opferschutz stehtschon seit vielen Jahren im Mittelpunkt liberaler Rechts-politik. Die Qualität eines Rechtsstaats zeigt sich auchdarin, wie mit den Opfern im Strafverfahren umgegangenwird. Die Liberalen haben sich immer für einen mög-lichst schonenden Umgang mit Gewaltopfern im Straf-prozess ausgesprochen. Selbstverständlich hat jeder aneinem Strafverfahren Beteiligte einen Anspruch auf einenfairen Umgang. All zu oft werden dabei jedoch die Inte-ressen des Opfers vergessen. Bereits in der 13. Wahlpe-riode hat der Deutsche Bundestag eine erhebliche Ver-besserung der rechtlichen, tatsächlichen und psycholo-gischen Situation von Opfern und Zeugen durchgesetzt.Auch das Opferrechtsreformgesetz, das der Gesetzgeberin der 15. Wahlperiode verabschiedet hat, führt zu einerstärkeren Berücksichtigung der Interessen der Opfer imStrafverfahren. Es ist eine gute Tradition im DeutschenBundestag, dass Initiativen zur Stärkung des Opferschut-zes von einer breiten Mehrheit des Hauses getragen wer-den. Alle Initiativen, die tatsächlich die Situation der Op-fer verbessert haben, sind daher von der FDP-Bundestagsfraktion auch unterstützt worden. Dies giltauch für den Gesetzentwurf, den wir heute verabschie-den. Es freut mich sehr, dass die Bundesregierung einigeder Forderungen in ihren Entwurf aufgenommen hat, dieGegenstand des Antrags der FDP-Bundestagsfraktion„Opferinteressen ernst nehmen – Opferschutz stärken“sind. Dies betrifft insbesondere die Ausweitung der Mög-lichkeiten zur Hinzuziehung eines Opferanwalts sowiedie erweiterten Informationspflichten gegenüber demOpfer. Wichtig sind aus Sicht der FDP auch die Änderun-gen zur Ausweitung der Nebenklage. Wir haben zu demGesetzentwurf eine interessante Sachverständigenanhö-rung durchgeführt. Dabei hat sich gezeigt, dass die Sach-verständigen ganz überwiegend die Zielsetzung des Ge-setzentwurfs begrüßt haben. Dennoch sind auch einigePunkte angesprochen, bei denen die SachverständigenÄnderungsbedarf angemahnt haben. Dies betrifft insbe-sondere die Möglichkeiten zum Ausschluss des Zeugen-beistandes sowie die Änderung in § 112 a Abs. 1 StPOzum Haftgrund der Wiederholungsgefahr. Ich bedaure,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25807
gegebene Reden
(C)
(D)
Jörg van Essendass die Bundesregierung die Anregungen der Sachver-ständigen in ihrer Formulierungshilfe nicht ausreichendberücksichtigt hat. Stattdessen ist man eher den Vor-schlägen des Bundesrates zur Einschränkung des Rich-tervorbehaltes gefolgt. Entscheidend für das Abstim-mungsverhalten meiner Fraktion ist jedoch, dass dieGesamtrichtung des Gesetzentwurfes der Linie der FDPzur Stärkung der Rechte von Opfern im Strafverfahrenfolgt. Dies ist ein wichtiges rechtspolitisches Signal.Die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ent-hält über die Änderungen in der Strafprozessordnung hi-naus auch eine Regelung zur Genitalverstümmelung imStrafgesetzbuch. Ich bin meinem Kollegen Konrad Schilyaußerordentlich dankbar, dass er mit seinem Gruppenan-trag diese wichtige Debatte im Bundestag angestoßenhat. Ich freue mich daher sehr, dass die Bundesregierungden Handlungsauftrag aufgenommen hat und eine eigeneRegelung zur Genitalverstümmelung vorgelegt hat. DieBundesregierung hat sich dazu entschieden, eine Rege-lung mit einem eng begrenzten Anwendungsbereich vor-zuschlagen. Es wird darauf verzichtet, einen neuenStraftatbestand zu schaffen. Auch die FDP-Bundestags-fraktion ist der Auffassung, dass die Genitalverstümme-lung bereits nach geltendem Recht strafbar ist und einneuer Straftatbestand im Ergebnis über eine rein symbo-lische Wirkung nicht hinaus gehen würde, und daher we-der notwendig noch dem Problem angemessen ist. DerVorschlag der Regierung sieht vor, die Misshandlung vonSchutzbefohlenen in die Ruhensregelung des § 78 bAbs. 1 Nr. 1 StGB aufzunehmen, um einen Verjährungs-eintritt vor Volljährigkeit des Opfers sicher auszuschlie-ßen. Die Anknüpfung an § 225 StGB berücksichtigt dieTatsache, dass die Opfer von Genitalverstümmelungenweit überwiegend minderjährige Mädchen sind. Durchdie Bezugnahme auf § 225 StGB werden alle von derStrafvorschrift erfassten Delikte künftig bei der Verjäh-rungsregelung berücksichtigt. Damit wird über die Geni-talverstümmelung hinaus auch der Schutz von misshan-delten Kindern ausgebaut. Ich bin froh, dass dieseswichtige Signal von der Entscheidung, die der DeutscheBundestag heute trifft, ausgeht. Die FDP-Bundestags-fraktion ist der Auffassung, dass die Lösung, die die Bun-desregierung vorschlägt, zielgenau ist und die Situationder jungen Frauen verbessern wird. Es wird damit si-chergestellt, dass die Strafverfolgung auch noch nach Er-reichen der Volljährigkeit der Opfer erfolgen kann.Nachdem der Bundestag bereits seit langer Zeit mit derFrage gerungen hat, wie der Gesetzgeber bei der Be-kämpfung der Genitalverstümmelung tätig werden kann,bin ich sehr froh, dass wir diese Diskussion heute mit ei-nem sehr überzeugenden Ergebnis zum Abschluss brin-gen.Insgesamt ist der Gesetzentwurf, den wir heute verab-schieden, ein Meilenstein bei der Stärkung von Opfer-rechten. Ich verbinde mit der heutigen Debatte die Hoff-nung, dass der Geist dieses Gesetzes und die Beachtungder Interessen und Rechte der Opfer in Strafverfahrenauch für den 17. Deutschen Bundestag zu einer Leit-schnur in der Rechtspolitik werden wird.Zu Protokoll
Dem Bundestag liegt ein ganzes Bündel an Gesetzes-vorlagen vor, die vermeintlich Opferinteressen und Op-ferrechte verbessern sollen. Doch das tun sie weitgehendnicht. Wir sind uns einig: Opfern von Straftaten ist beizu-stehen und ihnen ist der gebotene Schutz und die Für-sorge des Staates zu sichern. In diesem Sinne kann dieLinke auch dem Leitbild, das dem Antrag der FDP zu-grunde liegt, zustimmen. Aber: Es bestehen erheblicheBedenken bezüglich der Umsetzungsvorstellungen, wiesie namentlich im Entwurf für das zweite Opferrechtsre-formgesetz der Bundesregierung und in den Regelungs-vorschlägen des Bundesrates zur Stärkung des Opfer-schutzes niedergelegt sind.Zentraler Kritikpunkt ist, dass die gesetzgeberischeMotivation zum Opferschutz unseres Erachtens geradedort auf den Kopf gestellt ist, wo er am nötigsten ist.Nämlich dort, wo es um die Betroffenheit der Schwächs-ten geht. Denn der vermeintlich angestrebte Schutzreflexwird ins Gegenteil verkehrt und wirkt sich gar in Gefähr-dung aus. In diesem Punkt wird die systematische Fehl-steuerung des strafrechtsorientierten Umsetzungskon-zepts besonders deutlich. Das Problem stellt sich dabeisowohl in gesamtsystematischer Sicht als auch im Hin-blick auf die sensible Statik und das Wirksystem des mo-dernen rechtsstaatlichen Strafrechts. Der Gesetzgeberdarf nicht einfach die Maximen, Funktions- und Wirk-weise und die beabsichtigte Beschränktheit des Straf-rechts im Regelungseifer vernachlässigen oder etwa fol-genreich verschieben. Er muss vielmehr darauf achten,dass das scharfe Schwert des Strafrechts dem Staat nichtim Handumdrehen entgleitet. Die Linke hält deshalb aneiner progressiven, aber gleichsam strafrechtskritischenHaltung fest.Mit den Worten des Kriminologen und ehemaligen Rich-ters am Bundesverfassungsgericht Winfried Hassemer ge-sprochen, ist es „von zentraler Bedeutung, dass dasStrafverfahren nicht, wie es früher einmal war, in dieHände des Opfers zurückgelegt wird. Es muss auf jedenFall beim Gewaltverbot für das Opfer bleiben – das istder Kern des modernen Strafrechts. Dem Opfer ist unter-sagt, Rache zu nehmen. Ohne dieses Prinzip kann eskeine Gerechtigkeit geben. Jegliche Änderung an diesemPrinzip würde unserem Gerechtigkeitsempfinden fla-grant zuwiderlaufen.“ Daraus folgt für die Linke, dasssehr darauf geachtet werden muss, die Balance des Straf-verfahrens nicht peu á peu aufzuheben.Wo bei Opferrechten nachjustiert wird, müssen imSinne eines fairen Verfahrens und der Waffengleichheitdie Beschuldigtenrechte nachgestellt werden. Denn es istklar: Erst das Strafverfahren soll gerade und vor allemobjektiv ermitteln, ob der Beschuldigte Täter der vorge-worfenen Tat ist und derjenige, der vorgibt, in seinenRechten durch den Beschuldigten betroffen zu sein, auchwirklich Opfer ist. Keinesfalls darf aber das Paradigmades Strafverfahrens auf den Hund kommen. Denn je mas-siver Opferrechte ausgeweitet werden, desto weniger istsichergestellt, dass die Täterfeststellung am Ende desVerfahrens auf ermittelten Tatsachen und nicht aufeiner Übermacht des Opfers im Verfahren beruht.
Metadaten/Kopzeile:
25808 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Sevim DaðdelenSevim DağdelenDas Argument, dass die Nebenklage der Staatsanwalt-schaft wertvolle Unterstützung leiste, taugt nur zum Be-weis, dass das System unterfinanziert ist und eine Staats-anwaltschaft kaum noch personelle und sachlicheRessourcen für eine effiziente Verfolgung hat. Wir sindgegen eine haushälterisch bedingte Quasiprivatisierungdes Strafverfahrens und den Wiedereinzug des Rachege-dankens auf dem Ticket des Opferschutzes.Einzelregelungen des Gesetzes sind darüber hinauszum Teil misslungen. So wird vollkommen indiskutabelder Untersuchungshaftgrund der Wiederholungsgefahr„präzisiert“, im Kern jedoch erweitert. In Anbetrachtder berechtigten Forderungen nach der Abschaffung die-ses polizeilich-präventiven Haftgrundes ist diese Ände-rung geradezu skandalös. Die Erweitung der Nebenkla-geanschlussbefugnis sowie die Ausweitung durch einenAuffangtatbestand sind gleichermaßen nicht angezeigt.Bleibt noch zu erwähnen, dass die durchaus sinnvolleHerausnahme der gewerblichen Schutzrechte aus demKatalog der Nebenklagedelikte im ursprünglichen Ent-wurf nunmehr durch die Formulierungshilfe – es warnicht anders zu erwarten; der Druck durch Lobbyver-bände aus der Wirtschaft war massiv – wieder aufgeho-ben wurde.Wir wiederholen daher unsere Forderungen: Wer Op-ferschutz ernst nimmt, stattet die Justiz mit den personel-len und sachlichen Mitteln aus, um Strafverfolgung effek-tiv zu gewährleisten; der sorgt für Beratungsstellen undpsychologische Betreuungsangebote; der fördert beste-hende Instrumente wie den Täter-Opfer-Ausgleich. Vonformalen Rechten im Strafprozess werden Wunden nichtheilen. Eine Stärkung der Opferposition ließe sich etwaauch durch die Erweiterung der Antragsdelikte errei-chen, sodass etwa in familiären oder anderen engerenpersönlichen Bezügen die Selbstbestimmung des OpfersVorrang erhält. Allerdings hat hier in letzter Zeit ehereine Entmachtung der Individuen zugunsten einer Er-mächtigung der staatlichen Verfolgungsbehörden statt-gefunden.Mit diesem Blick ins Strafrechtsgrundsätzliche istaber nicht Genüge getan. Ich habe noch ein paar Sätzezu den sozialen Phänomenen des Stalking, der Zwangs-heirat und der Genitalverstümmelung zu verlieren.Für die Linke gilt unmissverständlich, dass OpferSchutz brauchen und einen Anspruch darauf haben. Dasgilt auch in Fällen von Nachstellung, Einschüchterungund Gewalt, seien es Kinder, Frauen oder Männer. Dochlässt sich dem vordergründig sozialen Phänomenen desStalking, der Zwangsverheiratung und der Genitalver-stümmelung nach Auffassung der Linken nicht mit immerneuen Schärfungen des Strafrechts in adäquater Weisebegegnen. Denn entweder führt die Dauer von Verfahren– siehe oben – am Ziel eines raschen, effektiven Opfer-schutzes vorbei, wenn sie denn überhaupt auf einerrechtsstaatlich einwandfreien Grundlage stattfinden. Icherinnere da an unsere Debatte zum Stalking-Straftatbe-stand. Oder aber die Maßnahme schießt von vornhereinin hohem Bogen, teilweise billigend in Kauf genommen,über ihr Ziel hinaus. Für die Fälle der Zwangsverheira-tung und der weiblichen Genitalverstümmelung kann da-Zu Protokollrin der genauso untaugliche wie menschliche Schicksaleverhöhnende Versuch gesehen werden, eine Integrations-politik mit dem Strafrecht zu betreiben.Die Linke unterstützt nachdrücklich das Ziel, die un-menschliche und frauenverachtende Praxis der Genital-verstümmelung zu bekämpfen. Allerdings ist der vorlie-gende interfraktionelle Gesetzentwurf ein erneutesBeispiel dafür, dass das Strafrecht kein geeignetes Mittelzur Lösung gesellschaftlicher Probleme ist. Es steht zubefürchten, dass die schädlichen Nebenfolgen des Ge-setzentwurfs dessen positive Folgen weit überwiegen.Hierdurch droht letztlich das Mädchen, dessen Schutzbeabsichtigt wird, zur eigentlichen Leidtragenden zuwerden. Familiärer Hintergrund, gesellschaftliche Ein-bettung und die sozioökonomischen Bedingungen derHandlungsweisen der Beteiligten werden hingegen aus-geblendet. Vielmehr wird mit aus der Hüfte geschossenenLaw-and-Order-Antworten sozialen Fragen begegnet.Der steinige Weg der Präventions- und Aufklärungsar-beit wird um den Preis der Abschiebung und doppelterTraumatisierung gemieden.Unsere Position zum Gruppenantrag über die Strafbar-keit der Genitalverstümmelung, Drucksache 16/12910,haben wir aktuell in einem Entschließungsantrag formu-liert, der die Forderungen und Vorschläge unseres Antra-ges „Weibliche Genitalverstümmelung verhindern –Menschenrechte durchsetzen“, Drucksache 16/4152, er-neut aufgreift. Sonach ist das Problem nicht das Fehleneines Straftatbestandes. Dass eine Verfolgung regelmä-ßig ausbleibt, ist einmal mehr ein Vollzugsproblem. Diebeabsichtigte Regelung schafft hingegen neue inakzep-table Probleme. Die Ausgangsfrage, wie das Verbotweiblicher Genitalverstümmelung vor dem Hintergrundder familiären Tatkonstellation überhaupt wirksamdurchgesetzt und täter- und opfergerecht zu lösen ist,bleibt unbeantwortet. Die Folge der Änderung wäre eineregelmäßige Straferwartung von drei Jahren für die tat-beteiligten Eltern genauso wie für die oder den Ausfüh-renden, mit verheerenden aufenthaltsrechtlichen Folgen.Eine Verurteilung zu einer dreijährigen Freiheitsstrafezieht nach § 53 Aufenthaltsgesetz zwingend die Auswei-sung des Täters nach sich. Lediglich im Falle von nach§ 55 Aufenthaltsgesetz privilegierten Personen kommteine Herabstufung zur Regelausweisung in Betracht.Aufgrund der Abhängigkeit des aufenthaltsrechtlichenStatus des Kindes von dem der Eltern droht damit dasOpfer mit seinen Eltern gemeinsam ausgewiesen zu wer-den. Hierdurch würde nicht nur aufgrund der medizini-schen und sozialen Gegebenheiten in vielen der betroffe-nen Ländern die Verletzung des Opfers noch vertieft.Die Bekämpfung von Genitalverstümmelung durchAusweisung und Abschiebung lehnt die Linke deshalb ab.Schließlich begegnet die Erstreckung des deutschenStrafanspruchs durch die angestrebte weltweite Geltungvölkerrechtlichen Bedenken. Bedeutete es doch letztlicheinen Übergriff in die Souveränitätsrechte fremder Staa-ten, wenn deren Staatsangehörige sich unerwartet undunvorhersehbar der Strafgewalt der BRD ausgesetzt sä-hen, wenn die Person, an der die Handlung vorgenom-men wird, zur Zeit der Handlung ihren gewöhnlichen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25809
gegebene Reden
(C)
(D)
Sevim DaðdelenSevim DağdelenAufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hat. Stel-len Sie sich vor, ein in Deutschland niedergelassener Arztwürde sich wegen einer in Deutschland ausgeführten Be-handlung an einem Staatsangehörigen seines Reiselan-des plötzlich aufgrund der dortigen Rechtslage nicht imHotel, sondern im Polizeigewahrsam wiederfinden.Anstelle strafrechtlicher Sanktionssymbolik und Exis-tenzen vernichtender Abschiebung, ist für uns ein prä-ventiv-aufklärungsorienierter Lösungsansatz der rich-tige Weg. Ein erster Schritt zu einem wirkungsvollenOpferschutz wäre ein an den realen Interessen der Opferausgerichtetes Asyl- und Aufenthaltsrecht, um den Lei-den der betroffenen Mädchen entgegenzutreten. Auf eu-ropäischer Ebene sollte ein einheitlicher Abschiebestoppfür Mädchen und Frauen, die eine Genitalverstümme-lung erlitten haben oder denen eine solche droht, be-schlossen werden. Zudem dürften Länder, in denen Geni-talverstümmelung verbreitet ist, nicht als sichereDrittstaaten eingestuft werden.Zu einer differenzierteren Betrachtung und guten Pro-blemlösung zum Thema Zwangsheirat hatte meine Frak-tion vor sattsam drei Jahren mit ihrem Antrag „Für einenSchutz der Opfer von Zwangsverheiratungen, für dieStärkung ihrer Rechte und die längerfristige Bekämpfungder Ursachen patriarchaler Gewalt“ unter der Drucksa-che 16/1564 eingeladen. Auch dieser wurde bekanntlichabgelehnt. Stattdessen ist die Bundestagsmehrheit denkostengünstigen, aber verheerenden Irrweg einer straf-rechtlichen Lösung letztlich sozialer und ökonomischerProbleme gegangen.Demgegenüber ist aber nach wie vor wichtig zu beto-nen, dass Zwangsverheiratung lediglich eine Form patri-archaler Gewalt ist. Allerdings haben Zwangsverheira-tungen von Frauen und Mädchen besonders mitMigrationshintergrund erst in den letzten Jahren einegrößere Beachtung in der Öffentlichkeit erlangt. Genau-ere und verlässliche Zahlen und Erkenntnisse über denUmfang und die Gestalt von Zwangsheiraten in Deutsch-land liegen dessen ungeachtet immer noch nicht vor. Feststeht jedoch, dass die konkret Betroffenen dringenderHilfe und Unterstützung bedürfen, denn das Recht aufSelbstbestimmung und freie Wahl der Lebenspartnerinoder des Lebenspartners ist ein unteilbares Menschen-recht.Ein Maßnahmekatalog zur grundlegenden Stärkungder Rechtsposition und Handlungsoptionen der Opfervon Zwangsverheiratungen beinhaltet: aufenthaltsrecht-liche Korrekturen und Maßnahmen zu ihrem effektivenSchutz, zur Beratung und Information sowie allgemeinePräventions-, Schulungs- und Aufklärungsmaßnahmen.Jedoch dürfen Maßnahmen zur Verhinderung vonZwangsheiraten und Genitalverstümmelung und zumSchutz der Opfer nicht zu ungerechtfertigten Pauschali-sierungen und zur Ausgrenzung von Migrantinnen undMigranten in Deutschland instrumentalisiert werden. Sowenig wir der damaligen strafrechtsorientierten Lösungetwas abringen konnten, so wenig Anlass sehen wirheute, erneut diese Stell- bzw. Daumenschraube zu dre-hen.Zu ProtokollUnser Fazit: Eine gute Motivation wird zur fragwürdi-gen Legitimation teilweise schlecht durchdachter undausgeführter, dafür umso nebenfolgenreicherer Maßnah-men. Der so wichtige Opferschutz wird somit zur kleinenMünze einer realitätsfernen Symbolpolitik, nach demschlichten Motto: Die tun was!
Den Opferschutz zu stärken, ist ein wichtiges grünesZiel, dem wir uns schon in rot-grüner Zeit verschriebenhaben. 2004 haben wir das 1. Opferrechtsreformgesetzverabschiedet und dabei die Rolle der Opfer als schutz-würdige Subjekte im Strafprozess unter anderem mit ei-ner Ausweitung der Informationsrechte der Nebenklä-ger und des Anspruchs auf eine kostenlose Beiordnungeines Opferanwalts gestärkt. Gleichzeitig haben wir je-doch auch damals schon eine Gesamtreform der Straf-prozessordnung gefordert, die bis heute nicht gekom-men ist. Leider wurde aus dem vorgelegten 2. Op-ferrechtsreformgesetz kein – dringend notwendiges –Strafprozessreformgesetz.Stattdessen bleibt mir heute nur zu sagen, dass eineReform von strafprozessrechtlichen Regelungen, mit der– wie im vorgelegten Gesetzentwurf – nur die Rechte derOpfer ausgebaut und nicht endlich auch die Rechte derBeschuldigten und der Verteidigung gestärkt und durchmehr Partizipation an die gewandelte Bedeutung des Er-mittlungsverfahrens angepasst werden sollen, nur unaus-gewogen sein kann. Eine Reform der StPO aus einemGuss konnte bzw. wollte die Große Koalition aber nichtanpacken. Das jetzt vorgelegte Stückwerk an neuen Re-gelungen bleibt einseitig und bringt das Gleichgewichtder Balance zwischen Opfer- und Beschuldigtenrechtenins Wanken.Abgesehen davon sind zwar viele Regelungen des unsvorliegenden Gesetzentwurfs wie die Ausweitung der Ne-benklageberechtigung auf Opfer von Zwangsheirat, Nö-tigung zu sexuellen Handlungen und zum Schwanger-schaftsabbruch sowie Kinderhandel oder die Ausweitungder kostenlosen Beiordnung eines Opferanwalts begrü-ßenswert. Jedoch wurden auch einige äußerst fragwür-dige Regelungen trotz großer Bedenken aus Fachkreisenumgesetzt, die wir strikt ablehnen: So wurde trotz ein-dringlicher Warnungen durch Experten in der Anhörungdie heute schon von vielen höchst kritisch gesehene Re-gelung des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr nach§ 112 a StPO anstatt eingedämmt oder abgeschafft nochweiter ausgeweitet. Darüber hinaus ist die Große Koali-tion vor der Lobby der Musikindustrie eingeknickt undhat die Nebenklage bei Urheberrechtsverletzungen wie-der in den Gesetzentwurf zurückgebracht, dagegen aberdie Beleidigung als zu unwichtig wieder entfernt. DieseGewichtung halte ich für falsch. Die Streichung beim Ur-heberrecht und gewerblichen Schutzrechten hätte eineKonzentration der Ressourcen auf besonders schwerwie-gende Fälle bewirkt.Im Zusammenhang mit dem Reformgesetz diskutierenwir heute auch über den Straftatbestand der Genitalver-stümmelung. Es handelt sich hierbei um eine schwere
Metadaten/Kopzeile:
25810 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Irmingard Schewe-GerigkMenschenrechtsverletzung, die irreparable körperlicheund seelische Schädigungen bei den Mädchen hinter-lässt. Ich kämpfe seit vielen Jahren dafür, dass die Geni-talverstümmelung auch als ein deutsches Problem er-kannt und im Strafgesetzbuch explizit genannt wird. Ichfreue mich sehr, dass wir es geschafft haben, einen Grup-pengesetzentwurf vorzulegen.Der Umgang mit diesem Gesetzentwurf hat mich je-doch stark verwundert. Wir kann es sein, dass ein inter-fraktioneller Gesetzentwurf von der Koalition einfachabgeblockt und in den Ausschüssen von der Tagesord-nung genommen wird? Die genannten Begründungensind haarsträubend und einfach nur lächerlich.Gestern entnahm ich der Presse: „Große Koalitiongeht härter gegen Genitalverstümmelung vor“. Das istschon ganz schön unverschämt, wenn wir die Blockadender letzten Wochen und den minimalen Regelungsgehaltihres Gesetzes sehen. Darin geht es ausschließlich umdie Verlängerung der Verjährung durch ein Ruhen biszum 18. Geburtstag der Betroffenen. Das ist nur ein ers-ter Schritt, den wir in unserem Gesetzentwurf auch for-dern. Für eine erfolgreiche Bekämpfung müssen wir aberweitere Schritte gehen. Wir fordern eine ausdrücklicheAufnahme der grausamen Praktik in den Straftatbestandder schweren Körperverletzung. Hierfür möchte ich andieser Stelle noch einmal eindringlich werben. Sechs deracht Sachverständigen haben sich in der Ausschussanhö-rung dafür ausgesprochen. Die Gesetzesänderung wäreein deutliches und wichtiges Signal an die Eltern, an Ärz-tinnen und Ärzte und die Betroffenen.Die Kritik der Linken an unserem Gesetzentwurf läuftins Leere. Auch wir wissen, dass das Strafrecht alleinnicht ausreichend ist, um Genitalverstümmelung wirk-sam zu bekämpfen. Alle weitergehenden Forderungenwaren in unserem Antrag aus dem Jahr 2006 bereits ent-halten, der hier aber leider abgelehnt wurde.Wir bleiben bei unserer Forderung, dass Genitalver-stümmelung in den Katalog der Auslandsstraftaten imStrafgesetzbuch aufgenommen werden muss. Nur so kanndie hohe Anzahl der Beschneidungen, zu denen das Kindins Ausland geschickt wird, in jedem Fall auch inDeutschland geahndet werden. Selbst wenn eine Tatschon in Deutschland geplant, aber dann im Auslanddurchgeführt wurde, wird dieser Plan kaum nachweisbarsein.Die Bedenken, dass die Eltern aufgrund der restrikti-ven Ausweisungsvorschriften des Aufenthaltsrechts aus-gewiesen werden könnten und es dadurch zu einer Tren-nung von Eltern und Kind kommen könnte, werden kaumreal werden. Einer solchen Trennung stehen bereits jetztAbschiebehindernisse, insbesondere durch die europäi-sche Menschenrechtskonvention, entgegen.Der Vorstoß der Koalition ist nicht ausreichend, ihrVerhalten im parlamentarischen Prozess nicht demokra-tisch. Für das Wohl der Mädchen rufe ich Sie dazu auf:Unterstützen Sie unseren Gesetzentwurf!Zu ProtokollA
Der Deutsche Bundestag beschließt heute über das2. Opferrechtsreformgesetz. Dieses Gesetz, das wir auchals Regierungsentwurf eingebracht haben, ist ein wichti-ges Gesetz für Menschen, die Opfer und Zeugen vonStraftaten geworden sind. Wir wollen ihnen mit diesemGesetz helfen, die mit einem Strafverfahren verbundenenBelastungen noch besser zu bewältigen. Das halte ichschon deshalb für enorm wichtig, weil uns unser Rechts-staat dazu verpflichtet, faire Verfahrensregelungen füralle an einem Strafverfahren Beteiligten zu schaffen –und dazu gehören auch die Opfer von Straftaten, die oh-nehin schon durch die Tat selbst oft stark belastet sind.Der Opferschutz im Strafverfahren ist mir deshalb einbesonders wichtiges Anliegen.Mit dem 2. Opferrechtsreformgesetz bauen wir aufden Verbesserungen des Opferrechtsreformgesetzes von2004 auf und bündeln diverse Initiativen zur Verbesse-rung des Opferschutzes im Strafverfahren in einem insich stimmigen Gesamtkonzept. Dabei haben wir auchzwei Initiativen des Bundesrates in unser Gesamtkonzeptintegriert, über die heute auch beschlossen werden soll.Diese beiden Initiativen haben sich durch unser Konzepterledigt, da unser Gesetzentwurf über die Vorschläge desBundesrats hinausgeht, noch mehr Menschen den erfor-derlichen Schutz bietet und zudem weitere Verbesserun-gen enthält.Wir nehmen neben den Opfern von Straftaten auch dieZeugen in den Blick und richten unser Augenmerk beson-ders auch auf die jugendlichen Opfer und Zeugen.Zum Schutz der Verletzten regeln wir die Vorschriftenzur Nebenklagebefugnis und zur Beiordnung eines Op-feranwalts insgesamt neu und richten beide konsequen-ter als bisher am Schutzbedürfnis der Opfer von Strafta-ten aus. Wir wollen, dass hauptsächlich Opfer, dieschwer unter den Folgen der Tat zu leiden haben, dieseMöglichkeiten in Anspruch nehmen können.Daneben haben wir zahlreiche Verfahrensvorschriftenüberarbeitet, damit Verletzte ihre Rechte in der Praxiszukünftig einfacher und effizienter wahrnehmen können.Im Bereich des Zeugenschutzes regeln wir erstmaligim Gesetz die Möglichkeit, einen Zeugenbeistand in An-spruch zu nehmen. Das ist verfassungsrechtlich schonlange anerkannt und sollte daher auch endlich auf einetragfähige gesetzliche Grundlage gestellt werden. Dane-ben wollen wir auch die Daten von Zeugen im Strafver-fahren besser schützen. Wir haben deshalb Vorschriftenerarbeitet, die sicherstellen, dass die Wohnanschriftenvon gefährdeten Zeugen erst gar nicht in die Akte gelan-gen oder – soweit dies später erforderlich wird – aus ihrwieder entfernt werden können.Zudem wollen wir einen besseren Schutz für jugendli-che Opfer und Zeugen, indem wir die Schutzaltersgrenzein verschiedenen jugendschützenden Normen der Straf-prozessordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzesvon bisher 16 auf nunmehr 18 Jahre anheben. Es geht hieretwa um den Ausschluss der Öffentlichkeit, die Verneh-mung des Zeugen nur durch den Gerichtsvorsitzenden und
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25811
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
25812 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbachmanches mehr. Wir wollen, dass auch die 16- und 17-Jäh-rigen diesen Schutz in Anspruch nehmen können, dennihr Belastungserleben unterscheidet sich nach Berichtenaus der Praxis wenig von dem der 15-Jährigen.Mit einer im parlamentarischen Verfahren noch hinzu-gekommenen Änderung des § 78 b StGB setzen wir zu-dem ein deutliches Zeichen gegen die Genitalverstümme-lung bei Kindern und Jugendlichen. Bei diesen Tatenbeginnt die Verjährungsfrist jetzt erst mit der Volljährig-keit der Opfer zu laufen. Diese Regelung soll nicht nureine umfassendere Verfolgung dieser Taten ermöglichen,sondern auch abschreckende Wirkung entfalten.Der Deutsche Bundestag zeigt mit diesem Gesetzent-wurf ganz deutlich, dass die Belange von Opfern undZeugen im Strafverfahren den ihnen gebührenden hohenStellenwert einnehmen. Ich freue mich sehr, dass es ge-lungen ist, den Gesetzentwurf noch in dieser Legislatur-periode zur Abstimmung zu stellen. Denn so kann dafürgesorgt werden, dass Opfer und Zeugen baldmöglichstvon den im Gesetzentwurf vorgesehenen und auch nachAngaben der Opferhilfeorganisationen dringend erfor-derlichen Verbesserungen profitieren. Ich hoffe hierbeiauf Ihre Unterstützung.
Tagesordnungspunkt 24 a. Wir kommen zur Abstim-mung über den von den Fraktionen der CDU/CSU undSPD eingebrachten Gesetzentwurf zur Stärkung derRechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren.Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13671, denGesetzentwurf auf Drucksache 16/12098 in der Aus-schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmenwollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratungmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDPgegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung vonBündnis 90/Die Grünen angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, der mögesich erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis ange-nommen.Abstimmung über die Beschlussempfehlung desRechtsausschusses zu dem von der Bundesregierung ein-gebrachten Gesetzentwurf zur Stärkung der Rechte vonVerletzten und Zeugen im Strafverfahren.Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13671, denGesetzentwurf auf Drucksache 16/12812 für erledigt zu er-klären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-lung ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen.Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesra-tes zur Verbesserung des Schutzes der Opfer vonZwangsheirat und schwerem „Stalking“.Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe c sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13671, denGesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 16/9448abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da-gegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in zwei-ter Beratung bei Zustimmung von Bündnis 90/Die Grü-nen und Gegenstimmen aller anderen Fraktionen abge-lehnt.Damit entfällt die dritte Beratung.Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesra-tes zur Stärkung des Opferschutzes im Strafprozess.Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe d sei-ner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf des Bun-desrates auf Drucksache 16/7617 abzulehnen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünenund Enthaltung der Linken abgelehnt.Die dritte Beratung entfällt damit.Tagesordnungspunkt 24 b. Beschlussempfehlung desRechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der FDPmit dem Titel: „Opferinteressen ernst nehmen – Opfer-schutz stärken“.Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe e seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 16/13671, denAntrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/7004abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenbei Gegenstimmen von FDP und Linken und Enthaltungvon Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 24 c. Abstimmung über den Ge-setzentwurf der Abgeordneten Sibylle Laurischk,Irmingard Schewe-Gerigk, Dr. Konrad Schily und weite-rer Abgeordneter zur Änderung des Strafgesetzbuches –Strafbarkeit der Genitalverstümmelung.Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/13667, den Gesetzent-wurf auf Drucksache 16/12910 abzulehnen. Ich bitte die-jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihrHandzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt bei Zu-stimmung von Bündnis 90/Die Grünen und der Abgeord-neten Sibylle Laurischk und bei Enthaltung der FDP-Fraktion.
– Und der Abgeordneten Dr. Tackmann und Wunderlich.Vielen Dank, das ist mir entgangen. – Damit entfällt diedritte Beratung.
– Ja.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25813
(C)
(D)
Herr Präsident, ich möchte namens der CDU/CSU-
Fraktion Sitzungsunterbrechung beantragen, weil wir
eine Fraktionssitzung durchführen müssen.
Dem Wunsch kann ich dann nur entsprechen. Haben
Sie irgendeine Vorstellung, wann wir fortfahren können?
Das werde ich nach Rücksprache mit unserer Fraktions-
führung mitteilen.
In Anbetracht der Tageszeit ist das, was Sie hier bie-
ten – das muss ich schon sagen –, eine ziemliche Zumu-
tung.
Für 30 Minuten.
Für 30 Minuten. Dann wiedereröffnen wir die Sitzung
um 0.25 Uhr.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrochene
Sitzung ist wieder eröffnet.
Da jetzt sehr viele Kolleginnen und Kollegen anwe-
send sind, die vorher keine Gelegenheit hatten, an der
Abstimmung teilzunehmen,
will ich in Erinnerung rufen, dass wir noch bei Tages-
ordnungspunkt 24 sind, und zwar bei Tagesordnungs-
punkt 24 c. Dabei geht es um den Entwurf eines Geset-
zes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Strafbarkeit
der Genitalverstümmelung. Wir kommen zur Abstim-
mung über einen Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/13691. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag
ist damit bei Zustimmung der Fraktion Die Linke abge-
lehnt mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen.
Jetzt kommen wir zu Tagesordnungspunkt 25:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken,
Bärbel Höhn, Cornelia Behm, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Kein Genmais-Anbau gegen den Willen der
Bürger in der EU
– Drucksachen 16/13398, 16/13663 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Max Lehmer
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Ulrike Höfken
Wir haben vorhin beschlossen, die Namen der Red-
ner, die ihre Reden zu Protokoll gegeben haben, nicht
mehr vorzulesen.
Die Frage, ob, in welcher Form und unter welchen
Rahmenbedingungen wir in Deutschland und Europa die
Grüne Gentechnik nutzen wollen, haben wir stets mit ei-
nem besonderen Hintergrund zu diskutieren. Dieser Hin-
tergrund lautet Verantwortung. Diese Verantwortung
wird aus dem uns vorliegenden Antrag der Grünen mal
wieder nicht deutlich. Es wird ideologisch argumentiert,
statt dass man wissenschaftlich fundiert und verantwor-
tungsbewusst diskutiert und die Bevölkerung informiert.
Die Bevölkerung muss aufgeklärt und informiert, nicht
getäuscht und verängstigt werden.
Wir müssen über die Chancen der Grünen Gentechnik
reden, wie wir sie besser erforschen können und wie ihre
Potenziale genutzt werden können. Selbstverständlich
müssen wir dabei die Ängste und Sorgen der Menschen
ernst nehmen. Wir müssen ausschließen, dass Schäden
für die menschliche Gesundheit und die Umwelt durch
Gentechnik entstehen können.
Genau aus diesem Grund brauchen wir erst recht um-
fassende Forschungsanstrengungen; denn generelle An-
bauverbote, wie die Grünen sie fordern, behindern den
Forschungsstandort Deutschland, verhindern den Zu-
gang zu neuer Technologie, fördern weltweite Monopoli-
sierung und gefährden die Nutzung biotechnologischer
Innovationen für Züchter, Landwirte und Verbraucher.
Forschung und Züchtung brauchen zuverlässige Rah-
menbedingungen, damit diese ohne ideologische Scheu-
klappen wissenschaftsbasiert arbeiten können, damit
Praxis und Theorie in der Sicherheits- und Anwendungs-
forschung funktionieren. Wir tragen Verantwortung für
die weltweite Bevölkerung, die von unseren Erfahrungen
und unserem Wissen profitieren kann. Daher bin ich auch
sehr erleichtert darüber, dass das BVL vor kurzem den
Versuchsanbau für gentechnisch veränderte Gerste der
Justus-Liebig-Universität Gießen genehmigt hat, nach-
dem im letzten Jahr die Anbauflächen von „Ökoaktivis-
ten“ mutwillig zerstört worden waren. Ebenso sinnvoll
finde ich die Entscheidung des BVL, dass die Freisetzung
der gentechnisch veränderten Kartoffel Amflora erneut
erlaubt worden ist. Diese Kartoffel produziert ein vielfa-
ches Mehr an industriell nutzbarer Stärke als eine her-
kömmliche Kartoffel. Jetzt gilt es zu erforschen, ob die
(C)
(D)
Johannes Röring
Kartoffel tatsächlich die ihr zugeschriebenen Eigen-
schaften besitzt und langfristig in der industriellen Stär-
keproduktion eingesetzt werden kann und dadurch die Ef-
fizienz und Effektivität im Anbau erhöht und demzufolge
eine bessere Nutzung der vorhandenen, knapp bemesse-
nen weltweiten Ackerfläche gelingen kann.
Denn ich kann nur immer wieder betonen – auch wenn
das einige von Ihnen nicht wahrhaben wollen –, dass die
verfügbare Anbaufläche für landwirtschaftliche Pro-
dukte weltweit pro Erdenbewohner dramatisch abneh-
men wird. Sie wird sich laut wissenschaftlicher Progno-
sen bis zum Jahr 2050 halbieren, auf dann 2 000 m2 pro
Erdenbürger. Das sind Fakten, die wir nicht ignorieren
dürfen.
Auch Bundesumweltminister Gabriel scheint sich die-
ser Fakten bewusst zu sein, sonst hätte er vor einiger Zeit
hier im Plenum nicht ebenfalls die Amflora-Zulassung
unterstützt. Ansonsten ist unser Koalitionspartner ja
meist bemüht, das Thema Grüne Gentechnik ebenso ab-
zulehnen, wie es die Grünen tun. Oder aber Herr Kelber
findet die Zeit, die Unionsabgeordneten als Lobbyisten
zu diffamieren. Auch an dieser Stelle geht von mir die
Forderung an die SPD, ein wenig mehr Sachpolitik als
Populismus zu betreiben.
Aber zurück zum Thema. Wir haben die Verantwor-
tung, in einer sich schnell verändernden Welt den Men-
schen zu helfen, die nicht wie wir im Überfluss leben und
sich höchstens Gedanken machen müssen, was und nicht
ob sie ausreichend Wasser und Nahrung zur Verfügung
haben. Die Zahl der weltweit Hungernden und die der
Mangelernährten nimmt ja bekanntlich eher zu als ab.
Damit ist es unabdingbar, die Leistungsfähigkeit unse-
rer Kulturpflanzen und damit die Effizienz der Land-
wirtschaft entscheidend zu steigern, so zum Beispiel
für Pflanzen mit verbessertem Nährstoffgehalt, höherer
Energiedichte, größerer Widerstandsfähigkeit gegen kli-
matischen Stress oder Widerstandsfähigkeit gegen
Schädlinge und Krankheiten und damit der Möglichkeit
zur Vermeidung von Ertrags- und Qualitätsverlusten.
Auch ökologische Vorteile wie reduzierter chemischer
Pflanzenschutz und verbesserter Erosionsschutz sind zu
nennen. Vor diesen Fakten dürfen wir die Augen nicht
verschließen, wenn wir das weltweite Hungerproblem in
den Griff bekommen wollen.
Diese Beispiele zeigen, dass die Debatte über Risiken
und Chancen der Gentechnik sorgsam und wissenschaft-
lich fundiert geführt werden muss, dass wir Forschung
und Anwendung brauchen. Denn die gesundheitliche Un-
bedenklichkeit und die Umweltsicherheit der gentech-
nisch veränderten Pflanzen sind hinsichtlich der Beur-
teilung eines möglichen Anbaus von entscheidender
Bedeutung. Der Anbau gentechnisch veränderter Pflan-
zen ist nur dann verantwortbar, wenn mögliche Restri-
siken dauerhaft auf ein kalkulierbares Maß reduziert
werden. Hierzu müssen auch weiterhin strengste Über-
prüfungen im Zulassungsverfahren sowohl der gentech-
nischen Veränderung als auch der einzelnen Pflanzen-
sorte erfolgen. Wir dürfen aber auch nicht die Chancen
außer Acht lassen; denn verantwortliche, nachhaltige
und zielgerichtete Politik ist mehr als einseitige Ideolo-
Zu Protokoll
gie, wie sie durch den vorliegenden Antrag dargestellt
wird.
Abschließend möchte ich noch einen für mich persön-
lich wichtigen Punkt ansprechen. Ich mache mir große
Sorgen, dass durch die Art und Weise dieser Debatte fal-
sche Signale gesendet werden und junge Menschen sich
nicht mit diesem Zukunftsthema beschäftigen, sondern
sich davon abwenden und wir zukünftige Chancen ande-
ren überlassen. Stattdessen müssen wir bei den jungen
Menschen in Schule und Ausbildung die Neugier für die
weltweiten Zukunftsthemen wecken, damit sie erkennen
können, dass sie in Deutschland eine berufliche Zukunft
in diesem Themenfeld haben. Wir müssen junge Men-
schen für die Zukunftsthemen begeistern; denn nur da-
durch können besonders bei uns in Deutschland Lösun-
gen für die Herausforderungen von morgen gefunden
werden. Da der Antrag der Grünen genau das Gegenteil
beabsichtigt, kann ich den Antrag ohne große Bedenken
ablehnen.
Das Thema Grüne Gentechnik hat uns in dieser Legis-laturperiode oft beschäftigt. Davon zeugen an die 25 De-batten, die wir hier im Plenum des Deutschen Bundesta-ges dazu gehabt haben.Beschäftigt hat uns die Grüne Gentechnik, weil diesesThema die Bürgerinnen und Bürger sehr bewegt. Unge-fähr 80 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucherlehnen den Anbau von genveränderten Pflanzen ebensoab wie die Verwendung in der Lebensmittelproduktion.Für ihre Interessen haben wir uns eingesetzt und werdendies auch weiterhin tun. Und für sie wurde in dieser Le-gislaturperiode viel erreicht. Ich will nur die beidenwichtigsten Punkte nennen:Erstens. Der Anbau der Maissorte MON810, der bis-her einzigen bei uns zu kommerziellen Zwecken angebau-ten gentechnisch veränderten Pflanze, wurde gestoppt.Wir haben darüber mehrfach diskutiert, die SPD hatteden Anbaustopp lange gefordert; denn die Hinweise aufnegative Umweltauswirkungen und Effekte, auch aufNichtzielorganismen wie Bienen oder Schmetterlinge,mehrten sich. Wir haben es deshalb sehr begrüßt, dassMinisterin Aigner den MON810-Anbau endlich verbotenhat, aber wir erwarten auch, dass sie sich auch auf EU-Ebene gegen eine Verlängerung der Zulassung einsetzt.Zweitens. Mit der neuen Kennzeichnung „Ohne Gen-technik“ haben wir die Möglichkeit geschaffen, tierischeProdukte wie Eier und Milch auszuzeichnen, bei denenbewusst auf die Verfütterung von gentechnisch veränder-ten Pflanzen verzichtet wurde. Das Angebot an „Ohne-Gentechnik“-Produkten steht noch am Anfang, es mussgrößer und breiter werden. Aber die ersten Anbieter mel-den bereits, dass es sich lohnt: Produktion ohne Gentech-nik wird vom Verbraucher honoriert. Kein Wunder, er-möglicht sie doch Verbraucherinnen und Verbrauchernendlich, auch außerhalb des Ökosegments Erzeugnissevon Tieren auszuwählen, bei denen auf die Verfütterungvon GVO-Pflanzen verzichtet wurde. Ich danke Ministe-rin Aigner ausdrücklich dafür, dass wir dies gemeinsamauf den Weg gebracht haben: Mit dem am Montag dieser
Metadaten/Kopzeile:
25814 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Elvira Drobinski-WeißWoche beschlossenen einheitlichen Label und der Infor-mationskampagne dazu wird dieser Markt boomen. Da-von bin ich überzeugt, denn die Verbraucher wollen sol-che Produkte.All das haben wir erreicht, obwohl die Arbeitsgrund-lage eine schwierige war; denn in Sachen Grüne Gen-technik liegen zwischen CDU/CSU und SPD nicht seltenWelten. Und so mussten wir leider manchmal feststellen,dass die CDU/CSU-Fraktion sich nicht immer an das ge-bunden fühlt, was zwischen den Koalitionspartnern aus-gehandelt worden war. Allzu bereitwillig haben Kollegin-nen und Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion sich vonAgrokonzernlobbyisten instrumentalisieren lassen undmit unrichtigen Darstellungen versucht, die „Ohne-Gen-technik“-Kennzeichnung in Misskredit zu bringen.Mit der CDU/CSU-Fraktion Gentechnikpolitik zu ma-chen gleicht dem Versuch, einen Wackelpudding an dieWand zu nageln. Wir haben dies hier alles schon disku-tiert, in Bayern gegen und in Berlin für die Grüne Gen-technik, das ist die Strategie der CSU.In München fordert die CSU Verbindlichkeit für gen-technikfreie Regionen, in Berlin verweigerte sie ent-sprechenden Antragsentwürfen von uns, mit denendiese Forderung hätte umgesetzt werden können, dieUnterstützung. Gleiches gilt für die Forderung nach ei-ner Überarbeitung des EU-Zulassungsverfahrens. Wennes an die Realisierung solcher Forderungen geht – Fehl-anzeige. All unseren Entwürfen verweigerten CDU/CSUdie Unterstützung.Und dann am 13. Mai im Plenum: Während die Ein-bringung eines gemeinsamen Antrags der Koalitions-fraktionen an CDU und CSU scheiterte, stimmten plötz-lich einige Abgeordnete der CSU dem Antrag der Grünenzu. Ohne dass dies vorher angekündigt wurde und nachLösungen zum Beispiel in Form eines gemeinsamen An-trags gesucht werden konnte. Während die Abgeordnetender SPD-Fraktion sich der Verlässlichkeit gegenüberdem Koalitionspartner verpflichtet sahen und trotz in-haltlicher Übereinstimmungen schweren Herzens denAntrag der Grünen ablehnten, kalkulierte die CSU, dasssie sozusagen gefahrlos zustimmen konnte, ohne dass derAntrag damit Aussicht auf Erfolg gehabt hätte.Mit einer solchen Eierei beim Koalitionspartner kannman nicht arbeiten, bei diesem Schlingerkurs ist es un-möglich, die nötigen gemeinsamen Initiativen, zum Bei-spiel Schaffung von Rechtsverbindlichkeit für gentech-nikfreie Regionen, auf den Weg zu bringen oder auch nursich auf ein Abstimmungsverhalten auf EU-Ebene zu ei-nigen.Das gibt Anlass zur Sorge, denn auf EU-Ebene stehenin nächster Zeit einige Entscheidungen an. Und wenn ichmir das frisch beschlossene CDU/CSU-Wahlprogrammanschaue, ist Besserung nicht in Sicht. Dort heißt esnämlich:Die Politik muss die Sorgen der Bürger bei grünerGentechnik ernst nehmen und darf keine unnötigenRisiken eingehen.Zu ProtokollUnkonkreter geht es wohl kaum. Ich habe es bereitseingangs gesagt: Die große Mehrheit der Bevölkerunglehnt die Grüne Gentechnik ab, und dies nicht nur beiuns, sondern in der gesamten EU. Wir haben uns immerfür ihre Interessen eingesetzt und werden dies auch wei-terhin tun. Wir sind der Meinung, dass man den Men-schen die Grüne Gentechnik nicht aufzwingen darf.Gestern wurde bekannt, dass die Europäische Be-hörde für Lebensmittelsicherheit, die EFSA, auch gegeneine erneute Zulassung von MON810 keinerlei Sicher-heitsbedenken hegt. Das Thema wird uns also weiter be-schäftigen. Viele Studien kommen zu einem ganz anderenErgebnis. Weil negative Umwelteffekte eben nicht auszu-schließen sind, hat Ministerin Aigner aus guten Gründenden kommerziellen Anbau von MON810 in Deutschlandgestoppt. Wer es ernst meint mit dem Vorsorgeprinzip,wer „keine unnötigen Risiken eingehen“ und „die Sor-gen der Bürger ernst nehmen“ will, der muss sich gegeneine Verlängerung der Zulassung von MON810 engagie-ren und dafür einsetzen, dass am Verbot von MON810festgehalten wird. Heute ist die letzte Gelegenheit dazu,dies in diesem Parlament und in dieser Legislaturperiodezu tun. Ich hoffe, dass wir sie alle gemeinsam nutzen.
Politik, die man gegen die Wünsche der Menschenmacht, kann scheitern. Damit ist klar: Wenn die Bürge-rinnen und Bürger mehrheitlich gentechnisch verändertePflanzen und Nahrungsmittel ablehnen, sollten wir alsPolitikerinnen und Politiker das in unserer Entscheidungmit berücksichtigen.Allein: Das reicht nicht. Es gibt eine Vielzahl auchwissenschaftlicher, sozioökonomischer und wirtschaftli-cher Gründe, den kommerziellen Anbau gentechnischveränderter Pflanzen nicht zuzulassen. Darüber habenwir in den letzten Jahren an dieser und anderen Stellengenug diskutiert.Umso begrüßenswerter ist der am 25. Juni 2009 vonder österreichischen Regierung präsentierte Vorschlag,dass zukünftig die EU-Staaten allein darüber entschei-den sollen, ob sie den Anbau gentechnisch veränderterPflanzen zulassen oder nicht. Ohne Abstriche ist dieserVorschlag zu unterstützen. Es kann nur schaden, wenndie Europäische Union gegen den Willen einzelner Mit-gliedstaaten versucht, auch diese Länder zur Zulassungund zum Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen bzw.Organismen zu zwingen.Ich hätte mir gewünscht, dass sich die Bundesregie-rung mit diesem verbraucherschutzfreundlichen Vor-schlag auf europäischer Ebene profiliert hätte, so, wiewir als SPD das seit langem vorschlagen. Die zuständigeMinisterin Ilse Aigner scheint jedoch lieber zu reagieren,als im Sinne der Verbraucher und Bauern aktiv zu han-deln.Bei mir drängt sich nach der Debatte der vergangenenTage auf EU-Ebene der Eindruck auf, dass die Forde-rung im vorliegenden Antrag der Grünen, Mitgliedstaa-ten zu unterstützen, die nationale Anbauverbote erlassenhaben, bereits Mehrheitsmeinung der EU-Umweltminis-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25815
gegebene Reden
(C)
(D)
René Röspelter ist. So verstehe ich die ausschließlich positiven Reak-tionen auf den Vorstoß Österreichs.Bedauerlich ist, dass die österreichische Regierungnicht auch das Zulassungsverfahren für gentechnischveränderte Organismen in den Blick genommen hat. Nurein transparentes und wissenschaftlich fundiertes Verfah-ren zur Zulassung garantiert Akzeptanz. Ich denke, wiralle begrüßen daher die Aussage von dem Generaldirek-tor Umwelt der EU-Kommission, Karl Falkenberg, dergesagt hat, dass man das Zulassungssystem für gentech-nisch veränderte Organismen „möglichst bald“ überar-beiten werde.Diese Signale aus der EU-Kommission machen offen-kundig, dass entgegen der Auffassung der Fraktionen derFDP und CDU/CSU wohl doch Reformbedarf beim Zu-lassungsverfahren besteht. Ich fordere die Bundesregie-rung auf, sich aktiv in die Überarbeitung des Zulassungs-systems einzubringen.Wir haben hervorragende Wissenschaftlerinnen undWissenschaftler in Deutschland, die in diesem Bereicharbeiten. Im Sinne der Verbraucherinnen und Verbrau-cher muss dieser Sachverstand auf EU-Ebene einge-bracht werden. Hierzu zähle ich ausdrücklich auch dievielen Verbände und Einrichtungen, die sich kritisch mitgentechnisch veränderten Organismen auseinanderset-zen. Auch diese Gruppen verfügen über wichtiges Exper-tenwissen, das durch die Regierung und die EU-Kommis-sion genutzt werden sollte.Sehr gespannt bin ich auf den Bericht über die Einbe-ziehung von sozioökonomischen Kriterien bei der Zulas-sung von gentechnisch veränderten Organismen, denEU-Umweltkommissar Dimas vorlegen wird. DerWunsch meiner Fraktion ist, dass die Bundesregierungden Inhalt dieses Berichts aktiv aufgreifen wird. Viel zulange wurden sozioökonomische Kriterien in der Debatteüber gentechnisch veränderte Pflanzen nur stiefmütter-lich behandelt.Als Forschungspolitiker sehe ich die großen Chancen,die Gentechnologie bei Pflanzen bietet. Wir können nochso viel mehr über Pflanzen und Organismen lernen. Aberman muss strikt zwischen Grundlagenforschung undagrarindustrieller Ausbringung in Umwelt und Naturtrennen. Allerdings sind meines Erachtens noch viel zuviele Fragen ungeklärt, sodass die irreversible, großflä-chige Ausbringung gentechnisch veränderter Pflanzennicht erfolgen sollte. Wir alle wollen mehr Forschung,denn diese schafft notwendiges Wissen, insbesondere inder Biologie.Darauf, warum wir allerdings trotz wissenschaftlicherBedenken und gegen den mehrheitlichen Willen der Be-völkerung gentechnisch veränderten Pflanzen zumDurchbruch auf dem Acker verhelfen sollen, haben we-der FDP noch CDU/CSU eine überzeugende Antwort.Dies sieht man auch daran, dass die CSU plötzlich öf-fentlichkeitswirksam die Agro-Gentechnik ablehnt, aufBundesebene gemeinsam mit der CDU aber wiederholtdas Gentechnikgesetz lockern wollte. Glaubwürdige Po-litik sieht anders aus.Zu ProtokollWas ist nun von den anderen, konkreten Forderungender Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu halten? Solangees wissenschaftlich begründete Bedenken gegen den An-bau von MON810 gibt, muss im Sinne des Vorsorgeprin-zips das Verbot des Anbaus bestehen bleiben. Auch dür-fen keine anderen Sorten zugelassen werden, bei denenähnliche Bedenken wie bei MON810 bestehen. Wo kämenwir denn auch hin, wenn wir bei MON810 ein Verbot er-lassen, bei anderen Sorten trotz ähnlicher Bedenken aberdem Anbau zustimmen würden? Die Forderungen im An-trag von Bündnis 90/Die Grünen halte ich für sinnvollund berechtigt.Die Wählerinnen und Wähler werden im Septemberauch entscheiden können, wie mit der Agro-Gentechnikweiter verfahren werden soll. Die Position der SPD istjedenfalls klar.
Die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland wollenwohlschmeckende und gesunde Lebensmittel, sie wollenden Schutz und Erhalt unserer Natur und unserer Kultur-landschaft. Dies wird durch unsere Gesetze und ihrenVollzug sehr weitgehend gewährleistet. Unsere Lebens-mittel hatten zu keiner Zeit eine höhere Qualität alsheute.Bei dem Antrag der Grünen muss man zwangsläufigan den Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ den-ken. Immer wiederholt sich der gleiche Tagesablauf. Dasist genauso mit der Gentechnikpolitik der Grünen: Angstmachen, wissenschaftliche Ergebnisse, die ihren politi-schen Vorstellungen widersprechen, nicht zur Kenntnisnehmen, die Wissenschaftler, die politisch unerwünschteErgebnisse publizieren, persönlich verunglimpfen. AmEnde steht dann die Forderung nach einem Verbot.Der heutige Antrag der Grünen, mit dem der Anbaueiner bewährten Maissorte verboten werden soll, und derin ähnlicher Form bereits mehr als zehnmal gestellt wor-den ist, ist genauso überflüssig wie seine Vorgänger.Durch den Anbau einer seit zehn Jahren weltweit pro-blemlos angebauten Maissorte ist kein Schutzgut gefähr-det. Wer Menschen Angst macht, macht sie unfrei, will siebevormunden, will sie manipulieren. Ziel grüner Politikist nicht der Schutz der Bürgerinnen und Bürger, sondernihre Manipulation. Der Blick dieser Politikerinnen undPolitiker richtet sich nicht auf Mensch und Natur, son-dern auf die Ergebnisse von Umfragen.Wir wollen dagegen, dass Landwirte selbst entschei-den, welche der zugelassenen Sorten sie zur Lebensmit-telproduktion, zur Fütterung ihrer Tiere, zur Beschickungvon Biogasanlagen anbauen. Wir wollen, dass die Ver-braucherinnen und Verbraucher beim Einkauf entschei-den, welche Lebensmittel sie bevorzugen. Das wollen dieGrünen nicht. Grünes Gutmenschentum will entscheiden,was gut ist für die Kuh von Bauer Piepenbrink. Das lehntdie FDP ab.Besondere Unterstützung hat die grüne Verbotspolitikerfahren durch die schwarz-rote Koalition, die von ihrgetragene Bundesregierung und insbesondere die Minis-terinnen Aigner und Schavan, die das allein politisch
Metadaten/Kopzeile:
25816 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Christel Happach-Kasanmotivierte Verbot von MON810 zu verantworten haben.Ministerin Aigner, CSU, folgt den Spuren ihres Vorgän-gers Horst Seehofer. Ihre eigene Meinung hat sie bei ih-rem Landesvorsitzenden abgegeben. Er hatte 2008 dasBundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsi-cherheit angewiesen, entgegen der Fachmeinung der Be-hörde den Verkauf von MON810 zu verbieten. MinisterinAigner gab diesem Vorbild folgend die Anweisung fürden Verbotserlass. Der Wissenschaftsjournalist ThomasDeichmann hat dies in einem Artikel in der Zeitschrift„Novo“ aufgedeckt und ausführlich dargelegt. Wissen-schaftliche Fakten, die ein Verbot begründen, gibt undgab es nicht. Obere Bundesbehörden, Fachbehördenwerden damit zum verlängerten Arm der Parteipolitik.Die Existenz von Fachbehörden wird damit infrage ge-stellt.Für diese Bundesregierung gilt, was die SüddeutscheZeitung am 30. Juni über Gentechnikgegner schreibt:„Die Gegner setzen mehr auf Stimmung als auf Fak-ten.“; sowie: „Für die Gruselshow werden Gerüchte zuGewissheiten.“Eine französische Forschergruppe hat kürzlich in ei-ner Veröffentlichung der Bundesregierung ins Stamm-buch geschrieben, dass sie in ihrer Entscheidung dasvorhandene Wissen über Bt-Mais ignoriert habe. Schlim-mer noch, einer der Autoren der von der Bundesregie-rung angeführten und in Methodik und Auswertung so-wie Bewertung der Ergebnisse sehr fragwürdigen Studieist inzwischen Mitarbeiter des Bundesamtes für Natur-schutz. Der Schaden, den diese Bundesregierung fürDeutschland, sein Ansehen als Wissenschaftsstandortverursacht hat, ist unermesslich.Mit dem Schüren unbegründeter Ängste treiben ver-schiedene Organisationen, Grüne und auch Mitgliederdieser Bundesregierung Arbeitsplätze in Forschung undWirtschaft aus dem Land. Ministerin Schavan hat dieFreiheit von Forschung und Lehre der Ideologie geop-fert. Das Handeln dieser Bundesregierung liefert denNährboden für kriminelle Feldzerstörungen militanterGentechnikgegner. Deutschland verkommt im Bereichder Biotechnologie zur Provinz. Die Folge ist, dass deut-sche Wissenschaftler an internationalen Projekten im Be-reich der Biotechnologie nicht mehr teilnehmen können.Es ist fachlicher Unsinn, wenn die CSU auch noch for-dert, die Zulassung der Gentechnik in die Regionen zuverlagern. Geradezu peinlich sind die Anbiederungs-versuche von Herrn Söder an die Phalanx der Gentech-nikgegner. Er war sich nicht einmal zu schade, denrechtskräftig verurteilten Landwirt Percy Schmeiser ein-zuladen.Es ist gut, dass es dennoch Wissenschaftler gibt wieProfessor Karl-Heinz Kogel von der Universität Gießen,der trotz aller Anfeindungen, aller Zerstörungen seinerFreisetzungsversuche sagt: „Die Wahrheit setzt sich im-mer durch.“ Die FDP ist auf der Seite der Wahrheit.Die Grünen und immer mehr auch die CSU müssensich fragen lassen, welche Existenzberechtigung einePartei hat, deren mit besonderem Engagement und durchKampagnen verbreitete Thesen sich über kurz oder langZu Protokollals falsch erweisen. Die Forderungen von Verboten vonPC, PET-Flasche und Handy überdauerten nur kurz denpolitischen Alltag. Der Abschied von der Verdammungder Nutzung von gentechnisch veränderten Organismenzur Produktion von Arzneimitteln, Vitaminen, Aminosäu-ren und Enzymen brauchte etwas mehr Zeit. Der Schadenfür Deutschland war entsprechend größer. In absehbarerZeit wird ein grüner Abgeordneter oder eine grüne Abge-ordnete hier im Plenum erklären, dass die Nutzung derGentechnik zur Züchtung von Kulturpflanzen selbstver-ständlich auch von den Grünen aus ganzem Herzen be-fürwortet werde, und hinzufügen, aber Risiken würdendagegen von einer anderen Innovation ausgehen.Die FDP lehnt den vorliegenden Antrag ab.
Die Grünen strecken mit dem vorliegenden Antrageine Hand in Richtung SPD aus. Die Forderungen desAntrags werden seit langem von Linken, Grünen und So-zialdemokraten wiederholt. Bisher hat sich die SPD-Fraktion allerdings immer den Fesseln des Koalitions-vertrags gebeugt und gegen jegliche Einschränkung beider Agrogentechnik gestimmt. Doch das Thema ist viel zuwichtig, um sich weiterhin von der Union zurückhaltenzu lassen. Seien Sie mutig, liebe Kolleginnen und Kolle-gen der SPD, und stimmen Sie für eine gentechnikfreieLandwirtschaft und Imkerei.Wir, die Linke, können die Forderungen unterstützen,auch wenn sie nicht neu sind, in diesem Haus schonmehrmals debattiert wurden und uns auch nicht konse-quent genug sind.Wir stimmen überein, dass keine neuen gentechnischveränderten Pflanzen in der EU zugelassen werden sol-len. Die Grünen allerdings schränken diese Forderungein. Die Bundesregierung soll transgene Pflanzen ableh-nen, für welche „die gleichen Bedenken wie für MON810gelten“. Bedeutet das im Umkehrschluss: Die Grünensind für die Genkartoffel Amflora? Ich hoffe, das meinenSie nicht wirklich so. Es muss doch Grundsatz bleiben:Aus Vorsorgegründen müssen alle gesundheitlichen undökologischen Risiken berücksichtigt werden und nichtnur die, die wir beim MON810 bereits kennen.Die Linke lehnt die Agrogentechnik konsequent ab,erst recht, weil sie in den Händen der Saatgutmultis be-sonders gefährlich ist. Das haben wir in unserem Bun-destagswahlprogramm klar und deutlich formuliert.Gentechnisch veränderte Pflanzen bringen der Mensch-heit keine wirklichen Vorteile, aber den Saatgutkonzer-nen erhebliche Gewinne. Die vermeintlichen Verspre-chen wie höheren Erträgen, weniger Pestiziden odergesünderen Nahrungsmitteln stehen zwar in den Hoch-glanzwerbebroschüren, erfüllen sich aber in der Realitätnicht. Ganz im Gegenteil, stattdessen werden durch Mon-santo, BASF und Co. die gentechnikfreie Landwirtschaft,Imkerei, Umwelt und nicht zuletzt die Gesundheit vonMensch und Tier gefährdet. Einzig die CSU in Bayernscheint in letzter Zeit aus der Koalition von Genlobbyis-ten in Union und FDP ausscheren zu wollen, zumindestbis zur Bundestagswahl.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25817
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Kirsten TackmannVergangene Woche haben die EU-Umweltministerin-nen und -minister einen Vorschlag von elf EU-Mitglied-staaten beraten. Der von Österreich initiierte Vorschlaggalt den nationalen Anbauverboten. Aktuell dürfen dieMitgliedstaaten einzelne Anbauverbote nur dann aus-sprechen, wenn neue wissenschaftliche Erkenntnisse eineGefährdung durch Genpflanzen belegen. MinisterinAigner hat aus diesem Grund den Anbau von GenmaisMON810 in Deutschland verboten. Das war gut. So ha-ben wir die Möglichkeit, in diesem Sommer etwas weni-ger emotional über die Risikotechnologie Agrogentech-nik zu debattieren. Ich hoffe, das Verbot bleibt auch nachder Bundestagswahl bestehen und dient als positives Bei-spiel für weitere EU-Mitgliedstaaten.Die Linke streitet für ein Europa ohne Agrogentech-nik. Wir stehen klar an der Seite der Menschen in denMitgliedstaaten und nicht auf der Seite der internationa-len Saatgutmultis. Die Agrogentechnik wird aus gutenGründen mehrheitlich abgelehnt. Daher muss jede Mög-lichkeit genutzt werden, ihre gewollte oder ungewollteAusbreitung zu verhindern. WTO und Saatgutkonzernehaben mithilfe der bürgerlichen Parteien einen fakti-schen Gentechnikzwang durchgesetzt. Die Linke ist derAuffassung, dass die EU-Mitgliedstaaten – im Interesseihrer Bevölkerung und dem Vorsorgegedanken verpflich-tet – das Recht haben müssen, sich dagegen zur Wehr zusetzen. Wir unterstützen daher die Stärkung des Rechtsauf nationale Anbauverbote auch bei vorliegender EU-Zulassung von Genpflanzen, vor allem, da diese Zulas-sungsverfahren seit langem in der Kritik stehen.Die Linke fordert den rechtlich gesicherten Verzichtauf Agrogentechnik in Deutschland und Europa. Solangedas noch nicht erreicht ist, müssen Zulassungs- undKennzeichnungsvorschriften so streng sein, dass die Inte-ressen der gentechnikfreien Landwirtschaft und Imkereigesichert bleiben. Das schließt auch ein Umdenken beiden importierten Sojafuttermitteln ein. Regionale Ei-weißfutterpflanzen müssen so schnell wie möglich Gen-Soja aus Brasilien ersetzen. Für die Linke bleibt ein Eu-ropa ohne Agrogentechnik das Ziel. Dafür werden wirauch in der nächsten Legislatur weiter streiten. Dem An-trag stimmen wir zu, auch wenn er keinen wirklichen Er-kenntnisfortschritt bringt.
Nach dem Verbot von MON810 haben Umwelt- undVerbraucherverbände, Imker und gentechnikfrei wirt-schaftende Landwirte aufgeatmet. Leider war dieser Er-folg nur ein Etappensieg, wie die aktuelle Entscheidungder EU-Lebensmittelbehörde EFSA zu MON810 zeigt,und deswegen ist unser Antrag so topaktuell. Obwohlselbst die EFSA in ihrem Gutachten mögliche Risikendurch MON810 – zum Beispiel auf Schmetterlinge undWasserorganismen – nicht ausschließen kann, erteilt siedem insektengiftigen Mais einen Persilschein – mit demVorbehalt, eine Gefährdung von Schmetterlingen müsseverhindert werden. Doch leider können weder Bienennoch Schmetterlinge lesen, und die Vorgaben zeigen ein-mal mehr, dass es den Experten an Umweltkompetenzfehlt. Vollkommen fehlen bei der EFSA-Bewertung natür-lich die sozioökonomischen Risiken durch einenZu ProtokollMON810-Anbau – zum Beispiel durch die Kosten, diegentechnikfrei wirtschaftenden Landwirten zur Vermei-dung von Verunreinigungen entstehen. Man kann nurhoffen, dass die EU-Gremien vor ihrer Entscheidungüber eine Verlängerung der MON810 noch zusätzliche– und vor allem unabhängige – Wissenschaftsmeinungeneinholen. Und wir fordern, dass sich die RegierungDeutschlands – wie in unserem Antrag – auf EU-Ebenegegen eine Verlängerung der MON810-Zulassung aus-spricht.Die Bundesregierung muss sich ebenso gegen die inder EU anstehenden Entscheidungen über die Zulassung
Risiken gelten wie für MON810: Alle drei Maissortenenthalten das Bt-Gift, das nachgewiesenermaßen Nicht-zielorganismen wie Marienkäferlarven, Wasserflöhe undKöcherfliegenlarven schädigt. Auf Grundlage dieser Er-kenntnisse hat Ministerin Aigner den Genmais MON810verboten. Ein Rollback bei Bt-Pflanzen dürfen wir daherauf keinen Fall zulassen. Zusätzlich sind die beidenneuen Genmaislinien Bt11 und Bt1507 noch resistent ge-gen den Herbizidwirkstoff Glufosinat, der wegen seinerextremen Giftigkeit nach der neuen EU-Pestizidverord-nung vom Markt genommen werden muss.Es ist ein Skandal, dass bei der Risikobewertung vonGenmais durch die Behörden nicht auch die mit denPflanzen komibinierten Herbizide untersucht werden undkeine Gesamtbewertung vorgelegt wird. Die Hinweiseauf die Gefährlichkeit dieser Totalherbizide sind besorg-niserregend. So sind laut einer Untersuchung der Uni-versität Buenos Aires und einer französischen Studie seitder massiven Ausweitung des Gen-Soja-Anbaus und da-mit der Verwendung des Totalherbizids Roundup mit demWirkstoff Glyphosat die Schädigung von Amphibien unddes Bodenlebens durch das Herbizid aufgetreten. Ebensosind eine stark gestiegene Rate von Missbildungen,Krebs und weitere gravierende Gesundheitsschäden zubeobachten. Da immer mehr Unkräuter auftreten, die ge-gen Roundup resistent sind, müssen immer höhere Men-gen und zusätzliche Herbizide eingesetzt werden. DieseEntwicklungen müssen untersucht und dürfen nicht wei-ter ignoriert werden.Es ist vor diesem Hintergrund völlig absurd, wenn Mi-nisterin Schavan in der „Financial Times Deutschland“behauptet, es gäbe keine wissenschaftlichen Belege fürgesundheitliche oder ökologische Schäden durch diegrüne Gentechnik. Damit unterstellt Frau Schavan sogarihrer Kollegin Aigner aus der eigenen Fraktion, keinefaktenbasierte Entscheidung getroffen zu haben. Natür-lich gibt es wissenschaftliche Belege für Risiken – wie jaauch das neueste EFSA-Gutachten zu MON810 oder dieStellungnahme zu Amflora zeigt. Aber diese Belege wer-den ignoriert oder einfach als „nicht relevant“ von denBehörden eingestuft. Das ist alles andere als die Wah-rung des Vorsorgeprinzips beim Umgang mit Genpflan-zen, wie es das deutsche und auch das EU-Recht eigent-lich ausdrücklich vorsehen.Inzwischen haben Deutschland und fünf weitere EU-Staaten aufgrund neuer Gefahrenerkenntnisse den An-
Metadaten/Kopzeile:
25818 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25819
(C)
(D)
Ulrike Höfkenbau von MON810 verboten. Es zeichnet sich bereitsbreite Unterstützung für eine Initiative Österreichs ab,nationale Anbauverbote für GVO auch auf der Grund-lage sozioökonomischer Auswirkungen zu ermöglichen.Wie ein Gutachten im Auftrag der grünen Bundestags-fraktion ergeben hat, sind rechtliche Handlungsspiel-räume des Bundes und der Kommunen bei der Unterstüt-zung und Absicherung gentechnikfreier Regionendurchaus vorhanden.Zu den negativen sozioökonomischen Folgen derAgrogentechnik zählen auch Kosten für gentechnikfreiwirtschaftende Bauern und Lebensmittelwirtschaft, diedurch Agrogentechnik verursacht werden, wie eine Stu-die des Bundes der ökologischen Lebensmittelwirtschaft
zeigt. Kontaminationen bei Saat- und Erntegut
durch nichtverkehrsfähige GVO belaufen sich alleine beiden bekanntgewordenen Fällen inzwischen auf mehrereMilliarden US-Dollar. Die Kosten für Systeme zum Er-halt der gentechnikfreien Lebensmittelproduktion in derEU und Japan werden auf 100 Millionen US-Dollar jähr-lich geschätzt; für ein mittelständisches Unternehmensind das circa 100 000 Euro pro Jahr. Auch für Bauernbedeutet Agrogentechnik steigende Kosten: Die Saatgut-kosten bei Mais und Soja, wo die Gentechnik bereits eineerhebliche Rolle spielt, sind innerhalb der letzten dreiJahrzehnte weltweit auf das Fünffache gestiegen – bei ei-ner Steigerung des Ertrags um den Faktor 1,7, die vor al-lem auf Züchtungsfortschritte der konventionellen Aus-gangssorten beruht. Bei Weizen und Reis, wo Gentechnikkeine kommerzielle Rolle spielt, stiegen die Preise paral-lel zum Ertrag. Einen nennenswerten Beitrag zur Er-tragssteigerung konnte die Agrogentechnik selbst bislangnicht leisten, Fortschritte hierbei kommen bislang fastausschließlich durch die konventioneller Züchtung.Auch die versprochenen Arbeitsplätze liefert die Agro-gentechnik nicht. Während früher immer mal wieder Stu-dien mit irgendwelchen dubiosen Hochrechnungen zuArbeitsplatzpotenzialen erschienen, ist es hier in letzterZeit sehr ruhig geworden mit derartigen Versprechun-gen. Man kann nur hoffen, dass auch die Union inzwi-schen dazugelernt hat, die noch in den späten 90er-Jah-ren durch ihren damaligen Forschungsminister Rüttgersbis zu 9 Millionen Arbeitsplätze versprach. Dagegenzeigte schon 2006 eine Studie der Uni Oldenburg, dass esweniger als 500 Beschäftigte im privatwirtschaftlich fi-nanzierten Bereich der Agrogentechnik gibt.Der kanadische Farmer Percy Schmeiser berichtet ak-tuell in Deutschland auf Veranstaltungen mit tausendenTeilnehmern von seinen Erfahrungen mit der Agrogen-technik. Schmeisers Lebenswerk, die Züchtung guterRapssorten, wurde durch Einkreuzung von Genraps desKonzerns Monsanto zerstört. Die Rapsernte wurde al-lein durch diese Kontamination zum Eigentum vonMonsanto. Zur Durchsetzung seiner Patentansprücheschreckt Monsanto auch nicht vor dem Einsatz schwar-zer Sheriffs, Detektive und Denunziationsprämien zu-rück. So wird Zwietracht und Misstrauen unter denLandwirten gesät. US-Landwirte, die unter Monsantound seinen Detektiven auf dem Acker und den Klagen vorGericht zu leiden haben, klagten darüber erst kürzlichrecht prominent platziert in der „FAZ“ und warntendeutsche Landwirte davor, sich – vollkommen unnötig –auf Monsanto und seine „Angebote“ einzulassen.CDU, CSU und SPD haben wie die FDP in den letztenMonaten deutlich gemacht, dass sie sich vom Leitbild ei-ner mittelständischen und bäuerlichen Landwirtschaftverabschiedet haben. Elemente ihrer Ausrichtung auf dieIndustrialisierung der Landwirtschaft sind ihr mangeln-der Widerstand gegen eine Zulassung von Klonfleisch,das Einknicken vor Bayer und Co in Sachen Biopatent-recht trotz dringendem Änderungsbedarf, die Genehmi-gung von Freilandversuchen mit der Genkartoffel Am-flora, die nur den Interessen der BASF und nicht derErforschung von Risikofragen dienen, und eine völligverfehlte Milchpolitik, die den gesamten Wirtschaftsbe-reich und Tausende von Arbeitsplätzen zerschlägt.Wir Grüne wollen diesen Weg einer Industrialisierungder Landwirtschaft auf Kosten von Bauern, Imkern, Um-welt und Verbrauchern stoppen. Wir messen CDU, CSUund SPD nicht an schönen Worten in Sonntagsreden undWahlkämpfen, sondern an ihrem Verhalten in Brüssel,wenn es um Entscheidungen zur Agrogentechnik geht.Wir erwarten, dass sich die Bundesregierung auf EU-Ebene aktiv gegen die Verlängerung von MON810 ein-setzt, wie wir es in unserem Antrag fordern. Es reichtnicht, wenn CSU- und SPD-Abgeordnete lediglich Fens-terreden gegen die Agrogentechnik halten. Wir erwarten,dass sie dann auch unserem Antrag hier im Parlamentzustimmen, der nichts anderes fordert als das, was sieselbst bei Veranstaltungen zur Agrogentechnik fordern.
Es liegen fünf Erklärungen nach § 31 unserer Ge-schäftsordnung vor, die wir zu Protokoll nehmen.1)Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschussfür Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutzempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 16/13663, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/13398 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istangenommen mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion,eines Teils der SPD-Fraktion und der FDP-Fraktion beiGegenstimmen der Fraktionen Die Linke undBündnis 90/Die Grünen, einer gewissen Zahl von Abge-ordneten der SPD und einer Stimme aus dem Bereich derCDU/CSU. Damit ist die Mehrheit klar. Die Beschluss-empfehlung ist angenommen.
Ich darf darauf hinweisen, dass wir noch über einengroßen Packen von Beschlussempfehlungen und Ent-schließungen abstimmen müssen. Wer daran teilnehmenwill, ist herzlich eingeladen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ein-1) Anlagen 5 und 6
Metadaten/Kopzeile:
25820 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solmsführung einer Modellklausel in die Berufsge-setze der Hebammen, Logopäden, Physiothe-rapeuten und Ergotherapeuten– Drucksache 16/9898 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Gesundheit
– Drucksache 16/13652 –Berichterstattung:Abgeordneter Jens Spahn
Das Gesundheitssystem in Deutschland unterliegt ei-
nem großen Wandel. Diese Veränderungen wirken sich
auch auf die Anforderungen an die Beschäftigten in den
Pflege- und Heilberufen aus. Deshalb wird mit dem Ge-
setz zur Einführung einer Modellklausel in verschiedene
Berufsgesetze den Bundesländern ermöglicht, zeitlich
befristete Änderungen der Ausbildungsstrukturen vorzu-
nehmen und im Rahmen von Modellprojekten neue Aus-
bildungsmöglichkeiten an Hochschulen zu erproben. Da-
durch können richtungweisende Erkenntnisse für die
Weiterentwicklung der Ausbildungen gewonnen werden.
Wir erhöhen damit die Wettbewerbsfähigkeit dieser Aus-
bildungen im europäischen Vergleich und fördern die
europaweite Mobilität.
Mit dem Krankenpflegegesetz wurde bereits 2003 für
die Berufe in der Gesundheits- und Krankenpflege bzw.
in der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege eine Mo-
dellklausel zur zeitlich befristeten Erprobung von Ausbil-
dungsangeboten, die der Weiterentwicklung der Pflege-
berufe unter Berücksichtigung der berufsfeldspezifischen
Anforderungen dienen sollen, geregelt. Die damit ge-
machten positiven Erfahrungen können jetzt auch in an-
deren Berufsfeldern eingesetzt werden.
Mit dem vorliegenden Gesetz wird nun auch bei der
Ausbildung der Hebammen, der Logopäden, der Physio-
therapeuten und der Ergotherapeuten den Ländern die
Möglichkeit eröffnet, in Abweichung zu den gegebenen
Ausbildungsstrukturen eine Weiterentwicklung der Aus-
bildungssysteme zu erproben. Die Modellerfahrungen
sollen Bund und Ländern als Grundlage für die Fortent-
wicklung der Berufsgesetze dienen. Diese ist insbeson-
dere erforderlich, um die Ausbildungen dieser Berufe im
europäischen Vergleich wettbewerbsfähig zu machen und
die berufliche Mobilität deutscher Berufsangehöriger zu
fördern.
Der Gesetzentwurf folgt den Beschlüssen der 80. Ge-
sundheitsministerkonferenz, die sich im Jahr 2007 mit
dem Thema beschäftigt und den Bund einstimmig gebe-
ten hat, Modellklauseln analog zum Krankenpflegegesetz
in die Berufsgesetze der übrigen nichtärztlichen Heilbe-
rufe aufzunehmen. Ein besonderer Bedarf wurde zu-
nächst für die Berufe der Hebammen, der Logopäden,
der Physiotherapeuten und der Ergotherapeuten gese-
hen. In den meisten dieser Berufsausbildungen befinden
sich heute bereits im Rahmen der Fachschulausbildung
zu einem sehr hohen Anteil Schülerinnen und Schüler mit
Fachhochschulreife oder Abitur. Zudem bieten diese Be-
rufe die Möglichkeit der Entwicklung eigener Fach-
expertisen in Abgrenzung zur ärztlichen Tätigkeit.
Die Modellprojekte sind bis zum Jahr 2017 zeitlich
begrenzt und unterliegen einer sorgfältigen Evaluation.
Somit können mehrere Ausbildungsjahrgänge gestartet
werden und es existiert eine gute Datenbasis, um die Mo-
dellprojekte zu bewerten. Im Gesetz wird sichergestellt,
dass alle Modelle, die vor 2017 gestartet sind, auch be-
endet werden können. Somit haben alle Teilnehmerinnen
und Teilnehmer die Garantie, zu einem Berufsabschluss
zu kommen. Dies ist wichtig, da die jungen Absolventin-
nen und Absolventen ihre berufliche Zukunft darauf stüt-
zen.
Die genaue Ausgestaltung der Modelle, zum Beispiel
in Bezug auf die Ziele, Dauer, Art und die allgemeinen
Vorgaben, sind jeweils von den Ländern eigenverant-
wortlich festzulegen. Die Länder kümmern sich auch um
die wissenschaftliche Begleitung und Auswertung. Um
die in den Ländern unterschiedlich ausgestalteten Mo-
dellprojekte vergleichen zu können, wird das Bundes-
ministerium für Gesundheit für die Evaluation einen Kri-
terienkatalog vorlegen. Der Deutsche Bundestag wird
vom Ministerium zum 31. Dezember 2015 einen Ergeb-
nisbericht der Modellvorhaben erhalten, um auf dieser
Grundlage rechtzeitig vor Auslaufen der Regelung ent-
scheiden zu können, wie die Ausbildungen dauerhaft ge-
staltet werden sollen.
Bei der Entwicklung neuer Ausbildungswege an
Hochschulen ist das Ziel aber nicht, die herkömmlichen
Berufsausbildungen an Fachschulen zu ersetzen, son-
dern sie im Gegenteil zu ergänzen. So besteht die Chance
gerade darin, dass eine neue Stufe zusätzlich gewählt
werden kann. Dies kann – gerade auch in Zeiten von sin-
kenden Schülerzahlen – die Attraktivität der Heilberufe
weiter steigern.
Gerade auch für die Beteiligung an Forschung und
Lehre ist es wichtig, dass die nichtärztlichen Heilberufe
unter den veränderten Anforderungen des heutigen Ge-
sundheitswesens eine eigene Fachexpertise entwickeln.
Damit kann auch dazu beigetragen werden, die fachliche
Kompetenz im Sinne der Patienten weiterzuentwickeln
und sie auf der Grundlage wissenschaftlicher Ergebnisse
auch belegen zu können.
Mit der Möglichkeit, neue Ausbildungsformen in Mo-
dellen zu erproben, bieten wir nicht nur den angehenden
Hebammen, den Logopäden, den Physiotherapeuten und
den Ergotherapeuten die Möglichkeit eines zusätzlichen
attraktiven Ausbildungsweges, sondern sorgen auch da-
für, dass die Versorgung der Patientinnen und Patienten
in Deutschland noch besser werden kann. Ich bitte Sie
deshalb, diesem Gesetz zuzustimmen.
Die Hebammen, Logopäden, Physiotherapeuten und
Ergotherapeuten werden meist den nichtärztlichen Heil-
berufen, Heilhilfsberufen, Heilergänzungsberufen oder
auch medizinischen Assistenzberufen zugeordnet. Wuss-
ten Sie, dass diese Berufsbezeichnungen von den betrof-
fenen Berufsgruppen oftmals als diskriminierend emp-
(C)
(D)
Dr. Margrit Spielmann
funden werden? Und: Warum ist das so, und was können
wir dagegen tun?
Kommen wir also zur ersten Frage. Zahlreiche Struk-
turreformen im Gesundheitswesen haben in den vergan-
genen Jahren zu weitreichenden Veränderungen in der
beruflichen Praxis und in der Ausbildung von Ärzten,
aber eben auch von nichtärztlich tätigen Berufsgruppen
geführt. Letztere übernehmen in der Praxis zunehmend
mehr Verantwortung für die Prävention, Heilung, Reha-
bilitation und Pflege der Patienten. So besteht die Auf-
gabe zum Beispiel eines Logopäden nicht nur in der Dia-
gnostik und Therapie von Kommunikationsstörungen,
die sich auf die Sprachentwicklung, Sprech- und Stimm-
störungen beziehen. Vielmehr übernimmt er auch prä-
ventive Aufgaben wie Information und Beratung, um die
Entstehung oder die Verschlechterung einer Störung zu
verhindern. Dazu zählen auch Maßnahmen zur Früherken-
nung einer sich abzeichnenden Störung bei Erwachsenen
und Kindern durch eine Beratung der Eltern oder eine
Reihenuntersuchung im Kindergarten. Zudem erfolgt ne-
ben der Diagnostik eine umfassende Evaluation. So wer-
den situations- und altersgerechte Therapiepläne zum
Beispiel bei Aphasie und Schlaganfällen selbstständig
und eigenverantwortlich erstellt und deren Effektivität
umfassend ausgewertet. Außerdem übernehmen sie die
Beratung von Patienten und Angehörigen zu Rehabilita-
tions- oder sozialbetreuenden Maßnahmen.
Die Liste der Tätigkeitsfelder ließe sich noch lang
fortführen und ohne Weiteres auf die anderen genannten
Berufsgruppen übertragen. Ich denke aber, dass ich Sie
nicht mit langatmigen Aufzählungen quälen muss, um zu
zeigen, dass die Palette von Tätigkeiten nicht nur groß
und vielfältig, sondern auch in hohem Maße verantwor-
tungsvoll ist. Dieses hohe Maß an Verantwortung, wel-
ches der ärztlichen zunehmend gleicht, wird aber durch
die aktuellen Berufsbezeichnungen und die damit ver-
bundenen rechtlichen Regelungen nicht angemessen wi-
dergespiegelt.
Was ist nun die Lösung dieser mangelnden Anerken-
nung? Ich sage: Akademisierung! Auf das große Leis-
tungsspektrum mit den gewachsenen Verantwortlichkei-
ten muss mit der Möglichkeit der Ausweitung der
theoretischen Grundlagen angemessen reagiert werden.
Das heißt nicht, dass der praktische Teil der Ausbildung
angetastet wird, sondern dass innerhalb der schulischen
Ausbildung neue Wege eröffnet werden. Bereits heute be-
finden sich in den meisten dieser Berufsgruppen zu sehr
hohem Anteil Abiturienten. Auch hier böte die Akademi-
sierung die Anpassung bereits bestehender Möglichkei-
ten an die Praxis.
Außerdem ist deutlich geworden, dass sich die Tätig-
keiten der genannten Berufsgruppen und der Ärzte oft-
mals überschneiden und diese quasi Hand in Hand ge-
hen. Zudem wird die schnittstellenübergreifende
Koordinierung der Behandlung durch die aktuelle Ge-
sundheitsreform ja gerade forciert. Vor allem zur Verbes-
serung der Qualität in der Versorgung chronisch Kran-
ker wurden Instrumentarien im Gesetz verankert, die für
alle an der Versorgung beteiligten Berufsgruppen von
praktischer Bedeutung sind. Zum Beispiel werden die
Zu Protokoll
Disease-Management-Programme von ärztlichen und
nichtärztlichen Leistungserbringern gemeinsam – koor-
diniert und kooperativ – durchgeführt. Dabei ist doch für
eine qualitätssichernde und reibungslose Zusammenar-
beit eine Begegnung auf Augenhöhe unabdingbar. Die
Akademisierung eröffnet genau diese Möglichkeit. Sie
bietet die Chance, vorhandene Hierarchieebenen zwi-
schen ärztlichen und nichtärztlichen Leistungserbrin-
gern im Gesundheitswesen zu überprüfen und neu festzu-
legen. Diese neuen Kooperationsbeziehungen sollten in
gemeinsamer Verantwortung für die Gesundheit der Pa-
tienten und der Bevölkerung entwickelt werden. Die Aus-
bildung auf einem höheren Niveau und damit eine bes-
sere Qualifikation verbindet also den Anspruch eines
effizienten und wirkungsvollen Gesundheitswesens mit
der qualitativ hochwertigen Behandlung der Patienten.
Hinzu kommt, dass die derzeitige deutsche Ausbil-
dungssituation in den therapeutischen Gesundheitsfach-
berufen im internationalen Kontext eine Ausnahme dar-
stellt. Das heißt, Bachelor- und Masterstudiengänge
bilden international den Standard. Hier hinken wir also
sehr weit hinterher, sodass sich die Frage stellt, wie es
sich in Zukunft mit der Arbeitsmarktfähigkeit dieser Be-
rufe verhalten wird. So besteht die Gefahr, dass Men-
schen, die in diesem Bereich eine akademische Ausbil-
dung machen wollen, ins Ausland abwandern und
danach auch dort bleiben. Dies hätte für uns einen Fach-
kräftemangel zur Folge, wodurch wir im Vergleich zum
europäischen Ausland im Grunde nicht mehr zukunftsfä-
hig wären. Zumindest langfristig können wir dann das
Niveau im Hinblick auf Qualität, Effizienz und Wirksam-
keit im europäischen Vergleich nicht mehr halten.
Die gegenwärtige deutsche Ausbildungssituation
führt also zu einer Benachteiligung der genannten Be-
rufsgruppen. Die gewünschte Mobilität kommt nicht zu-
stande, weil deutsche Berufsangehörige im Ausland wei-
tere Schulungen und andere Maßnahmen durchlaufen
müssen, um dort voll anerkannt zu sein. Vielmehr sollte
es aber zu einer Mobilität in beide Richtungen kommen,
also die Möglichkeit für deutsche Berufsangehörige be-
stehen, durch die Öffnungsklausel direkt in das europäi-
sche Netz integriert zu werden. Andererseits soll es für
Berufsangehörige aus anderen europäischen Ländern at-
traktiver werden, in Deutschland ihren Beruf auszuüben.
Damit würde man auch dem genannten Problem des
Fachkräftemangels wirkungsvoll begegnen.
Die Medizinalfachberufe, wie sie richtig heißen, sind
heute bei der Leistungserbringung auf einem Niveau an-
gelangt, das der theoretischen und akademischen Absi-
cherung bedarf, wenn die Angehörigen dieser Berufe die
Patienten so behandeln können sollen, wie es der gesell-
schaftliche Bedarf verlangt und wie das im Ausland eben
auch bereits übliche Praxis ist.
Die Medizin insgesamt und in ihren Teilbereichenentwickelt sich in Forschung, Diagnostik und Therapieimmer weiter. Es ist zu sehen, dass dieser Entwicklungs-prozess in den nächsten Jahren anhalten wird. Was fürdie Medizin insgesamt gilt, gilt auch für ihre Teilberei-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25821
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Konrad Schilyche, und es gilt auch für die mit der ärztlichen Tätigkeitverbundenen Berufe, insbesondere für die in diesemGesetz genannten Hebammen, Logopäden, Physiothera-peuten und Ergotherapeuten.Aus der Zunahme des Wissens und der Fähigkeitenfolgen die Notwendigkeit der qualitativen Anhebung derAusbildung einerseits und die Möglichkeit zu einereigenständigen Forschung in diesen Bereichen anderer-seits. Darauf wurde insbesondere von Sachverständigenin der Anhörung zu diesem Gesetzentwurf vom 26. Mai2009 hingewiesen. In dieser Anhörung wurde auch deut-lich gemacht, dass durch die Anhebung in der Qualitätder Ausbildung die Praxisanteile nicht zu kurz kommendürfen. Deshalb begrüßen wir, dass seitens der GroßenKoalition der praktische Teil der Ausbildung durch ent-sprechende Änderungsanträge Berücksichtigung gefun-den hat.Die Modellklausel, wie sie im Gesetzentwurf vorgesehenist, ermöglicht es den Ländern, eine Weiterentwicklungder Ausbildungsstrukturen zu erproben. Das schafft dienotwendige Flexibilität, ohne sofort neue Strukturen zuzementieren. Zu begrüßen ist deshalb auch, dass in dieserErprobungsphase eine Evolution der Maßnahmen erfolgensoll, sodass man sich nach Beendigung ein abschließen-des Urteil über die Umstrukturierung machen und even-tuelle Konsequenzen ziehen kann. Die Fraktion der FDPstimmt deshalb diesem Gesetzentwurf zu.
Es gibt gute Gründe dafür, dass auch für nichtärztli-che Heilberufe die Ausbildungen an Hochschulen mo-dellhaft erprobt werden. Denn auch für Hebammen, Lo-gopäden, Physiotherapeuten und Ergotherapeuten gilt:Ihr Arbeitsalltag wird immer komplexer, die Anforderun-gen an das benötigte Fachwissen, das technische Know-how und die Notwendigkeit, wissenschaftliche Studien zuverstehen, wachsen. Es geht aber auch um den Anspruch,über eine wissenschaftliche Qualifikation dieser Gesund-heitsfachberufe die wissenschaftliche Forschung auf de-ren fachliche Interessen auszurichten.Wir begrüßen, dass die Koalition unsere Kritik an demursprünglichen Gesetzentwurf sowie die Bedenken derzuständigen Fachgewerkschaft und der Krankenkassenzumindest teilweise aufgegriffen und dazu Änderungsan-träge eingebracht hat. Jetzt ist eine wissenschaftliche Be-gleitung dieser Modelle vorgesehen. Die Modellprojektewerden zeitlich befristet, und zur Vermeidung einer Zer-splitterung des Berufsbilds bleiben die Ausbildungs- undPrüfungsordnungen unverändert erhalten. Dies alleswird von der Fraktion Die Linke unterstützt.Wir verstehen allerdings nicht, warum Sie lediglichfür vier Berufsgruppen – nämlich für Hebammen, Logo-päden, Physiotherapeuten und Ergotherapeuten – solcheModellprojekte vorsehen. Können Sie ein vernünftigesArgument nennen, warum Sie Rettungsassistenten, medi-zinisch-technische Assistentinnen, pharmazeutisch-tech-nische Assistenten, Diätassistenten und Orthoptistinnenvon solchen Modellprojekten ausschließen?Zu ProtokollWir halten es für nicht akzeptabel, dass Sie den mögli-chen Umfang der Teilnehmerzahlen solcher Modellpro-jekte unbegrenzt lassen. Wenn Sie diese Kompetenz denLändern übertragen, gefährden Sie unter Umständen dieschulischen Angebote. Falls nämlich in manchen Bun-desländern in den Modellprojekten sehr große Teilneh-merzahlen zugelassen werden, können die Schulen dieSchotten dichtmachen, weil dieses Ausbildungsangebotnicht mehr nachgefragt würde. Deshalb bedarf es klarerVorgaben gegenüber den Bundesländern, auch hinsicht-lich der Ziele der Projekte. Dazu haben Sie keine Vorga-ben gemacht.Es ist auch nicht hinzunehmen, dass Sie für angehendeHebammen, die im Rahmen der Modellprojekte studie-ren, die Ausbildungs- und Vergütungsregelungen außerKraft setzen. Es liegt doch auf der Hand: Studierende, diekostenlos in der fachpraktischen Ausbildung in Kranken-häusern arbeiten, verdrängen die Auszubildenden ausden Fachschulen. Denn für diese ist eine Ausbildungs-vergütung zu zahlen. Damit werden die Fachschulen zu-sätzlich gefährdet.Ich hoffe, dass wir uns in einem Punkt einig sind: dasswir gemeinsam für den Erhalt der Fachschulausbildungin den vorgenannten Gesundheitsberufen eintreten, diesunabhängig vom Ausgang der Modellprojekte. Solltendie Ergebnisse der Modellvorhaben positiv sein, kann diewissenschaftliche Ausbildung nur als zusätzliches Ange-bot neben der fachschulischen Ausbildung stehen.Es wäre im Sinne der Patienten und der Heilberufler,wenn Sie unsere Vorschläge im Gesetzgebungsverfahrennoch berücksichtigen würden. Da aber davon auszuge-hen ist, dass hier keine Änderungen mehr vorgenommenwerden, können wir diesem Gesetzentwurf nicht zustim-men. Das Anliegen wird von uns unterstützt, aber – wieso oft in dieser Legislaturperiode – kommen Sie mit hal-ben Lösungen, die zwar besser sind als gar keine, aber inkeinem Falle ausreichen. Deshalb werden wir uns ent-halten.
Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünenwird sich bei der Abstimmung über den vorliegenden Ge-setzentwurf des Bundesrates enthalten.Die Koalition hat sich sehr lange Zeit bis zur Verab-schiedung dieses Gesetzes mit seinem doch eher über-schaubaren Umfang genommen. Der Gesetzentwurf desBundesrates ist am 2. Juli auf den Tag ein Jahr alt. Imvergangenen September ging er in die erste Lesung. Erstim März dieses Jahres wurde der Entwurf dann erstmalsim Gesundheitsausschuss aufgerufen, bis er nun heute indeutlich veränderter Form wohl mit der Mehrheit derStimmen der Koalition verabschiedet wird. Trotz dieserungewöhnlich langen Zeit sind einige Probleme bis zumSchluss nicht befriedigend oder gar nicht gelöst worden.Ich möchte aber mit einigen positiven Anmerkungenbeginnen. Wir Grüne haben von Beginn der Beratungenan gesagt, dass wir das Anliegen des Gesetzentwurfes imGrundsatz unterstützen. Angesichts der demografischen
Metadaten/Kopzeile:
25822 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Elisabeth ScharfenbergEntwicklung, sich wandelnder Familien- und Gesell-schaftsstrukturen steigen die Anforderungen an die Ge-sundheits- und Heilberufe. Es gilt, diese Berufe inDeutschland auch innerhalb der Europäischen Unionauf Augenhöhe mit den anderen Mitgliedstaaten zu brin-gen. Die inzwischen seit Jahren geführte Debatte überdie Neuordnung der Gesundheitsberufe, auch was ihrVerhältnis zueinander betrifft, muss endlich auch in derPraxis Früchte tragen.Es ist deshalb richtig, andere Formen von Ausbil-dungsangeboten, zum Beispiel an Hochschulen, zu er-proben. Allerdings war der Gesetzentwurf des Bundesra-tes handwerklich eher schlampig und wenig überzeugendgestrickt. So blieb im Entwurf völlig unklar, was denn ei-gentlich das genaue Ziel solcher Modellklauseln seinsoll, welchen Umfang und welche Dauer sie haben sol-len. Von einer wissenschaftlichen Begleitung und Aus-wertung der Modelle, die freilich zwingend notwendigist, war ebenfalls keine Rede. Zum anderen drohte nachdem Entwurf ein föderaler Flickenteppich von Modell-vorhaben, weil die Länder die Modelle im Wesentlichennach ihrem Gusto hätten ausgestalten können.Mit den – wieder einmal in letzter Sekunde einge-brachten – Änderungsanträgen der Großen Koalitionwerden die meisten dieser Probleme auf recht gute Artund Weise gelöst. Das begrüßen wir. Die nunmehr einge-fügten Bestimmungen über Zielvorgaben, Dauer, Art unddie wissenschaftliche Begleitung der Modellvorhabenscheinen uns sinnvoll zu sein. Zwar liegt die Durchfüh-rung der Modelle weiterhin bei den Ländern, sodassauch weiterhin föderale Abweichungen denkbar sind. Esist aber zu hoffen, dass sie sich dadurch im Rahmen hal-ten, dass bei den Modellen nur sehr eingeschränkt vonden Inhalten der jeweiligen Ausbildungs- und Prüfungs-ordnung abgewichen werden darf. Auch die vorgesehe-nen bundeseinheitlichen Richtlinien für die wissenschaft-liche Begleitung sind in diesem Kontext richtig.Das reicht jedoch nicht aus, damit wir diesem Gesetzzustimmen können. Für bedenklich halten wir etwa dieÄnderung des Hebammengesetzes. Diese sieht vor, dassfür Teilnehmerinnen solcher Modellvorhaben die Rege-lungen zum Ausbildungsverhältnis außer Kraft gesetztwerden. Das wird, wenn auch nur im Rahmen von zeitlichbefristeten Modellen, eine erhebliche Benachteiligungder Studierenden gegenüber den Auszubildenden bedeu-ten, da sie zum Beispiel keine Ausbildungsvergütung er-halten. Ein Nebeneinander unbezahlter Studierender undbezahlter Auszubildender, die aber zumindest ähnlicheTätigkeiten ausüben, halte ich für bedenklich. Hierdurchkönnten Schulstandorte womöglich gefährdet werden,weil für die Kliniken die unbezahlten Studierenden at-traktiver sind.In diesem Zusammenhang weisen wir auch darauf hin,dass der quantitative Umfang der Modellvorhaben imGesetz nicht geregelt wird. Wie viele solcher Modellealso in den einzelnen Ländern ins Leben gerufen werden,ist nicht absehbar. Womöglich kommt es zu einer Mo-dellinflation. Dies könnte auch hinsichtlich der ange-sprochenen Problematik im Hebammengesetz durchausvon Bedeutung sein.Zu ProtokollIch möchte auch erwähnen, dass einige weitere Ge-sundheitsberufe, wie beispielsweise die Diätassistentin-nen und -assistenten oder Orthoptistinnen und Orthop-tisten, während des Gesetzgebungsverfahrens und beider öffentlichen Anhörung zum Ausdruck gebracht ha-ben, dass sie Modellklauseln für ihre Berufsgruppenebenfalls wünschenswert fänden. Dies hat die Koalitionnicht berücksichtigt. Wir hätten uns dafür zumindest eineBegründung gewünscht, zumal die Bundesregierungselbst in ihrer Stellungnahme zu diesem Gesetzentwurfauf das Problem hingewiesen hat, dass in dem Gesetz ei-nige Gesundheitsberufe fehlen.Alles in allem sind dies für uns Grüne zu viele unge-klärte Aspekte, die uns eine Zustimmung zu diesem Ge-setz nicht möglich machen.R
Mit ihrem Gesetzentwurf haben die Länder eine Dis-kussion aufgegriffen, die auch in Deutschland seit eini-ger Zeit und intensiv geführt wird: die Diskussion um dieAkademisierung der Ausbildungen in den Gesundheits-fachberufen. Mit dem Gesetzentwurf mit Modellklauselnfür vier Berufe, die Hebammen, Logopäden, Physiothe-rapeuten und Ergotherapeuten, ist diese Thematik aufge-griffen und eine modellhafte Erprobung vorgeschlagenworden. Aber wie die Bundesregierung in ihrer Stellung-nahme bereits gesagt hat, fehlten dem Gesetzentwurf we-sentliche Elemente. Das hat auch die Anhörung gezeigt.Deshalb beraten wir heute einen überarbeiteten Entwurf,der, wie ich finde, einen wesentlichen Beitrag zur Weiter-entwicklung der Berufe leisten kann.Es ist gelungen, die Modellklauseln zu präzisieren,indem festgelegt wird, in welchem Umfang von den Min-destanforderungen an die Ausbildung abgewichen wer-den darf. Dabei bleibt die praktische Ausbildung er-halten, in der die für die Berufsausübung wichtigenpraktischen Kompetenzen erworben werden. Im theoreti-schen und praktischen Unterricht wird hingegen dieMöglichkeit gegeben, Neues zu erproben.Bei der Genehmigung der Modellvorhaben werden dieLänder genau zu prüfen haben. Sie haben Ziele festzule-gen, sie haben für eine wissenschaftliche Begleitung undAuswertung zu sorgen. Wir wollen auch in Zukunft klareBerufsbilder; deshalb werden für die Evaluation einheit-liche Richtlinien erarbeitet, die das Bundesministeriumfür Gesundheit im Bundesanzeiger veröffentlicht.Die Modellklauseln werden befristet. Rechtzeitig vorihrem Auslaufen wird das Bundesministerium für Ge-sundheit dem Deutschen Bundestag über die Ergebnisseberichten. Er wird dann entscheiden, wie es weitergehensoll.In der Hebammenausbildung wird die besondere Be-deutung der Praxis nochmals verdeutlicht. Die prakti-sche Ausbildung ist an Krankenhäusern sicherzustellen.Die Regelungen zur Ausbildungsvergütung und zum Aus-bildungsvertrag gelten in der Hebammenausbildungnicht für Modelle an Hochschulen. Der Berufsverbandhat hierzu sein Einverständnis signalisiert.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25823
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
25824 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
P
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es ist meine Überzeugung, dass
mit dem vorliegenden Gesetz eine sinnvolle Erprobung
akademischer Ausbildungsstrukturen in den therapeuti-
schen Berufen und dem Hebammenberuf möglich wird.
Ich hoffe, dass die Beteiligten verantwortungsvoll damit
umgehen, denn die Absolventinnen und Absolventen stüt-
zen ihre berufliche Zukunft darauf.
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/13652, den Ge-
setzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 16/9898 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-
tung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen und der FDP bei Enthaltung der Linken und des
Bündnisses 90/Die Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
FDP-Fraktion bei Enthaltung der Linken und des Bünd-
nisses 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe zu dem Antrag
der Abgeordneten Florian Toncar, Burkhardt
Müller-Sönksen, Harald Leibrecht, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP
Erweiterung des Rom-Statuts des Internatio-
nalen Strafgerichtshofs – Verweigerung und
Behinderung von humanitärer Hilfe bestrafen
– Drucksachen 16/11186, 16/13497 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Wolfgang Gunkel
Florian Toncar
Michael Leutert
Josef Philip Winkler
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe zu dem Antrag
der Abgeordneten Florian Toncar, Burkhardt
Müller-Sönksen, Dr. Karl Addicks, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP
Für ein kohärentes und effizientes Konzept
der deutschen humanitären Hilfe
– Drucksachen 16/7523, 16/13304 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Christoph Strässer
Burkhardt Müller-Sönksen
Michael Leutert
Josef Philip Winkler
Wir beraten heute abschließend über zwei Anträge derFDP. Der erste fordert eine Erweiterung des Rom-Statutsdes Internationalen Strafgerichtshofes, nach der die Ver-weigerung und Behinderung von humanitärer Hilfe be-straft werden soll. Im zweiten entwickelt die FDP kon-zeptionelle Vorstellungen zur Weiterentwicklung derdeutschen humanitären Hilfe. Ich werde Ihnen im Einzel-nen erläutern, warum wir beiden Anträgen nicht zustim-men können.Vor dem Hintergrund des Verhaltens der birmanischenMilitärregierung nach dem Zyklon „Nargis“ im Mai2008, der Verweigerung externer Hilfe für die Bevölke-rung Simbabwes durch Präsident Robert Mugabe sowieder Haltung Nordkoreas und des Sudans in Bezug aufeine Kooperation mit der internationalen Gemeinschaftfordert die Fraktion der FDP im vorliegenden ersten An-trag die Bundesregierung dazu auf, einen Änderungsan-trag innerhalb des Vorschlagsrechts der Mitgliedstaatenoder der Vertragsrevisionskonferenz einzubringen, umdurch eine Aufnahme der Verweigerung und Behinde-rung humanitärer Hilfe als Straftatbestand in das Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofs – IStGH –solche Regierungen zukünftig wirksamer zur Rechen-schaft ziehen bzw. zum Einlenken zwingen zu können.Grundsätzlich stimme ich hier mit der Beurteilung derAusgangslage überein. Es ist in der Tat unbefriedigend,dass die internationale Staatengemeinschaft noch überkeine ausreichend wirksamen Instrumente verfügt, umeine Regierung, die humanitäre Hilfe für die eigene Be-völkerung verweigert oder behindert, zum Einlenken zuzwingen.Allerdings ist der FDP-Antrag in dieser Form nichtder richtige Weg, um ein passendes Instrument zu schaf-fen. Hauptkritikpunkt ist dabei aus meiner Sicht, dass derAntrag in seiner Begrifflichkeit zu unscharf ist. Aus ihmgeht nicht deutlich hervor, ob die Verweigerung oder Be-hinderung humanitärer Hilfe als Gefährdungs- oder Er-folgsdelikt den Verbrechen gegen die Menschlichkeit imRömischen Statut hinzugefügt werden soll. Eine Kodifi-zierung als Gefährdungsdelikt findet insoweit keine Basisim geltenden Völkerrecht und wäre deshalb eine Neukri-minalisierung. Bei einer Ausgestaltung als Gefährdungs-delikt bestünde die Gefahr, das Statut mit Delikten min-derer Schwere zu überfrachten und so der Aufgabe desIStGH, „die schwersten Verbrechen, welche die interna-tionale Gemeinschaft als Ganzes berühren“, zu verfol-gen, nicht gerecht zu werden. Insoweit käme allenfallseine Erweiterung der Strafbarkeit des „Aushungerns derZivilbevölkerung“ vom internationalen auf den nichtin-ternationalen bewaffneten Konflikt – also im Rahmen derKriegsverbrechen; Art. 8 – in Betracht.Gegen eine Ausgestaltung als Erfolgsdelikt sprichtdarüber hinaus, dass hierdurch wohl kein weitergehen-der Rechtsschutz im Vergleich zur geltenden Rechtslagezu erwarten ist. Voraussetzung wäre in jedem Fall, dassdie allgemeine Voraussetzung der Verbrechen gegen dieMenschlichkeit – nämlich das Vorliegen eines ausge-dehnten und systematischen Angriffs – nachgewiesenwird. Gelingt dieser Nachweis, wäre die Todesverursa-chung durch die Verweigerung oder Behinderung huma-
(C)
(D)
Ute Granoldnitärer Hilfe von Art. 7 Abs. 1 Buchstabe a – vorsätzlicheTötung – bzw. gegebenenfalls Art. 7 Abs. 1 Buchstabe b– Ausrottung – bereits im IStGH-Statut erfasst.Darüber hinaus ist ganz grundsätzlich zu berücksich-tigen, dass eine Änderung des Römischen Statuts ein sehrkomplexes und zeitaufwendiges Vorhaben ist. Die derzeit108 Vertragsstaaten müssen sich auf eine solche Ände-rung einigen und diese dann ratifizieren. So sind bei-spielsweise die laufenden Verhandlungen zum „Verbre-chen der Aggression“ nicht einfach. Es bedarf nochgroßer Anstrengungen, diesen Tatbestand bis zur soge-nannten Überprüfungskonferenz im kommenden Jahr un-ter Dach und Fach zu bekommen. Durch die Aufnahmeweiterer kontroverser Themenkomplexe in diese Bera-tungen könnte dieses Ziel gefährdet werden. Außerdemdarf nicht vergessen werden, dass gerade Staaten wieBirma dem Römischen Statut noch gar nicht beigetretensind.Deshalb können wir dem ersten FDP-Antrag, überden wir hier heute beraten, nicht zustimmen.Der zweite vorliegende Antrag der FDP-Fraktion ent-wickelt auf Basis des Prüfberichtes des Entwicklungs-ausschusses der OECD – DAC-Peer-Review, 2005 – eineKritik am deutschen System der humanitären Hilfe.Zu den einzelnen Forderungen der FDP ist Folgendeszu sagen:In der Beschlussempfehlung zur Unterrichtung derBundesregierung über die deutsche humanitäre Hilfe imAusland 2002 bis 2005 haben wir in einer Entschließungaus Sicht der Großen Koalition die Linien skizziert, nachdenen die Politik der Bundesregierung im Bereich derhumanitären Hilfe in der 16. Wahlperiode – also nachRot-Grün – weiterentwickelt werden sollte. Ein Blick indie Bilanz der humanitären Hilfe im vergangenen Jahrmacht deutlich, dass die Bundesregierung diese Zieleengagiert aufgegriffen hat:Die Bundesregierung hat die Finanzmittel für die hu-manitäre Hilfe aufgestockt. Das Jahr 2008 war ein Jahrgroßer humanitärer Herausforderungen. Naturkatastro-phen wie der Zyklon Nargis in Myanmar, das verhee-rende Erdbeben in China, Überschwemmungen in Indienund Brasilien oder die Wirbelstürme in der Karibik ha-ben die Gefahren ungezügelter Naturgewalten erneut ge-zeigt. In den politisch komplexen Krisen Afrikas, aberauch in Afghanistan und Irak verhindern ungelöste Kon-flikte eine Verbesserung der prekären humanitären Lageder dort lebenden Menschen. Der Konflikt in Georgienoder zuletzt die Choleraepidemie in Simbabwe stehen fürneue Krisen, die zusätzliche humanitäre Anstrengungenerforderten. Erschwerend hinzu kamen die Finanz- undNahrungsmittelpreiskrise, die die Kosten der Hilfe er-höht und die Spendenbereitschaft beeinträchtigt haben.Trotz dieser nicht einfachen Rahmenbedingungen hatdie internationale Gemeinschaft durch schnelle und ziel-gerichtete Hilfe reagiert. Mit über 10 Milliarden US-Dol-lar wurden – mit Ausnahme des Tsunami-Jahres 2005 –mehr Mittel mobilisiert als jemals zuvor. Für die Bundes-regierung hat das Auswärtige Amt dabei sowohl bei derinternationalen Koordinierung als auch bei der konkre-Zu Protokollten Hilfe eine aktive Rolle gespielt. Mit den für humani-täre Hilfsmaßnahmen zur Verfügung stehenden118,5 Millionen Euro wurden 329 Einzelprojekte in über70 Krisengebieten weltweit finanziert. In der Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/5490 hatten wir als mit-tel- bis langfristiges Ziel eine Aufstockung der Mittel vonrund 50 Millionen Euro auf 100 Millionen Euro definiert.Dieses Ziel wurde also bereits in dieser Wahlperiodemehr als erfüllt.Zusätzlich wurden die Nichtregierungsorganisationenin erheblichem Umfang eingebunden. Die Umsetzungder bereits angesprochenen 329 Einzelprojekte erfolgtezu einem Großteil über deutsche Nichtregierungsorgani-sationen. Rund 50 Prozent der Mittelzuwendungen imJahr 2008 flossen an deutsche NROen. Ohne den Einsatzdieser Organisationen und ihrer Mitarbeiter in den Kri-sengebieten hätte die Effektivität, aber auch die Unab-hängigkeit deutscher humanitärer Hilfe nicht gewähr-leistet werden können. Ein enger operativer undkonzeptioneller Austausch ist durch die Sitzungen deszweimonatlich tagenden Koordinierungsausschusses fürhumanitäre Hilfe sichergestellt. Weitere wichtige Partnersind internationale Hilfsorganisationen wie das Interna-tionale Komitee vom Roten Kreuz – IKRK – und der HoheFlüchtlingskommissar der Vereinten Nationen – UNHCR –,die durch ihre Erfahrung und weltweite Präsenz die Kon-tinuität humanitärer Hilfe sicherstellen. Die Bundesre-gierung engagiert sich darüber hinaus fortdauernd fürdie deutschen NROen bei internationalen Gebern, unteranderem gegenüber ECHO sowie dem Nothilfefonds derVN, CERF. Dies ist auch in der öffentlichen Anhörungdes Ausschusses am 28. Februar 2007 deutlich gewor-den.Darüber hinaus wurde die Evaluierung der Mittelver-wendung verbessert. Durch verstärkte eigene Evaluie-rungsmaßnahmen sowie die Ausrichtung einer inter-nationalen Konferenz im Auswärtigen Amt im Dezember2008 zu diesem Thema wurde sichergestellt, dass dieHilfe bei den bedürftigsten Zielgruppen ankommt. Da-rüber hinaus ist der Aufbau eines kohärenten, abge-stimmten Evaluierungssystems mittels einer AA/BMZ-Arbeitsgruppe in vollem Gange. Im Rahmen eines drei-stufigen Konzeptes wurden bzw. werden die freiwilligenLeistungen an internationale Organisationen evaluiertsowie eine Gesamtbewertung der deutschen humanitärenHilfe in ausgewählten Ländern und eine Stärkung unab-hängiger Evaluierungseinheiten in den Ressorts initiiert.Auf Bitte des Haushaltsausschusses des Bundestageswurde dieser zweimal ausführlich über dieses Thema un-terrichtet.Auch dem Bereich der Katastrophenvorsorge wurdeerhebliche Aufmerksamkeit gewidmet. Die beste Hilfeblieb auch 2008 diejenige, die vorbeugend dem Entste-hen neuer humanitärer Notlagen entgegenwirkt. Entspre-chend hat das Auswärtige Amt mit rund 10 MillionenEuro 46 Projekte der Katastrophenvorsorge finanziert.Im Rahmen des Humanitären Minenräumens wurden mit12,2 Millionen Euro 35 Vorhaben zum Schutz der Zivilbe-völkerung und zur Wiedernutzbarmachung landwirt-schaftlicher Flächen unterstützt. Katastrophenvorsorgeist also bereits ein integraler Bestandteil der humanitä-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25825
gegebene Reden
(C)
(D)
Ute Granoldren Hilfe. Die Leitlinien des Auswärtigen Amtes zur För-derung von Maßnahmen zur Katastrophenvorsorge imAusland haben in den knapp zwei Jahren ihres Bestehensihren Praxistest bestanden.Die Zusammenarbeit des Auswärtigen Amts – AA –und des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung – BMZ – im Schnittpunktbe-reich zwischen humanitärer Hilfe und entwicklungs-orientierter Not- und Übergangshilfe hat sich bewährt.Bei der Koordinierung dieser Arbeitsteilung müssen einfließender Übergang von der Soforthilfe zur entwick-lungsorientierten Nothilfe sowie eine nahtlose An-schlussfinanzierung sichergestellt werden. Mit den im AAangesiedelten bewährten Institutionen – dem ArbeitsstabHumanitäre Hilfe und dem KoordinierungsausschussHumanitäre Hilfe – stehen bereits Instrumente zur Koor-dination zwischen den staatlichen Stellen und den zivilenOrganisationen zur Verfügung. Eine institutionelle Zu-sammenfassung aller Abteilungen im AA ist folglich nichtnotwendig.Das Förderkonzept humanitäre Hilfe des AuswärtigenAmtes deckt bereits alle wesentlichen der im FDP-An-trag genannten Kriterien einer Strategie ab. Zugleich er-möglicht eine regelmäßige Fortschreibung des Förder-konzeptes das flexible Reagieren auf Veränderungen inder humanitären Praxis, zum Beispiel die stärkere Be-rücksichtigung von Aufwendungen für die Sicherheithumanitärer Helfer. Darüber hinaus gibt es starkesEngagement in der Praxis für die Umsetzung der huma-nitären Prinzipien, sowohl im Rahmen der eigenen Zu-wendungen als auch im internationalen – VN/EU – Kon-text.Aus diesen Gründen lehnen wir auch den zweiten hierberatenen FDP-Antrag ab.
Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt dem vorliegen-
den Antrag nicht zu.
Zwar ist es an sich überfällig, dass sich auch das Ple-
num des Deutschen Bundestags mit dem seit 2003 tätigen
Ständigen Internationalen Strafgerichtshof und seiner
Arbeit befasst.
Es ist auch wichtig, über eine mögliche Erweiterung
des Römischen Statuts zu diskutieren, gerade weil die für
das Frühjahr 2010 vorgesehene Revisionskonferenz der
Vertragsstaaten des Internationalen Strafgerichtshofs in-
haltlich vorbereitet werden muss.
Auf dieser Konferenz soll ja über die Aufnahme der
Aggressionsverbrechen in den Katalog schwerster Straf-
taten, die bei Vorliegen der vom Römischen Statut im Üb-
rigen vorgesehenen Voraussetzungen durch den Interna-
tionalen Strafgerichtshof verfolgt werden können,
beschlossen werden. Bisher sind diese Straftaten im Rö-
mischen Statut zwar vorgesehen; wegen des Fehlens ei-
ner ausformulierten und akzeptierten Konvention ist es
bisher nicht zur Implementierung des im Römischen Sta-
tut enthaltenen Auftrags gekommen. Die Arbeiten der Ex-
pertenkommission zur Ausarbeitung einer Aggressionskon-
Zu Protokoll
vention stehen kurz vor ihrer Vollendung, sodass mit einer
Beschlussfassung der IStGH-Vertragsstaaten auf der Re-
visionskonferenz gerechnet werden kann. In den letzten
Jahren hat es zudem immer wieder Vorschläge gegeben,
den Katalog der internationalen Straftaten zu erweitern.
In diesem Zusammenhang sind nicht nur Straftaten des
internationalen Terrorismus, des Internationalen Men-
schenhandels und des internationalen Drogenhandels er-
wähnt worden; vielmehr gibt es auch Vorschläge, dem
IStGH die Zuständigkeit für die Verfolgung von schwers-
ten internationalen Straftaten gegen UN-Bedienstete zu-
zuordnen.
Zu allen diesen Fragen enthält der heute zur Behand-
lung anstehende Antrag der Fraktion der Kollegen von
der FDP jedoch nichts. Er beschäftigt sich zwar durchaus
mit dem Internationalen Strafgerichtshof und auch mit
dem Römischen Statut. Er tut dies leider nicht im Hinblick
auf die eben aufgezeigten wichtigen Fragen, sondern be-
schränkt sich in nicht übermäßig gründlicher Weise auf
die Forderung, die Begehung von schwersten Mensch-
heitsverbrechen nach dem Katalog des Römischen Statuts
in einigen Fällen auch dann zu verfolgen, wenn sie durch
Unterlassen, also durch Nichthandeln erfolgen. Die
ausgewählten Beispiele sind natürlich dazu geeignet,
Empörung hervorzurufen, da wohl jeder Mensch die Be-
hinderung oder Verweigerung von vorhandener interna-
tionaler humanitärer Hilfe als Unrecht ansieht. Dies je-
doch auf dem Weg der Veränderung des Römischen
Statuts strafbar zu machen, würde erheblich gründlichere
Überlegungen voraussetzen.
Beides – also die Nichtbehandlung der unmittelbar
anstehenden Fragen und die nicht ausreichende Behand-
lung des Problems von Unterlassen als Gleichsetzung
mit schwersten internationalen Straftaten des Römischen
Statuts – machten den vorliegenden Antrag als solchen
nicht zustimmungsfähig.
Der zur Abstimmung vorliegende Antrag der FDP-Bundestagsfraktion beinhaltet vor allem eines: die wie-derkehrende Kritik an der deutschen entwicklungspoliti-schen Zusammenarbeit sowie die Infragestellung derEffizienz der deutschen humanitären Hilfe. Die Bundes-regierung wird aufgefordert, eine umfassende und kohä-rente Strategie für die humanitäre Hilfe zu entwickeln.Weiter bemängeln die Antragsteller die Aufteilung derZuständigkeiten für die humanitäre Hilfe auf zwei Bun-desministerien, das Bundesministerium für wirtschaftli-che Zusammenarbeit und Entwicklung, BMZ, sowie dasAuswärtige Amt, AA, was die Effektivität und Effizienzder Arbeit torpediere. Logischer Schluss dieser Feststel-lung sei, das BMZ als eigenständiges Bundesministeriumaufzulösen und in den Zuständigkeitsbereich des AA zuintegrieren. Dies ist eine Forderung, mit welcher dieFDP die herausragenden Leistungen des BMZ im Be-reich der humanitären Hilfe sowie der Entwicklungszu-sammenarbeit ignoriert. Die Bedeutung einer herausge-hobenen Stellung in Form eines Bundesministeriums undeines sichtbaren Akteurs der humanitären Hilfe wird vonder FDP damit deutlich unterschätzt.
Metadaten/Kopzeile:
25826 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Christoph SträsserAuch das Gesamtvolumen der für humanitäre Hilfezur Verfügung stehenden Haushaltsmittel sei den qualita-tiv und quantitativ ansteigenden Notsituationen nicht an-gemessen und die Beteiligung der Nichtregierungsorga-nisationen nicht ausreichend.Ich kann mich der kritischen Einschätzung der Effi-zienz der deutschen humanitären Hilfe nicht anschließenund möchte mich entschieden gegen eine Abschaffungdes BMZ als eigenständigen Akteur – denn nichts ande-res bedeutet die Integration der humanitären Hilfe in denGeschäftsbereich des AA – aussprechen. Gerne möchteich auf diese beiden inhaltlichen Schwerpunkte des An-trages der FDP eingehen und darlegen, dass diese jegli-cher Basis entbehren.Die Antragsteller unterstellen den für humanitäreHilfe beziehungsweise entwicklungsorientierte Not- undÜbergangshilfe zuständigen Bundesministerien wegenihrer Aufteilung mangelnde Kohärenz und Effizienz. Esfindet eine Trennung der Verantwortungsbereiche durchdie Zweckbestimmungen der jeweiligen Haushaltstitel imHaushaltsplan statt. Das ist zutreffend. Gleichwohl wer-den die inhaltliche Ausgestaltung und die situationsan-gemessene Reaktion auf humanitäre Notlagen durchdiese finanzpolitische Trennung keineswegs negativ tan-giert. Vielmehr gibt es auf Arbeitsebene eine enge Zu-sammenarbeit und Abstimmung zwischen den Ressorts,unter anderem durch gegenseitige Beteiligung, Einbin-dung der Auslandsvertretungen sowie durch Arbeitsbe-sprechungen und Beteiligung des BMZ an den Sitzungendes Koordinierungsausschusses Humanitäre Hilfe beimAA. Somit ist eine größtmögliche Kohärenz der humani-tären Not- und Übergangshilfe gewährleistet, und nega-tive Auswirkungen auf die Empfänger der benötigtenHilfe vor Ort sind nicht zu erwarten.Ich darf auch darauf hinweisen, dass die von der FDPgeforderte bessere Verzahnung von Not- und Übergangs-hilfe und anschließender Entwicklungszusammenarbeitbei einer Integration der humanitären Hilfe oder gar desgesamten Arbeitsbereiches des BMZ in das AA kaum ziel-führend sein dürfte. Das Bundesministerium für wirt-schaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit bedarf ei-genständiger Strukturen und Handlungsbereiche, um dieder Not- und Übergangshilfe folgenden Projekte struktu-riert und mit größtmöglichem Effekt für die Menschenvor Ort realisieren zu können. Schließlich würde die Ab-schaffung des BMZ als eigenständiges Bundesministe-rium die bisherigen Bemühungen Deutschlands, Ent-wicklungszusammenarbeit als eigenständiges Politikfeldzu etablieren, konterkarieren. Wenn man auf eine umfas-sende und kohärente Strategie für die Entwicklungszu-sammenarbeit aufbauen möchte, darf man nicht damitbeginnen, die sichtbaren und notwendigen Akteure dieserPolitik in den Hintergrund zu rücken.Gerne möchte ich auch auf die geäußerte Kritik anden zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln einge-hen und darlegen, dass die von der Bundesregierung er-griffenen Maßnahmen ihren Beitrag zu einer effektivenund effizienten Politik leisten.Die geforderte Erhöhung der Mittel für die humani-täre Hilfe ist obsolet, da diese bereits über die vergange-Zu Protokollnen zwei Jahre in den Haushaltsplänen realisiert wurde.Die von der FDP befürchtete Kurzfristigkeit der Mittel-erhöhung und fehlende Verstetigung finanzieller Unter-stützung kann somit nicht festgestellt werden. Im Ge-genteil: In den Jahren 2008 und 2009 konnte der Mit-telansatz erfreulicherweise gesteigert werden. Ich binüberzeugt, dass wir trotz der momentanen Wirtschafts-und Finanzkrise auch für das Haushaltsjahr 2010 diesenklaren Kurs beibehalten werden.In diesem Zusammenhang möchte ich kurz die eben-falls im Antrag aufgegriffene Kritik an den bestehendenKonzepten zur Konfliktprävention und Katastrophenvor-beugung beleuchten. Wir haben zur nachhaltigen Entlas-tung der humanitären Hilfe bereits wichtige Schritte imBereich der Krisenprävention ergriffen. Ein elementarerBestandteil war die deutliche Erhöhung der finanziellenMittel für vorbeugende Maßnahmen und Projekte. In2009 haben wir diesen Etat um fast 30 Millionen Euro er-höhen können.Die im Antrag aufgelisteten finanziellen Defizite beider humanitären Hilfe insgesamt und der Präventions-maßnahmen im Besonderen erscheinen auf Grundlagedieser Zahlen nicht verifizierbar.Der vorliegende Antrag ist aufgrund seiner zeitlichenDistanz zwischen seiner Einbringung Ende des Jahres2007 und den inzwischen erfolgten Maßnahmen in vielenKritikpunkten obsolet. Die geforderte kontinuierlicheSteigerung der Haushaltsmittel für humanitäre Hilfe undMaßnahmen der Not- und Übergangshilfe wurde durchdie Bundesregierung bereits realisiert.Aber auch inhaltlich ist dieser Antrag zurückzuwei-sen. Die Forderung nach einer kohärenten, effizientenund nachhaltigen Politik im Bereich der humanitärenHilfe und gerade der damit im Zusammenhang stehendenEntwicklungszusammenarbeit kann nur durch ein eigen-ständiges Bundesministerium erfüllt werden. Im Übrigenentspricht die Integration einzelner bisheriger Arbeits-felder des BMZ in den Arbeitsbereich des AA wohl kaumder geforderten Kohärenz und dürfte zugleich auch dergeforderten Effizienzsteigerung nicht zuträglich sein.Mit den bestehenden Konzepten, Programmen und fi-nanziellen Mitteln befinden wir uns auf einem richtigenWeg zu effizienter und effektiver humanitärer Hilfe fürMenschen in Not. Aktuell besteht aus Sicht der SPD-Bun-destagsfraktion daher keine Notwendigkeit, Veränderun-gen an den derzeitigen Maßnahmen vorzunehmen. Daherist der Antrag der FDP-Bundestagsfraktion abzulehnen.
Gegenstand dieser Debatte sind zwei Anträge, die dieFDP-Fraktion vorgelegt hat. Einerseits geht es um dieErweiterung des Rom-Statuts des Internationalen Straf-gerichtshofs. Andererseits geht es um die Steigerung derEffizienz der deutschen humanitären Hilfe. Obwohl beideaus unterschiedlichen Bereichen stammen, weisen siejedoch eine deutliche Verbindung auf.Der Antrag zur Erweiterung des Rom-Statuts des In-ternationalen Strafgerichtshofs ist vor dem Hintergrund
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25827
gegebene Reden
(C)
(D)
Florian Toncarentstanden, dass in einigen Staaten autoritäre Regierun-gen nach Naturkatastrophen oder während bewaffneterKonflikte internationalen Hilfsorganisationen vorsätz-lich den Zugang zur notleidenden Zivilbevölkerung ver-wehrt haben.Ein besonders schockierendes Beispiel war die Weige-rung der Militärführung Birmas, nach der Naturkatastro-phe durch den Wirbelsturm Nargis im Mai 2008 dringendbenötigte humanitäre Hilfsleistungen in die verwüsteteZone des Irrawaddy-Deltas zuzulassen. Die Junta, diehinter der Präsenz ausländischer KatastrophenhelferAgenten westlicher Regierungen sehen wollte, verbot denExperten, ins Land einzureisen, oder beschränkte derenBewegungsfreiheit auf die Stadt Rangun. Die Machthaberbeschlagnahmten sogar die wenigen Hilfslieferungen,die sie überhaupt ins Land ließen, obwohl es zahlreicheOpfer der Katastrophe gab. Hunderte Logistiker undKatastrophenexperten saßen in den Nachbarländern fest,weil ihnen keine Visa erteilt wurden. US-Militärflugzeugemit Hilfsgütern wurden abgewiesen. Nach offiziellen bir-manischen Regierungsangaben vom 24. Juni 2008 starbendurch den Zyklon 84 537 Menschen; 53 836 gelten alsvermisst. Hilfsorganisationen gehen teils von einer nochhöheren Opferzahl aus.Die Empörung über das Verhalten der birmanischenMilitärjunta war weltweit groß; denn es kann als gesi-chert angesehen werden, dass ein Teil der Opfer durchschnelle und effektive humanitäre Hilfsmaßnahmen hättegerettet werden können. Das Verhalten der birmanischenMilitärführung, die Tausende Bürger des eigenen Landeswillentlich dem Tod preisgab, muss Konsequenzen haben.Derzeit ist es im Rahmen des Rom-Statuts des Internatio-nalen Strafgerichtshofs nicht möglich, die politisch Ver-antwortlichen der birmanischen Junta für diese schwereMenschenrechtsverletzung strafrechtlich zur Verantwor-tung zu ziehen, da das Rom-Statut nur einige sehr engdefinierte Straftatbestände ahndet. Die vorsätzliche Vor-enthaltung humanitärer Hilfe zählt bisher nicht dazu.Um in künftigen Fällen die politisch Verantwortlichenzur Rechenschaft ziehen zu können, ist es notwendig, dasRom-Statut dahin gehend zu erweitern, dass die Verwei-gerung und Behinderung humanitärer Hilfe unter Strafegestellt wird. Daher fordert die FDP, dass Deutschland beider nächsten Vertragsrevisionskonferenz einen Antrag füreine entsprechende Änderung des Rom-Statuts vorlegt.Eine solche Konferenz ist erstmals sieben Jahre nach In-krafttreten des Rom-Statuts möglich. Dies ist seit demheutigen Tag, dem 2. Juli 2009, erstmals möglich. Dahersollte die Bundesregierung keine Zeit verstreichen lassenund eine dahin gehende Initiative inhaltlich und politischvorbereiten.Es freut mich, dass der vorliegende Antrag der FDPauf breites Interesse bei den anderen Fraktionen gestoßenist und es Gespräche gab, um zu einer interfraktionellenInitiative zu gelangen. Umso unverständlicher ist es,dass es bei einem Thema, bei dem es keine grundsätzli-chen Meinungsverschiedenheiten gab, nicht möglichwar, eine gemeinsame Lösung zu finden. Offensichtlichlag das Problem in den Reihen der Koalitionsfraktionen.Die SPD-Fraktion wollte Ergänzungen im AntragstextZu Protokollvornehmen, die die CDU/CSU-Fraktion postwendendablehnte. Diese fruchtlosen Verhandlungen kann mannur als weiteres Zeugnis der Handlungsunfähigkeit deraktuellen Koalition betrachten.Abseits der unerfreulichen koalitionsinternen Ränke-spiele hat der Antrag die Bedeutung von humanitärer Hilfein Konflikt- und Katastrophensituationen unterstrichen.Daher ist es umso wichtiger, dass Deutschland die Mittel,die es für humanitäre Hilfsmaßnahmen zur Verfügungstellt, effizient einsetzt. Damit möchte ich eine Brückeschlagen zum zweiten Antrag, der heute zur Debatte steht.Es geht dabei um das System der deutschen humanitärenHilfe. Humanitäre Hilfe muss schnell und wirksam erfol-gen. Sie ist vergleichbar mit einem Rettungsring, der ei-nem Ertrinkenden zugeworfen wird. Da darf nichtsschiefgehen, Reibungsverluste müssen auf ein absolutesMinimum reduziert werden. Seit Jahren leidet die deut-sche humanitäre Hilfe jedoch an Effizienzproblemen.Aus liberaler Perspektive sind sieben Schritte notwen-dig, um zu einer Verbesserung des Systems humanitärerHilfe zu gelangen. Zunächst muss die Bundesregierungeine kohärente Strategie in der humanitären Hilfe erarbei-ten und verfolgen. Dies hat bereits die OECD im Jahr2005 eingefordert. Ohne eine Strategie, die den Beteiligtenim Staat und in den Organisationen der Bürgergesell-schaft Orientierung bietet, ist es nicht verwunderlich,dass Ineffizienzen in der deutschen humanitären Hilfeentstehen.Hinsichtlich der staatlichen Akteure ist ein grundsätz-liches Manko, dass die humanitäre Hilfe auf zwei Minis-terien, das Auswärtige Amt und das Bundesministeriumfür wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung,BMZ, aufgeteilt ist. Die daraus resultierenden Doppel-strukturen führen zu unnötigen Kosten und einer unklarenKompetenzverteilung. Die OECD hat auch dies in unge-wöhnlich klaren Worten kritisiert. Ich zitiere aus demDAC-Peer-Review von 2005:Diese zweigleisige Managementstruktur hat zurFolge, dass die Summe der Einzelelemente kleiner istals der potentielle Gesamteffekt. Die Konsequenz ist,dass die verschiedenen mit der humanitären Hilfebefassten Stellen sowohl untereinander als auchvon den anderen Abteilungen der beiden Ministerienisoliert sind. Das schränkt deren Fähigkeit ein, derkomplexen Natur der heutigen Notsituationen undKatastrophen gerecht zu werden, und beeinträchtigtsomit die Effektivität der Hilfe. Auf diese Weise wirdnicht nur die Synchronisierung von Aktionen imRahmen der humanitären Hilfe, sondern auch derenVerknüpfung mit der Entwicklungszusammenarbeiterschwert.Die Zersplitterung der humanitären Hilfe auf zwei Mi-nisterien ist der Kern des Problems. Daher tritt die FDPfür eine Zusammenfassung der Organisationsstruktur derdeutschen humanitären Hilfe im Geschäftsbereich desAuswärtigen Amtes ein. Auch vor diesem Hintergrundbekräftigt die FDP ihre grundsätzliche Überzeugung,dass eine Integration des BMZ in das Auswärtige Amt einnotwendiger Schritt ist. Er würde Synergieeffekte nicht nurim Bereich der humanitären Hilfe ermöglichen, sondern
Metadaten/Kopzeile:
25828 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Florian Toncarauch die Verzahnung von Entwicklungszusammenarbeitmit den Zielen der deutschen Außenpolitik verbessern.Hinsichtlich der finanziellen Ausstattung freue ich mich,dass der Haushaltstitel des Auswärtigen Amts für humani-täre Hilfemaßnahmen im Ausland von circa 50 MillionenEuro auf nunmehr circa 100 Millionen verdoppelt wurde.Dies war ein überfälliger Schritt.Jedoch ist insgesamt darauf zu achten, dass bei derwachsenden Bedeutung staatlicher Hilfsorganisationensowie der Organisationen der Vereinten Nationen dieprivaten Hilfsorganisationen der Bürgergesellschaft nichtins Hintertreffen geraten. Im Vergleich zu großen inter-nationalen Organisationen besitzen Nichtregierungsor-ganisationen zumeist den Vorteil, kleiner, flexibler undunbürokratischer zu sein. Ihnen muss eine Erhöhung derMittel in erster Linie zugutekommen. Dabei ist darauf zuachten, dass die Nichtregierungsorganisationen einen Ei-genanteil bei der Förderung durch die Bundesregierungleisten. Während das Auswärtige Amt dies einfordert, istdies beim BMZ noch nicht der Fall. Das muss sich ändern.Auch bei der humanitären Hilfe gilt der Grundsatz,dass Prävention besser als Schadensbehebung ist. Dahermuss auch in der deutschen humanitären Hilfe ein größe-rer Schwerpunkt auf vorbeugende Aspekte gelegt werden.Dies gilt insbesondere für die Arbeit in Regionen, in denenregelmäßig Naturkatastrophen vorkommen, wie beispiels-weise der Karibik. Dabei ist darauf zu achten, dass dieHilfe nach dem Grundsatz Hilfe zur Selbsthilfe angelegtist.Letztlich muss sich die deutsche humanitäre Hilfe einerunabhängigen Gesamtevaluierung stellen, für die trans-parente und unbürokratische Regeln gelten müssen. Zielmuss es sein, die sachgerechte Verwendung der Finanz-mittel zu überprüfen, Missbrauch abzustellen und Rei-bungsverluste zu beheben.Insgesamt ist festzustellen, dass der Antrag einen syste-matischen Gesamtansatz zur Verbesserung des Systems derdeutschen humanitären Hilfe bietet. Auch wenn die Steige-rung der Mittel, die dem Auswärtigen Amt zur Verfügungstehen, eine erfreuliche Neuerung darstellt, bestehen wei-terhin unnötige Effizienzprobleme. Diese müssen zügigbehoben werden. Der Antrag ist daher in keiner Weiseüberholt, wie dies bei der Beratung im federführendenAusschuss vonseiten der Koalitionsfraktionen angedeutetwurde. Die notleidenden Menschen in Krisen- und Kata-strophenzonen, die auf deutsche humanitäre Hilfe ange-wiesen sind, werden es Deutschland danken, wenn unserLand sein Hilfsangebot noch weiter verbessert.
Humanitäre Hilfe ist – ganz grob – Handeln für in Notgeratene Menschen. Daher spielen sonstige politischeKriterien wie Interessen, Opportunitäten usw. keineRolle. Auch Kriterien wie Effizienz müssen dahin gehendgeprüft werden, ob sich dahinter nicht doch weiterge-hende politische Vorentscheidungen verbergen. DieserVerdacht kann sich einem aufdrängen.Sicher muss bei Entscheidungen unter Ressourcen-knappheit immer auch darauf geachtet werden, dass einZu ProtokollMitteleinsatz nicht nur nicht wirkungslos bleibt, sondernoptimale Ergebnisse erzielt, erst recht bei humanitärerHilfe. Aber das wird doch nicht der alleinige Zweck desAntrags sein, uns das noch einmal in Erinnerung zu ru-fen.In der Tat muss bei genauerem Hinsehen das eine oderandere Fragezeichen gemacht werden. Es gibt eine Reihevon Ereignissen, die humanitäre Hilfe erfordern, wodann zum Beispiel das Rote Kreuz aktiv ist. Beim bestenWillen ist das aber keine unbürokratische Organisation.Aber noch ernstere Fälle wie Naturkatastrophen habenzuweilen einen Einsatz von Armeekapazitäten erforder-lich gemacht, weil die Katastrophengebiete anders nichtmehr erreicht werden konnten. Als bürgernahe Organisa-tion kann man Armeen aber nicht bezeichnen. EntwederSie meinen das wirklich so, was Sie als Kriterien für Ef-fizienz benennen – dann haben Sie das Problem, Hilfe ineinem Erdbebengebiet versagen zu müssen – oder Sieschreiben etwas schnellschüssig.Nur um einem vielleicht hier aufkeimenden Verdachtentgegenzutreten: Ich habe nichts gegen Nichtregie-rungsorganisationen. Aber hier sehe ich schon einenKonflikt zu Ihrer Forderung nach dem Eigenmittelanteil.Die Großorganisationen, die Sie nicht so mögen, habenmehr Eigenmittel.Schließlich das Kriterium der Vorbeugung von Krisen.Es ist klar, dass Sie hier bewaffnete Konflikte meinen, diehumanitäre Notlagen erzeugen können. Würden Sie, daein Ende des Nahostkonflikts nicht wirklich abzusehenist, humanitäre Hilfe in Gaza verweigern? Was machenSie mit Konflikten – sagen wir der sich nach Pakistanausweitende Afghanistan-Krieg, in den Deutschland so-gar involviert ist? Dort sind nach Angaben des UNHCRimmerhin 2,4 Millionen Menschen auf der Flucht.Das kontrastiert mit der haushaltspolitischen Forde-rung, den Etat des einschlägigen Haushaltstitels anzuhe-ben. Dagegen kann natürlich niemand etwas einwenden.Aber was nützt das eigentlich, wenn Sie so viele Hürdenfür die Abrufung von Mitteln einbauen?Die eigentliche Großleistung versteckt sich ja in derUmschichtungsforderung. Von der Entwicklungshilfewollen Sie Mittel zur humanitären Hilfe umschichten.Nun wissen Sie aber, dass Deutschland noch immer nichtdie Selbstverpflichtung auf 0,7 Prozent BIP erfüllt hat.Aber das ist nicht der entscheidende Punkt. Entscheidendist, dass Sie nicht sehen wollen, dass nur eine langfristigeund auf eigenständige ökonomische Entwicklung ange-legte wirtschaftliche Zusammenarbeit Krisen vermeidenkann, die in humanitäre Katastrophen münden. Sie ver-bauen mit Ihrer Forderung genau noch das, was Sie alswichtig für die Gewährung humanitärer Hilfe angesehenhaben.Sagen wir es ganz offen: Da ich als Mitglied desHaushaltsausschusses eben auch für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit mit zuständig bin, ist es mir keineswegsentgangen, dass Ihr politisches Projekt im Abschmelzender Mittel für wirtschaftliche Zusammenarbeit besteht.Das ist Ihr Ziel. Hier taucht es versteckt unter Betrach-tungen zur Effizienz humanitärer Hilfe auf. Aber wenn
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25829
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
25830 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Michael Leutertdas Effizienz ist, dann ist meine Fraktion eben gegen Ef-fizienz, zumindest gegen Ihr Verständnis dieses Begriffs.Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Uns liegen heute zwei Anträge der FDP-Fraktion vor,deren Themen auch meine Fraktion für außerordentlichwichtig hält.In ihrem Antrag „Erweiterung des Rom-Statuts des In-ternationalen Strafgerichtshofs – Verweigerung und Be-hinderung von humanitärer Hilfe bestrafen“ legen Sie,meine Damen und Herren von der FDP, dar, dass dieWeigerung einer Regierung, bei Hungersnöten externehumanitäre Hilfe zur Rettung der Bevölkerung zuzulas-sen, zurzeit nach dem Völkerrecht nicht strafbar ist. Siegreifen damit ein Problem auf, dessen schreckliche Fol-gen wir im Mai letzten Jahres in Birma/Myanmar sehenkonnten, als der Zyklon „Nargis“ 130 000 Menschen inden Tod riss und weite Teile des Landes verwüstete. DieMilitärregierung ließ die dringend benötigte und von derinternationalen Gemeinschaft unmittelbar angebotenehumanitäre Hilfe erst mit großer Verzögerung und erheb-lichen Behinderungen zu. Auch im Sudan, besonders inder Krisenregion Darfur, und in Simbabwe haben die Re-gime Omar al-Bashir und Robert Mugabe immer wiederdie Arbeit der internationalen Hilfsorganisationen ge-stoppt. Sie nehmen dadurch bewusst eine weitere Ver-schlechterung der humanitären Lage der Zivilbevölke-rung in Kauf.Wir können dieses Problem nicht allein durch die Auf-nahme eines neuen Straftatbestandes in das IStGH-Statutlösen. Dies ist eine generelle Frage der „Responsibilityto protect“, die von der Politik ein vorbeugendes Han-deln zum Schutz der Menschen verlangt. Schwierigkeitenbereitet letztlich aber auch die Tatsache, dass die ge-nannten Staaten das IStGH-Statut gar nicht ratifiziert ha-ben. Man wäre also darauf angewiesen, dass der Sicher-heitsrat der VN diese Fälle – wie schon Darfur – an denIStGH überweist. Grundsätzlich sollten wir uns aber da-vor hüten, den engen Aufgabenbereich des IStGH unbe-dacht zu erweitern und so zu verwässern. Das könnte denbestehenden internationalen Konsens zum IStGH letzt-lich sogar gefährden.Dennoch ist es richtig, dass hier eine Strafbarkeitslü-cke geschlossen werden sollte. Wir Grüne haben uns im-mer mit Nachdruck für die Bekämpfung der Straflosig-keit, für den Internationalen Strafgerichtshof und dasVölkerstrafgesetzbuch eingesetzt. Deshalb stimmen wirdiesem Antrag zu.Mit dem zweiten Antrag, der uns heute vorliegt, wirdein Strategiewechsel zur Verbesserung der deutschen hu-manitären Hilfe gefordert. Liebe Kolleginnen und Kolle-gen von der FDP, grundsätzlich stimme ich Ihnen zu. Wirbrauchen eine umfassende Strategie für die humanitäreHilfe, um die Zersplitterung der humanitären Hilfe inDeutschland auf verschiedene Ministerien zu beenden,die ein aufeinander abgestimmtes Vorgehen unmöglichmacht. Das kritisiert der DAC-Peer-Review zu Recht. So-wohl innerhalb der humanitären Hilfe als auch beimÜbergang von humanitärer Hilfe zur Übergangshilfe undschließlich zur Entwicklungszusammenarbeit ist einebessere Koordination bei der Vergabe von Mitteln anHilfsorganisationen nötig. Dazu müssen die Kommuni-kationskanäle zwischen dem Koordinationsausschuss imAuswärtigen Amt und dem Referat für Not- und Über-gangshilfe im BMZ dringend verbessert werden.Allerdings teile ich den Lösungsvorschlag der FDP sonicht. Zum einen halten wir es generell für weitaus sinn-voller, bei schlechter Koordination nicht einfach Zustän-digkeiten zu bündeln, sondern die Koordination zu ver-bessern. Darüber hinaus sollte sich die Politik stärkerdarauf beschränken, die notwendigen Rahmenbedingun-gen zu schaffen, damit humanitäre Hilfsorganisationenmöglichst unparteilich, unabhängig und neutral denMenschen helfen können. Das Argument der FDP, dassDeutschland nur 2,7 Prozent der ODA für humanitäreHilfe aufwendet und dass dies im OECD-Durchschnitt– 7 Prozent – zu wenig ist, ist zwar richtig. Aber wir wol-len, dass die Mittel für die humanitäre Hilfe insgesamtwachsen und nicht einfach nur mehr Tortenstücke vomODA-Kuchen für die humanitäre Hilfe abgeschnittenwerden.Aus diesen und anderen Gründen können wir diesemAntrag so nicht zustimmen.
Wir kommen zur Abstimmung. Tagesordnungspunkt27 a: Der Ausschuss für Menschenrechte und humani-täre Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 16/13497, den Antrag der Fraktion der FDPauf Drucksache 16/11186 abzulehnen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-men.Wenn Sie einverstanden sind, verzichte ich auf die ge-naue Kennzeichnung, wer wie abgestimmt hat, und legenur die Mehrheitsverhältnisse dar. Das verkürzt den Pro-zess noch einmal.
Da es keinen Widerspruch gibt, verfahre ich so. Dasist schon vorher so gemacht worden.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 27 b. DerAusschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfeempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 16/13304, den Antrag der Fraktion der FDP aufDrucksache 16/7523 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Die Be-schlussempfehlung ist mehrheitlich angenommen.
– Das ist egal. Ich lege nur noch die Mehrheitsverhält-nisse dar.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
gierung
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25831
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsBericht der Bundesregierung zur AuswärtigenKulturpolitik 2007/2008– Drucksachen 16/10962, 16/13621 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Peter GauweilerMonika GriefahnHarald LeibrechtMonika KnocheDr. Uschi Eid
Die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist festerBestandteil und Kernelement unserer Außenpolitik. Siewird gerne als dritte Säule der Außenpolitik bezeichnet,aber im Grunde genommen ist sie durch ihren ressort-übergreifenden Ansatz eher eine Art umfassender Violin-schlüssel für unsere Außenpolitik geworden. Über denunmittelbaren Wirkungskreis hinaus zielt die auswärtigeKultur- und Bildungspolitik auf die Vertiefung und Stär-kung unserer Beziehungen zu den Gesellschaften undMenschen in anderen Staaten. Durch sie können wir dieKöpfe und vor allem die Herzen der Menschen erreichenund nachhaltige und dabei glaubwürdige Außenpolitikbetreiben. Dies liegt im deutschen außenpolitischen Inte-resse, da die internationale Zusammenarbeit in Kulturund Bildung dauerhafte Beziehungen schafft, auf die wiruns auch langfristig verlassen könnenDie Große Koalition hat sich schon in ihrem Koalitions-vertrag zum Ziel gesetzt, mehr Elan und Bewegung in dieauswärtige Kulturpolitik zu bringen und hat es nachweis-lich nicht bei einer bloßen, gutgemeinten Absichtserklä-rung belassen. Die auswärtige Kulturpolitik ist unter derGroßen Koalition wieder Chefsache geworden. Sowohl derAußenminister Frank-Walter Steinmeier als auch dieBundeskanzlerin Angela Merkel haben von Anfang anbei Auslandsreisen stets darauf geachtet, deutsche Kultur-institutionen im Ausland, Goethe-Institute, Auslandsschu-len aber auch deutsche Auslandsgemeinden der Kirchenzu besuchen. Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel betontein ihrer Regierungserklärung am 30. November 2005:„Unsere kulturelle Vielfalt ist einzigartig … Unsere Kul-tur ist die Grundlage unseres Zusammenhaltes. Deshalbist Kulturförderung für diese Regierung keine Subven-tion. Sie ist eine Investition, und zwar eine Investition inein lebenswertes Deutschland.“Das hohe persönliche Interesse dieser beiden Koali-tionsrepräsentanten signalisierte von Anfang an dennachgeordneten Verwaltungen die neue Prioritätenset-zung für deren Umgang mit dem Thema. Die Wiederein-setzung des Unterausschusses für Auswärtige Kultur-und Bildungspolitik durch die Große Koalition, den esnach dem Krieg in fast allen Legislaturperioden mit nurkurzen Unterbrechungen gab, war eine konsequente Ver-schiebung der parlamentarischen Befassung mit derauswärtigen Kulturpolitik zum Auswärtigen Ausschussals dem Ausschuss, der auch die Gelder für diesen Be-reich bereitstellt. Diese Maßnahme hat sich in dieser Le-gislaturperiode bei den Verhandlungen über den Haus-halt der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik alsrichtig erwiesen, da es in einer Reihe von Fällen gelun-gen ist, trotz angespannter Haushaltslage in fast allenBereichen Kürzungen zu vermeiden und in vielen Berei-chen sogar mehr Geld für die Umsetzung neuer Aufga-ben zu erhalten.Zwischen 1998 und 2005 waren die Haushaltsmittelfür die auswärtige Kulturpolitik massiv gesunken. ImJahr 2005 war der absolute Tiefpunkt erreicht. Mit einerSteigerung um 3,8 Prozent gegenüber 2006 hatte die Ko-alition bereits im ersten Haushalt einen Aufwärtstrendeingeleitet und diesen Weg konsequent fortgesetzt. Fürden Haushalt des Jahres 2008 gelang gar eine Aufsto-ckung der Ansätze für die auswärtige Kultur- und Bil-dungspolitik um 15,6 Millionen Euro. Während Außen-minister Josef Fischer in seiner Amtszeit zwischen 1998und 2002 noch die Schließung von 17 Goethe-Institutenzu verantworten hatte, so gibt es nun unter der GroßenKoalition elf Neueröffnungen. Das sind gute Ansätze, diesich durchaus sehen lassen können und zeigen, dass wirdas Gebot einer grundsätzlichen Trendwende sehr ernstgenommen haben.Nehmen Sie beispielsweise den gemeinsamen Antragvon Union und SPD zur Stärkung der Goethe-Institute,für die sich, ausgehend von einer Krise, eine großeChance ergab. Nach ausführlichen Beratungen und einergroßen Anhörung in unserem Unterausschuss, in der Kri-tik und Anregungen in Sachen Goethe-Institut gebündeltund offen ausgesprochen wurden, hat der Deutsche Bun-destag eine institutionelle und personelle Neuorganisa-tion des Goethe-Institutes auf den Weg gebracht. Der fi-nanzielle und strukturelle Abbau wurde nicht nurgestoppt, sondern in sein Gegenteil verkehrt. Die Mittelder Goethe-Institute wurden aufgestockt, auch um neueAufgaben in neuen Schwerpunkten der Welt wahrnehmenzu können. Gleichzeitig hatte der Bundestag ausdrück-lich klargestellt, dass sich eine veränderte regionaleSchwerpunktsetzung nicht zum Nachteil für Europa unddamit gegen unser kulturelles und wirtschaftliches Um-feld auswirken darf. Durch regelmäßige gemeinsame Sit-zungen mit dem Präsidium des Goethe-Instituts, in denenAngelegenheiten von weitreichender Bedeutung gemein-sam besprochen werden, hat sich ein guter und vertrau-ensvoller Gedankenaustausch entwickelt. Durch die mitdem Goethe-Institut vereinbarte Teilnahme des Unter-ausschusses an den Regionalleiterkonferenzen des Insti-tutes erhalten die Parlamentarier nun auch regelmäßigpersönliche Berichte und Einschätzungen von den einzel-nen Instituten aus aller Welt und können schneller undzielgerichteter als bisher auf Entwicklungen reagieren.Nehmen Sie als weiteres Beispiel für die gestiegeneBedeutung der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitikdie regelmäßigen und sehr guten Fachkonferenzen desAuswärtigen Amtes. Die Konferenz „Menschen bewegen –Kultur und Bildung in der deutschen Außenpolitik“wurde nahezu von allen Feuilletons deutscher Zeitungenals „Leuchtfeuer“ herausgestellt und begründete denAnfang einer guten Tradition, die anschließend durcheine Reihe von weiteren guten Veranstaltungen und Kon-ferenzen ergänzt und fortgeführt wurde.Ganz wichtig: Unter der Großen Koalition sind dasBewusstsein für die deutsche Sprache und das Interesse an
(C)
(D)
Dr. Peter Gauweilerihr wieder gestiegen. Das sehen die offenen Linken ge-nauso wie die verschwiegenen Rechten positiv. Die Zahlder ausländischen Studenten in Deutschland ist seit 2004um 65 Prozent gestiegen. Deutschland belegte zwischen-zeitlich den dritten Platz bei den beliebtesten Studien-standorten in der Welt. Wir müssen es als positive Tatsacheerwähnen, dass in der Zwischenzeit in Osteuropa nebendem Englischen das Deutsche eine Lingua franca gewor-den ist. Das Goethe-Institut teilt uns mit, dass in den USA2,5 Prozent der Menschen deutsch sprechen. In den Staa-ten der GUS liegt dieser Anteil bei über 38 Prozent. Dassind Zahlen, an denen wir nicht einfach vorbeigehen kön-nen. Auch im Sprachlichen gilt: Stammkundschaft gehtvor Laufkundschaft.Dabei haben wir nicht den Blick nach innen verloren.Auch im Inland wird die Bedeutung der deutschen Spra-che leichtfertig außer Acht gelassen. So hat sich der Un-terausschuss Anfang dieses Jahres über die Regelunghinsichtlich der Verwendung der deutschen Sprache beivon Deutschland initiierten, ausgerichteten oder bezu-schussten Konferenzen – am Beispiel der Münchner Si-cherheitskonferenz – auf dem Sektor der Verteidigung,Sicherheit und Friedenserhaltung informieren lassen undanschließend eine Änderung der Sprachregelung auf die-ser Konferenz erreicht.Ein weiteres großes Projekt, das die Koalitionsfraktio-nen auf den Weg gebracht haben, war eine Initiative zurVerbesserung der Situation der Auslandsschulen. Dieauswärtige Kultur- und Bildungspolitik verfügt mit ihremgroßen Netz deutscher Auslandsschulen nicht nur überdas älteste, sondern auch über ein überaus erfolgreichesund nachhaltiges Instrument in diesem Bereich. Dieseswurde durch die Beschlüsse der Großen Koalition nach-haltig unterstützt und gefördert. Das Auswärtige Amt hatin dieser Legislaturperiode eine Initiative ins Leben ge-rufen, deren Ziel es ist, ein weltumspannendes Netz von biszu 1 000 Partnerschulen – PASCH – der BundesrepublikDeutschland zu schaffen, die exzellenten Deutschunter-richt und eine verstärkte Vermittlung von Informationenüber Deutschland anbieten. Inzwischen sind es wegender immensen Nachfrage sogar über 1 300 Schulen, diean dieser Initiative teilnehmen. Es handelt es sich dabeinicht ausschließlich um einen gesteigerten „Export“deutscher Sprache und Kultur, sondern auch darum, dieBasis langfristiger und stabiler Beziehungen der Schüle-rinnen und Schüler zu Deutschland zu legen und dieSchulen untereinander zur Kooperation anzuregen.Die deutsche auswärtige Kultur- und Bildungspolitikist unter der Großen Koalition nicht nur wiederbelebtworden, sie hat sich auch in wichtigen Punkten verändert.Heute begreift Deutschland seine auswärtige Kultur- undBildungspolitik noch stärker als Beitrag zu Krisenprä-vention, Menschenrechtsschutz und Demokratieförde-rung.Ich finde es gut, dass Kulturpolitik zunehmend als In-strument der Konfliktverhütung wahrgenommen wird.Ich erinnere mich noch gut daran, was mir HerrBarenboim auf die Frage „Herr Professor, was sagenSie, wenn eingewendet wird, dass die Idee Ihres israe-Zu Protokolllisch-arabischen Orchesters furchtbar naiv ist?“ geant-wortet hat. Er sagte: „Möglicherweise stimmt das. Das,was wir machen, ist ziemlich naiv. … Aber zu erwarten,dass sich die Menschen besser vertragen, nachdem manerst ganze Stadtteile der jeweils anderen Seite dem Erd-boden gleichgemacht hat und danach in die übliche Kon-ferenzdiplomatie eingetreten ist, halte ich für noch vielnaiver.“Wir hatten uns nicht ohne Grund mit großer Hilfe desAuswärtigen Amtes in Kairo mit den Kulturattachés derBotschaften und den Ortsbeauftragten der Mittlerorgani-sationen aus Ländern des Nahen Ostens, aus Israelebenso wie aus den arabischen Ländern getroffen, umgerade auch deren Ideen zur Entschärfung einer Kon-fliktzone zu hören. Uns wurde eine Fülle von Vorschlägenund bereits laufenden Projekten dargelegt, wie durch dendeutsch-nahöstlichen Kulturdialog versucht wird, einenBeitrag zur friedlichen Konfliktlösung in der Region zuleisten, die allein mit den klassischen Elementen der Ver-handlungsdiplomatie kaum jemals zu befrieden seinwird.Um bei aktuellen außenpolitischen Krisen auch denwichtigen Blick in die jeweiligen Gesellschaften zu erhal-ten, hat der Unterausschuss beschlossen, dass bei allenaktuellen außenpolitischen Krisen und Konfliktherdenvom Auswärtigen Amt jeweils berichtet werden muss,was in den betreffenden Ländern an Instrumenten derauswärtigen Kulturpolitik genutzt wird und wo in diesenBereichen Ansatzmöglichkeiten bestehen, zur Konfliktlö-sung beizutragen. So ließ sich der Unterausschuss unteranderem über die Medien- und Kulturpolitik der Islami-schen Republik Afghanistan und die Arbeit der deutschenKulturmittler in diesem Krisenland berichten.Insgesamt führte die von der Großen Koalition einge-leitete Renaissance der auswärtigen Kultur- und Bil-dungspolitik zu einem intensiveren Blick auf die wichti-gen und beeindruckenden Projekte der verschiedenenMittlerorganisationen in der auswärtigen Kultur- undBildungspolitik. Wir stellten fest, dass überall in der aus-wärtigen Kulturpolitik, Bildungspolitik und Kunstpolitikvon deutschen Exekutiven wunderbare Schätze zu hebensind, aber viele voneinander nichts wissen, und dass eshier immer wieder der Koordination bedarf. Dazu tragendie vom Unterausschuss für Auswärtige Kultur- und Bil-dungspolitik initiierten Regionalkonferenzen bei. Anlie-gen ist es, die Fülle von hervorragenden Leistungen die-ser Mittlerorganisationen zu bündeln und damit eingemeinsames Interesse voranzutreiben: die langfristigeVertiefung und Stärkung unserer Beziehungen zu den Ge-sellschaften und Menschen in anderen Staaten.Und noch etwas ist deutlich geworden: Die Förderungdes gegenseitigen Verständnisses der Völker durch Ver-mittlung von Kenntnissen über die verschiedenen kultu-rellen und religiösen Wurzeln fördert das friedliche Zu-sammenleben der Menschen. Immer mehr durchdringenFragen von Kultur- und Bildung alle gesellschaftlichenBereiche. Es wird immer deutlicher spürbar, dass dieGlobalisierung auch eine kulturelle Dimension hat, diees zu gestalten gilt.
Metadaten/Kopzeile:
25832 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Die Legislaturperiode geht zu Ende und mit ihr vierhöchst erfolgreiche Jahre für die auswärtige Kultur- undBildungspolitik. Das liegt insbesondere an Frank-WalterSteinmeier, der die AKBP wieder auf das politische Ta-bleau gehoben hat.Nach einer langen Durststrecke unter Joschka Fischersind endlich das Interesse und die Wertschätzung vonKunst und Kultur wieder in die Außenpolitik der Bundes-regierung eingekehrt. Das zeigt nicht zuletzt auch derhohe finanzielle Aufwuchs im AKBP-Haushalt. Ich binfür das Engagement des Außenministers sehr dankbar,denn dadurch hat auch unsere parlamentarische Arbeitwieder einen Nährboden gefunden, und wir konnten vielvoranbringen in der auswärtigen Kultur- und Bildungs-politik.Wie gut diese Zusammenarbeit funktioniert, machendie letzten zwei Jahre deutlich, in denen wir nicht nur dasGoethe-Institut auf neue starke Beine gestellt haben, son-dern uns auch für die deutschen Schulen im Ausland be-sonders engagiert haben. Diese Erfolgsgeschichteschreiben wir auch in diesem Jahr fort. 2009 ist das Jahrder Außenwissenschaft. Unser Dialog mit anderen Kul-turen funktioniert ganz entscheidend über die Brückenvon Studium und Wissenschaft. Wir haben also gemein-sam einen wirklich großen Schritt getan, auf den wir stolzsein können.In den vier Jahren gab es unter den Fachpolitikern al-ler Fraktionen immer eine ausgesprochen fruchtbare undkollegiale Zusammenarbeit, für die ich mich herzlich be-danken möchte. In der letzten Wahlperiode war dieAKBP ja noch beim Kulturausschuss direkt angesiedelt.Ich denke, der Unterausschuss, den wir als gemeinsamenUnterausschuss des Kulturausschusses und des Auswär-tigen Ausschusses angesiedelt haben, hat sich bewährt.Hier haben wir uns im Detail mit den einzelnen Feldernder AKBP beschäftigen können, und gleichzeitig habensich beide Hauptausschüsse auch immer wieder mit derThematik befasst.An dieser Stelle möchte ich Frank-Walter Steinmeierund dem gesamten Auswärtigen Amt danken. Der Außen-minister war mehrfach in beiden Hauptausschüssen, dasletzte Mal war er gerade gestern im Auswärtigen Aus-schuss, um über die Kultur zu sprechen. Der Außenminis-ter und ausdrücklich auch sein ganzes Haus haben unsim Unterausschuss immer sehr kompetent beraten, dieAusschussreisen vorbereitet, und sie standen in allenFragen zur Verfügung. Vielen Dank dafür.Einen weiteren Dank will ich loswerden an die Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter aller Organisationen, mitdenen wir zusammenarbeiten. Ich weiß, dass Umstruktu-rierungsphasen immer mit sehr viel Arbeit verbundensind und die letzten Jahre und Monate sicherlich oft kräf-tezehrend und arbeitsintensiv waren. Und hier denke ichnicht nur an die großen Organisationen wie das Goethe-Institut oder den DAAD, sondern schließe ausdrücklichdie Alexander-von-Humboldt-Stiftung, das Institut fürAuslandsbeziehungen, die Zentralstelle für das Aus-landsschulwesen, den Pädagogischen Austauschdienst,die Deutsche UNESCO-Kommission, das Deutsche Ar-Zu Protokollchäologische Institut, die Deutschen Geisteswissen-schaftlichen Institute im Ausland, das Haus der Kulturender Welt oder auch die Deutsch-ausländischen Kulturge-sellschaften ein.Wir haben uns im Unterausschuss mit zahlreichenFragen befasst, die im Tätigkeitsbericht dokumentiertsind. Ich will einige Punkte herausgreifen, die wir alsSPD besonders vorangetrieben haben und die den Deut-schen Bundestag in der kommenden Legislaturperiodeauch noch weiter beschäftigen werden.Ein Punkt betrifft Sport als Mittel der auswärtigen Kul-tur- und Bildungspolitik. Hier haben wir im Unteraus-schuss eine Anhörung gemacht, bei der einmal mehr klarwurde, welche Potenziale in diesem Feld noch stecken.Der kulturelle Dialog kann gerade in Regionen mit kultu-rell-religiös motivierten Konflikten an seine Grenzen sto-ßen. Beispielsweise im Dialog mit der islamischen Weltkann der Sport ein unverdächtigeres Mittel des Dialogssein und kann den Kontakt zwischen Menschen manch-mal einfacher herstellen. Ich freue mich deswegen, dassder Außenminister angekündigt hat, dass es im nächstenJahr einen Schwerpunkt in diesem Bereich geben wird.Ein weiterer Punkt betrifft die Schnittstellen zwischenEntwicklungszusammenarbeit und auswärtiger Kultur-und Bildungspolitik. Auch hiermit haben wir uns in einerAnhörung beschäftigt. Gerade mit der höheren Einbezie-hung der finanziellen Ausgaben für die AKBP in diesogenannte ODA-Quote – das heißt Ausgaben für Ent-wicklungshilfe –, wird deutlich, wie gut sich beide Politik-bereiche ergänzen können. Ich bin sicher, dass die Kom-petenzen der Mittlerorganisationen der AKBP auch imRahmen der Entwicklungszusammenarbeit noch stärkergenutzt werden können. Auch das wird eine Aufgabe fürdie kommende Legislaturperiode sein.Auch die Budgetierung will ich noch einmal gesondertherausheben. Nachdem ich persönlich mit einigen Kolle-gen wie beispielsweise Lothar Mark viele Jahre dafür ge-kämpft habe, dass dieses neue Prinzip der Haushaltspla-nung und -verwaltung in der auswärtigen Kultur- undBildungspolitik umgesetzt wird, haben wir das in dieserLegislatur nun endlich geschafft. Man kann wirklich da-von sprechen, dass damit eine neue Dimension für dieArbeit der Mittler und ganz besonders des Goethe-Insti-tuts entstanden ist. Die Budgetierung legt das Funda-ment für den flexiblen und intelligenten Einsatz der fi-nanziellen Mittel und sie war damit auch ein Grundsteinfür die gesamte Reformierung des Goethe-Instituts. Si-cherlich gibt es an der einen oder anderen Stelle nochProbleme bei der Umstellung auf neue Verwaltungssys-teme. Aber ich bin sicher, dass sich die Potenziale derBudgetierung bald überall entfalten können.Ein Punkt, den ich für sehr wichtig halte, sind die Re-gelungen um den Eurocode 8. Dieser sieht einheitlichetechnische Regeln für Bauwerke in Erdbebengebietenvor, und damit unterliegen auch deutsche Gebäude imAusland diesen Normen. Es hat sich in den letzten Jahrenals massives Problem herausgestellt, dass Gebäude, diebeispielsweise schon jahrzehntelang sicher stehen undvielleicht ein Goethe-Institut beherbergen, nach diesenneuen Normen nicht mehr als sicher gelten und deshalb
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25833
gegebene Reden
(C)
(D)
Monika Griefahnumgehend geräumt werden müssen. Hier müssen wir un-bedingt praktikable Lösungen finden, damit die Mittler inmanchen Ländern nicht von heute auf morgen auf derStraße stehen und gleichzeitig gerechtfertigte Sicher-heitsbedenken berücksichtigt werden. Das wird einedrängende Aufgabe für die nächste Legislaturperiodesein.Ich freue mich, dass wir seit diesem Jahr den interna-tionalen Freiwilligendienst „Kulturweit“ ins Leben ge-rufen haben. Das gibt jungen Menschen die Möglichkeit,sich in auswärtigen kultur- und bildungspolitischen Ein-richtungen im Ausland zu engagieren. Hier geht es zumBeispiel um Umbaumaßnahmen in einer Schule, um denBetrieb eines Sprachkurses oder archäologische Ausgra-bungen in Damaskus. Ich denke, damit haben wir einetolle Möglichkeit für die AKBP als auch für die Jugend-lichen geschaffen, die auch sehr gut von diesen ange-nommen wird.Ein weiterer Punkt betrifft die Außenwissenschaftspo-litik. Auch hiermit haben wir uns im Ausschuss intensivbeschäftigt und einen Koalitionsantrag abgestimmt.2007 stand ja zunächst die Reform des Goethe-Institutsauf der Tagesordnung und im Jahr 2008 die DeutschenSchulen im Ausland und die Initiative PASCH. Zu beidenBereichen haben wir in der Koalition Anträge beschlos-sen, um auch parlamentarisch deren Bedeutung zu zeigenund konkrete Akzente zu setzen. Nun wird der Dreiklangin diesem Jahr mit der Außenwissenschaftspolitik abge-schlossen, doch leider können wir den bereits fertigenAntrag dazu nicht abschließen.Das liegt nicht an der zuständigen BerichterstatterinMonika Grütters, die ich als Kollegin überaus schätze,gerade weil ich mit ihr immer sehr gut zusammengear-beitet habe, sondern das liegt leider an der Bildungsmi-nisterin der CDU, Frau Schavan, die diesen Antrag zu-sammen mit noch einem weiteren Antrag blockiert. Dasist sehr schade und für mich unverständlich. Selbst FrauGrütters konnte mir nicht genau sagen, warum ihre Par-teikollegin da so reagiert. Und obwohl es ja eigentlichum einen Antrag des Parlaments geht, bei dem die Regie-rung eigentlich gar nichts zu sagen und erst recht nichts zuverhindern hat, hat die Union den Antrag fallen gelassen.Das bestätigt mich nur einmal mehr in meiner Auffas-sung, dass gute und vernünftige Politikerinnen wieMonika Grütters besser in der SPD aufgehoben wärenals in der CDU. Wer also von der Union mit solchen Blo-ckaden oder unsinnigen Entscheidungen wie die Ableh-nung des Staatziels Kultur im Grundgesetz nicht längerleben will, ist bei uns in der Kulturpartei SPD herzlichwillkommen.Wenn auch die Bildungsministerin die parlamentari-sche Stellungnahme zur Außenwissenschaftspolitik ver-hindert hat, so möchte ich doch noch einiges dazu sagen,denn es geht um Deutschlands Rolle als führender Bil-dungs-, Innovations- und Wirtschaftsstandort im globa-len wissenschaftlichen Netzwerk als Voraussetzung fürinternationale Spitzenleistungen.Grundlegende Aspekte spielen hierbei eine Rolle: DerErwerb und die Anwendung von Wissen bekommen imZu ProtokollArbeits- und Lebensalltag von Menschen eine immergrößere Bedeutung. Unsere heutige Gesellschaft wirdimmer mehr zu einer Wissensgesellschaft, die zudem glo-bal vernetzt ist. Bildung ist eine der wichtigsten Ressour-cen der Gesellschaft. Wertschöpfung basiert zunehmenddarauf wie auch auf Innovation. Nicht nur aufgrund dertechnologischen Vernetzung durch Kommunikation sindBildung und Wissen global und weltweit zugänglich.Mehr als zweieinhalb Millionen junge Menschen welt-weit studieren nicht in ihrem Heimatland. Unzählige Wis-senschaftler lehren und forschen im Ausland. Zahlreicheneue Wissenschaftsstandorte sind insbesondere nachdem Ende des Ost-West-Konflikts in den globalen Wett-bewerb eingetreten und entwickeln sich zu attraktivenZentren für Innovation und Investition. Etablierte Stand-orte treten in Konkurrenz zu neuen, aufstrebenden Akteu-ren. Auch im Bereich der Wissenschaft verschieben sichdie Anziehungskräfte, da neue Regionen immer attrakti-ver werden. Deutschland konkurriert auf diesem globa-len Bildungsmarkt um die besten Köpfe, die es zur Erhal-tung seiner Innovationsfähigkeit dringend braucht.Deswegen muss Wissenschaftspolitik so ein zentralesInstrument der Außenpolitik sein. So fördern wir diegrenzüberschreitende Zusammenarbeit, den Austauschund die Verständigung in Europa und weltweit. Die Listeinternationaler Herausforderungen und Konfliktpoten-ziale ist lang. Sie machen vor nationalen Grenzen nichthalt, und sie lassen sich nicht konfrontativ bewältigen,sondern verlangen ein gemeinsames Herangehen. Au-ßenwissenschaftspolitik begegnet diesen Herausforde-rungen. Denn neben der kulturellen und gesellschaftli-chen Annäherung ermöglicht sie, in gemeinsamer Arbeitund im gegenseitigen Austausch diese Herausforderun-gen anzunehmen.Eine solche Außenwissenschaftspolitik fördert zu-gleich den Wissenschaftsstandort Deutschland mit positi-ven Auswirkungen auf Deutschland als Innovations- undWirtschaftsstandort. Durch eine solche stärkere Präsenzund Sichtbarkeit im Ausland erhalten die Handelsbezie-hungen Deutschlands neue Impulse und ein zusätzlichesFundament ebenso wie die Demokratie.Außenwissenschaftspolitik ist daher Außenpolitik undBildungspolitik für Frieden und friedvolle Politik zu-gleich. Mit ihr werden Brücken zwischen Gesellschaftengebaut und die Innovationskraft Deutschlands gestärkt.Mehr als je zuvor sind wir daher auf eine Wissenschaftangewiesen, die nach außen gerichtet ist. Sie muss die In-teraktion und die Kooperation mit internationalen Part-nern suchen. Sie muss sich mit den Wissenschaftlern undWissenschaftszentren der ganzen Welt vernetzen. DieWissenschaft in Deutschland muss wieder zum starkenMagneten für Talente und intelligente Köpfe werden.Hierfür ist die Zusammenarbeit aller Bereiche wich-tig. Wissenschaft, Forschung, Politik und Wirtschaftmüssen diese Aufgabe gemeinsam angehen. Es ist daherauch Aufgabe der Außenpolitik, der Wissenschaft zu-kunftsweisende Impulse und Unterstützung zu geben. Ge-schafft ist, dass nach USA und UK Deutschland der dritt-beliebteste Standort für Studierende aus dem Ausland ist.Dabei sind übrigens auch eine große Menge Selbstzahler.
Metadaten/Kopzeile:
25834 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Monika GriefahnWissenschaft und Bildung sind eine Investition in die Zu-kunft unseres Landes. Diese Investition, die Programmefür wissenschaftlichen Austausch, können nur über Jahrehinweg ihre Wirkung entfalten. Daher sind langfristigeOrientierung, Planungssicherheit und Nachhaltigkeit diezentralen Leitlinien für das Engagement in diesem Be-reich.Hinsichtlich einer erfolgreichen Außenwissenschafts-politik muss das Verständnis der deutschen Kultur undSprache weiter gefördert werden, um weltweit Partnerund Freunde zu gewinnen. Durch grenzüberschreitendeintellektuelle und wirtschaftliche Vernetzung und dieFörderung kosmopolitisch gebildeter Eliten kann nochmehr Beitrag zu Demokratie und Stabilität geleistet unddurch dieses Engagement bei der Lösung globaler Fra-gen wie Klimawandel, Umweltschutz, Pandemien gehol-fen werden.Hier muss man ein vielfältiges Maßnahmenpaket rea-lisieren, das von Personenförderung über Strukturförde-rung und Studiumsförderung bis hin zur Beratung oderWerbung für den Wissenschaftsstandort Deutschland undseine Wissenschafts- und Wirtschaftsorganisationenreicht. Hierfür brauchen wir auch eine verstärkte Akti-vierung der Kultur- und Wissenschaftsreferenten an denBotschaften.Und zu guter Letzt sollte es auch unser Ziel sein, dasAufenthaltsrecht für Studierende und Nachwuchswissen-schaftler insbesondere aus Entwicklungsländern zurStärkung des Wissensaustausches zu vereinfachen.Dies alles sind Punkte, die im Rahmen der Außenwis-senschaftspolitik eine wichtige Rolle spielen. Der Außen-minister und sein Haus engagieren sich hier sehr inten-siv, und es ist nur etwas schade, dass die Union keinInteresse daran hatte, diesen Bereich mitzugestalten.Wir debattieren heute den Bericht der Bundesregie-rung „Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik“, in demdie Arbeit in der auswärtigen Kultur- und Bildungspoli-tik von 2007 bis 2008 beschrieben wird. Deswegenmöchte ich zusammenfassend festhalten: Wir haben sehrviel erreicht, gerade auch, weil die politische Anerken-nung und das politische Engagement für dieses Themadeutlich gestiegen sind und die auswärtige Kultur- undBildungspolitik wieder eine echte Säule in der Außenpo-litik ist.Auch in den kommenden Jahren und in der kommen-den Regierung muss diese gute Entwicklung weitergehen.Die Weichen dafür haben wir gestellt, und ich bin zuver-sichtlich, dass wir hier in eine positive Zukunft steuern.
Wenn wir heute über den Bericht der Bundesregierungzur auswärtigen Kulturpolitik debattieren, sollte die, wieich finde, sehr engagierte und gute Arbeit des Unteraus-schusses für „Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik“über die letzten vier Jahre hier nicht unerwähnt bleiben.Der Bericht macht deutlich, dass wir von allen Seiten,Regierung und Opposition, unseren Beitrag zu einerfruchtbaren Zusammenarbeit geleistet und sehr viel er-reicht haben. Als FDP-Fraktion sind wir darüber erfreut,Zu Protokolldass in den Ergebnissen der AKBP der letzten vier Jahreunter anderem auch unsere Initiativen zur Modernisie-rung und Budgetierung bei den Goethe-Instituten und zurRolle der Auslandsschulen innerhalb der PASCH-Initia-tive ihren Niederschlag gefunden haben.Wir haben vor einem knappen Jahr über die Haus-haltssituation in der auswärtigen Kulturpolitik debat-tiert. Schon damals hat die FDP-Fraktion die Erhöhungder Haushaltsmittel in diesem Bereich begrüßt. Es istjetzt wichtig, dass auch in wirtschaftlich schwierigenZeiten die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik mitden notwendigen finanziellen Mitteln ausgestattet wird.Dabei ist für uns Liberale besonders wichtig, dass es zueiner breit gefächerten Vermittlung deutscher Kulturkommt. So vielseitig wie unser Land ist, ist auch unsereKultur. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, müssenalle unsere Kulturmittler gut aufgestellt sein.Als Mitglied im Auswärtigen Ausschuss habe ich vielmit den USA zu tun. Darum liegt mir sehr an einer Revi-talisierung der transatlantischen Beziehungen. Diese ha-ben, wie Sie wissen, in den letzten Jahren gelitten. Dieneue amerikanische Außenpolitik unter Präsident Obamalässt hoffen, dass diese wichtige Verbindung nun von bei-den Seiten wieder mit mehr Enthusiasmus angegangenwird. Dabei geht es mir darum, dass neben der Vermitt-lung eines realistischen Deutschlandbildes in den USAauch die realistische Darstellung der USA hier inDeutschland stattfindet. Da gerade akademische Aus-tauschprogramme für junge Menschen hierzu besondersgut geeignet sind, setzt sich die FDP-Fraktion für dieAusweitung von Stipendien ein.Uns Liberalen liegt daran, dass wir uns mit unsererAuslandskulturarbeit in Zukunft wieder mehr in Regio-nen engagieren, die bislang sozusagen vom deutschenTellerrand gefallen sind. Wenn wir langfristig innovativeinternationale Kooperationen auf zivilgesellschaftlicherEbene vorantreiben – sei es im transatlantischen Dialog,bei der europäischen Integration oder in Wachstums-regionen – zahlt sich das auch für uns aus und ist somiteine sinnvolle Investition in die Zukunft.Wir Liberale möchten mithilfe der auswärtigen Kultur-und Bildungspolitik Deutschland in seiner kulturellenVielfalt darstellen und die aktive Förderung der Verbrei-tung der deutschen Sprache vorantreiben. Wir möchtendas Interesse an unserem schönen Land, seiner wechsel-vollen Geschichte, großen Kultur und festen Demokratieim Ausland wecken und damit die Voraussetzungen fürenge und vertrauensvolle Beziehungen zwischen Deutsch-land und seinen Partnern schaffen. Auswärtige Kulturpo-litik sollte dabei Deutschland nicht nur in seinen vielfäl-tigen Teilen, sondern auch als Ganzes widerspiegeln.Dabei ist auswärtige Kulturpolitik keine Einbahnstraße.Sie dient ebenso dazu, unsere Aufmerksamkeit den Kultu-ren anderer Länder zu schenken und von deren Eigenar-ten und Vielfalt zu lernen.Das ist, denke ich, ein ganz besonders wichtigerPunkt, wenn wir darüber reden, was auswärtige Kultur-politik im Bereich der Krisenprävention beitragen kann.Dies ist ein Feld, das wir noch sehr viel genauer untersu-chen müssen. Es wird unter anderem darum gehen, in Zu-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25835
gegebene Reden
(C)
(D)
Harald Leibrechtkunft schneller politische Entwicklungen in der Welt zuerkennen und darauf flexibel und zeitnah reagieren zukönnen. Wir Liberale erkennen die Bemühungen derBundesregierung in diesem Bereich an und unterstützendie Anstrengungen für einen intensiven Dialog mit der is-lamischen Welt, für neue Bildungs- und Wissenschafts-initiativen und für eine bessere regionale Koordination.Eine effektiv gestaltete und breit gefächerte auswärtigeKultur- und Bildungspolitik leistet hierzu einen wichtigenBeitrag.
Seit mehr als 30 Jahren gilt die Kultur als dritte Säule
der deutschen Außenpolitik.
Die Definition von 1975 lautet:
Nicht nur wirtschaftliche und politische Interessen
Deutschlands sind nach außen zu vertreten, sondern
gleichberechtigt eben auch kulturelle – in Form ei-
ner friedlichen, partnerschaftlichen Verständigung
mit anderen Ländern, Völkern und Kulturen.
So sieht es auch der aktuelle Bericht der Bundesregie-
rung zur Auswärtigen Kulturpolitik 2007/2008. Darin
wird als Ziel genannt:
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist ein
Kernelement glaubwürdiger und nachhaltiger Au-
ßenpolitik – mit ihr können wir Köpfe und Herzen
der Menschen unmittelbar erreichen. Sie trägt dazu
bei, kulturelle Trennlinien zu überwinden, und legt
auf diese Weise ein breites Fundament für stabile
internationale Beziehungen. Zugleich gewinnen wir
– unser Land, seine Gesellschaft, Wirtschaft und
Politik – durch sie wichtige und verlässliche Part-
ner in der Welt.
So weit – so gut. Und in vielen Ländern und sogar
ganzen Regionen dieser Welt wird dieses Ziel sogar er-
reicht werden können – aber nur in jenen, in denen un-
sere Außenpolitik nicht auch Kriegspolitik betreibt. Dort
sieht es anders aus. Und Sie werden mir an einem Tag, an
dem wir im Parlament über den Einsatz von AWACS-
Flugzeugen in Afghanistan abstimmen mussten, gestat-
ten, auf dieses grundsätzliche Problem der auswärtigen
Kulturpolitik hinzuweisen, von dem im Bericht der Bun-
desregierung nichts zu lesen ist. Beachtenswerterweise
finden wir dort im Kapitel Asien keinen einzigen Satz zu
unseren kultur- und bildungspolitischen Anstrengungen
in Afghanistan; über Afghanistan überhaupt kein Wort.
Was bedeutet da der lobenswerte Zuwachs des auswärti-
gen Kulturetats angesichts der Ausgaben für die militäri-
sche Außenpolitik, die die Regierung der deutschen Be-
völkerung aufnötigt und der afghanischen Bevölkerung
auferlegt?
In Krisenzeiten und in Krisenregionen ist Kulturarbeit
besonders wichtig. Eine noch so gute Kulturpolitik kann
aber nicht reparieren, was durch Kriegseinsätze an
Glaubwürdigkeit verloren wird. Es ist doch ein Wider-
spruch in sich, dass das Goethe-Institut in Kabul sich in
Zusammenarbeit mit anderen Institutionen intensiv um
den Wiederaufbau der afghanischen Kulturszene bemüht
und die Bundesrepublik Deutschland sich gleichzeitig
Zu Protokoll
immer tiefer in den Teufelskreis eines „Krieges gegen
den Terror“ verstrickt. Es ist mittlerweile Allgemeingut,
dass dieser Krieg nicht zu gewinnen ist. Und jetzt droht
er alle Ansätze eines zivilen Aufbaus unter sich zu begra-
ben. Wenn es denn Säulen der Außenpolitik gibt zur Ver-
tretung wirtschaftlicher, politischer und kultureller Inte-
ressen Deutschlands in aller Welt, dann muss die vierte
Säule, die militärische, abgetragen werden. Nur dann
lassen sich die Ziele einer unterstützenswerten Außen-
kulturpolitik erreichen.
Nach dieser grundsätzlichen Kritik am Bericht sollte
noch zweierlei für die künftige Kulturarbeit im Ausland
bedacht werden.
Erstens: Es mangelt unserer Meinung nach auch an
konzeptionellen Grundlagen für eine nachhaltige Strate-
gie der Außenkulturpolitik. Wir vermissen eine wissen-
schaftliche Expertise der auswärtigen Kulturarbeit, die
die weltpolitischen Entwicklungen und Herausforderun-
gen berücksichtigt, als Basis für eine Neujustierung der
auswärtigen Kulturpolitik. Wir meinen, es wäre gut, nach
über 30 Jahren erneut eine Enquete-Kommission des
Deutschen Bundestages zur „Auswärtigen Kulturpolitik“
einzusetzen. Nur eine umfassende Bestandsaufnahme der
auswärtigen Kulturpolitik kann Grundlage für ihre wirk-
same Weiterentwicklung sein.
Zweitens halten wir es für dringend geboten, den Kul-
turaustausch innerhalb der EU weiter zu fördern und zu
intensivieren. Wir europäischen Länder sind unterschied-
licher als oft angenommen, und eine europäische Kultur-
identität ist keineswegs selbstverständliche Realität.
„Nähe muss gepflegt werden“, fordert der deutsche Bot-
schafter in Rom, Steiner, immer wieder – und zu Recht!
Es ist erfreulich, dass es Ihnen, Herr Außenminister, inIhrer Amtsperiode gelungen ist, die auswärtige Kultur-und Bildungspolitik zurück auf die außenpolitischeAgenda zu holen und ihr durch Ihre persönliche Schwer-punktsetzung, unabhängig von dem finanziellen Mit-telaufwuchs, wieder einen deutlich größeren Stellenwertbeizumessen. Das ist der richtige Weg.Beglückwünschen möchte ich Sie, Herr Minister, zuder erfolgreichen Reform des Goethe-Instituts, die un-sere größte Mittlerorganisation deutlich gestärkt sowiehandlungsfähiger und effizienter gemacht hat. Ganz be-sonders begrüße ich die „Aktion Afrika“ als ein Projekt,das unseren Nachbarkontinent wieder stärker in dasBlickfeld rückt. Das Partnerschulprogramm PASCH so-wie die Außenwissenschaftsinitiative halte ich für sehrwichtig, stellen sie doch wesentliche Schritte zur Förde-rung des internationalen Wissenschaftsaustausches undzur grenzüberschreitenden Vernetzung des Bildungs- undForschungsstandortes Deutschland dar.Dennoch sehen wir trotz aller Erfolge der Bundesre-gierung in der Außenkulturarbeit einige Defizite. Ers-tens. Zwar wurde die auswärtige Kulturpolitik mit deut-lich mehr Geld gesegnet. Was aber nach wie vor fehlt,sind eine ehrliche Erfolgs- und Wirkungsüberprüfungder Außenkulturarbeit, ein klares konzeptionelles Leit-
Metadaten/Kopzeile:
25836 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Uschi Eidbild und eine strategische Ausrichtung des Politikfeldes.Die vielen Einzelaktivitäten, die die Bundesregierung un-ternommen hat, sind zwar für sich gesehen richtig, aberwir vermissen den konzeptionellen Überbau. Wer sinddie genauen Zielgruppen? Welche Ziele sollen erreichtwerden und mit welchen Instrumenten? Wie wird der Er-folg der Außenkulturarbeit überprüft? Ich denke da ganzbesonders an den europäisch-islamischen Kulturdialog.Zweitens. Ein weiteres Defizit sehen wir in der EU-Kulturpolitik der Bundesregierung. Für Deutschlandmuss es in Europa immer wieder darum gehen, als mo-derne Demokratie anerkannt zu werden und Ängste beiunseren Nachbarstaaten zu reduzieren. Denn trotz unse-rer soliden Stellung innerhalb der EU ist eine kohärenteund nachhaltige Kulturpolitik von immenser Bedeutung.Die beleidigenden Ausfälle unseres Finanzministers ge-genüber der Schweiz und Luxemburg haben umso deutli-cher bestätigt, dass dem Einsatz für gute nachbarschaft-liche Beziehungen höchste Priorität einzuräumen ist undwir uns das Vertrauen unserer Partner in Europa immerwieder aufs Neue erarbeiten müssen.Drittens. Was den afrikanischen Kontinent angeht, sobegrüße ich, wie bereits erwähnt, die „Aktion Afrika“ausdrücklich. Allerdings wird diese Initiative hauptsäch-lich aus ODA-Mitteln finanziert, weshalb keine verste-tigte Mittelzuwendung gewährleistet ist. Wenn sich dieODA-Mittel reduzieren, sinken auch die Zuwendungenfür die „Aktion Afrika“, und die Initiative fällt wie einKartenhaus in sich zusammen. Das ist keine nachhaltigePolitik.Viertens. Das Thema Kreativwirtschaft wird von derBundesregierung bislang viel zu wenig berücksichtigt.Auf dem entwicklungspolitischen Kongress der CDU/CSU-Fraktion im vergangenen Monat zeigte sich dieKanzlerin Seite an Seite mit Bob Geldof, um die RettungAfrikas zu propagieren. Auch die Entwicklungsministerinwirbt mit dem bekannten Musiker für mehr Geld zur Ar-mutsbekämpfung in Afrika. Ob dies dem Kontinent wirk-lich hilft, darüber wird zurzeit zu Recht heftigst disku-tiert. Sie, Herr Außenminister, könnten doch vielleichtdazu verhelfen, dass die prominenten Künstler im Rah-men der auswärtigen Kulturpolitik mehr Geld in dieKreativwirtschaft Afrikas investieren. Warum fördern Sienicht die Ausbildung von Kulturmanagern, den Aus-tausch von Filmemachern, Tänzern, Designern, Archi-tekten, den Aufbau von kreativer Infrastruktur vor Ort,damit afrikanische Kulturschaffende Zugang zu interna-tionalen Märkten erhalten, wettbewerbsfähig sind und soauch die Entwicklung in ihren Ländern vorantreibenkönnen?Fünftens. Darüber hinaus sehe ich ein Defizit in derFörderung von Kulturvorhaben aus Entwicklungslän-dern und von Kooperationsprojekten von deutschen undausländischen Kulturschaffenden. Unsere Mittlerorgani-sationen müssen sich viel stärker als bisher öffnen undmit Künstlerinitiativen vor Ort besser kooperieren. Siemüssen sie auch in Deutschland mit hiesigen Kultur-schaffenden vernetzen. Das haben zahlreiche afrikani-sche Künstlerinnen und Künstler bei von mir organisier-ten Fachgesprächen im Bundestag immer wieder betont.Zu ProtokollDabei kam zum Beispiel die Idee zu Tage, eine Anlauf-stelle für Künstler und Kulturschaffende aus Entwick-lungsländern in Berlin einzurichten. Gut wäre es, einesolche Stelle bei der ifa-Galerie Berlin zu schaffen, umdiesen Künstlern mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, da-mit sie hier ihr kreatives Schaffen vollständig entfaltenkönnen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, während der zweivorausgegangenen Wahlperioden hat es den Unteraus-schuss „Auswärtige Kulturpolitik“ nicht gegeben. Ichfreue mich, dass es mir mit der Unterstützung vieler Kol-leginnen und Kollegen gelungen ist, ihn wieder einzuset-zen, sodass die auswärtige Kulturpolitik einen Ort derDebatte im Deutschen Bundestag hat. Die Arbeit in die-sem Unterausschuss hat maßgeblich dazu beigetragen,dass das Politikfeld wieder an Bedeutung, Sichtbarkeitund Profil gewonnen hat.Ich möchte abschließend allen Kolleginnen und Kolle-gen des Unterausschusses und ganz besonders seinemVorsitzenden, Herrn Dr. Gauweiler, für die gute Zusam-menarbeit danken und wünsche mir für diesen Aus-schuss, dass es ihn in der nächsten Legislaturperiodewieder gibt.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/13621, in Kenntnis der genannten Unter-
richtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mehrheit-
lich angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Schäfer , Monika Knoche, Hüseyin-Kenan
Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Keine Sonderstellung der Bundeswehr an
Schulen
– Drucksachen 16/13060, 16/13664 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ernst-Reinhard Beck
Jörn Thießen
Birgit Homburger
Paul Schäfer
Omid Nouripour
Es entspricht dem Selbstverständnis einer Demokratie,dass ihre Sicherheit Angelegenheit des gesamten Volkesist. Das Grundgesetz umfasst gleichermaßen Friedensge-bot und Verteidigungsbereitschaft mit Streitkräften. DerStaat muss über seine Aufgaben und damit auch über dieWehrpflicht, Sicherheitspolitik und die Bundeswehr infor-mieren. Dies leistet die Bundeswehr seit über 50 Jahrenan den Schulen mit großem Erfolg für alle Beteiligten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25837
gegebene Reden
(C)
(D)
Ernst-Reinhard Beck
Der Zugang der Jugendoffiziere und die im Unterrichtzu behandelnden Themenbereiche sind in allen 16 Bundes-ländern in den Schul- und Kultusministerien in Erlass-form geregelt. Diese eindeutigen Regelungen auf Ebeneder Bundesländer legitimieren damit den Einsatz derJugendoffiziere an allen allgemein- und berufsbildendenSchulen in Deutschland. Welche Spezialisten die Schuleneinladen, entscheiden diese selbst. Der Einsatz derJugendoffiziere im Unterricht erfolgt stets im Rahmendes Unterrichtskonzeptes der anfragenden Schule. DieLehrkraft trägt die Verantwortung und begleitet denUnterricht. Die Schule ist Veranstalter und entscheidetdarüber, ob für die Schülerinnen und Schüler Anwesen-heitspflicht besteht. Dieses Konzept hat sich bewährt. Esverdient Lob und nicht Kritik! Wünschenswert wäre sogarein verstärktes Engagement. Dies stößt jedoch an Gren-zen der personellen Ressourcen der Bundeswehr.Die Arbeit der Jugendoffiziere dient der Informationüber die allgemeine Wehrpflicht und der Verbesserungder gesellschaftlichen Akzeptanz der Streitkräfte. DerJugendoffizier bietet sich dabei mit seiner Fachexpertisein der politischen Bildung den Lehrern und Schulen fürGespräche, Diskussionen, Vorträge und auch Seminare undPodiumsdiskussionen an. Leitbild ist die demokratischeIdee des Staatsbürgers in Uniform. Die Jugendoffizierekommunizieren ihre Fachinhalte auf Grundlage sowohldes Beutelsbacher Konsenses von 1976 als auch desMünchner Manifests von 1997. Die darin festgeschriebenenPrinzipien sind Lehrinhalt der fachlichen Ausbildungzum Jugendoffizier an der Akademie der Bundeswehr fürInformation und Kommunikation in Strausberg. Damitverfolgen sie einen anerkannt pluralistischen Bildungs-ansatz, der im methodisch-didaktischen Vorgehen schüler-orientiert ist und sich besonders dem Kontroversitätsgebotund dem Überwältigungsverbot verpflichtet fühlt. Jugend-offiziere stellen sich in den Schulen auch der Diskussionmit Wehrdienstverweigerern und führen zum Teil auchVeranstaltungen mit Zivildienstschulen im Bundesgebietdurch. Insoweit tragen die Jugendoffiziere durch ihreArbeit als Mittler der politischen Bildung den Grund-prinzipien der Pluralität, Überparteilichkeit und Unab-hängigkeit Rechnung.Die Jugendoffiziere organisieren für Schulen auf WunschBesuche bei der Truppe, um den Schülerinnen und Schü-lern die Gelegenheit zu bieten, den Alltag bei der Bundes-wehr kennenzulernen und vor allem authentische Ein-drücke bei Gesprächen mit Soldatinnen und Soldatenverschiedener Dienstgradgruppen zu gewinnen. Dabei istsichergestellt, dass im Rahmen von Veranstaltungen derInformationsarbeit Kinder und Jugendliche unter 18 Jah-ren keinen Zugang zu Handfeuerwaffen und/oder Munitionerhalten. Die Bundeswehr führt mit Schülerinnen undSchülern keine Schießübungen durch. Die im Antrag auf-gestellte Behauptung ist schlichtweg falsch. Ebenfallskenne ich keinen Fall, in dem militärisches Gerät inSchulen gebracht und vorgeführt wird.Die Jugendoffiziere bieten ihre Informationsangeboteauch im Rahmen der Lehreraus- und -weiterbildung denLehrerseminaren in den Bundesländern an. Von diesenAngeboten in Form von Fachvorträgen, Seminarreisenund der Simulation „Politik und Internationale Sicherheit“Zu Protokollwird zunehmend seitens der Lehrerseminare/-institute Ge-brauch gemacht. In diesem Sinne bietet die Bundeswehrden Schulen und den Kultus- und Schulministerien auchzur Lehreraus- und -Weiterbildung ihre Fachexpertisean. Das Ministerium für Schule und Weiterbildung desLandes Nordrhein-Westfalen und das Ministerium fürBildung, Familie, Frauen und Kultur des Landes Saar-land haben je eine Kooperation mit der Bundeswehr zumEinsatz der Jugendoffiziere geschlossen. Ziel der Koope-rationen ist, die Kommunikation zwischen den Kultus-ministerien der Länder und der Bundeswehr über Sicher-heitspolitik im Unterricht zu verbessern, die Teilnahmevon Lehramtsanwärtern und Lehrern bei Aus-, Fort- undWeiterbildungen der Jugendoffiziere im Rahmen vonsicherheitspolitischen Seminaren zu stärken und dieInformations- und Bildungsangebote der Jugendoffizierein den Amtsblättern und Onlinemedien der Schulministe-rien zu kommunizieren. Nach meinen Informationenstrebt das Verteidigungsministerium weitere derartigeKooperationen an.Gemäß Art. 12 Grundgesetz haben alle Deutschen dasRecht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zuwählen. Jeder Deutsche hat mit Vollendung des 17. Lebens-jahres und Erfüllung der Vollzeitschulpflicht die Möglich-keit, sich für ein soldatisches Dienstverhältnis zu bewer-ben. Entsprechende Angebote zu unterbreiten, ist daherlegitim. Die Bundeswehr bietet im Rahmen militärischerund ziviler Dienst- bzw. Arbeitsverhältnisse Absolventenberufs- und allgemeinbildender Schulen eine Vielzahlattraktiver Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten an.Vortragsveranstaltungen der Wehrdienstberater erfolgenregelmäßig im Rahmen von Projekttagen zur Berufs-findung, beruflichen Informationsveranstaltungen derSchule oder im Rahmen von Unterrichtsblöcken, die sichmit dem Thema Berufsfindung beschäftigen.Die Unterstellung der Linken, die Bundeswehr betreibeeine bewusste Militarisierung der Gesellschaft, weise ichmit aller Entschiedenheit zurück. Wenn man Beispielevon Militarisierung sucht, dann findet man diese in derGeschichte der DDR, wo sozialistische Wehrerziehungund vormilitärische Ausbildung zum Pflichtprogrammgehörten.Der Einsatz der Jugendoffiziere ist eindeutig legitimiertund wird in allen Bundesländern auf rechtlicher Grund-lage praktiziert. Wir danken den Jugendoffizieren aus-drücklich für ihr Engagement. Sie haben unsere Unterstüt-zung für ihre wichtige Informations- und Bildungsarbeitverdient.Den vorliegenden Antrag lehnen wir ab.
„Staatsbürger in Uniform“ – das sind auch die Ju-gendoffiziere. Seit 1958, also fast so lange, wie es dieBundeswehr gibt, stellen sich momentan 94 Jugendoffi-ziere in ganz Deutschland den Fragen zur deutschen Si-cherheits- und Verteidigungspolitik. Seit 2009 sind auchdie ersten Frauen als Jugendoffiziere tätig. Sie sind imDialog mit Schülerinnen und Schülern, bei Besuchen derTruppe, in Lehrer- und Referendarweiterbildungen undbei Simulationen und Planspielen. Sie wirken als Refe-
Metadaten/Kopzeile:
25838 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Jörn Thießenrenten und Multiplikatoren für all diejenigen in der Be-völkerung, die sicherheitspolitisch interessiert sind undmehr erfahren wollen: über die Bundeswehr, ihre Aufga-ben zuhause und in den Einsätzen. Ihr Arbeitsalltag inSchulen ist ein wesentliches Element des sicherheitspoli-tischen Diskurses in Deutschland: Aufklärung und Dis-kussion darüber, was die Streitkräfte im Einsatz und imLande leisten.Jugendoffiziere in Deutschland – eine sehr wichtigeEinrichtung, um die Aufgaben unserer Bundeswehr in dieGesellschaft zu transportieren. Sehr gut ausgebildet, mitabgeschlossenem Hochschulstudium und methodisch-pädagogischen Kenntnissen, verfügen alle Jugendoffi-ziere über mehrjährige Erfahrung als militärische Vorge-setzte. Jugendoffiziere sind sehr gut auf ihre Aufgabevorbereitet. Viele von ihnen bringen Einsatzerfahrungmit, waren im Kosovo oder in Afghanistan. Sie wissen,worüber sie reden. Jeder von ihnen hat sich freiwillig fürdieses Amt beworben. Sie haben Freude und Interessedaran, anderen ihre Erfahrungen zu vermitteln, Neugierzu wecken und zu einem besseren Verständnis der Aufga-ben der Bundeswehr zu sorgen. Ihre Bereitschaft, ihreErfahrungen in die Gesellschaft zu tragen, ist groß, ge-nauso wie ihr umfangreiches sicherheitspolitischesWissen. Sie sind ein wichtiges, ja ein unerlässlichesBindeglied zwischen Armee und Gesellschaft in unsererDemokratie. Jugendoffiziere sind kein Sprachrohr derBundeswehr. Eine „kritische Loyalität“ seitens der Ju-gendoffiziere ist nicht nur erlaubt, sondern erwünscht!Wir brauchen noch mehr Jugendoffiziere, noch mehrengagierte Frauen und Männer, die ihren Dienst für dieBundeswehr aus dieser Perspektive leisten. Mehr Ju-gendoffiziere sind notwendig, um dem nachzukommen,was alle immer fordern: die sicherheitspolitische De-batte in Deutschland anzukurbeln.Die Jugendoffiziere werben: für eine verantwortungs-volle Armee, auch im Einsatz, für eine Armee in politi-scher und parlamentarischer Verantwortung, als wichti-ges Instrument unserer Demokratie. Das gute Ansehender Bundeswehr in der deutschen Bevölkerung, die festeVerankerung unserer Streitkräfte in unserer Demokratie –all das haben wir zu einem großen Teil auch unseren Ju-gendoffizieren zu verdanken. Wir sollten die gute Arbeitder Jugendoffiziere mehr würdigen; sie stärken in ihremEngagement für eine fest verankerte Bundeswehr in derGesellschaft.In Parlamentsseminaren und Schulbesuchen mit Ju-gendoffizieren erfahren Jugendliche hautnah, was es be-deutet, der Bundeswehr zu dienen. Und auch wir, die Ab-geordneten des Deutschen Bundestages, erfahren inunseren Begegnungen mit Jugendoffizieren die Stim-mungslage der jungen Leute. Eine feste Verankerung derBundeswehr in der Gesellschaft ist nur dann möglich,wenn alle voneinander wissen und aufeinander zugehen.Genau das tun die Jugendoffiziere. Sie gehen mit ihremWissen hinein in die Gesellschaft, als Multiplikatoren,als Augenzeugen. Jugendoffiziere haben es nicht immerleicht: den einen zu wenig Soldat, den anderen zu sehrMilitarist. Nichts davon ist wahr. Wohl kaum ist jemandso sehr Soldat wie diejenigen Frauen und Männer, dieZu Protokollihre gesellschaftliche Verantwortung auch außerhalb ih-rer originären Arbeitsbereiche wahrnehmen. Und ge-nauso wenig sind Jugendoffiziere Militaristen. Umfas-send informiert erfüllen sie einen bildungspolitischenAuftrag, der seinesgleichen sucht. Sie sind sehr weit da-von entfernt, die Bundeswehr und ihre Rolle in Deutsch-land und der Welt zu überhöhen oder zu beschönigen. Siehaben unseren Dank und unsere Anerkennung verdient!
Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke legterneut eine Sicht auf die Bundeswehr dar, die mit derRealität in der Bundeswehr im allgemeinen, ihrer inne-ren Verfasstheit und der Tätigkeit der Jugendoffiziere imBesonderen nichts zu tun hat. Er suggeriert, dass dieJugendoffiziere der Bundeswehr „im sensiblen Bereichder Verteidigungspolitik eine auf Pluralität und Kontro-versität basierende Meinungsbildung“ verhinderten undauf diese Weise versuchten, den Schülerinnen und Schü-lern eine einseitige Weltsicht zu vermitteln. Damit unter-stellt die Linke den Jugendoffizieren die Anwendung dergleichen Methoden wie bei den früheren Politoffizierender NVA in der DDR, die stramm einen „Klassenstand-punkt“ zu vertreten und zu vermitteln hatten. Das Gegen-teil ist jedoch der Fall. Die Jugendoffiziere der Bundes-wehr diskutieren durchaus ausgewogen und kontrovers.Aus Sicht der FDP stellen die Jugendoffiziere somit einbewährtes und wichtiges Element bei der Vermittlung au-ßen- und sicherheitspolitischer Inhalte dar.Ein langjähriger Bestseller in ihrem vielfältigen Infor-mationsangebot, das die Jugendoffiziere sowohl fürSchüler und Studierende, als auch für Lehrkräfte oderMultiplikatoren in ihrem Betreuungsbereich bieten, istdie mehrtägige interaktive Simulation „Politik & Inter-nationale Sicherheit“, POL&IS. In dieser Simulationwerden das Zusammenspiel politischer, wirtschaftlicherund ökologischer Faktoren ebenso vermittelt wie die ge-genseitigen Abhängigkeiten internationaler politischerAkteure und Institutionen sowie die daraus entstehendenKonflikte und deren Lösungsmöglichkeiten mit den Mit-teln der Politik, der Diplomatie und der wirtschaftlichenKooperation. Das Militär als Instrument zur Konfliktlö-sung wird dabei als letztes Mittel dargestellt, was sichunter anderem am regelmäßigen Ziel der Simulation, dieweltweite Abrüstung voranzutreiben, festmachen lässt.Folglich sind es eben nicht vorrangig militärische Kon-fliktlösungsmöglichkeiten und auch keine einseitige Welt-sicht, die durch die Jugendoffiziere vermittelt werden,wie die Linke dies in ihrem Antrag versucht darzustellen.Auch das angeführte Argument, dass die Ausgestal-tung des Schulunterrichtes und die Inanspruchnahmevon Angeboten Dritter im Rahmen der politischen Bil-dung an den Schulen in die Zuständigkeit der Bundeslän-der fällt, steht nicht im Widerspruch zu Veranstaltungenvon Jugendoffizieren an Schulen, denn schließlich erfolgtderen Tätigkeit im Einvernehmen mit den Kultusministe-rien der Länder. Im Übrigen ist in keiner Weise erkenn-bar, dass bei der Vermittlung von Sicherheitspolitik anSchulen auf Pluralität und Kontroversität verzichtetwird. Schließlich kommen die Lehrerinnen und Lehrer anSchulen ihrer Aufgabe in vorbildlicher Weise nach, den
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25839
gegebene Reden
(C)
(D)
Birgit HomburgerSchülerinnen und Schülern eine differenzierte Betrach-tungsweise nahezubringen und dafür zu sorgen, dassPositionen aus unterschiedlicher Sicht beleuchtet wer-den.Darüber hinaus nutzt die Linke den Antrag erneut, umihre durch nichts zu begründende Position zu wieder-holen, dass die Beteiligung der Bundeswehr an inter-nationalen Auslandseinsätzen völkerrechtswidrig sei.Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt den vorliegenden An-trag daher aus den genannten Gründen ab.
Weitestgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit ge-winnt die Bundeswehr einen immer stärkeren Einfluss anSchulen. Sie genießt eine Sonderstellung im Bereich dersicherheitspolitischen Bildungsarbeit mit Jugendlichenund nutzt den exklusiven Zugang, um Werbung für dieTruppe zu machen, um Auftrag und Aufgaben der Bun-deswehr im günstigen Licht erscheinen zu lassen und vorallem für die Nachwuchswerbung. Dafür beschäftigt dieBundeswehr mehr als 90 hauptamtliche Jugendoffiziere.Im letzten Jahr wurden so mehr als 130 000 Jugendlicheerreicht.Wir dürfen einfach nicht vergessen, worum es hiergeht. Jugendoffiziere sind häufig der erste Berührungs-punkt Jugendlicher mit der Bundeswehr und sicherheits-politischen Themen. Minderjährige, zum Teil erst 14 Jahrealt, werden von der Bundeswehr direkt und ohne Gegen-part angesprochen. Es sollte nicht die Aufgabe des Lehr-personals sein, diese Rolle zu übernehmen. Die Linkelehnt diese Sonderstellung der Bundeswehr ab. Die ge-genwärtige Praxis verstößt gegen zwei zentrale Prinzi-pien in der schulischen Bildung: dem Gebot der Plurali-tät und den Gebot der Kontroversität.Natürlich verweist das Verteidigungsministerium gernedarauf, dass die Bundeswehr bzw. das Ministerium quaGrundgesetz objektiv und neutral ist. Unterschlagenwird, dass die Bundeswehr einer der größten ArbeitgeberDeutschlands mit mehr als 320 000 „Beschäftigten“ ist.Unterschlagen wird, dass die Bundeswehr als RaupeNimmersatt mit 31 Milliarden Euro pro Jahr den dritt-größten Einzeletat hat, nach dem Bundesministerium fürArbeit und Soziales und der Bundesschuld. Unterschla-gen wird, dass das Unternehmen Bundeswehr etwa50 000 Wehrpflichtige im Zwangsdienst einsetzt. Hier istin der Jugend- und Öffentlichkeitsarbeit also ein gehöri-ges Eigeninteresse vorhanden. Von Objektivität und Neu-tralität kann keine Rede sein.Noch ein Satz zur Kompetenz der Bundeswehr im Be-reich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik: Nochwird die Außen- und Sicherheitspolitik – zumindest offi-ziell – federführend im Auswärtigen Amt gemacht, nochfällt Katastrophenhilfe im Inland in den Zuständigkeits-bereich des Innenministeriums. Wenn hier das Verteidi-gungsministerium die Hauptzuständigkeit beansprucht,betreibt sie Augenwischerei.Die Praxis der Bundeswehr führt zu einer Deforma-tion der sicherheitspolitischen Bildung an Schulen. DerZu ProtokollAuftrag Bildung wird instrumentalisiert für Propagandain eigener Sache und Rekrutierungszwecke. Dabei profi-tiert die Bundeswehr auch von der Bildungsmisere. Diemangelnde Ausstattung der Schulen, die fehlenden Aus-und Fortbildungsangebote für Lehrerinnen und Lehrer,die allgemeine Überlastung öffnen den Weg für die Bun-deswehr. Sie ist im Vergleich zu den Schulen finanziell,materiell und personell wesentlich besser ausgestattetund versucht, sich durch attraktive Freizeitangebote wiezum Beispiel Truppenbesuche, die Präsentation von Mi-litärgerät, die Organisation von Reisen oder eben durchInformationsveranstaltungen an Schulen in einem güns-tigen Licht zu präsentieren.Selbst für das Lehrpersonal, als wichtige Multiplika-toren geführt, werden günstige Fortbildungsangebotevon der Bundeswehr finanziert. Dies hat inzwischen auchdirekte Auswirkungen auf die Inhalte des Politik- und So-zialkundeunterrichts. In NRW wurde mit der Landesre-gierung Ende letzten Jahres eine Partnerschaft darübervereinbart, dass sich die Bundeswehr an der Erstellungvon Materialien für den Unterricht beteiligt. Jeder kannsich an einer Hand ausrechnen, dass es wohl keineSchwerpunkthefte zur zivilen Krisenbearbeitung, zur Ab-schaffung der Wehrpflicht oder zu den Kosten der Rüs-tungsbeschaffung geben wird. Hier wäre es angebrachterund dem Auftrag angemessener gewesen, eine unabhän-gige Expertenkommission einzusetzen und mit vergleich-baren Mitteln auszustatten.Natürlich können wir allenthalben – und nicht zuletztauch in den jährlichen Jugendoffiziersberichten – dieKlagen über das Desinteresse an diesen Themen lesen.Wenn es der Bundesregierung aber tatsächlich so wichtigist, den Jugendlichen an den Schulen die Grundlagenund Inhalte ihrer Außen- und Sicherheitspolitik zu ver-mitteln, dann sollte sie die Rollen der Bundeszentraleund der Landeszentralen für politische Bildung überden-ken. Dann sollte sie die Zusammenarbeit mit anderen In-stitutionen und Initiativen suchen bzw. die Schulen darinermutigen und unterstützen, dies zu tun. Geeignete Ex-pertinnen und Experten findet man bei den Friedensfor-schungsinstituten, den Kriegsdienstverweigererinitiati-ven oder den Verbänden für zivile Friedensarbeit. Esgeht hier nicht um den Ausschluss der Bundeswehr, son-dern darum, dass sich die Bundeswehr an die gleichenSpielregeln zu halten hat wie andere Institutionen undGruppen. An den Schulen muss gerade bei solchen sen-siblen Inhalten wie Krieg und Frieden und den Zielen derdeutschen Politik das Prinzip der Pluralität gelten.Es ist ein Gemeinplatz, dass Krieg in den Köpfen an-fängt. Und auch wenn man es umdreht, bleibt es richtig:Auch Frieden fängt in den Köpfen an. Es ist eine derwichtigsten Aufgaben der Schulen, den Schülerinnen undSchülern einen Zugang zu diesem Thema anzubieten. Wirmüssen die Schulen ermutigen, mehr Eigeninitiative zuübernehmen, und müssen sie durch die Bereitstellung dernotwendigen Kapazitäten dabei unterstützen. Dieser An-trag ist daher gleichzeitig ein Appell an die Landesregie-rungen. Wer an Bildung spart, spart an der Zukunft.
Metadaten/Kopzeile:
25840 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25841
(C)
(D)
Die Bundeswehr alleine kann kein ausgewogenes und
vollständiges Bild der Außen- und Sicherheitspolitik an
Schulen vermitteln. Das steht aus unserer Sicht außer
Frage. Aber die Jugendoffiziere machen trotzdem eine
weitgehend gute Arbeit.
Man kann geteilter Ansicht darüber sein, ob die von
Schulen beziehungsweise Lehrern zu buchenden Bundes-
wehrseminare oder Kasernenbesuche geeignete Instru-
mente sind, um ein besseres Verständnis für die Heraus-
forderungen der Außen- und Sicherheitspolitik bei den
Schülerinnen und Schülern zu fördern. Ich denke, da-
rüber muss man diskutieren. Aber das muss man anders
machen, als es die Linksfraktion mit ihrem Antrag an-
geht. Darüber muss man sachlich und nicht ideologisch
diskutieren.
Wenn Sie mit Jugendoffizieren sprechen, dann bedau-
ern diese oft selbst, dass es keine vergleichbaren Unter-
richtsangebote seitens des Auswärtigen Amtes oder aus
dem Bereich der Entwicklungszusammenarbeit gibt. Of-
fensichtlich gibt es hier eine „zivile Lücke“, die wir drin-
gend schließen sollten. Für uns Grüne ist wichtig, dass
Diskussion, unterschiedliche Sichtweisen und eben auch
die Perspektive ziviler Akteure im Zentrum von Unter-
richtsangeboten für Schulen stehen sollten.
Bis dahin sehe ich im Antrag der Linksfraktion einige
richtige Ansätze. Allerdings fällt auf, dass Sie sich an vie-
len Stellen im Antragstext für Pluralität aussprechen, im
Forderungsteil ist in Punkt vier allerdings zu lesen, dass
die Jugendoffiziere von den Schulen de facto abgezogen
werden sollen und die ergänzende Bildungsarbeit aus-
schließlich durch ziviles Personal abzudecken sei. Das
ist zumindest widersprüchlich.
Wenn sich die Kolleginnen und Kollegen der Links-
fraktion mit Außen- oder Sicherheitspolitik befassen,
geht das offensichtlich nicht ohne ideologische Brille auf
der Nase. Beim ersten Lesen ihres Antrages hatte ich den
Eindruck, dass Sie die Jugendoffiziere der Bundeswehr
mit Politoffizieren oder dem Wehrkundeunterricht in der
ehemaligen DDR verwechselt haben. Sie zeichnen in Ih-
rem Antrag ein plumpes und falsches Bild der Arbeit der
Jugendoffiziere. Sie benutzen das Thema wie so oft, um
platte Parolen zu verbreiten, anstatt zu einer sachlichen
Debatte beizutragen. Das ist schade und überflüssig.
Ich nenne nur zwei Beispiel dafür. Sie behaupten in Ih-
rem Antrag, Ziel der Jugendoffiziere sei „die Legitima-
tion für den auch völkerrechtswidrigen Einsatz der Bun-
deswehr als Instrument der Außenpolitik“. Das ist
Unsinn, und das wissen Sie auch. Aber Sie wiederholen
ja allzu gerne ihr Mantra „Bundeswehr sofort raus aus
Afghanistan“. Und ich wiederhole Ihnen darauf als Ant-
wort: Diese Haltung ist unverantwortlich und falsch.
Aber das wissen Sie eigentlich auch, nur opfern Sie für
Ihre Wahlkampfpolemik ja immer wieder gerne jegliche
Seriosität.
Das zweite Beispiel: Sie kritisieren in Ihrem Antrag,
der Einsatz der Jugendoffiziere diene „zur Verbesserung
der gesellschaftlichen Akzeptanz der Streitkräfte“. Wel-
ches Bild haben Sie eigentlich von der Bundeswehr, der
Armee, die in besonderer demokratischer Tradition un-
sere Parlamentsarmee ist? Als Demokraten müssen wir
ein besonderes Interesse daran haben, dass die Bundes-
wehr tief in der Gesellschaft verankert ist, mit ihr in ei-
nem engen Austausch steht und, ja, eben auch gesell-
schaftliche Akzeptanz genießt. Ihr Bild von der
Bundeswehr hingegen ist abenteuerlich und nicht zu
rechtfertigen, und dies schon gar nicht angesichts der
guten Arbeit, die die Soldatinnen und Soldaten in unse-
rem Auftrag, im Auftrag des Parlaments machen.
So zeigt sich klar, dass es nicht Ihre Motivation ist, mit
diesem Antrag eine sachliche Debatte anzustoßen, son-
dern es Ihnen darum geht, Ihre Polemik und Ihre Ideolo-
gie zu verbreiten. Dafür erhalten Sie von uns keine Un-
terstützung. Daher lehnen wir diesen Antrag ab.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Verteidigungs-
ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/13664, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/13060 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mehrheit-
lich angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung
Stadtentwicklungsbericht 2008
– Drucksachen 16/13130, 16/13665 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Joachim Günther
Es ist gut, dass wir uns im Deutschen Bundestag am
Ende dieser für die Kommunen erfolgreichen Legislatur-
periode noch einmal mit deren Entwicklung auseinan-
dersetzen.
Der Stadtentwicklungsbericht der Bundesregierung
spiegelt die Standortbestimmung und die unterschiedli-
che Entwicklung deutscher Städte und Regionen wider.
Wir erleben regional differenziert gleichzeitig Wachstum
und Schrumpfung. Auch die gesellschaftlichen Unter-
schiede auf lokaler und regionaler Ebene nehmen deut-
lich zu.
Die Herausforderungen, vor denen die Stadtentwick-
lung steht, sind riesig:
Erstens. Der demografische Wandel – er hat vor
30 Jahren eingesetzt – und Wanderungsbewegungen in-
nerhalb Deutschlands von Ost nach West und von Nord
nach Süd machen die zentralen Herausforderungen
sichtbar.
Zweitens. Fast die Hälfte der Wohnungen in den grö-
ßeren Städten wird nur von einer Person bewohnt.
(C)
(D)
Peter Götz
Drittens. Ein alten- und familiengerechter Umbau so-
wohl der kleinen, der mittleren als auch der großen
Städte ist genauso wichtig wie die wohnortnahe Versor-
gung und die Mobilität aller Bevölkerungsgruppen –
jung und alt, arm und reich.
Viertens. Ein attraktives Wohnumfeld für die Men-
schen, in dem sie gerne leben, wird durch zunehmende
Globalisierung wichtiger denn je. Sozialer Zusammen-
halt und positive Nachbarschaftsbeziehungen entwickeln
sich in einem lebenswerten Wohnquartier besser als in
einem Problemgebiet. Deshalb muss der notwendige
Stadtumbau auch bei rückläufigen Bevölkerungszahlen
städtische Strukturen lebensfähig halten und die Lebens-
qualität sichern. Dies gilt übrigens auch für den ländli-
chen Raum.
Fünftens. Wir brauchen auch in Zukunft geeignete
städtebauliche Programme wie die klassische Städte-
bauförderung, Stadtumbauprogramme oder das Pro-
gramm „Soziale Stadt“. Noch besser ist ein frühzeitiges
Einschreiten beim Entstehen von Problemgebieten. Dazu
gehört auch die Betrachtung der mittleren und kleinen
Städte im ländlichen Raum.
Sechstens. Die Integration der Menschen mit Migra-
tionshintergrund wird für unser Land zunehmend zu ei-
ner Schlüsselaufgabe. Eine integrierte Stadtentwick-
lungspolitik muss sich darauf einstellen. Es gilt, um nur
ein Beispiel zu nennen, die Integrationskraft von Kinder-
gärten und Schulen zu nutzen und Zuwandererfamilien
früh die deutsche Sprache zu vermitteln. Wenn wir wis-
sen, dass in vielen Städten in Deutschland der Anteil der
dort lebenden Menschen mit Migrationshintergrund bei
über 40 Prozent liegt und zunehmend Tendenzen zur eth-
nischen und sozialen Segregation sichtbar sind, wird
sehr schnell deutlich, wo welche Anstrengungen erwartet
werden.
Siebtens. Eine aktive Bürgerschaft, die frühzeitige
Einbindung von Grundstückseigentümern in den Stadt-
entwicklungsprozess und ein gutes Miteinander der han-
delnden Akteure – Planer, Architekten, Investoren und
Kommune – sind ein bewährtes Erfolgsrezept für eine
gute Stadtentwicklung, das es auszubauen gilt.
Achtens. Die zu erwartenden Auswirkungen und Fol-
gen des Klimawandels erfordern bereits heute Anpas-
sungskonzepte und Umsetzungsmaßnahmen, die auf den
Weg gebracht werden müssen. Energieeffizienz, neue
Techniken zur Nutzung erneuerbarer Energien und die
Ertüchtigung des Gebäudebestandes gehören genauso
zur Zukunftsplanung einer Stadt wie die Suche nach Frei-
räumen, Grünanlagen und Parks, um der Erwärmung in
der Stadt entgegenzusteuern.
Neuntens. Bei allen Entscheidungen sind die Belange
des Denkmalschutzes, der Baukultur und architektoni-
sche Aspekte zu beachten.
Zehntens. Wir müssen verstärkt unsere Anstrengungen
auf die Innenbereiche der Städte lenken; es gibt über
63 000 Hektar Brachflächen. Die weltweite Finanz-
markt- und Wirtschaftskrise lässt befürchten, dass inner-
städtische Brachen und nicht mehr genutzte Gewerbe-
und Industrieflächen eher zunehmen. Die Wiederverwen-
Zu Protokoll
dung bereits genutzter Flächen muss daher Vorrang vor
neuer Flächeninanspruchnahme haben. CDU und CSU
setzen auf Anreize anstatt auf neue finanzielle Belastun-
gen.
Der Stadtentwicklungsbericht erstreckt sich über ei-
nen Zeitraum von vier Jahren. Wir erwarten von der Bun-
desregierung, dass der Deutsche Bundestag auch in Zu-
kunft regelmäßig über die Chancen und Probleme der
Städte und Metropolenregionen unterrichtet wird. Es
geht uns dabei neben der europäischen und nationalen
Dimension auch um die mittleren und kleinen Städte im
ländlichen Raum.
Wir erwarten von der nächsten Bundesregierung, dass
sie mit dazu beiträgt, dass die finanzielle Leistungskraft
der Kommunen in einer sichtbar schwieriger werdenden
Zeit gewährleistet bleibt. Nur starke Städte und Gemein-
den sind in der Lage, die Zukunftsaufgaben zu meistern.
Das in diesem Jahr aufgelegte milliardenschwere
Konjunkturpaket II ist ein wichtiger Beitrag, damit die
Kommunen gestärkt mit neuer, besserer Infrastruktur aus
der Krise gehen.
Nach der Billigung des EU-Reformvertrages von Lis-
sabon durch das Bundesverfassungsgericht in dieser Wo-
che sind die Voraussetzungen geschaffen, dass die Kom-
munen in die europäische Subsidiaritätskontrolle
einbezogen werden. Der Vertrag ist ein Schutzschild ge-
gen die wiederholten Versuche der Europäischen Kom-
mission und des EuGH, die Handlungs- und Gestaltungs-
freiheit der Kommunen einzuschränken. Jetzt muss es
darum gehen, auf europäischer Ebene Subsidiarität
durchzusetzen. Was die Städte, Gemeinden und Kreise ei-
genverantwortlich erledigen können, muss nicht von Eu-
ropa geregelt werden.
Die uns vom Bundesverfassungsgericht aufgegebene
stärkere Parlamentsbeteiligung wird unsere parlamenta-
rische Verantwortung auf diesem Gebiet erhöhen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass die Zukunftsfähig-
keit Deutschlands eng mit der Entwicklung unserer
Städte verbunden ist. Selbstverwaltete Kommunen sind
ein wichtiger Bezugs- und Ankerpunkt unserer Gesell-
schaft.
Unsere Städte befinden sich regional, national und
global zunehmend im Wettbewerb um Wirtschaftsansied-
lungen, um Wissenschaft und Kultur, um Arbeitsplätze
und um die besten Köpfe. Deshalb stehen wir als Bundes-
politiker auch gegenüber den Städten, Gemeinden und
Kreisen in der Verantwortung. Ich setze darauf, dass
auch in der nächsten Legislaturperiode eine CDU/CSU-
geführte Bundesregierung mit Angela Merkel als Bun-
deskanzlerin an der Spitze dieser Verantwortung gerecht
wird.
Mit dem Stadtentwicklungsbericht 2008 hat die Bun-desregierung nicht nur eine exzellente Bestandsauf-nahme der Entwicklung unserer Städte und Regionen imKontext vielfältiger Herausforderungen vorgelegt, son-dern auch den Rahmen für die zukünftigen Aufgaben derStadtentwicklungspolitik in der kommenden Legislatur-
Metadaten/Kopzeile:
25842 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Petra Weisperiode – und selbstverständlich darüber hinaus – abge-steckt. Gleichzeitig gibt uns der Bericht am Ende dieserWahlperiode die Gelegenheit zu einer Bilanz der Stadt-entwicklungspolitik der Großen Koalition. Anstelle einerausführlichen Würdigung, die das Werk zweifellos ver-dient hätte, müssen angesichts der knappen Zeit ein paarwenige Schlaglichter genügen.Die vorgelegte Bilanz kann sich sehen lassen, ohneWenn und Aber. Die Stadtentwicklung hat sich in denletzten vier Jahren nicht nur als ein nationales Politikfeldprofiliert, sondern im Zuge der deutschen EU-Ratspräsi-dentschaft und der Verabschiedung der „Leipzig-Chartazur nachhaltigen Stadtentwicklung“ auch als ein euro-päisches, ja als ein Politikfeld mit internationaler Di-mension. Die Politik der Bundesregierung hat – mit aus-drücklicher Unterstützung der Regierungsfraktionen –auf die Herausforderungen des demografischen Wandels,der Klimaveränderung, der Integration von Menschenmit Migrationshintergrund und der Förderung des sozia-len Zusammenhaltens in unseren Städten mit überzeu-genden Konzepten geantwortet. Die Verstetigung der Pro-gramme zur Städtebauförderung, ihre programmatischeAusrichtung auf die nachhaltige Stadtentwicklung – un-ter ausdrücklicher Einbeziehung des Themas Wohnen inder Stadt – und der Beginn der Initiative Nationale Stadt-entwicklungspolitik waren und sind geeignet, effektiveProblemlösungen anzubieten. Sie stellen darüber hinausauch sicher, dass die Auseinandersetzung mit den He-rausforderungen und Chancen zukünftiger Stadtentwick-lung eine gesellschaftliche Daueraufgabe ist und – wasmir an dieser Stelle besonders wichtig zu betonen ist – inaller Öffentlichkeit und mit einer breiten Öffentlichkeitdiskutiert werden wird. Dieser öffentliche Diskurs hat esallemal verdient, dass er zukünftig noch ein bisschen in-tensiver und vernehmbarer geführt wird, nicht um seinerselbst willen, sondern mit Blick auf eine höhere Akzep-tanz bei den Adressatinnen und Adressaten unserer Poli-tik.Ich begrüße es ausdrücklich, dass über die Ziele derStadtentwicklung weitgehender Konsens herrscht. Esgeht um die Sicherung des sozialen Zusammenhalts inunseren Städten, der durch das Programm „SozialeStadt“ seit nunmehr zehn Jahren einen besonderenImpuls erhält, es geht um die Anpassung der Stadtstruk-turen an eine schrumpfende Bevölkerung und anwirtschaftsstrukturelle Veränderungen, für die die Pro-gramme zum Stadtumbau stehen, und es geht um denKlimaschutz in unseren Städten, für den das CO2-Gebäu-desanierungsprogramm nur ein Markenzeichen ist, je-denfalls das im Augenblick populärste.Die Frage nach der künftigen Schwerpunktsetzungder Stadtentwicklungspolitik beantwortet sich vor demHintergrund der vorgelegten Bilanz beinahe von selbst.So sehr es darum gehen muss, die laufenden Programme,die sich in der Vergangenheit bewährt haben, auf hohemNiveau fortzusetzen – ich denke dabei in erster Linie andie „Soziale Stadt“ und den „Stadtumbau Ost und West“als die „Klassiker“ – , so sehr wird es nötig sein, neueAkzentuierungen vorzunehmen und vor allem auf dieneuen Anforderungen in bestimmten Handlungsfeldernadäquat zu reagieren. So wird der in Gang gesetzte, inZu ProtokollZukunft noch zu beschleunigende energieeffiziente Um-bau der Stadtstrukturen ein hohes Maß an qualitätsvollemBauen, eine erzeugungs- und verbrauchsnahe, also quar-tiersbezogene Energieversorgungsinfrastruktur nach demMotto „small is beautiful“ nach sich ziehen müssen. Sowird es unumgänglich sein, den ressortübergreifendenAnsatz des Programms „Soziale Stadt“ auch über die po-litischen Hierarchieebenen hinweg weiterzuentwickelnund dabei die Stärkung von Bildung und lokaler Ökono-mie konsequent zu verfolgen. Und so bedarf nicht zuletztdas innerstädtische Wohnen mit Blick auf generationen-gerechte Angebote in Verbindung mit sozial- und umwelt-verträglicher Mobilität des besonderen Augenmerks inden nächsten Jahren. Dem Umbau im Bestand kommt da-bei eine ganz besondere Bedeutung zu. Das dazugehö-rige KfW-Programm ist in diesem Zusammenhang einwichtiger Schritt und ein deutliches Signal. Und so wirdder enorme städtebauliche Investitions- und Förderbe-darf in den kommenden Jahren nicht außer Acht gelassenwerden dürfen.Der Stadtentwicklungsbericht zeigt aber vor allem ei-nes auf: Die anstehenden Probleme und die so überauskomplexen Herausforderungen in der Stadtentwicklungs-politik, die weit über das Territorium der Städte und dersie umgebenden Regionen hinausgehen, verlangen nichtsanderes als integrierte Konzepte und Strategien. Unsereintegrierte Stadtentwicklungspolitik erhebt daher zuRecht nicht nur den Anspruch – ich zitiere aus dem Stadt-entwicklungsbericht –, „die Koordinierung zentralerstädtischer Politikfelder in räumlicher, sachlicher undzeitlicher Hinsicht zu übernehmen und gleichzeitig denstadtregionalen Kontexten Rechnung zu tragen“, son-dern sie ist auch ein Vorbild für eine moderne und nach-haltige Gesellschaftspolitik. Zu einer solchen Politik gibtes keine ernstzunehmende Alternative, wenn man denAnforderungen der globalisierten Welt gerecht werdenund sich gleichzeitig in ihr behaupten will. Die Zukunfts-fähigkeit unserer Gesellschaft ist eng mit der Entwick-lung unserer Städte verbunden.Unsere Politik der integrierten und nachhaltigenStadtentwicklung steht für eine routinierte und funktions-fähige Politikverflechtung zwischen Bund, Ländern undGemeinden, die vor allem darauf beruht, dass die Ak-teure aller Ebenen sich zu einer Kooperations- und Kon-sensstrategie verpflichtet haben. Diese Kooperation istdurch den Start der Nationalen Stadtentwicklungspolitikweiter befördert worden. In Zeiten nachhaltig begrenzterfinanzieller Ressourcen ermutigt sie zu dringend notwen-digen Synergien und sie fördert die optimale Nutzung derunterschiedlichen Kompetenzen der unterschiedlichenEbenen. Wir wollen auch in Zukunft unsere Verantwor-tung für die Weiterentwicklung einer modernen, inte-grierten Programmentwicklung einerseits und für dieKoordinations- und Netzwerkfunktion des Bundes imRahmen einer professionellen Arbeitsteilung zwischenden staatlichen Ebenen übernehmen.Der Stadtentwicklungsbericht 2008 lässt keinen Zwei-fel daran, dass unsere Städte – allen Problemen zumTrotz – Zukunft haben. Ihre zukünftige Entwicklung wirdvor allem davon abhängen, ob es gelingt, die vielschich-tigen Veränderungen als Chancen zu begreifen und sich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25843
gegebene Reden
(C)
(D)
Petra Weisden Zukunftsaufgaben beherzt und aktiv zuzuwenden.Wir sollten immer im Blick haben, dass ziemlich viel aufdem Spiel steht, je nachdem, ob wir unsere Sache gutoder schlecht machen: ökonomische und ökologischeModernisierung, die den Menschen Mut und nicht Angstmacht, die Erweiterung der Lebenschancen und die Ver-besserung der Lebensqualität für alle Mitglieder derStadtgesellschaft und nicht zuletzt die Stärkung der de-mokratischen Kultur durch Partizipation vor Ort. Es gibtalso viel zu tun. Und es gibt bekanntlich nicht Gutes, au-ßer man tut es.
Die heutige Beratung über den Stadtentwicklungsbe-richt der Bundesregierung, kurz vor Ende der regulärenArbeit dieses 16. Deutschen Bundestages, gibt uns dieGelegenheit, noch ein letztes Mal auf die Arbeit dieserBundesregierung zurückzuschauen.Die umwälzenden Veränderungen unserer Gesell-schaft bestehen fort, das macht der vorliegende Berichtdeutlich. Daraus ist der Bundesregierung auch kein Vor-wurf zu machen. Die Gestaltung des demografischenWandels, die Integration von Zuwanderern aus dem In-und Ausland, die Versöhnung von Mobilität, Umwelt-und Klimaschutz – das alles sind Aufgaben, die uns auchin kommenden Legislaturperioden weiter beschäftigenwerden.Minister Tiefensee gebührt der Dank dafür, dass erdas Thema in seiner Vielfalt und Komplexität politischaufgegriffen und den Versuch unternommen hat, dieStadtentwicklung zu einem tatsächlichen Schwerpunktder Politik dieser Bundesregierung zu machen. Leidermuss ich allerdings auch sagen: Es ist bei einem Versuchgeblieben. Über die möglichen Ursachen dieses Schei-terns will ich mich nicht weiter verbreiten; darüber wer-den die Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionsich in unbeobachteten Momenten wahrscheinlich selbsthinreichend Gedanken gemacht haben.Tatsache ist jedoch leider, dass von einer integrierten,nationalen Stadtentwicklung in der Praxis dieser Bun-desregierung nur wenig zu erkennen war. Abgesehen vonder sehr begrüßenswerten Novellierung des Baugesetz-buches, die eine deutliche Erleichterung für das Planenund Bauen in Innenstädten gebracht hat, hat dieseKoalition leider wenig zuwege gebracht. Im Gegenteil,durch Maßnahmen wie die Einführung der Umweltzonenund die Schaffung der sogenannten Ladensteuer wurdenAttraktivität und Erreichbarkeit der Städte reduziert.Das kommunale Investitionsprogramm, das im Rah-men des Konjunkturpaketes II auf den Weg gebrachtwurde, ist zwar grundsätzlich begrüßenswert, aber seinekonjunkturelle Wirkung ist mehr als fraglich. Den Kom-munen wäre mit einer besseren kontinuierlichen Unter-stützung auch weitaus besser geholfen als mit einemeinmaligen Krisenfeuerwerk, das viele Städte und Ge-meinden überdies selbst vor große finanzielle Herausfor-derungen stellt.Die sogenannte Strategie für eine Nationale Stadtent-wicklungspolitik, die vom Bundesministerium mit großenZu ProtokollKonferenzen und klangvollen Reden propagiert wird, hatdabei nicht geholfen. Kein Wunder, denn was MinisterTiefensee da seinerzeit vorgelegt hat, ist alles, aber keineStrategie. Das gesamte Konzept ruht auf zwei Säulen: ei-ner Projektreihe „Für Stadt und Urbanität“ – wobei, dasnur am Rande, jeder, der den Ostersegen des Papsteskennt, weiß, dass eine Stadt notwendigerweise urban ist –und dem Strategieelement „Gute Praxis“. Die Projekt-reihe ist mit gerade einmal 1,5 Millionen Euro pro Jahrausgestattet. Bei dieser Summe erübrigt sich wohl, beiallem Respekt für die vor Ort erbrachten Leistungen, dieFrage nach der strategischen Wirkung. Und was die„Gute Praxis“ anbelangt, erlaube ich mir, einfach ausdem vorliegenden Bericht der Regierung zu zitieren:Das Strategieelement „Gute Praxis“ konzentriertsich auf die Fortschreibung der Instrumente undFörderprogramme, mit denen der Bund die Ent-wicklung der Städte bisher unterstützt.Mit anderen Worten: Sie haben alten Wein in einenneuen Schlauch gekippt. Von einem neuen Ansatz, ge-schweige denn einer tatsächlichen Strategie, einer inte-grierten Stadtentwicklung im eigentlichen Sinne desWortes, sind wir nach vier Jahren großer Koalition we-nigstens genauso weit entfernt wie zuvor.Dabei hat schon die Expertengruppe, die im Auftragdes Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtent-wicklung das Memorandum „Auf dem Weg zu einerNationalen Stadtentwicklungspolitik“ erarbeitet hat, sei-nerzeit festgestellt, dass die Förderprogramme des Bun-des in mehrfacher Hinsicht weiterentwickelt werdenmüssten. Es gehe unter anderem um eine Effektivierungvon Bundesfinanzhilfen, also um die Verbesserung derRessortkoordination, um Monitoring und Controlling derMittelverwendung, heißt es da. Und an anderer Stellewird gefordert, dass endlich ein stringenter Problembe-zug öffentlicher Investitionen hergestellt werden müsse.An dieser Stelle ist in den vergangenen Jahren nichts pas-siert – im Gegenteil: Die Programmstruktur zerfasert so-gar noch weiter, bei nahezu unveränderter Mittelausstat-tung. Neben den bereits bestehenden Programmen„Soziale Stadt“, „Stadtumbau Ost“, „Stadtumbau West“sowie „Städtebaulicher Denkmalschutz in den neuenLändern“ gibt es jetzt auch noch das Programm „AktiveStadt- und Ortsteilzentren“ mit einem Volumen von40 Millionen Euro, ein Programm zum StädtebaulichenDenkmalschutz West, und den sogenannten Investitions-pakt zur energetischen Sanierung kommunaler Liegen-schaften.In vielen Fällen überschneiden sich dabei auch nochdie Aufgabenbeschreibungen der Programme. Vor allemdas Programm „Soziale Stadt“ hat inzwischen seinenFokus vollkommen verloren. Neben Rückbaumaßnahmensollen mit den insgesamt gerade einmal 90 MillionenEuro auch Unternehmensgründungen, die Schaffung undSicherung der Beschäftigung auf lokaler Ebene, die Ver-besserung der sozialen Infrastruktur und der Aus- undFortbildungsmöglichkeiten, die Integration von Migran-tinnen und Migranten, die Entlastung der Umwelt, dieVerbesserung der Sicherheit, der ÖPNV, die Verbesse-
Metadaten/Kopzeile:
25844 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Patrick Döringrung des Wohnumfeldes und die Stadtteilkultur gefördertwerden.Dabei will ich keineswegs in Abrede stellen, dass dieStadtentwicklungsprogramme auch viel Gutes erreichthaben. Im Gegenteil, insbesondere das Programm zumstädtebaulichen Denkmalschutz und die Stadtumbaupro-gramme haben einen wertvollen Beitrag geleistet, umhistorische Bausubstanz in ostdeutschen Innenstädten zuerhalten, den Wohnungsmarkt zu stabilisieren und dieAttraktivität der Städte insgesamt wieder zu erhöhen.Aber die Zeit hat diese Programme inzwischen eingeholt.Wir müssen hier dringend andere Akzente setzen undauch strukturelle Fehler korrigieren. Das wird die Auf-gabe der kommenden Legislaturperiode sein.Meine Fraktion hat ihre Vorstellungen hierzu bereitsvor einiger Zeit in einem Antrag skizziert. Ich will es Ih-nen gerne ersparen, an dieser Stelle noch einmal auf alleForderungen im Einzelnen einzugehen. Aber ich willschon in aller Eindeutigkeit sagen, dass es mit uns keineinfaches „Weiter so!“ geben wird. Wir wollen die Pro-grammlandschaft restrukturieren, die Mittelverwendungbesser kontrollieren und politische Maßnahmen besserkoordinieren, wenn sie Bedeutung für die Entwicklungunserer Städte haben. Das alles hat in den vergangenenvier Jahren leider gefehlt.
Der hier zur Debatte stehende Stadtentwicklungsbe-richt 2008 ist ein umfangreiches Dokument mit knapp100 Seiten. In der mir zur Verfügung stehenden Zeitmöchte ich mich auf einen besonders wichtigen Aspektdieses Berichtes konzentrieren, der in die Zukunft weisensoll. Ich konzentriere mich auf den Abschnitt 5 „KünftigeHerausforderungen und Aufgaben der Stadtentwick-lungspolitik“ und dort besonders auf das Themenfeld„Soziale Stadt“ – Aktivitäten gegen soziale Ungleichheitin den Städten.Nach Darstellung des Berichts werde das Programm„Soziale Stadt“ aufgrund sozialer und sozialräumlicherPolarisierung auch mittel- bis langfristig unverzichtbarsein. Auch eine repräsentative Umfrage bei Städten undGemeinden aller Größenklassen zum städtebaulichenFörderbedarf bis 2013 habe die große Bedeutung diesesProgramms belegt, heißt es weiter im Stadtentwicklungs-bericht 2008. Die Erhebung zeige, dass soziale Gerech-tigkeit für die Stadtentwicklung ein vorrangiges Themaist. Diese Darstellung erweckt den Eindruck, als würdedas Programm „Soziale Stadt“ gewissermaßen Ewig-keitswert haben und nie zu einem Ende kommen. Natür-lich wird das Thema soziale Gerechtigkeit immer einwichtiges Thema in der Stadtentwicklung sein. Das siehtauch die Linke so.Dazu sind aber mindestens zwei Fragen zu stellen:Zum einen ist zu fragen, wie soziale Gerechtigkeit zu de-finieren ist und wie sie konkret in den Städten aussieht.Also, wie sieht eine Stadt aus, in der soziale Gerechtig-keit herrscht? Woran lässt sich das erkennen und mes-sen? Und zum anderen ist die Frage zu stellen, warumdie soziale Stadt immer erst danach – gewissermaßen alsReparatur von Defiziten – verstanden wird und nicht alsZu Protokollgleichsam natürliche Eigenschaft von Städten. Im Fol-genden möchte ich ein paar wenige Antworten auf dieeingangs gestellten Fragen geben, Anregungen zum Wei-terdenken im Sinne der Entwicklung – der Entwicklungvon Gedanken und der Entwicklung unserer Städte.Für die Linke bedeutet soziale Gerechtigkeit vor allemChancengleichheit, das Recht auf ein lebenswertes Le-ben für alle Menschen, auf individuelle Entwicklung ineiner sich entwickelnden Gesellschaft oder, wie es schonbei Marx und Engels heißt, dass „die freie Entwicklungeines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung allerist“. In die Stadtentwicklung übersetzt bedeutet das vorallem, dass die Lebenschancen nicht vom Wohnort ab-hängig sein dürfen.Das ist die Zielvorstellung. Aber wie sieht die derzei-tige Wirklichkeit aus? Zu ersehen ist das ziemlich genauan der Beschreibung der aktuellen Defizite, die das Pro-gramm „Soziale Stadt“ bekämpfen will. Wie im „Pro-grammhintergrund“ beschrieben, lassen sich seit den1990er-Jahren Tendenzen zunehmender Segregation mitder Folge einer fortschreitenden sozialen und stadträum-lichen Fragmentierung beobachten. Auslöser waren undsind wirtschaftliche und politische Restrukturierungs-prozesse, die – stark verkürzt – mit den Stichworten Glo-balisierung, Deindustrialisierung, Bedeutungszunahmevon Informationstechnik und wissensbasierten Dienst-leistungsbranchen sowie Deregulierung umrissen wer-den können. Zu den Folgen dieses Strukturwandels gehö-ren verstärkte Spaltungstendenzen der Gesellschaft inBezug auf den Zugang zum Arbeitsmarkt, auf Beschäfti-gung und Einkommen.Diese Entwicklungen führten unter anderem zu selek-tiven Auf- und Abwertungen von Wohngebieten. Die aufdiese Weise entstehenden „Verlierer“-Räume des Struk-turwandels können sich somit zu Orten sozialer Ausgren-zung entwickeln, die von gesamtgesellschaftlichen undgesamtstädtischen Prozessen abgekoppelt sind. Ausgren-zung entsteht nicht zuletzt durch die unzureichende Inte-gration von Menschen mit Migrationshintergrund. Ge-rade ihnen wird oft der gleichberechtigte Zugang zurBildung und Ausbildung verwehrt. Und das geschieht,obwohl wir wissen, dass Integration vor allem durch Bil-dung erfolgt. Erst wenn sich die schulischen Leistungenund Abschlüsse statistisch nicht mehr von denen ihrer„deutschen“ Mitschülerinnen und Mitschüler unter-scheiden, dürfen Migrationskinder und -jugendliche alsschulisch integriert gelten. Laut offiziellen Unterlagenleben in Deutschland insgesamt 15 Millionen Menschenmit einem solchen Migrationshintergrund, in Ballungs-räumen erreicht ihr Anteil bis zu 40 Prozent der Bevölke-rung. Diese Gebiete seien vielfach durch eine Mischungkomplexer, miteinander zusammenhängender Problemecharakterisiert – gleichsam ein ganzes Bündel von Pro-blemen, wovon jedes einzelne schon ein Hindernis für dieindividuelle Entwicklung darstellt.Zu solchen für die davon betroffenen Menschen miterheblichen Auswirkungen auf ihre Lebensqualität ver-bundenen Problemen gehören zum Beispiel städtebauli-che und Umweltprobleme wie eine hohe Bebauungs-dichte sowie Mängel im Wohnumfeld und zu wenige
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25845
gegebene Reden
(C)
(D)
Heidrun BluhmGrün- und Freiflächen; Probleme im Bereich der infra-strukturellen Ausstattung in sozialer und technischerHinsicht sowie ungenügende Freizeitmöglichkeiten be-sonders für Kinder und Jugendliche, Probleme im Be-reich der „lokalen Ökonomie“ wie die quantitative undqualitative Verschlechterung im Gewerbebereich, darun-ter Einzelhandel und Dienstleistungen sowie unzurei-chende Ausbildungs- und Arbeitsplätze vor Ort, sozio-ökonomische Probleme wie Arbeitslosigkeit und Lang-zeitarbeitslosigkeit, Abhängigkeit von staatlichen Trans-ferleistungen, Armut in Verbindung mit niedrigem Bil-dungsstatus und gesundheitlichen Beeinträchtigungen,nachbarschaftliche Probleme wie eine Konzentration be-nachteiligter Haushalte, Fortzug einkommensstärkererHaushalte, Fehlen von Zusammengehörigkeitsgefühl,Spannungen im Zusammenleben verschiedener Bevölke-rungsgruppen, soziale Konflikte, geringe Einwohner-initiative, Perspektivlosigkeit, Drogen- und Alkoholmiss-brauch sowie Vandalismus und Kriminalität. Das alleszusammen ergibt eine gefährliche Mischung, die durch-aus wie in Frankreich und Großbritannien geschehenexplodieren und zu sozialen Unruhen führen kann – auchin Deutschland.Alles in allem haben die davon betroffenen Städte undStadtteile mit einem Negativimage zu kämpfen, das in derpraktischen Konsequenz dazu führen kann, dass sichTaxifahrer weigern, einen Fahrgast aus einem solchen„Verliererviertel“ abzuholen oder dorthin zu bringen.Und diese Bemerkung ist keine böswillige Erfindung,sondern eine persönliche Erfahrung aus mehreren Kon-ferenzen zum Thema Stadtumbau in den neuen und denalten Bundesländern. Aber wo der Taxifahrer nicht mehrhinfahren möchte, da wurde im übertragenen Sinne eineArt Mauer errichtet – eine Mauer, die die besseren Berei-che der Stadt von den schlechteren trennt, die reicherenvon den ärmeren, die, wo es sich gut wohnt und wo manleben möchte, von denen, wo man zu wohnen gezwungenist – die Adresse als soziales Unterscheidungsmerkmal.Insofern muss man der bisherigen Stadtentwicklungs-politik durchaus den Vorwurf machen, dass sie sich ge-zwungen sieht, unerwünschte Entwicklungen zu korrigie-ren, die sie selbst erst geschaffen oder zumindestzugelassen hat. Insofern muss man von einer verfehltenStadtentwicklungspolitik sprechen, zumal selbst im aktu-ellen Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen aufAusschussdrucksache 16(15)1458 vom 1. Juli 2009 zumThemenfeld „Sozialer Zusammenhalt und Globalisie-rung“ festgestellt werden muss, dass sich in den Städtendie Schere zwischen Arm und Reich immer weiter öffne.„Diese Tendenz zur räumlichen, ethnischen und sozialenSegregation wird sich durch die gegenwärtige Finanz-und Wirtschaftskrise vermutlich noch verstärken.“ DieRezepte dagegen wirken allerdings etwas hilflos, wenn esin dem bereits erwähnten Entschließungsantrag weiterheißt: „Diesen Prozessen muss aktiv entgegengewirktwerden, denn Teilhabe, Integration und sozialer Zusam-menhalt sind für unsere Gesellschaft unverzichtbar.“Eine wirklich kluge und vorausschauende Stadtent-wicklungspolitik dagegen würde ein solches Reparatur-Programm wie das Programm „Soziale Stadt“ überflüs-sig machen. Das ist der eigentliche Anspruch künftigerZu ProtokollStadtentwicklung und vorbeugender Ansätze für Städteder Zukunft, die schon in ihrer Konstruktion bunt undvielfältig, sozial und lebenswert sind. Denn in unseremKulturkreis werden das gute Wohnen und das Leben infunktionierenden Städten als ein wesentliches Elementsozialer Gerechtigkeit und als wichtiges Element sozialerSicherheit angesehen. Aus Sicht der Linken ist die Stadtder Zukunft nur als solidarisches Gemeinwesen mit Ent-wicklungschancen für alle ihre Bewohnerinnen undBewohner denkbar. Der Bundesregierung sollte mehreinfallen, als immer neue Fördermittelprogramme zu er-finden. Denn auch in diesem Falle gilt: Vorbeugen istbesser als Heilen.
Ich bedauere es außerordentlich, dass der Stadtent-wicklungsbericht 2008, wie so viele andere wichtige The-men aus dem Bau- und Stadtentwicklungsbereich, nichtmehr im Plenum diskutiert wird, sondern die Reden nurnoch zu Protokoll gegeben werden können. Es ist in die-sem Zusammenhang besonders misslich, dass der Be-richt zu so einem späten Zeitpunkt in der Legislatur-periode fertiggestellt wurde, denn somit wird er wohlkeine Wirkung mehr entfalten können.Der Stadtentwicklungsbericht ist von einiger Brisanz.Er weist darauf hin, dass der demografische Wandel sichweiter verstärken wird. Die Bevölkerung wird nicht nurälter – und weniger –, besonders der Prozess derSchrumpfung schreitet weiter voran. Hier muss die Poli-tik Lösungen entwickeln – und dies nicht nur für den Os-ten des Landes, denn auch die peripheren Regionen inden alten Bundesländern werden zunehmend von diesemProzess erfasst.Zwar wurden mit den Programmen „Stadtumbau Ost“und „Stadtumbau West“ Instrumente geschaffen, die be-stimmte Schrumpfungsprobleme, zum Beispiel Leerstanddurch den Abriss von überschüssigen Wohnungen, auf-fangen sollten. Aber dies wird zukünftig nicht mehr aus-reichen. Vielmehr benötigen wir Lösungen, die mehrerePolitikfelder miteinander verbinden. In Anhörungen undZwischenberichten zum Programm „Stadtumbau Ost“wurde dies immer wieder angesprochen. Insbesondereder Aufwertung von Stadtquartieren und der Weiterent-wicklung von Stadtentwicklungsplänen muss mehr Ge-wicht verschaffen werden. Der demografische Wandelhat schließlich erst begonnen. Nun gilt es, kreative Ideenund Lösungen zu finden und diese auch in die Tat umzu-setzen. Wir haben daher einer Verlängerung des erfolg-reichen, weil auch lernenden Programms „StadtumbauOst“ bis 2016 ausdrücklich zugestimmt.Ein großer Erfolg nach zehn Jahren Programmlauf-zeit ist das Programm „Soziale Stadt“. Hier ist die res-sortübergreifende Zusammenarbeit in weiten Teilen ge-lungen. Das mussten auch CDU/CSU und FDPeingestehen, obwohl sie in der letzten Legislaturperiodekein gutes Haar an dem Programm gelassen hatten. Aberdie Probleme werden sich auch zukünftig nicht von selbsterledigen, vielmehr werden sich vermehrt sozial benach-teiligte Quartiere entwickeln. Deshalb ist das Fortbeste-
Metadaten/Kopzeile:
25846 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Peter Hettlichhen und Weiterentwickeln des Programms „SozialeStadt“ außerordentlich wichtig.Die Themen „Klimaschutz“ und „Energieeffizienz“werden im Stadtentwicklungsbericht ebenfalls aufgegrif-fen und die bisherigen Energie- und CO2-Einsparungenlobend hervorgehoben. Die Steigerung der Sanierungs-quote von 1,6 auf 2,2 Prozent erscheint zwar hoch, abersie reicht bei weitem nicht aus, um die von der Bundes-regierung gesteckten Reduktionsziele bis 2020 zu errei-chen, zumal daran der Anteil der energetischen Gebäu-desanierung mit circa 50 Prozent viel zu gering ist. Reinrechnerisch müsste aber die Quote auf mindestens 3 Pro-zent pro Jahr gesteigert werden, das heißt, wir müssendie Anstrengungen verdreifachen.Hier fehlen weitergehende Vorschläge der Bundes-regierung. Mit den bestehenden Programmen ist zwar ei-niges erreicht worden, aber die Bemühungen reichen zurSteigerung der Energieeffizienz und Reduktion der CO2-Emissionen nicht aus. Anreize sind das eine, aber eskommt auch auf die ordnungsgemäße Umsetzung und de-ren Überprüfung an. Zudem hilft eine Änderung derEnEV quasi im Jahrestakt wenig, da dadurch Hausbesit-zer und Häuslebauer eher verwirrt werden. Wir sehen ei-nen Primärenergieverbrauch von 60 Kilowattstundenpro Quadratmeter und Jahr als ein realistisches Ziel an,das in großer Breite erst einmal umgesetzt werden sollte,bevor man die Akteure mit immer neuen Anforderungenverunsichert. Darauf sollte man die Anstrengungen dernächsten Jahre konzentrieren.Mit der Kompromisslösung 2006 bei der Einführungdes Verbrauchs- und Bedarfsausweises entstand für dieVerbraucher ebenfalls nur Verwirrung. Der Energieaus-weis hätte ein Instrument werden können, um die Haus-besitzer oder Mieter transparent und nachvollziehbarüber den Energieverbrauch zu informieren. Zwischenzwei unterschiedlichen Ausweisen kann es aber keinenVergleich geben, die Informationen sind dann relativnutzlos. Deshalb setzen wir uns auch weiterhin für denBedarfsausweis als alleinigem Standard ein.Wenn es die Städte schaffen, das städtische Klimadurch Klimaschutzmaßnahmen zu verbessern, dann kön-nen sie auch in Zukunft noch beliebte Wohnorte sein.Bund, Länder, Kommunen, Eigentümer und Mieter sindaufgefordert, ihre Kräfte zu sammeln, um den Energie-verbrauch zu drosseln und den CO2-Ausstoss zu reduzie-ren. Die Energieversorgung wird über kurz oder lang –trotz aller Widerstände – auf erneuerbare Energien um-gestellt werden. Hier sind zum Beispiel auch die Städtegefordert, den Einsatz von Solaranlagen mit dem Hin-weis auf Gestaltungssatzungen nicht zu verbieten. Das istleider oftmals traurige Realität.Die Reduzierung des Flächenverbrauchs ist ebenfallsein Thema, welches zwar gerne angesprochen wird, ohnekonkrete Maßnahmen aber nie in die Tat umgesetzt wer-den kann. Die tägliche Flächeninanspruchnahme ist mitrund 120 Hektar pro Tag genauso hoch wie noch vorzehn Jahren. Obwohl an dem Nachhaltigkeitsziel von30 Hektar pro Tag unverändert festgehalten wird, blei-ben die Zuständigkeiten bei den Ländern und Kommunenunverändert. Strategien zur Reduzierung seitens derZu ProtokollBundesregierung: Fehlanzeige! Schade, denn die negati-ven Auswirkungen der Landschaftszersiedelungen sindallen bekannt. Die Länder und Kommunen haben hierviel zu wenig gemacht; gerade den Kommunen sei derenzum Teil mangelhafte Kooperationsbereitschaft und dieNotwendigkeit zum interkommunalen Dialog ins Stamm-buch geschrieben.Zu guter Letzt kommt mein Lieblingsthema dran: Stadtund Verkehr. Das Thema wird zwar kurz erwähnt, aberErgebnisse oder Lösungsansätze gibt es auch hier nichtzu verzeichnen. Es ist wirklich ein Armutszeugnis des Mi-nisteriums, dass es seit der Zusammenlegung der beidenMinisterien für Raumordnung, Bauwesen und Städtebausowie des Verkehrsministeriums im Jahr 1998 keine the-menübergreifenden Projekte oder Problemlösungen er-arbeitet hat.Dabei ist eines der Hauptprobleme unserer Städte derweiterhin zunehmende Verkehr und die daraus entstehen-den Belastungen. Hier müssen endlich Modellprojektedurchgeführt und dann auch in die Tat umgesetzt werden.Dieses Thema gehört jedenfalls ganz oben auf die Priori-tätenliste der 17. Legislaturperiode.Abschließend ist festzuhalten, dass der Stadtentwick-lungsbericht durchaus eine gute Übersicht über die ak-tuellen Entwicklungen in der Stadtentwicklung aufzeigt;da ist er eine richtige Fleißarbeit. Leider sind dafür dieProgramme und geplanten Maßnahmen der Bundes-regierung unzureichend. Auch sollte der Bericht künftigzu einem früheren Zeitpunkt innerhalb einer Legislatur-periode vorgelegt werden, damit es möglich wird, nochwährend einer Legislaturperiode bestehende Programmezu ändern oder anzupassen.A
Der Deutsche Bundestag hat die Bundesregierungaufgefordert, ihm alle vier Jahre einen Bericht zur Ent-wicklung unserer Städte vorzulegen. Diesem Auftrag sindwir nachgekommen und haben nun erstmals mit demStadtentwicklungsbericht 2008 einen ganz aktuellen Sach-stand zur Lage unserer Städte und Gemeinden vorliegen.Unter dem Titel „Neue urbane Lebens- und Handlungs-räume“ haben wir im Stadtentwicklungsbericht 2008festgestellt, dass deutsche Städte eine gute Ausgangs-situation haben, aber auch vor neuen, ganz unterschied-lichen Herausforderungen stehen. Deutsche Städte sindinternational vorne. Der Bericht kommt zu der Aussage,dass die große Zahl der Städte und deren Vielfalt einStandortvorteil im internationalen Wettbewerb sind. DieVernetzung von Stadt und Land erweist sich als Vorteil,sowohl hinsichtlich des sozialen Gleichgewichtes als auchhinsichtlich der Wirtschaftskraft der Städte und Regionen.Die ganze Stadtregion wird genutzt. Die Menschenziehen in ihrem Alltag weite Kreise. Es werden nicht nurdie Angebote der Stadt genutzt, sondern auch im Umland.Ob zur Arbeit, zum Wohnen, zum Einkaufen oder in derFreizeit, wir werden immer mobiler.Der Verbrauch von Flächen für Siedlung und Verkehrsinkt. Aber natürlich müssen wir auf diesem Weg noch
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25847
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
25848 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
viel tun, um die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Vorrang
muss ganz klar die Innenentwicklung haben, die Wieder-
nutzung von Brachflächen.
Immer mehr Städte schrumpfen. Rund 35 Prozent der
Stadtbewohner, also 21 Millionen Menschen, leben heute
in Städten, die mit Schrumpfungsprozessen konfrontiert
sind. Schrumpfende Städte sind nicht mehr nur in den
neuen Ländern zu finden, auch in den alten Ländern
nimmt die Zahl der Städte, die immer weniger Einwohner
verzeichnen, zu. Diese Entwicklung bedeutet auch, dass
zunehmend Flächen innerhalb der Städte brachfallen.
Rund 1,4 Prozent der Siedlungs- und Verkehrsflächen
sind ungenutzt. Das ist natürlich gleichzeitig eine
Chance, die wir nutzen müssen.
Stärkung der Innenstädte: Zu beobachten ist ein Trend
zurück in die Stadt. Zunehmend siedeln sich große Ein-
kaufszentren in der Stadt an und nicht mehr nur auf der
„grünen Wiese“. Die Menschen schätzen die Kernstadt
aufgrund der guten Versorgung ohne lange Wege, auf-
grund der Dichte von kulturellen, wirtschaftlichen und
sozialen Angeboten. Das ist die Idee, die wir von der euro-
päischen Stadt haben. Darum geht es uns auch, wenn wir
ganz aktuell in dieser schwierigen konjunkturellen Lage
um die Kaufhäuser in den Innenstädten bangen müssen.
Kaufhäuser machen unsere Innenstädte attraktiv. Brechen
sie weg, ohne dass neue Nutzungen an ihre Stelle treten,
verlieren auch die Stadtzentren an Anziehungskraft. Wir
dürfen nicht zulassen, dass unsere Innenstädte verküm-
mern, dass aus lebendigen Plätzen öde Leerflächen wer-
den. Dem werden wir, gegebenenfalls mit neuen Konzepten
und Initiativen, entgegentreten.
Schließlich werden die Innenstädte auch zum Wohnen
immer attraktiver; auch ein Trend, den wir verstärken
wollen.
Der Stadtentwicklungsbericht legt gleichzeitig
Zukunftsoptionen dar, die den Weg von einer Städtebau-
politik zu einer umfassenden, integrierten Stadtentwick-
lungspolitik beschreiben. Dieser integrierte Ansatz, der
im Stadtentwicklungsbericht als wichtige Strategie
benannt wird und den wir mit der Nationalen Stadtent-
wicklungspolitik umsetzen, lässt sich auch sehr schön auf
Bundesebene verdeutlichen. Auch hier haben schon
immer verschiedene Handlungsfelder der Bundespolitik
die Entwicklung unserer Städte und Gemeinden, also die
Situation „vor Ort“ in Ihren Wahlkreisen, beeinflusst:
die Finanz-, die Wirtschafts-, die Umwelt-, die Sozial-
und die Steuerpolitik ebenso wie das Bau- und das
Planungsrecht oder die Städtebauförderung. Um diese
einzelnen Aktivitäten aufeinander abzustimmen, bedarf
es einer politischen Bündelung der diversen Politiken
und Ressourcen, einer Reflexion ihrer Wirkungen und po-
litischer Festlegungen, wie sich Städte und Stadtregionen
in Deutschland entwickeln sollen.
Wir veranstalten dazu im Rahmen der Nationalen
Stadtentwicklungspolitik nicht nur Ressortrunden, an
denen die Mitarbeiter unserer verschiedenen Häuser
eine integrierte Politik für unsere Städte und Gemeinden
sinnvoll voranbringen, sondern wir sprechen mit unseren
jährlichen Bundeskongressen zur Nationalen Stadtent-
wicklungspolitik auch „öffentliche“ und „private“ Stadt-
interessierte aus ganz unterschiedlichen Bereichen an.
Gerade vor einer Woche sind über 1 200 Teilnehmer unse-
rer Einladung gefolgt und haben mit uns gemeinsam auf
der Zeche Zollverein in Essen über städtische Themen dis-
kutiert.
Dass die integrierte Stadtentwicklungsstrategie richtig
ist, wurde auch im Rahmen der aktuellen Wirtschafts-
und Finanzkrise deutlich. Diese Krise trifft die Städte
und Gemeinden in besonderem Maße. Deshalb war und
ist – auch im Interesse des ganzen Landes – schnelles
Handeln notwendig. Das ist uns gelungen, weil wir die
gute Kooperation in den vielen Gremien der Nationalen
Stadtentwicklungspolitik hatten, weil wir mit voraus-
schauenden Konzepten wie dem Investitionspakt die
„Blaupause“ etwa für dieses große Programm vorliegen
hatten. Nur so konnten wir überhaupt so schnell aktiv
werden. Entstanden sind dann die beiden Konjunkturpro-
gramme.
Deutlich wird damit nicht nur vor dem Hintergrund
der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise: Stadtent-
wicklung muss auch künftig eine Aufgabe sein, der sich
die Kommunen, die Länder und der Bund gemeinsam
stellen und die partnerschaftlich im Rahmen der Natio-
nalen Stadtentwicklungspolitik aktiv vorangebracht
wird. Die Entwicklung der Städte ist nicht nur für die
betroffenen Städte, Regionen und Bundesländer von Be-
deutung, sondern hat bundesweite Ausstrahlung. Denn
unsere Städte sind nicht nur die Motoren für die wirt-
schaftliche Entwicklung. Hier entstehen auch neue Ideen
und Innovationen, die die Entwicklung unserer Gesell-
schaft positiv voranbringen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13665, in
Kenntnis des Stadtentwicklungsberichts der Bundesre-
gierung auf Drucksache 16/13130 eine Entschließung
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mehrheitlich angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a und 31 b auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Jürgen Trittin, Volker Beck , Marieluise
Beck , weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zur Indien-Politik der Bundesregierung
– Drucksachen 16/11485, 16/13312 –
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Marieluise Beck , Volker Beck
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Reformprozesse in Indien unterstützen
– Drucksache 16/13610 –
(C)
(D)
Vor wenigen Wochen, am 28. Mai 2009, wurden die
letzten der insgesamt 78 Regierungsmitglieder der neuen
indischen Regierung vereidigt. Nach dem unerwartet kla-
ren Sieg der indischen Kongresspartei steht die neue
Regierung unter der Führung von Premierminister
Manmohan Singh damit für politische Kontinuität sowie
für wirtschaftliche und politische Stabilität.
Das Ergebnis der indischen Parlamentswahlen vom
16. April bis 13. Mai 2009 in der größten Demokratie der
Welt ist damit eine hervorragende Voraussetzung dafür,
die enge und intensive Zusammenarbeit zwischen
Deutschland und Indien auch in Zukunft fortzusetzen. Ich
möchte an dieser Stelle betonen, dass die zwischenstaat-
lichen Beziehungen zwischen Deutschland und Indien
ausgezeichnet sind und nun auch weiter ausgebaut wer-
den können. Indien ist eine stabile Demokratie. Es beste-
hen die besten Voraussetzungen, auf allen Politikfeldern
weiterhin erfolgreich zusammenarbeiten.
Es lohnt sich an dieser Stelle, einen kurzen Blick auf
die Gründe für das klare politische Mandat der Kon-
gresspartei zu werfen; denn es ist Premierminister Singh
als erstem Regierungschef nach Nehru gelungen, nach
Ablauf einer vollen Legislaturperiode im Amt bestätigt zu
werden.
Indien gilt zu Recht als ein Land, das neben China und
Brasilien zu den aufstrebenden Wirtschaftsnationen zählt
und das bis zur aktuellen Finanzkrise starke Wachstums-
raten aufgewiesen hat. Auch 2009 wird Indien trotz des
international schwierigen Umfeldes noch ein Wachstum
zwischen fünf bis sechs Prozent erreichen. Dieser finan-
zielle Spielraum, der sich mit dem Wirtschaftswachstum
ergibt, wurde seit 2004 für umfangreiche Sozialpro-
gramme im ländlichen Raum oder für die Stärkung der
Mittelschicht genutzt. Das hat das Vertrauen in die regie-
renden Parteien gestärkt. Deshalb wurde Premierminis-
ter Singh von den Wählern in seinem Amt bestätigt.
Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die
Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die
vielfältigen und intensiven Gebiete der Indien-Politik
Deutschlands ausführlich aufgezeigt. Indien ist neben
China und Japan einer von drei strategischen Partnern
Deutschlands in Asien. Indien ist zugleich ein wichtiger
Stabilitätsanker in Südostasien. Denn in dem von den
Krisen in Pakistan, Sri Lanka und Nepal geprägten Um-
feld kommt Indien als wirtschaftlicher und militärischer
Macht in diesem Raum eine zentrale Rolle zu.
Man darf vor diesem Hintergrund nie vergessen, dass
in dieser Region, die von Terrorismus, offenen Grenzfra-
gen und instabilen Staaten geprägt ist, sich zusammen
mit China und Pakistan drei Länder befinden, die im Be-
sitz von Nuklearwaffen sind. Von Pakistan aus operie-
rende Terrororganisationen versuchen Indien zu destabi-
lisieren und tragen zu einer Verschärfung der politischen
Spannungen beider Nuklearstaaten bei. Die Terror-
anschläge vom November 2008 in Mumbai haben die
Sicherheitslage in Indien und die Spannungen zwischen
Pakistan und Indien allgemein verschärft.
Meine Fraktion hat trotz dieser aktuellen Probleme
die Gewissheit, dass Indien auch in Zukunft weiter an
Zu Protokoll
Bedeutung gewinnen und eine wichtige Rolle bei der Mit-
gestaltung einer multipolaren Weltordnung im 21. Jahr-
hundert spielen wird. Das Fundament für eine noch
intensivere Zusammenarbeit wurde dabei in der Gemein-
samen deutsch-indischen Erklärung vom 23. April 2006
gelegt. Diese Erklärung nimmt eine herausragende Be-
deutung bei der Fortentwicklung der deutsch-indischen
Beziehungen ein. Neben einer engen politischen Abstim-
mung in den Bereichen Terrorismusbekämpfung, Klima-
schutz, Reform der Vereinten Nationen, Afghanistan und
Iran ist in dieser Erklärung zugleich der deutliche Aus-
bau der Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft,
Energie, Wissenschaft und Verteidigung vereinbart. Diese
strategische Partnerschaft hat unsere Bundeskanzlerin
Dr. Angela Merkel während ihres Indien-Besuches im
Oktober 2007 bekräftigt.
Wie gut sich die Beziehungen in den letzten Jahren
entwickelt haben, beweist beispielhaft die Ausweitung
des Handelsvolumens zwischen Deutschland und Indien.
So verdreifachte sich der Warenaustausch zwischen 2000
und 2008 auf knapp 14 Milliarden Euro. Die deutschen
Investitionen sind auf mehr als 3 Milliarden Euro gestie-
gen.
Trotz dieser Erfolge gibt es jedoch noch sehr viele He-
rausforderungen, die Deutschland und Indien gemein-
sam angehen wollen. Dazu gehört an erster Stelle die
Verstärkung der Zusammenarbeit im Energiebereich. Es
ist schon heute offensichtlich, dass das ungebremste Be-
völkerungswachstum und der wirtschaftliche Fortschritt
einen großen Druck auf die natürlichen Ressourcen
Indiens ausüben. Die Wachstumsraten Indiens, die in den
kommenden Jahren zu erwarten sind, machen eine si-
chere, ressourcenschonende und bezahlbare Energiever-
sorgung zwingend notwendig.
Denn gerade die schrittweise Anhebung des Lebens-
standards von heute schon über 1 Milliarde Einwohnern
Indiens bedeutet zwangsläufig eine signifikante Steige-
rung des Energiebedarfs. Die Europäische Union hat
deshalb in einem bilateralen Arbeitsprogramm zu Ener-
gie, umweltverträglicher Entwicklung und Klimawandel
unter anderem die Zusammenarbeit in den Bereichen
sauberer Kohletechnologien, Fusionstechnologie, Emis-
sionsvermeidung und erneuerbare Energien vereinbart.
Diese Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Energiege-
winnung gehört nach meiner Auffassung zu den zentralen
Aufgaben, die Indiens Weg von einem Schwellenstaat zu
einer Industrienation überhaupt erst möglich machen.
Wir haben als Bundesrepublik Deutschland eine lang-
jährige, gewachsene und tiefe Freundschaft mit Indien.
Deshalb müssen wir die Chance nutzen, in den nächsten
fünf Jahren die neue indische Regierung bei der Lösung
der sozialen, ökonomischen und sicherheitspolitischen
Herausforderungen zu begleiten. Indien hat nämlich ein
enormes Potenzial. Wir wollen dazu beitragen, dass die-
ses Potenzial auch in Zukunft besteht.
Die Beziehungen zu Indien sind für die Bundesregie-rung von großer Bedeutung. Indien ist einer der dreistrategischen Partner Deutschlands in Asien. In den ver-gangenen Jahren wurde daher die Zusammenarbeit in al-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25849
gegebene Reden
(C)
(D)
Johannes Pfluglen Bereichen intensiviert. Zusätzlich verstärkt wurde dieKooperation durch den Ausbruch der Wirtschafts- undFinanzkrise, eine erhöhte Bedrohung durch den interna-tionalen Terrorismus und die stetig steigenden Belastun-gen der Umwelt.Bei den gemeinsamen Bemühungen geht es weder, wiees in der Großen Anfrage der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen zu lesen war, um Besuchsdiplomatie noch umeinen einseitigen Fokus auf wirtschaftliche Zusammen-arbeit. In den Beziehungen zwischen Indien und Deutsch-land stehen die strategische Ausrichtung und eine Part-nerschaft in allen Bereichen im Vordergrund. Diesestrategische Dimension wurde in der „Agenda für diedeutsch-indische Partnerschaft im 21. Jahrhundert“ imJahr 2000 festgehalten.Die Bemühungen vonseiten der Bundesregierung undauch der indischen Regierung um einen kontinuierlichenAusbau der Beziehungen und der Zusammenarbeit sindvielfältig. Bestehende Kooperationsabkommen wurdenunter anderem in den Bereichen Umwelt-, Verteidigungs-,Energie-, Wissens- und Sozial- sowie Wirtschaftspolitikerweitert. Ich möchte hier gerne noch einmal einige derneuesten Entwicklungen erwähnen: 2006 wurde eindeutsch-indisches Energieforum ins Leben gerufen. Imgleichen Jahr wurde eine Vereinbarung über bilateraleZusammenarbeit im Verteidigungsbereich beschlossen.Im Jahr 2007 wurde ein Wissenschafts- und Technologie-zentrum errichtet, und aktuell hat die Bundesregierungeinen Gesetzentwurf zur Vermeidung von Doppelbelas-tungen in der Sozialversicherung eingereicht.In jedem der genannten Bereiche werden die Pro-bleme des Landes von der Bundesregierung berücksich-tigt. Ich bin mir bewusst, dass auf dem Weg Indiens ineine stabile und sozial gerechte Demokratie noch vieleHürden überwunden werden müssen. In Bezug auf dieSicherheit des Landes verschärften die Anschläge inMumbai im November 2008 die religiösen Spannungenmit dem Nachbarland Pakistan. Um Frieden und Stabili-tät zu bewahren, ist es wichtig, dass Indien und Pakistankooperieren.Indien kämpft seit jeher mit schwerwiegenden Folgender Armut. Es leben derzeit über 400 Millionen absolutarme Menschen in einem Land, in dem das Arbeitslebendurch Informalität gekennzeichnet ist. Dies bedeutet kei-nerlei soziale Sicherung, weder Schutz vor Arbeitslosig-keit noch eine ausreichende Versorgung im Alter. DasBildungssystem ist vor allem in der Grundbildung auf ei-nem niedrigen Stand, ungefähr ein Viertel aller Männerund Frauen sind immer noch Analphabeten. Auch dasweiter existierende Kastensystem benachteiligt be-stimmte Gruppierungen im Land und schließt diese vonder Teilhabe am wirtschaftlichen Aufschwung des Lan-des aus.Indien wird in seinen Problemen durch die Auswei-tung der Aktivitäten Deutschlands in der bilateralen Ent-wicklungszusammenarbeit bereits unterstützt. Wie derständig benutzte Komparativ im Antrag unterstreicht,fordern Bündnis 90/Die Grünen Maßnahmen, die längststattfinden. Die Betonung von Menschenrechtsfragen istzwar richtig, wird aber der Rolle Indiens in Südasien undZu Protokollauf dem asiatischen Kontinent in seiner ganzen Komple-xität nicht gerecht. Aus diesen Gründen lehnen wir alsSPD-Fraktion den Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen „Reformprozesse in Indien unterstützen“ ab.
Wir debattieren heute über die Antwort der Bundes-regierung auf die Große Anfrage der Grünen zur Indien-politik der Bundesregierung sowie über den Antrag derGrünen „Reformprozesse in Indien unterstützen“.Zuerst einmal muss ich leider feststellen, dass dieBundesregierung Indien viel zu spät als wichtigen Part-ner entdeckt hat. „Ich komme spät“, entschuldigte sichder Außenminister bei seiner Rede in der Deutschen Bot-schaft in Indien letzten November. Und er hatte Recht: Dreilange Jahre war sein letzter Indienbesuch her. Während an-dere Länder sich unermüdlich um exzellente Beziehungenmit Indien bemühen, wird es von Deutschland einfachdezent ignoriert. Das kann und darf nicht sein und wirdder Bedeutung dieser Wachstumsregion nicht gerecht.Indien ist mit 1,1 Milliarden Einwohnern nicht nur daszweitbevölkerungsreichste Land, sondern auch diegrößte Demokratie der Welt. Und erst jetzt ist es von derBundesregierung als einer der drei wichtigsten strategi-schen Partner in Asien erkannt worden. Indien ist einLand größter Unterschiede. Da gibt es einerseits diehochmoderne Industrie und IT-Branche, die sich auf her-vorragend ausgebildete und hochmotivierte Mitarbeiterstützt, und auf der anderen Seite ist die unendliche Armut,die oft mit elenden Lebensverhältnissen einhergeht. Indienist aber auch eine Atommacht und steckt im Dauerstreitmit Pakistan. Alle diese Bereiche muss die Bundesregierungim Auge behalten und in ihrer Außenpolitik bedenken.Mittlerweile stimmen sich Deutschland und Indien im-merhin politisch ab, und auch auf wirtschaftlicher undwissenschaftlicher Basis kommt es zu einer Zusammen-arbeit. Als Mitglied des Unterausschusses AuswärtigeKultur- und Bildungspolitik möchte ich in diesem Bereichbesonders die Bildungs- und Wissenschaftskooperationhervorheben. Hier wird sicherlich schon viel geleistet.Gleichzeitig besteht aber auch genau hier noch unglaub-liches Potenzial.Bildung, Wissenschaft und Forschung sind für alleLänder die Basis einer florierenden, zukunftsgerichtetenund demokratischen Entwicklung. Die Grünen fordern inihrem Antrag, Indien vor allem in Umwelt- und Menschen-rechtsfragen zu unterstützen. Das ist natürlich richtig.Das Land nur als großes Entwicklungsprojekt zu sehen,ist jedoch viel zu einseitig. Deutsche Indienpolitik darfkeine reine Entwicklungspolitik, sondern muss Zukunfts-politik sein.Dazu gehört noch mehr Austausch von Studenten undForschern. Trotz Milliardenbevölkerung machen Inder nur1,5 Prozent der ausländischen Studenten in Deutschlandaus. Der interkulturelle Dialog muss weiter ausgebaut wer-den. Und zu einem Dialog gehören immer zwei Seiten. Ei-nerseits können wir mit unserem Wissen dazu beitragen,dass die Inder ihr Leben in Freiheit und Verantwortungführen können, andererseits können wir durch den Dialog
Metadaten/Kopzeile:
25850 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Harald Leibrechtauch wichtige Kontakte zu diesem riesigen Land knüpfen.82 Prozent der deutschen Investoren sehen in IndienMarktpotenzial. Deutschland hat als wichtige Wirtschafts-nation viel zu wenig Nachwuchs mit Indien-Kompetenz,das muss sich dringend ändern. Darum ist jeder Euro,der in die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik mit In-dien geht, eine echte Zukunftsinvestition.Bei den Wirtschaftsbeziehungen gibt es noch ein riesigesPotenzial. Die Bundeskanzlerin hatte bei ihrem Besuchim Herbst 2007 ambitionierte Ziele für die bilateraleWirtschaftskooperation gesetzt. Ich frage mich: Was istaus diesen geworden? – Ich möchte Ihnen ein Beispiel nen-nen, das den Stand dieser Beziehungen veranschaulicht:Gehen Sie einmal auf die Internetseite der Deutsch-Indi-schen Handelskammer in Kalkutta. Sie werden Folgendeszu lesen bekommen:Die Deutsch-Indische Handelskammer ist eine derwichtigste Institutionen, die die deutsch-IndischeWirtschaftsbeziehungen beförderen.Eine katastrophale Rechtschreibung und Grammatik so-wie lieblose Formulierung sind wohl symptomatisch fürdie dürftige bilaterale Zusammenarbeit. Die schwarz-rote Bundesregierung mahnt in letzter Zeit gern an, dassWorten auch Taten folgen müssen. Nun, das sollte dannauch für die Große Koalition gelten.Ich möchte aber auch noch auf zwei weitere kritischePunkte eingehen, die aus meiner Sicht im Zusammenhangmit der Antwort auf die Große Anfrage und dem Antragder Grünen wichtig sind: Das eine ist die Nuklearpolitik,das andere sind neue sicherheitspolitische Herausforde-rungen an der indisch-chinesischen Grenze.Was die Nuklearpolitik mit Indien betrifft, so schreibtdie Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Große An-frage, sie strebe „die weitere Annäherung Indiens an dasinternationale Nichtverbreitungsregime an“. Das istschlichtweg zynisch. Das Gegenteil ist nämlich der Fall:Unter deutschem Vorsitz billigte die Nuclear SuppliersGroup letztes Jahr den US-indischen Nukleardeal. Indienerhält nun die gleichen Rechte wie die Unterzeichner desAtomwaffensperrvertrages, ohne dafür die gleichen sub-stanziellen Pflichten auferlegt zu bekommen. So hat diePolitik der Großen Koalition nukleare Doppelstandardsgeschaffen. Auch wenn Indien ein strategisch wichtigerPartner ist, darf man nicht die Glaubwürdigkeit Deutsch-lands als verantwortungsvoller Nichtkernwaffenstaataufs Spiel setzen.Was die Grenzschwierigkeiten zwischen Indien undChina angeht, so betrachte ich die Entwicklungen mitSorge. Die Bundesregierung schreibt in ihrer Antwort, siegehe „davon aus, dass beide Länder auf eine friedlicheRegelung hinarbeiten“. Ich befürchte, dass die Bundes-regierung die Lage hier unterschätzt. Denn Anfang Junihat Indien angekündigt, „die zukünftige Herausforderungan die nationale Sicherheit“ zu bewältigen und deswegenbis zu 30 000 Soldaten an die chinesische Grenze zu ver-legen. Hier sollten wir wachsam sein und uns für einenfriedlichen Dialog der beiden Atommächte einsetzen.Gerade im Hinblick auf sicherheitspolitische Heraus-forderungen wird deutlich: Wir brauchen eine klare undZu Protokollstrategische Indienpolitik – heute mehr denn je. UnserePolitik gegenüber Indien darf keine reine Entwicklungs-politik sein. Deutschland darf und muss auch seine eigenenInteressen formulieren und gerade im Wirtschafts- undBildungsbereich die Zusammenarbeit mit Indien vielstärker ausbauen. Die Wiederwahl der Kongressparteischafft dafür beste Voraussetzungen; denn das indischeVolk hat Demokratie und Wirtschaftswachstum noch ein-mal als den richtigen Weg für sein Land bestätigt.Jetzt gilt es für uns, die richtigen Entscheidungen zutreffen, in eine deutsch-indische Zukunftspolitik zu inves-tieren und somit den deutsch-indischen Beziehungen dasProfil zu geben, das sie verdienen.
Umfassend über Indien in einem Antrag zu sprechen,muss zwangsläufig ein unvollständiges Bemühen blei-ben. Nichtsdestotrotz ist es begrüßenswert, dass die„weltgrößte Demokratie“ stärker ins Blickfeld deutscherAußenpolitik rücken soll.Dieses aufstrebende Land, das immer noch eine festgefügte Kastenordnung hat, extreme soziale und ökono-mische Unterschiede aufweist, sowohl Entwicklungslandals auch ökonomischer Global-Player ist, nimmt einewichtige Funktion in der asiatischen Region ein. Es istvon der globalen Klimaveränderung stark betroffen. Dieländliche Bevölkerung, insbesondere die bäuerlichenStrukturen, trägt die Folgen von patentiertem, gentech-nisch verändertem Saatgut sowie von Missernten. Selbst-tötungen von verarmten Bauern sind Alltag geworden,weil sie ihren Pflichten als Familienvorstände nicht mehrgerecht werden können. Für Frauen gibt es keinen sozial-politischen Schutz, der informelle Sektor wächst.Eine rechtliche Besserstellung von religiösen und eth-nischen Minderheiten steht aus in diesem von Multiethni-zität geprägten Land. Kinderarmut und Kinderarbeitsind eine Realität, die allen Kinderrechtskonventionenund Menschenrechten widerspricht. Sonderwirtschafts-zonen, die sozialrechtliche und ökologische Standardssowie steuerrechtliche Verpflichtungen für die Investorenaushebeln, sind negativer Teil des Wirtschaftswachstums.Tatsachen sind auch die Nichteinhaltungen des Atomwaf-fensperrvertrages und der Ausbau der Atomenergie. Siewerden vom Westen und der Weltgemeinschaft toleriertund insbesondere vom zivilen Sektor unterstützt. Ebensodeutlich ist das Bedürfnis Indiens nach mehr fossilenEnergieträgern. Trotz seiner riesigen Potenziale für re-generative Energiegewinnung und Nutzung im eigenenLand bleibt dieses bislang wenig genutzt. Das beeinflusstseine Außenpolitik stark.Als regionaler Akteur in der Beziehung zu Afghanistanund Iran, als Staat mit großem muslimischen Bevölke-rungsanteil erfüllt Indien die Voraussetzungen, für eineFriedensordnung produktive Beiträge zu leisten. Nichterst seit den gerade zurückliegenden Wahlen für das Un-terhaus, bei denen die linken Parteien einen Rückschlagerlitten haben, zeigt sich, dass Indien sich von seinerneutralen Rolle entfernt und eine stärkere Westausrich-tung anstrebt. Nicht zuletzt in der Hinnahme der atoma-ren Option durch den Westen zeigt sich, dass Doppelstan-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25851
gegebene Reden
(C)
(D)
Monika Knochedards angewandt werden. Das steht in einem krassenMissverhältnis zum Umgang mit dem Nachbarstaat Iran,gerade in der Atomfrage. Besonders weil der indisch-pa-kistanische Konflikt anhält, bleibt es skandalös, dassKriegswaffenexporte nach Indien an der Tagesordnungsind. Gerade wenn man diesen Sachverhalt an internatio-nalen Standards misst, muss die internationale Atomauf-sicht vollzogen und Indien zum Beitritt in den Atomwaf-fensperrvertrag bewegt werden. Es kann nicht weitergeduldet werden, dass die Produktion von waffenfähigemSpaltmaterial weitergeht. Die internationale Gemein-schaft macht sich unglaubwürdig, wenn sie in dieserFrage unterschiedliche Standards anwendet.Eine positive Seite möchte ich jedoch hervorheben:Indien ist ein wichtiger Lieferant und Produzent von Me-dikamenten für die Entwicklungsländer insgesamt. Dieseleiden unter den Patentzwängen der westlichen Pharma-industrie – Stichwort TRIPS-Abkommen. Ohne die HilfeIndiens könnten sie sich ihre – immer noch marginale –Gesundheitsversorgung gar nicht leisten. Deshalb bleibtder Antrag hier unvollständig. Denn die EU drängt dieindische Regierung auf drastische Verschärfung ihrerPatentgesetze, um die Pharmaindustrieinteressen desWestens zu stützen.Auch die BRIC-Staaten möchte ich erwähnen. Brasi-lien, Russland, Indien und China bilden ein Eigenge-wicht gegenüber den NATO- und G-8-Staaten. Das istausdrücklich zu würdigen. Wichtig ist, bei den Freihan-delsabkommen die Selbstverwirklichung der Schwellen-länder nicht zu behindern und sie souverän über ihreÖkonomien entscheiden zu lassen.In der letzten Sitzungswoche der 16. Legislatur-periode kann das Parlament letztlich nichts anderes be-wirken, als eine verstärkte Aufmerksamkeit für dieses in-teressante und wichtige Land Indien hervorzurufen,verbunden mit der Erwartung, dass in der nächsten Le-gislatur ein umfassender Ansatz von internationalerPolitik, die die Entwicklungs-, Menschenrechts-,Außenwirtschafts- und Außenpolitik zusammenbindet,vollzogen wird, wobei die Befassungen des DeutschenParlaments mit Indien ein stärkeres Gewicht bekommensollten.
Zunächst eine aktuelle Meldung von heute Morgen,die mich wirklich sehr erfreut hat. Das Hohe Gericht inNeu-Dehli hat am heutigen Donnerstag ein seit der Kolo-nialzeit geltendes Verbot von Homosexualität aufgeho-ben mit der Begründung, diese Bestimmung sei diskrimi-nierend und verstoße gegen die Grundrechte. Das istzwar überfällig aber nichtsdestoweniger sehr zu begrü-ßen.Zwischen dem 16. April und dem 13. Mai 2009 fandenin Indien Wahlen statt, allein ihre Organisation war eineMammutaufgabe: Für über 700 Millionen Wahlberech-tigte wurden mehr als 800 000 Wahllokale und mehr alseine Million elektronische Wahlmaschinen aufgestellt. Eskam zu Zwischenfällen, aber im Großen und Ganzen ver-liefen die Wahlen ruhig. Am 16. Mai 2009 stand fest, dassdie United Progressive Alliance, UPA, unter der FührungZu Protokollder Kongresspartei einen überragenden und in seinerKlarheit auch überraschenden Wahlsieg erreicht hat.Weder die hindu-nationalistische Bharatiya JanataParty, BJP, noch die sogenannte Dritte Front unter Füh-rung der kastenlosen Mayawati konnten punkten. Die mitdiesen Wahlen bestätigte indische Regierung steht jetztvor gewaltigen Aufgaben.Wir haben eine Große Anfrage an die Bundesregie-rung gestellt, in der wir sie befragen zu ihren Vorstellun-gen von einer Zusammenarbeit mit Indien und einer Un-terstützung des Landes bei der Bewältigung drängenderProbleme. Die Antworten haben uns dazu veranlasst, indiese Debatte zusätzlich einen Antrag einzubringen. Wirfordern die Bundesregierung damit auf, ihren Kurs ge-genüber Indien nicht grundsätzlich zu ändern, sich aberstärker als bisher auf die gemeinsame Lösung der Pro-bleme zu konzentrieren, die nicht nur Indien und seineBevölkerung allein betreffen, sondern globale Auswir-kungen haben.Indien ist, ebenso wie die anderen sogenannten BRIC-Staaten, ein zunehmend einflussreicher und selbstbe-wusster Akteur in der Weltpolitik. Dieser wachsendeEinfluss bedeutet für Deutschland, für die EU, für diegesamte internationale Gemeinschaft ein Umdenken,eine Verabschiedung von überholten weltpolitischen Auf-teilungen und Schemata. Wir müssen stattdessen die He-rausforderungen in Angriff nehmen, die unsere Weltheute und morgen bestimmen. Hervorheben möchte ichhier die Themen: Klimawandel, Ressourcenkonkurrenz,globale Ausgrenzung, Aufrüstung und Terrorismus. Nichtnur bedingen und verstärken sich diese Risiken gegensei-tig – sie sind auch nicht von einzelnen Ländern allein lös-bar.Indien ernst zu nehmen und sich auch für eine ver-stärkte Rolle Indiens in den internationalen Institutioneneinzusetzen, heißt aber nicht das, was die Bundesregie-rung mit ihrem Freifahrtschein für den US-Indien-Atom-deal getan hat. Durch diese verantwortungslose Hand-lung hat Deutschland den Rüstungswettlauf zwischenIndien und Pakistan angeheizt und dem internationalenNichtverbreitungsregime einen schweren Schlag versetzt.Indiens beeindruckende Demokratie zu würdigen und zuunterstützen, heißt auch nicht, einem Vorzug Indiens ge-genüber Chinas das Wort zu reden, wie es die Unions-fraktion in ihrer außenpolitischen Strategie getan hat.Dennoch, es ist richtig, Indien als Partner und globa-len Akteur stärker in den Blick zu nehmen. Deutschlandmuss gerade auch im Umgang mit Indien eine Politik ge-stalten, die multilateraler, ökonomischer und ökologi-scher ist als bisher. Lassen Sie mich dies wegen dernotwendigen Kürze nur anhand von Stichworten illus-trieren:Deutschland sollte eine Reform des Sicherheitsratesder Vereinten Nationen befürworten, bei der auch Indienals kontinentales Land und wachsendes politischesSchwergewicht vertreten ist. Deutschland muss für einenglobalen „Green New Deal“ streiten und Indien dafürgewinnen; die Stabilisierung der Finanzmärkte, die Schaf-fung von Arbeitsplätzen können nur gelingen im Einklangmit dem Umbau und der Decarbonisierung der Wirtschaft,
Metadaten/Kopzeile:
25852 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Jürgen Trittindem Schutz der Ökosysteme und der Wasserressourcenund dem Kampf gegen die globale Armut. Besonders hin-sichtlich der Verhandlungen zum Klimarahmenprogrammin Kopenhagen – COP 15 – muss Deutschland spezielleAnstrengungen unternehmen, um Indien in das internatio-nale Klimaregime einzubinden. Indien spielt bei der Suchenach und der Umsetzung von Lösungen für diese globalenHerausforderungen eine entscheidende Rolle. Es ist Auf-gabe der Bundesregierung, Indien dafür zu gewinnen,noch stärker als bisher gemeinsam Verantwortung zuübernehmen und die internationalen Institutionen zustärken.Indien steht zudem vor großen innenpolitischen Auf-gaben. Die jetzt bestätigte Regierung hat erkennen las-sen, dass sie in der Analyse der drängenden Problemedes Landes weit vorangeschritten ist. Angekündigte Re-formen müssen jetzt mit Nachdruck umgesetzt werden.Wir fordern die Bundesregierung dazu auf, diesen Um-setzungsprozess zu unterstützen und dabei auch die The-men stärker in den Fokus zu nehmen, die bisher in derZusammenarbeit nicht mit der notwendigen Intensitätbearbeitet wurden – allen voran das Thema Menschen-rechte.Indien hat hier ohne Zweifel viel erreicht, und dieNachricht von heute Morgen zeigt einen weiteren Schrittvorwärts. Aber nach wie vor gibt es eine gewaltige, ver-heerende Armut im Land, gibt es weitreichende Ausgren-zung und Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrerReligion, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihres Ge-schlechts, ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Ein-ordnung in ein Kastenwesen, das zwar offiziell abge-schafft ist, aber de facto noch immer gravierendeAuswirkungen hat. Die neue indische Regierung mussjetzt ihre Bevölkerung, aber auch die Weltgemeinschaftdurch Taten überzeugen. Dabei sollte die deutsche Bun-desregierung ein verlässlicher, kooperativer und strate-gischer Partner sein, der stärker als bisher die wichtigenThemen „Menschenrechtsschutz“, „Armutsbekämp-fung“, „Aufbau von Sozialsystemen“ sowie „Klima“ und„Energie“ in den Fokus seiner Zusammenarbeit stellt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/13610
mit dem Titel „Reformprozesse in Indien unterstützen“.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Der Antrag ist mehrheitlich abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 32:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu der Un-
terrichtung durch die Bundesregierung
Fortschrittsbericht 2008 zur nationalen Nach-
haltigkeitsstrategie
– Drucksachen 16/10700, 16/13236 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung
Dr. Matthias Miersch
Zu Protokoll
Michael Kauch
Eva Bulling-Schröter
Sylvia Kotting-Uhl
Der Fortschrittsbericht 2008 zur nationalen Nachhal-tigkeitsstrategie zeigt deutlich, dass es sich bei der nach-haltigen Entwicklung um ein Querschnittsthema handelt,das weit über den Themenschwerpunkt Umwelt hinaus-geht. Das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung beein-flusst nahezu alle Politikfelder. Dennoch ist der Umwelt-ausschuss in den zurückliegenden parlamentarischenBeratungen federführend für die Nachhaltigkeitsstrate-gie gewesen. Das liegt vor allem daran, dass der Parla-mentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung zwarfachlich zuständig ist, aber für das besondere Themakeine Möglichkeiten hat, die federführende Ausschussbe-ratung zu übernehmen. Wenn wir dem Thema Nachhal-tigkeit künftig zu der Bedeutung im Parlament verhelfenwollen, die es verdient, sollten wir in der kommenden Le-gislaturperiode den Parlamentarischen Beirat für nach-haltige Entwicklung parallel zu den Ausschüssen einset-zen und ihm die Arbeitsmöglichkeiten geben, die einenachhaltige Ausrichtung der Politik sicherstellen. DerFortschrittsbericht 2008 zur nationalen Nachhaltigkeits-strategie enthält im Bereich des Nachhaltigkeitsmanage-ments Aspekte, die diesen Schritt seitens des DeutschenBundestages als logische Schlussfolgerung zu Rechtnahelegen.Die im Bericht vorgesehenen Maßnahmen zur Ein-richtung eines Nachhaltigkeitsmanagements, um dieWirksamkeit der Strategie zu erhöhen, unterstützen wir.Besonders freut uns, dass die Bundesregierung elemen-tare Forderungen des Parlamentarischen Beirats fürnachhaltige Entwicklung in den Bericht aufgenommenhat. Hierzu zählt die Aufnahme der Nachhaltigkeitsprü-fung in die Gesetzesfolgenabschätzung. Mit dieser Maß-nahme leistet die Bundesregierung einen bedeutendenBeitrag, politische Entscheidungen in Deutschland ausder strukturellen Gegenwartsbezogenheit und der Kurz-fristigkeit von Legislaturperioden herauszulösen. DerHorizont in der Gesetzesfolgenabschätzung kann damitdeutlich erweitert werden. Letztlich leisten die Aufnahmeder Nachhaltigkeitsprüfung in die Gesetzesfolgenab-schätzung und die Berücksichtigung der dabei gewonne-nen Erkenntnisse im Gesetzgebungsverfahren einen ent-scheidenden Beitrag zu mehr Generationengerechtigkeit.Es ist erfreulich, dass die Forderung aus dem Berichtinzwischen schon Einzug in einen neuen § 44 a der Ge-meinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien ge-funden hat. Jetzt wird es aber darauf ankommen, diesesneue Element im Gesetzgebungsverfahren auch mit Le-ben zu füllen.Bei seiner Einsetzung zu Beginn der neuen Legislatur-periode sollte sichergestellt werden, dass der Parla-mentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung seinebisherigen Kompetenzen und Aufgaben, die ihm mit Ein-setzungsbeschluss der 16. Legislaturperiode zugewiesenworden sind, beibehält und sinnvollerweise zusätzlich imRahmen der Nachhaltigkeitsprüfung im parlamentari-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25853
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Günter Kringsschen Gesetzgebungsverfahren eine Art „Wachhundfunk-tion“ übernimmt, die sicherstellt, dass diese Prüfungspätestens im parlamentarischen Raum ernst genommenwird und das Prüfergebnis auch wahrgenommen wird.Zudem ist es erforderlich, dass innerhalb des Bundesta-ges ein Verfahrensablauf entwickelt und festgeschriebenwird, die Nachhaltigkeitsprüfung in das parlamentarischeGesetzgebungsverfahren zu integrieren. Eine entspre-chende Änderung der Geschäftsordnung des DeutschenBundestages haben wir in dieser Legislaturperiode nichtmehr geschafft – dafür reichte nach dem Beschluss desBundeskabinetts am 27. Mai 2009 auch einfach nichtmehr die Zeit. Mittelfristig sollten wir darangehen, dieGeschäftsordnung des Deutschen Bundestages um einwirksames Procedere zur Nachhaltigkeitsprüfungsbe-wertung zu ergänzen. Ich bin zuversichtlich, dass wir inZusammenarbeit mit den Parlamentarischen Geschäfts-führern der Fraktionen einen Weg finden werden, dienationale Nachhaltigkeitsstrategie stärker mit den parla-mentarischen Verfahrensabläufen zu verzahnen und da-mit zu stärken.An dieser Stelle möchte ich auf ein weiteres Instru-ment des Nachhaltigkeitsmanagements eingehen: Ein-zelne Bundesministerien geben in eigener VerantwortungRessortberichte zur nachhaltigen Entwicklung heraus, indenen unter anderem auch darauf eingegangen wird,welche Maßnahmen innerhalb des jeweiligen Ministe-riums ergriffen werden, um das Leitbild nachhaltigerEntwicklung noch stärker im ministeriellen Arbeitsalltagzu verankern. Auch wenn mitunter der Eindruck entsteht,dass hier seitens der Ministerialbürokratie eine Pflicht-aufgabe absolviert wird, sollte auch künftig an dem In-strument der Ressortberichte festgehalten werden, um ei-nen stärkeren Einblick in die nachhaltige Entwicklungder einzelnen Ministerien zu ermöglichen.Wir begrüßen ausdrücklich, dass der Ausschuss fürUmwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit in seiner Be-schlussempfehlung die Bundesregierung auffordert, dieStellungnahme des Parlamentarischen Beirats für nach-haltige Entwicklung bei der Fortschreibung ihrer Nach-haltigkeitsstrategie einzubeziehen. Aber auch die beidenanderen Forderungen der Beschlussempfehlung sind fürdie nationale Nachhaltigkeitsstrategie wichtig: Geradedie aktuelle Wirtschaftskrise zeigt, wie wichtig es ist, dieNachhaltigkeitsziele nicht anderen, kurzfristigen Zielenunterzuordnen, wenn damit langfristig die soziale, ökolo-gische und ökonomische Entwicklung gefährdet wird. Beiallen konjunkturbelebenden Maßnahmen müssen wirauch immer im Auge behalten, welche Auswirkungensich daraus für künftige Generationen ergeben.Wichtig für das Erreichen unserer Nachhaltigkeits-ziele ist auch, dass die erforderlichen personellen undfinanziellen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.Das betrifft übrigens nicht nur die Bundesregierung, diein der Beschlussempfehlung des Umweltausschussesexplizit aufgefordert wird. Das betrifft auch den Deut-schen Bundestag und die in ihm vertretenen Fraktionen,wenn es in der 17. Legislaturperiode darum gehen wird,die nationale Nachhaltigkeitsstrategie noch stärker indie parlamentarischen Beratungen zu integrieren und imZu Protokollparlamentarischen Gesetzgebungsverfahren die Nach-haltigkeitsprüfung in der Gesetzesfolgenabschätzung zubewerten.Wichtig für die Überprüfung der Wirksamkeit unsererNachhaltigkeitsstrategie sind die Indikatoren. Die Indi-katoren, denen sich der Fortschrittsbericht 2008 aus-führlich widmet, sind Motor und zugleich Kontrollein-richtung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie. Zumeinen geben sie die Zielrichtung und Zielgröße vor. Zumanderen ermöglichen Sie es, abzulesen, an welchemPunkt die nationale Nachhaltigkeitsstrategie geradesteht.Bei der Betrachtung der im Fortschrittsbericht 2008dargestellten Indikatoren folgen wir dem Ansatz der Bun-desregierung, die Indikatoren aus Gründen der langfris-tigen Vergleichbarkeit weitestgehend aufrechtzuerhaltenund nur dort, wo die Aussagekraft deutlich verbessertwerden kann, anzupassen. Allerdings ist dieses Prinzipleider nur teilweise im Fortschrittsbericht 2008 zurnationalen Nachhaltigkeitsstrategie umgesetzt worden.Hierauf ist der Parlamentarische Beirat für nachhaltigeEntwicklung in seiner gutachtlichen Stellungnahme aus-führlich eingegangen.Lassen Sie mich an dieser Stelle auf einen Indikatoreingehen, der uns sicherlich auch in der kommenden Le-gislaturperiode intensiv beschäftigen wird: Bei der Flä-cheninanspruchnahme, also dem Indikator „Anstieg derSiedlungs- und Verkehrsfläche“, legt der Fortschrittsbe-richt 2008 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie leiderfast schon eine ganze Hand in die offene Wunde: Mit ak-tuell rund 120 Hektar pro Tag liegen wir von dem für dasJahr 2020 angestrebten Ziel 30 Hektar pro Tag so weitentfernt, dass das Ziel absolut verfehlt werden wird. Dasgibt uns keineswegs das Recht, zu resignieren. Vielmehrmüssen wir trotz oder gerade wegen der schlechten Pro-gnose die Ärmel hochkrempeln und alles daran setzen,die Flächeninanspruchnahme in Deutschland zu reduzie-ren. Denn wenn wir so weitermachen wie bisher, ist inabsehbarer Zeit keine freie Fläche mehr verfügbar. Bund,Länder und Kommunen sind dazu aufgerufen, im Rah-men der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten gemein-sam darauf hinzuwirken, dass der Flächenverbrauch inDeutschland reduziert wird. Dort, wo der Bund über ei-gene nicht mehr genutzte Liegenschaften verfügt, sollteer mit gutem Beispiel vorangehen: So sollte er zum Bei-spiel militärische Konversionsflächen verstärkt einer Re-naturierung zur Verfügung stellen. Allerdings sollten wiruns in der kommenden Legislaturperiode auch einmalnäher damit befassen, was eigentlich als „verbrauchteFläche“ zu definieren ist. Hier gibt es bislang offenbareinige Unschärfen in der Definition und insbesondereeine erhebliche Diskrepanz zwischen dem „Verbrauch“von Fläche und ihrer tatsächlichen Versiegelung.Wir begrüßen, dass die Bundesregierung das Thema„demografischer Wandel“ als Schwerpunktthema dernationalen Nachhaltigkeitsstrategie in den Fortschritts-bericht 2008 aufgenommen hat. Der parlamentarischeBeirat für nachhaltige Entwicklung hat sich in der lau-fenden Legislaturperiode ebenfalls mehrfach mit diesemThema befasst. Dabei sollten aber nicht nur die Pro-
Metadaten/Kopzeile:
25854 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Günter Kringsbleme und Chancen des sozialen Zusammenhalts be-leuchtet werden. Es geht auch darum, handfeste Fragender baulichen und verkehrlichen Infrastruktur zu beant-worten.Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Ent-wicklung hat vor zwei Jahren gefordert, geplante öffent-liche Infrastrukturinvestitionen auf ihre künftige Aus-lastung hin zu prüfen. Nachhaltigkeit bedeutet hier, dieInfrastrukturelemente zu erhalten, von denen wirprognostizieren können, dass auch künftige Generatio-nen sie noch benötigen werden. Gleichzeitig müssen wiruns konsequent von den Infrastrukturelementen trennen,bei denen prognostiziert werden kann, dass sie wederheute noch für künftige Generationen zwingend erforder-lich sein werden, oder deren Erhalt aufgrund geringerAuslastung mit solch hohen Kosten verbunden seinwürde, dass sie zumutbarerweise niemand mehr bezahlenkann. Wichtig ist dabei aber, dass Entwicklungen des de-mografischen Wandels durch Einschnitte in die Infra-struktur nicht noch beschleunigt werden. Sind erst ein-mal Kindergarten und Schule in einem Dorf geschlossen,wird der Ort für Familien mit Kindern unattraktiv. Damitdrohen solche Orte letztendlich auszusterben. Gleichesgilt für den öffentlichen Personennahverkehr: Nicht jedeStilllegung einer Buslinie oder einer kleinen Bahnstreckemuss zwangsläufig ein Gewinn sein.Der entscheidende Ansatz, den demografischen Wan-del zu verlangsamen und abzuschwächen, liegt darin, dieGeburtenrate in Deutschland zu erhöhen. Unter derÜberschrift „Perspektiven für Familien“ legt der Fort-schrittsbericht mit dem Indikator „Ganztagsbetreuungvon Kindern“ seinen Schwerpunkt auf die Vereinbarkeitvon Familie und Beruf. Die Bestrebungen, Familie undBeruf durch die Verbesserung der Kinderbetreuungs-möglichkeiten besser unter einen Hut zu bekommen, sindsicherlich ein denkbarer Ansatz. Allerdings reicht es ausmeiner Sicht nicht aus, die Kinderbetreuungsmöglichkei-ten allein außerhalb des Elternhauses auszubauen – wirmüssen auch denen bessere Perspektiven zur Vereinbar-keit von Familie und Beruf eröffnen, die für die Kinder-erziehung einige Zeit im Beruf aussetzen und die Kinderselber zu Hause betreuen wollen. Solch eine Entschei-dung sollte künftig nicht mehr dazu führen, dass insbe-sondere junge Frauen dadurch Karriereeinbußen hin-nehmen müssen.Obwohl der Fortschrittsbericht 2008 zur nationalenNachhaltigkeitsstrategie sehr umfangreich ist und aufsehr viele Fragen nachhaltiger Entwicklung eingeht,bleiben einige Aspekte von nachhaltiger Bedeutung den-noch unberücksichtigt. Das Thema der atomaren Endla-gerung zum Beispiel wird im Fortschrittsbericht bishertrotz bestehender dringlicher Notwendigkeit nicht be-rücksichtigt. Die Wichtigkeit einer sicheren Endlagerungdes hoch-radioaktiven Mülls ist aber für heutige und zu-künftige Generationen lebenswichtig und fundamental.Risiken, die unsere Gesellschaft mit der Nutzung derKernenergie eingeht, müssen so gut wie möglich mini-miert werden. Nicht nur dann, wenn ich die Nutzung derKernenergie noch für einen Übergangszeitraum akzep-tiere, muss ich mich diesem Thema übrigens widmen,sondern die Endlagerproblematik muss relativ unabhän-Zu Protokollgig von einem Ob und Wann eines Kernkraftaussteigseben im Interesse künftiger Generationen gelöst werden.Nachhaltigkeit muss Leitprinzip der deutschen Politiksein und dort umfassend und konsequent Berücksichti-gung finden. Die Nachhaltigkeitsstrategie ist eine Zu-kunftsstrategie: Wenn Nachhaltigkeit als politische, ge-sellschaftliche und ökonomische Querschnittsaufgabebegriffen wird, kann sie zum Innovationsmotor werden.Wir haben die Möglichkeit, gemeinsam diesen Motor amLaufen zu halten. Insgesamt befinden wir uns aus meinerSicht in Deutschland auf einem guten Weg. Wenn es unsgelingt, die parlamentarische Begleitung der nationalenNachhaltigkeitsstrategie zu verstetigen und die Bewer-tung der Nachhaltigkeitsprüfung in der Gesetzesfolgen-abschätzung im parlamentarischen Gesetzgebungsver-fahren zu einem starken Instrument aufzubauen, könnenwir aus parlamentarischer Sicht diesen Weg noch zügi-ger und erfolgreicher fortsetzen. Nutzen wir diese großeChance und gehen wir weiterhin gemeinsam diesen Weg.
Wir haben den Bericht über den Stand der Umsetzungder Nachhaltigkeitsstrategie in den Ausschüssen behan-delt. Federführend ist der Umweltausschuss. Wenn wiruns die Themenbereiche aber genauer anschauen, dannsind davon fast sämtliche Ressorts betroffen. Das sind:innere Sicherheit, Justiz, Bildung und Forschung, Fami-lie, Gesundheit, Ernährung und Landwirtschaft, Arbeitund Soziales – Beschäftigung –, Wirtschaft, Finanzen,Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Umwelt sowie die in-ternationale Entwicklungszusammenarbeit. Wenn manbetrachtet, an welche Ausschüsse der Bericht überwiesenwurde, dann fehlen doch einige Ressorts.Die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierungwird also im Parlament noch nicht gebührlich wahrge-nommen. So ist es wiederum der Umweltausschuss, deres uns als Beirat ermöglicht hat, unsere Stellungnahmezum Fortschrittsbericht 2008 als Entschließung in denBundestag einzubringen. Dafür möchte ich mich beimUmweltausschuss bedanken. Das ist nicht selbstver-ständlich. Dabei sollte die Nachhaltigkeitsstrategie dochGrundlage jeglichen politischen Handelns sein. Nur einvorausschauendes, zwischen den Interessen ausgewoge-nes Handeln ermöglicht den jetzigen und künftigen Ge-nerationen gleichermaßen Chancen für die Gestaltungihres Lebens.Als Sozialdemokrat lege ich Wert darauf, den Interes-senausgleich und die Chancengleichheit auch innerhalbder lebenden Generationen herzustellen. Die Finanz-krise hat gezeigt, dass viele ihre gesellschaftliche Verant-wortung ausblenden, gerade jene, die das Potenzial dazuin der Hand haben, jene, die sich selbst finanziell gut ab-gesichert haben. Nichtverantwortung der Stärkeren gehtzulasten der Schwächeren. Wer würde sich denn bemü-hen, die Arbeitsplätze zu erhalten, wenn nicht der Staatmit seinen Steuerzahlern einspringen würde? Wer fängtjene auf, die ihren Arbeitsplatz inzwischen schon verlo-ren haben? „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch sollzugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ So stehtes in Art. 14 Abs. 2 Grundgesetz. Wie viele Anteilsinha-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25855
gegebene Reden
(C)
(D)
Ernst Kranzber haben mit ihrem persönlichen Vermögen, das sieüber die Jahre aus dem Unternehmen heraus verdienten,in der Krise der Allgemeinheit gedient? Legt man dennnicht in guten Jahren etwas zurück für die schlechtenJahre? Ich meine, nicht nur für sich persönlich. Das ha-ben diejenigen, die ich damit meine, ja zur Genüge getan.Um zum Thema zurückzukommen: Nachhaltige Unter-nehmenspolitik sieht meiner Meinung nach anders aus.Um die Aufmerksamkeit für die Notwendigkeit einernachhaltigen Politik zu erhöhen, hat der Parlamentari-sche Beirat für nachhaltige Entwicklung eine Nachhal-tigkeitsprüfung im Rahmen der Gesetzesfolgenabschät-zung angeregt. Ich möchte hiermit der Bundesregierungfür die gute Zusammenarbeit an dieser Stelle danken.Dies zeigt, dass sich mit gutem Willen auch in kurzer Zeitviel umsetzen lässt. Den genauen Modus, wie wir hier imParlament die Nachhaltigkeitsprüfung begleiten werden,müssen wir noch finden. Doch ist der Beirat sehr kreativ.Auch in den Ministerien selber ist einiges in Bewe-gung gekommen. Ich möchte hier die Ressortberichte derMinisterien nennen, die ihre eigene Klimabilanz ins Vi-sier genommen haben. So hat beispielsweise das Um-weltministerium, das hier mit gutem Beispiel vorangehenmuss, im Jahr 2006 das Umweltmanagementsystem nachEMAS – Eco Management and Audit Scheme nach derVerordnung Nr. 761/2001 – eingeführt. So wurdeder Stromverbrauch gesenkt und Ökostrom bestellt. Auchder Bundestag handelt entsprechend. Dienstreisen sollenso weit wie möglich durch Videokonferenzen ersetzt wer-den, notwendige Dienstreisen mit CO2-armen Verkehrs-mitteln durchgeführt und Klimaschutzprojekte gefördertwerden. Für den Berliner Dienstsitz strebt das Umwelt-ministerium das „Gütesiegel nachhaltiges Bauen“ an.Das Gütesiegel hat Bundesminister Tiefensee zusammenmit der Deutschen Gesellschaft für nachhaltiges Bauenins Leben gerufen.Ich freue mich, als Mitglied im Ausschuss für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung sagen zu können, dass geradeim zugehörigen Bundesministerium, das regelmäßig dengrößten Investitionsanteil im Bundeshaushalt einnimmt,der Nachhaltigkeitsgedanke bei den Entscheidungen im-mer mehr Einzug hält. Denn Infrastrukturen, seien esStraßen oder Gebäude, werden langfristig geplant undgebaut, und sie sind kostenintensiv. Hier muss sehr ge-nau hingeschaut werden, wofür man das Geld ausgibt.Denn die Infrastruktur kann nicht mal schnell und güns-tig umgebaut werden, wenn sich die Anforderungen än-dern; das geht wieder nur mit viel Zeit und Geld. Diesesund andere Kritikpunkte hat der Parlamentarische Bei-rat für nachhaltige Entwicklung in seiner Stellungnahmeangemerkt.Ich möchte als Mitglied im Ausschuss Verkehr, Bauund Stadtentwicklung auf zwei weitere Themenbereicheeingehen. Erstens: Mobilität. Die Gütertransportintensi-tät entwickelt sich gegenläufig zum Ziel; die Güterbeför-derungsleitung ist sogar stärker gestiegen als das Brutto-inlandsprodukt. Es ist zwar zu begrüßen, dass derEnergieverbrauch je Tonnenkilometer gesunken ist,doch, so denke ich, wird vorhandenes Potenzial nicht ge-nutzt. Warum? Das liegt daran, dass in vielen BranchenZu ProtokollFerntransporte immer noch günstiger sind als die Pro-duktion vor Ort. Die Spediteure haben große Schwierig-keiten, die Lkw-Maut an die Auftraggeber weiterzuge-ben. Es findet sich schließlich immer ein Spediteur, derden Transport günstiger anbietet. Also macht jeder mit,damit ihm das Geschäft nicht wegbricht. Zum anderenbietet das weltweite Lohngefälle derart große Spiel-räume, dass eine Transportverteuerung die Lohndiffe-renz nicht ausgleichen kann. Und schließlich profitierenwir von der günstigen Produktion in anderen Ländern.Wir müssen also, um die Straßen von Lkw und CO2 zuentlasten, noch wesentlich mehr dafür tun, dass derSchienenbeförderungsanteil steigt und insgesamt eineCO2-Ausstoßminderung in allen Bereichen erreicht wird.Bei der Personenbeförderung gab es eine positiveZielentwicklung. Um eine hohe Mobilität auch weiterhinzu gewährleisten und gleichzeitig die negativen Ver-kehrswirkungen zu reduzieren, sind komplett neue Kon-zepte erforderlich, wie zum Beispiel die Stärkung desZentrale-Orte-Systems. Das würde bedeuten: kürzereWege zum Arbeitsplatz und kürzere Einkaufswege. DasPotenzial ist allerdings begrenzt, insbesondere im ländli-chen Raum. So müssen wir uns weiter anstrengen, denumweltfreundlichen Verkehr zu fördern.Zweitens: Flächeninanspruchnahme: Es ist kaum je-mandem zu vermitteln, dass wir jeden Tag netto rund110 Hektar Fläche mehr versiegeln. Ausgleichsflächenwerden nämlich abgezogen. Die Menschen werden weni-ger, aber der Flächenverbrauch steigt. Je mehr zer-schnittene Landschaften, umso weniger wiederum kanndas Ziel erreicht werden, die Artenvielfalt wieder zu er-höhen. Meines Erachtens liegt ein Schwachpunkt mitun-ter auch darin, dass als Datengrundlage nur der tatsäch-liche Flächenverbrauch genommen wird. Dabei weisendie Kommunen regelmäßig weiteres Bauland aus. Jedeausgewiesene Fläche ist jederzeit bebaubar. Ich denke,wir müssen deshalb bei der Baulandausweisung anset-zen, um dem Flächenverbrauch wirksam begegnen zukönnen.Ich habe hiermit nur einige Bereiche angesprochen.Es ist allein vom Umfang her gar nicht möglich, auf alleeinzugehen. Ich setze an dieser Stelle sehr auf die Nach-haltigkeitsprüfung ab der nächsten Legislaturperiode,um jedes Gesetz auf ihre Langfristwirkung hin überprü-fen zu können. Und ich plädiere an dieser Stelle auch da-für, dass diese Aufgabe der Parlamentarische Beirat fürnachhaltige Entwicklung übernimmt, denn Nachhaltig-keit zieht sich durch alle Ressorts. Jedes Ressort ist ver-antwortlich, die Nachhaltigkeitsziele für sich selbst zuverfolgen. Jedes Ressort muss in erster Linie die Verant-wortung für sich selbst übernehmen. Der Blick bzw. derQuerblick, ob sich Entscheidungen negativ auf die Nach-haltigkeitsziele anderer Bereiche auswirken, gehört aberauch dazu. Und hier setzt der Parlamentarische Beiratfür nachhaltige Entwicklung an.
Der Fortschrittsbericht zur nationalen Nachhaltig-keitsstrategie der Bundesregierung, den wir heute debat-tieren, ist ein wichtiges Instrument, um einerseits nach-
Metadaten/Kopzeile:
25856 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Michael Kauchhaltiges Handeln in der politischen Diskussion zuverankern. Zugleich hilft er, aufgrund messbarer undbelegbarer Daten überprüfen zu können, in welche Rich-tung sich die von der Bundesregierung festgelegtenNachhaltigkeitsindikatoren entwickelt haben.Die Nachhaltigkeitsstrategie soll einen Leitfaden füreine möglichst parteiübergreifende Perspektive für dieZukunft unseres Landes bieten. Sie erteilt dem Denken inWahlperioden eine Absage und gibt über den Wechsel derRegierungen hinaus Orientierung. Der ParlamentarischeBeirat für nachhaltige Entwicklung hat sich intensiv mitdiesem Fortschrittsbericht auseinandergesetzt. Wir ha-ben im Vorfeld der Berichterstellung am Konsultations-prozess teilgenommen und im Nachgang eine gutachterli-che Stellungnahme abgegeben.Um unsere heutigen Entscheidungen noch mehr anden Zielen einer nachhaltigen Entwicklung auszurichten,ist es allerdings auch wichtig, dass bereits in das Gesetz-gebungsverfahren ein standardisiertes Prüfverfahren in-tegriert wird, das Antworten auf die Frage nach denlangfristigen Folgen der heute getroffenen Entscheidun-gen gibt. Ich freue mich daher sehr, dass die Bundesre-gierung auf Anregung des Parlamentarischen Beirats inder Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministe-rien eine Nachhaltigkeitsprüfung in der Gesetzesfolgen-abschätzung eingeführt hat. Diese muss nun mit Lebengefüllt werden, und es muss gewährleistet werden, dassdie Ergebnisse dieser Prüfung aussagekräftig sind.Deshalb muss es auch eine Aufgabe des DeutschenBundestages sein, ein Auge darauf zu halten, dass dieNachhaltigkeitsprüfung in Struktur und Inhalt korrekt istund dass die Ergebnisse der Prüfung nicht wirkungslosverhallen. Wir müssen dafür sorgen, dass im ParlamentStrukturen geschaffen werden, die es ermöglichen, dieNachhaltigkeitsprüfung in der Gesetzesfolgenabschätzungzu kontrollieren und zu warnen, wenn die langfristigenFolgen von Entscheidungen vor tagespolitischen Erwä-gungen in den Hintergrund treten.Ich würde mich freuen, wenn dem ParlamentarischenBeirat für nachhaltige Entwicklung diese Aufgabe über-tragen würde; denn er ist ein Gremium, das weniger vonparteipolitischen Interessen als vielmehr von einem lang-fristigen, über Legislaturperioden hinaus denkenden Ver-ständnis geleitet wird. Dazu trägt bei, dass Kolleginnenund Kollegen aus ganz unterschiedlichen FachausschüssenMitglied sind und versucht wird, Beschlüsse vornehmlichim Konsens zu fassen. Dabei tritt der ParlamentarischeBeirat nicht als Überausschuss auf. Vielmehr soll er einewarnende Stimme sein, wenn bei Entscheidungen aufgrundtagespolitischer Interessenlagen die Belange zukünftigerGenerationen allzu sehr ins Hintertreffen geraten.Die Nachhaltigkeitsprüfung soll dazu dienen, Trans-parenz zu schaffen und die Folgen unserer heutigen Ent-scheidungen für kommende Generationen aufzuzeigen,in ökonomischer, ökologischer und sozialer Hinsicht.Insbesondere hinsichtlich der finanziellen Belastungenzukünftiger Generationen dürfen wir jedoch nicht nur aufdie Staatsschulden schauen, sondern auch auf die Lasten,die Zahlungsverpflichtungen wie zum Beispiel Renten- undKrankenversicherung mit sich bringen. Auf der anderenZu ProtokollSeite gibt es auch Leistungen, die wir für zukünftige Ge-nerationen erbringen, etwa Investitionen in Bildung undInfrastruktur.Um diese Zahlungs- und Leistungsströme transparentzu machen, fordern wir Liberale, offizielle Generationenbi-lanzen einzuführen, auch für die Nachhaltigkeitsprüfung.Wir dürfen nicht vergessen, dass es bei der Nachhaltig-keitsdebatte in erster Linie um die Chancen kommenderGenerationen geht. Es wäre schade, wenn wir dieses Instru-ment, welches die Belastungen künftiger Generationenklar verständlich in Form einer Bilanz ausweist, in demVerfahren der Nachhaltigkeitsprüfung außen vor lassenwürden.
Als Abgeordneter der Linksfraktion im Parlamentari-schen Beirat für nachhaltige Entwicklung freue ich michüber die Aufmerksamkeit, die dem Fortschrittsbericht2008 mit dieser Debatte zuteil wird, damit die deutscheNachhaltigkeitsstrategie im politischen Alltagsgeschäftverankert wird.Als Parlamentarischer Beirat für nachhaltige Ent-wicklung haben wir mit unseren bisherigen Stellungnah-men dazu beigetragen, die Nachhaltigkeitsstrategie posi-tiv weiterzuentwickeln, auch wenn diese noch erheblicheSchwächen aufweist! Jetzt kommt es vonseiten der Bun-desregierung darauf an, ihre Verbindlichkeit zu stärken.Die Einführung der verbindlichen Nachhaltigkeitsprü-fung im Rahmen der Gesetzesfolgenabschätzung, bei dernachhaltigkeitsrelevante Gesetzentwürfe auf ihre Aus-wirkungen auf die Indikatoren der Nachhaltigkeitsstrate-gie hin geprüft werden müssen, kann einen Beitraghierzu leisten.Mit der Einführung der Nachhaltigkeitsprüfung greiftdie Bundesregierung eine zentrale Forderung des Beiratsauf. Trotz der oftmals mühsamen konsensualen Arbeits-weise entschädigt uns dieser Erfolg für viele unserer Mü-hen. Dabei sollte man keine falschen Erwartungen an dieNachhaltigkeitsprüfung stellen, da diese eine nicht nach-haltige Politik nicht verhindern wird. Aber zumindestkann sie dazu beitragen, die politische Kultur der Minis-terialverwaltung transparenter zu gestalten.Dieses Ziel wird auch durch die Nachhaltigkeitsbe-richte der Ministerien unterstützt, die in ihrer jetzigenForm zwar noch verbesserungsfähig sind, nichtsdesto-trotz jedoch ein notwendiger Bestandteil einer transpa-renten Ministerialverwaltung sind. Ohne den entspre-chenden kontinuierlichen politischen Willen, der sichauch in diesen Nachhaltigkeitsberichten der Ministerienausdrückt, wird sich allerdings nichts an der heutigenkritikscheuen und intransparenten politischen Kultur än-dern.Indem der Parlamentarische Beirat diesen politischenWillen einfordert, kann auch er zu dem möglichen Erfolgder Nachhaltigkeitsprüfung beitragen. Dabei darf manjedoch nicht vergessen, dass schon die jetzigen Aufgabendes Beirats bei den wenigen zur Verfügung stehendenRessourcen viel Arbeitskraft verzehren. Selbst wenn derBeirat die parlamentarische Kontrolle der Nachhaltig-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25857
gegebene Reden
(C)
(D)
Lutz Heilmannkeitsprüfung als Aufgabe übernimmt, kann er dies auf-grund seiner Kapazitäten realistisch nur in einigen aus-gewählten Fällen tun und nicht strukturell bei allennachhaltigkeitsrelevanten Gesetzentwürfen.Mit dem vorliegenden Fortschrittsbericht 2008 hat dieBundesregierung die Konzeption der deutschen Nachhal-tigkeitsstrategie insgesamt positiv weiterentwickelt, vorallem im Bereich des Nachhaltigkeitsmanagements. Diesführt zu verbesserten Steuerungsmöglichkeiten des Nach-haltigkeitsprozesses, die jedoch ohne ein diesen Möglich-keiten entsprechendes sozialökologisches Verständniswirkungslos verpuffen. Deswegen will ich zuerst näherauf dieses „Nachhaltigkeits“-Verständnis der Bundes-regierung eingehen:Der Fortschrittsbericht 2008 der Bundesregierungbetont zwar stärker als bisher, dass die Erhaltung der Le-bensgrundlagen Ausgangspunkt und Basis für das Kon-zept von Nachhaltigkeit, für wirtschaftliches Handelnund die Sicherung des sozialen Wohlstands sein muss,weist jedoch ebenfalls darauf hin, dass „ob Wachstumnachhaltig ist […] angesichts des Klimawandels oft nurim Hinblick auf die Verbesserung der Umweltsituationbewertet“ wird . Dabei ist es der Kardinalfehlerder heutigen politischen Kultur, Wirtschaftswachstumzum Maß allen politischen Handelns zu machen und öko-logische soziale Kosten dieser neoliberalen Entwicklungzu ignorieren, die zur derzeitigen Finanz- und Wirt-schaftskrise geführt hat. Frei nach Albert Einstein sageich Ihnen: „Probleme kann man niemals mit derselbenDenkweise lösen, durch die sie entstanden sind!“ Einvisionärer Nachhaltigkeitsbegriff sollte die Grenzen derökologischen Belastbarkeit des Planeten und eine Re-naissance der sozialen Gerechtigkeit zur Grundlage al-len politischen Handelns machen. Eine zukunftsfähigeEntwicklung würde den Menschen in den Mittelpunkt derKultur unseres Wirtschaftens stellen.Wenn die Bundesregierung zumindest ihr stark redu-ziertes Nachhaltigkeitsverständnis zur Leitlinie ihrer Re-gierungspolitik machen würde, wäre das ja schon einSchritt in die richtige Richtung. Der Fortschrittsberichtentlarvt aber ein weiteres Mal die doppelzüngige Rheto-rik zwischen Anspruch und Wirklichkeit ihres Handelns.Das beste Beispiel hierfür ist das Umweltgesetzbuch,dessen Scheitern veranschaulicht, welchen StellenwertUmweltschutz für die zur Kanzlerin aufgestiegene ehe-malige Umweltministerin gegenüber parteipolitischenInteressen hat.Ein weiteres Beispiel dafür ist die Gleichstellungs-politik der Bundesregierung, seinem Wesen nach einfundamentales Gerechtigkeitsthema. Die tatsächlicheDurchsetzung der Gleichstellung zu fördern wird alsstaatlicher Auftrag durch Art. 2 Abs. 3 Grundgesetz fest-geschrieben. Zentrale Aufgabe dabei ist der Abbau derLohndiskriminierung von Frauen. Aber von dem im Fort-schrittsbericht 2008 bekräftigten Ziel, den Verdienstab-stand bis 2010 auf 15 Prozent und bis 2015 auf 10 Pro-zent zu reduzieren, ist die Bundesregierung meilenweitentfernt. Konkrete Maßnahmen zum Erreichen diesesZiels werden im Fortschrittsbericht jedoch nicht ge-nannt. Selbst die EU-Kommission regt eine VerschärfungZu Protokollgesetzlicher Bestimmungen an, „die darauf abzielen,diskriminierende geschlechtsbezogene Elemente im Ent-geltsystem zu beseitigen“. Demgemäß muss sich die Bun-desergierung ihrer gesetzgeberischen Verantwortungbewusst werden. Maßnahmen, die diesem Ziel dienen,wären die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns,da der Anteil der Frauen im Niedriglohnsektor 70 Pro-zent beträgt, die Verbesserung individueller und kollekti-ver Klagemöglichkeiten, Stichwort Verbandsklagerecht,und die Verpflichtung der Tarifpartner zur diskriminie-rungsfreien Entgeltbewertung in TarifverträgenLassen Sie mich zum Schluss noch ein kurzes Fazit derArbeit des Parlamentarischen Beirats anschließen. Trotzder Erfolge unserer gemeinsamen Arbeit im Beirat bleibtnoch vieles zu tun, um die anstehenden Aufgaben zu be-wältigen und beispielsweise die Nachhaltigkeitsprüfungmit Leben zu füllen. Der Beirat ist dazu aufgrund seinerexperimentellen, meist konsensualen Arbeitsweise be-sonders geeignet, um neue Wege und Potenziale politi-schen Handelns über Parteigrenzen hinweg auszuloten.Daher unterstütze ich die Forderung, den Beirat unmit-telbar zu Beginn der nächsten Wahlperiode einzusetzen.
Als wir von Bündnis 90/Die Grünen vor zehn Jahrendie Nachhaltigkeitsstrategie parlamentarisch angesto-ßen haben, war uns wichtig, dass die drei Dimensionender Nachhaltigkeit – soziale Gerechtigkeit, ökologischeVerträglichkeit und Wirtschaftlichkeit – dynamisch mit-einander verbunden werden. Wesentliche Voraussetzungfür diesen Ansatz ist ein dynamisches Denk- und Ent-wicklungskonzept zur Nachhaltigkeit. Häufig wird aberdabei noch immer ein Element vergessen: die Teilhabeder Bevölkerung an den Diskussionen und Prozessen.Der öffentliche Konsultationsprozess ist ein maßgebli-cher Baustein der Nachhaltigkeitsstrategie. Deshalb hates mich sehr gefreut, zu erfahren, dass nun auch das In-nenministerium einen solchen Konsultationsprozess zumBürgerportalgesetz durchgeführt hat und diesen unein-geschränkt positiv beurteilt. Wir Grüne streiten dafür,eine solche Beteiligung der Bürger, schon in der Entste-hungsphase von Gesetzen, vermehrt zu nutzen. Wir sinddavon überzeugt: Echte Bürgerbeteiligung – nicht nurbei der Gesetzesentstehung – hilft gegen Politikverdros-senheit.In der Entwicklungsperspektive der Nachhaltigkeits-strategie muss das Nachhaltigkeitsmanagement nochweiter gestärkt werden. Die Vorlage von Berichten allerRessorts über ihre Anstrengungen im Bereich Nachhal-tigkeit beim Staatssekretärsausschuss für nachhaltigeEntwicklung ist nur ein erster Schritt. Die Ernsthaftig-keit, mit der dieses wichtige Instrument wahrgenommenwird, lässt sich bei einigen Ressorts noch dramatischsteigern. Die Qualität der Berichte variiert doch erheb-lich.Wenn wir aber Nachhaltigkeit als Querschnittsauf-gabe ernst nehmen, reicht es nicht, nur einige Projekte zuinitiieren und vorzustellen. Es gehört die gesamte Breitemöglicher Anstrengungen betrachtet! So bedarf es auchAnstrengungen im eigenen Haus: Welche Effizienzge-
Metadaten/Kopzeile:
25858 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25859
(C)
(D)
Sylvia Kotting-Uhlwinne und Ressourceneinsparungen sollen in den Minis-terien erreicht werden?Ein Beispiel ist der Papierverbrauch. Das BMU hat esgeschafft, innerhalb von vier Jahren die Kosten für Pa-pierbeschaffung fast zu halbieren. Nun werden jährlich30 000 Euro allein bei der Papierbeschaffung einge-spart. Würde diese Einsparung auf alle Ministerienhochgerechnet, kommen wir auf ein Potenzial von übereiner halben Million Euro. Das ist nur die finanzielleSeite. Dazu kommen noch Einsparungen in der CO2- undWasserbilanz. Hier zeigt sich, wie sehr Ökonomie undÖkologie zusammenpassen.Ebenfalls gehört zur ministeriellen Nachhaltigkeit dieFrage, wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ver-bessert wird und wie es in den Ministerien um die Gleich-berechtigung bestellt ist. Der Indikator im Fortschritts-bericht „Unterschied zwischen den durchschnittlichenBrutto-Stundenverdiensten der Frauen und der Männer“zeigt die Defizite. Hier hat sich übrigens seit 1995 nichtsgeändert: Frauen verdienen noch immer 20 Prozent we-niger als Männer. Dem Ziel, bis 2020 diesen Unterschiedzu halbieren, sind wir nicht näher gekommen.Auch in anderen Bereichen der Strategie haben wirStillstand. Schon am Fortschrittsbericht 2008 der Bun-desregierung zeigt sich, dass Deutschland in zentralenHandlungsfeldern mitnichten auf einem nachhaltigenWeg in die Zukunft ist. Bei Energie- und Rohstoffproduk-tivität, Verkehr, Luftreinhaltung, Flächenverbrauch, bio-logischer Vielfalt, Bildung und Gestaltung des demogra-fischen Wandels sind die Ziele ohne gravierendesUmsteuern nicht mehr erreichbar. So stellt der Rat fürNachhaltige Entwicklung, RNE, der Bundesregierung einschlechtes Zeugnis aus: Für wichtige Zielbereiche über-wiegen derzeit eindeutig die nicht nachhaltigen Trends,und die Nachhaltigkeitsstrategie kommt der Erreichungihrer Ziele quantitativ und qualitativ nicht ausreichendnäher.Die Gründe hierfür sind vielfältig: Für manche Hand-lungsfelder, zum Beispiel bei der Gestaltung des demo-grafischen Wandels, gibt es noch keine Strategie. In derLandwirtschaft werden mit der Streichung des Zieljahresfür den ökologischen Landbau die politischen Ziele ohneVoraussicht geändert. Beim Klimaschutz widersprichtdas politische Tagesgeschäft den Strategiezielen so fun-damental, dass nur ein Scheitern möglich ist. Besondersaugenfällig wird dies, wenn die in der Strategie festge-legten Ziele einfach aufgegeben werden.Sinn macht aber eine Strategie nur, wenn bei absehba-rer Nichterreichung der Ziele die Maßnahmen hinter-fragt und neue politische Initiativen gestartet werden, umzumindest die richtige Richtung einzuschlagen. Die Strei-chung von Zielen ist ein hilfloser Vertuschungsversuch,ein Wegrennen vor den Problemen. Dies ist keine nach-haltige Politik.Im Fortschrittsbericht wird deutlich, dass die Ent-wicklungen weiter hinter dem dringend Notwendigen zu-rückbleiben. Für die Zukunft muss nachhaltige Entwick-lung aber in alle Sektoren der Bundespolitik reichen. Nurwenn Nachhaltigkeit auch in den Ressorts in jede Abtei-lung hinein als gemeinsame Zukunftsaufgabe angenom-men wird, kann die Strategie ein Erfolg werden. MehrGrün könnte helfen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13236, in
Kenntnis der genannten Unterrichtung auf Drucksache
16/10700 eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mehrheit-
lich angenommen.
Tagesordnungspunkt 33:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christel
Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann,
Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der FDP
Effiziente und ökologische Energie- und Wert-
holzproduktion in Agroforstsystemen ermögli-
chen – Ökologische Vorteilswirkungen von
Agroforstsystemen erforschen
– Drucksachen 16/8409, 16/12516 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Hans-Heinrich Jordan
Dr. Gerhard Botz
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Cornelia Behm
Die Mehrheit der Deutschen wohnt und arbeitet in
ländlichen Regionen. Ländliche Räume sollten gerade
jungen Menschen und Familien Perspektiven bieten. Als
Standort für die Land- und Ernährungswirtschaft ist der
ländliche Raum der Garant für die sichere und hochwer-
tige Versorgung der Verbraucher mit Lebensmitteln und
nachwachsenden Rohstoffen sowie für den Erhalt unse-
rer vielgestaltigen Kultur- und Erholungslandschaft. Die
Union hat sich immer für die Förderung der ländlichen
Räume und im Besonderen für den Ausbau der Wert-
schöpfungspotenziale im ländlichen Raum starkgemacht.
Der Produktion von Biomasse ist in den letzen Jahren in
diesem Zusammenhang eine besondere Stellung zuge-
kommen.
Bei all der Euphorie um diesen neuen Strang der land-
wirtschaftlichen Produktion: Die Lebensmittelproduk-
tion und die Erzeugung von Biomasse zur energetischen
Nutzung unterliegen immer einem Konkurrenzverhältnis.
In den zurückliegenden Jahren hat das BMELV mit ver-
schiedenen Aktionsprogrammen wie „Energie für mor-
gen – Chancen für ländliche Räume“ oder dem Nationa-
len Biomasseaktionsplan sowie mit der Einführung des
ersten Zertifizierungssystems für nachhaltig erzeugte
(C)
(D)
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Biomasse Meilensteine für die Erforschung der Biomasse-
potenziale gesetzt.
Die Erzeugung von Energie aus Biomasse expandiert
derzeit in Deutschland und in vielen anderen Regionen
der Welt mit großer Geschwindigkeit. Das starke Wachs-
tum hat im Wesentlichen zwei Ursachen: zum einen die
hohen Preise für fossile Energieträger und zum anderen
die Politik im Zusammenhang mit dem Klimaschutz.
Ohne diese Förderung hätte sich die Bioenergie auf
landwirtschaftlichen Flächen in Deutschland kaum aus-
dehnen können, sondern würde sich – wie seit Jahrzehn-
ten schon – im Wesentlichen auf die Nutzung von Holz
beschränken. Das ist unter anderem ein Verdienst dieser
Bundesregierung.
Die kräftige Förderung hat in Deutschland dazu ge-
führt, dass die Biomasseproduktion auf Agrarflächen aus
der Nische herausgetreten ist. Inzwischen werden auf
mehr als 10 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche
nachwachsende Rohstoffe angebaut. Diese Bundesregie-
rung hat für die Zukunft weitere ehrgeizige Expansions-
ziele formuliert.
Grundsätzlich ist die Ergänzung der fossilen mit rege-
nerativen Energieträgern absolut begrüßenswert. Stei-
gende Preise für fossile Energieträger werden dazu füh-
ren, dass sich die Weltwirtschaft entsprechend umstellt.
Im Bereich der fossilen Energieträger werden die abneh-
menden vorhandenen Reserven und Ressourcen bei
Erdöl weiter für eine Preissteigerung sorgen. Bei Erdgas
und vor allem bei Steinkohle sind jedoch noch wesentlich
länger nutzbare Potenziale vorhanden. In der Summe al-
ler fossilen Energieträger beträgt die Reichweite der La-
gerstätten noch mehrere hundert Jahresverbräuche. Da
aber die Nutzung der fossilen Energieträger die weitaus
wichtigste Quelle der Treibhausgasemissionen darstellt,
wäre es aus klimapolitischer Sicht nicht wünschenswert,
die noch vorhandenen fossilen Energieträger weitgehend
oder gar vollständig zu nutzen.
Der schrittweise Umbau der Energieversorgung auf
regenerative Energien ist grundsätzlich erweiterbar. Die
Herausforderung besteht darin, sich einen nachhaltigen
Zugang zu dieser Energie zu erschließen. Es ist zu erwar-
ten, dass innerhalb der regenerativen Energien langfris-
tig die Solarenergie, die Windenergie und möglicher-
weise auch die Geothermie eine wachsende Rolle
erlangen werden.
Die Potenziale auch der Bioenergie im Hinblick auf
die deutsche und globale Energieversorgung sollten
nicht unterschätzt werden. Derzeit liefert die Bioenergie
weltweit circa 10 Prozent des Primärenergieverbrauchs.
In Deutschland liegt der Anteil bei circa 3 Prozent, wo-
von rund zwei Drittel auf die Wärmeerzeugung aus Holz
entfallen. Um den Anteil der Bioenergie an der weltwei-
ten Energieversorgung von 10 auf 20 Prozent aufzusto-
cken, müssten bei einem durchschnittlichen Ertrag von
3 Tonnen Kraftstoffäquivalent pro Hektar circa 500 Mil-
lionen Hektar Ackerfläche zusätzlich für diesen Zweck
nutzbar gemacht werden. Das wäre eine immense He-
rausforderung, denn die gesamte Ackerfläche der Welt
umfasst derzeit nur circa 1,5 Milliarden Hektar.
Zu Protokoll
Zu berücksichtigen ist hierbei auch, dass die kaufkräf-
tige Nachfrage nach Nahrungsmitteln gestiegen ist und
in den kommenden Jahren weiterhin steigen wird, insbe-
sondere nach Nahrungsmitteln tierischer Herkunft. Wenn
der Verbrauch an Futter- und Nahrungsmitteln stärker
steigt als der durchschnittliche Flächenertrag, werden
sich die Agrarpreise selbst dann erhöhen, wenn keine zu-
sätzlichen Nachfrageimpulse aus dem Bioenergiebereich
kommen. Dieser Preisanstieg führt zu einem zusätzlichen
Einsatz von Ackerflächen für die Nahrungsmittelproduk-
tion, sodass sich das weltweit verfügbare Flächenpoten-
zial für die Bioenergie dann entsprechend verringern
würde. Insofern haben Potenzialabschätzungen immer
nur eine begrenzte Aussagekraft.
Aufgrund der Fragen, die sich aus dieser neuen Nut-
zungsform der landwirtschaftlichen Flächen ergeben,
hat die Bundesregierung bereits 2005 mehrere For-
schungsprojekte initiiert. Zudem wurden mit den Verän-
derungen in der Ressortforschung des BMELV die Vo-
raussetzungen für eine kontinuierliche wissenschaftlich
fundierte Beratungs- und Begleitforschung geschaffen.
Der vorliegende Antrag stellt eine ganze Reihe von in-
teressanten Zusammenhängen dar. Das Ziel von CDU/
CSU bleibt es aber, das bestehende und bewährte Bundes-
waldgesetz im Rahmen eines Artikelgesetzes zu ändern.
Nur in wenigen Punkten besteht der Bedarf für Klarstel-
lungen. Diese müssen jedoch aufeinander abgestimmt
sein. Näheres sollte dann in den Landeswaldgesetzen gere-
gelt werden. Hinzu kommt, dass die Erforschung der ener-
getischen Potenziale von Agroforstsystemen, losgelöst
von deren Verankerung im Bundeswaldgesetz, schon jetzt
durch die Ressortforschung und durch die Förderung von
Forschungsprojekten wirkungsvoll betrieben wird.
Insgesamt ist unter Gewichtung der im Antrag der
FDP geforderten Aufgaben festzustellen, dass die Bun-
desregierung schon jetzt eine Vielzahl von Maßnahmen
auf den Weg gebracht hat, die eine umfassende Berück-
sichtigung der Forschungsinhalte und der Förderung
von Agroforstsystemen beinhaltet. Mit den notwendigen
Änderungen zum Bundeswaldgesetz sind die Klarstellun-
gen der Begrifflichkeiten zu Agroforstsystemen und die
Einordnung zum Bundeswaldgesetz auf den Weg ge-
bracht. Hieraus leitet sich ab, dass seitens der CDU/
CSU-Fraktion der vorliegende Antrag abgelehnt wird.
Es stimmt mich traurig – so muss ich leider begin-nen –, es stimmt mich mehr als traurig, liebe Kollegenvon der FDP, wenn ich Ihren Antrag lese und immer nochsehen muss, dass Sie Kurzumtriebsplantagen, KUP, undAgroforstsysteme, ohne mit der Wimper zu zucken, in ei-nem inhaltlich geschlossenem Zusammenhang bringen.Nach all den Berichten, Anhörungen, Ausschussreisenund Debatten schmerzt es mich fast, wenn Sie die wun-derbaren Vorteile der Agroforstsysteme von Ökologie,Ökonomie bis Erosionsschutz aufzählen und mit demBeispiel einer 10 000 Hektar großen schwedischen Kurz-umtriebsplantage belegen möchten. Dann weiß ich, Siehaben es immer noch nicht verstanden. Agroforstsystemein ihren vielfältigen Ausprägungen, sei es als Streuobst,
Metadaten/Kopzeile:
25860 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Gerhard Botzals Strauchobst, als Wert- oder Edelholzüberbauung, alsEnergieholz- und Windschutzstreifen, bieten bessere Bo-dendurchlüftung, Erosionsschutz, tragen zur Humusbil-dung bei, fördern den Arten- und Strukturreichtum, wir-ken sich positiv aufs Kleinklima aus, halten das Wasser inder Landschaft, können positive Symbiosen zwischenNutzpflanzen erschließen – kurz: bringen zusätzlicheökonomische Erträge bei verbesserter Ökologie.Dies wird im Übrigen seit mehreren Jahren, nicht nuraußerhalb von Deutschland, erforscht, wie Sie, meineDamen und Herren von der FDP, meinen. Auf den Inter-netseiten der Freiburger Universität können sie gerne dieForschungsberichte der letzten Jahre zum Thema Agro-forst nachlesen – ein Projekt, dass im Übrigen vom Bun-desministerium für Bildung- und Forschung gefördertwird, nicht vom BMELV. Aber auch im Bereich des Bun-desministeriums für Landwirtschaft hat sich hier einigesgetan. So wurden sinnvollerweise im Bereich des von-Thünen-Instituts explizit Stellen für die Erforschung vonAgroforstsystemen geschaffen. Sagen Sie nicht, es wirdnichts getan in diesem Forschungsbereich, aber wenn Siemeinen, dass hier immer noch nicht genug getan wird,denke ich, ja, wir könnten noch dringend weitere For-schungsprojekte und vor allem auch Pilotprojekte in die-sem Bereich der Feldforschung gebrauchen. Gerade dieLangzeitwirkungen und die verschiedensten Ausprä-gungsformen von Agroforsten in den unterschiedlichenRegionen sowie eine Aufarbeitung von historischen For-men und Wissen zu diesem Thema könnten verloren ge-glaubtes Wissen wieder zutage bringen und unsereKenntnisse in diesem Bereich erweitern.Agroforstsysteme erbringen auf dem Feld nicht nurdie Ernte einer Fruchtart oder einer Fruchtfolge, son-dern erweitern den Feldfruchtanbau durch Gehölze aufder ansonsten agrarisch genutzten Fläche. Kurzum-triebsplantagen sind Agrarflächen mit reinem Nutz- oderEnergieholzbestand. Bitte, meine sehr verehrten Damenund Herren von der FDP, tun Sie sich und uns den Gefal-len, und werfen Sie diese beiden Nutzungsformen niewieder in eine ökologische oder ökonomische „Schub-lade“. Die KUP sind natürlich keine Bereicherung fürdie biologische Vielfalt. Wenn Sie die eine oder andereFachtagung hierzu besucht hätten, ja – auch hier wirdbereits entgegen Ihren Behauptungen geforscht – dannwüssten Sie das. Die Kurzumtriebsplantagen sindschlicht Monokulturen, meistens nichtheimische, schnell-wachsende Baumhybriden – ausgezeichnet für die Holz-,Holzschnitzelgewinnung. Sie sind naturschutzfachlich,artenfachlich und ökologisch sehr fragwürdig, aber fürdie alternative und vor allem regenerative Energiegewin-nung in Zeiten des Klimawandels eine echte Alternative.Vielleicht sollten Sie sich doch die Zeit nehmen, werteKollegen von der FDP, und in der kommenden Legislaturauch entgegen Ihrer persönlichen Auffassung ab und anmal mit Umwelt- und Naturschutzverbänden kommuni-zieren.Wir wissen auch alle, dass die Bundeswaldgesetzesno-velle lediglich an einem Punkt und an falsch verstande-nem Lobbyismus gescheitert ist. Doch in den heutigenZeiten, wo Klimawandel und damit unabsehbare Auswir-kungen auch auf den Wald zukommen, müssen wir ganz-Zu Protokollheitlich an die anstehenden Fragen herangehen. Wirmüssen nicht nur Sorge tragen für die verschiedenenNutzungsmöglichkeiten, sondern den Wald auch für diekommenden Generationen pflegen und bewahren. Diesist ebenfalls unsere Verantwortung als Parlamentarier.Es gibt in der Geschichte Europas und in der heutigenZeit weltweit genügend Beispiele für Raubbau und zer-störerische Übernutzung der Wälder. Solange es mit demderzeitigen Koalitionspartner nicht möglich ist, eine gutegesetzliche Regelung für den Wald zu finden, sollten hierkeine faulen Kompromisse geschlossen werden. Wir alsSPD-Bundestagsfraktion werden auch in der nächstenRegierung darauf drängen, ein Bundeswaldgesetz zu for-mulieren, das der guten fachlichen Praxis den Stellen-wert einräumt, den sie zwingend braucht. Es bleibt vielzu tun.
Die Bundesregierung hat im Bereich der Stärkung derEnergie- und Wertholzproduktion in Deutschland Chan-cen vertan. Sie hat es nicht geschafft, sich auf eine Ände-rung des Bundeswaldgesetzes zu einigen, obwohl die zurrechtlichen Absicherung des Betriebs von Agroforstsys-temen notwendige Neudefinition des Begriffes „Wald“ inRegierungskoalition und Opposition völlig unstrittig ist.In sechs Landesgesetzen ist bereits eine Abgrenzung vonAgroforstsystemen und Wald erfolgt, doch dies reichtnicht aus.CDU, CSU und SPD haben den Land- und Forstwir-ten versprochen: „Große Koalition gleich große Lösun-gen.“ Leider wird aber auch hier wieder deutlich, dassder koalitionsinterne Streit selbst dringend notwendigeVerbesserungen verhindert, die fachlich völlig unstreitigsind. Die Forstpolitik der Bundesregierung ist eine bit-tere Enttäuschung für die heimischen Waldbesitzer undLandwirte. Die Potenziale von Agroforstsystemen undKurzumtriebsplantagen für mehr Umwelt- und Klima-schutz werden von der Bundesregierung leichtfertig ver-tan.Für die Regierungskoalition war offensichtlich dieSchaffung von Rechtssicherheit für die in Deutschlandbetriebenen Pilotprojekte zum Betrieb von Agroforstsys-temen nur von nachrangiger Bedeutung, obwohl derenökologische Vorteile für die Produktion von Biomassevöllig unbestritten sind.Holz ist der wichtigste nachwachsende Rohstoff inDeutschland. Die potenzielle Vegetation in Deutschlandist Wald. Jede Nachhaltigkeitsstrategie braucht die roh-stoffliche und energetische Nutzung von Holz und damitseine Produktion in Wäldern oder auch Kurzumtriebs-plantagen.Wir wollen in der Europäischen Union einen Anteilvon 20 Prozent erneuerbarer Energien am Primär-energieverbrauch erreichen. Deutschland hat weiterhinals verbindliches Ziel eine Minderung der Treibhausgas-emissionen um 40 Prozent festgelegt. Beides sind wich-tige Ziele im Sinne des Klimaschutzes. Gleichzeitig wirddamit ein erster Schritt auf dem Weg „weg von den fossi-len Energieträgern“ getan. Aber beim Erreichen dieser
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25861
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Christel Happach-KasanZiele müssen wir darauf achten, dass die Energiepreisebezahlbar bleiben. Die Kosten für das Energieeinspeise-gesetz, EEG, werden allein von den Stromkunden ge-tragen. Gegen die gesetzlich festgelegten Preise für er-neuerbare Energien können sie sich nicht wehren. Dasbedeutet, dass der Gesetzgeber, der Deutsche Bundestag,erhebliche Verantwortung dafür trägt, die gesetzlichenRahmenbedingungen so zu gestalten, dass die beschlos-senen Ziele bei möglichst niedrigen Kosten für die Ver-braucherinnen und Verbraucher erreicht werden.Im vergangenen Jahr hatten die erneuerbaren Ener-gien laut BMU einen Anteil von 7,1 Prozent am gesamtenPrimärenergieverbrauch. Vom 20-Prozent-Ziel sind wirsomit noch weit entfernt. Allein für den Strom aus erneu-erbaren Energien zahlen die Stromkunden an zusätzli-chen Kosten bereits etwa 4 Milliarden Euro pro Jahr. Daszeigt, welch große Verantwortung wir haben, die Preisenicht weiter in die Höhe zu treiben.Wichtigster Energieträger bei den erneuerbaren Ener-gien ist die Biomasse. Die energetische Nutzung der Bio-masse hat in Deutschland einen Anteil an den erneuerba-ren Energien von knapp 75 Prozent. Die Windräder sindauffällig, die Biomasse leistet die Arbeit.Bei der Biomasse ist Holz der wichtigste Energieträ-ger. Seine Produktion ist wesentlich naturnäher als derAnbau von Mais, der zweiten für die Biomasseproduktionwichtigen Kulturpflanze. Auf 2 Millionen Hektar Flächewurde im vergangenen Jahr Mais angebaut, davon zwi-schen 20 und 25 Prozent für die energetische Verwer-tung. In Landkreisen mit starker Veredelung wird oftmalsMais auf Mais angebaut, die Einhaltung einer Frucht-folge ist dort kaum möglich. Dadurch entstehen beson-dere Probleme mit Schadinsekten. 2006 verursachte derMaiszünsler zusätzliche Kosten in Höhe von 11 MillionenEuro. Der Anbau von Bt-Mais wäre eine naturverträgli-che Lösung. Angesichts der Tatsache, dass in den Rhein-auen im Sommer zur Bekämpfung von Mücken völlig un-gezielt mehrere Tonnen des Bt-Wirkstoffs versprühtwerden, ist das politisch verordnete Verbot des Anbausvon Bt-Mais völlig unverständlich.Das schon Ende 2007 veröffentlichte Gutachten desWissenschaftlichen Beirats beim Ministerium für Ernäh-rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz „Nutzungvon Biomasse zur Energiegewinnung – Empfehlungen andie Politik“ vergleicht die verschiedenen Biomasseträgerund deren unterschiedliche Nutzung. Dabei wird deut-lich, die höchsten CO2-Vermeidungskosten mit etwa400 Euro pro Tonne CO2-Äquivalent fallen bei der Ver-stromung von Energiemais an, die geringsten bei derNutzung von Holzhackschnitzeln aus Kurzumtriebsplan-tagen in KWK-Anlagen. Die Flächeneffizienz ist bei derNutzung von Holzhackschnitzeln oder -pellets doppelt sohoch wie bei der Verstromung von Energiemais.Die Ergebnisse des Gutachtens müssen bei der nächs-ten Novellierung des EEG berücksichtigt werden. Werdas gesetzte Ziel, 20 Prozent erneuerbare Energien bis2020, erreichen will, muss konsequent auf naturverträg-liche und kostengünstige Techniken setzen. Die FDPsteht zum EEG. Dies wurde auf dem FDP-Programmpar-teitag im Mai nach engagierter Diskussion beschlossen.Zu ProtokollJetzt wollen wir es zu einem wirksamen Instrument aus-bauen und seine nicht zu übersehenden Nachteile ab-schaffen.Kurzumtriebsplantagen als eine Form von Agroforst-systemen eröffnen in Deutschland gute Chancen zurCO2-Reduzierung zu vertretbaren Kosten. Dafür mussvermehrt in die Weiterentwicklung von Anbau- und Ern-tetechnik investiert, die Züchtung von geeigneten, stand-ortangepassten Baumsorten vorangetrieben werden. An-dere Länder sind deutlich weiter.Agroforstsysteme bzw. Kurzumtriebsplantagen sindnicht wirklich etwas Neues. In Europa waren sie überJahrhunderte ein integraler Bestandteil der Agrarland-schaft. Beispiele für historische Agroforstsysteme sinddie Knicklandschaft in Schleswig-Holstein, Streuobst-wiesen, Waldweidewirtschaften, Niederwälder in Berg-bauregionen und der Korkeichenanbau in Portugal. InSchleswig-Holstein gibt es derzeit erste Bestrebungen diehistorisch geprägte Knicklandschaft für die Energieholz-gewinnung zu nutzen. Auf dem Gut Rixdorf bei Plön wer-den in einer 500 Kilowatt-Anlage die jährlich in den rund80 Kilometer Wallhecken des Betriebs anfallendenKnickhölzer zu Hackschnitzeln verarbeitet. Zusammenmit einer 68 ha großen Weiden-Kurzumtriebsplantagereichen die Erträge für die Wärmegewinnung von52 Wohneinheiten auf dem Gutshof aus. Außerdem wirdin der Anlage die gesamte Getreideernte des etwa600 Hektar großen Betriebs getrocknet. Allein durch dieGetreidetrocknung werden auf dem Gut zu Spitzenzeitentäglich an die 2 000 Liter Heizöl eingespart. Dieses Bei-spiel ist ein Schritt in die richtige Richtung. Es sollteSchule machen! In anderen europäischen Ländern gibtes eine Vielzahl von Pilotprojekten zur energetischenHolznutzung. In Deutschland sind es bislang weniger als 20.Wir hinken deutlich hinterher, auch hinsichtlich der Er-forschung des ökologischen Nutzens der Agroforstsys-teme.Die FDP-Bundestagsfraktion wird in der kommendenLegislaturperiode mit Nachdruck die Änderung des Bun-deswaldgesetzes vorantreiben, damit Agroforstsystemekünftig auch in Deutschland in größerem Umfang ge-nutzt werden können.
Die Linke will einen beschleunigten Ausstieg aus dergefährlichen Atomenergie. Auch die Verstromung vonKohle muss zum Schutz des Klimas schnellstmöglich be-endet werden. Dann stellt sich die Frage: Woher solldenn unsere Energie kommen, wie Versorgungssicherungaussehen?Dazu schlägt die Linke einen dezentral erzeugten Mixerneuerbarer Energien vor. Ein nicht unwesentlicher Teildavon kann aus einer nachhaltig produzierten, regionalerzeugten und genutzten Biomasse kommen. Dabei mussdiese Energie nicht nur vom Acker aus Mais- oder Raps-monokulturen stammen. Im Gegenteil, Bäume sind zumBeispiel eine sehr gute Alternative.Kurzumtriebsplantagen, kurz KUP, bieten eine Mög-lichkeit, auf landwirtschaftlichen Flächen innerhalb von
Metadaten/Kopzeile:
25862 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Kirsten Tackmanndrei bis fünf Jahren Holz-Biomasse zur Energiegewin-nung zu erzeugen. Dabei werden vor allem schnell wach-sende Baumarten, wie zum Beispiel Pappeln, verwendet.Eine solche Anlage bietet einige Vorteile: Der Bodenwird nicht so oft gestört, zum Beispiel durch das Pflügen,wie bei einem Acker. Er ist auch im Winter besser ge-schützt, da im Gegensatz zu den meisten Äckern die KUPja auch zur kalten Jahreszeit mit Pflanzen bedeckt ist.Dadurch kann die Winderosion, bei welcher wertvollerBoden verweht würde, verringert werden.Aber KUP bieten nicht nur Vorteile. Natürlich könnenauch hierbei strukturlose Monokulturen entstehen, wel-che – ähnlich wie beim Mais – Artenarmut und Schäd-lingsbefall zur Folge haben können. Für die Linke gehörtdeshalb zu einer sinnvollen energetischen Nutzung vonKUP ihre harmonische und standortangepasste Einbet-tung in die Landschaft. Im Hinblick auf die ökologischenLeistungen von KUP sollten keine großflächigen Mono-kulturen entstehen.Die bereits von einem großen Energiekonzern ange-kündigten 20 000 Hektar KUP sind durchaus zu begrü-ßen, wenn sie zur Sicherung sozialer und ökologischerEffekte regional verteilt werden und die erzeugte Bio-masse regional verarbeitet wird. Ob dies ein großerEnergiekonzern, der vor allem auf zentrale Großkraft-werke fixiert ist und allein ökonomische Interessen hat,schafft, kann zumindest bezweifelt werden. Die Linkewird das deshalb kritisch begleiten.Doch für uns ist Agroforst mehr als nur KUP. Agro-forstwirtschaft sind viele Landnutzungsformen, bei wel-chen Bäume oder Sträucher auf landwirtschaftlicherNutzfläche angebaut werden. Räumliche Mischung vonAcker- und Holzkulturen oder verschiedene zeitliche Ab-folgen können dabei ökologisch und für das Landschafts-bild sehr sinnvoll kombiniert werden. Das sind im Ver-gleich zu KUP die ökologisch sogar interessanterenAnwendungen, vor allem in touristischen Gebieten. Wei-tere Agroforstsysteme sind zum Beispiel Streuobstwiesenzur Obstproduktion, Wertholzplantagen auf dem Getrei-deacker oder Hudewälder zur Weidehaltung.Trotz all dieser aufgezeigten Vorteile kommt die Agro-forstwirtschaft in unserem Land und in Europa insgesamtnicht voran. In Frankreich haben wir uns bei einer Aus-schussreise interessante Ansätze angesehen, bei denenaber offen ist, ob sie über das Projektstadium hinaus-kommen werden. In England sind solche interessantenAnsätze ins Stocken geraten. Was steht im Wege und ver-hindert diese ökologisch sinnvollen Überlegungen fürdie Energiewirtschaft? Das sind erstens die schwarz-rosa Koalition, zweitens das nicht novellierte Bundes-waldgesetz und drittens die in Europa circa 100 Jahrealte Überzeugung, Land- und Forstwirtschaft müsse im-mer räumlich getrennt betrieben werden.Das erste Problem wird sich vielleicht nach der Bun-destagswahl ändern – ob es besser wird, bleibt abzuwar-ten.Zur Lösung des zweiten Problems hat die Linke denAntrag 16/9075 eingebracht. Darin haben wir die Bun-desregierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf zur Än-Zu Protokollderung des Bundeswaldgesetzes vorzulegen. Unser Zielwar eine Erleichterung der Anlage von Agroforstsyste-men durch eine klare Abgrenzung der Begriffe „Agro-forstsystem“ und „Wald“. Durch diese rechtlicheKlarstellung würde erreicht werden, dass angelegteAgroforstsysteme nicht als Wald im Sinne des Bundes-waldgesetzes gelten. Auch hier haben weder die Bundes-regierung noch die Koalitionsfraktionen gehandelt – wieso oft!Das dritte Problem ist das schwierigste. Die gedankli-che Schranke zwischen Land- und Forstwirtschaft musswieder aufgebrochen werden. Das geht einerseits durchmehr Forschungs- und entsprechende Öffentlichkeitsar-beit und andererseits vor allem durch Best-Practice-Bei-spiele in vielen Regionen. Daher ist die Anlage von Agro-forstsystemen gezielt zu fördern.Die Linke unterstützt die meisten der von der FDP imAntrag aufgeführten Forderungen. Sowohl die Änderungdes Bundeswaldgesetzes und die Forderung nach mehrForschung im Agroforstbereich als auch die Entwicklungvon agrartechnischen Konzepten zur Anlage von Agro-forstsystemen finden unsere Zustimmung. Allerdingswerden wir uns nur enthalten können; denn der Antragenthält auch Forderungen, welche für die Linke nicht ak-zeptabel sind. Dazu gehört, Agroforst als Klimaschutz-senke oder als Ausgleichs- und Ersatzmaßnahme anzu-rechnen.Die nächste Bundesregierung muss möglichst schnelleine Änderung des Bundeswaldgesetzes voranbringen.Die Linke wird dazu und zu weiteren Aspekten im Bereichder energetischen Nutzung von Holz bzw. im Bereich derAnlage von Agroforstsystemen ihre Vorschläge in denBundestag einbringen.
Holz ist wertvoll geworden. Denn die Nachfrage da-nach als nachwachsendem Rohstoff ist in den vergange-nen Jahren stetig gestiegen. Obwohl Deutschland zu ei-nem knappen Drittel bewaldet ist, lässt sich der Bedarfinsbesondere für die energetische Nutzung nicht alleinaus heimischen Vorräten decken. Wenn man darüber hi-naus, wie wir Bündnisgrüne, dem forstwirtschaftlichenHolzeinschlag klare ökologische und naturschützendeGrenzen setzen will, um den Wald in seiner ökologischenund Erholungsfunktion nicht zu gefährden und für diekommenden Generationen zu erhalten, müssen wir Ge-hölze auch auf Ackerflächen in Form von Agroforstsyste-men anbauen. Denn Agroforstsysteme haben neben derBereitstellung von Energie- und Nutzholz zahlreichepositive Effekte auch für den Ackerbau selbst. Zu nennenwäre hier beispielsweise der Erosionsschutz für denBoden und das Spenden von Schatten und Windschutz fürdie Pflanzen. Gleichzeitig können Agroforstsysteme neueHabitate für Tier- und Pflanzenwelt schaffen und durchdiesen Beitrag zum Erhalt der Artenvielfalt zur Ökologi-sierung der Landwirtschaft beitragen.Der Antrag der FDP geht deshalb in die richtige Rich-tung und hält fest, was wir bereits in unserem Antrag zurFörderung der Agroforstwirtschaft im Herbst 2006 ähn-lich lautend in den parlamentarischen Beratungsprozesseingebracht hatten. Hervorheben möchte ich in diesemZusammenhang noch einmal die Forderungen, Agro-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25863
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
25864 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Cornelia Behmforstsysteme von den Vorgaben des Bundeswaldgesetzesauszunehmen, damit sie weiterhin als Ackerland behan-delt werden können, sowie nach Förderung und Aus-wertung von Modellprojekten unterschiedlicher Agro-forstsysteme in Bezug auf ihren wirtschaftlichen undökologischen Effekt.Bei der Forderung nach einer Förderung über denEuropäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklungdes ländlichen Raums, ELER, möchte ich präzisieren,dass der EU-Fonds bereits die Förderung von Agroforst-systemen erlaubt und die Länder diesen in Anspruch neh-men können. Was fehlt, sind zusätzliche Bundesmittel fürdiesen Bereich. Deshalb setzen wir uns für eine Auf-nahme der Anlage von Agroforstsystemen in den Maß-nahmenkatalog der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesse-rung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes, GAK,ein.Seit geraumer Zeit beobachte ich eine fraktionsüber-greifende Zustimmung im Deutschen Bundestag zur Ein-führung und zur Förderung von Agroforstsystemen.Umso weniger ist es zu verstehen, dass Union und SPDes bis heute nicht geschafft haben, die dafür notwendigengesetzlichen Weichen, insbesondere die Abgrenzung vonAgroforstsystemen von Wäldern im Bundeswaldgesetz,zu stellen. Über die Fachagentur Nachwachsende Roh-stoffe ist zwar die Forschung im kleinen Maßstab ange-laufen, ein Kompetenzzentrum für diesen Bereich fehlt je-doch. Die Regierungskoalition hat die Nachfrage nachHolz angekurbelt, und die Länder haben regional Über-kapazitäten für die energetische Holznutzung geschaffen,ohne zugleich für einen entsprechenden nachhaltigen Zu-wachs bei der Holzproduktion zu sorgen. Leidtragendedieser Politik sind die Wälder, denen Übernutzung undKahlschlag droht. Die lang angekündigte und bereits imKoalitionsvertrag versprochene Novelle des Bundes-waldgesetzes hätte vor der Wahl noch beschlossen wer-den können, wenn sie nicht von der Union auf dem Wahl-kampfaltar geopfert worden wäre – ein weiterer Punktdes Versagens der Großen Koalition.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er-
nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/12516, den Antrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/8409 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mehrheitlich ange-
nommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu-
nität und Geschäftsordnung
Änderungen der Geschäftsordnung des Deut-
schen Bundestages
hier:
a) Nachträglicher Ausschluss von Mitgliedern
b) Reden zu Protokoll
c) Sprachliche Beratung bei der Formulie-
rung von Gesetzestexten
– Drucksache 16/13492 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Dr. Ole Schröder
Christine Lambrecht
Dr. Carl-Christian Dressel
Jörg van Essen
Dr. Dagmar Enkelmann
Silke Stokar von Neuforn
Die Geschäftsordnung eines Parlamentes, so auch un-
sere Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, ist
von der Bedeutung her mehr, als es der Begriff „Ge-
schäftsordnung“ eigentlich zum Ausdruck bringt. Sie re-
gelt beispielsweise nicht nur reine Verfahrensfragen,
sondern sie regelt letztendlich auch Machtfragen, Min-
derheitenrechte und ist zudem Abbild der Geschichte, un-
serer zwischenzeitlich langjährigen parlamentarischen
Tradition.
Im Bewusstsein um diese Bedeutung unserer Ge-
schäftsordnung möchte ich den ausdrücklichen Dank an
alle Mitglieder des Geschäftsordnungsausschusses zum
Ausdruck bringen, da die Diskussionen um Geschäfts-
ordnungsänderungen fraktionsübergreifend vom Ziel
einvernehmlicher Lösungen geprägt sind. Eine solche
einvernehmliche sinnvolle Ergänzung wird bezüglich ei-
ner besseren und verständlicheren Gesetzessprache
heute vorgeschlagen. Zu dieser Änderung wird Kollege
Dr. Ole Schröder noch nähere Ausführungen machen,
dem ich an dieser Stelle ausdrücklich für sein Engage-
ment für dieses Anliegen danke.
Eine weitere Änderung, die zudem auch nicht einver-
nehmlich getroffen werden konnte, hätten wir uns seitens
der Union gerne erspart. Es sind dies die Erweiterungen
von Ordnungsmaßnahmen, um erhebliche Störungen der
parlamentarischen Ordnung während der Plenarsitzun-
gen praxisgerechter zu sanktionieren. Es ist ausschließ-
lich eine einzige Fraktion, die immer und immer wieder
durch ihr Verhalten deutlich macht, nämlich die Linke,
dass sie nach wie vor ein sehr gespaltenes Verhältnis zum
Parlamentarismus hat.
Vertreter der Fraktion Die Linke haben seit Anfang
2006 wiederholt die parlamentarische Ordnung in die-
sem Hause erheblich gestört. Sie haben unter anderem
während der Debatten Transparente entrollt, Fahnen
hochgehalten, politische Symbole getragen und während
der Sitzung Masken aufgesetzt. Gerade die letzten Aktio-
nen haben gezeigt, dass es sich um vorbereitete Aktionen
sogar unter Einbeziehung der parlamentarischen Ge-
schäftsführung gehandelt hat.
Es ist unerträglich und beschämend, dass man nicht in
der Lage oder auch nicht willens ist, auf solche Störer in
den eigenen Reihen einzuwirken. Nein – man nimmt den
Ansehensverlust des Bundestages in Kauf, man ignoriert
die zahlreichen Mahnungen und Appelle des Bundestags-
präsidenten und des ganzen Ältestenrates. Wes Geistes
(C)
(D)
Bernhard Kaster
Kind diese Störer sind, zeigt sich im Fall des Abgeordne-
ten der Linken, Wolfgang Gehrcke, der in der laut Verfas-
sungsschutzbericht 2009 traditionskommunistischen Zei-
tung „Junge Welt“ sich sogar damit brüstet, als Störer im
Bundestag ein Wiederholungstäter zu sein.
Nach einem Urteil des OVG Münster vom 13. Februar
2009 verfolgt die Linke Bestrebungen – hier zitiere ich
das Gericht –, „die darauf gerichtet sind, die im Grund-
gesetz konkretisierten Menschenrechte, das Recht auf
Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposi-
tion, die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verant-
wortlichkeit gegenüber der Volksvertretung sowie das
Recht des Volkes, die Volksvertretung in allgemeiner und
gleicher Wahl zu wählen, zu beseitigen oder außer Gel-
tung zu setzen“.
Nach intensiven Diskussionen hat die Mehrheit des
Geschäftsordnungsausschusses für die vorliegende
Beschlussempfehlung gestimmt. Bei einer gröblichen
Verletzung der Ordnung kann zukünftig ein Sitzungsaus-
schluss noch in der nächsten Plenarsitzung ausgespro-
chen werden. Nach den jüngsten Erfahrungen besteht die
Möglichkeit, dass der genaue Sachverhalt nicht sofort er-
fasst oder der Störer nicht sofort identifiziert werden
kann. Sanktionen müssen deshalb auch zu einem späte-
ren Zeitpunkt noch möglich sein. Um seines eigenen An-
sehens willen muss der Bundestag in die Lage versetzt
werden, bei erheblichen Störungen der parlamentari-
schen Ordnung sachgerecht zu reagieren. Unparlamen-
tarische Aktivitäten schaden der Reputation des Bundes-
tages; dies dürfen wir in keinem Falle hinnehmen.
Eine weitere Änderung betrifft Verfahrensfragen bei
der Abgabe der Plenarreden zu Protokoll. Es ist richtig,
dass hier ein seit Ende 2007 positiv erprobtes Verfahren
auch Niederschlag in der Geschäftsordnung findet.
Nicht nur als Abgeordnete, sondern auch als Bürgererleben wir täglich, wie kompliziert Gesetze und Verord-nungen geschrieben sind. Alle, die Rechtsvorschriftenanwenden, leiden unter schwer verständlichen Gesetzes-texten. Bei Formulierungen wie beispielsweise in § 60Abs. 2 Sozialgesetzbuch II wundert dies nicht. Ich zitiere:„Wer jemandem, der eine Leistung nach diesem Buch be-antragt hat oder bezieht, zu Leistungen verpflichtet ist,die geeignet sind, Leistungen nach diesem Buch auszu-schließen oder zu mindern, oder wer für ihn Guthabenführt oder Vermögensgegenstände verwahrt, hat derAgentur für Arbeit auf Verlangen hierüber sowie überdamit im Zusammenhang stehendes Einkommen oderVermögen Auskunft zu erteilen, soweit es zur Durchfüh-rung der Aufgaben nach diesem Buch erforderlich ist.“Neben der schlechten Gliederung von Texten ist dieVerwendung von unverständlichen Begriffen typisch,zum Beispiel Grundstücksverkehrsgenehmigungszustän-digkeitsübertragungsverordnung, Anleiterbarkeit, Inner-gemeinschaftliche Verbringung, Brandüberschlagsweg.Das versteht kein Mensch, teilweise auch kein Juristmehr.Zu ProtokollWenn die Bürger nicht mehr verstehen, was der Staatformuliert, werden im Extremfall Gesetze und Verordnun-gen nicht mehr befolgt. Das führt zu einer Vertrauens-krise zwischen Bürgern, Politik und Verwaltung, von denKosten ganz zu schweigen. Denn komplizierte und un-klare Formulierungen verursachen höhere Kosten beiden Anwendern – seien es Bürger, Unternehmer, Verwal-tungsmitarbeiter oder spezialisierte Rechtsexperten – dader Aufwand beim Lesen und für das Verstehen höher ist.Das von uns initiierte Modellprojekt im Bundesminis-terium der Justiz und die Erfahrungen im Ausland, insbe-sondere in der Schweiz, haben eindrucksvoll bestätigt,welches Potenzial in der sprachlichen Verbesserung vonGesetzentwürfen steckt. Endlich haben wir nun mit demRedaktionsstab für die Bundesregierung, der von der Ge-sellschaft für deutsche Sprache betrieben wird, auf Re-gierungsseite personelle Kapazitäten für die Sprachbe-ratung vorgesehen. Dies wird nicht für die Betreuungaller Gesetzentwürfe reichen, doch ein wesentlicher An-fang ist gemacht.Weitere Schritte müssen folgen: Der Redaktionsstabder Bundesregierung muss endlich in der GemeinsamenGeschäftsordnung der Bundesministerien verankert wer-den. Der dortige Hinweis, dass sich die Ministerien anden Redaktionsstab des Bundestages wenden sollen, istmit der Einrichtung eines eigenen Redaktionsstabes derBundesregierung nicht mehr sinnvoll. Es ist zudem si-cherzustellen, dass der Redaktionsstab der Bundesregie-rung die größtmögliche Unabhängigkeit erhält. Nurdann wird der Redaktionsstab zu einem frühestmöglichenZeitpunkt von allen Ministerien einbezogen.Auf Bundestagsebene existiert schon seit 1966 dereben erwähnte Redaktionsstab der Gesellschaft für deut-sche Sprache beim Deutschen Bundestag. Dieser wurdegegründet, nachdem die Beratungen zum Raumord-nungsgesetz deutliche Formulierungsmängel im Gesetz-entwurf offenbarten. Eine Beteiligung des Redaktionssta-bes ist in der Geschäftsordnung des Bundestages bisherjedoch nicht vorgeschrieben.Es ist daher richtig, dass wir mit der vorliegenden Än-derung der Geschäftsordnung diesen Redaktionsstab in-stitutionell in unserer Geschäftsordnung verankern. Da-bei haben wir darauf geachtet, dass es durch dieNeuregelung nicht zu einer zeitlichen Verzögerung oderBlockade des Gesetzgebungsverfahrens kommt. Deshalbwird die Einbeziehung des Redaktionsstabes auch immervon einem ausdrücklichen Beschluss des federführendenAusschusses abhängig gemacht. Damit können inhaltli-che und zeitliche Besonderheiten bei Gesetzentwürfenangemessen berücksichtigt werden.Darüber hinaus machen wir in der Geschäftsordnungdeutlich, dass der Redaktionsstab auch sprachliche Be-ratungen und Schulungen für die Fraktionsmitarbeiteranbieten soll.Mit der Stärkung des Redaktionsstabes hier im Bun-destag und dem Redaktionsstab im Bundesministeriumder Justiz schaffen wir die institutionellen Voraussetzun-gen, um eine verständliche Gesetzessprache durchzuset-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25865
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Ole Schröderzen. Lassen Sie uns alle dafür sorgen, dass diese neuenMöglichkeiten genutzt werden!
Wir verabschieden heute drei Änderungen der Ge-schäftsordnung des Deutschen Bundestages.Erstens verabschieden wir als Koalition mit den Stim-men der Fraktion der FDP die Regelung zum nachträgli-chen Ausschluss von Mitgliedern des Bundestages vonPlenarsitzungen. Das nach der Geschäftsordnung desDeutschen Bundestages bestehende Ordnungsmittel, einMitglied des Bundestages wegen gröblicher Verletzungder Ordnung von der Teilnahme an Plenar- und Aus-schusssitzungen auszuschließen, war bislang nicht zu-friedenstellend. Die Maßnahme musste bisher vom am-tierenden Präsidenten noch während der laufendenPlenarsitzung ausgesprochen werden. Sind nicht alleDetails sofort feststellbar, beispielsweise bei mehrerenStörern, die erst nach Auswertung von Fernsehauf-nahmen identifizierbar sind, ist eine Erweiterung derEntscheidungsfrist notwendig.Mehrere Ordnungsstörungen während der Plenarsit-zungen der letzten Zeit führten zur Diskussion im Ältes-tenrat, wie mit solchen Störungen umgegangen werdensollte. Daher bat der Ältestenrat den Geschäftsordnungs-ausschuss, zu prüfen, ob es Ergänzungsbedarf bei denOrdnungsmaßnahmen nach der Geschäftsordnung gebe.So kam es in einer Sitzung des Bundestages Anfang 2008zu einer Ordnungsstörung, als mehrere Mitglieder einerFraktion Masken aufsetzten, die den Ministerpräsidenteneines Landes mit Pinocchio-Nase darstellten. Der amtie-rende Präsident forderte die Betreffenden auf, die Mas-ken abzunehmen oder den Saal zu verlassen. In einerweiteren Plenarsitzung im März 2009 entrollten Mitglie-der derselben Fraktion während einer Debatte Transpa-rente und hielten Fahnen hoch.Derzeit stehen dem Präsidenten keine ausreichendenReaktionsmittel in solchen Fällen zur Verfügung. Ein Sit-zungsausschluss, der hier in Betracht gekommen wäre,wäre im ersten Fall schon gescheitert, weil er eine sofor-tige Identifizierung der Störer voraussetzt und noch wäh-rend der Sitzung hätte ausgesprochen werden müssen.Dies war jedoch wegen der Maskierung der Betreffendennicht möglich gewesen. Zudem sind durch Ordnungsrufin der Sache weitere Sanktionen, wie zum Beispiel derSitzungsausschluss, verbraucht.Da bei einer gröblichen Verletzung der Ordnung einSitzungsausschluss nur bis zum Ende der Plenarsitzungausgesprochen werden kann, muss bis zu diesem Zeit-punkt auch bekannt gegeben werden, für wie viele Sit-zungstage, bis zu 30, der Betroffene ausgeschlossen wird.Demgegenüber ist für Ordnungsrufe anerkannt, dassdiese noch nachträglich, zum Beispiel nach einer Klä-rung des genauen Wortlauts der Äußerung, ausgespro-chen werden können. Ausdrücklich geregelt ist dies fürZwischenrufe, die dem amtierenden Präsidenten entgan-gen sind. Diese können in der nächsten Sitzung noch ge-rügt werden.Zu ProtokollWir haben uns daher im Ausschuss mehrheitlich aufeine neue Möglichkeit des nachträglichen Sitzungsaus-schlusses geeinigt. Die neue Regelung greift die bereitsbestehende Praxis eines nachträglichen Ordnungsrufssowie die Regelung, nach der ein protokollierter Zwi-schenruf, der dem Präsidenten entgangen ist, noch in dernächsten Sitzung gerügt werden kann, auf. Aus Gründender Rechtssicherheit für die Betroffenen soll ein nach-träglicher Sitzungsausschluss nur bis zur nächsten aufdie gröbliche Verletzung der Ordnung folgenden Sitzungdes Bundestages möglich sein. Im Gegensatz zum nach-träglichen Ordnungsruf setzt der nachträgliche Sitzungs-ausschluss voraus, dass noch während der Sitzung dieVerletzung der Ordnung vom amtierenden Präsidentenausdrücklich festgestellt und auf die Möglichkeit einesnachträglichen Sitzungsausschlusses hingewiesen wird.Der Sitzungsausschluss als schärfste Ordnungsmaß-nahme soll hier strengeren Voraussetzungen unterstelltwerden als der nachträgliche Ordnungsruf. Die Störererhalten dadurch auch Gelegenheit, durch ihr weiteresVerhalten, wie durch sofortige Beendigung der Störungoder Entschuldigung, die Entscheidung über einen späte-ren Sitzungsausschluss noch zu beeinflussen. Es ist aller-dings nicht notwendig, dass der Präsident bereits wäh-rend der Sitzung die Ordnungsstörung als „gröbliche“Verletzung der Ordnung bewertet und den oder die Störersofort benennt. Hierzu dient gerade die neue Entschei-dungsfrist, die sowohl zur rechtlichen Prüfung als auchdazu genutzt werden kann, insbesondere durch Auswer-tung von Bildmaterial oder sonstigen Hinweisen die Ur-heber der Störung zu ermitteln.Während der Sitzung ist nunmehr ausreichend, dassder Präsident „eine Verletzung der Ordnung“ feststellt.Zuständig für die Entscheidung ist der amtierende Präsi-dent, der die Störung der Ordnung in der Sitzung festge-stellt hat. Die Entscheidung kann auch von anderen Mit-gliedern des Präsidiums während der späteren Sitzung inseinem Namen bekannt gegeben werden. Die Möglichkeiteines späteren Sitzungsausschlusses wird nicht durch an-dere Ordnungsmaßnahmen verbraucht. Dem amtieren-den Präsidenten steht es auch frei, die Verletzung derOrdnung festzustellen und dies bereits mit einem Ord-nungsruf zu verbinden.Wir haben im Ausschuss ausführlich über die Einfüh-rung eines Ordnungsgeldes als neues Ordnungsmitteldiskutiert. Die Vertreter der Fraktionen der SPD und derFDP hielten die Einführung eines Ordnungsgeldes fürvorzugswürdig. Dies stellt gegenüber dem nachträgli-chen Sitzungsausschluss einen geringeren Eingriff in dieStatusrechte der Abgeordneten dar, da es nicht in die Ab-stimmungsrechte eingreift. Zudem könnten öffentlich-keitswirksame Konfrontationen besser vermieden wer-den. Hier kam es aber zu keiner Einigung.Wir waren uns in der Koalition von CDU/CSU undSPD mit den Mitgliedern der FDP im 1. Ausschuss abereinig, dass aufgrund der verschiedenen Vorfälle in Plenar-sitzungen eine Erweiterung der Ordnungsmaßnahmennotwendig geworden sei, um das Ansehen und die Würdedes Bundestages zu wahren und ihn nicht der Lächerlich-keit preiszugeben. Die Erfahrungen aus der Zeit der Wei-marer Republik haben gezeigt, dass man einer öffentli-
Metadaten/Kopzeile:
25866 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Christine Lambrechtchen Verächtlichmachung der Demokratie und ihrerInstitutionen bereits in den Anfängen entgegentretenmüsse. Auch wenn es grundsätzlich Bedenken gegen jedeArt der Einschränkung parlamentarischer Rechte gebenmüsse, bliebe keine andere Wahl, als die Wirksamkeit derOrdnungsmittel zu verstärken.Zweitens verabschieden wir heute einstimmig eineneue Regelung für zu Protokoll gegebene Plenarreden.Seit November 2007 gilt probeweise eine vorläufige Ver-fahrensregelung hinsichtlich der Abgabe von Plenar-reden zu Protokoll. Nach erfolgreicher Erprobung – sowar sich der 1. Ausschuss einig – übernehmen wir diesesVerfahren nun dauerhaft in die Geschäftsordnung, undzwar unverändert. Danach konnte im Ältestenrat für be-stimmte Tagesordnungspunkte festgelegt werden, dassanstelle einer Aussprache die jeweiligen Redetexte in an-gemessenem Umfang zu Protokoll gegeben werden soll-ten. Ausdrücklich geregelt war zudem, dass auf entspre-chendes Verlangen zu einer Aussprache zurückgekehrtwerden sollte; Mitteilung des Präsidenten vom 30. No-vember 2007. Die vorläufige Verfahrensordnung warseitdem erprobt worden und vielfach zur Anwendung ge-kommen.Bei den Beratungen wurde von allen Fraktionen alsZiel der Regelung zum einen hervorgehoben, die zeitli-chen Differenzen zwischen dem geplanten und dem tat-sächlichen Ende der Plenarsitzungen am Hauptsitzungs-tag, dem Donnerstag, zu verkleinern. Zum anderen sollbei Tagesordnungspunkten, bei denen ansonsten even-tuell auf eine Aussprache verzichtet würde, die Möglich-keit eröffnet werden, der Öffentlichkeit zumindestschriftlich die inhaltlichen Positionen der Fraktionendarzulegen.Die intensive Nutzung dieser Möglichkeit hat gezeigt,dass sich das Verfahren insgesamt bewährt hat. Es solledamit neben die bisher bereits bestehende Möglichkeittreten, kurzfristig interfraktionell zu vereinbaren, Redenzu Protokoll zu geben. Auch solle die Möglichkeit beibe-halten werden, nur einzelne Reden zu einem Tagesord-nungspunkt zu Protokoll zu geben.Drittens verabschieden wir heute einstimmig eine Re-gelung zur sprachlichen Beratung bei der Formulierungvon Gesetzestexten. Wir haben im Ausschuss festgestellt,dass Gesetzestexte leider immer wieder an sprachlicherUngenauigkeit leiden und daher teilweise nur schweranwendbar sind. Anders als die Gemeinsame Geschäfts-ordnung der Bundesministerien beinhaltet die Geschäfts-ordnung des Deutschen Bundestages bislang keine Veran-kerung eines Redaktionsstabes zur sprachlichen Beratungund zur Verständlichkeitsprüfung von Gesetzestexten.Der Redaktionsstab spielte bislang eine untergeordneteRolle.Gesetzentwürfe der Bundesregierung müssen nachder Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministe-rien, GGO, „sprachlich richtig und möglichst für jeder-mann verständlich gefasst sein“. Sie sind grundsätzlichdem Redaktionsstab der Gesellschaft für deutsche Spra-che beim Deutschen Bundestag zur Prüfung auf ihresprachliche Richtigkeit und Verständlichkeit zuzuleiten.Zu ProtokollAnders als in der Gemeinsamen Geschäftsordnungder Bundesministerien wird der Redaktionsstab nach derÄnderung nur abstrakt beschrieben, um einen Anpas-sungsbedarf der Geschäftsordnung des Bundestages beiÄnderungen zu vermeiden. Nur aufgrund eines entspre-chenden Beschlusses des federführenden Ausschusseswird ein Gesetzentwurf vom Ausschusssekretariat demRedaktionsstab mit der Bitte um Prüfung zugeleitet. Da-durch soll zum einen vermieden werden, dass der Redak-tionsstab unnötig belastet wird, und zum anderen, dassbesonders eilbedürftige Gesetzesverfahren sich ver-zögern. Auch bei bereits sprachlich geprüften Gesetz-entwürfen, wie zum Beispiel Gesetzentwürfen derBundesregierung oder erneut eingebrachten Gesetzent-würfen, kann die Zuleitung unterbleiben. Der Ausschusskann auch nur Teile des Gesetzentwurfs dem Redaktions-stab zur Prüfung zuleiten. Liegt eine Stellungnahme desRedaktionsstabes nicht oder nicht rechtzeitig vor, kannder federführende Ausschuss auch ohne diese Stellung-nahme den Gesetzentwurf abschließend beraten und demPlenum eine Beschlussempfehlung vorlegen. Der Aus-schuss ist nicht verpflichtet, in seinem Bericht Angabenüber die Durchführung der Prüfung aufzunehmen odereinen Prüfungsverzicht zu begründen. An die Empfehlun-gen des Redaktionsstabes ist der federführende Aus-schuss nicht gebunden.Der federführende Ausschuss kann im gesamten Ver-lauf seines Beratungsverfahrens den Redaktionsstab hin-zuziehen und insbesondere um Prüfung von Änderungs-anträgen bitten, die im Ausschuss gestellt werden. DerAusschuss kann auch eine Anwesenheit von Mitarbeite-rinnen und Mitarbeitern des Redaktionsstabes bei denBeratungen zulassen.Förderung der sprachlichen Richtigkeit und Verständ-lichkeit von Gesetzestexten ist uns ein besonderes Anlie-gen im Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität undGeschäftsordnung gewesen. Die Delegationsreise desAusschusses in die Schweiz hat uns für die Beratungenbesondere Erkenntnisse gebracht, nachdem wir uns überdie dortigen Verfahren zur sprachlichen Kontrolle vonGesetzen und Verordnungen informiert haben.Ich danke den Mitgliedern und den Mitarbeitern des1. Ausschusses für die erfolgreichen Beratungen.
Ich freue mich, dass es uns noch in dieser Legisla-turperiode gelungen ist, die Geschäftsordnung desDeutschen Bundestages an einigen wichtigen Stellennachzujustieren. Wir übergeben so dem 17. DeutschenBundestag eine Geschäftsordnung, die nach unseremDafürhalten den gegenwärtigen Herausforderungen ge-recht wird. Es ist, das möchte ich an dieser Stelle aus-drücklich sagen, nicht zuletzt dem vorausschauendenund feinfühlig moderierenden Agieren des Vorsitzendendes 1. Ausschusses wie auch dem stets umsichtigen Ver-halten des Sekretariats zu verdanken, dass wir demnächsten Bundestag keine offenen Baustellen übergeben.Vielmehr ist der kommende Bundestag sicherlich sehrgut beraten, wenn er sich gemäß Art. 40 Abs. 1 Grundge-setz diese – zeitgemäße – Geschäftsordnung als Arbeits-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25867
gegebene Reden
(C)
(D)
Jörg van Essengrundlage gibt. Ich bin sehr dankbar, dass ich dem1. Ausschuss nun schon sehr lange angehören darf unddass wir in der Vergangenheit ganz überwiegend zu frak-tionsübergreifend getragenen Lösungen bei Anpassun-gen der Geschäftsordnung gekommen sind. Es ist dieserüberwiegende Konsens, der zu einer großen Akzeptanzunserer Geschäftsordnung im ganzen Hause beigetragenhat.Dieser Konsens überwiegt auch bei der heute zur De-batte stehenden Beschlussempfehlung.Freilich bedauere ich es sehr, dass wir bei dem Themanachträglicher Ausschluss von Mitgliedern des Bundes-tages nicht auch zu einer einvernehmlichen Lösung ge-kommen sind. Mir ist es daher wichtig, an dieser Stelleauch noch mal die Motivation für das Votum der FDP zuerläutern. Dabei ist es bedeutsam, sich den gegenwärti-gen Status quo vor Augen zu führen: Schon nach der der-zeitigen Fassung der Geschäftsordnung kann der Präsi-dent ein Mitglied des Bundestages wegen gröblicherVerletzung für die Dauer der Sitzung aus dem Saal ver-weisen. Bis zum Schluss der Sitzung muss der Präsidentbekannt geben, für wie viele Sitzungstage der Betroffeneausgeschlossen wird. Schon die gegenwärtige Fassungdes Sitzungsausschlusses ist damit ein scharfes Schwert.Ich hoffe sehr, dass auch der Präsident des 17. Bundes-tages dieses nicht ziehen muss. Die Demokratie lebt vonDiskurs und Debatte. Jeder, erst recht jeder Parlamenta-rier, muss sich an einer Debatte beteiligen können. Dasswir heute die Regelung des § 38 GO-BT noch verschär-fen – nämlich um die Möglichkeit des nachträglichen Sit-zungsausschlusses – hängt maßgeblich mit dem zum Teilunerträglichen Verhalten von Abgeordneten der Linkenzusammen. Ich persönlich fand es beschämend, alsAbgeordnete der Linken in einer Debatte über Jugend-kriminalität Roland-Koch-Masken mit Pinocchio-Nasenaufsetzten. Ein Tiefpunkt des nachkriegsdeutschen Par-lamentarismus! In meinen Augen gibt es ein ganz wichti-ges Vermächtnis aus den Lehren des Untergangs der Wei-marer Republik: Das Parlament darf nicht verhöhntwerden – weder von Links und noch von Rechts.Es war also eine Regelung zum nachträglichen Um-gang mit solchem Fehlverhalten nötig: Die Identitätmaskierter Bankräuber ist nämlich für Ermittler ebensowenig erkennbar wie für den amtierenden Bundestags-präsidenten die Identität maskierter Demagogen, die un-sere Demokratie schädigen wollen.Wir durften die Sitzungsleitung für solche Fälle nichtwehrlos lassen.Für meine Fraktion habe ich mich in den Beratungenalternativ für die Einführung eines Ordnungsgeldes alsneues Ordnungsmittel stark gemacht – wenn auch diesschon mit meinem Verständnis eines unabhängigen Ab-geordneten ohne Zweifel kollidiert. Gegenüber demnachträglichen Sitzungsausschluss wäre ein Ordnungs-geld ein weniger schwerwiegender Eingriff in die Status-rechte des Abgeordneten, weil es nicht in deren Abstim-mungsrechte eingreift. Im Lichte der Beratungen habenwir im Ergebnis der jetzigen Regelung letztlich dennochzugestimmt.Zu ProtokollMit dieser Regelung habe ich mir persönlich – wieauch, so mein Eindruck, alle Kollegen – sehr schwer ge-tan. Aber: Für mich heißt wehrhafte Demokratie, dasswir auch gegen undemokratisches Verhalten vorgehenund nicht tatenlos zusehen. Heute sind es die Linken; ichhabe große Sorge: in Zukunft vielleicht auch die Rechten.Beiden Seiten dürfen wir kein undemokratisches Verhal-ten durchgehen lassen. Unsere Debatten müssen auch inZukunft mit Anstand geführt werden können. Aus Respektvor uns, der Demokratie und zu allererst: unseren Wäh-lern!Ich freue mich, dass wir die beiden anderen heute zurAbstimmung stehenden Punkte einvernehmlich regelnkonnten: Die Regelung für Reden zu Protokoll hat sichseit ihrer vorläufigen Einführung Ende 2007 sehr be-währt. Gerade bei drei Oppositionsfraktionen, die auchvon ihren parlamentarischen Rechten Gebrauch machenwollen, lassen sich so sehr viel mehr Themen „abarbei-ten“. Auch die Rechte des Abgeordneten werden nichteingeschränkt, weil die jeweiligen Fraktionen ja auchnach Vereinbarung eines Protokollpunktes diesen wider-rufen können. So hat das übrigens auch die FDP in derVergangenheit – erst auch letzte Sitzungswoche! – prak-tiziert, wenn ein Abgeordneter im Lichte der öffentlichenDebatte doch auch reden möchte. Wir sollten ehrlich zuuns selbst sein: Eine Debatte nach Mitternacht erreichtselten breite Kreise der Bevölkerung. Gleichzeitig kön-nen nun rein faktisch nicht alle Themen zur sogenanntenKernzeit am Vormittag aufgesetzt werden. Dieses Di-lemma galt es zu lösen. Die bisherigen Erfahrungen zei-gen, dass unsere Regelung ein guter Weg ist.Auch bei der Regelung für die Einrichtung des Redak-tionsstabs war uns die Unabhängigkeit des DeutschenBundestages, seiner Ausschüsse und vor allem der ein-zelnen Abgeordneten wichtig. Deswegen ist auch klar,dass es sich bei diesem Service nur um Empfehlungenhandelt. Daher steht auch außer Frage: An die Empfeh-lungen des Redaktionsstabes ist der federführende Aus-schuss nicht gebunden.Zusammenfassend habe ich den Eindruck, dass wirmit den jetzt vorgelegten Änderungen dem nächsten Bun-destag eine Geschäftsordnung übergeben, die einen ord-nungs- und würdevollen Umgang miteinander ermög-licht und zugleich wetterfest ist. Ich glaube, uns eint dieHoffnung, dass wir insbesondere die Schirme, die dieseGeschäftsordnung bietet, nicht aufspannen müssen.
Diese Beschlussempfehlung ist, was den Punkt a – dennachträglichen Ausschluss von Plenarsitzungen – be-trifft, überflüssig wie ein Kropf. Meine Fraktion DieLinke wird gegen diese stimmen. Ein Mitglied des Bun-destages kann durch den Präsidenten wegen „gröblicherVerletzung der Ordnung“ schon jetzt für bis zu 30 Sit-zungstage ausgeschlossen werden. Dies ist eine harteSanktion. Es besteht kein Grund, die Geschäftsordnungin diesem Punkt noch zu erweitern.Künftig sollen Mitglieder des Bundestages bei gröbli-cher Verletzung der Ordnung auch nachträglich ausge-schlossen werden können. Wie wird das nachträglich
Metadaten/Kopzeile:
25868 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Dagmar Enkelmannfestgestellt? Dazu sollen dann Fernsehbilder zu Rate ge-zogen werden. Ich stelle mir schon lebhaft vor, wie Mit-glieder des Hohen Hauses und ihre Mitarbeiter Zeitlupenund Standbilder studieren, um Störenfriede herauszufin-den. Oder sie versuchen festzustellen, ob die Störunggröblich oder vielleicht doch nicht so gröblich war. Dasdürfte schwierig werden. Denn was eine gröbliche Ver-letzung ist, wird auch mit der jetzigen Änderung nicht de-finiert.Im Profi-Fußball wird derzeit intensiv über den soge-nannten Video-Beweis diskutiert. Man weiß ja aus derGeschichte, dass manchmal auch die Aufzeichnungenvon zig Fernsehkameras nicht ausreichen, um zu ent-scheiden, ob der Ball nun drin war oder nicht.Die vorgeschlagene Änderung der Geschäftsordnungist nicht nur untauglich, sie ist auch unverhältnismäßig.Hier wird ganz großes Geschütz aufgefahren und mit Ka-nonen auf Spatzen geschossen. Mehr Souveränität würdedem Hohen Haus gut zu Gesicht stehen. Der Fußball inder ganzen Welt kann ganz gut mit den Tatsachenent-scheidungen der Schiedsrichter leben. Ich finde, wirkönnten das auch, zumal ich mich des Eindrucks nicht er-wehren kann, dass hier nur eine einzige Fraktion als Stö-renfried disqualifiziert und nun diszipliniert werden soll.Wichtiger wäre, die wirklichen Defizite der Geschäfts-ordnung aufzuarbeiten.Mit der vorliegenden Beschlussempfehlung wird dieseit Jahren geübte Praxis, Reden zu Protokoll geben zukönnen, nun offiziell in die Geschäftsordnung aufgenom-men. Das ist eine Selbstverständlichkeit und nicht einmalein „Reförmchen“.Auch meine Fraktion Die Linke unternahm in dieserLegislatur den Versuch, die Minderheitenrechte tatsäch-lich zu stärken. Dass dies unabdingbar notwendig war –darin waren sich alle drei Oppositionsfraktionen übri-gens einig. Leider sind wir in dieser Legislaturperiodebeim Ausbau der Minderheitenrechte nicht wirklichvorangekommen. Unter den Bedingungen der GroßenKoalition hat sich die Geschäftsordnung zu oft als Instru-ment erwiesen, mit dem alle parlamentarischen Beden-ken oder Fristen mit einem Schlag vom Tisch gewischtworden sind. Dafür gibt es genügend Beispiele. Ich erin-nere nur an die Gesundheitsreform. Die durch die Ge-schäftsordnung gedeckte Praxis ist zu beenden, dass miteinfacher oder Zweidrittelmehrheit jede Frist zur Be-handlung von Vorlagen aufgehoben werden kann.Es geht noch um mehr. Nehmen wir die Einberufung ei-ner Sondersitzung des Bundestages. Für diesen Sommerist das gar nicht so unrealistisch angesichts des sich ra-pide verschlechternden Arbeitsmarkts und der anhalten-den Finanzkrise. Zur Einberufung einer Sondersitzung– bekanntermaßen ein echtes Recht der Minderheit – sindnach wie vor die Stimmen eines Drittels der Mitgliederdes Bundestages nötig. Das kann die Große Koalition be-quem blockieren – was sie auch tun würde: Schließlich istWahlkampf. Und dass einzelne Abgeordnete der Koali-tion gewissermaßen aus der Reihe tanzen – das ist einhöchst unwahrscheinlicher Fall. Das zeigten die jüngstenpolitischen Pirouetten insbesondere der SPD-Fraktion.Zu ProtokollOder nehmen wir ein anderes grundlegendes Minder-heitenrecht: die Einsetzung eines Untersuchungsaus-schusses. Wäre das Quorum geringer als 25 Prozent, hät-ten zum Beispiel eine oder zwei Fraktionen das Recht zueinem solchen Ausschuss, hätte es mit Sicherheit schon2008 einen Ausschuss zur IKB gegeben. Dann hättenschon viel eher Schlussfolgerungen aus der Finanzkrisegezogen werden können, hätten Abläufe in den Aufsichts-behörden und dem zuständigen Ministerien viel früherunter die Lupe genommen werden können. Das geschahnicht. Die Regierung durfte ungestört weiterwursteln.Erst beim HRE-Desaster wurde der öffentliche Druck sogroß, dass es gelang, die Hürden der Geschäftsordnungzu überwinden.Oder nehmen wir die abstrakte Normenkontrollklage.Ich garantiere Ihnen: Wenn jede Fraktion des Bundesta-ges das Recht hätte, eine abstrakte Normenkontrollklagevor dem Bundesverfassungsgericht anzustrengen, wärendie Beteiligungsrechte des Parlaments schon viel eher soumfassend geregelt worden, wie es jetzt im Zusammen-hang mit dem Lissabon-Vertrag das Bundesverfassungs-gericht fordert. Denn, was die Gegner eines solchenRechts einer Fraktion zur abstrakten Normenkotroll-klage nicht bedenken: Es wirkt vor allem präventiv.Schon die Möglichkeit sorgt dafür, dass die Gesetze vonvornherein besser und gründlicher auf ihre Verfassungs-mäßigkeit geprüft würden.Der Bundestag gilt als Hort der Demokratie. DiesenSatz kann ich in vielerlei Hinsicht unterschreiben. Wasdie Demokratisierung seiner Geschäftsordnung betrifft,so ist die Bilanz der letzten vier Jahre, mit Verlaub ge-sagt, mehr als ernüchternd. Große Koalitionen tun derDemokratie nicht gut, heißt es. Nun muss man hinzufü-gen: auch dem Bundestag nicht.
Wir verhandeln heute drei Änderungen unserer Ge-schäftsordnung. Zwei davon, die neuen Regelungen zuden Bereichen „Reden zu Protokoll“ und „SprachlicheBeratung bei der Formulierung von Gesetzestexten“, fin-den unsere uneingeschränkte Zustimmung. Die Verschär-fung der Regelung des Ausschlusses von Abgeordnetenvon Sitzungen des Deutschen Bundesstages und seinerAusschüsse lehnen wir indes ab.Bereits nach den derzeit geltenden Regelungen unse-rer Geschäftsordnung ist es dem amtierenden Präsiden-ten möglich, ein Mitglied des Bundestages bei gröblicherVerletzung der Ordnung für die Dauer der Sitzung ausdem Saal zu verweisen. Bis zum Schluss der Sitzung mussder Präsident bekannt geben, für wie viele Sitzungstagedie oder der Betroffene ausgeschlossen wird. Währendder Dauer des Ausschlusses kann die oder der Betroffeneauch nicht an Ausschusssitzungen teilnehmen. Diese Re-gelung soll nunmehr verschärft werden. Nach dem Vor-schlag des Geschäftsordnungsausschusses soll ein Sit-zungsausschluss auch nachträglich, spätestens in der aufdie gröbliche Verletzung der Ordnung folgenden Sitzungausgesprochen werden können, sofern der Präsidentwährend der Sitzung eine Verletzung der Ordnung festge-stellt und sich einen nachträglichen Sitzungsausschlussvorbehalten hat.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25869
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
25870 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Volker Beck
Die Neuregelung ist aus mehreren Gründen verfehlt.Zum einen werden mit ihr Sinn und Zweck des Instru-ments des Sitzungsausschlusses verwässert. Der Sit-zungsausschluss soll vorrangig dazu dienen, die gestörteOrdnung einer Plenarsitzung wiederherzustellen. Diessetzt ein sofortiges und abschließendes Agieren voraus.Die Ordnung einer bereits beendeten Sitzung kannschlechterdings nicht mehr mit einer Ordnungsmaß-nahme hergestellt werden, die erst in der nächsten Sit-zung erfolgt. Mit der Möglichkeit, einen Sitzungsaus-schluss auch im Nachhinein auszusprechen, rückt dieRegelung daher eher in die Nähe einer Sanktionsmaß-nahme, die gerade nicht im Vordergrund stehen sollte.Zum anderen wird mit der Verschärfung massiv in dasverfassungsmäßig garantierte Recht des Abgeordnetenauf Mitwirkung, insbesondere auf Mitwirkung an Ent-scheidungen und Abstimmungen eingegriffen. Zweifels-ohne stellt bereits die bisherige Regelung einen solchenEingriff dar. Dieser ist jedoch mit dem Interesse an einemordnungsgemäßen Ablauf von Sitzungen gerade noch zurechtfertigen, wenngleich Letzteres nicht ganz unumstrit-ten ist. Mit der Verschärfung des § 38 unserer Geschäfts-ordnung wird die Grenze des Zulässigen jedochüberschritten. Der Eingriff in das verfassungsmäßig ver-briefte Mitwirkungsrecht ist nicht mehr verhältnismäßig.Die Abwägung zwischen dem Interesse an einem ord-nungsgemäßen Sitzungsverlauf und den Mitwirkungs-rechten der Abgeordneten muss eindeutig zugunsten derMitwirkungsrechte ausfallen.Schließlich darf auch nicht übersehen werden, dassSitzungsausschlüsse zum Verlust einer – wie auch immergearteten – Koalitionsmehrheit führen können. Dies giltinsbesondere, wenn die Mehrheit eine knappe Mehrheitist. Keine Fraktion dieses Hauses dürfte vor diesem Hin-tergrund ein Interesse an einer solchen Regelung haben.Aus den dargelegten Gründen kann meine Fraktiondaher der Änderung der Geschäftsordnung, soweit siedie Verschärfung der Regelungen zum Sitzungsaus-schluss betrifft, nicht zustimmen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immuni-
tät und Geschäftsordnung auf Drucksache 16/13492.
– Darf ich einen Moment um Aufmerksamkeit bitten?
Sonst kann ich Frau Kurth nicht verstehen.
Undine Kurth (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Ich bitte Sie, die Kollegen darauf aufmerksam zu ma-
chen, dass es, auch wenn sie in Feierlaune sind, besser
wäre, wenn sie so ruhig zuhören würden, dass ich verste-
hen kann, worum es geht.
Danke.
Ich bitte, die Geräuschkulisse so weit zu dämpfen,dass jeder verstehen kann, worüber abgestimmt wird.
Das ist ein berechtigtes Anliegen von Frau Kurth. Da-rauf möchte ich hinweisen.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immuni-tät und Geschäftsordnung auf Drucksache 16/13492.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mehrheitlich angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a bis 35 c auf:a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie
– zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-KurtHill, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEStrommarkt durchgreifend regulieren –Energiepreissenkungen durchsetzen– zu dem Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn,Nicole Maisch, Ulrike Höfken, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENManipulierte Strompreise – Verbraucherin-teressen wahren– Drucksachen 16/11908, 16/12692, 16/13069 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Joachim Pfeifferb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie
– zu dem Antrag der Abgeordneten GudrunKopp, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derFDPStrukturelle Wettbewerbsdefizite auf denEnergiemärkten bekämpfen– zu dem Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn,Kerstin Andreae, Hans-Josef Fell, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENDas Energiekartell aufbrechen – Für Klima-schutz, Wettbewerb und faire Energiepreise– Drucksachen 16/8079, 16/8536, 16/9495 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Joachim Pfeifferc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie zu dem Antrag der Abge-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25871
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solmsordneten Gudrun Kopp, Jens Ackermann,Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDPEnergiekosten senken – Mehr Netto für dieVerbraucher– Drucksachen 16/9595, 16/10506 –Berichterstattung:Abgeordneter Rolf Hempelmann
Wie so oft fordern die Linken in ihrem Antrag, Teileder Wirtschaft in Deutschland öffentlich durch eineStrompreisaufsicht zu kontrollieren. Am liebsten wäre esihnen wohl, wenn man demnächst noch den Stromver-brauch staatlich regulieren würde. Es muss jedoch ganzdeutlich gesagt werden, dass die Linken in ihrem Antragnichts anderes fordern, als das Rad der Geschichte zu-rückzudrehen. Und hiervor möchte ich sie eindringlichwarnen.Ausgangspunkt der Argumentation ist die angeblichmonopolartige Stellung einiger Stromkonzerne, die einePreiserhöhung für Deutschland und eine missbräuchli-che Handhabung zur Folge habe, bei der die Preise nichtmehr mit Angebot und Nachfrage im Zusammenhangstünden. Das ist falsch. Die Linken spielen mit ihrem An-trag die alte Leier. Entweder sie fordern direkt Verstaat-lichung, oder sie fordern einen Zwischenschritt, der imWeiteren zur Verstaatlichung führt. Dabei stürzen sie sichmit Vorliebe auf Bereiche, in denen der Wettbewerb nochnicht so funktioniert, wie es für den Verbraucher wün-schenswert wäre. Das ist der einfachste Weg. Sie zertre-ten eine Pflanze in der Wirklichkeit und versprechen da-für den Garten Eden.Auch die Grünen sprechen in ihrem Antrag von Mani-pulation und der Pflicht der deutschen Kartellbehörden,Manipulationen von Stromhandelspreisen zu untersu-chen und die entstandenen Vorteile abzuschöpfen. Lauteiner Entscheidung der EU-Kommission bestehe Grundzur Annahme, dass zwischen 2002 und 2007 verfügbareErzeugungskapazität über mehrere Jahre zurückgehaltenworden seien, „um damit einen Anstieg der Strompreisezum Nachteil der Verbraucher zu bewirken“. Diese Argu-mente kann man so natürlich nicht stehen lassen und icherkläre Ihnen auch gerne, warum:Wer heutzutage Strom produziert, ist darauf angewie-sen, seinen Brennstoff auf dem Markt zu kaufen. Schonim Interesse der Versorgungssicherheit unseres Landeswerden diese Brennstoffe langfristig erworben. Das be-deutet, dass der Preis für Kohle oder Erdgas zu einemZeitpunkt vereinbart wird, der lange vor dem tatsächli-chen Verbrennen liegt. Kauft man heute Brennstoff güns-tig ein, kann man seinem Kunden frühestens im nächstenoder übernächsten Jahr einen guten Preis bieten. Eineandere Option sind Preisanpassungsformeln. Viele Ver-träge vereinbaren einen Basispreis und eine elaboriertePreisformel, die zum Beispiel die Inflation oder erhöhteLohnkosten beinhaltet. Und diese Formeln verweisendann auch sehr häufig auf den Preis eines anderen Gu-tes. Wir reden hier über normale Marktvorgänge undnicht über Abzockerei.Da kommen wir schon zum zweiten Aspekt: Der Vor-wurf der unkontrollierten Bereicherung und das Argu-ment der mangelhaften Kontrolle sind für mich nichtnachvollziehbar. Kaum einer anderen Branche hat derStaat so viele verschiedene Kontrollinstanzen auferlegtwie dem Energiehandel. Neben der Bundesnetzagenturund der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht,BaFin, haben auch die Kartellämter der Länder und desBundes sowie die Wettbewerbsdirektion der Europäi-schen Kommission ein wachsames Auge auf alle Aktivitä-ten der Unternehmen. Der Antrag der Grünen erwähntselbst die Untersuchungen der Kommission. Genau hierzeigt sich doch, dass es kein Schlupfloch, keinen Persil-schein für Energieversorgungsunternehmen gibt. Wennunlauter gehandelt wird, greifen die zuständigen Behör-den ein.Diese Tatsachen zeigen eindeutig, dass wir keineStrompreisaufsichtsbehörde brauchen. Im Gegenteil –diese Behörde muss abgeschafft bleiben, um überhauptden Weg für einen Energiemarkt freimachen zu können.Wenn die Preise zentral staatlich festgelegt werden, gibtes keinen Anreiz, besser und billiger zu sein und sich alsneuer Versorger auf dem Markt etablieren zu wollen. Esgibt keinen Anreiz, als Kunde zu einem anderen Versor-ger zu wechseln, schließlich hätten dann alle den glei-chen Preis. Wir wollen aber nicht mehr die behäbigenStaatsmonopolisten von einst. Wir wollen Unternehmen,die im Wettbewerb um Kunden stehen und sich gegensei-tig zu mehr Effizienz treiben. Gleichzeitig sorgen wir mitunseren Regeln dafür, dass die Sicherheit der Energie-versorgung nicht gefährdet wird. Nur so können wir Teileines europäischen Marktes sein, weil genau dies auchdas Leitmotiv der gesamten europäischen Energiepolitikist. Es wäre fatal, aus dem europäischen Konzert auszu-scheiden: Der Weg ist richtig, und wir müssen ihn weiter-gehen.Schließlich unterstellt der Antrag der Linken, dass derStrommarkt hochspekulativ sei, sich die Beteiligung vonBanken, Finanzdienstleistern und Hedgefonds als sehrnachteilig erweise und der Derivatehandel verboten ge-höre. Das ist Quatsch. Der Strommarkt ist ein Waren-markt, das bedeutet, dass Waren hergestellt und verkauftwerden; der Markt sorgt dafür, dass Hersteller und Ab-nehmer – bzw. beim Strom meistens Weiterverteiler – ein-ander treffen. Weil die Elemente der Preisbildung und diesehr stabile Abnehmerstruktur weitestgehend bekanntsind, bietet sich der Markt für Spekulation gerade nichtan. Die Märkte sind von echten physischen Interessen ge-trieben.Die Rolle von anderen Spielern auf dem Markt, wieBanken, ist weiterhin stark beschränkt. Zugleich handeltes sich aber um eine wichtige Rolle. Denn Banken brin-gen dem Markt die dringend benötigte Liquidität. Jederwird wohl der These zustimmen, dass ein Markt umsobesser ist, je mehr Marktteilnehmer es gibt. Damit steigtdie Chance, zu einem beliebigen Zeitpunkt kaufen oderverkaufen zu können. Was hilft es, einen Markt zu haben,wenn ich keinen Handelspartner finde? Banken helfen
(C)
(D)
Dr. Joachim Pfeifferhier, sie ermöglichen mehr Handel. Natürlich verdienenBanken daran, das ist aber auch legitim, weil sie einenService für den Markt bieten. Sie ergänzen die klassi-schen Marktteilnehmer, konkurrieren aber nicht mit ih-nen. Denn letztlich wird der Strom irgendwann von einemKraftwerk physisch produziert und von einem Verbrau-cher abgenommen. Banken helfen nur bei der richtigenAllokation.Mir scheint, dass auch ein Missverständnis in demKonzept des Derivatemarktes vorliegt. Es würde an die-ser Stelle viel zu weit führen, den Begriff des Derivateskorrekt abzugrenzen. Aber anscheinend soll der Termin-handel mit Strom damit gemeint sein. Wer vom Stromhan-del redet, spricht automatisch von Terminhandel. Dennder Strom, den ein Kraftwerk produziert, muss vor derProduktion schon verkauft sein. Er ist schließlich nichtlagerbar. Kann ein Kraftwerksbetreiber seinen Stromnicht verkaufen, wird er seinen Brennstoff nicht verbren-nen. Es ist daher nicht nur vernünftig, sondern praktischnotwendig, dass Strom langfristig verkauft wird. Nur sokönnen letztlich auch die Versorgungssicherheit und einstabiler Strompreis für die Endkunden garantiert werden.Der diffamierte Derivatehandel ist also ein Instrumentdes Stromhandels, das aufgrund der Nichtlagerbarkeitabsolut zwingend ist. Und das gilt auch für den echtenDerivatehandel, also rein finanzielle Produkte. Dennauch diese Produkte dienen nicht der Spekulation, son-dern der Absicherung von Preisen für Hersteller und Ab-nehmer; sie erzeugen also wirtschaftliche Planbarkeit.Es scheint mir auch noch notwendig, ein letztes Miss-verständnis aufzuklären: Sinken die Preise etwa, weil dieBanken und Hedgefonds sich aus dem Stromhandel zu-rückgezogen haben? Nein, natürlich nicht. Die Preisesinken, weil die Nachfrage aufgrund der aktuellen Wirt-schaftskrise sinkt. Es wird weniger gearbeitet, da wirdweniger Strom benötigt. Und das Gleiche gilt auch fürdie Brennstoffe, auch hier sinkt die Nachfrage, sodass diePreise nach unten gehen. Im Übrigen gilt: Wenn Spot-marktpreise manipuliert werden sollten, haben sowohldie Börsenaufsicht als auch die Wettbewerbsbehördendie Möglichkeit, einzugreifen. Ich denke, dies zeigt deut-lich: Ein Kontrollvakuum besteht also nicht.Nun zum Antrag der Kollegen von der FDP und ihrerForderung, Ursachen für die hohen Energiepreise an derWurzel zu packen: Hier stimme ich ihnen eindeutig zu.Genau dies hat die Regierungskoalition gemacht: Dieneue Gasnetzzugangsverordnung, das novellierte Wett-bewerbsrecht, das liberalisierte Mess- und Zählerwesen,die Verabschiedung des Energieleitungsausbaugesetzes,die weitere Reduzierung der Gasmarktgebiete, die An-reizregulierung und die Kraftwerksanschlussverordnungwaren wichtige Schritte in Richtung eines freien undwettbewerblichen Energiemarkts. Allerdings gehörtebenso zur Wahrheit, dass wir die Energiepreise auch mitWettbewerb auf Dauer nicht erheblich senken werdenkönnen. Die steigenden Energiepreise machen die Her-ausforderungen deutlich, vor denen die Energieversor-gung steht: weltweit wachsende Nachfrage; begrenztefossile Reserven; drohende Folgen der von Klimagasenverursachten Klimaänderungen; politisch instabile Lagein vielen Regionen, in denen Energiebodenschätze lagernZu Protokolloder die für die Weiterleitung von Energieträgern eineSchlüsselrolle innehaben.Letztlich gibt es für mich auf diese Herausforderungendie immer wieder gleichen Antworten: Es gilt, Energieeffizienter zu nutzen, neuen und erneuerbaren Energienzum Durchbruch zu verhelfen und durch einen breitenEnergiemix mit möglichst vielen Lieferländern, Trans-portrouten und Energieträgern unsere Abhängigkeiten zuverringern. Eine Entlastung bei den Energiekosten, diedauerhaft trägt, wird sich insbesondere über eine Steige-rung der Energieeffizienz und verstärktes Energiesparenerreichen lassen.Außerdem fordert die FDP erneut die Netz AG. Es istrichtig, dass die Einteilung des Netzes in die vier Regel-zonen der großen Netzbetreiber ineffizient, uneffektiv undnicht mehr zeitgemäß ist. Viermal muss sogenannter Re-gelstrom vorgehalten werden, um Netzschwankungenauszugleichen. Allein dafür zahlen die Stromverbrauchermehrere hundert Millionen Euro zusätzlich pro Jahr.Deshalb ist eine einheitliche Regelzone für Deutschlandrichtig und wichtig. Nur so ist ein transparentes und effi-zientes Stromnetz möglich, zu dem alle Energieanbietereinen diskriminierungsfreien Zugang haben. Das ist derWeg zu mehr Wettbewerb und somit zu stabilen Strom-preisen. Ob eine Netz AG hierzu das beste Mittel ist, mussnoch bewiesen werden. Eine Festlegung darauf könntesogar eine mögliche Dynamik bremsen. Es ist richtig, dasZiel eines transparenten und effizienten Stromnetzes aufdie politische Tagesordnung zu setzen. Es ist falsch, sichvon vornherein auf einen Weg festzulegen. Das Ziel be-stimmt den Weg und nicht umgekehrt. Die BNetzA prüftdie zurzeit zur Diskussion stehenden Konzepte und wirdein Gutachten dazu vorlegen. Dann werden wir schlauersein.Weiter fordert die FDP, das Stromnetz für mehr Wett-bewerb und dezentrale Stromerzeugung zu ertüchtigen.Hier haben wir ebenfalls schon gehandelt und den be-schleunigten Netzausbau beschlossen. Damit hat sichDeutschland mit der unionsgeführten Bundesregierungseiner Verantwortung als zentrales Stromtransitland inEuropa gestellt und der Modernisierungswelle seinesKraftwerkparks Rechnung getragen. Außerdem kann un-ser Land nur so den weltweit vorbildlichen Ausbau dererneuerbaren Energien erfolgreich fortführen und dasehrgeizige Ziel von 30 Prozent Anteil erneuerbarer Ener-gien an der Stromproduktion bis 2020 erreichen.Dies zeigt, dass wir bei allen Punkten, die von derFDP in ihrem Antrag genannt wurden, schon gehandelthaben. Daher ist der Antrag der FDP zwar gut gemeint,kommt aber zu spät.Die Union hat den Wettbewerb im Blick und wird ihnweiter stärken. Wir sind die Partei der sozialen Markt-wirtschaft. Die Union hat mit Ludwig Erhard die sozialeMarktwirtschaft in der Nachkriegszeit gegen vielfacheWiderstände durchgesetzt und die BundesrepublikDeutschland mit ihr erfolgreich gemacht. CDU und CSUlehnen die sozialistische Lenkung der Energiewirtschaftund andere Formen des Kollektivismus ab. Darum habenwir auch begonnen, den Energiemarkt in Deutschland sozu formen, dass auch auf ihm die soziale Marktwirtschaft
Metadaten/Kopzeile:
25872 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Joachim Pfeiffergilt. Nur so ist eine konkurrenzfähige und sozialverträg-liche Energieversorgung auf Dauer zu erreichen.Es freut mich, dass uns die Opposition mit ihren An-trägen zum Ende der Legislaturperiode nochmals dieMöglichkeit eröffnet hat, dies in diesem Hohen Hause sodeutlich darstellen zu können.
Zum Abschluss der Legislaturperiode diskutieren wirheute noch einmal über eine Reihe von energiepoliti-schen Anträgen der Opposition unterschiedlichster Cou-leur aus den vergangenen fünfzehn Monaten.In den Anträgen von FDP und Grünen aus 2008 wer-den in unterschiedlicher Ausprägung Maßnahmen zurVerbesserung des Wettbewerbs auf den Energiemärktengefordert. Hierzu ist zu sagen, dass Koalition und Bun-desnetzagentur in den vergangenen Jahren viel für eineVerbesserung des Wettbewerbs auf den Strom- undGasmärkten erreicht haben: Zwei Entgeltgenehmigungs-runden bei den Strom- und Gasnetzen haben eine Ein-sparung bei den Netzentgelten von insgesamt rund 4 Mil-liarden Euro gebracht. Die Anreizregulierung wurde zum1. Januar 2009 eingeführt. Die Verabschiedung derKraftwerksnetzanschlussverordnung hat einen erhebli-chen Fortschritt hin zu einem diskriminierungsfreienNetzanschluss neuer Anbieter bzw. Kraftwerke ermög-licht. Die Gasmarktgebiete sind auf weniger als zehn re-duziert worden. Weitere Zusammenlegungen sind aufDruck der Bundesnetzagentur in der Umsetzung bzw. an-gekündigt. Das Bundeskartellamt wurde gestärkt. Derdringend notwendige Ausbau der Stromübertragungs-netze wurde beschleunigt. Der Anteil erneuerbarer Ener-gien an der Stromerzeugung wurde erheblich ausgebaut.Dies sind nur einige Maßnahmen, die zeigen, dass dieKoalition im Energiesektor nicht untätig war, sondernaktiv die Rahmenbedingungen für einen funktionierendenWettbewerb auf den Strom- und Gasmärkten einschließ-lich eines diskriminierungsfreien Zugangs zu den Strom-und Gasnetzen verbessert hat.Zwischenzeitlich konnte auch das dritte EU-Energie-Binnenmarktpaket verabschiedet werden, das die Tren-nung zwischen Netz auf der einen sowie Erzeugung undVertrieb auf der anderen Seite weiter verschärft. Gleich-zeitig werden die nationalen Regulierungsbehörden wei-ter gestärkt und eine europäische Regulierungsbehördeeingeführt. Die Umsetzung in nationales Recht steht inder kommenden Wahlperiode an.Nun komme ich zu den jüngeren Anträgen von Linkenund Grünen mit weiteren Regulierungsforderungen so-wie zu möglichen Manipulationen am Strommarkt.Es ist zweifellos richtig, dass zahlreiche Stromver-triebe ihre Preise im Laufe dieses Jahres erhöht habenund dies teilweise auch für Juli angekündigt haben. Ge-nauso richtig ist aber auch, dass die meisten Vertriebe ih-ren Strom für 2009 bereits in den Jahren 2007 und 2008beschafft haben. Ein Blick in die Statistik zeigt, dass dieGroßhandelspreise in diesen beiden Jahren deutlich überdenen von heute lagen. Die Linken begründen den An-stieg der Strompreise nun ausschließlich mit einem Miss-Zu Protokollbrauch der Marktmacht durch die vier großen Energie-versorger und ignorieren den Zusammenhang zwischenhohen Öl- und Gaspreisen, hohen CO2-Zertifikatepreisenund den Strompreisen an der Strombörse. Dies istschlicht unredlich.Der Vorwurf von Linken und Grünen, Eon und RWEhätten in der Vergangenheit ihre – zweifelsohne vorhan-dene – Marktmacht missbraucht, ist sicher durchausrichtig. Die mittlerweile gegen erhebliche Auflagen ein-gestellten Verfahren der EU-Kommission gegen beideUnternehmen bestätigen dies. Seither hat sich jedochsehr viel in Sachen Transparenz, insbesondere auf demdeutschen Strommarkt, getan.Produktionsdaten der Kraftwerke aus Deutschland,der Schweiz und Österreich können über eigene Transpa-renzplattformen der Unternehmen sowie bei der EEX on-line eingesehen werden. Geplante und ungeplante Kraft-werksausfälle werden so weit wie möglich vorab bekanntgegeben. Die Transparenzinitiative wird auch 2009 miteiner gemeinsamen Internetplattform bei der EEX fort-gesetzt, auf der die von den Stromproduzenten gemelde-ten Daten noch besser als bisher zusammengeführt wer-den.Die Verdoppelung des Handelsvolumens am Stromter-minmarkt der EEX zwischen 2005 und 2008 ist ebenfallsein Anzeichen dafür, dass der Markt immer besser funk-tioniert. Mittlerweile sind an der EEX über 200 Handels-teilnehmer aus 20 Staaten aktiv und handeln Strom weitüber die deutschen Landesgrenzen hinaus. Darüber hi-naus haben die EEX aus Leipzig und die französischeStrombörse Powernext zwischenzeitlich ihre Spotmärktezusammengelegt.Die Linken fordern – wie in fast jedem Antrag zurEnergiepolitik – wieder einmal die Wiedereinführung ei-ner Strompreisaufsicht auf Länderebene. Diese unsinnigeForderung wird allerdings auch dadurch nicht richtiger,dass man sie gebetsmühlenartig wiederholt. Was falschist, bleibt falsch. Die staatliche Preisaufsicht hat sich im-mer nur auf den Vertrieb bezogen und konnte die Ver-braucher schon in der Vergangenheit nicht vor Preis-erhöhungen schützen. Hier hilft uns kein Rückfall in diestaatliche Preisaufsicht, sondern mehr Wettbewerb.Im Stromendkundenmarkt kommt dieser Wettbewerbmittlerweile sehr gut in Gang. Im Jahr 2007 haben be-reits rund 1,3 Millionen Stromkunden den Versorger oderzumindest den Tarif gewechselt. Auch im Gasmarkt istein zunehmender Wettbewerb um die Endkunden zu er-kennen, wenn auch noch auf einem deutlich niedrigeremNiveau. Eine staatliche Preisaufsicht würde diesen ge-rade aufkeimenden Wettbewerb gleich wieder zunichte-machen.Nach Untersuchungen des Internetportals Verivoxkann mittlerweile jeder Kunde in Deutschland zwischendurchschnittlich 53 Strom- und 8 Gasanbietern wählenund so bis zu 400 Euro im Vergleich zum Tarif des Grund-versorgers sparen.Ein gutes Signal für den Wettbewerb im deutschenEndkundenmarkt war auch die letzte Woche gefalleneEntscheidung der EU-Kommission zum Fusionsverfah-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25873
gegebene Reden
(C)
(D)
Rolf Hempelmannren des schwedischen Vattenfall-Konzerns und des nie-derländischen Unternehmens Nuon. Vattenfall darf Nuonnur unter der Auflage übernehmen, dass das Deutsch-landgeschäft von Nuon mit immerhin rund 275 000Strom- und 35 000 Gaskunden in den Vattenfall-Kern-märkten Berlin und Hamburg abgegeben wird. Die Kun-den, die sich in der Vergangenheit bewusst für einenWechsel entschieden haben, werden also nicht wiederVattenfall-Kunden durch die Hintertür.Mit der Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbe-schränkungen haben wir dem Bundeskartellamt mehrMacht im Kampf gegen missbräuchlich überhöhte End-kundenpreise eingeräumt. Das ist der richtige Weg, under zeigt erste Erfolge, wie die ebenfalls auflagenbe-wehrte Einstellung des Missbrauchsverfahrens gegen29 Gasversorger bis Anfang Dezember 2008 gezeigt hat.Das Bundeskartellamt hat im Frühjahr eine Sektoren-untersuchung des Stromgroßhandelsmarkts eingeleitet.Die Auswertung der abgeforderten Unterlagen wird sichvoraussichtlich bis zum Herbst hinziehen. Dann wirdsich zeigen, ob einigen Marktteilnehmern tatsächlichmissbräuchliches Verhalten nachgewiesen werden kann.Ich vertraue dabei der Arbeit des Bundeskartellamtesund sehe bis zum Abschluss der Untersuchung keine wei-tere Handlungsnotwendigkeit der Bundesregierung. Be-vor weitere Maßnahmen wie beispielsweise die von denGrünen geforderte Verschärfung der Börsenaufsicht inErwägung gezogen werden, sollte erst einmal das Ergeb-nis der Untersuchung abgewartet werden.Ich warne vor voreiligen Schlüssen und Vorverurtei-lungen. Sollten Manipulationen eines oder mehrererMarktteilnehmer tatsächlich nachgewiesen werden, dannplädiere ich dafür, sowohl politisch als auch juristischaktiv zu werden. Bis dahin gilt aber wie bei allen anderenUntersuchungen auch die Unschuldsvermutung.Es ist unbestreitbar, dass die Energiekostenentwick-lung der vergangenen Jahre für immer mehr Haushalteeine ganz erhebliche Belastung darstellt, auch wenn dieEnergiepreise jetzt als Folge der Wirtschaftskrise fallen.Die Menschen erwarten von der Politik, Handlungsop-tionen aufgezeigt zu bekommen. In Zeiten einer wachsen-den globalen Energienachfrage und gleichzeitig knapperwerdender Ressourcen wäre es falsch, Hoffnungen aufdauerhaft niedrige Energiepreise zu wecken. NationalePolitik kann auf die Preisentwicklung auf den Weltmärk-ten nur sehr bedingt Einfluss nehmen. Sie kann aber da-bei mithelfen, wenn schon nicht die Preise, so doch dieKostenbelastung für die Verbraucher im bezahlbarenRahmen zu halten. Ganz oben auf der Tagesordnungmuss deshalb stehen, gleichen Lebenskomfort bei sinken-dem Energieverbrauch zu ermöglichen. Wir haben un-sere Energie- und Klimapolitik auf diese Maxime ausge-richtet.Ein wesentlicher Pfeiler unserer Politik ist das Inte-grierte Energie- und Klimaprogramm, in dem wir zahl-reiche Maßnahmen aus allen Politikbereichen gebündelthaben. Kraft-Wärme-Kopplung und der verstärkte Ein-satz erneuerbarer Energien im Strom- und Wärmesektorverringern unsere Importabhängigkeit und mindern dieZu ProtokollEnergiekostenbelastung der privaten Haushalte. Schonseit Jahren schaffen wir darüber hinaus mit dem auf1,5 Milliarden Euro aufgestockten CO2-Gebäudesanie-rungsprogramm Anreize zur energetischen Gebäudesa-nierung. Allein im vergangenen Jahr wurden mehr als100 000 zinsgünstige Kredite und Zuschüsse mit einemVolumen von 6,4 Milliarden Euro für energetische Sanie-rungen oder energiesparende Neubauten zugesagt. Seit2006 konnten rund 800 000 Wohnungen energieeffizientsaniert oder neu errichtet werden und haben so jährlichbis zu 220 000 Arbeitsplätze in der mittelständischenBauwirtschaft und im lokalen Handwerk gesichert.Gleichzeitig wurde ein erheblicher Beitrag zum Klima-schutz geleistet, und die Haushalte werden bei ihrerEnergiekostenrechnung dauerhaft entlastet.Ein weiteres Element des integrierten Energie- undKlimaprogramms ist das ebenfalls bereits verabschiedeteGesetz zur Liberalisierung des Zähl- und Messwesens.Ab Januar 2010 haben Endkunden das Recht, sich intel-ligente Strom- und Gaszähler einbauen zu lassen. Damitschaffen wir Transparenz über den tatsächlichen Ener-gieverbrauch und eröffnen neue Möglichkeiten zur Ener-gieeinsparung sowie zur gezielten Last- und Verbrauchs-steuerung. Intelligente Zähler sind der Einstieg inintelligente Netze mit einer besseren Verzahnung vonStromerzeugung und Stromverbrauch. Wenn teure Last-spitzen vermieden werden können, bringt dies ein erheb-liches Einsparpotenzial sowohl in der Erzeugung alsauch im Netz.Im Gesetz enthalten ist auch die Pflicht für Energie-versorgungsunternehmen, spätestens Ende 2010 tages-zeit- oder lastvariable Tarife anbieten zu müssen. Damiteröffnen sich für Verbraucher und Energieversorger neueMöglichkeiten.Dies sind nicht wegzudiskutierende Erfolge dieser Ko-alition, mit denen wir die Ablehnung der Oppositionsan-träge gut begründen können. Ich möchte aber auch nichtverschweigen, dass wir mit einem mutigeren Koalitions-partner noch mehr hätten erreichen können. Wir hättenbeispielsweise gerne noch in dieser Legislaturperiodeein – dringend notwendiges – Hocheffizienzgesetz verab-schiedet. Dies war jedoch mit der Union nicht zu ma-chen.Parteiübergreifend herrscht Konsens, dass wir zur Er-reichung unserer ehrgeizigen Energie- und Klimaschutz-ziele eine Verdoppelung der Energieproduktivität inDeutschland zwischen 1990 und 2020 erreichen müssen.Um dieses Ziel zu erreichen, muss unsere Energieproduk-tivität bis 2020 jährlich um 3 Prozent ansteigen. ImDurchschnitt der letzten acht Jahre haben wir allerdingsgerade einmal 1,8 Prozent jährlich erreicht. Ohne wei-tere Maßnahmen zur Energieeffizienz, wie der Einfüh-rung von Energiemanagementsystemen in Unternehmenoder einem Energieeffizienzfonds zur Förderung von Be-ratung und Effizienzmaßnahmen in privaten Haushaltenwerden wir unser selbstgestecktes Ziel verfehlen. Daherwird die neue Koalition ab Herbst unabhängig von denpolitischen Konstellationen ein Energieeffizienzgesetzverabschieden müssen, das diesen Namen auch verdient.
Metadaten/Kopzeile:
25874 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Um die Energiekosten nachhaltig zu senken und mehrWettbewerb auf dem Strommarkt zu schaffen, gilt es, vorallem die wettbewerblichen Strukturen zu verbessern undeine strikte Missbrauchsaufsicht zu etablieren. Genauhier muss eine verantwortungsvolle Politik ansetzen.Die FDP hat in ihrem Antrag eine ganze Reihe vonStellschrauben genannt, die dazu beitragen können. Dader schwarz-roten Koalition aber nach wie vor ein kon-sistentes energiepolitisches Programm und damit einenachhaltige Strategie fehlt, kommt auch die Entwicklungdes Strommarktwettbewerbs nicht voran. Dabei ist eswichtig, gerade jetzt die Weichen zu stellen, damit Ener-gie auch in zehn Jahren noch bezahlbar und sicher ist.Die Voraussetzungen sind zum Teil gut: Inzwischenherrscht ein parteiübergreifender Konsens über den Vor-schlag der FDP, eine gemeinsame deutschlandweiteRegelzone zu etablieren. Damit könnten Kosten indreistelliger Millionenhöhe gespart und der Wettbewerbim Regelenergiemarkt verbessert werden. Doch dieschwarz-rote Regierung zaudert. Auch über zehn Jahrenach der Marktöffnung haben wir noch immer zersplit-terte Marktgebiete, und Gas kann nicht deutschlandweitan der Börse gehandelt werden. Den Gaskunden bleibtein echter Preiswettbewerb dadurch verschlossen. Einweiteres Beispiel: Wo bleibt eine effektivere Aufsicht überdie deutsche Strombörse? Dazu könnte eine unabhängigeMarktbeobachtungsstelle geschaffen werden, die durchneue Analyseinstrumente bereits während des Handels-vorgangs Manipulationen aufdecken kann.Das Risiko dieses Stillstands ist beträchtlich und er-höht sich weiter, je länger die Bundesregierung imNichtstun verweilt – das kann am Ende für die Bürger zueinem teuren Vergnügen werden. Diese Woche hätte ei-gentlich das CCS-Gesetz zur Abstimmung stehen sollen.Koalitions- und fraktionsinterne Streitigkeiten sorgenstattdessen dafür, dass Deutschland bei dieser wichtigenZukunftstechnologie den Anschluss verliert. Zugleich ris-kiert Deutschland nicht nur das Verfehlen seiner Klima-schutzziele, sondern stellt auch die weitere CO2-ärmereNutzung der Kohle infrage. Viele Unternehmen stehennun vor völliger Planungsunsicherheit. Wer will, dassDeutschland jedoch weiter aus der Kernenergie ausstei-gen und gleichzeitig vor allem Gas für neue Kraftwerkeeinsetzen soll, der wird sich gleich zwei Probleme ein-handeln: erstens eine Verknappung des Energieangebotsmit preistreibendem Effekt und zweitens eine steigendeAbhängigkeit vom russischen Gas. Erneuerbare Ener-gien werden in der Grundlast noch keinen Ausgleich be-reitstellen können. Denn für eine sichere Versorgungzählt nicht nur die Menge an erzeugten Strom, sonderndie sichere Verfügbarkeit zu jeder Tages- und Nachtzeit.Alles andere sind gefährliche grüne Wunschträume. Einenoch größere Abhängigkeit von Russland kann ebenfallsnicht unser Ziel sein. Wir treten dafür ein, dass Deutsch-land auch in Zukunft seine Versorgung mit grundlast-fähigem Strom in größtmöglicher Unabhängigkeitorganisiert. Klimaschutz zu vertretbaren Kosten beigleichzeitiger Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeitist noch auf längere Frist nur mit der Kernenergie undnicht gegen sie zu erreichen.Zu ProtokollVor dem Weg, den die Fraktion Die Linke begehenwill, um die Probleme auf dem Strommarkt zu beheben,kann ich nur warnen. Die in dem Antrag formuliertenSchritte führen quasi in eine Verstaatlichung. Anstatt dieUrsachen des Problems zu beheben, nämlich den fehlen-den Wettbewerb bei der Stromproduktion, will die Linkean den Symptomen kurieren. Die vorgeschlagene Rück-kehr zu einer Strompreisaufsicht bei den Ländern magpopulär sein, eine Lösung für das Preisproblem ist siekeinesfalls. Die Strompreisaufsicht würde uns zurück inden Zustand vor der Liberalisierung katapultieren. Ge-nau diese Aufsicht hat es nicht verhindern können, dassdie Strompreise in Deutschland zu Beginn der Liberali-sierung zu den höchsten Europas zählten. Die Kontrol-leure bei den Ländern waren den kontrollierten Unter-nehmen vom Wissensstand jederzeit unterlegen. DasGanze war nichts anderes als ineffiziente Basarökono-mie. Für den Wettbewerb käme die Rückkehr zur Preis-aufsicht einer Katastrophe gleich. Neue Stromanbieterund Händler würden zusammen mit den von ihnen ge-schaffenen Arbeitsplätzen wieder vom Markt gefegt. DasRecht des Verbrauchers, sich seinen Stromanbieter aus-zusuchen, wäre bei einem Einheitspreis Makulatur. Dergesamte Energiehandel würde gegen die Wand gefahren.Denn steigen die Erzeugerpreise infolge von Preissteige-rungen auf dem Markt für CO2-Zertifikate, so müsste derStromhandel im Einkauf höhere Preise zahlen, könnteaber diese Preissteigerungen nicht mehr an die Endkun-den weitergeben. Das heißt, die Stromhändler würdenhohe Verluste aufhäufen. Damit würde genau die Situa-tion erzeugt, die in Kalifornien zum Zusammenbruch derStromversorgung geführt hat.Die FDP-Bundestagsfraktion ist dafür, dass Markt-macht dort, wo sie von marktbeherrschenden Unterneh-men ausgeübt wird, effektiv kontrolliert wird und gegenMissbrauch durch das Kartellamt oder die EU-Kommis-sion streng vorgegangen wird. Wichtige Handelsein-richtungen wie die Strombörse EEX müssen mit Auf-sichtssystemen gekoppelt werden, die Preismanipulationverhindern können. Deshalb fordern wir eine Markt-beobachtungsstelle, die in der Lage ist, die Handelspro-zesse an der Börse zu überwachen und einem Manipula-tionsverdacht sofort nachzugehen. Die Handelsteilnehmerals solche zu beschränken, bringt dagegen nichts. Damitwird nur Handelsliquidität vom Markt genommen. DerHandel über zukünftige Preise ist aufgrund der erforder-lichen Prognosen immer spekulativ, egal wer an diesemHandel beteiligt ist.Die FDP ist für eine deutliche Entlastung der Bürgervon den Energiekosten. In den letzten Jahren haben sichdie Energiepreise für private Haushalte und auch Teileder deutschen Wirtschaft erheblich erhöht – für viele ineinem kaum mehr verkraftbaren Maß. Im Gegensatz zuden eilig zusammengeschusterten Forderungen vonBündnis 90/Die Grünen, die höchstens populistische All-gemeinplätze bedienen, setzen wir Liberalen auf kon-struktive ordnungspolitische Vorschläge, um die berech-tigten Anliegen der Bevölkerung in der Energiepolitikvoranzubringen. Und da ist die Senkung der staatlichenZusatzlasten durch das Zurückdrehen der Steuer-schraube der richtige Weg. Die FDP fordert eine Absen-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25875
gegebene Reden
(C)
(D)
Gudrun Koppkung des Umsatzsteuersatzes auf Energie von 19 Prozentauf 7 Prozent. Dies bringt mehr Netto für alle Verbrau-cher, für Familien, aber auch für die Wirtschaft. DieDinge des täglichen Bedarfs sollten für die Mitte der Ge-sellschaft erschwinglich werden. Mobilität, das Heizenund der Strom dürfen kein Luxus werden. Deshalb setzenwir bei dem größten Preistreiber an, dem Staat. Denn40 Prozent der Stromrechnung eines durchschnittlichenHaushalts sind staatlich veranlasst. Der Spritpreis be-steht sogar zu fast zwei Dritteln aus Steuern. Dabei wirdUmsatzsteuer nicht nur auf den Nettopreis des Kraftstoffserhoben, sondern auch auf die darauf zu entrichtendeMineralölsteuer. Jede Preisrunde spült dem Finanz-minister mehr Geld in die Kasse. Den Empfängern vonSozialleistungen über Sozialtarife die in der Stromrech-nung verborgenen staatlichen Lasten abzunehmen, kannnicht Aufgabe der Mehrheit der Stromkunden sein. Diedeutschen Bürger zahlen bereits heute durch eine ver-fehlte Steuerpolitik ohnehin zu viel Steuern. Die gegen-wärtige Besteuerung von Energie ist nur ein weiterer Be-leg dafür, dass Deutschland nicht nur eine Steuerreform,sondern ebenso eine umfassende Strukturreform seinerSteuern braucht.Darüber hinaus aber lassen sich die Wettbewerbspro-bleme auf den deutschen Strom- und Gasmärkten nichtmit einfachen Parolen à la Zerschlagung oder Ähnlichemwegdiskutieren. Hier sind verbesserte ordnungspoliti-sche Rahmenbedingungen gefragt. Wir schlagen vor,eine eigentumsrechtliche Entflechtung der Netzebene al-lenfalls als Ultima Ratio vorzusehen, stattdessen aber diewirklichen Probleme in Angriff zu nehmen. Eine gemein-same „Netz AG“, in der die Übertragungsnetze der gro-ßen EVU gebündelt würden in einer unabhängigen Ge-sellschaft, wäre hinreichend unabhängig, ohne dieverfassungsmäßigen Probleme einer Enteignung aufzu-werfen.Die effektivste Art, die eigene Energierechnung zusenken, bleibt das Energiesparen. Wir unterstützen alleAnsätze für eine bessere Energieberatung, allerdingsnicht als Zwangsberatung, denn die ist wenig effektiv.Produzenten und Handel haben es in der Hand, denEnergiespareffekt zu einem Verkaufsargument zu ma-chen. In vielen Fällen amortisieren sich Mehrkosten beider Anschaffung durch die Energieersparnis. Abzulehnensind dagegen planwirtschaftliche Gängelungen, wie siedie Bundesregierung mit dem ersten Entwurf des Ener-gieeffizienzgesetzes vorgelegt hatte. Inzwischen hat dieBundesregierung nicht nur den eigenen Gesetzentwurfwieder kassiert, sondern die Umsetzung des Gesetzesinsgesamt ad acta gelegt – und das, obwohl die EU-Richtlinie längst hätte umgesetzt werden müssen.
Seit diese Bundesregierung im Amt ist, hat sich Strom
um über ein Viertel verteuert. Das ist die energiepoliti-
sche Bilanz der Großen Koalition. Das kann jeder von
uns von der Stromrechnung ablesen. Das Schlimme da-
ran: Dieser Feldzug gegen die Verbraucherinnen und
Verbraucher wird maßgeblich von der Bundesregierung
betrieben. Erstens: CDU/CSU und SPD haben die Strom-
preisaufsicht Mitte 2007 abgeschafft. Seit diesem Zeit-
Zu Protokoll
punkt verteuert sich elektrische Energie doppelt so
schnell. Zweitens: Wirksame Maßnahmen der EU-Kom-
mission gegen die Energiekonzerne zur Eindämmung der
Monopolwirtschaft werden von der Bundesregierung ge-
zielt verhindert. Erst vor kurzem hat sie einen Vorschlag
Brüssels zur Zerschlagung des Stromkartells zu Fall ge-
bracht – ganz nach dem Wunsch Eon, RWE, Vattenfall
und EnBW. Drittens: Die Große Koalition sieht dem Trei-
ben von Hedgefonds und Banken an der Strombörse EEX
tatenlos zu. Dort werden durch den Handel mit Strom-
mengenverträgen, sogenannten Derivaten, künstliche
Strompreise erzeugt, die weit über den nachvollziehbaren
Stromgestehungskosten liegen. Die Strombörse ist nichts
anderes als eine Gelddruckmaschine für Spekulanten.
Das ist auch ein Grund, warum die Stromrechnungen
trotz Krise und fallender Rohstoffpreise weiter steigen.
Viele Stadtwerke und Regionalversorger mit geringer
Eigenversorgung mussten sich weit im Voraus mit ver-
fügbarem Strom vom Markt eindecken. Sie bekommen
jetzt die Energie geliefert, die sie vor über einem Jahr
teuer kaufen mussten. Preissenkungen sind deshalb vor-
erst nicht zu erwarten. Ohne Zockerei an der EEX und
bei Einbeziehung günstigerer Rohstoffe würden Privat-
haushalte heute für elektrische Energie ganze 11,5 Mil-
liarden Euro weniger bezahlen!
Deshalb müssen wir jetzt den Spekulanten das Hand-
werk legen. Ein Verbot des hochspekulativen Deriva-
tehandels durch Hedgefonds und Banken verhindert eine
erneute Preisspirale nach oben. Denn Hedgefonds kau-
fen keinen Strom, um ihre Büros mit elektrischer Energie
zu versorgen, sondern um 30 Prozent Profit zu machen.
Das Stromgeschäft gehört zurück in die Hände der Stadt-
werke, und der Monopolwirtschaft der Konzerne muss
durch eine wirksame Preisaufsicht ein Ende bereitet wer-
den.
Die Linke fordert deshalb: eine wirksame Strompreis-
aufsicht mit Zuständigkeit bei den Ländern einzuführen,
der gegenüber die Energieversorger die Zusammenset-
zung aller Tarife vorab offenlegen müssen. Gleichzeitig
soll ein Verbraucherbeirat den Stromkundinnen und
Stromkunden ein Mitspracherecht gewähren und in de-
ren Interesse die behördliche Tätigkeit überwachen; den
Derivatehandel sowie Hedgefonds an der Strombörse
verbieten und die Kontrolle des gesamten Stromhandels
einschließlich außerbörslicher Geschäfte einer öffentli-
chen Einrichtung übertragen; am Stromhandelsmarkt
nur Teilnehmer zulassen, die unmittelbar physische
Stromgeschäfte durchführen, und den Spotmarkt für den
kurzfristigen Handel vollständig den Regeln des Wertpa-
pierhandelsgesetzes unterwerfen, um unzulässige Preis-
auftriebe für den langfristigen Terminmarkt zu unterbin-
den.
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich endlich auf
die Seite der Verbraucherinnen und Verbraucher zu stel-
len, um die Abzocke per Steckdose zu beenden.
Die Stromkonzerne nutzen ihre marktdominante Stel-lung aus, um die Strompreise in die Höhe zu treiben. Dasist inzwischen aktenkundig. Die EU-Kommission hat dem
Metadaten/Kopzeile:
25876 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25877
(C)
(D)
Hans-Josef FellEon-Konzern wegen der gezielten Kapazitätsrückhaltungein Milliardenbußgeld angedroht. Der Vorwurf: Eon hatKraftwerke gedrosselt oder abgeschaltet, um das Strom-angebot zu verringern und den Börsenpreis für Stromzum eigenen Nutzen in die Höhe zu treiben. Dadurch istden Stromkunden und -kundinnen ein Milliardenschadendurch überhöhte Strompreise entstanden. Leider hat dieEU-Kommission das Verfahren gegen Eon gegen einenVergleich eingestellt. Eon muss 5 000 Megawatt Kraft-werksleistung sowie sein Übertragungsnetz an andereUnternehmen abgeben.Weitere Ermittlungen gegen Eon sind damit nichtmehr möglich, die Akten liegen in den Kellern der EU-Kartellbehörde unter Verschluss. Weder die deutschenBehörden noch Gerichte haben Zugriff darauf. Die Ver-braucherinnen und Verbraucher haben von dem Ver-gleich nichts Zählbares. Sie sind über Jahre abgezocktworden, doch ein Recht auf Rückzahlung der überhöhtenPreise haben sie nicht.Der Vorgang zeigt einmal mehr, dass der Strommarktwegen der Dominanz der Energiekonzerne nicht funktio-niert. Er ist möglicherweise nur die Spitze des Eisbergs.Denn aktuell laufen Verfahren gegen alle großen deut-schen Stromkonzerne.Doch welche Schlüsse sind aus dem Marktversagen zuziehen? Die Linke fordert in ihrem Antrag, den Börsen-handel massiv zu beschränken, besser gesagt: ihn defacto abzuschaffen. Das wäre ein großer Schritt in dasvon der Linken propagierte Zurück zu einer staatlich be-herrschten Energieversorgung. Dazu passt dann auchdie zweite Forderung, dass eine staatliche Preisaufsichteingeführt werden soll. Sie ist weder neu, noch bringt sieuns weiter. Wir hatten lange Jahre eine Preisaufsicht derLänder. Vor Strompreiserhöhungen hat das aber nieman-den geschützt. Im Gegenteil: Es gab vielerorts einenWildwuchs zwischen den Energiekonzernen und den Auf-sichtsbehörden. Mit Kontrolle hatte all das nichts zu tun.Da bietet die heutige Regulierung über die Bundesnetz-agentur und die Kontrolle über das Bundeskartellamtweit bessere Möglichkeiten.Der Weg der Linken ist zum Scheitern verurteilt, under wird von uns abgelehnt. Denn er heißt nichts anderes,als zurückzukehren zu Monopolen. Monopole, auchstaatliche, sind aber der natürliche Feind des Fort-schritts und damit auch der dringend erforderlichenEnergiewende. Das dynamische Wachstum der erneuer-baren Energien, die wachsende Zahl von Energieanbietern– all das ist nur in einem fairen Energiemarkt, der auch aufdem ökologischen Auge nicht blind ist, zu erreichen.Doch nicht die Linke behindert die Schaffung fairerWettbewerbsbedingungen auf dem Markt. Ausgerechnetdie Marktfetischisten in FDP und CDU sperren sich undhalten den großen Konzernen die Treue. Zusammen mitder SPD haben sie schon unsere Initiative abgelehnt, diePreismanipulationen in einer Anhörung zu durchleuch-ten. Von einem funktionierenden Energiemarkt sind wirin Deutschland noch weit entfernt. Der Rahmen stimmtnicht, und wir Grüne fordern deshalb, nicht den Marktabzuschaffen, sondern endlich für die richtigen Rahmen-bedingungen zu sorgen, um fairen Wettbewerb, Innova-tion und Klimaschutz in der Energieversorgung voranzu-bringen.Als Erstes wollen wir die Strompreismanipulationdurch ein konsequentes Einschreiten auch der nationalenKartellbehörden unterbinden. Es reicht nicht, dass aufEU-Ebene Vergleiche mit den Konzernen geschlossenwerden. Die Kartellbehörden müssen auch auf nationa-ler Ebene aktiv werden und den Missbrauch der Markt-macht beenden.Nicht minder bedeutend ist es herauszubekommen,wie groß eigentlich der von Eon angerichtete Schadenbei den Stromkunden wirklich ist. Darüber wird bislanghartnäckig geschwiegen. Experten schätzen ihn auf biszu 30 Milliarden Euro. Es geht also um viel Geld. DiesesGeld gehört den Verbraucherinnen und Verbrauchern.Wir wollen, dass die unrechtmäßigen Gewinne zugunstender Verbraucher abgeschöpft werden können, etwa überdie Verbraucherorganisationen. Die Verbraucherinnenund Verbraucher benötigen dringend mehr Rechte, umsich gegen das Treiben der Energiekonzerne zur Wehrsetzen zu können. Wir fordern deshalb von der Bundesre-gierung, die aktuellen Bemühungen der EU-Kommissionzur kollektiven Rechtsdurchsetzung – etwa durch Sam-melklagen – mit aller Kraft zu unterstützen, damit Strom-kunden ihre Rechte künftig besser durchsetzen können.Nicht zuletzt brauchen wir eine Stärkung der Börsen-aufsicht und der Verbraucherrechte. So ist bis heute bei-spielsweise der Insiderhandel an der Strombörse nichtverboten. Das muss sich schleunigst ändern. Auch in ei-nem funktionierenden Energiemarkt wird Strom nicht bil-lig. Dagegen sprechen schon die inzwischen wieder an-steigenden Preise für Öl und Erdgas. Durch einentransparenten und fairen Markt können wir aber verhin-dern, dass einige wenige Konzerne sich unrechtmäßigbereichern. Dafür ist es höchste Zeit.
Zunächst kommen wir zum Tagesordnungs-punkt 35 a. Abstimmung über die Beschlussempfehlungdes Ausschusses für Wirtschaft und Technologie aufDrucksache 16/13069.
– Ich bitte um Aufmerksamkeit. Wir müssen die Abstim-mungen sauber durchführen. Es muss jeder verstehen,worüber wir abstimmen. Ich bitte, so weit Ruhe zu be-wahren.Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-tion Die Linke auf Drucksache 16/11908 mit dem Titel„Strommarkt durchgreifend regulieren – Energiepreissen-kungen durchsetzen“. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – DieBeschlussempfehlung ist mehrheitlich angenommen.Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehltder Ausschuss die Ablehnung des Antrags der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12692 mit
Metadaten/Kopzeile:
25878 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solmsdem Titel „Manipulierte Strompreise – Verbraucherinte-ressen wahren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist mehrheitlich angenommen.Tagesordnungspunkt 35 b: Abstimmung über die Be-schlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft undTechnologie auf Drucksache 16/9495. Der Ausschussempfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung dieAblehnung des Antrags der Fraktion der FDP aufDrucksache 16/8079 mit dem Titel „Strukturelle Wettbe-werbsdefizite auf den Energiemärkten bekämpfen“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mehrheitlich angenommen.Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehltder Ausschuss die Ablehnung des Antrags der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8536 mitdem Titel „Das Energiekartell aufbrechen – Für Klima-schutz, Wettbewerb und faire Energiepreise“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istmehrheitlich angenommen.Tagesordnungspunkt 35 c: Abstimmung über die Be-schlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft undTechnologie zu dem Antrag der Fraktion der FDP mitdem Titel „Energiekosten senken – Mehr Netto für dieVerbraucher“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 16/10506, den An-trag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9595 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mehrheitlich angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 36 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu derVerordnung der BundesregierungVerordnung über die Versteigerung von Emis-sionsberechtigungen nach dem Zuteilungsge-
– Drucksachen 16/13189, 16/13263 Nr. 2.3,16/13677 –Berichterstattung:Abgeordnete Andreas Jung
Frank SchwabeMichael KauchEva Bulling-SchröterBärbel HöhnHierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionder FDP vor.
Mit dem Emissionshandel haben wir in Deutschland
und Europa ein marktwirtschaftliches System etabliert,
um die großen Unternehmen an unseren Bemühungen um
einen effizienten Klimaschutz zu beteiligen. Europa ist
Vorreiter auch in diesem Bereich. Unser Ziel ist nun, den
europäischen Emissionshandel weiterzuentwickeln, ihn
mit anderen Emissionshandelssystemen weltweit zu ver-
knüpfen, um am Ende ein umfassendes globales System
zu erreichen. Dies war auch Thema im Rahmen der Reise
der Bundeskanzlerin in die USA. Ihre Beratungen mit
US-Präsident Obama zum Klimawandel hatten eben
auch ein solches Handelssystem zum Thema.
Der Weiterentwicklung des Systems und insbesondere
auch dem Zurückdrängen von Windfall Profits, von Mit-
nahmeeffekten, dient die schrittweise Einführung der
Versteigerungspflicht. Die letztlich erfolgreiche Initiative
zur Einführung einer Teilversteigerung ging vom Parla-
ment aus und wurde von der Union vorangetrieben. Mit
einem gemeinsamen Antrag der Koalitionsfraktionen ha-
ben wir vor den Verhandlungen über die Ausgestaltung
des europäischen Emissionshandels die Bundesregie-
rung auf eine 100-prozentige Versteigerung für den
Strombereich festgelegt.
Das Zuteilungsgesetz 2012 – ZUG 2012 – regelt die
Zuteilung von Emissionsberechtigungen für emissions-
handelspflichtige Anlagen. Es sieht in dieser Handelspe-
riode neben kostenloser Zuteilung eine Veräußerung von
Teilen der Gesamtzuteilungsmenge vor. Den Weg hin zu
einer vollständigen Versteigerung soll jetzt die Emissi-
onshandelsversteigerungsverordnung 2012 ebnen. Sie
enthält Regelungen, nach denen in den Jahren 2010 bis
2012 jährlich 40 Millionen Emissionsberechtigungen in
Deutschland versteigert werden. Damit erproben wir das
Versteigerungsverfahren bereits heute, bevor ab der drit-
ten Handelsperiode des EU-Emissionshandels für die
Jahre 2013 bis 2020 die Versteigerung die einzige
Allokationsmethode sein wird.
Die Emissionshandelsversteigerungsverordnung 2012
übernimmt das Konzept, die Zertifikate an einer der be-
stehenden Börsen für die Emissionsberechtigungen zu
handeln. Damit soll gewährleistet werden, dass eine Ver-
bindung zu ausreichend liquidem Markt besteht.
Vorgesehen ist: Eine wöchentliche Versteigerung in ei-
nem einfachen, transparenten und diskriminierungs-
freien Prozess mit gleichen, vorher festgelegten Mengen,
870 000 Zertifikate pro Woche. Die Versteigerung von
Geschäften zur kurzfristigen Erfüllung, Spot, und auf
Termin, Futures. Ein einfaches Design mit einer Bieter-
runde, in der alle erfolgreichen Bieter den gleichen Preis
bezahlen. Die Teilnahme aller Marktteilnehmer am nor-
malen Börsenhandel an der Versteigerung. Die Nutzung
der gesamten Aufsichts- und Sicherungsinfrastruktur der
Börsen. Damit sollen Versuche verhindert werden, den
Versteigerungspreis zu manipulieren. Transparenz durch
zeitnahe Veröffentlichung des Versteigerungsergebnisses
und regelmäßige Berichte. Kein staatlicher Eingriff in
die Preisbildung, die Versteigerung soll gerade den
marktkonformen CO2-Preis ermitteln.
Natürlich stellt sich die Frage nach den Kosten. Ich
weiß, dass teilweise die Sorge besteht, dass gerade klei-
nere Unternehmen durch die hohen Kosten von der Teil-
nahme an der Versteigerung abgehalten werden könnten.
Wir gehen nach unseren Informationen davon aus, dass
der Wechsel vom Verkauf an den Handelsplätzen zur Ver-
(C)
(D)
Andreas Jung
steigerung zu keinen zusätzlichen Kosten führt. Bisher
veräußerte der Bund Emissionsberechtigungen nur an
Börsen, sodass diejenigen Unternehmen, die die Berech-
tigungen direkt vom Bund erwerben möchten, bisher
auch schon an einer Börse zugelassen sein müssen. Zu-
dem dürfen erhobene Gebühren und Entgelte gemäß § 4
Abs. 2 nicht höher sein als diejenigen, die sonst für den
Handel mit Berechtigungen an der jeweiligen Börse ver-
langt werden. Alternativ können Unternehmen indirekt
– über ihre Geschäftsbanken als Intermediäre – an der
Versteigerung teilnehmen oder ihren Bedarf über den
täglichen Börsenhandel decken, sofern dies für sie güns-
tiger ist.
Wir nehmen die erhobenen Einwände gegen das vor-
gesehene System jedoch insofern ernst, als wir die Ver-
steigerung in der Zeit bis 2013 auch als Probephase
ansehen. Bevor zur vollständigen Auktionierung überge-
gangen wird, müssen die Erfahrungen ausgewertet und
die Regelungen auf den Prüfstand gestellt werden. Wir
gehen davon aus, dass mit dieser Verordnung eine gute
Grundlage für eine erfolgreiche Auktionierung und für
effizienten Klimaschutz geschaffen wird.
Auch zu so später Stunde geht es um ein wichtigesThema, meines Erachtens sogar um eines der wichtigstenund drängendsten Themen der internationalen Politik –die Klimapolitik. Passend zur Uhrzeit kann man sagen,dass es nicht nur gerade bei uns im Bundestag, sondernauch in der Klimapolitik kurz vor zwölf ist. Die Zeitdrängt, die Klimawissenschaftler sagen uns, dass derKlimawandel viel schneller voranschreitet als befürchtet,und die Konferenzen der internationalen Klimapolitiktreten auf der Stelle. Es ist somit von größter Wichtigkeit,beim Klimaschutz vom Reden zum Handeln zu kommen,und das nicht nur international, sondern auch auf derEbene der Nationalstaaten.In Deutschland wollen wir den Ausstoß an gefährli-chen Treibhausgasen bis zum Jahr 2020 um 40 Prozentim Vergleich zu 1990 senken. Mit dem Integrierten Ener-gie- und Klimapaket der Bundesregierung verbinden wirdas Ziel, dass wir etwa 35 Prozent dieser Minderung ab-bilden können. Es ist sehr wichtig, dass wir in der nächs-ten Legislaturperiode Maßnahmen beschließen, mit de-nen wir die Lücke zu den 40 Prozent schließen können.Die Maßnahmen des Integrierten Energie- und Klimapa-kets müssen effizient umgesetzt und bestehende Gesetzedahin gehend überprüft werden, ob sie die gesetztenZiele erreichen.Ein zentrales Instrument, um unser Klimaziel errei-chen zu können – und das auf eine ökonomisch sinnvolleWeise – ist der Emissionshandel. Bisher wird der größteTeil der Verschmutzungsberechtigungen kostenlos zuge-teilt, ein kleiner Teil wird verkauft. Heute beschließen wirim Deutschen Bundestag den Einstieg in die Versteige-rung von Emissionsberechtigungen. Wir geben der Ver-steigerung einen rechtlichen Rahmen. Ab dem 1. Januardes nächsten Jahres werden etwa 10 Prozent der Zertifi-kate versteigert. Mit dem Einstieg in die Versteigerungerproben wir dieses neue Instrument, das ab dem JahrZu Protokoll2013 sehr wichtig wird. Denn ab 2013 werden im Strom-sektor, mit wenigen Ausnahmen in Osteuropa, alle Zerti-fikate versteigert; bei der Industrie gibt es einen vorsich-tigen Einstieg in die Versteigerung.Ich möchte daran erinnern, dass es das Parlamentwar, das die Versteigerung erstritten hat. Es mag sich fürdiejenigen, die nicht täglich mit dem Emissionshandelbeschäftigt sind, sehr technisch anhören. Die Art, wie dieZertifikate vergeben werden, ist aber von größter Wich-tigkeit. Man muss wissen, dass die Stromkonzerne dieZertifikate gratis vom Staat geschenkt bekommen, sieaber in die Stromrechnung einpreisen. Das heißt, jedervon uns zahlt mit seiner Stromrechnung für etwas, dassdie Stromkonzerne geschenkt bekommen haben und mitdem sie nach Berechnungen des Öko-Instituts jedes Jahr7 Milliarden Euro einstreichen. Dieser Abzocke setzenwir ab dem Jahr 2013 einen Riegel vor.In den Jahren davor lässt uns das Europarecht nurden Raum, etwa 10 Prozent der Zertifikate zu verstei-gern. Diese Möglichkeit nutzen wir fast vollständig. Eswar richtig, dass wir in unendlich vielen Gesprächen ge-gen eine geballte Lobbymacht als Abgeordnete das All-gemeinwohl hochgehalten haben und nicht irgendwelcheLobbyinteressen; ein großer Erfolg eines durchausselbstbewussten Parlaments, an den ich heute noch ein-mal erinnern möchte.Heute gilt es nun, diese Versteigerung konkret auszu-gestalten. Wer soll mitsteigern können? Wo, wann undwie soll versteigert werden? Soll es Preisgrenzen geben?Sollen wir eine neue Struktur aufbauen oder die beste-henden Börsen nutzen? Alles Fragen, die für das relativneue Instrument des Emissionshandels und den relativneuen Markt für Emissionsberechtigungen sehr sensibelsind. Unsere Antworten müssen gut durchdacht sein,Transparenz schaffen und verhindern, dass es zu Markt-manipulationen kommt. Deswegen hat es eine Reihe vonGesprächen gegeben, erst im Rahmen der Verbändean-hörung des Umweltministeriums, dann bei uns im Rah-men des parlamentarischen Verfahrens.Ich bin mir sicher, dass wir mit der vorliegenden Ver-ordnung eine gute Grundlage geschaffen haben, umdiese Ziele zu erreichen. Wir sind allerdings klug bera-ten, wenn wir vor dem Jahr 2013, bevor die Versteige-rung im großen Stil eingeführt wird, diese Regeln über-prüfen. Dann haben wir erste Erfahrungen gemacht undkönnen auswerten, ob die Marktteilnehmer, die kleineAnlagen besitzen und nur geringe Mengen an Zertifika-ten ersteigern müssen, gerecht behandelt werden, oderob sie so hohe Börsengebühren bezahlen müssen, dasswir über neue Regeln nachdenken müssen. Eine faire Be-handlung des Mittelstandes ist mir äußerst wichtig.Mit der Versteigerungsverordnung setzen wir auf dasKonzept, dass die Emissionsberechtigungen am einfachs-ten und am sichersten da angeboten werden, wo auch dernormale Handel stattfindet: an einer der bestehendenEmissionshandelsbörsen. Dort bestehen schon profes-sionelle Aufsichts- und Abwicklungsstrukturen. So kön-nen wir auf den Aufbau einer neuen Bürokratie verzich-ten. An welcher Börse genau? Das entscheidet sich nachdem Vergabeverfahren. Das Bundesumweltministerium
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25879
gegebene Reden
(C)
(D)
Frank Schwabe
schreibt in einem Vergabeverfahren aus, und die Börsenkönnen sich mit ihren Konzepten bewerben. So sorgenwir dafür, dass das wirtschaftlichste und sicherste Ange-bot den Zuschlag erhält.Mich hat auch eine Börse angesprochen, die wollte,dass wir die Kriterien für die Vergabe derart gestalten,dass nur noch eine bestimmte Börse den Zuschlag erhal-ten kann. Ich wünsche dieser Börse, dass sie den Zu-schlag erhält, aber dadurch, dass sie in einem transpa-renten Verfahren das beste Angebot macht, und nichtdadurch, dass die Kriterien nur eine Börse zulassen.Denn es wäre unverantwortlich, wenn nicht die Börseden Zuschlag erhalten sollte, die das beste, das transpa-renteste, das am besten überwachte und das billigste An-gebot vorlegt, sondern die Börse, die das Gesetz vor-schreibt, ganz egal, wie teuer sie ist. Nun haben also alleBörsen ein Angebot vorzulegen, und das beste Angeboterhält den Zuschlag. Ich kann dieser einen Börse somitnur ans Herz legen, ein gutes Angebot zu machen undbesser als die Konkurrenz zu sein. Eine Börse, immerhindas Symbol für Marktwirtschaft, wird bestimmt gernediese Grundregel der Marktwirtschaft beherzigen.Nun noch etwas zu den weiteren Details der Verord-nung. Auf die Festschreibung eines Preiskorridors habenwir verzichtet. Denn ein Preiskorridor hätte das Preissi-gnal außer Kraft gesetzt. Die Verordnung regelt die Ver-steigerung von jährlich 40 Millionen Emissionszertifika-ten für die Jahre 2010 bis 2012. Für die Versteigerungenin diesen drei Jahren sieht die Verordnung vor, dass dieAuktion in wöchentlich gleichen Mengen an einer der be-stehenden Emissionshandelsbörsen stattfindet, und zwarin der Form der dort gehandelten Produkte, das heißt aufdem Spot- und Terminmarkt. Die Versteigerung selbstwird nach dem einfachen Verfahren durchgeführt. DiesesVerfahren ist bei solchen Transaktionen üblich.Für die Börsenaufsicht und die Abwicklung der er-folgreichen Gebote gelten dieselben Regeln wie beimsonstigen Börsenhandel. Damit bleiben die besonderenVorteile des Emissionshandels auch bei der Versteige-rung erhalten, da beim Emissionshandel Angebot undNachfrage aller Marktteilnehmer den aktuellen Wert derEmissionszertifikate bestimmen. Nach der Versteige-rungsverordnung sind staatliche Eingriffe in den Preis-bildungsprozess nur für solche Ausnahmefälle vorgese-hen, bei denen einzelne Bieter versuchen sollten, durchihre Gebotsabgabe den Versteigerungspreis zu manipu-lieren und damit den Prozess zu missbrauchen.Die Versteigerungsverordnung enthält eine ausdrück-liche Öffnungsklausel, nach der auch andere EU-Mit-gliedstaaten ihre Zertifikate auf der deutschen Handels-plattform versteigern können.Wir haben also ein einfaches, transparentes und kos-tengünstiges Konzept für die Versteigerungen. Unserbörsennaher Ansatz wird auch auf die europäische Dis-kussion Einfluss nehmen. Wichtig ist, dass wir unserKonzept in einigen Jahren dahin gehend überprüfen, oball das Realität geworden ist, was wir uns heute vorstel-len. Sollte dies nicht der Fall sein, müssen wir möglicheFehlentwicklungen korrigieren.Zu ProtokollSoweit zur Versteigerungsverordnung. Es ist der letzteRechtsakt, den wir in dieser Legislaturperiode im Be-reich Klimaschutz verabschieden. Wir haben in dieserLegislaturperiode einiges für den Klimaschutz erreicht.Leider sind auch wichtige Projekte gescheitert, zum Bei-spiel das Umweltgesetzbuch oder das Energie-Effizienz-Gesetz. Gerade im Bereich der Energieeffizienz müssenwir in der nächsten Legislaturperiode viel mehr errei-chen. Machen wir also in der neuen Legislaturperiodegleich damit weiter und zeigen, dass Klimaschutz derWeg aus der Krise und kein Hindernis ist.Viele haben das noch nicht verstanden. Deswegengeht es bei der Wahl im September um eine Richtungsent-scheidung. Wollen wir die eingeleitete Energiewende unddas Jobwunder bei den erneuerbaren Energien weiter-führen, oder setzen sich die Atomkonzerne RWE, Eon,Vattenfall und EnBW durch und würgen die Ener-giewende ab, stoppen den Ausbau der erneuerbarenEnergien und vernichten dadurch die Arbeitsplätze beiden erneuerbaren Energien, und das nur, weil man mit ei-nem abgeschriebenen Atomkraftwerk jeden Tag 1 MillionEuro verdienen kann? Die Wählerinnen und Wähler ha-ben die Wahl zwischen Gemeinwohl und den Interessender Energiekonzerne. Sie haben die Wahl zwischen Si-cherheit und Profit. Sie haben die Wahl zwischen Zukunftund Vergangenheit.Es geht jetzt darum, dass am 27. September eine zu-kunftsfähige Energie- und Klimapolitik gewählt wird undAtomkraft abgewählt wird, damit Atomkraft, wie der Um-weltminister gestern sagte, auf dem Misthaufen der Ge-schichte landet.
Die von der Bundesregierung am 27. Mai 2009 be-schlossene Verordnung über die Versteigerung von Emis-sionsberechtigungen nach dem Zuteilungsgesetz 2012,EHVV, sieht ein sogenanntes börsennahes Verfahren vor,wonach die Versteigerungen an einer bestehenden Han-delsbörse durchgeführt werden sollen, auf der bereitsEmissionsberechtigungen im Spot- und Terminmarkt ge-handelt werden. Zur Teilnahme an diesen Versteigerun-gen soll nur zugelassen sein, wer an der mit der Verstei-gerung beauftragten Börse auch für den sonstigen Spot-und Terminhandel von Emissionsberechtigungen bereitszugelassen ist.Die Teilnahme an den Versteigerungen wird damit fak-tisch auf wenige große Energieversorgungsunternehmen,EVU, und große Industriekonzerne sowie Finanzinstitu-tionen und große Handelsgesellschaften begrenzt, sodassfaktisch circa 95 Prozent der Anlagenbetreiber von einerBeteiligung am Versteigerungsverfahren ausgeschlossenwären. Diese könnten zwar die Mitgliedschaft an derEEX erwerben, müssten dazu jedoch zunächst mehr als30 000 Euro Entgelt an die EEX entrichten, ohne auchnur eine einzige Emissionsberechtigung ersteigert zu ha-ben.Wenig hilfreich für die Unternehmen ist der Verweisdes Bundesumweltministeriums, dass auch diesen Anla-genbetreibern eine indirekte Teilnahme an den Versteige-rungen über die Beauftragung von sogenannten Interme-
Metadaten/Kopzeile:
25880 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Michael Kauchdiären möglich sei, das heißt Finanzinstitutionen undgroßen Handelshäusern, die an der beauftragten Börsezugelassen sind. Denn dafür würde ein unter Umständenerhebliches Entgelt in Rechnung gestellt werden. Einzigfür den geringen Anteil von weniger als circa 5 Prozentder Anlagenbetreiber, die bereits zuvor aus anderenGründen zugelassen sind, wäre damit eine Teilnahme anden Versteigerungen zu vernachlässigbaren Zusatzkostenmöglich.Darüber hinaus ist der Verordnungsentwurf der Bun-desregierung auch in weiterer Hinsicht zu kritisieren.Der Entwurf sieht nicht nur Spotversteigerungen, son-dern auch Terminversteigerungen vor. Derartige Termin-geschäfte könnten aber durch den Sekundärmarkt ausrei-chend befriedigt werden.Überdies wären mit einer Teilnahme an Terminge-schäften vergleichsweise höhere Anforderungen hinsicht-lich finanzieller Sicherheiten verbunden als am Spot-markt.Ferner sieht der Entwurf der Bundesregierung vor,dass die Versteigerungen wöchentlich stattfinden, ob-wohl sich rund 95 Prozent aller TEHG-Anlagenbetreiberallenfalls zwei- bis dreimal pro Jahr am Emissionshandelbeteiligen werden. Um ein reibungsloses Inverkehrbrin-gen der zu versteigernden Emissionsberechtigungen zugewährleisten und um den Bedürfnissen der weit über-wiegenden Mehrheit der TEHG-Anlagenbetreiber zu ent-sprechen, wäre ein Versteigerungstermin pro Quartalvöllig ausreichend.Bei den Spotversteigerungen soll die Mindestgebots-menge 500 Berechtigungen und bei den Termingeschäf-ten 1 000 Berechtigungen betragen bzw. jeweils ein Viel-faches davon. Auf diese Weise wird die Teilnahme vonmittelständischen Unternehmen zusätzlich erschwert.Die vom Bundesumweltministerium vorgetragene Be-gründung, dass auf diese Weise die Anzahl der Vergabe-lose und der damit verbundene Abwicklungsaufwand ge-ring gehalten werden soll, vermag nicht zu überzeugen.Einerseits lautet selbst an der EEX im Spothandel dieMindestgebotsmenge lediglich auf genau eine Emis-sionsberechtigung, zweitens wird der hohe Abwicklungs-aufwand im Wesentlichen durch die wöchentlichen Ver-steigerungen erzeugt.All diese Punkte werden zu stärkerer Preissenkung alsnötig führen; schlecht gerade für den Mittelstand.Weitestgehend ungenutzt bleibt insbesondere auch dieMöglichkeit, die Emissionsgrenzvermeidungskosten derdem System unterliegenden Anlagen aufzudecken. Dieswäre vor allem dann möglich, wenn die Teilnahme an derVersteigerung auf die Betreiber von TEHG-Anlagen be-schränkt werden würde. Eine geringere Anzahl potenziel-ler Nachfrager würde den Gleichgewichtspreis einer Ver-steigerung tendenziell senken, auch für die zum Zugekommenden Anlagenbetreiber als Nachfrager von Zerti-fikaten. Somit entsteht der Eindruck, es gehe dem Verord-nungsgeber vordringlich um ein Erzielen möglichst ho-her Versteigerungserlöse, zumal der größte Teil dieserErlöse unmittelbar dem Haushalt des Bundesumwelt-ministeriums zufließt. Dass durch unnötig hohe PreiseZu Protokollfür Emissionsberechtigungen die zusätzlichen WindfallProfits bei den EVU um ein Vielfaches erhöht werden,nimmt die Bundesregierung offenbar billigend in Kaufungeachtet der Tatsache, dass diese Windfall Profitsletztlich von den Stromkunden finanziert werden müssen.Insgesamt ist demnach festzustellen, dass der vorge-legte Entwurf an verschiedenen Stellen Regelungenvorsieht, die wenig zweckdienlich sind, und bei weitemhinter den Möglichkeiten zurückbleibt, die mit dem In-strument der Versteigerung als speziellem Verkaufsver-fahren prinzipiell verbunden sein könnten. Die FDP-Bundestagsfraktion fordert die Bundesregierung daherauf, den vorliegenden Entwurf der EHVV zurückzuziehenund grundlegend zu überarbeiten. Im Rahmen diesergrundlegenden Überarbeitung muss berücksichtigt wer-den, dass die Teilnahme an den Versteigerungen auf dieBetreiber von TEHG-Anlagen beschränkt wird.Darüber hinaus fordert die FDP-Bundestagsfraktion,die Teilnahme an den Versteigerungen ohne Entgelt zuermöglichen. Ferner müssen die Versteigerungen auf denSpotmarkt beschränkt werden, und ein gegebenenfallsbestehender Bedarf an Terminversteigerungen muss demSekundärmarkt überlassen bleiben. Schließlich muss dieVersteigerung von jeweils einem Viertel der zu verstei-gernden Jahresmenge an Berechtigungen einmal proQuartal durchgeführt und die Mindestgebotsmenge aufgenau eine Emissionsberechtigung festgelegt werden.
Die Emissionshandels-Versteigerungsverordnung istrein technisch sicherlich in Ordnung. Das Problem istnur, dass sie aufgrund des Zuteilungsgesetzes 2012 ledig-lich für 9 Prozent aller Zertifikate gilt. Damit müssen wirsie natürlich ebenso ablehnen, wie wir das beim zu-grunde liegende Zuteilungsgesetz getan haben.Die Sache ist doch die, dass die KraftwerksbetreiberMilliarden an leistungslosen Extraprofiten einfahren,weil ihnen 91 Prozent der Emissionsrechte geschenktwerden, sie aber den Handelspreis der Zertifikate auf denStrompreis umlegen. Oder die Energieversorger verdie-nen Windfall Profits, weil sie an den infolge des Emis-sionshandels gestiegenen Großhandelspreisen auchdann verdienen, wenn ihre Anlagen gar nicht emissions-handelspflichtig sind, so etwa Betreiber von Atomkraft-werken. So kommt eine im Juni 2008 vorgelegte Studiedes Öko-Instituts im Auftrag des WWF Deutschland zudem Ergebnis, dass diese Extragewinne rund 35,5 Mil-liarden Euro, also rund 7 Milliarden Euro pro Jahr be-tragen. Dabei wurde ein CO2-Zertifikatepreis von25 Euro angesetzt. Nun liegt momentan der Preis auf-grund der tiefen Wirtschaftskrise nur bei 13 Euro. Daskann sich schnell ändern, aber selbst wenn wir mit die-sem Wert rechnen, kommen wir in einem Überschlag aufwenigstens 18 Milliarden Euro Extraprofite bis 2012. Ichmeine, das sind ganz erkleckliche Sümmchen. Mir würdeeine Menge einfallen, was man damit bezahlen könnte.Die Bundesregierung hat es jedoch bislang strikt ab-gelehnt, in irgendeiner Form die Windfall Profits zu be-steuern. Es gibt bislang keine Hinweise darauf, dass dieBundesregierung die in anderen Ländern diskutierte Be-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25881
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
25882 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Eva Bulling-Schrötersteuerung dieser leistungslosen Zusatzgewinne wenigs-tens einmal thematisiert oder rechtlich geprüft hat. Dasist ein Skandal, angesichts klammer Kassen undHartz IV! Finnland dagegen will jetzt einen Teil der un-gerechtfertigten Gewinne besteuern, welche die Strom-konzerne kassieren. Betroffen sind die vier in Betriebbefindlichen Atomreaktoren und die großen alten abge-schriebenen Wasserkraftanlagen in Nordfinnland. Damitist zwar immer noch nur ein Teil der Windfall Profits er-fasst – die in den fossilen Kraftwerken bleiben ja außenvor –, aber wenigstens ist ein Anfang gemacht, ein An-fang, auf den man in Deutschland vergebens wartet. Abernicht nur das. Die Bundesregierung will bestimmtenBranchen weiterhin Extragewinne zukommen lassen. Siehat im letzten Jahr zwar im Rahmen der Verhandlungenum das EU-Klimapaket am Ende die Komplettversteige-rung für den Energiesektor ab 2013 akzeptiert. Zugleichhat sie aber für den emissionshandelspflichtigen Indus-triebereich umfangreiche Ausnahmen ausgehandelt, diesie mit dem Schutz vor außereuropäischer Konkurrenzbegründet hat.Bloß, warum hat sie das getan? Warum bekommennun 80 Prozent der Industriebetriebe die Emissions-rechte geschenkt? Schließlich hat eine Auswertung ver-schiedener wissenschaftlicher Studien zum Thema durchden WWF Deutschland gezeigt, dass die überwiegendeMehrzahl besagter Unternehmen durch eine Auktionie-rung der Emissionsrechte in ihrer internationalen Wett-bewerbsfähigkeit nicht bedroht sei. Auch der Leiter desUN-Klimasekretariats Yvo de Boer hat im September2008 kritisiert, dass das Ausmaß der Betroffenheit oft-mals überzeichnet werde. Tatsächlich stehe die Industrie,die in Europa wirklich ernsthaft betroffen sei, nicht ein-mal für zwei Prozent des Bruttoinlandproduktes. ZweiProzent also, nicht 80! Die Differenz ist nichts anderesals Geschenke an die Wirtschaft. Es liegt darum der Ver-dacht nahe, dass die Bundesregierung so wenig Auktio-nierung will wie möglich und dazu noch in Sachen Be-steuerung der Extragewinne nach Ausflüchten sucht. Soantwortete sie auf eine Kleine Anfrage von uns, die Erhe-bung einer Windfall Profit Tax würde auf methodischeProbleme stoßen, da eine exakte Berechnung für den ge-samten Verlauf des Kraftwerkeinsatzes über den Tagdurchgeführt werden müsse. Zudem sei eine solche Ab-schöpfungsteuer systematisch nicht mit dem Emissions-handel vereinbar und darüber hinaus europarechtlichfraglich.All diese Argumente sind offensichtlich nur vorge-schoben. Denn wie das Beispiel Finnland zeigt, geht esdoch – wenn man will.
Im Kampf gegen den Klimawandel ist der Emissions-
handel ein zentrales Instrument. Richtig ausgestaltet
kann er bei der notwendigen drastischen Senkung unse-
rer Treibhausgasemissionen ökologische Wirksamkeit
und wirtschaftliche Effizienz verbinden. Diese Einsicht
treibt derzeit von den Vereinigten Staaten über Australien
bis Japan viele Staaten an, dem europäischen Beispiel zu
folgen und eigene Emissionshandelssysteme aufzubauen.
Die europäische Erfahrung lehrt allerdings auch, wie
falsche Weichenstellungen und Konstruktionsfehler die
Effektivität des Emissionshandels beeinträchtigen kön-
nen. So hat die Überallokation von Emissionsberechti-
gungen in der ersten Handelsperiode zu einem abrupten
Einbruch des Zertifikatspreises geführt. Und die groß-
teils kostenlose Zuteilung der Emissionszertifikate hat
Strompreiserhöhungen für die Verbraucher nicht verhin-
dert, aber den Energiekonzernen ungerechtfertigte Zu-
satzgewinne in Milliardenhöhe eingebracht.
Um diesen Fehler zu beheben, haben wir Grüne uns
schon früh dafür eingesetzt, die Emissionszertifikate voll-
ständig zu versteigern und die Erlöse für Energieeffizienz
und Klimaschutz einzusetzen. Das hat die Bundesregierung
am Anfang der Legislaturperiode noch abgelehnt. Erst auf
den Druck von Umweltverbänden, Verbraucherschützern
und Grünen hin wurde mit dem Zuteilungsgesetz eine Teil-
versteigerung von 40 Millionen Emissionsberechtigungen
in der zweiten Handelsperiode durchgesetzt. Diese Vor-
gabe wird nun durch die Vorlage der Emissionshandels-
Versteigerungsverordnung umgesetzt. Das ist erst einmal
gut so.
Bei der Ausgestaltung der Versteigerungsregeln gibt
es aber Defizite. So fehlt es bei dem Auktionsverfahren an
der Transparenz, die nötig wäre, um Manipulationen
frühzeitig zu erkennen und Spekulation verhindern zu
können. Dazu wäre wichtig, offenzulegen, wer für Emis-
sionszertifikate bietet und wer letztlich den Zuschlag er-
hält. Außerdem bedarf es einer strengen, deutschen Stan-
dards genügenden Börsenaufsicht. Doch entsprechende
Aufsichtsregeln fehlen für die Ausschreibung des Börsen-
platzes. Schließlich ist die Gefahr einer Benachteiligung
kleinerer und mittlerer Unternehmen, die nicht an der
Börse vertreten sind, gegenüber den großen Energiekon-
zernen in der Verordnung nicht wirksam ausgeräumt.
Aus diesen Gründen können wir der Versteigerungs-
verordnung in der vorliegenden Form nicht zustimmen.
Die Versteigerung der Emissionszertifikate ist der rich-
tige Weg. Aber sie muss zu fairen, transparenten und
wirksam kontrollierten Bedingungen erfolgen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss fürUmwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt inseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13677,der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache16/13189 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – DieBeschlussempfehlung ist mehrheitlich angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs-antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/13692.Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantragist mehrheitlich abgelehnt.Ich rufe Tagesordnungspunkt 37 auf:– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Markus Kurth, Josef Philip Winkler,Volker Beck , weiteren Abgeordnetenund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25883
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solmseingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurAufhebung des Asylbewerberleistungsgeset-zes– Drucksache 16/10837 –Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
– Drucksache 16/13149 –Berichterstattung:Abgeordnete Katja Kipping
– Drucksache 16/13150 –Berichterstattung:Abgeordnete Hans-Joachim FuchtelWaltraud LehnDr. Claudia WintersteinDr. Gesine LötzschAlexander Bonde
Heute befassen wir uns abschließend mit dem Entwurf
der Grünen eines Gesetzes zur Aufhebung des Asylbe-
werberleistungsgesetzes. Bei diesem Entwurf handelt es
sich wieder einmal um einen typischen Oppositionsent-
wurf der Grünen, der die Realität ausblendet. Dabei tun
die Grünen gerade so, als ob sie schon immer in der Op-
position gewesen wären und nicht sieben Jahre lang mit
der SPD in der Regierungsverantwortung gestanden hät-
ten. Damit beweisen die Grünen aber auch einmal mehr,
dass sie mit ihrer weltfremden Politik für eine Regie-
rungsbildung nicht infrage kommen.
Wollen wir uns den Gesetzentwurf der Grünen aber
trotzdem einmal genauer betrachten. Bemängelt wird,
dass das Asylbewerberleistungsgesetz „einen diskrimi-
nierenden Ausschluss von Asylsuchenden aus der Sozial-
hilfe und der Grundsicherung für Arbeitssuchende“
darstelle. Der Punkt ist ja aber, dass wir hier von Asylbe-
werbern reden, wobei die Betonung auf Bewerbern liegt.
Es geht also nicht um einen dauerhaften Aufenthalt in
Deutschland, sondern um eine vorübergehende Versor-
gung der Betroffenen bis zu einer Entscheidung über
ihren Asylantrag. Ich glaube nicht, dass es ein Sozialhil-
feempfänger einsehen würde, warum er ebenso viele
Leistungen empfangen soll wie ein Asylbewerber, der be-
dingt durch den nur vorübergehenden Aufenthalt in
Deutschland ganz andere finanzielle Ansprüche hat.
Es ist also zwar korrekt, dass die Grundleistungen
nach dem Asylbewerberleistungsgesetz geringer ausfal-
len als die Leistungen nach dem Zwölften Sozialgesetz-
buch. Dies wird in § 1 Abs. 1 des Asylbewerberleistungs-
gesetzes aber ausdrücklich dadurch gerechtfertig, dass
die dort aufgeführten Personen kein verfestigtes Aufent-
haltsrecht haben. Vielmehr wird in aller Regel nur von ei-
nem kurzen, vorübergehenden Aufenthalt ausgegangen,
weshalb Leistungen zur sozialen Integration nicht
gewährt werden müssen. Außer Frage steht dabei natür-
lich, dass die Asylbewerber gerade im Vergleich zu ande-
ren Nationen ausreichend unterstützt werden. Dies
beinhaltet selbstverständlich auch den Bereich der medi-
zinischen Versorgung.
Im Übrigen sei mir in diesem Zusammenhang noch
der Hinweis erlaubt, dass wir in Ländern wie Baden-
Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen oder Hes-
sen, in denen die Union regiert, Ablehnungsquoten ha-
ben, die unter 10 Prozent liegen. Andere Länder haben
wesentlich höhere Quoten von Antragsablehnungen be-
ziehungsweise Anträgen, die immer noch nicht bearbeitet
worden sind.
Um auf die eingangs erwähnte Realitätsferne der
Grünen zurückzukommen, möchte ich auch noch einmal
auf den Ursprung dieses Asylbewerberleistungsgesetzes
zu sprechen kommen. Unter dem Eindruck massiv stei-
gender Asylbewerberzahlen haben sich CDU/CSU, SPD
und FDP im Jahr 1992 mit dem sogenannten Asylkom-
promiss darauf geeinigt, ein Gesetz zur Regelung des
Mindestunterhalts von Asylbewerbern zu schaffen, auf
dessen Grundlage dann ein Jahr später das Asylbewer-
berleistungsgesetz entstanden ist. Hauptanliegen des Ge-
setzes war und ist es, die Leistungen für Asylbewerber
gegenüber der Sozialhilfe zu vereinfachen und auf die
notwendigen Bedürfnisse eines vorübergehenden Aufent-
halts in Deutschland abzustimmen.
Dieses Gesetz war notwendig und richtig und erfüllt
nach wie vor seinen Anspruch. Zum einen gewährleistet
es eine ausreichende Versorgung der Asylbewerber für
die Dauer ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik. Zum
anderen reduziert es aber auch die Zahl der Einreisen
von Asylsuchenden nach Deutschland und bewegt die be-
reits abgelehnten Asylsuchenden bzw. Geduldeten zu ei-
ner schnellen Ausreise aus Deutschland.
Aber noch einen weiteren wichtigen Punkt dürfen wir
in dieser Debatte nicht vergessen: Letztendlich kommt es
auch hier wie in so vielen Bereichen auf einen angemes-
senen Ausgleich zwischen den Leistungszahlungen und
den Steuerzahlern an. Das heißt in diesem Fall konkret,
einen Ausgleich zwischen den Leistungen der asylsu-
chenden Menschen auf der einen und den Steuerzahlern
auf der anderen Seite zu schaffen. So können wir doch die
Augen nicht davor verschließen, dass in Deutschland die
steuerzahlenden Leistungsträger unserer Gesellschaft
bereits jetzt bis an die Schmerzensgrenze belastet wer-
den. Die ohnehin schon strapazierten sozialen Siche-
rungssysteme würden durch die Abschaffung des Asylbe-
werberleistungsgesetzes noch mehr unter Druck geraten.
Die Forderung einer Abschaffung des Asylbewerber-
leistungsgesetzes durch den Entwurf der Grünen ent-
behrt somit jeglicher Grundlage und dient wohl eher der
Klientelpflege der eigenen Anhängerschaft als einem
konstruktiven Beitrag zum Umgang mit Asylbewerbern.
Diesen letzten Punkt möchte ich abschließend noch ver-
deutlichen. Man löst das Grundproblem, dass viele in
Not geratene Menschen nach Deutschland kommen und
Schutz suchen, nicht dadurch, dass man die Leistungen
für diese Asylbewerber, die es nach Deutschland ge-
schafft haben, anhebt. So einfach darf man es sich sicher-
lich nicht machen. Vielmehr liegt die Ursache doch of-
(C)
(D)
Thomas Bareiß
fensichtlich in den schlechten Verhältnissen vieler
Länder, wo Millionen Menschen vor Ort zurückbleiben
und dort Not leiden müssen.
Das Problem kann nicht auf nationaler Ebene, son-
dern nur mit internationaler Abstimmung gelöst werden.
Hier spielt die Entwicklungspolitik eine entscheidende
Rolle. Deutschland wird seiner Verantwortung dabei ge-
recht. In diesem Jahr werden wir fast 2,5 Milliarden Euro
mehr für Entwicklungshilfe ausgeben als noch im Jahr
2005. Damit fließt das Geld an jene Länder, aus denen
die Menschen sonst zu uns kommen müssten. Die Frage
muss sich noch mehr darum drehen, wie wir es mit einer
internationalen Strategie schaffen, diese Probleme in den
Griff zu bekommen. Diese Debatte muss aber verstärkt
auf EU-Ebene geführt werden.
Fazit: Die Grünen schneiden mit ihrem Gesetzentwurf
wohl eher unbewusst ein schwerwiegendes globales Pro-
blem an, nämlich jenes steigender Flüchtlingsströme.
Dieser Gefahr werden wir aber nicht dadurch Herr, dass
wir die Augen vor dieser Entwicklung verschließen und
unser schlechtes Gewissen dadurch zu beruhigen versu-
chen, den Asylbewerbern mehr Leistungen zu zahlen.
Das liegt sicherlich auch nicht im Interesse dieser Men-
schen. Eine ausreichende Versorgung der Asylbewerber
bei uns in Deutschland steht außer Frage; dafür sorgt
das Asylbewerberleistungsgesetz, das sich in nunmehr
16 Jahren eindeutig bewährt hat. Eine Diskussion darüber
ist völlig überflüssig. Die Gründe dafür habe ich Ihnen
ausreichend geschildert.
Sie fordern die Aufhebung des Asylbewerberleistungs-gesetzes. Das lehnen wir ab. Ihre Gesetzesinitiative hättezur Folge, dass erwerbsfähige Asylsuchende in dieGrundsicherung einbezogen würden – und das mit allenKonsequenzen. Sie müssten also genauso wie alle ande-ren Betroffenen in der Grundsicherung sofort eine För-derung zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt erhalten.Das ist nicht zielführend, vor allem dann nicht, wennman sich den Beschluss des EU-Parlaments vom Maidieses Jahres vor Augen führt. Asylsuchende sollen dem-nach sechs Monate nach ihrer Einreise arbeiten dürfen.Ich finde es richtig, dass für Asylsuchende einheitlicheRegelungen in der Europäischen Union angestrebt wer-den. Warum sollte sich Deutschland verweigern? Wirsollten das Asylbewerberleistungsgesetz beibehalten undentsprechend anpassen.Verbesserungsbedarf sehe ich allerdings bei den Be-dingungen, unter denen Asylsuchende in unserem Landleben. Seit 1993, also seit 16 Jahren, besteht der damalshart umkämpfte sogenannte Asylkompromiss. Liebe Kol-leginnen und Kollegen von den Grünen, es gab in diesen16 Jahren eine Zeit, in der auch Sie an der Regierungwaren und mitgestalten konnten. Einen ähnlich vehemen-ten Einsatz, so wie Sie ihn heute zeigen, habe ich damalsjedoch nicht wahrgenommen. Das ist auch nicht verwun-derlich, denn Sie mussten den politischen Realitäten insAuge blicken.Tatsache ist heute wie damals: Gesetzliche Verände-rungen brauchen Mehrheiten. Der Bundestag hat ebenZu Protokollnicht die alleinige Zuständigkeit. Auch der Bundesrat hatein gewichtiges Wort mitzureden. Für die Leistungen fürAsylsuchende sind nämlich die Länder zuständig.Erinnern Sie sich nur an unseren gemeinsamen rot-grünen Versuch von 2001, die Leistungen für Asylsu-chende nur geringfügig zu erhöhen. Da waren diese be-reits seit acht Jahren unverändert. Wir sind mit unseremAnsinnen im Bundesrat gescheitert. Union und FDP wa-ren und sind strikt dagegen.Was hat sich an den politischen Mehrheiten verändert,dass es möglich sein sollte, nun nicht nur eine Erhöhungder Leistungen durchzudrücken, sondern sogar das ge-samte Gesetz zu kippen? Ich sehe nur einen einzigen Un-terschied zu 2001: Heute sind Sie in der Opposition, undda lassen sich sehr leicht Forderungen erheben, die Sienicht umsetzen müssen. Glaubwürdig finde ich dies nicht.Sie reihen sich mit Ihrem Gesetzentwurf nahtlos in dieWünsch-dir-was-Politik der Linksfraktion ein.Wir brauchen andere politische Mehrheiten im Bun-destag und im Bundesrat, um endlich mehr Gerechtigkeitfür Asylsuchende in Deutschland durchzusetzen. DieseNotwendigkeit sieht auch die SPD. Nach 16 Jahren un-veränderter Leistungen müssen diese endlich an die So-zialhilfesätze angepasst werden.Nicht nur, dass Asylsuchende – nach der Erhöhungdes Regelsatzes der Grundsicherung oder Sozialhilfe An-fang des Monats – nur noch 63 Prozent dieses Existenz-minimums bekommen, sie können darüber hinaus oftnicht einmal wählen, was sie essen wollen. Lebensmittelwerden zugeteilt. Eine normale Wohnung oder eineKrankenversicherung: Fehlanzeige. CDU/CSU und FDPbeharren auf dem Asylkompromiss, weil sie fürchten, dassDeutschland bei besseren Leistungen enorme Magnetwir-kung für Asylsuchende entfalten könnte. In der Anhörung,die wir kürzlich zu diesem Thema im Ausschuss durchge-führt hatten, wurde jedoch deutlich, dass höhere Leistun-gen und Verbesserungen für die Betroffenen keineswegseinen unkontrollierbaren Zustrom an Asylsuchenden mitsich bringen würden. Im Gegenteil: Fundierte Belege fürdiese Anreizthese sahen die Mehrzahl der Sachverständi-gen in der Anhörung im Bundestag nicht. Menschen su-chen bei uns Asyl, weil ihr Leben in ihrem Heimatlandbedroht ist. Diese Menschen müssen alles aufgeben, umihr eigenes Leben und das ihrer Familien zu retten.Wir sollten uns an unsere eigene Geschichte erinnernund daran, was das Grundgesetz aus ebendieser Vergan-genheit heraus ursprünglich zu diesem schwierigenThema ausgesagt hat. Es ist nicht richtig, sich so weitvon dem, was als Menschenrecht empfunden wurde, zuentfernen.Wenn mein Leben bedroht ist, frage ich nicht danach:„Wo bekomme ich höhere Leistungen?“, sondern ichgehe dorthin, wohin ich mich und meine Familie rettenund sicher leben kann. Deswegen sprechen die gesunke-nen Asylsuchenden-Zahlen eben nicht zwangsläufig da-für, dass Flüchtlinge vom restriktiven Asylbewerberleis-tungsgesetz erfolgreich abgeschreckt wurden.Ein Grund dafür, dass weniger Asylsuchende zu unskommen, liegt in der europäischen Zuständigkeitsverord-
Metadaten/Kopzeile:
25884 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Gabriele Hiller-Ohmnung. In ihr ist verabredet, dass jeder Flüchtling in nureinem einzigen EU-Staat ein Asylverfahren erhält; effek-tiv kontrolliert mittels einer Datenbank. Seit 1997 wirdmit dem „Übereinkommen von Dublin“ verbindlich gere-gelt, dass meist derjenige Staat für das Asylverfahren zu-ständig ist, den der Flüchtling zuerst betreten hat, unddas ist oft nicht Deutschland.Außerdem haben wir seit 2001 eine immer restrikti-vere Handhabe der Visa. Über ein Visum einzureisen undauf diesem Weg Asyl zu beantragen, ist deshalb immerweniger möglich.Zusätzlich haben wir seit 2004 einen koordinierten ef-fektiveren europäischen Außengrenzenschutz durch dieeuropäische Agentur FRONTEX.Alle diese Umstände sind in erster Linie für die sin-kenden Asylsuchenden-Zahlen verantwortlich. Die Asyl-antragszahlen sind fast kontinuierlich von rund 440 000auf 19 000 gesunken, die Bruttoausgaben für die Leistun-gen von etwa 2,9 auf nur 1 Milliarde Euro. Es ist alsodurchaus nicht nur humanitär, sondern auch verantwort-lich, die Leistungen anzuheben. Gleichzeitig müssen wirzur Kenntnis nehmen: Auch in den 70er- und 80er-Jahren– ohne das Asylbewerberleistungsgesetz – gab es ähnlichniedrige Antragszahlen wie nach dem Inkrafttreten desGesetzes.Erlauben Sie mir an dieser Stelle eine Bemerkung:Der Zusammenhang von erfolgreicher Entwicklungspoli-tik und einer geringen Anzahl von Flüchtlingen ist nichtabwegig.Wir sollten uns darauf konzentrieren, was wir 1993mit dem Asylkompromiss wollten: die Leistungen fürAsylsuchende für die Dauer der Durchführung des Asyl-verfahrens regeln – nicht mehr und nicht weniger –, unddas war damals ein Jahr. Es kann aber nicht sein, dassdie meisten Empfängerinnen und Empfänger die geringenLeistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes mittler-weile vier oder mehr Jahre bekommen. In unserem Re-gierungsprogramm sagen wir, dass wir für Flüchtlingeeinen „angemessenen Zugang zu sozialen Leistungen“wollen, und das werden wir mit dem richtigen Koali-tionspartner auch umsetzen.Hartfrid Wolff (FDP):Der Gesetzentwurf der Grünen mit dem Ziel der Ab-schaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes ist ein klas-sischer Klientelpflegeantrag. Um die eigene, leider zuhäufig durchschimmernde Multikultiideologie zu pflegenund ihre Sympathisanten zu erfreuen, wird eben mal einin sich widersprüchlicher Entwurf gestrickt, der nur dasZiel hat, vorgebliches Gutmenschentum zu demonstrieren.Eine reale Verwirklichung des Gesetzentwurfes habendie Grünen ganz offensichtlich nicht im Sinn.Eigenartigerweise behaupten die Grünen, dass dasAsylbewerberleistungsgesetz nicht geeignet war und ist,die Einreise von Asylsuchenden zu reduzieren. Unter„Kosten“ wird dann aber argumentiert, die Zahl derAsylsuchenden gehe immer weiter zurück, nun könneman die Asylsuchenden ja wieder in die allgemeinen So-zialleistungen aufnehmen. Die Grünen entlarven so ihrenEntwurf selbst als nicht schlüssig.Zu ProtokollWenn die Grünen den „Ausschluss der Betroffenenaus der Sozialhilfe und der Grundsicherung für Arbeit-suchende“ monieren, dann muss man sich ob dieser Kro-kodilstränen schon auch wundern. Die Grünen habenselbst in zwei Legislaturperioden Regierungsverantwor-tung nicht an diesem Sachverhalt gerüttelt. Sie habennicht einmal für eine Erhöhung der Bedarfssätze gesorgt.Warum haben die Grünen denn die Abschaffung desAsylbewerberleistungsgesetzes nicht zur Koalitions-bedingung gemacht, als sie mit der SPD koalierten? Sowichtig scheint das den Grünen nicht gewesen zu sein.Wer Asylsuchende sozialrechtlich mit Arbeitslosen inDeutschland gleichstellen will, der muss natürlich unserenArbeitslosen erklären, warum sie, die möglicherweisejahrelang durch Steuerzahlungen und Abgabenleistungenfür die Kosten unseres Sozialsystems aufgekommen sind,nun nicht auch höhere Ansprüche an Sozialleistungenhaben als die, die noch nie Beiträge zur sozialen Sicherunggeleistet haben. Wer so etwas will, muss ehrlich sagen,dass unser Sozialleistungsniveau in manchen Ländernals unendlicher verlockender Reichtum wirken muss.Und er muss sagen, dass unsere ohnehin schon in Schief-lage befindlichen sozialen Sicherungssysteme durch dieAbschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes weiterunter Druck gerieten – zulasten der Bedürftigen in unseremLand, die nirgendwo anders hinkönnen und nirgendwoAsyl oder Sozialleistungen bekommen können, als ebenhierzulande.Wer diese Zusammenhänge in den Blick nimmt, er-kennt den Vorstoß der Grünen als das, was er ist: ein Ver-such, unser Sozialsystem weiter zu destabilisieren zulas-ten der Bedürftigen in unserem Land. Solche Anträgesind schlicht asozial.Es gibt nun durchaus auch aus liberaler Sicht Verbesse-rungsbedarf in der deutschen Asylpraxis. So ist die inzwi-schen weitgehend stattgehabte Abkehr vom Sachleistungs-prinzip immer Ziel der FDP gewesen. Sie ist im Rahmendes Asylbewerberleistungsgesetzs ermöglicht worden.Dass mit Bayern und Sachsen die Länder die höchstenSachleistungsquoten haben, in denen die FDP bis Herbstletzten Jahres nicht mitregierte, spricht eine deutlicheSprache. Der Rückgang der Asylbewerberzahlen ist sicherkein Einwand dagegen, dass sich das Asylbewerberleis-tungsgesetz im Großen und Ganzen bewährt hat.Die FDP hat wiederholt Anträge eingebracht – zuletztim Herbst vor zwei Jahren –, die es Asylbewerbern eröff-nen sollten, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen.Die Grünen haben in ihrer Regierungszeit diesem Vor-schlag nicht zur Mehrheit verhelfen wollen. Auch dieVerkürzung der Asylverfahren ist ein Instrument, mit demdie Zeit, die Menschen unter das Asylbeweberleistungs-gesetz fallen, reduziert werden kann.Statt das Asylbeweberleistungsgesetz abzuschaffen,dass sich insgesamt positiv auf die zuvor problematischenZustände im deutschen Asylsystem ausgewirkt hat, solltenlieber die nächstliegenden Verbesserungen vorgenom-men werden: Die deutliche Reduzierung der Verfahrens-dauer, damit die schnelle Klarheit über den Antrag selbst,der klare und konsequente Vollzug des Ergebnisses und dieArbeitserlaubnis, die Asylbewerbern die Chance zurSelbstversorgung gibt. Das ist die richtige Politik zugunsten
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25885
gegebene Reden
(C)
(D)
Hartfrid Wolff
der Menschen, die in unserem Land Asyl vor Verfolgungsuchen. Dass Grüne und auch Linke diese Forderungennicht erheben, macht deutlich, dass es ihnen eben nichtum das Wohl der Betroffenen geht, sondern nur um einemöglichst ungehemmte Multikultisierung unserer Gesell-schaft. Die daraus resultierenden gesellschaftlichenSpannungen und Konflikte und die Verschlechterung dersozialen Sicherheit nehmen sie billigend in Kauf. Nichtdie betroffenen Menschen, sondern diese Ideologie istTriebfeder der vorliegenden Anträge.Mit der FDP ist eine solche unsoziale Politik nicht zumachen. Für die FDP bleibt der Mensch im Mittelpunktjeder verantwortlichen Asylpolitik.
Die Grünen stellen hier heute einen Gesetzentwurf zur
Abstimmung, mit dem ein 1993 eingeführtes Sondersys-
tem von Sozialleistungen für Asylbewerber und andere
Migrantengruppen aufgehoben werden soll. Die Linke
unterstützt dieses Anliegen. Wir freuen uns, dass die Grü-
nen unsere Initiative aus dem vergangenen Jahr zur
Beseitigung dieses Sondersystems aufgegriffen haben.
Leider komme ich aber nicht umhin, darauf hinzuweisen,
dass die Grünen in ihrer Regierungszeit keine Schritte in
diese Richtung unternommen haben. Im Gegenteil: Mit
dem Zuwanderungsgesetz von 2005 wurde der Kreis derje-
nigen, die aus der normalen Sozialhilfe herausgenommen
werden, noch ausgedehnt. Und im Jahre 2000 lehnten die
Grünen einen Antrag der damaligen PDS-Fraktion auf
Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes unter an-
derem mit der Begründung ab, auch die in diesem Gesetz
vorgesehenen „Sachleistungen könnten von hoher Qualität
sein“. Aber in Wahlkampfzeiten ist den Grünen wohl nur
recht und billig, sich als Verfechter der sozialen Rechte
von Asylbewerbern und Flüchtlingen darzustellen.
Ich will auf einige Aspekte des diskriminierenden
Asylbewerberleistungsgesetzes eingehen. Wie bereits an-
gesprochen, sieht es im Regelfall sogenannte Sachleis-
tungen vor. Das Sachleistungsprinzip sieht vor, dass die
Betroffenen statt Bargeld Unterkunft im Wohnheim erhal-
ten, Kleider und Essen von irgendwelchen Unternehmen.
Vorgepackte Essenspakete, die meist weder auf die Er-
nährungsgewohnheiten in den Herkunftsländern der
Flüchtlinge noch auf mögliche Erkrankungen oder Un-
verträglichkeiten Rücksicht nehmen, sind eine völlige
Entmündigung der Menschen. Einige Kommunen, in de-
ren Umsetzung das Gesetz liegt, verteilen auch Gut-
scheine oder Chipkarten, mit denen die Menschen dann
in bestimmten Läden an den dafür vorgesehenen Kassen
bezahlen können. Das Asylbewerberleistungsgesetz ist
also in seinen Auswirkungen hoch stigmatisierend, denn
durch die Wohnheimunterbringung und das Gutschein-
system sind die Betroffenen sofort erkennbar. Erst zu
Beginn dieser Woche ist der Fall eines Irakers bekannt
geworden, der im sachsen-anhaltinischen Möhlau mut-
maßlich Opfer einer rassistischen Attacke wurde. Er liegt
mit schweren Brandwunden im Krankenhaus und ist im-
mer noch nicht vernehmungsfähig. Der Überfall fand
statt, als der Flüchtling um seine Unterkunft herum spa-
zieren ging.
Zu Protokoll
Die Höhe der sogenannten Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz beträgt übrigens seit 1993
360 Deutsche Mark bzw. 184,07 Euro für eine alleinste-
hende Person. Hinzu kommen 80 Mark bzw. 40,90 Euro
als sogenanntes Taschengeld, von dem zum Beispiel die
Fahrten zur Ausländerbehörde bezahlt werden müssen.
Diese Sätze sind seit 1993 nicht erhöht worden. Die
Lebenshaltungskosten sind im gleichen Zeitraum um
23 Prozent gestiegen. Sytematisch werden so Menschen
in miserabelsten Lebensbedingungen gehalten.
Betroffen sind von dem Gesetz im Übrigen keineswegs
nur Asylbewerber, wie der Name es nahelegt. Mittler-
weile fallen auch viele Geduldete darunter, genauso wie
anerkannte Bürgerkriegsflüchtlinge. Der Gesetzgeber
hat aber in den vergangenen Jahren nicht nur den Kreis
der Betroffenen ausgedehnt. Er hat auch den Zeitraum,
während dessen diese Menschen aus den regulären Sozial-
systemen ausgeschlossen werden, immer weiter ausge-
dehnt. Mittlerweile beträgt dieser Zeitraum vierJahre.
Vier Jahre, in denen diese Menschen gerade das Nötigste
zum Leben erhalten. Vier Jahre, in denen sie in miserablen
Unterkünften untergebracht werden, teilweise ohne Anbin-
dung an städtische Infrastruktur, zum Abschuss freigege-
ben für rassistische Gewalttäter. Vier Jahre, in denen sie
keinen Zugang zum Gesundheitssystem haben und nur
eine Notfallhilfe in Anspruch nehmen können. Das ist
nicht nur schlimm für diejenigen, die unter chronischen
Erkrankungen leiden. Es trifft vor allem die Menschen,
die aufgrund der Erlebnisse in ihren Herkunftsstaaten
und psychischen Traumatisierungen leiden. Erst wenn
zum Beispiel akute Suizidgefahr besteht, dann dürfen sie
zu einem Psychologen – wenn es also zu spät ist. Und vier
Jahre, in denen sie nicht selbst für ihren Lebensunterhalt
sorgen können, weil sie einem Arbeitsverbot unterliegen.
Dieses Gesetz ist Ausdruck von rassistischen Ressenti-
ments. Es ist in einer Zeit von einer großen Koalition aus
Christlicher Union, SPD und FDP beschlossen worden,
in der statt von Menschen von Wirtschaftsflüchtlingen
und Sozialschmarotzern geredet wurde, einer Zeit, in der
genau jene Wohnheime brannten, die durch dieses Gesetz
zu einer Dauereinrichtung wurden. Dieses Gesetz legiti-
miert noch einmal diejenigen, die Schutzsuchende als
Wirtschaftsflüchtlige diffamieren und in ihnen Menschen
zweiter Klasse sehen. Es ist mit dem absoluten Schutz der
Menschenwürde, den das Grundgesetz fordert, nicht zu
vereinbaren.
Mit unserer Kritik stehen wir im Übrigen nicht allein.
Selbst bei der EU-Kommission gibt es die Forderung,
dass Flüchtlinge mit den einheimischen Empfängern von
Sozialhilfe in den jeweiligen Ländern gleichgestellt wer-
den sollen. Im Mai fand eine Anhörung dazu im Sozial-
ausschuss des Bundestages statt, in der unsere Kritik be-
stätigt wurde. Schwester Stefanie, Angehörige des
Franziskanerordens, hat es dort wie folgt auf den Punkt
gebracht: „Dieses Gesetz ist unmenschlich und muss
weg.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Der geschäftsführende Direktor des Münchener Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationalesSozialrecht hat es klar auf den Punkt gebracht: Das Asyl-
Metadaten/Kopzeile:
25886 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25887
(C)
(D)
Markus Kurthbewerberleistungsgesetz ist zumindest in Teilen klar ver-fassungswidrig. Ich will sagen, warum: Seit nunmehr15 Jahren führt dieses Gesetz zu einem diskriminieren-den Ausschluss von Asylsuchenden und Geduldeten ausder Sozialhilfe und der Grundsicherung für Arbeitsu-chende. Die Leistungen betragen nur rund zwei Drittelder Leistungen für Sozialhilfeempfänger und Sozialhilfe-empfängerinnen. Zudem ist die medizinische Versorgungnach dem Asylbewerberleistungsgesetz auf die unab-weisbar notwendige Behandlung „akuter Schmerzzu-stände“ beschränkt. Konkret heißt das, dass zum BeispielZahnlücken nicht geschlossen werden, wenn sie vorhan-den sind, sondern nur der Zahn gezogen wird, die Lückehingegen bleibt. So werden Menschen stigmatisiert. Dasbedeutet aber auch, dass Menschen in der Frühphase ei-ner Erkrankung keine ausreichende medizinische Be-handlung zur Verfügung steht. Faktisch wird in vielenAsylbewerberheimen der Rettungswagen erst gerufen,wenn es schon fast zu spät ist. Ein völlig unhaltbarer Zu-stand. Gerade für die CDU/CSU, die ja von sich behaup-tet, eine christliche Partei zu sein, darf das eigentlichnicht hinnehmbar sein. Deshalb fordere ich gerade dieKolleginnen und Kollegen dieser Fraktion auf, dem Grü-nen-Gesetzentwurf zuzustimmen.Die Schilderungen der Ordensschwester aus derFlüchtlingsarbeit, die in der Anhörung Sachverständigewar, haben alle Christen in diesem Hause hoffentlichüberzeugt. Wir Grüne haben daher bereits Ende 2008 ei-nen Gesetzentwurf zur Aufhebung des Asylbewerberleis-tungsgesetzes in den Bundestag eingebracht. Denn dasZiel des Gesetzes, die Einreise von Asylsuchenden nachDeutschland zu reduzieren bzw. abgelehnte Asylsu-chende bzw. Geduldete zu einer schnellen Ausreise ausDeutschland zu bewegen, ist nicht erreicht worden. DasGesetz entfaltet keine Abschreckungswirkung für Asylbe-werber, vielmehr bringt es für sie und für die zunehmendeZahl Geduldeter unzumutbare Lebensumstände mit sich.Häufig wird ein Schreckensszenario an die Wand gemalt,nachdem es im Zuge einer Aufhebung des Asylbewerber-leistungsgesetzes zu ungeahnten Mehrkosten kommenwürde. Bei einer Anhörung war selbst das Bundesamt fürMigration und Flüchtlinge nicht in der Lage, diese an-geblichen Mehrkosten zu beziffern. Im Gegenteil. Jetzt isteines klar. Wir Grüne haben in unserem Gesetzentwurferstmals eine seriöse Kalkulation zu den finanziellen Aus-wirkungen einer Aufhebung des Asylbewerberleistungsge-setzes vorgelegt. Diese Berechung wurde von keinemSachverständigen – auch nicht seitens des StatistischenBundesamtes – infrage gestellt.Entscheidend ist unter anderem, dass wir – neben et-waigen Mehraufwendungen – auch auf Einspareffektehingewiesen haben: Zum einen wird der ganze Verwal-tungsaufwand bei der Anwendung des Asylbewerberleis-tungsgesetzes überflüssig. Zudem brauchen dann zumBeispiel auch keine überteuerten und entwürdigendenEssenspakete angeschafft und verteilt zu werden. Kostenfür die Einrichtung, den Betrieb und die Bewachung vonGemeinschaftsunterkünften können ebenfalls eingespartwerden. Auch ist es deutlich billiger, Menschen gegebe-nenfalls auch aktiv in Arbeit zu bringen, anstatt ihnen –völlig unnötig – den Zugang zur Ausbildung bzw. zum Ar-beitsmarkt zu versperren bzw. sie an der Arbeitsauf-nahme durch die Residenzpflicht zu hindern. Undschließlich – darauf wies der Sachverständige vom Deut-schen Roten Kreuz hin: Das Asylbewerberleistungsgesetzmacht krank. Es verursacht erhebliche Mehraufwendun-gen, die man einfach einsparen könnte, wenn man vonAnfang an für eine adäquate medizinische Versorgungsorgen würde.Ein Gesetz, das offenkundig weder geeignet noch erfor-derlich ist, um mit verhältnismäßigen Mitteln den Zweckdieses Gesetzes zu erfüllen, ist aufzuheben. Wer das Asyl-bewerberleistungsgesetz dennoch beibehalten möchte,zeigt, dass es ihr, ihm weniger darum geht, den angebli-chen „Asylmissbrauch“ zu bekämpfen, als vielmehr da-rum, Asylsuchende und Geduldete in Deutschland zuschikanieren und zu diskriminieren.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 16/13149, den Gesetzentwurf
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
16/10837 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mehrheitlich abgelehnt. Die dritte Beratung ent-
fällt.
Ich rufe Zusatzpunkt 6 auf:1)
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rechtsstaatlichkeit in Russland stärken
– Drucksache 16/13613 –
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/13613. Wer stimmt für die-
sen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Antrag ist mehrheitlich angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 38 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend zu dem An-
trag der Abgeordneten Ina Lenke, Frank
Schäffler, Hartfrid Wolff , weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Attraktivität von Au-pair-Beschäftigungen
steigern
– Drucksachen 16/9481, 16/12724 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Michaela Noll
Sönke Rix
Ina Lenke
Elke Reinke
Ekin Deligöz
In ihrem Antrag „Attraktivität von Au-pair-Beschäfti-gungen steigern“ beruft sich die FDP auf eine deutliche1) Zu Protokoll gegebene Redebeiträge siehe Anlage 18
(C)
(D)
Michaela NollAbnahme der erteilten Visa für Au-pair-Aufenthalte beiuns in Deutschland. Die FDP vermutet, dass andereStaaten attraktivere Rahmenbedingungen für Au-pair-Beschäftigungen bieten. Deutschland, so wird befürchtet,könne auf dem Au-pair-Markt ins Hintertreffen geraten,worunter der interkulturelle Dialog und die Verständi-gung unter den Nationen leiden könnten. Vor diesem Hin-tergrund schlägt die FDP eine Reihe von Maßnahmenvor, um die Anzahl der Au-pair-Beschäftigungen inDeutschland anzuheben.Au-pair-Aufenthalte können für alle Beteiligten eineBereicherung sein, aber genauso können sie Gastfami-lien vor gravierende Probleme stellen. Ich selber habemeine ganz persönlichen Erfahrungen mit Au-pairs ge-macht. Sie kamen aus dem europäischen und auch außer-europäischen Ausland. Alle waren junge, interessierteund sympathische Frauen, neugierig auf einen fremdenKulturkreis und engagiert bei der Betreuung von kleinenKindern. Dennoch habe ich in dieser Zeit nicht nur dieerfreulichen Seiten und Chancen der Beschäftigung einesAu-pairs erleben können.In der Möglichkeit, als Au-pair in ein Gastland zu ge-hen, sehe ich dennoch nach wie vor eine große Chancefür junge Menschen – sofern dieser Aufenthalt gründlichvorbereitet wird. Sie erhalten auf diesem Weg, in der Re-gel recht unproblematisch und finanziell tragbar, dieMöglichkeit, Auslands- und interkulturelle Erfahrungenzu sammeln. Außerdem ist ein vertrauensvolles Au-pair-Mädchen ein Gewinn für die Gastfamilie. Mit ihrer Tä-tigkeit hilft sie, Beruf und Familie zu vereinbaren undunterstützt so das Familienleben. Darüber hinaus ist ihranderer kultureller Hintergrund oftmals eine Bereiche-rung.So wie die Beschäftigung eines Au-pairs eine Berei-cherung für die Gastfamilie sein kann, so kann sie aberauch erhebliche Belastungen mit sich bringen. Die Gast-familie kann sich plötzlich konfrontiert sehen mit einerungeplanten und unter Umständen auch ungewolltenSchwangerschaft oder mit einer drohenden Zwangsver-heiratung, um nur zwei Beispiele zu nennen. Auf solcheSituationen sind die meisten Gastfamilien nicht vorberei-tet. Die Verantwortung, die Gastfamilien im Rahmen ei-nes Au-pair-Aufenthaltes gegenüber den jeweiligenMädchen tragen, dürfen wir daher nicht unterschätzen.Im Bewusstsein dieser Problematik haben wir bereitsam 3. Juli 2003 fraktionsübergreifend den Antrag „Füreine Verbesserung der privaten Vermittlung im Au-pair-Bereich zur wirksamen Verhinderung von Ausbeutungund Missbrauch“ beschlossen. In diesem Antrag habenwir uns umfassend mit den Zielen und Gefahren einesAu-pair-Aufenthaltes sowie der Qualität in der Au-pair-Vermittlung befasst. Seitdem hat sich an den Zielen undden Erwartungen an einen Au-pair-Aufenthalt wenig ge-ändert.Au-pair-Aufenthalte sind ein wichtiges Kulturgut. ImVordergrund steht das gesellschafts- und jugendpoliti-sche Anliegen, jungen Menschen über Grenzen hinwegdie Möglichkeit zu eröffnen, andere Sprachen und Kultu-ren kennenzulernen, um so die internationale Verständi-gung zu fördern. Au-pairs betreuen in der Regel dieZu ProtokollKinder der Gastfamilie und helfen in einem zeitlich be-grenzten Umfang bei der täglichen Arbeit im Haushaltmit.Im Gegenzug erbringen auch die Gastfamilien Leis-tungen: Sie stellen ein Zimmer zur Verfügung, sorgen fürdie Verpflegung, zahlen ein Taschengeld, schließen fürdas Au-pair eine Privatversicherung für den Fall derKrankheit, Schwangerschaft, Geburt und eines Unfallsab und ermöglichen den Besuch von Sprachkursen.Der Aufenthalt als Au-pair in einer Gastfamilie bietetden überwiegend jungen Frauen ab 17 Jahren zahlreicheChancen. Er ist aber auch mit Gefahren verbunden. Sosind immer wieder Fälle von illegaler Beschäftigung undAusbeutung bis hin zum Missbrauch durch die Gastfami-lie aufgetreten. Im Hinblick auf diese Gefahren haben dieAu-pairs ein besonderes Schutzbedürfnis. Dem müssenwir entsprechen. Leider trägt der vorliegende Antrag derFDP diesem Schutzbedürfnis kaum Rechnung.„Au pair“ kommt aus dem Französischen und bedeu-tet „auf Gegenseitigkeit“. Aus einem Au-pair-Verhältnissollen beide Seiten einen Nutzen ziehen. Es gilt, denSchutzgedanken sowohl für die Au-pair-Beschäftigtenals auch für die Gastfamilien besonders zu beachten. DieAu-pairs haben einen Anspruch darauf, die Kultur undSprache des Gastlandes kennenzulernen. Ihre Arbeits-leistung, die sie in die Gastfamilien einbringen, berech-tigt diese aber nicht dazu, ihr Au-pair als Haushaltshilfeauszunutzen.Daneben muss allerdings auch der Schutzgedanke fürdie Kinder der Gastfamilien beachtet werden. Sie habenein Anrecht auf gute und verantwortungsvolle Betreuungdurch die Au-pairs.Nicht wenige von den jungen Au-pair-Mädchen sindoftmals nicht in der Lage, ihrer Verantwortung gerecht zuwerden. Häufig sind die jungen Mädchen mit der Tätig-keit überfordert. Sie haben oftmals ein vollkommen fal-sches Bild von dem, was sie in dem Gastland und in derGastfamilie erwartet. Meist sind die Mädchen in der Be-treuung von Kleinstkindern nicht ausreichend geschultoder nicht entsprechend angeleitet worden. Daraus kön-nen sich auch Gefahren für die von ihnen betreuten Kin-der ergeben. Deshalb halte ich es für unerlässlich, dassauch die Gastfamilien die Sicherheit haben, dass ihnennur Mädchen vermittelt werden, die ihre Au-pair-Auf-gabe auch verantwortungsvoll wahrnehmen.Gastfamilien brauchen entsprechende Ansprechpart-ner vor allem dann, wenn es aufgrund des unterschiedli-chen kulturellen Hintergrundes zu Spannungen und Dis-krepanzen zwischen Gastfamilie und Au-pair kommt.Um den genannten Schutzgedanken in beide Richtun-gen bestmöglich zu gewährleisten, bestehen spezielleRegelungen zum Schutz von Au-pairs. So gelten zumBeispiel das Schriftformerfordernis für den Vermittlungs-vertrag sowie die automatische Unwirksamkeit für be-stimmte Vereinbarungen.Die Überwachung der Einhaltung der Schutzvor-schriften obliegt der Bundesagentur für Arbeit. Sie mussdie Beschäftigungsaufenthalte der Au-pairs genehmigen
Metadaten/Kopzeile:
25888 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Michaela Nollund kann festgestellte Verstöße mit Geldbußen ahnden.Die von der Bundesagentur für Arbeit vorgenommenePrüfung stellt sicher, dass die Au-pairs gemäß den Stan-dards beschäftigt werden, die im Hinblick auf den Schutzder jungen Menschen während des Gastaufenthaltes ge-boten sind.Wichtig ist, die Arbeit der Vermittlungsagenturen ge-nauer zu beleuchten. Denn bei der Unterstützung und Be-treuung der Au-pair-Beschäftigten gibt es erheblichequalitative Unterschiede.Daher befürworte ich, dass Agenturen, die Au-pair-Beschäftigungen nach Deutschland vermitteln, konkreteGütekriterien erfüllen müssen. Diese Forderung habenwir auch 2003 in unserem fraktionsübergreifenden Be-schluss erhoben. In der Folgezeit konnten wir viele Agen-turen für einen Beitritt zur RAL-Gütegemeinschaft mitdem Gütezeichen „au pair incoming“ und den damit ver-bundenen Gütekriterien gewinnen.Die mithilfe von Mitteln des Kinder- und Jugendplansins Leben gerufene Gütegemeinschaft „Au pair e.V.“ be-müht sich beständig, diesen in der Praxis bessere Gel-tung zu verschaffen. Dabei wird sie von der Bundesregie-rung unterstützt und gefördert. Die Gütegemeinschaft istvon deutscher Seite aus gemeinsam mit der InternationalAu Pair Association, IAPA, auf Anregung des BMFSFJhierzu initiativ geworden.Das Familienministerium, in Au-pair-Angelegenhei-ten das federführend koordinierende Ressort, unterstütztdie kontinuierliche Weiterentwicklung des Zertifizie-rungsverfahrens. Diese Weiterentwicklung und die tat-sächliche praktische Arbeit der Agenturen müssen wirauch zukünftig im Blick haben – im Interesse einer Qua-litätssicherung der Au-pair-Aufenthalte.Im Gegensatz hierzu sehe ich die von der FDP vorge-schlagene Anhebung der Altersbegrenzung von 25 auf27 Jahre äußerst skeptisch. Au-pair-Aufenthalte solltenin der Lebensphase zwischen Beendigung der Schulzeitund Einstieg in das Berufsleben stattfinden. Die Verlän-gerung des Au-pair-Aufenthalts auf 24 Monate sehe ichebenfalls sehr kritisch. Die aktuelle Begrenzung auf einJahr dient dem Schutz der Au-pairs. Sie soll sicherstel-len, dass diese nicht als Hauswirtschaftshilfeersatz be-schäftigt werden. Wir wollen eben nicht, dass bei der Au-pair-Beschäftigung ein grauer Arbeitsmarkt oder Ar-beitsverhältnisse im klassischen Sinn entstehen. Glei-chermaßen dem Schutzgedanken Rechnung trägt dieAnforderung an ein bestimmtes Niveau in der Sprach-kompetenz. Ohne dieses Maß an Sprachkompetenz aufdem Niveau von Grundkenntnissen der deutschen Spra-che würde das Ziel der Au-pair-Aufenthalte nicht er-reicht werden können. Au-pair und Familie sollen sichnicht nur verständigen können, die Au-pairs sollen auchbei Problemen mit ihren Gastfamilien nicht hilflos unddamit schutzlos sein.Nun erhebt die FDP in dem vorliegenden Antrag dieForderung nach einheitlichen Kriterien für den Nach-weis deutscher Sprachkenntnisse. Dieser Forderungwurde allerdings bereits durch Festlegung auf den Ge-meinsamen Europäischen Referenzrahmen für SprachenZu ProtokollRechnung getragen. Nach diesem Rahmen werden dieSprachkenntnisse in die Stufen A 1, A 2, B 1, B 2, C 1 undC 2 eingeteilt. Dabei stehen die Stufen A 1 und A 2 fürelementare, die Stufen B 1 und B 2 für selbstständige unddie Stufen C 1 und C 2 für kompetente Sprachverwen-dung. Für einen Au-pair-Aufenthalt ist lediglich die StufeA 1, einfache Kenntnisse der deutschen Sprache, erfor-derlich. Mit dem Europäischen Referenzrahmen kommtsomit ein objektiver, transparenter und anerkannterMaßstab zum Tragen.Des Weiteren möchte die FDP, dass der Sprachnach-weis örtlich flexibler erbracht werden kann. Die Prüfungin Auslandsvertretungen, so wie sie derzeit erfolgt, ent-spricht jedoch der Forderung aus dem zu Beginn von mirzitierten Bundestagsbeschluss vom 3. Juli 2003. Dort ha-ben wir es fraktionsübergreifend für notwendig gehalten,dass die deutschen Auslandsvertretungen bei der Prü-fung der Visaanträge zum Schutz der Au-pairs besondersauf die Sprachkompetenz achten. Im Übrigen besteht anausgewählten Vertretungen mit hohem Bewerberaufkom-men bereits jetzt die Möglichkeit, den Sprachnachweisdurch Ablegung der Standardprüfung der NiveaustufeA 1 des Goethe-Instituts zu erbringen.Als einem europa- und weltweiten Austausch von jun-gen Menschen, der gerade in den Familien stattfindensoll, kommt der Au-pair-Beschäftigung eine große Be-deutung zu. Sie bietet die Chance für einen kulturellenAustausch. Daher dürfen bestimmte Grenzen nicht über-schritten werden.Die umfassenden Maßnahmen, die wir zum Schutz derAu-pair-Beschäftigten und auch zum Schutz der Familienin der Vergangenheit ergriffen haben, haben sich be-währt. Sie entsprechen dem Au-pair-Gedanken des kultu-rellen Austauschs in der Orientierungsphase zwischenSchule und Beruf. Sie tragen dazu bei, illegale Beschäfti-gung und damit die Gefahr des Missbrauchs in diesemBereich zu reduzieren. Sie sichern eine hohe Qualität inder Au-pair-Beschäftigung.Deshalb sind die bestehenden Regelungen vernünftig.Nur so kann es uns gelingen, dass alle Beteiligten denAu-pair-Aufenthalt als Bereicherung in Erinnerung be-halten.
Die Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktionhaben mit dem vorliegenden Antrag das Ziel, die Attrak-tivität von Au-pair-Beschäftigung zu steigern. Die Frageist nur, für wen. Das Problem wird in ihrem Antrag klarbenannt: Die Zahl der Visa und damit die Zahl der Au-pair-Beschäftigten in Deutschland ist in den letzten Jah-ren drastisch gesunken. Sie führen an, dass andere euro-päische Länder attraktivere Rahmenbedingungen für dieBeschäftigung als Au-pair böten, wie zum Beispiel einhöheres Mindesttaschengeld und eine Erstattung derReisekosten. Erstaunlicherweise schlagen sie in ihremAntrag aber nicht vor, genau dies zu ändern. IhreSchwerpunkte liegen vielmehr auf Erleichterungen imbürokratischen Bereich. Beispielsweise fordern sie einegrößere Flexibilität, was die Sprachnachweise betrifft.Sie sind der Meinung, dass in Einzelfällen auch Zeug-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25889
gegebene Reden
(C)
(D)
Sönke Rixnisse als Sprachnachweis ausreichend sind statt einesGesprächs in einer öffentlichen Stelle. Ich meine: Zeug-nisse allein reichen nicht aus. Schließlich können dieseauch gefälscht werden. Die Gastfamilie muss sicherge-hen können, dass das Au-pair-Mädchen oder der Au-pair-Junge so gut deutsch spricht, dass die Familie gutkommunizieren kann – vor allem auch die Kinder. Das isteine Grundvoraussetzung, und die darf nicht vernachläs-sigt werden.Daneben fordern Sie eine Ausweitung der Alters-grenze von derzeit 25 auf 27 Jahre. Ich frage mich aller-dings, warum. Au-pair-Beschäftigte kommen meist direktnach der Schule in ein anderes Land. Ältere Au-pairssind die Ausnahme. Dass mit dieser Forderung die At-traktivität gesteigert wird, sehe ich nicht. Und Sie for-dern eine weitere Ausweitung: Sie wollen, dass die Auf-enthaltsdauer eines Au-pairs auch um ein Jahr auf24 Monate verlängert werden kann. In meinen Augenwird so jedoch nur ein Beschäftigungsverhältnis verlän-gert. Dem kulturellen Austausch dient dies aber wenig.Dieser findet am Anfang der Au-pair Beschäftigung statt.Auch die Beschleunigung von Visabeantragungsver-fahren, die Sie sich wünschen, ist ein hilfloses Mittel. Werein Jahr ins Ausland möchte, braucht sein Visum nichtinnerhalb von einer Woche. Schließlich wird so ein Aus-landsaufenthalt sowohl von der oder dem Au-pair alsauch von der Gastfamilie gut geplant. Jedenfalls solltedas so sein. Ein spontaner Entschluss zu einem Au-pair-Aufenthalt sollte eher selten der Fall sein. Und auch hiermüssen wir für den größtmöglichen Schutz für Au-pairund Gastfamilie sorgen. Diesem Schutz arbeiten Sie auchmit einer weiteren Forderung entgegen. Denn Sie wollendie Au-pair-Beschäftigung aus der Erwerbstätigkeit he-rauslösen und eine flexiblere Lösung finden. Doch das istsicher nicht im Sinne der jungen Menschen, die sich dazuentschließen, ein Jahr in Deutschland zu verbringen.Ihren letzten beiden Forderungen im Antrag kann ichmich durchaus anschließen. Sie plädieren für eine brei-tere Öffentlichkeitsarbeit und für eine konsequente Zerti-fizierung der Vermittlungsagenturen. Diese beiden For-derungen bringen zwar keine Verbesserungen für die Au-pairs, können jedoch die Zahl derjenigen erhöhen, dieein Au-pair-Jahr in Deutschland verbringen wollen.Nicht verstehen kann ich allerdings – und entschuldi-gen Sie bitte, dass ich mich jetzt wiederhole –, dass Siekeine richtige Forderung zu einer Steigerung der Attrak-tivität vorbringen. Warum fordern Sie keine Erhöhungdes Mindesttaschengelds oder eine Übernahme der Rei-sekosten durch die Gasteltern?Mir scheint – und ich denke, dass mir die Kolleginnenund Kollegen aus den anderen Fraktionen da recht gebenwerden –, dass Sie die Regelungen, die es in Deutschlandaus gutem Grunde gibt, flexibilisieren wollen. Doch Bü-rokratie ist nicht immer schlecht – auch wenn Sie uns dasfortwährend weismachen wollen. Hier dient die Bürokra-tie klar dem Schutz der Beteiligten, und davon will ichauch nicht abrücken.Zu ProtokollWenn Sie nun allerdings fordern, die Verwaltungsre-gelungen zu flexibilisieren, die Altersgrenze heraufzuset-zen und die Sprachnachweise nicht mehr konsequent imGespräch einzufordern, ist ein Missbrauch durch ein-zelne Gasteltern nicht auszuschließen. Möglicherweisesehen sie in der Au-pair-Beschäftigung lediglich einegünstige Möglichkeit zur Kinderbetreuung.Dennoch danke ich Ihnen für diesen Antrag, da wirdas Thema Au-pair-Beschäftigung so einmal ausführlichdiskutieren konnten. Das hat auch mir neue Erkenntnisseverschafft. In Ihrem Antrag sehe ich allerdings keine ein-zige Forderung, die die Attraktivität der Au-pair-Be-schäftigung verbessern würde. Wir lehnen den Antragdeshalb ab.
Die FDP legt Ihnen heute zur Abstimmung einen An-trag zu Au-pair-Beschäftigung vor.Au-pairs sind junge Erwachsene, die gegen Verpfle-gung, Unterkunft und Taschengeld bei einer Gastfamilieim Ausland tätig sind. Im Gegenzug lernen sie die Spra-che und Kultur des Gastlandes kennen. Es ist nicht nurder simple Austausch des Wohnortes. Es ist viel mehr.Der Au-pair-Aufenthalt ist ein fester Bestandteil des in-ternationalen Jugendaustausches und des interkulturel-len Dialogs.Auf der anderen Seite stehen die Gastfamilien mitihren Kindern. Ihnen wird durch die Unterstützung einesAu-pairs die bessere Vereinbarkeit von Familie und Be-ruf ermöglicht. Die Kinder erhalten durch Au-pairs Ein-blicke in die Kultur eines anderen Landes. Für beideSeiten eines Au-pair-Aufenthaltes entsteht eine Win-Win-Situation, verbunden mit der besseren Verständigung derNationen.Bei allen beschrieben Vorteilen ist dennoch ein Rück-lauf bei den Au-pair-Aufenthalten in Deutschland deut-lich erkennbar. Die Gütegemeinschaft Au Pair e. V. hatdarüber bereits im Jahr 2007 informiert. BürokratischeWiderstände und Sprachtests und Prüfbedingungen, dieüber die Mindestanforderungen deutlich hinausgehen,machen Deutschland als Gastland unattraktiv.Seit 1969 besteht, durch den Europarat beschlossen,ein Übereinkommen über Bedingungen der Au-pair-Be-schäftigung. Ziel ist es, einheitliche Bedingungen in allenMitgliedstaaten festzustellen und zu vereinheitlichen. DieBundesrepublik Deutschland hat diese Abkommen ge-zeichnet, jedoch nicht ratifiziert.Wie können wir die positiven Ergebnisse von Au-pair-Beschäftigung in Deutschland erhalten und den aktuellenBedingungen anpassen? Vorschläge aus unserem An-trag:Erstens. Die Höchstaltersgrenze von Au-pair-Be-schäftigungen – wie beim Freiwilligen Sozialen Jahroder beim Freiwilligen Ökologischen Jahr – von unter25 Jahre auf unter 27 Jahre anheben.Zweitens. Möglichkeiten schaffen, Au-pair-Beschäfti-gung im Einzelfall auf bis zu 24 Monate zu verlängern.
Metadaten/Kopzeile:
25890 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Ina LenkeDrittens. Visaverfahren bei Au-pair-Beschäftigungenaus nichtprivilegierten Staaten insbesondere bei einerVermittlung durch zertifizierte Agenturen beschleunigen.Viertens. Den Nachweis von Sprachkenntnissen derdeutschen Sprache vor der Einreise in die Bundesrepu-blik Deutschland nach einheitlichen Kriterien regeln unddas Verfahren dahingehend flexibilisieren, dass im Ein-zelfall auch der Nachweis über Zeugnisse von Sprach-schulen und anderen Bildungseinrichtungen wie Univer-sitäten möglich ist.Fünftens. Prüfen, ob Au-pair-Beschäftigungen im Auf-enthaltsrecht zustimmungsfreien Beschäftigungen odersonstigen Ausbildungszwecken zugeordnet werden kön-nen.Sechstens. Dafür werben, dass Agenturen, die inDeutschland Au-pairs vermitteln, sich verstärkt der Zer-tifizierung durch das RAL-Gütesiegel anschließen.Siebtens. Gemeinsam mit den Au-pair-Agenturen undAu-pair-Verbänden Kampagnen entwickeln, um die At-traktivität der Bundesrepublik Deutschland als Zielstaatfür eine Au-pair-Beschäftigung zu erhöhen.Wir brauchen in Deutschland vernünftige Regelungenfür Au-pairs und Gastfamilien. Sehr deutlich will ich hiersagen, dass es der FDP um eine geordnete, faire Partner-schaft zwischen Gasteltern und Au-pairs geht. Wir wol-len gerade den Missbrauch, der von CDU/CSU und SPDangesprochen wurde, künftig vermeiden helfen. Aber denMissbrauch zur Norm zu erheben und Gasteltern per sezu misstrauen, führt politisch in die Sackgasse. StimmenSie unserem Antrag zu!
Au-pairs möchten Kultur und Lebensgewohnheitendes Gastgeberlandes kennenlernen und die dortige Spra-che erlernen. Sie sollen ihre sozialen Kompetenzen aus-bauen – nicht nur durch Hausarbeit und Kinderbetreu-ung. Und sie sollen erste Berufserfahrungen sammeln.Kurz: Eine Au-pair-Beschäftigung hat zum Ziel, kulturel-len Austausch zu bieten, und verfolgt einen klaren Bil-dungsauftrag.Natürlich dürfen wir auch die Gastfamilie nicht ver-gessen: Ihr soll vor allem die Vereinbarkeit von Familieund Beruf erleichtert werden. Zudem soll sie natürlichauch etwas über die Kultur des Landes erfahren, aus demihr Au-pair kommt.Der Fraktion Die Linke ist bei alledem wichtig, dassAu-pairs vor Ausbeutung geschützt werden, neben derSprache viel für ihre persönliche Entwicklung mitneh-men und einen sicheren Aufenthalt genießen.Doch was fordert die FDP, um die Attraktivität derAu-pair-Beschäftigungen zu verbessern?Die Anhebung der Höchstaltersgrenze von 25 auf27 Jahre, die Möglichkeit, die Beschäftigung auf 24 Mo-nate zu verlängern, vereinfachte Visaverfahren und an-dere Rechtsgrundlagen für Visa und Aufenthaltsgenehmi-gungen, die einheitliche Regelung des Nachweises derSprachkenntnisse vor der Einreise. Auch NachweiseZu Protokolldurch andere Zeugnisse als die der Goethe-Institute sol-len gelten. Die Bundesregierung soll bei Vermittlungs-agenturen für die Teilnahme am Zertifizierungspro-gramm RAL werben. Gemeinsame Werbekampagnen derBundesregierung mit Au-pair-Agenturen und -Verbän-den.Das hört sich ja alles ganz nett an. Der Antrag derFDP vernachlässigt aber fast vollkommen die Frage, wiedie wirtschaftliche und soziale Situation von Au-pair-Be-schäftigten verbessert werden kann! Von keinem Inte-resse scheint für die FDP auch das Problem zu sein, wieanständige Arbeitsbedingungen eingehalten, gesell-schaftliche Teilhabe sichergestellt und der Ausbau derSprachkenntnisse konkret gewährleistet werden sollen.Die FDP zeigt wieder einmal eine bemitleidenswerteIgnoranz sozialen Aspekten gegenüber.Für die Linke ist eine Beschäftigung nur dann attrak-tiv, wenn sie „Gute Arbeit“ verspricht! Es dürfen dieGrenzen zur reinen Erwerbsarbeit nicht verwischt wer-den! Die Linke wird es nicht zulassen, dass bei Au-pair-Beschäftigungen Arbeitsverhältnisse im klassischen Sinnentstehen! Junge Menschen dürfen nicht bei Tätigkeitenin Privathaushalten ausgebeutet und als billige Haus-haltshilfen gehalten werden. Leider sprechen viele Er-fahrungsberichte eine andere Sprache. Hierauf ist ganzgenau zu achten, gerade weil die Grenzen von privatemZusammenleben, Integration in die Gastfamilie und Er-werbsarbeit verschwimmen.Die FDP gibt leider keinerlei Antwort darauf, wieman den vielfältigen Missbrauchsgefahren begegnenkönnte. Durch die mögliche Verlängerung der Beschäfti-gungszeit – die für die Gastfamilien durchaus von Vorteilsein kann – besteht zudem die Gefahr, dass die Au-pairslänger als billige Arbeitskräfte gehalten werden sollenund zugleich einen früheren Einstieg in ihr Berufslebenverpassen. Wenn schon Verlängerung und Altersanhe-bung, dann nur unter streng festgelegten, engen Voraus-setzungen – am besten verpflichtend gekoppelt mit einemberufs- oder studiumsvorbereitenden Praktikum oderÄhnlichem. Es müssen ganz klar der Schutz und die Be-rufsperspektiven der Au-pair-Beschäftigten im Mittel-punkt stehen!Ich frage ernsthaft: Warum schaut die FDP nicht malüber den nationalen Tellerrand hinaus und fordert bei-spielsweise ein höheres Taschengeld für Au-pair-Be-schäftigte, die Erstattung von Reisekosten oder eine fest-geschriebene Anzahl von Deutschstunden? Warum wirdder Anteil an Hausarbeit im Vergleich zum Kinderbetreu-ungsanteil sowie zum Anteil an Weiterbildung und Frei-zeit nicht weiter verringert? Warum denkt man nicht da-rüber nach, die Au-pair-Tätigkeit mit einem Praktikumim gastgebenden Land leichter kombinierbar zu ma-chen? Die sicherlich spannenden Antworten auf dieseFragen enthält uns die FDP leider vor! Eines steht fest:Wir brauchen beim Au-pair klare Qualitätskriterien unddürfen den sozialen Aspekt nicht vernachlässigen!Die Linke betont aber den Schutzgedanken nicht nurgegenüber den Au-pair-Beschäftigten, sondern auch ge-genüber den Kindern der Gastfamilie: Diese haben ein
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25891
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
25892 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Elke ReinkeRecht auf gute und verantwortungsvolle Betreuung durchdie Au-pair-Beschäftigten.Alles in allem konzentriert sich der Antrag der FDPhauptsächlich darauf, wie Au-pair-Aufenthalte möglichstunbürokratisch organisiert werden können. Im Kern istder FDP-Antrag deshalb kein Antrag im Interesse derjungen Menschen, sondern ein Antrag im Interesse derprivaten Au-pair-Vermittlungsagenturen, die durch denRückgang der Au-pair-Beschäftigungen um ihre Existenzfürchten. Die Linke will aber „Gute Arbeit“, um allenAu-pair-Beschäftigten und damit auch den gastgebendenFamilien ein gutes Leben zu ermöglichen.
Au-pair-Aufenthalte leisten grundsätzlich einen posi-
tiven Beitrag zum interkulturellen Austausch und zur
Völkerverständigung. Sie bieten Möglichkeiten zum
Spracherwerb und zum Erlernen von Schlüsselqualifika-
tionen.
Wir teilen die Intention des vorliegenden Antrags, die
Bedingungen im Bereich des Aufenthaltsrechts zu verbes-
sern und diese transparenter zu gestalten. Notwendig,
überfällig und sinnvoll wären vereinfachte Visaregelun-
gen, einheitlichere Sprachnachweisverfahren sowie bes-
sere Zertifizierungen als heute.
Wir kritisieren jedoch, dass die FDP in ihrem Antrag
auf Qualitätskriterien für Au-pair-Beschäftigungen nur
oberflächlich eingeht. In allgemeiner Form wird gefor-
dert, Au-pair-Beschäftigungen attraktiver zu gestalten.
Diese Forderungen, wie im Antrag geschehen, vorrangig
auf eine Anhebung des Höchstalters von 25 auf 27 Jahre
und eine Verlängerungsoption auf bis zu 24 Monate zu
reduzieren, greift ohne eine entsprechende Sicherung der
Rechte von Au-pairs viel zu kurz und kann sogar kontra-
produktiv sein.
Es gilt, die Rechte der Beschäftigten zu schützen und
den besonderen Charakter der Au-pair-Tätigkeit zu wah-
ren. Dazu gehören die tatsächliche Gewährleistung des
Schutzes vor Ausnutzung und Ausbeutung, die Einräu-
mung von angemessener Freizeit zum Kennenlernen des
Gastlandes und die Bereitstellung einer Beratungsinfra-
struktur gerade in Konfliktfällen. Notwendig wäre es,
ebenfalls die Risiken einer Ausbeutung von Au-Pairs an-
gemessen zu thematisieren und Gegenmaßnahmen zu
entwickeln.
Ohne klare Qualitätskriterien würden die positiven ju-
gend- und bildungspolitischen Wirkungen von Au-pair-
Aufenthalten konterkariert. Wir Grüne wollen den Schutz
von Au-Pairs vor Ausnutzung sowohl im Inland als auch
im Ausland verbessern. Hierzu bedarf es verbindlicher
internationaler Kooperation. Leider hat die Bundesre-
gierung auch im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsi-
dentschaft auf zielgerichtete Aktivitäten in diesem Be-
reich verzichtet und zeigt auch ansonsten keine Aktivität
in diesem Themenfeld.
Die FDP bezieht sich zwar positiv auf das Überein-
kommen des Europarates zu Au-pair-Beschäftigungen
aus dem Jahr 1969, das die Bundesrepublik gezeichnet,
aber nicht ratifiziert hat.
Einige Bestimmungen des Übereinkommens, die den
sicheren Aufenthalt von Au-pair-Beschäftigten und den
Schutz vor Ausbeutung sicherstellen sollten, werden
zwar auch in Deutschland berücksichtigt, zu anderen
Vorschriften dieses Übereinkommens gibt es jedoch
nationale Abweichungen. Leider wird in dem vorliegen-
den Antrag jedoch offen gelassen, ob die Antragsteller
eine Ratifizierung des Übereinkommens des Europarates
für sinnvoll und geboten halten. Auch an die Bundesre-
gierung wird keine entsprechende Forderung gerichtet.
Wir Grüne halten es für geboten, dass die Bundesre-
gierung hier aktiv wird und ein europaweit anerkanntes
Übereinkommen vorantreibt. Zudem bedarf es einer akti-
ven Unterstützung des Europäischen Komitees für Au-
pair-Standards bei der Vereinbarung gemeinsamer Stan-
dards mit einem angemessen Schutzniveau für die Au-
pair-Beschäftigten. Diese Maßnahmen würden den vie-
len engagierten jungen Leuten gerechter werden und
dem Rückgang der Au-pair-Aufenthalte besser begegnen
als einseitige Deregulierungsrethorik à la FDP.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12724, denAntrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9481abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist mehrheitlich angenommen.Ich rufe Zusatzpunkt 7 auf:1)Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu derVerordnung der BundesregierungVerordnung über Anforderungen an einenachhaltige Herstellung von flüssiger Bio-
– Drucksachen 16/13326, 16/13507 Nr. 2, 16/13685 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Maria FlachsbarthMarko MühlsteinMichael KauchEva Bulling-SchröterHans-Josef FellWir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss fürUmwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt inseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13685,der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache16/13326 mit der vom Ausschuss beschlossenen Maß-gabe zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-fehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist mehrheitlich angenommen.1) Zu Protokoll gegebene Redebeiträge siehe Anlage 19
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25893
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsIch rufe die Tagesordnungspunkte 39 a bis 39 c auf:a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Cornelia Hirsch, Werner Dreibus,Dr. Gesine Lötzsch, weiteren Abgeordneten undder Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfseines Achtundzwanzigsten Gesetzes zur Ände-rung des Berufsbildungsgesetzes– Drucksache 16/6629 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung
– Drucksache 16/13584 –Berichterstattung:Abgeordnete Uwe SchummerSwen Schulz
Patrick MeinhardtCornelia HirschKai Gehringb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Barth,Patrick Meinhardt, Jens Ackermann, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der FDPOrientierung und verbesserte Berufsperspek-tiven durch Praktika schaffen– Drucksachen 16/6768, 16/13584 –Berichterstattung:Abgeordnete Uwe SchummerSwen Schulz
Patrick MeinhardtCornelia HirschKai Gehringc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
– zu dem Antrag der Abgeordneten PatrickMeinhardt, Uwe Barth, Cornelia Pieper, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der FDPNeue Chancen für die berufliche Bildung– zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz
, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENRecht auf Ausbildung umsetzen – Ausbil-dungssystem reformieren, überbetrieblicheAusbildungsstätten ausbauen und Über-gangsmaßnahmen anrechnen– Drucksachen 16/12665, 16/12680, 16/13686 –Berichterstattung:Abgeordnete Uwe SchummerWilli BrasePatrick MeinhardtVolker Schneider
Priska Hinz
Trotz oder auch besonders aufgrund der derzeitigen
Wirtschafts- und Finanzkrise müssen wir den Ausbil-
dungsmarkt im Blick behalten und über den Tag hinaus
denken. Wir müssen der demografischen Entwicklung
vor dem Hintergrund des prognostizierten Fachkräfte-
mangels aktiv begegnen. Aus diesem Grund halten wir
als SPD weiter an der Zahl von 600 000 Ausbildungs-
plätzen fest. Das ist eine große Herausforderung, beson-
ders für die Wirtschaft, aber mit Blick in die Zukunft müs-
sen wir alle Jugendliche mit auf den Weg nehmen. Die
jungen Menschen dürfen nicht zu den Verlierern der Kon-
junkturkrise werden. Wir haben unter anderem den Aus-
bildungsbonus als ein Instrument erweitert, sodass Aus-
zubildende, wenn ihr Betrieb in die Insolvenz geht, ihre
Ausbildung in einem anderen Unternehmen beenden
können.
Derzeit sind in Deutschland 1,5 Millionen junge Men-
schen im Alter bis 29 Jahre ohne Berufsabschluss. Diese
Personengruppe müssen wir dringend zu einem Ab-
schluss führen. Über den Ausbildungsbonus können Aus-
bildungsplätze besonders für die hohe Zahl der Altbe-
werberinnen und Altbewerber finanziert werden. Die
SPD will eine Berufsausbildungsgarantie für alle, die äl-
ter als 20 Jahre sind und weder Berufsabschluss noch
Abitur haben. Sie sollen eine Chance in außerbetriebli-
chen Ausbildungsangeboten bekommen. Dort können sie
sich dann in Berufen mit Arbeitskräftebedarf qualifizie-
ren.
Weiterhin verfolgen wir auch das Ziel, dass mehr Be-
triebe, die ausbildungsfähig sind, auch ausbilden. Weni-
ger als 20 Prozent der Unternehmen mit einem bis neun
Beschäftigten bilden aus. Hier besteht noch ein sehr gro-
ßes Potenzial. Angesichts dieser Zahlen müssen wir die
objektiven Möglichkeiten der Arbeitgeber deutlich aus-
weiten, um allen Jugendlichen eine Ausbildungschance
zu eröffnen und das duale System zu stärken. Hier gehen
die Überlegungen in Richtung zur Einrichtung von Bran-
chenfonds. Über sie wird durch verbesserte Qualifizie-
rungsstrukturen die Modernisierung der Wirtschafts-
strukturen vorangebracht, das heißt sie zielen auf eine
Verbesserung der Standortqualität ab.
Die deutsche duale Ausbildung mit ihrem hohen Pra-
xisanteil ist ein Garant für eine hohe Berufs- und Be-
schäftigungsfähigkeit. Ich werde weiterhin mit Nach-
druck an dem ganzheitlichen Berufsprinzip festhalten.
Eine wie von Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Antrag ge-
forderte Neustrukturierung der gesamten Berufsausbil-
dung über bundesweit anerkannte Bausteine lehne ich
ab. Meines Erachtens ist es viel wichtiger, dass wir die
zahlreichen Maßnahmen im sogenannten Übergangssys-
tem bündeln und übersichtlich strukturieren sowie an
wenigen, jetzt schon erfolgreichen Instrumenten konzen-
triert festhalten. Hier lenke ich den Fokus unter anderem
auf die Einstiegsqualifizierung für Jugendliche, ein In-
strument, das sich in der Vergangenheit bewährt hat. Zu-
künftig muss es vernünftige Anrechenmöglichkeiten auf
(C)
(D)
Willi Brase
eine nachfolgende duale Berufsausbildung, möglichst im
gleichen Betrieb, geben.
Es kann gar nicht häufig genug betont werden, dass
Ausbildungsmärkte regionale Märkte sind. Das gilt eben-
falls für den Bereich der Berufsorientierung und -bera-
tung an den Schulen. Auch diese müssen regional ausge-
richtet werden. Man muss den Schülerinnen und
Schülern ein auf die Region zugeschnittenes Angebot ma-
chen. Wirtschaft, Schulen, Eltern und weitere Koopera-
tionspartner vor Ort müssen zusammenarbeiten. Viele
junge Menschen müssen nach dem Mentorenprinzip ein-
fach noch an die Hand genommen werden. Dann entge-
hen wir auch der leidigen Diskussion um die sogenannte
Ausbildungsreife, die bereits seit den 60er-Jahren immer
wieder in die Debatte geworfen wird, und das immer
dann besonders lautstark, wenn es um die Zahl der Aus-
bildungsplätze geht, die die Wirtschaft zur Verfügung
stellen sollte.
Die duale Ausbildung ist das Rückgrat unseres beruf-lichen Bildungssystems. Das lassen wir uns nicht aushe-beln, das soll so bleiben. Damit das System der berufli-chen Bildung auch in der wirtschaftlichen Krisefunktionsfähig bleibt, muss es für die anstehenden He-rausforderungen neu ausgerichtet werden. Die FDP-Fraktion will mit ihrem Antrag neue Chancen für die be-rufliche Bildung eröffnen, vor allem neue Chancen fürdie jungen Menschen; denn um die muss es gehen, nurum die.In der gestrigen Sitzung des Ausschusses haben wirfür unseren Antrag auch von den beiden Regierungsfrak-tionen viel Zustimmung erfahren. Meine Damen undHerren von der Großen Koalition, springen Sie über Ih-ren Schatten, stimmen Sie doch heute einfach zu!Wir Liberale machen uns stark für die duale Ausbil-dung, ohne Wenn und Aber. Und das will ich Ihnen andieser Stelle auch ganz deutlich sagen: In einer Situa-tion, in der wir aufpassen müssen, dass aus einer Wirt-schaftskrise nicht auch eine Ausbildungskrise wird, ist eswenig sinnvoll, den erfolgreichen Ausbildungspakt in-frage zu stellen. Das sage ich bewusst an die Adresse derBundesregierung. Wahlkampf auf dem Rücken der Aus-zubildenden zu machen, verbietet sich. Wahlkampf aufKosten der mittelständischen Betriebe zu machen, die inwirtschaftlich guten Zeiten weit über Bedarf ausgebildethaben, verbietet sich. Anstatt den Ausbildungspakt zu ge-fährden, müssen wir uns jetzt darauf konzentrieren, eineQualitätsoffensive zu ergreifen und den Weg zu bereitenfür mehr Flexibilität in der beruflichen Bildung.Deutsche Ausbildungsbetriebe tragen jährlich mit30 Milliarden Euro rund 80 Prozent der Ausbildungskos-ten und bilden nicht selten über den eigenen Bedarf aus.Auch der Umstand, dass die Mehrheit der Betriebe trotzschwieriger Wirtschaftslage ihr Ausbildungsengagementaufrechterhalten will und so den Nachwuchs zu sichernbeabsichtigt, verdeutlicht dies.An dieser Stelle sei Ihnen von der Linken auch nochgesagt: Was in der beruflichen Bildung gilt, gilt auch fürZu Protokolldie vielen Praktikumsbetriebe in diesem Land. SparenSie sich ihre Klassenkampfrhetorik! Die deutschen Un-ternehmer sind sehr viel verantwortungsbewusster, alsSie das in der Begründung zu Ihrem Gesetzentwurf dar-stellen. Das bestätigen auch die Praktikanten selbst;denn nur jeder siebte von ihnen fühlt sich ausgenutzt, diegroße Mehrheit bewertet ihr Praktikum „gut“ oder sogar„sehr gut“, wie eine HIS-Erhebung bestätigt. Also hörenSie endlich auf, Probleme herbeizureden und die Men-schen mit Reglementierungen dann zu überhäufen, wennsie selbst Chancen sehen. Ja, es gibt auch schwarzeSchafe. Aber deswegen dürfen nicht alle Betriebe mitdem Stempel „Sie nutzen Praktikanten aus“ versehenwerden. Das wird den Praktikanten und den Betrieben,die Praktikumsplätze anbieten, nicht gerecht.Wenden wir uns lieber den wahren Problemen zu.Noch immer werden viel zu viele junge Menschen ge-parkt in unbrauchbaren Maßnahmen des Übergangssys-tems. Auch wenn ein Jugendlicher nicht sofort einen Aus-bildungsplatz bekommt, so muss sich die Zeit in einerÜbergangsmaßnahme durch eine Weiterqualifizierung– von der er etwas hat – lohnen.Wir müssen die Ausbildungszeiten weiter flexibilisie-ren. Ein Jahr länger, wenn noch gelernt werden muss.Ein Jahr kürzer, wenn man besonders fit ist. In zwei Jah-ren, wenn man einen ersten Ausbildungsabschluss will.Geben wir den Partnern der beruflichen Bildung endlichdiese Flexibilität! Dies ist eine Frage der Ausbildungsge-rechtigkeit.Eines der großen Probleme ist auch, dass etwa jedervierte Jugendliche als nicht ausbildungsfähig gilt. Hiergilt es anzusetzen. Wir müssen mehr Praxiserfahrung indie Schulen bringen. Schon früh müssen erste Erfahrun-gen gesammelt werden können. Das motiviert und eröff-net neue Perspektiven. Betriebserkundungen, Praktikaund Bewerbertraining müssen ebenso eine Rolle spielenwie die Ausrichtung der Lehrinhalte und Themen. Wirt-schaft und Technik müssen viel mehr unterrichtet werden.Auch die Hospitation von Lehrkräften in Betrieben undUnternehmen im schulischen Umfeld sollte gefördertwerden. Wir müssen Schule neu denken, wenn wir erfolg-reich sein wollen.Zwei weitere Punkte will ich hier noch herausstellen.Erstens: Die FDP setzt sich dafür ein, die überbetriebli-chen Bildungszentren zu stärken. Insbesondere dort, wokleine oder sehr spezialisierte Betriebe ein Berufsbildnicht vollumfänglich anbieten können, sind diese einedringend notwendige Ergänzung. Sie tragen dazu bei,Ausbildungsplätze zu sichern und die Qualität der dualenAusbildung auch bei schwierigen Rahmenbedingungenzu gewährleisten.Zweitens: Die FDP will den Erwerb von beruflichenAbschlüssen durch breitbandige, flexible Ausbildungsbe-rufe unterstützen. Eine kompetenz-, werte- und zielorien-tierte Ausbildung, die eine umfassende und flexible be-rufliche Handlungsfähigkeit ermöglicht, ist weiterhin alsLeitbild der Entwicklung des Berufsbildungssystems inDeutschland zu betrachten. Der Erhalt des Berufsprin-zips und sinnvolle Module sind zwei Seiten derselbenMedaille.
Metadaten/Kopzeile:
25894 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Patrick MeinhardtWir benötigen eine bessere Verzahnung von Aus-, Wei-ter- und Hochschulbildung. Bildungssackgassen darf esnicht geben. Ein Bildungssystem, das Durchlässigkeitaufbaut, fördert junge Menschen nach ihren Begabun-gen. Es kann nicht sein, dass wir die Durchlässigkeit zwi-schen beruflicher und akademischer Bildung in Sonn-tagsreden fordern, während es in der Realität jedochgerade einmal 0,6 Prozent der Hochschulzugangsbe-rechtigten sind, die ihre Berechtigung nicht über das Abi-tur, sondern über einen Qualifizierung der beruflichenBildung erlangen. Hier wird deutlich, wer bildungspoli-tisch für die Gleichwertigkeit von akademischer und be-ruflicher Bildung eintritt.Die Anschlussfähigkeit der unterschiedlichen Bil-dungswege ist eine notwendige Voraussetzung. Wir müs-sen die Anforderungen der Aus- und Weiterbildung,zwischen hochwertigen Berufsbildungsgängen und aka-demischen Studiengängen, besser aufeinander abstim-men. Wir müssen durch die Verbesserung der Anrech-nungsmöglichkeiten zwischen den Teilsystemen und einerVermeidung von Doppelqualifizierungen unsere Bildungendlich effizient und durchlässig gestalten. Gerade in ei-ner Krise ist nicht Warten angesagt.Leider müssen wir davon ausgehen, dass unsere Ini-tiativen heute keine Mehrheit finden werden, und das, ob-wohl auch die großen Verbände der beruflichen Bildungwie DIHK und ZDH unsere Positionen als dringend ge-boten begrüßen. Es ist das Schicksal einer Oppositions-fraktion, dass die Abstimmungsverhältnisse zumeist ge-gen einen stehen. Beschämend ist jedoch, dass diesogenannte Große Koalition es nicht geschafft hat, ihrer-seits ein vergleichbares Konzept zu präsentieren und zuverabschieden. Dies zeigt nochmals besonders ein-drucksvoll, wie wichtig ein Regierungswechsel ist: weilwir in Deutschland einen Regierungswechsel für mehrBildung brauchen.
Die erschreckenden Zahlen zur „Generation Prakti-
kum“ liegen seit langem auf dem Tisch. Die vom Bundes-
ministerium für Arbeit und Soziales in Auftrag gegebene
und bereits im März letzten Jahres veröffentlichte Studie
„Was ist gute Arbeit?“ belegt den eklatanten Handlungs-
bedarf. Ein Viertel der befragten Hochschulabsolventin-
nen und -absolventen und 20 Prozent aller jungen Men-
schen mit Berufsabschluss müssen demnach mindestens
ein Praktikum absolvieren, bevor sie eine Anstellung fin-
den. Die Hälfte dieser Praktika werden überhaupt nicht
vergütet, 12 Prozent nur unangemessen bezahlt. Gleich-
zeitig werden mehr als drei Viertel der Praktikantinnen
und Praktikanten mindestens zu 50 Prozent ihrer Prakti-
kumszeit als reguläre Arbeitskräfte eingesetzt. Die Über-
nahme in ein bezahltes Arbeitsverhältnis ist die Aus-
nahme. Was aber will die Bundesregierung gegen diese
Missstände unternehmen? Nichts. Die Bundesregierung
verweilt in der Selbstblockade und verweigert den Be-
troffenen die dringend gebotenen gesetzlichen Schutzre-
gelungen.
Die Fraktion Die Linke hat mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf zur Änderung des Berufsbildungsgesetzes
Zu Protokoll
eine Möglichkeit aufgezeigt, wie dem weitverbreiteten
Missbrauch von Praktika begegnet werden kann. Ziel ist,
die in § 26 BBiG fixierten arbeitsrechtlichen Mindest-
schutzbestimmungen auf den Personenkreis der Prakti-
kantinnen und Praktikanten auszuweiten. Mit dieser
Gesetzesänderung würden wir die bestehenden Rege-
lungslücken endlich schließen. Wir würden Praktika in
ihrer Eigenschaft als Lernverhältnisse stärken und damit
der Entwicklung Einhalt gebieten, dass unter diesem Ti-
tel prekäre Beschäftigungsverhältnisse installiert und
junge Menschen bei ihrer Berufseinmündung hemmungs-
los ausgebeutet werden. Wir würden außerdem die Qua-
lität der Praktika verbessern, denn Praktikantinnen und
Praktikanten erhielten damit wie Auszubildende das
Recht auf eine Vertragsniederschrift, also das Recht, die
Praktikumsziele, die sachliche und zeitliche Gliederung
des Praktikums vertraglich zu fixieren.
Seit mehr als drei Jahren wird über dieses Problem
bereits im Bundestag diskutiert. Selbst die mehr als be-
scheidenen und unzureichenden Reaktionsvorschläge
des Bundesarbeitsministers Scholz aus dem letzten Jahr
sind folgenlos im großkoalitionären Treibsand unterge-
gangen. Die SPD hat sich damit abgefunden, hat treu den
Koalitionsfrieden gewahrt – auf Kosten vieler junger
Studierender und junger Arbeitnehmerinnen und -neh-
mer.
Meine Damen und Herren der SPD, Sie hätten jenseits
Ihrer leeren Versprechungen und jenseits Ihres Versagens
in der Koalition an einer Stelle deutlich machen können,
dass es Ihnen in der Sache ernst ist. Die Linke hat auch
das im Plenum bereits zur Sprache gebracht. Sie hätten
die Ministerinnen und Minister Ihrer Partei auffordern
können, in den von ihnen geführten Ministerien den
Praktikantinnen und Praktikanten eine angemessene
Vergütung zu bieten. Solange der bereits erwähnte Bun-
desarbeitsminister die rund 100 Praktikantinnen und
Praktikanten im Jahr in seinem Ministerium lediglich mit
einem Fahrkostenzuschlag und mit Essensgutscheinen
entlohnt, sind Sie wie auch der Bundesarbeitsminister in
der Sache schlichtweg unglaubwürdig.
Die Linke wird nicht aufhören, für faire Praktika zu
streiten. Wir werden es nicht hinnehmen, dass die Koali-
tionsparteien die junge Generation einem immer stärker
prekarisierten Arbeitsmarkt überlässt und bestenfalls
wohlfeile Worte, aber keine wirklichen Lösungen anbie-
ten. Aus dieser Bringschuld werden wir Sie nicht entlas-
sen, in diesem Sommer nicht und auch nicht in der nächs-
ten Legislaturperiode. Dann werden Sie es mit einer
gestärkten linken Fraktion zu tun haben.
Spätestens mit den aktuellen Ausbildungszahlen derBundesagentur für Arbeit müsste es auch dem Letztenklar geworden sein: Die Wirtschafts- und Finanzkrise istinzwischen auch auf dem Ausbildungsmarkt angekom-men. Dabei war das bisher bestehende Ausbildungssys-tem bereits in konjunkturell guten Zeiten nicht in derLage, allen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz anzu-bieten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25895
gegebene Reden
(C)
(D)
Priska Hinz
Ich will Ihnen hier noch einmal einige Zahlen ins Ge-dächtnis rufen, die dies sehr klar verdeutlichen: Über300 000 Altbewerber warten weiterhin auf einen Ausbil-dungsplatz. Insgesamt haben über 1,5 Millionen jungeErwachsene zwischen 20 und 29 keinen Berufsabschluss.1,5 Millionen – das ist mehr als jeder siebte Jugendliche!Dabei ist Ausbildungslosigkeit mit hohen Kosten verbun-den – für den Einzelnen und die Gesellschaft. In den letz-ten Jahren ist die Jugendarbeitslosigkeit immer weitergestiegen; kein Wunder, haben doch Jugendliche ohneBerufsausbildung ein mehr als doppelt so hohes Arbeits-losigkeitsrisiko.Besonders dramatisch: Die jetzt fehlenden Ausbil-dungsstellen produzieren die Krise von morgen – und er-schweren so den zukünftigen wirtschaftlichen Auf-schwung. Gerade deshalb ist es so unverständlich,warum die Unternehmensverbände sich weigern, we-nigstens so viele Ausbildungsplätze wie im letzten Jahrbereitzustellen. Selbst der Status quo verhindert keinenZugang zum Übergangssystem. Trotzdem ist ein Ziel not-wendig, um überhaupt ernsthafte Anstrengungen für eineausreichende Anzahl von Ausbildungsplätzen zu unter-nehmen. Denn es liegt doch auf der Hand: Wer jetzt nichtausbildet, dem fehlen beim nächsten Aufschwung dieFachkräfte.Und was macht die Bundesregierung bei all dem? An-statt endlich dafür zu sorgen, das Ausbildungssystem kri-senfest zu machen, kann sie sich nicht einmal auf eine ge-meinsame Linie einigen. Das peinliche Scheitern desAusbildungspaktes hat dies deutlich vor Augen geführt.Da sehen wir einen Bundeswirtschaftsminister zuGuttenberg, der 580 000 von der Wirtschaft angestrebteAusbildungsplätze als Erfolg verkauft, obwohl das Bun-desinstitut für Berufsausbildung in seiner aktuellstenAnalyse eine Mindestzahl von 604 000 Ausbildungsplät-zen errechnet hat, um überhaupt das Ausbildungsniveaudes letzten Jahres zu halten. Und wir sehen einen HerrnMinister Scholz, der sich für mehr Ausbildungsplätze indie Bresche wirft, aber kein Konzept vorweisen kann, wiediese denn zu erreichen wären. Und was macht Bundes-bildungsministerin Schavan bei all dem? Anstatt ihr ur-eigenstes Thema, die Reform des Berufsbildungssystems,beherzt anzugehen, duckt sie sich weg. Eine Bundesre-gierung, die das Thema Ausbildung ernst nimmt, siehtwahrlich anders aus.Statt Spiegelfechtereien um Ausbildungsplätze in derKrise brauchen wir endlich eine Reform, die das Berufs-bildungssystem konjunkturunabhängig macht. Es kanndoch nicht angehen, dass die Umsetzung des Rechts aufAusbildung von der jeweiligen Wirtschaftslage abhängt.Wir Grüne haben mit DualPlus ein Konzept vorgelegt,das die bereits bestehenden überbetrieblichen Ausbil-dungsstätten weiter ausbaut. In Kooperation mit berufli-chen Schulen und Betrieben werden so zusätzliche Aus-bildungsplätze nach dem dualen Prinzip geschaffen, dievoll qualifizieren und mit einer Kammerprüfung ab-schließen. Dabei möchte ich noch einmal betonen, dasses sich hier nicht um außerbetriebliche Ausbildungsortehandelt, sondern die Betriebe in die Ausbildung und de-ren Finanzierung weiterhin voll mit eingebunden sind.Zu ProtokollFür schulmüde Jugendliche oder Schulabbrecher wol-len wir verstärkt Produktionsschulen einrichten. Hierkönnen Jugendliche ihren Schulabschluss nachholen undwerden beim Übergang in die Berufsausbildung beglei-tet. Die bereits in einigen Bundesländern bestehendenProduktionsschulen zeigen, wie erfolgreich dieses Mo-dell ist.Jetzt kommt es darauf an, das Ausbildungssystem sozu verändern, dass unabhängig von der Wirtschaftslageallen Jugendlichen ein Ausbildungsplatz angeboten wer-den kann. Wir Grüne haben dazu als einzige Fraktion einumfassendes Konzept vorgelegt: DualPlus. Ich kann vondaher nur sagen: Wenn Sie es ernst meinen mit dem Ver-sprechen, in Zukunft jedem Jugendlichen einen Ausbil-dungsplatz anzubieten, dann stimmen Sie unserem An-trag heute zu.A
In Zeiten der Krise gilt es, sich auf die eigenen Stärkenzu besinnen und die Grundlagen für künftiges Wachstumzu legen. Für die Bundesregierung heißt das: Wir inves-tieren in einem nie gekannten Ausmaß in Bildung undForschung – alleine das Konjunkturpaket und die dreiPakte im Hochschul- und Wissenschaftsbereich werdenin den nächsten Jahren rund 29 Milliarden Euro zusätz-lich für Zukunftsinvestitionen verfügbar machen. Undwir setzen alles daran, jedem jungen Menschen, der dazuwillens und in der Lage ist, ein gutes Qualifizierungsan-gebot zu machen – sei es an den Hochschulen durch dieBereitstellung von zusätzlichen Studienchancen für275 000 Studienanfänger, sei es in der beruflichen Aus-bildung, die für annähernd zwei Drittel der Jugendlichenden Einstieg in das Arbeits- und Berufsleben bedeutet.Mit der dualen Ausbildung in Betrieb und Berufs-schule verfügt Deutschland über eines der weltweit leis-tungsfähigsten Systeme der Berufsbildung. Der enge Be-zug zur betrieblichen Praxis und eine ständigeModernisierung der Ausbildungsinhalte sind Garant fürhochwertige Berufsabschlüsse und ein hervorragendesQualifikationsniveau unserer Fachkräfte. Bester Belegfür die Leistungsfähigkeit unseres beruflichen Ausbil-dungssystems ist die Tatsache, dass die Jugendarbeitslo-sigkeit in Deutschland deutlich niedriger liegt als in vie-len europäischen Ländern.Mit ihrer erfolgreichen Wirtschafts- und Berufsbil-dungspolitik hat die Bundesregierung für mehr Ausbil-dungschancen gesorgt. Von Ende 2005 bis Ende 2008konnte die Jugendarbeitslosigkeit um mehr als 40 Pro-zent gesenkt werden. Die Zahl der neu abgeschlossenenAusbildungsverträge erreichte 2007 mit 626 000 denzweithöchsten Stand seit der Wiedervereinigung. Obwohlerste Ausläufer der wirtschaftlichen Krise den Ausbil-dungsmarkt Ende 2008 bereits erreicht hatten, gab es imvergangenen Ausbildungsjahr erstmals seit 2001 wiedermehr freie Ausbildungsplätze als unversorgte Bewerber.Auch der in der ersten Hälfte des Jahrzehnts massiv ge-stiegenen Zahl von unversorgten Altbewerbern hat dieseBundesregierung neue Ausbildungschancen eröffnet unddamit eine Trendwende eingeleitet.
Metadaten/Kopzeile:
25896 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
P
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die wirtschaftliche Krise wird aucham Ausbildungsmarkt nicht spurlos vorübergehen. Wiralle wissen um die enge Verbindung von Wirtschaftslage,Beschäftigungssituation und Ausbildungsmarkt. Alle ak-tuell vorliegenden Prognosen, etwa aus dem Berufsbil-dungsbericht, aus Umfragen des DIHK bei seinen Mit-gliedern oder aus Erhebungen des BIBB, lassen – wennauch in unterschiedlicher Intensität – erwarten, dass dasbetriebliche Ausbildungsangebot in diesem Jahr weiterzurückgehen wird. Unser Ziel ist es, diesen Rückgang sogering wie möglich zu halten und jedem ausbildungswil-ligen und ausbildungsfähigen jungen Menschen einAngebot auf Ausbildung oder auf eine angemessene Qua-lifizierung zu unterbreiten – so, wie es sich die Bundes-regierung im Koalitionsvertrag zum Ziel gesetzt hat undwie es die Partner im Ausbildungspakt auch für das Jahr2009 bekräftigt haben.Auch die Zahl der ausbildungsinteressierten Jugendli-chen wird als Folge der demografischen Entwicklung inden nächsten Jahren erheblich sinken – eine Entwick-lung, die 2008 mit einem Rückgang der Bewerberzahlenum fast 28 000 bereits deutlich zu spüren war. Was zu-nächst noch zu einer vorübergehenden Entlastung amAusbildungsmarkt beiträgt, kann in den kommenden Jah-ren ein ernsthaftes Problem darstellen.Deshalb gilt: Ausbildung ist eine Investition in dieZukunft. Sie muss gerade in wirtschaftlich schwierigenZeiten Vorrang haben. Wer jetzt den eigenen Fachkräf-tenachwuchs ausbildet, schafft die Grundlage für künfti-ges Wachstum und den Aufschwung nach der Wirt-schaftskrise. Ich appelliere deshalb an die Betriebe, inihren Ausbildungsanstrengungen nicht nachzulassen undjedem Jugendlichen eine Chance zu geben.Erfreulicherweise deuten die Umfragen darauf hin,dass die Unternehmen sich dieser Verantwortung be-wusst sind. Viele sind bereit, trotz ökonomisch ange-spannter Lage vorausschauend zu handeln und in Ausbil-dung und Qualifizierung zu investieren. Mein Dank giltallen Betrieben in Handwerk, Industrie und Handel so-wie in den freien Berufen, die sich in den vergangenenJahren mit großem Engagement um die Ausbildung jun-ger Menschen gekümmert haben und in ihrem Einsatzauch künftig nicht nachlassen werden.Mit vielfältigen Maßnahmen unterstützt die Bundes-regierung die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe undsichert den Jugendlichen zusätzliche Ausbildungschan-cen. Wenige Beispiele seien an dieser Stelle genannt:Mit dem erfolgreichen Jobstarter-Programm unter-stützt das BMBF vor allem kleine und mittlere Betriebe,die bisher nicht oder nur wenig ausgebildet haben. Seit2006 konnten hierdurch bereits rund 32 000 Ausbil-dungsplätze akquiriert werden.Das Bund-Länder-Ausbildungsplatzprogramm Ostwird in den beiden nächsten Jahren weitere 5 000 Ausbil-dungsplätze zusätzlich schaffen. Ende 2008 waren mehrals 20 000 Jugendliche durch dieses Programm versorgt.Das BMBF-Programm „Jobstarter-Connect“ leistetdurch den Einsatz von Ausbildungsbausteinen einenZu Protokollwichtigen Beitrag, um den Übergang aus der Schule ineine betriebliche Ausbildung zu verbessern und unnötigeWarteschleifen zu verhindern. Vor allem Altbewerberin-nen und Altbewerber profitieren von diesem Ansatz.Auf zusätzliche Ausbildungschancen für Altbewerberzielt auch der Ausbildungsbonus der Bundesagentur fürArbeit. Mit der vor wenigen Tagen beschlossenen Aus-weitung für sogenannte Insolvenzlehrlinge stellen wir si-cher, dass auch Jugendliche aus Insolvenzbetrieben ihreAusbildung fortsetzen können.Die Bundesagentur für Arbeit wird außerbetrieblicheAusbildungsplätze für benachteiligte Jugendliche bei Be-darf auch über das bisher geplante Maß hinaus fördernund insgesamt bis zu 45 000 Plätze bereitstellen.Die Bundesregierung geht bei der Ausbildung selbstmit gutem Beispiel voran. So erbringt das Bundesminis-terium für Bildung und Forschung mit einer Ausbil-dungsquote von 9,6 Prozent eine ganz erhebliche Ausbil-dungsleistung für die Jugendlichen in Bonn und Berlin.Die Bundesrepublik verfügt über ein gut ausgestatte-tes Netz von überbetrieblichen Berufsbildungsstätten,ÜBS, die es vielen kleinen und mittleren Unternehmenerst ermöglichen, eine duale Ausbildung anzubieten. DieBundesregierung hat die Investitionsmittel für ÜBS imRahmen des ersten Konjunkturprogramms um zusätzli-che 15 Millionen Euro, das heißt um mehr als die Hälfte,verstärkt. Mit diesen Mitteln tragen wir dazu bei, den ho-hen Standard der Bildungsinfrastruktur für die dualeAusbildung zu erhalten und auszubauen. Zugleich wirddurch ständige Modernisierungen eine überbetrieblicheAusbildung auf dem neuesten Stand der Technik ermög-licht. Dies umfasst auch den weiteren Ausbau des Netzesvon Kompetenzzentren in den ÜBS.Als ganz besonders erfolgreich hat sich die Einbin-dung der ÜBS in die Berufsorientierung von Schülerin-nen und Schülern erwiesen. Das im April 2008 gestarteteBerufsorientierungsprogramm des BMBF erreicht be-reits heute mehr als 57 000 Schüler und stößt bei Jugend-lichen, Lehrern und Ausbildern einhellig auf große Zu-stimmung. In einem 80-stündigen Praktikum an derWerkbank erhalten die Jugendlichen wertvolle Einblickein die betriebliche Praxis – und oft auch einen zusätzli-chen Motivationsschub für einen erfolgreichen Schulab-schluss als Voraussetzung für eine Ausbildung in ihremTraumberuf. Wir werden dieses Programm daher mit ho-hem Mitteleinsatz fortsetzen.Es bleibt festzuhalten: Die Bundesregierung hat ihrenBeitrag geleistet, um auch in der Wirtschaftskrise min-destens eine ausgeglichene Bilanz auf dem Ausbildungs-markt erreichen zu können. Um jedem ausbildungswilli-gen und ausbildungsfähigen Jugendlichen ein Angebotzu unterbreiten, können wir unsere Maßnahmen bei Be-darf weiter intensivieren.Gerade in Zeiten der Krise müssen wir in unsere Zu-kunft investieren – nicht nur zur Sicherung des Wirt-schaftsstandortes Deutschland. Dies sind wir vor allemauch unseren Jugendlichen und ihren Zukunftschancenschuldig.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25897
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
25898 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Tagesordnungspunkt 39 a: Wir kommen zur Abstim-
mung über den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke
zur Änderung des Berufsbildungsgesetzes. Der Aus-
schuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 16/13584, den Gesetzentwurf
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/6629 abzu-
lehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mehrheitlich abgelehnt. Damit entfällt
die dritte Beratung.
Tagesordnungspunkt 39 b. Wir kommen zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
zum Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Orien-
tierung und verbesserte Berufsperspektiven durch Prak-
tika schaffen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13584, den
Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/6768 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mehrheitlich angenommen.
Tagesordnungspunkt 39 c. Wir kommen zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
auf Drucksache 16/13686. Der Ausschuss empfiehlt un-
ter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/12665
mit dem Titel „Neue Chancen für die berufliche Bil-
dung“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mehrheitlich angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12680 mit
dem Titel „Recht auf Ausbildung umsetzen – Ausbil-
dungssystem reformieren, überbetriebliche Ausbil-
dungsstätten ausbauen und Übergangsmaßnahmen an-
rechnen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mehrheitlich angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf:1)
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter
Friedrich , weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Annette Faße, Gabriele
Hiller-Ohm, Renate Gradistanac, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD
Aus- und Weiterbildung in der Tourismus-
wirtschaft verbessern
– Drucksache 16/13614 –
1) Zu Protokoll gegebene Redebeiträge siehe Anlage 20
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/13614.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Der Antrag ist mehrheitlich angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 40 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Künast, Fritz Kuhn, Birgitt Bender, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Leben am Lebensende – Bessere Rahmenbe-
dingungen für Schwerkranke und Sterbende
schaffen
– Drucksachen 16/9442, 16/13246 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Michael Kauch
Krankheit und Sterben sind Teil des Lebens. Von Gott
ist uns die Menschenwürde von Anfang bis zum Ende des
Lebens gegeben. Das Nachdenken über den Sinn des Le-
bens und den eigenen Tod gehört zum Menschsein dazu.
Die letzten Dinge regeln zu können und zu wissen, dass
man in der letzten Phase seines Lebens begleitet wird, ist
von größter Bedeutung. Die Frage einer menschenwürdi-
gen Sterbebegleitung gewinnt mit der steigenden Lebens-
erwartung sowie dem medizinischen und technischen
Fortschritt immer mehr an Bedeutung. Es gibt kein men-
schenunwürdiges und lebensunwertes Leben. Es gibt nur
einen menschenunwürdigen Umgang des Menschen mit
sich selbst und eine menschenunwürdige Behandlung
von Menschen durch Menschen. Palliativmedizin und
Hospizarbeit sind für ein Sterben in Würde unverzicht-
bar. Wer sich am Ende des Lebens gut versorgt weiß, der
wird ohne Angst dem Sterben entgegensehen.
Gerade diese Angst ist es aber, die schwerstkranke
und auch alte Menschen umtreibt. Viele Menschen wol-
len lieber sterben, als in ein Pflegeheim zu kommen. Ver-
sorgung durch Palliativmedizin und die Möglichkeit, ein
Hospiz in Anspruch zunehmen, können helfen, den Men-
schen die Angst zu nehmen. Hospize und Palliativmedi-
zin müssen noch stärker in das Bewusstsein Einzelner
und der Gesellschaft rücken. Der Mensch ist nicht Herr
über Leben und Tod. Die bedingungslose Aufrechterhal-
tung des Verbotes der aktiven Sterbehilfe ist deshalb rich-
tig und wichtig. Vielmehr müssen wir die Rahmenbedin-
gungen so schaffen, dass ein Sterben in Würde für jeden
Menschen möglich ist.
Am 18. Juni 2009 hat der Bundestag das Patienten-
verfügungsverbindlichkeitsgesetz beschlossen. Das Ge-
setz sieht vor, dass Patientenverfügungen ohne Ein-
schränkung verbindlich sind, unabhängig von Art und
Stadium der Erkrankung. Mir persönlich geht dies zu
weit. Der jetzt beschlossene Gesetzentwurf behandelt die
in der Patientenverfügung getroffene Willenserklärung
wie eine aktuelle Willenserklärung. Er berücksichtigt
nicht, dass eine Entscheidung über medizinische Maß-
(C)
(D)
Maria Eichhorn
nahmen in einer tatsächlich erlebten Situation anders
aussehen kann als in einem gedanklich vorweggenomme-
nen Krankheitszustand. Es ist unstreitig, dass der aktu-
elle Wille und der voraus verfügte Wille, wie im Falle ei-
ner Patientenverfügung, nicht gleich sein müssen.
Deshalb sollten Patientenverfügungen in Zukunft nur mit
großer Vorsicht und nach intensiver Prüfung abgefasst
werden. Den Menschen muss klar sein, dass eine vorab
verfasste Verfügung künftig umgesetzt wird, auch wenn
sie vielleicht nicht mehr dem aktuellen Willen entspricht.
In den letzten Jahren hat sich vieles für die Palliativ-
medizin und Hospizarbeit verbessert. Wir haben es zum
Ende dieser Legislaturperiode geschafft, alle Verbesse-
rungsvorschläge der Dachverbände umzusetzen. Das ist
ein großer Erfolg und bringt eine deutliche Verbesse-
rung. Durch das am 18. Juni 2009 im Bundestag be-
schlossene Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher
und anderer Vorschriften ergeben sich für die Anbieter
von Hospizen und Palliativversorgung einige Erleichte-
rungen. Es ist unter anderem verankert worden, dass der
ärztliche Leistungsanteil der spezialisierten ambulanten
Palliativversorgung auch in stationären Hospizen er-
bringbar ist.
Zudem ist die Finanzierung ambulanter und stationä-
rer Hospize neu geregelt. Bei den stationären Hospizen
übernimmt die gesetzliche Krankenversicherung 90 Pro-
zent der zuschussfähigen Kosten, bei Kinderhospizen
95 Prozent. Eine weitere gute Errungenschaft ist die An-
hebung des Mindestzuschusses von 6 auf 7 Prozent der
monatlichen Bezugsgröße. Damit ist sichergestellt, dass
alle stationären Hospize einen auskömmlichen Zuschuss
erhalten. Bei den ambulanten Hospizen werden künftig
feste Zuschüsse zu den Personalkosten geleistet. Damit
entstehen bundesweit gleiche Finanzierungsbedingun-
gen.
Im Assistenzpflegebedarfsgesetz, verabschiedet am
18. Juni 2009, ist Palliativmedizin als Pflichtfach in der
Ausbildung von Medizinern verankert. Alle Studentinnen
und Studenten der Medizin erlangen somit die erforderli-
chen Kenntnisse in Palliativmedizin, wobei es sowohl um
die Erweiterung von Fachkenntnissen als auch um die
Sensibilisierung für die Angemessenheit diagnostischer
und therapeutischer Maßnahmen geht. Bereits mit dem
Pflegeweiterentwicklungsgesetz, das mit dem 1. Juli
2008 in Kraft getreten ist, sind positive Leistungsverbes-
serungen verbunden. Die langjährige berechtigte Forde-
rung nach Einführung einer Pflegezeit wurde verwirk-
licht. Weiterhin wurde mit der Pflegereform auch die
Möglichkeit zum Vertragsabschluss mit Einzelpflegekräf-
ten geschaffen. Das macht die Pflegehilfe für diejenigen
angenehmer, die nicht ständig mit wechselndem Personal
zu tun haben wollen. Gerade im Hinblick auf den Aspekt
einer vertrauten Umgebung ist dies ein wichtiger Faktor.
Das sind alles bedeutende Maßnahmen zugunsten der
Betroffenen. Auch mit der Gesundheitsreform sind we-
sentliche Verbesserungen im Bereich Palliativversor-
gung und Hospizarbeit erfolgt. Die Versicherten in der
gesetzlichen Krankenversicherung haben seither einen
eigenständigen Rechtsanspruch auf eine spezialisierte
ambulante Palliativversorgung, die ärztliche und pflege-
Zu Protokoll
rische Leistungen umfasst. Allerdings ist die Umsetzung
immer noch nicht zufriedenstellend erfolgt. Ich fordere
daher die Krankenkassen auf, die Verträge zur flächen-
deckenden, bedarfsgerechten Versorgung endlich zum
Abschluss zu bringen. Mit der Gesundheitsreform, Pfle-
gereform, der 15. AMG-Novelle und dem Assistenzpfle-
gebedarfsgesetz hat die Koalition die richtigen Schritte
unternommen, um bessere Rahmenbedingungen für
Schwerkranke und Sterbende zu schaffen. Nun sind alle
rechtlichen Voraussetzungen gegeben, mit denen es den
Trägern möglich ist, kostendeckend zu arbeiten.
Sie sehen, viele der im Antrag der Grünen genannten
Forderungen, die auch der Bericht der Enquete-Kommis-
sion enthält, sind schon verwirklicht. Schwerstkranke
können bereits heute zu Hause versorgt werden. Auch die
Schmerztherapie ist schon integraler Bestandteil der
Palliativmedizin.
Palliativversorgung bedeutet bei schwerkranken Men-
schen, körperliche Beschwerden medizinisch zu lindern.
Mindestens genauso wichtig ist es jedoch, die Menschen
in dieser schweren Zeit zu begleiten und ihnen das Ge-
fühl zu geben, nicht allein gelassen zu werden. In den
Hospiz- und Palliativeinrichtungen arbeiten Fachkräfte
und ehrenamtliche Mitarbeiter, die erkrankten Menschen
ein würdevolles Leben ermöglichen. Ich danke allen, die
sich für Kranke und Sterbende einsetzen. Diese Arbeit ist
nicht leicht und verdient unsere besondere Anerkennung.
In einem Fernsehbericht über Palliamo, einer Ein-
richtung der ambulanten Palliativversorgung in meinem
Wahlkreis Regensburg, schilderte eine schwerkrebs-
kranke Frau den Verlauf ihrer Krankheit:
Als ich wusste, dass ich meinen Krebs nicht besie-
gen konnte, wollte ich meinem Leben am liebsten
gleich ein Ende machen. Ich lernte dann dank der
guten Betreuung von Palliamo, mit meiner Krank-
heit zu leben, und habe zusammen mit meinem
Mann trotz allem noch eine gute Zeit.
Sie konnte sich zusammen mit ihrem Mann sogar noch
einen großen Wunsch, einen Aufenthalt auf Mallorca, er-
füllen. Kurz danach starb sie. Ohne eine gute Palliativ-
versorgung hätte sie ihrem Tod nicht so gefasst entgegen-
gesehen. Dies ist mein letzter Beitrag im Bundestag. Ich
freue mich, dass das heutige Thema sehr gut zu meiner
19-jährigen Arbeit passt. Der Schutz und die Würde des
menschlichen Lebens standen und stehen für mich bei al-
len Entscheidungen im Vordergrund. Dieser Aufgabe
werde ich mich in Zukunft verstärkt im Ehrenamt wid-
men.
Allen Kolleginnen und Kollegen danke ich für die
langjährige gute Zusammenarbeit und wünsche mir, dass
der Art. 1 des Grundgesetzes auch in Zukunft die Grund-
lage aller Entscheidungen ist.
Der vorliegende Antrag wird nicht hinreichend demUmstand gerecht, dass in dem hier angesprochenen Be-reich der Versorgung sterbenskranker Menschen in denletzten vier Jahren zwar längst nicht alles erreicht wurdeund auch in der nächsten Legislaturperiode viel zu tun
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25899
gegebene Reden
(C)
(D)
Christian Kleimingerbleibt, aber ausgesprochen wichtige Weichenstellungenerfolgt sind. Das ist eine erfolgreiche Bilanz der Gesund-heitspolitik von Ulla Schmidt.Die finanzielle Basis von stationären und ambulantenHospizen in Deutschland wurde auf eine stabilereGrundlage gestellt. Das unterstützt die wichtige, auchehrenamtliche, Arbeit in diesem Bereich. Die Rahmenbe-dingungen für Kinderhospize wurden verbessert. Warenfrüher 10 Prozent der Kosten aus eigenen Kräften aufzu-bringen – etwa durch Spenden und ehrenamtlichesEngagement –, wurde dieser Anteil bereits am 1. April2007 auf 5 Prozent abgesenkt. Die Große Koalition hatwichtige Empfehlungen des Zwischenberichts derEnquete-Kommission „Ethik und Recht in der modernenMedizin“ aufgenommen und umgesetzt.Um Menschen zu ermöglichen, bis zum Tode in dervertrauten häuslichen Umgebung betreut zu werden, ha-ben wir im Rahmen der Gesundheitsreform den Rechts-anspruch auf eine spezialisierte ambulante Betreuung,SAPV, durch multiprofessionelle Palliativ-Care-Teamsgeschaffen. Gerade erst haben wir noch einmal aus-drücklich präzisiert, dass die ärztliche Teilleistung derstationären ambulanten Versorgung auch in stationärenHospizen erbracht werden kann; eine wichtige Forde-rung aus der Praxis, die wir aufgegriffen und benannthaben. Auch wenn die flächendeckende Umsetzung derSAPV durch manche Bundesländer bis heute nicht befrie-digend ist und der Druck auf die Beteiligten in den Län-dern hier nicht nachlassen darf, war die Schaffung desRechtsanspruchs durch den Bundesgesetzgeber einSchritt in die richtige Richtung.Ein wichtiges Feld ist und bleibt die Verbesserung derAusbildungssituation in der Palliativmedizin und Pallia-tivpflege und, damit einhergehend, insoweit auch eineVeränderung der Hochschullandschaft. Es sind hier bis-lang noch zu große Defizite vorhanden.Wir brauchen die bestmögliche universitäre Ausbil-dung, und wir müssen einen ganzheitlichen Ansatz ver-folgen, der sich an internationalen Standards messen las-sen kann.Deshalb ist es außerordentlich erfreulich, dass derDeutsche Bundestag eine Änderung der Approbations-ordnung beschlossen hat, mit der die Palliativmedizin alsLehr- und Prüfungsfach eingeführt wird und sie Studien-inhalt für alle Medizinstudentinnen und -studenten inDeutschland wird.Die auch von der Bundesärztekammer begrüßte Ini-tiative wird, flankiert durch die Schaffung von entspre-chenden Lehrstühlen an den deutschen Hochschulen, dieKenntnisse im Bereich Palliativmedizin und PalliativCare besser als bisher in der Breite der Ärzteschaft ver-ankern und im Übrigen mit dazu beitragen, dass der Stel-lenwert der Palliativbetreuung weiter in das Bewusstseinder Ärzteschaft, ja letztlich der Gesellschaft insgesamteindringt. Denn darum geht es doch: Dass dieser wich-tige Bereich in Deutschland endlich den Stellenwert er-hält, den er etwa in Skandinavien und auch in Großbri-tannien bereits seit langer Zeit hat. Hierzu haben wirdurch unsere Gesundheitspolitik beigetragen.Zu ProtokollDie Auseinandersetzung darüber, wie in unserer Ge-sellschaft mit sterbenskranken Menschen umgegangenwird, muss weitergehen, auch um unbegründeten Ängs-ten zu begegnen, auch um der unwürdigen Diskussionüber aktive Sterbehilfe zu begegnen. Wir brauchen auchin Zukunft Palliativversorgung auf höchstem Niveau undnicht aktive Sterbehilfe.Insgesamt gehört der Bereich der Hospiz- und Pallia-tivversorgung zur erfolgreichen Bilanz der sozialdemo-kratischen Gesundheitspolitik von Ulla Schmidt in dieserLegislaturperiode. Dafür danke ich ausdrücklich.Und ich bedanke mich für die wichtigen Anregungenaus der Praxis und möchte hier ausdrücklich das beson-dere Engagement des Deutschen Hospiz- und Palliativ-verbandes und ihrer Bundesvorsitzenden Dr. BirgitWeihrauch – stellvertretend für Tausende ehrenamtlicheHelferinnen und Helfer der Hospizbewegung in Deutsch-land – hervorheben. Vielen Dank.
Das Sterben ist im täglichen Leben häufig ein ver-drängtes Thema. Und wenn Menschen darüber nachden-ken, dann ist es mit vielen Ängsten verbunden: lange zuleiden, Schmerzen zu haben, allein zu sein. Und dieseÄngste sind ja nicht unbegründet. Die meisten Menschenwollen zu Hause sterben, im Kreis ihrer Familie. Für sie,aber auch für ihre Angehörigen ist das im besten Fall einintensiver Abschluss eines erfüllten Lebens. Ich habe dasselbst erlebt – als schmerzliche, doch zugleich berei-chernde Erfahrung.Doch oft ist das Sterben zu Hause nicht möglich, weildie Familie überfordert ist oder weil es gar keine Familiegibt. Und dieses Problem verschärft sich durch den de-mografischen Wandel. Denn immer mehr Menschen ha-ben keine Kinder oder Geschwister, die in den letzten Wo-chen eines Lebens an ihrer Seite stehen. Deshalb ist es sowichtig, dass es Hospizdienste gibt, und dass sie auch an-gemessen von der Gesellschaft und vom Staat unterstütztwerden, stationär, aber auch und gerade ambulant.Aber es geht nicht nur um die psychosoziale Betreu-ung von Schwerstkranken und Sterbenden. Noch immerwerden Schmerzen und andere häufige Leiden im Sterbe-prozess nicht flächendeckend optimal behandelt. Die Ge-sellschaft muss eine gute Versorgung mit Palliativmedi-zin und Hospizdiensten sicherstellen. Sie muss auch inKrankenhäusern und Pflegeheimen die Umstände desSterbens verbessern. Und sie muss gerade das Sterben zuHause erleichtern.Zu Recht beklagen die Antragsteller, dass die pallia-tivmedizinische Versorgung der Menschen nicht ausrei-chend gewährleistet ist, obwohl es in den letzten Jahrenimmerhin einige erfreuliche Fortschritte gegeben hat.Der Gesetzgeber hat ein klares Signal gesetzt. Mit positi-ver Begleitung aller Fraktionen wurde die Finanzierungder ambulanten spezialisierten Palliativversorgung be-schlossen. Jeder gesetzlich krankenversicherte Bürgerunseres Landes hat ein Recht auf diese Versorgung. Daswar im April 2007. Aber wie lange hat es gedauert, bisauch nur die Richtlinien zur Umsetzung vereinbart wa-
Metadaten/Kopzeile:
25900 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Michael Kauchren? Wie lange hat es gedauert, bis die Umsetzung derVorgaben zur SAPV endlich begonnen hat? Erst im März2008 hat sich der Gemeinsame Bundesausschuss auf dieRichtlinien geeinigt. Und dann ist lange nichts gesche-hen, weil sich die gesetzlichen Krankenkassen nicht ebenbeeilt haben, Verträge mit den Leistungsträgern abzu-schließen. Erst jetzt, Mitte 2009, kommt die Umsetzungendlich in Bewegung.Ich muss wohl nicht eigens daran erinnern, dass essich bei den Betroffenen um Sterbende und ihre Angehö-rigen handelt, Menschen in einem Moment, in dem sieanderes im Kopf haben, als sich mit ihrer Krankenkasseum eine angemessene und menschenwürdige Behandlungbis zum Schluss zu streiten. Todkranken bleibt keine Zeit,um darauf zu warten, dass sich Funktionäre endlich eini-gen. Erste Verträge zwischen Kassen und Leistungs-anbietern sind mittlerweile geschlossen worden oder ste-hen kurz vor dem Abschluss. Wir werden aber in denkommenden Monaten ein waches Auge darauf haben, obes tatsächlich ein flächendeckendes Angebot gibt, obauch Menschen in ländlichen Gebieten ausreichend Zu-gang zu palliativer Versorgung haben. Sollte das bis zumEnde 2009 nicht der Fall sein, muss überprüft werden, obdie gesetzliche Regelung verbessert werden muss.Wir finden in Ihrem Antrag viele sinnvolle Punkte. Esist richtig, dass wir eine verbesserte Ausbildung der Me-dizin- und Pflegeberufe im Blick auf Palliativmedizinbrauchen. Noch immer gibt es Hausärzte, die unsicherim Umgang mit starken Schmerzmitteln sind. Noch im-mer gibt es viele Ärzte, die nicht mal einen Rezeptblockfür Betäubungsmittel haben. In der freiwilligen Fortbil-dung von Ärzten hat es zum Beispiel in meinem Bundes-land NRW deutliche Fortschritte gegeben. Aber es istwichtig, dass die Palliativmedizin nun verpflichtenderBestandteil bereits der ärztlichen Ausbildung wird. Undauch in den Pflegeberufen muss der Stundenanteil, derder Palliativpflege gewidmet ist, ausgeweitet werden.Dies sollte man nicht als Überfrachten von Lehrplänenoder Zusatzbelastung von Auszubildenden missverste-hen. Hier geht es nicht um irgendein Spezialgebiet. Auchdie angemahnten notwendigen Veränderungen im Heim-recht, um die Rahmenbedingungen für stationäre Hos-pize zu verbessern, sind sinnvoll. Allerdings sind hierdurch die Föderalismusreform die Länder in der Pflicht.Der Bund kann das nicht mehr regeln.Die Einführung der Pflegezeit ist bereits Gesetz. WennSie allerdings darüber hinaus steuerfinanzierte Lohn-ersatzleistungen für Pflegezeiten fordern, müssen Sieauch einen konkreten Finanzierungsvorschlag vorlegen.Sonst bleibt die Forderung wohlfeil, aber nicht umsetz-bar.Der Eigenfinanzierungsanteil der Hospize in Höhevon aktuell 10 Prozent – bzw. 5 Prozent bei Kinderhospi-zen – ist aus unserer Sicht angemessen. Sie fordern eineSenkung des Satzes auf maximal 5 Prozent. Wir sind derMeinung, dass gerade die Notwendigkeit, sich um Spen-den zu bemühen, dazu beiträgt, Hospize und ihr Anliegenim Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verankern. Hospizeleisten dadurch einen wichtigen Beitrag, dafür zu sorgen,dass das Thema Sterben nicht länger ein TabuthemaZu Protokollbleibt, mit dem man sich möglichst nur dann beschäftigt,wenn man selbst betroffen ist. Darüber hinaus stellt dieangemessene Finanzierung der Palliativmedizin im sta-tionären Bereich ein wichtiges Ziel dar, das nicht außerAcht gelassen werden sollte.Es ist noch ein weiter Weg, bis eine gute VersorgungSchwerstkranker und Sterbender tatsächlich gewährleis-tet ist. Erste Schritte sind gemacht. Wir dürfen uns damitnicht zufriedengeben. Und eins ist auch klar: Statt derbislang an den Tag gelegten Bummelei wäre ein ambitio-nierter Wanderschritt auf dem weiteren Weg angemessen.
Viele Jahre wurde im Deutschen Bundestag über dasThema Patientenverfügung gestritten. Die öffentlicheAufmerksamkeit war groß. Viele Bürgerinnen und Bürgerteilten uns zum Teil auf sehr persönliche Weise mit, wiesie das Lebensende ihrer nahen Angehörigen oderFreunde erlebten und welchen gesetzgeberischen Hand-lungsbedarf sie sehen. Aus meiner Sicht ist es daher einwichtiger Schritt, dass der Deutsche Bundestag am18. Juni 2009 sich für eine gesetzliche Regelung zur Pa-tientenverfügung entschieden hat.Bereits im Herbst soll das Gesetz in Kraft treten:Dann erhalten wir mehr Rechtssicherheit am Lebens-ende. Millionen von Menschen, die bereits eine Patien-tenverfügung ausgefüllt haben, haben sich diese Rechts-sicherheit so dringend gewünscht. Mit der gesetzlichenVerankerung von Patientenverfügungen schafft der Ge-setzgeber eine Grundlage, das Selbstbestimmungsrechtam Lebensende zu schützen und zu verwirklichen. Aberdas reicht nicht aus. Ein würdiges Altern und die Selbst-bestimmung der Menschen an ihrem Lebensende forderninsbesondere eine wirkliche Reform der Pflegeversiche-rung sowie den konsequenten Ausbau der Palliativver-sorgung und der Hospizangebote.Der Antrag der Grünen macht hierauf aufmerksam.Wir unterstützen ihn daher ausdrücklich. Inzwischen hates einige Fortschritte gegeben und einige Forderungensind bereits umgesetzt, so bei der Palliativversorgungund den Hospizen. Aber auch hier sind weitere Anstren-gungen nötig. Darüber hinaus steht eine wirkliche Re-form der Pflegeversicherung weiter aus.Der Generalfehler bei der Pflegereform 2008 ist, dassdie Große Koalition den Pflegebegriff nicht zuvor neudefiniert hat. Die Neudefinition des Pflegebegriffs isteine entscheidende Voraussetzung für eine ganzheitlichePflege und selbstbestimmte Teilhabe. Der Pflegebegriff,der momentan der Pflegeversicherung zugrunde liegt, istviel zu eng. Er benachteiligt insbesondere Menschen mitsogenannten geistigen Beeinträchtigungen, zum BeispielDemenz. Der „Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürf-tigkeitsbegriffs“ schuf erste Grundlagen für die Neudefi-nition des Pflegebegriffs. Jetzt kommt es auf den politi-schen Willen zur unverzüglichen Umsetzung an. Dochdaran mangelt es.Die Bundesgesundheitsministerin hat letzte Wocheverkündet, dass sich die Bundesregierung vor der Bun-destagswahl nicht mehr mit dem Thema beschäftigen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25901
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Martina Bungewird. Noch nicht einmal auf eine Willenserklärung konn-ten sich SPD und CDU/CSU einigen. Zu weit liegen diePositionen auseinander. Zukunftsfähigkeit sieht andersaus!Die Linke wird sich auch in der nächsten Legislatur-periode entschieden für eine grundlegende Reform derPflegeversicherung einsetzen. Die Empfehlungen desBeirats weisen in die richtige Richtung. Klar ist aberauch: Nur wenn die Leistungen angemessen und ausrei-chend finanziert werden, kann eine Neuausrichtung derPflege gelingen, die wirkliche und umfassende Teilhabeermöglicht.Diese Neuausrichtung ist nicht umsonst zu haben,auch wenn das CDU und CSU meinen. Wenn mehr Men-schen künftig mehr Leistungen bekommen sollen, kostetdas zwangsläufig mehr Geld. Kostenneutralität bedeutetim Umkehrschluss daher nichts anderes als eine Redu-zierung der jetzigen Leistungen. Für die Linke ist dasnicht hinnehmbar!Damit eine wirkliche Reform der Pflegeversicherunggelingen kann, müssen wir die Frage der Finanzierunggrundlegend angehen. Mit einer solidarischen Bürgerin-nen- und Bürgerversicherung, wie die Linke sie favori-siert, können die dringend notwendigen Leistungsverbes-serungen solide und solidarisch finanziert werden.Indem die viel gesünderen bislang privat Versicherteneinbezogen und sämtliche Einkommensarten berücksich-tigt werden, fließt bei gleichem Beitragssatz deutlichmehr Geld in die Pflegeversicherung.In der nächsten Legislaturperiode gibt es viele großeHerausforderungen für die Zukunft zu bewältigen. Dasmacht nicht allein die Pflegeversicherung deutlich; wirbrauchen vor allem auch Gesundheitsförderung undPrävention für ein „gesundes Altern“ der immer älterwerdenden Bevölkerung. Im Mittelpunkt all unserer An-strengungen muss der Mensch stehen. Das Vertrauen indas Gesundheits- und Pflegesystem gilt es zu stärken.Das erreichen wir nur, wenn die Menschen sich daraufverlassen können, dass ihnen bei Krankheit und Pflegeauch am Lebensende die bestmögliche gesundheitlicheund pflegerische Versorgung zur Verfügung steht.
Nach langjähriger Debatte wurde am 18. Juni 2009vom Deutschen Bundestag eine Regelung zur Verbind-lichkeit von Patientenverfügungen beschlossen. Zweifels-ohne haben viele Menschen in diesem Land auf eine sol-che Klarstellung gewartet. Wir Grünen betonen jedochimmer wieder, dass die Debatte um Patientenverfügun-gen nur ein Teil dessen ist, was Menschen umtreibt, wennsie sich mit dem Gedanken an Sterben und Tod – ja, auchden eigenen – beschäftigen.Wir machen mit unserem Antrag deutlich, um was esuns Grünen am Lebensende geht. Wir halten Maßnah-men für dringend notwendig, die die Lebensqualität vonMenschen in den letzten Monaten, Wochen, Tagen oderStunden ihres Lebens verbessern. Diesen letzten Tagenmehr Leben geben, dass ist unser Ziel. Nur ein funktiona-Zu Protokollles und personenzentriertes Versorgungssystem ermög-licht den betroffenen Menschen und Bezugspersonen einwürdiges Lebensende.Der Wunsch vieler Menschen, wie er häufig in Umfra-gen geäußert wird – vorzeitig aus dem Leben scheiden zuwollen –, hat viele Ursachen, und sie sind auch bekannt.Meist ist es die Angst vor dem Schmerz oder dem Allein-sein am Ende. Es ist die Angst vor der mangelnden medi-zinischen Schmerzkontrolle und dem Gefühl, unterver-sorgt zu sein oder nur noch als Last empfunden zuwerden. Das heißt, das Wissen um die Ängste und dieWünsche der Menschen ist vorhanden. Es gilt nun, auchdie Praxis darauf auszurichten und das Versorgungssys-tem im Sinne der sterbenden Menschen und ihrer Ange-hörigen umzugestalten.Warum also hat die Große Koalition im Laufe ihrerAmtszeit wichtige Schritte zur Verbesserung der Versor-gungssituation verweigert und sich somit gegen die Men-schen gestellt, die am Ende ihres Lebens angelangt sind?Diese Menschen brauchen sofort Hilfe. Hier reicht esnicht aus, dringend notwendige Reformen in die nächsteLegislaturperiode zu verschieben. Diese Menschen brau-chen hier und jetzt Hilfe und Unterstützung, die Sie,meine Damen und Herren von SPD, CDU und CSU, ver-wehren. Hier stellt sich für uns die Gewissensfrage.Wir haben versucht, Ihnen mit unserem Antrag die Au-gen zu öffnen und Sie mit der Nase darauf zu stoßen, wodie Ängste der Menschen liegen und wo Veränderungenim Gesundheitssystem nötig wären. Da Sie diese Faktenbisher nicht zur Kenntnis nehmen wollen, werde ich nichtmüde, sie Ihnen noch einmal exemplarisch aufzuzeigen:die Menschen haben Angst davor, in einem Krankenhausoder einem Pflegeheim zu sterben und nicht in einer ih-nen vertrauten Umgebung; sie haben Angst davor, durchschwere Krankheit mittellos und sozial isoliert zu sein;sie haben Angst vor Schmerzen, die nicht ausreichendgelindert werden oder gelindert werden können; sie ha-ben Angst davor, Angehörigen durch die Pflege und dieentstehenden Kosten zur Last zu fallen.Wenn Sie tatsächlich wollen, dass Menschen nichtmehr den Freitod als Alternative zum Versorgungs-dilemma am Lebensende sehen, dann müssen Sie genaudort ansetzen und den Menschen ihre Ängste nehmen.Auch wenn man subjektive Ängste niemals bei jedemMenschen ganz abbauen kann, so ist es doch unsere Auf-gabe als Politiker und Politikerinnen, zumindest dieobjektiven Rahmenbedingungen herzustellen, die denpotenziellen Wunsch nach dem Suizid auflösen.Zu diesen notwendigen Verbesserungen der Lebens-qualität am Lebensende gehört unter anderem, dass denMenschen endlich eine flächendeckende unabhängigeBeratung zur Verfügung gestellt wird, die sie über ihreRechte, Ansprüche und Möglichkeiten informiert. Auchdie Begleitung durch unabhängiges Fallmanagementmuss diesem Personenkreis endlich ermöglicht werden.Wenn Sie, meine Damen und Herren der Regierungsfrak-tionen, jetzt einwenden wollen, dass Sie diese Möglich-keiten mit dem Pflegeweiterentwicklungsgesetz geschaf-fen haben, dann kann ich nur sagen: Das ist schlichtwegfalsch. Zwar mögen Sie die Beratung an sich ausgeweitet
Metadaten/Kopzeile:
25902 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Elisabeth Scharfenberghaben, als „unabhängig“ aber wollen Sie doch die Mit-arbeiter und Mitarbeiterinnen der Pflegekassen nicht al-len Ernstes bezeichnen. Wenn ja, dann rate ich Ihnen,doch einmal in einer Enzyklopädie oder auch bei Wikipe-dia oder einem anderen „Aufklärungswerk“ das Wort„unabhängig“ nachzulesen.Ebenso brauchen sterbende Menschen und ihre Ange-hörigen eine optimale und individuelle Palliativ- undHospizversorgung. Obwohl gesetzliche Regelungenschon mit der letzten Gesundheitsreform geschaffen wur-den im Bereich der ambulanten Versorgung, haben Sieals Regierungsfraktionen es nicht geschafft, die Selbst-verwaltungspartner zu einer zügigen Einführung zu be-wegen. Es sollte Sie beschämen, dass sich sterbendeMenschen derzeit ihr Recht auf spezialisierte Palliativ-versorgung vor Gericht erstreiten müssen, ohne zu wis-sen, ob sie bei einer möglichen Bewilligung noch leben.Einen sterbenden Angehörigen am Lebensende be-gleiten zu wollen, ist für viele Menschen ein sehr wichti-ges Anliegen und Bedürfnis. Sie könnten jetzt anführen,dass Sie mit dem Pflegezeitgesetz einen wichtigen Bei-trag für die Begleitung Sterbender durch Angehörige ge-leistet haben. Wir bezweifeln allerdings sehr, dass eineunbezahlte Pflegezeit, die nur auf enge Verwandte fokus-siert ist, tatsächlich greift. Die Begrenzung aufVerwandte ist altmodisch und entspricht kaum noch denvielfältigen und bunten Lebensgemeinschaften und Part-nerbeziehungen. Anfragen, wie hoch die Anzahl derjeni-gen ist, die diesen Anspruch bisher geltend gemacht ha-ben, konnten Sie uns nur vage mit Begrifflichkeiten wie„es könnten“ und „rein rechnerisch“ beantworten. Men-schen mit geringem Einkommen werden sich weiterhineine Pflegezeit nicht leisten können. Wir legen Ihnen des-halb nahe, sich an unserem Vorschlag für eine Pflegezeitzu orientieren, die bis zu drei Monaten mit einer Lohn-ersatzleistung finanziell abgesichert ist und von jedemund jeder in Anspruch genommen werden kann, der bzw.die Verantwortung im Pflegefall übernehmen will.Abschließend möchte ich noch eines deutlich machen:Den Begriff der Würde verwenden wir vergleichsweiseoft, wenn es ums Sterben und den Tod geht. Würde – dasmahnen gerade viele in der Palliativ- und Hospizversor-gung immer wieder an – darf nicht erst dann eine Rollespielen, wenn Menschen in den Sterbeprozess eingetretensind. Würde muss jedem Menschen, egal ob alt oder jung,ob gesund oder krank, zugesprochen und abgesichertwerden. Wenn Würde im alltäglichen Miteinander einegrößere Bedeutung hätte, dann wäre möglicherweiseauch die Angst vieler, am Lebensende von anderen ab-hängig und fremdbestimmt zu sein, weniger ausgeprägt.Politik sollte hier für Würde unter allen Umständen ein-treten.M
In der gesetzlichen Krankenversicherung hat jederVersicherte gleichen Anspruch auf notwendige medizini-sche Versorgung – hierzu gehört selbstverständlich auchdie palliativmedizinische Versorgung einschließlichZu ProtokollSchmerztherapie im ambulanten und stationären Be-reich.Die Verbesserung der Versorgung der Versicherten amLebensende ist der Bundesregierung ein großes Anlie-gen. Sterben möglichst schmerzfrei in Würde und zuHause – das ist der Wunsch vieler Menschen. Die Bun-desregierung will diesem Wunsch Rechnung tragen. Da-her haben wir in den vergangenen Jahren eine Reihe vonleistungsrechtlichen Verbesserungen insbesondere imRecht der gesetzlichen Krankenversicherung geschaffen:Wir haben vor zwei Jahren mit dem GKV-WSG denAnspruch auf spezialisierte ambulante Palliativversor-gung eingeführt.Wir haben diesen Anspruch zum 1. April dieses Jahresausgeweitet auch auf Einrichtungen der Kinder-, Ju-gend- und Behindertenhilfe und erst kürzlich in derAMG-Novelle auch auf stationäre Hospize.Wir haben – ebenfalls in der AMG-Novelle – dieFinanzierung der stationären Hospize und der ambulan-ten Hospizdienste deutlich verbessert.Wir haben ambulante Hospizleistungen auch in Ein-richtungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Einglie-derungshilfe für behinderte Menschen ermöglicht.Wir wollen mit dem Assistenzpflegebedarfsgesetz, dasdemnächst vom Bundesrat beraten wird, die Palliativme-dizin als Pflichtfach in die Approbationsordnung aufneh-men.Die neue Leistung „spezialisierte ambulante Pallia-tivversorgung“ ermöglicht eine palliativmedizi-nische Versorgung schwerstkranker Sterbender bis zu-letzt in ihrer vertrauten Umgebung. Dadurch verhindernwir, dass diese Patientinnen und Patienten im Kranken-haus versterben müssen, nur weil es im ambulanten Be-reich an den nötigen Versorgungsvoraussetzungen man-gelt. Wir haben ein flexibles Versorgungsangebotgeschaffen, das dem individuellen und jeweils aktuellenVersorgungsbedarf Rechnung tragen kann.Zwar hat es bei der Umsetzung des Anspruchs zu-nächst Verzögerungen gegeben. Aber der politischeDruck der Bundesregierung und der Gesundheitspoliti-ker aller Parteien hat Wirkung gezeigt: Die Krankenkas-sen schließen in jüngster Zeit verstärkt entsprechendeVerträge ab oder entwickeln vorhandene Projekte weiter.Wir haben unmissverständlich klargestellt, dass dieLeistung der SAPV jedem Versicherten in seiner vertrau-ten Wohnform zusteht – und hierzu gehören selbstver-ständlich zum Beispiel auch Einrichtungen der Kinder-und Jugendhilfe oder der Eingliederungshilfe für behin-derte Menschen. So verhindern wir qualitative Versor-gungsunterschiede zwischen den verschiedenen Wohn-formen.Qualitative Versorgungsunterschiede darf es auchnicht geben zwischen der Versorgung in der Häuslichkeitund der in stationären Hospizen. Deshalb haben wirkürzlich in der AMG-Novelle klargestellt, dass Versi-cherte in stationären Hospizen einen Anspruch haben aufdie Teilleistung der erforderlichen ärztlichen Versorgung
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25903
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
25904 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merkim Rahmen der SAPV. Damit klären wir eine strittigeFrage, die seit Einführung der SAPV zwischen den Kran-kenkassen und den Verbänden der Hospizbewegung be-stand, zugunsten der Versicherten.Verbesserung der Versorgung der Versicherten am Le-bensende – das bedeutet auch, stationäre und ambulanteHospize so gut wie möglich und so weit wie nötig zu un-terstützen. Erfreulicherweise hat der Hospizgedanke inDeutschland in den letzten Jahren zunehmend an Bedeu-tung gewonnen. Es gibt eine wachsenden Anzahl sta-tionärer Hospize und ambulanter Hospizdienste. Siebegleiten Sterbende in ihrer letzten Lebensphase und er-möglichen ihnen ein menschenwürdiges Leben bis zumTod.Dies soll gerecht und transparent finanziert werden.Dazu dienen die jüngst in der AMG-Novelle beschlosse-nen Gesetzesänderungen. Sie beseitigen Fehlsteuerun-gen, schaffen eine gleiche und gleichmäßige Förderungund garantieren eine gerechte Verteilung der Mittel.Wie sieht die neue Finanzierungsstruktur im Einzel-nen aus?Bei der Finanzierung der stationären Hospize in dergesetzlichen Krankenversicherung stellen wir um aufeinen Zuschuss in Höhe von 90 Prozent der zuschussfähi-gen Kosten bzw. 95 Prozent bei Kinderhospizen.Gleichzeitig heben wir den von den Krankenkassen zuleistenden Mindestzuschuss an von 6 auf 7 Prozent dermonatlichen Bezugsgröße. Dadurch tragen wir dazu bei,dass die stationären Hospize künftig einen auskömmli-chen Zuschuss erhalten, und schaffen den Eigenanteilder Versicherten für den dortigen Aufenthalt ab.Bei der Finanzierung der ambulanten Hospizdienstein der gesetzlichen Krankenversicherung ersetzen wirdie bisher variablen Zuschussregelungen durch einenfesten Zuschuss zu den Personalkosten. Gleichzeitigstreichen wir die Festlegung einer Gesamtfördersumme.Dadurch beenden wir die ungleiche Förderung in deneinzelnen Bundesländern und tragen dazu bei, dass glei-che Leistungen auch gleich bezuschusst werden.Neben diesen neuen Finanzierungsstrukturen schaffenwir zudem die Voraussetzung dafür, dass ambulante Hos-pizleistungen künftig auch in Einrichtungen der Kinder-und Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe für behin-derte Menschen erbracht werden können. Damit habenwir eine einheitliche Leistungsgewährung für alle Versi-cherten sichergestellt.Um die umfassende und kompetente VersorgungSchwerstkranker und Sterbender zu gewährleisten, müs-sen auch die Studentinnen und Studenten der Medizin aufdiese Anforderungen in ihrem späteren Berufsleben gutvorbereitet werden. Derzeit sammeln Ärztinnen undÄrzte erste palliativmedizinische Erfahrungen jedochüberwiegend erst nach Abschluss des Medizinstudiumsals Assistenzärztinnen und -ärzte oder nach der Nieder-lassung. In der studentischen Ausbildung sollen bisherdie Prüfungsaufgaben im schriftlichen Teil des ZweitenAbschnitts der Ärztlichen Prüfung auch die „Behandlungvon Langzeitkranken, unheilbar Kranken und Sterben-den, Schmerzbehandlung und Palliativmedizin“ berück-sichtigen. Die Universitäten sind damit zwar gehalten,auch Palliativmedizin in ihre Curricula aufzunehmen.Sie sind jedoch frei, wie sie diese in das Curriculum inte-grieren. So bestehen derzeit nur an fünf UniversitätenLehrstühle für Palliativmedizin und an einer ein Lehr-stuhl für Kinderpalliativmedizin. Mit dem Assistenzpfle-gebedarfsgesetz der Koalitionsfraktionen haben wir nunPalliativmedizin als Pflichtlehr- und Prüfungsfach imMedizinstudium verankert. Dadurch werden die Univer-sitäten verpflichtet, dieses Fach in einer bestimmtenForm in ihre Curricula aufzunehmen. Mittelbar wird da-mit auch die Schaffung entsprechender Lehrstühle prä-judiziert. Die Vermittlung der für die palliativmedizini-sche Versorgung erforderlichen Kenntnisse wird aufdiese Weise in das Medizinstudium vorverlagert. Daswird die Regelversorgung schwerkranker Menschen ver-bessern.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss fürGesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlungauf Drucksache 16/13246, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9442 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mehrheitlich angenommen.Ich rufe die Zusatzpunkte 9 a und 9 b auf:1)a) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Ge-setzes zur Änderung des Gesetzes zur Aufhe-bung nationalsozialistischer Unrechtsurteile inder Strafrechtspflege
– Drucksache 16/13654 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Verteidigungsausschussb) Erste Beratung des von den Abgeordneten JanKorte, Christine Lambrecht, Wolfgang Wielandund weiteren Abgeordneten eingebrachten Ent-wurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderungdes Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialisti-scher Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege– Drucksache 16/13405 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
VerteidigungsausschussInterfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-würfe auf den Drucksachen 16/13654 und 16/13405 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das istnicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-schlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 41 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-1) Zu Protokoll gegebene Redebeiträge siehe Anlage 21
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25905
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solmsnologie zu dem Antrag der Abge-ordneten Harald Leibrecht, Gudrun Kopp, JensAckermann, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der FDPDeutsche Unternehmen vor chinesischer Pro-duktpiraterie und Diskriminierung schützen– Drucksachen 16/4207, 16/6963 –Berichterstattung:Abgeordneter Rolf Hempelmann
Vom T-Shirt über Uhren und Elektronik bis zum Auto:
Es gibt inzwischen kaum noch Produkte europäischer
Hersteller, die nicht gefälscht würden. Ein besonders be-
kanntes Bespiel für ungehemmtes Nachahmen ist der chi-
nesische Geländewagen „Shuanghuan Ceo“, der dem
BMW X5 verblüffend ähnlich sieht. In China fahren dort
gebaute Autos, die wie eine Kopie des Smart aussehen.
Einerseits kann man das als großes Kompliment an deut-
sche Produkte verstehen, andererseits entsteht ein volks-
wirtschaftlicher Schaden von großem Ausmaß. Auch die
Folgen für die Beschäftigung und für die Gesundheit und
Sicherheit der Verbraucher sind verheerend.
Kanzlerin Angela Merkel bezifferte auf der Jahresta-
gung des Markenverbandes in Berlin den durch die Pro-
dukt- und Markenpiraterie für deutsche Unternehmen
entstehenden jährlichen Schaden auf 25 Milliarden Euro.
Die OECD geht von einem weltweiten Schaden für die
Wirtschaft in Höhe von 150 Milliarden Euro aus.
Der Handel mit gefälschten Marken und Produktpira-
terie sind eine Wachstumsbranche. Die Wirtschaft der
Nationen hat sich globalisiert, die Industrie des Verbre-
chens tut es ebenfalls. Produkt- und Markenpiraterie
rangieren inzwischen gleichberechtigt neben Drogen-
und Menschenhandel, neben Geldwäsche und Erpres-
sung. Ihr Netz operiert weltumspannend wie multinatio-
nale Konzerne. Auch die Produktpiraten kooperieren fast
immer arbeitsteilig: Eine Gruppe sorgt für die Fabrika-
tion, eine zweite für die Logistik, die dritte für den Ver-
kauf. Multi-Länder-Operationen sind die Regel. Fäl-
schung ist inzwischen Auftragsarbeit.
Deutschland ist neben den USA und Großbritannien
führend im Kampf gegen Marken- und Produktpiraterie.
Der deutsche Zoll hat seine Kontrollintensität in den letz-
ten Jahren deutlich gesteigert, insbesondere auch auf
Messen.
Auch strafrechtlich wird Produktpiraterie verfolgt:
Produkt- oder Markenpiraterie wird in Deutschland mit
Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe
geahndet, §§ 106, 107 und 108 UrhG. Die Strafandro-
hung nach § 143 MarkenG sieht für ein einfaches Delikt
eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder Geld-
strafe, beim gewerbsmäßigen Handeln bis zu fünf Jahre
oder Geldstrafe vor. Der Markenverstoß ist ausschließ-
lich im gewerblichen Verkehr bzw. Handel strafbar. In
den meisten gewerblichen Fällen tritt die Strafbarkeit
nach UrhG und MarkenG jedoch hinter die Betrugstat-
bestände zurück. Da die Plagiate oftmals als Original-
ware angeboten werden, wird eine Täuschung erzeugt,
um einen Vermögensvorteil zu erlangen. Die Strafen für
Betrug sind Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geld-
strafe, beim gewerbsmäßigen Betrug Freiheitsstrafe
nicht unter sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Deutsch-
land tut also bereits einiges.
Aus meiner Sicht hat jetzt die Stärkung der Aktivitäten
auf internationaler Ebene oberste Priorität. Dazu gehört
neben der handelspolitischen Zusammenarbeit und Pro-
jekten auf G-8-Ebene auch ein intensiver bilateraler Dia-
log mit den Herkunftsländern der Plagiate. Wenn Verbre-
cher über Ländergrenzen hinweg agieren, müssen das
auch die Polizei und der Zoll tun. Nur, das klappt bisher
noch nicht gut genug. Europas 1,2 Millionen Polizisten
arbeiten unter völlig verschiedenen rechtlichen Bedin-
gungen. Produktpiraterie gilt in vielen Ländern als Ka-
valiersdelikt. Wir müssen uns also vor allem auf europäi-
scher Ebene besser koordinieren, um den Schutz für un-
sere Unternehmen auszubauen. Wichtigstes Mittel ist
hier eine gut organisierte und möglichst reibungslose Zu-
sammenarbeit der Zollbehörden in den Herkunfts- und in
den Abnehmerländern. Ein erster Schritt ist, dass die
EU-Kommission unlängst einen Richtlinienentwurf vor-
gelegt hat, mit dem die Strafen für Produktpiraterie in
der EU angeglichen werden sollen.
Produktpiraterie stellt unsere Unternehmen und somit
auch uns vor große Probleme. Diese Probleme werden
auch in Zukunft nicht weniger werden. Wir dürfen hier
keinesfalls die Augen verschließen. Das hat die FDP
richtig erkannt. Viele Punkte des mir vorliegenden An-
trags sind richtig und unterstützenswert. Kritisch sehe
ich jedoch drei Ansätze.
Erstens: die Fixierung auf staatliches Handeln. Die
Durchsetzung geistiger Eigentumsrechte muss gerade
auch Aufgabe der geschädigten Unternehmen sein. Ini-
tiativen der Wirtschaft gibt es zahlreiche, und sie werden
von der Bundesregierung tatkräftig unterstützt. Der
rechtliche Rahmen ist in Deutschland und auch in Eu-
ropa gegeben, an der Umsetzung internationaler Abkom-
men wird mit Hochdruck gearbeitet.
Zweitens: die Fixierung auf China. Sicherlich, die
Freibeuter der Globalisierung sitzen vor allem in China.
Mehr als 60 Prozent aller Fälschungen werden dort her-
gestellt. Auf der Rangliste des Zolls, auf der die Her-
kunftsländer der in Deutschland sichergestellten Pla-
giate verzeichnet sind, folgen aber die USA auf Rang
zwei und Thailand auf Rang drei. Auch die Türkei ver-
stößt regelmäßig gegen das TRIPS-Abkommen über han-
delsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum.
Mit dem Beitritt zur WTO hat China seine Gesetze
zum Schutz des geistigen Eigentums reformiert. Die
Durchsetzung gestaltet sich bisher jedoch schwierig.
China hier eine Duldung zu unterstellen, halte ich für
kritisch.
Bei der Lösung des Problems kommt uns Chinas auf-
strebende Rolle in der Weltwirtschaft zugute. Produktpi-
raterie ist inzwischen nicht mehr nur ein Problem euro-
päischer und nordamerikanischer Firmen. Vielmehr
werden die Täter inzwischen häufig selbst zu Opfern.
(C)
(D)
Dr. Georg Nüßlein
Schutzverletzer haben nur so lange ein geringes Inte-
resse am Schutz des geistigen Eigentums, solange die In-
novationskraft des Landes niedrig ist. Hier setzt vor al-
lem in China ein Umdenken ein. Auch chinesische Fir-
men werden inzwischen immer häufiger durch die Kopie
ihrer Produkte geschädigt. 95 Prozent der Gerichtsver-
handlungen in China finden statt wegen Diebstahls geis-
tigen Eigentums unter chinesischen Firmen. Die Aus-
sichten, hier bald auf einen gemeinsamen Nenner zu
kommen, halte ich für sehr gut. Peking hat bereits seine
Strafverfolgung verschärft und in ganz China auf geis-
tige Eigentumsschutzrechte spezialisierte Gerichte ein-
gesetzt. Jetzt die Fronten zu verhärten, indem wir Ihrem
Antrag folgen, halte ich für verfehlt.
Noch einmal: Die chinesische Regierung hat ein stei-
gendes Interesse am effektiven Schutz des geistigen Ei-
gentums. Die entsprechenden nationalen Gesetze sind
bereits verabschiedet. Wenn wir tatsächlich Bewegung in
die Sache bringen wollen, müssen wir unterstützend tätig
werden.
Drittens: Fixierung auf nationale Strategien zur Be-
kämpfung von Produktpiraterie. Nationalstaatliches Han-
deln wird nur einen geringen Beitrag zur internationalen
Durchsetzung der Eigentumsrechte leisten können. Inter-
nationale Abkommen und die Koordination mit Ländern
mit ähnlichen Interessen sollten absoluten Vorrang vor
deutschen Alleingängen haben. Die EU hat inzwischen
eine Europäische Beobachtungsstelle für Marken- und
Produktpiraterie eingerichtet. Deutschland tritt in allen
thematisch befassten internationalen Organisationen mit
Vehemenz für eine Fortentwicklung des Schutzes des
geistigen Eigentums ein.
Mein Fazit ist: Die Bundesregierung und auch die Eu-
ropäische Union sind bei der Bekämpfung der Produktpi-
raterie kontinuierlich aktiv und auf dem richtigen Weg.
Die bereits zu verzeichnenden Erfolge werden in dem uns
vorliegenden Antrag kleingeredet. Der Antrag der FDP-
Fraktion ist somit nicht bloß wegen seines Alters – zwei-
einhalb Jahre – überflüssig.
Den Antrag, den wir heute abschließend beraten, hatmeine Fraktion schon vor zwei Jahren kritisch kommen-tiert, da der zum Thema Produktpiraterie laufendeDialog zwischen der Europäischen Union und der Volks-republik China bewusst kleingeredet wird. Unsere Auf-fassung von damals bestätigt sich heute in den Fort-schritten der europäisch-chinesischen Zusammenarbeit.Richtig ist dennoch die These, dass es sich bei chinesi-scher Produktpiraterie um ein besonders dringlichesProblem für deutsche und europäische Unternehmenhandelt. Tatsächlich stammen weiterhin rund 60 Prozentder an EU-Grenzen abgefangenen gefälschten Waren auschinesischer Produktion. Der Ideenklau kostet uns jähr-lich Milliarden von Euro. Das ist eine Situation, die wirnicht hinnehmen können.Mich stört jedoch nach wie vor die Ausrichtung desAntrages, der die Rolle des Sündenbocks allein China zu-schiebt, obwohl auch andere Länder in erheblichemZu ProtokollMaße von illegalen Geschäften mit gefälschten Warenprofitieren. Ich denke da etwa an die USA oder die Tür-kei.Das Bild sollte auch deshalb nicht einseitig schwarzgemalt werden, weil Deutschland und China seit Jahrenin hohem Maße expandierende Handelsbeziehungen un-terhalten. China ist außerhalb der EU zweitwichtigsterdeutscher Exportmarkt und Deutschland wiederum Chi-nas mit Abstand größter Handelspartner in Europa.Beide Länder haben ein vitales Interesse an soliden Wirt-schaftsbeziehungen.Natürlich gibt es gerade aus deutscher Sicht weiterhinHandlungsbedarf. So müssen in China die Rahmenbedin-gungen für ausländische Investitionen weiter verbessertwerden. Ein wirksamer Schutz geistigen Eigentums, dasheißt die effektive Bekämpfung von Produktpiraterie undunerlaubtem Technologietransfer sind ebenso wichtig.Grundlegend sind auch der Bedarf an mehr Rechts-sicherheit, Transparenz und Vertragsfreiheit sowie eingleichberechtigter Zugang ausländischer Unternehmenzu öffentlichen Ausschreibungen wie für chinesische Un-ternehmen.Dennoch haben beide Seiten ein Interesse an fairemHandel – umso mehr, als Chinas Unternehmen selbstmehr und mehr Innovationskraft und damit ein eigenesInteresse am Schutz geistigen Eigentums entwickeln undIdeenklau im eigenen Land zunehmend als Problemwahrnehmen. Die chinesische Regierung hat den Schutzdes geistigen Eigentums inzwischen selbst auf die politi-sche Agenda gesetzt und als notwendige Voraussetzungfür Wettbewerbsfähigkeit und Innovation anerkannt. Dasist ein Meilenstein, der jedoch noch nicht zu euphorischstimmen darf, da die chinesische Regierung vorsieht, hei-mische Produkte bei Schaffung, Anwendung und Verwal-tung der Besitzrechte zu begünstigen.Die Bundesregierung räumt ihrerseits dem Schutzgeistigen Eigentums einen hohen Stellenwert ein. DasThema ist immer wieder Gegenstand bilateraler Gesprä-che mit Handelspartnern weltweit. Es spielte aber aucheine wichtige Rolle bei der Vereinbarung einer Reihe vonFreihandelsabkommen unter deutscher EU-Ratspräsi-dentschaft, unter anderem mit Südkorea, Indien, denASEAN-Ländern und Kanada. Der Bundesregierung hierTatenlosigkeit vorzuwerfen, ist absurd.Tatsache ist, dass wir es mit einer Herausforderung zutun haben, der wir über nationalstaatliche Bemühungenhinaus gemeinschaftlich und multilateral begegnen müs-sen. Die Bundesregierung unterstützt deshalb mit Nach-druck den bereits über mehrere Jahre andauerndenkonstruktiven Dialog der EU mit den chinesischen Zoll-behörden. Erste operative Erfolgen konnten bereits ver-zeichnet werden. Im Januar dieses Jahres mündete derDialog in einem gemeinsamen Aktionsplan mit konkretenMaßnahmen für den Ausbau der Zusammenarbeit derZollbehörden beim Schutz der Eigentumsrechte. DieserPlan umfasst nicht nur eine konkrete Untersuchung derStröme gefälschter Waren zwischen China und der EU,sondern zum Beispiel auch eine weitergehende operativeZusammenarbeit von Häfen und Flughäfen.
Metadaten/Kopzeile:
25906 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Rolf HempelmannUmfassende Handelserleichterungen für chinesischeWaren stellt die EU unter die Vorbedingung nachweisba-rer Fortschritte bei der Bekämpfung der Produktpirate-rie im Lande. Wir sind jetzt in einer Phase der Umset-zung der vereinbarten Maßnahmen.Der Antrag der FDP-Fraktion bemängelt darüber hi-naus ausbleibende Fortschritte, die mit der WTO-Mit-gliedschaft Chinas hätten einhergehen müssen. Dabeientsprechen die rechtlichen Rahmenbedingungen inChina inzwischen internationalen Standards. Auch aufdieser Ebene ist bereits viel erreicht worden.Schwierigkeiten liegen allerdings in der Implementie-rung. Die Durchsetzung internationaler Patentstandardsvor Ort gestaltet sich weiterhin problematisch. Ausländi-sche Unternehmen haben noch immer mit Verzögerungenbei der Patentantragstellung und mit Patentanträgen aufPlagiate zu kämpfen. Die Entscheidungsfindung vor Ge-richt wurde zwar beschleunigt, bleibt aber oft intranspa-rent. Daher scheuen viele Unternehmen vor dem Rechts-weg zurück und machen Verletzungen des geistigenEigentums erst gar nicht publik. Gerade für kleinere undmittlere Unternehmen sind solche Konflikte schwer zubewältigen.Fazit ist, dass die Situation noch nicht zufriedenstel-lend ist. Der Dialog mit den chinesischen Behörden mussfortgeführt und intensiviert werden. Der Aktionsplan istdafür der richtige Ansatzpunkt. Wichtigstes Thema aufder Agenda bleibt dabei die Gleichbehandlung chinesi-scher und ausländischer Unternehmen vor Ort.Es ist darüber hinaus begrüßenswert, dass die deut-sche Wirtschaft Bemühungen auf politischer Ebene mitSelbsthilfe flankiert. Seit 2006 besteht eine Chinakon-taktstelle als Anlaufstelle im DIHK, an die sich deutscheUnternehmen im Verletzungsfall wenden können. Auchdas, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, bleibtin Ihrem Antrag erstaunlicherweise unerwähnt. Daherplädiere ich an dieser Stelle dafür, der Beschlussempfeh-lung des federführenden Wirtschaftsausschusses zu fol-gen und den Antrag abzulehnen.
Vor gut zwei Jahren haben wir zum ersten Mal hier imPlenum des Deutschen Bundestages ausführlich über dasThema des Schutzes deutscher Unternehmen vor interna-tionaler Produktpiraterie debattiert. Ich habe mir vorwenigen Tagen noch einmal das Protokoll der damaligenDebatte durchgelesen. Damals waren sich die Koalitions-parteien im Gegensatz zur FDP einig, dass die Aktivitätender Bundesregierung völlig ausreichend seien, um diesesProblem zu thematisieren. Außerdem wurde hier von eini-gen Kollegen der anderen Fraktionen geäußert, dass dievon uns geforderten Maßnahmen, die wir mit unseremAntrag durchsetzen wollten, nicht klar genug seien.Mit unserem Antrag haben wir, hat die FDP, eineganze Reihe von Vorschlägen gemacht, die notwendigsind, um unsere Unternehmen vor Produktpiraterie zuschützen. Ein „Weiter so“, wie es die Bundesregierungaugenscheinlich praktiziert, hilft nicht weiter. Wir brau-chen einen ganzen Strauß von Maßnahmen. Dabei setzenZu Protokollwir durchaus auf die Mitarbeit vonseiten Chinas. WennChina als große Wirtschaftsnation in der internationalenGemeinschaft als verlässlicher Partner gelten möchte, istdie Bekämpfung der Produktpiraterie im eigenen Landvon größter Wichtigkeit.Die FDP-Fraktion bedauert es überaus, dass nun fastzwei Jahre seit der ersten Lesung vergangen sind. In die-sen zwei Jahren haben deutsche Unternehmen immenshohe Verluste durch die Produktpiraterie erlitten. Diesschwächt deren Investitionskraft und gefährdet Arbeits-plätze – ein volkswirtschaftlicher Schaden für unserLand, der uns alle trifft. Gerade jetzt, in der Wirtschafts-krise, sollte die Bundesregierung alles daransetzen, dassdiese Art der Kriminalität mit aller Härte bekämpft wird.Im Vorfeld zu dieser Debatte habe ich mir den Verfas-sungsschutzbericht 2008 des baden-württembergischenVerfassungsschutzes noch einmal durchgelesen. Darinheißt es unter anderem: Die Leistungsfähigkeit der chine-sischen Auslandsspionage scheint mittlerweile ein Niveauerreicht zu haben, wie es vor kurzem noch undenkbarwar. Dies betrifft besonders die China zugerechnetenmassiven Internetattacken auf deutsche Regierungsstellenund Unternehmen. Im Bereich der Wirtschaft waren hiervonnahezu sämtliche Branchen und Hochtechnologiebereichebetroffen, von der Rüstungsindustrie über den Automobil-,Chemie- und Pharmasektor bis hin zu Finanzdienstleistern.Nach wie vor kommt auch der Informationsbeschaffungmithilfe menschlicher Quellen große Bedeutung zu. Häufigist deutschen Unternehmensvertretern das hohe Risiko,beim Kontakt mit chinesischen Verhandlungspartnern aufausgebildete Geheimdienstprofis zu stoßen, nicht bewusst.Dies zeigt ganz deutlich, dass hier noch einiges im Argenliegt und dringender Handlungsbedarf herrscht.Die Reaktionen, die ich auf unseren Antrag und die vo-rangegangene Kleine Anfrage über einen langen Zeitraumerhalten habe, machen mehr als deutlich, dass betroffeneUnternehmen eine aktive Unterstützung der Bundesre-gierung erwarten. Es gibt vonseiten der Bundesregierungweder eine ausreichende Aufklärung über Produktpirate-rie noch konkrete Hilfe für geschädigte Unternehmen.Die meisten Unternehmer wissen gar nicht, an wen sie sichim Schadensfall hier in Deutschland wenden können.Deutschland setzt seit Jahren in internationalenVerhandlungen richtigerweise auf einen kooperierendenAnsatz. Doch wenn dieser, wie im Fall der Produktpira-terie, nicht zielführend ist, muss die Bundesregierunghandeln und den internationalen Partnern klarmachen,dass es so nicht geht.Es kann doch nicht unser eigener Fehler sein, wennwir mehr als sieben Jahre nach dem WTO-Beitritt derVR China gegenüber unseren Unmut bezüglich der man-gelhaften Durchsetzung von internationalen Überein-kommen äußern, die China ratifiziert hat. Russland wirdeventuell noch in diesem Jahr Mitglied der WTO – einweiteres riesiges Land, mit dem es auf dem Gebiet derProduktpiraterie eng zu kooperieren gilt, um endlichErfolge zu erzielen. Die Begründung, dass es in solchgroßen Ländern kaum möglich ist, alle Regeln durch-zusetzen, darf nicht die Antwort gegenüber den Geschä-digten sein.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25907
gegebene Reden
(C)
(D)
Harald LeibrechtEs mag ja sein, dass jedes einzelne Unternehmen sichselbst bestmöglich schützen muss, wie es die Bundes-regierung sagt. Doch seit meiner letzten Rede zu diesemThema hat sich an der Grundausrichtung unserer Forde-rungen beim Thema Produktpiraterie nichts geändert:Wir müssen vor allem den kleinen und mittelständischenUnternehmen eine ausreichende Rechtsgrundlage an dieHand geben. Sie müssen in die Lage versetzt werden, sichwirksam schützen zu können.Die Regierung muss endlich Projekte fördern, die Un-ternehmen für die Entwicklung von Präventivstrategiengegen internationale Produktpiraterie entwickeln. Daswäre ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
Wenn es um die Förderung von Innovationen bei Un-ternehmen geht, fällt den neoliberalen Parteien immernur zweierlei ein: erstens Steuern senken und zweitensVerschärfung und Ausweitung von geistigen Eigentums-rechten. Dabei spielt es offenbar keine Rolle mehr, dassalle heutigen Industriestaaten den Aufbau ihrer Indus-trien dadurch betrieben haben, was heute als Raub geis-tigen Eigentums gebrandmarkt wird. Das gilt für dieUSA, die es als junges Land abgelehnt haben, fremdesgeistiges Eigentum anzuerkennen. Sie argumentiertendamals, dass sie freien Zugang zu ausländischen Werkenbenötigen, um ihre eigene soziale und ökonomische Ent-wicklung zu fördern. Und das gilt für deutsche Unterneh-men, die Produktpiraterie so weit vorangetrieben habendass sich Großbritannien nur noch mit der Aufschrift„Made in Germany“ auf Nachahmungsprodukten ausDeutschland zu helfen wusste.Der wirtschaftliche Schaden, der durch Produktpira-terie hervorgerufen wird, wird meist maßlos übertrieben.Die OECD hat ihre Schätzung um rund 400 MilliardenDollar auf mutmaßliche 175 Milliarden nach unten kor-rigieren müssen.Mit der Verschärfung der geistigen Eigentumsrechtewerden nur die Interessen der großen Konzerne bedient.63 Prozent der weltweiten Patente gehören Konzernender G 8. Durch die Regeln zum Schutz des geistigen Ei-gentums wird der Transfer des Wissens erschwert. DieKosten der Lizenzen dafür sind so hoch, dass sie für Un-ternehmen aus Entwicklungs- und Schwellenländern ge-nauso wenig zu bezahlen sind wie für kleine und mittlereUnternehmen hier. Selbst die EU-Kommission hat bereitsbeklagt, dass der ausufernde Patentschutz auch in Eu-ropa zur Behinderung von Forschung und Entwicklungführt.Mit zunehmender wirtschaftlicher Bedeutung wissens-intensiver Dienstleistungen wird der Geltungsbereichvon Patenten immer weiter ausgeweitet; auf die belebteNatur, Pflanzen, Gene und Tiere. Die Menschrechtskom-mission der UN weist immer wieder darauf hin, dass diePatentierungsabkommen gegen zahlreiche Menschen-rechtsabkommen verstoßen: dem Recht auf Teilhabe amwissenschaftlichen Fortschritt, Gesundheit, Ernährungund Selbstbestimmung. Deshalb fordert die Linke – wieübrigens auch die Enquete-Kommission „Globalisierungder Weltwirtschaft“ – unter anderem eine Revision desZu ProtokollTRIPS-Abkommens hinsichtlich der ProblembereicheLandwirtschaft, Gesundheit und Biodiversität, um es mitden Menschenrechts-, Sozial- und Umweltabkommen inEinklang zu bringen.Leidtragende sind derzeit die Menschen in den Ent-wicklungsländern, die sich zum Beispiel die teuren Medi-kamente nicht leisten können und keine billigen Nachah-merprodukte bekommen. Nicht die Nachahmerproduktegefährden Leib und Leben, wie die FDP es im Antrag be-hauptet, sondern der Schutz der Patente der Pharmakon-zerne. Ihr Profit ist ihnen wichtiger als das Leben vonMillionen von Menschen in Afrika.Die FDP will einen Ausbau der Privatisierung vonWissen in der Hand der Konzerne. Wir wollen Wissen alsöffentliches Gut erhalten, als Mittel demokratischer Öf-fentlichkeit, sozialer Gerechtigkeit und der Überwindungvon Wissensunterschieden auch zwischen den Ländern.
Wir stimmen der FDP-Bundestagsfraktion zu, dassProduktpiraterie für viele deutsche Unternehmen einProblem ist, das man nicht verharmlosen sollte. Dabeidarf man aber auch nicht aus den Augen verlieren, dassdie Verletzung von Patentrechten schon immer Teil derwirtschaftlichen Entwicklung von aufstrebenden Staatenwar. Das gilt für die Bundesrepublik, für die USA, aberauch für andere aufstrebende Volkswirtschaften. Sicherbereitet uns das Probleme, und wir sind auch dafür, dassetwas dagegen getan wird. Deswegen sollten wir aberChina nicht als Teufel an die Wand malen.Wir sind entschieden dagegen, dass der DeutscheBundestag einseitig China für dieses Problem verant-wortlich macht. Dies ist ein wichtiger Grund, weswegenwir dem Antrag nicht zustimmen werden. In Wirklichkeitkommen nämlich nur ein Drittel der beschlagnahmtenWaren, bei denen Produkt- oder Markenpiraterie vor-liegt, aus China. Aus den USA zum Beispiel kommen11 Prozent und aus der Türkei 9 Prozent der beschlag-nahmten Waren. Angesichts der Zahlen warnen wir voreiner einseitigen Dämonisierung Chinas, wie die FDPdies in ihrem Antrag tut. Wir finden den Kurs der Bun-desregierung, auf Kooperation statt Konfrontation zusetzen, richtig. Das haben wir zu rot-grünen Regierungs-zeiten getan, und das führt die Bundesregierung nun fort.Es ist ja auch nicht so, dass in China in den vergange-nen zehn Jahren nichts passiert ist. Durch den WTO-Bei-tritt wurden zahlreiche Abkommen zum Schutz geistigenEigentums unterzeichnet und die Kontrollen deutlich ver-stärkt. Zudem wurden zahlreiche Gerichte geschaffen,die sich nur mit Produkt- und Markenpiraterie beschäfti-gen, und die Zahl der Verurteilungen wegen Diebstahlgeistigen Eigentums ist deutlich gestiegen. Auch wenndie FDP das nicht sieht, wir sehen, dass sich China indieser Frage bemüht. Ich unterstelle den Chinesen nicht,dass sie aus purem Altruismus Fortschritte erzielt haben.In China nimmt, wie bei uns, die wissensintensive Pro-duktion zu. Deswegen haben auch die Chinesen in Zu-kunft ein zunehmendes Interesse, dass nicht nur die Pro-dukte der anderen, sondern auch ihre Erzeugnissegeschützt werden. Das ist der Gang der Dinge in aufstre-benden Volkswirtschaften.
Metadaten/Kopzeile:
25908 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25909
(C)
(D)
Dr. Wolfgang Strengmann-KuhnWir müssen die FDP-Bundestagsfraktion aber auchdarauf hinweisen, dass kopierte Produkte nicht immernur lebensbedrohlich sein müssen. In vielen Fällen kön-nen sie sogar Leben retten. Zum Beispiel im Pharmabe-reich. Hier müssen wir weiter darüber nachdenken, wiewir in Zukunft mit dem Patentschutz verfahren. Es kannnicht sein, dass in Entwicklungs- und SchwellenländernMenschen sterben, weil die von den Industrieländernentwickelten Medikamente zu teuer sind und wir es un-terbinden, dass diese nachgeahmt werden. Hier mussdringend ein Umdenken stattfinden, denn es ist schlichtunmoralisch, die Menschen sterben zu lassen, weil wirauf unserem Patentschutz beharren.Gedanken müssen wir uns auch über den Technologie-transfer machen, und zwar wie wir es schaffen, dass wirdie Erzeugung erneuerbarer Energien durch einen ge-zielten Technologietransfer ausweiten und nicht auf ei-nem starren Patentschutz beharren. Denn mit einem ri-gorosen Patentschutz sind unsere Klimaprobleme kaumeinzudämmen.Zuallerletzt muss ich darauf hinweisen, dass ich michüber die inkonsistente Position der FDP-Bundestags-fraktion in der Handelspolitik wundere. Sie fordert einer-seits, den Klageweg gegen China im Rahmen der WTOzu gehen, mit dem auch Sanktionen verbunden sind. An-dererseits fordert die FDP-Bundestagsfraktion in einemanderen Antrag, dass die Bundesregierung die Initiativeergreifen soll, Importbeschränkungen in der EU voll-ständig abzuschaffen. Das passt nicht ganz zusammen.Darüber sollten die Handelspolitiker der FDP-Bundes-tagsfraktion noch einmal nachdenken. Ein funktionieren-des internationales Handelsregime ohne Sanktionen ge-gen unfaire Handelspraktiken kann es und wird es nichtgeben. Der bedingungslose Freihandel ohne Regulierun-gen ist eine Wunschvorstellung und ein theoretischesModell, das niemals Wirklichkeit werden kann. Das istFakt. Deswegen würden wir uns wünschen, wenn auchdie FDP die Realität anerkennen und ihre außenwirt-schaftspolitischen Forderungen wirklichkeitsgetreuergestalten würde.Kurz zusammengefasst: Wir sehen das Problem derProduktpiraterie für deutsche Unternehmen, enthaltenuns aber bei dem Antrag, weil auch wir auf Kooperationstatt Konfrontation setzen wollen. Zudem finden wir esnicht richtig, dass China in dem Antrag einseitig an denPranger gestellt wird.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/6963, den Antrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/4207 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mehrheitlich angenommen.
Wir kommen zum Zusatzpunkt 10:1)
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
1) Zu Protokoll gegebene Redebeiträge siehe Anlage 22
Förderung von Vertrauen, Sicherheit und Da-
tenschutz in E-Government und E-Business
– Drucksache 16/13618 –
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache
16/13618.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Antrag ist mehrheitlich angenom-
men.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 42 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Bundesausbildungsförderung an die Studien-
realität anpassen und Strukturreform vorbe-
reiten
– Drucksachen 16/12688, 16/13592 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Marion Seib
Renate Schmidt
Uwe Barth
Cornelia Hirsch
Kai Gehring
Der Antrag der Fraktion Die Linke enthält die lang-jährig bekannten, völlig utopischen Forderungen nacheiner Ausbildungsförderung in einem Rundumversor-gungsstaat, bei dem die individuelle Eigenverantwortungnichts zählt.Zu einigen Forderungen im Einzelnen: Die Forderung,die Altersgrenze von 30 Jahren ersatzlos zu streichen, istabsurd. Die bildungs- und jugendpolitische Zielsetzungdes BAföG richtet sich an dem Bild junger Menschen inErstausbildung vor dem erstmaligen Zugang zum Ar-beitsmarkt aus. Ziel ist die Chancengleichheit beimBildungszugang zur Sicherung gleicher Startchancen.Zudem erlaubt das BAföG neben der generellen Alters-grenze sogar Ausnahmen, nämlich für anerkennungswerteSonderkonstellationen wie Kinderbetreuungszeiten, zwei-ter Bildungsweg oder Hochschulzugang aufgrund beruf-licher Qualifikation. Das BAföG ist kein Instrument zurgenerellen Förderung des lebenslangen Lernens.Zur Forderung, den Förderzeitraum nach der durch-schnittlichen Studiendauer statt der bisherigen Regelstu-dienzeit zu bemessen: Es ist grotesk, den Studierenden zuüberlassen bzw. sie selbst bestimmen zu lassen, wie langesie sich Zeit für das Studium nehmen und sich das dannauch noch auf Steuerzahlerkosten finanzieren lassen zuwollen. Die Regelstudienzeit wird definitionsgemäß ge-rade danach bemessen, wie lange man regelmäßig fürdas Studium einschließlich Abschluss benötigt. Im Übri-gen gilt das nach Landeshochschulrecht.
(C)
(D)
Marion SeibAuch die Forderung, den bisher geforderten Leis-tungsnachweis zur Verlängerung des Förderanspruchsim vierten Semester im Bachelorstudium ersatzlos zustreichen, ist absurd. Das widerspricht jedem Leistungs-gedanken und -anreiz.Forderung Nr. 3, wonach sichergestellt werden soll,dass im Masterstudium unabhängig vom Kriterium derKonsekutivität ein Förderanspruch besteht, ist überflüs-sig. Konsekutivität ist bereits nach geltendem BAföG keinFörderungskriterium. Der Master muss sich nicht nacheinem Bachelorstudium unmittelbar anschließen. Auchmuss das Masterstudium nicht unbedingt dieselbe Fach-richtung haben wie das vorher absolvierte Bachelorstu-dium.Die Forderung, den Förderanspruch zwischen zweiAusbildungsabschnitten auf mindestens drei Monate aus-zuweiten, halte ich für unnötig. Schließlich kann mit demqualifizierten Abschluss aus dem ersten Ausbildungsab-schnitt die Zeit bis zum Beginn des zweiten Ausbildungs-abschnitts finanziert werden.Die Forderung, eingetragene Lebenspartnerschaftenim Sinne des BAföG mit der Ehe gleichzustellen, halte ichfür nicht geboten und auch nicht für angemessen. UnserVerfassungsrecht lässt Differenzierungen gerade auch imSozialleistungsrecht zu.Dass der Fraktion Die Linke offenbar die Finanzie-rung ihrer Forderungen egal ist, zeigt der Vorschlag,beim Fachrichtungswechsel den neuen Studiengang alserstes Studium zu betrachten und somit zu fördern, unab-hängig davon, ob man im ersten Studiengang BAföG be-antragt oder bezogen hat. Nach der gegenwärtigenKonzeption fördert BAföG den erstmaligen Ausbildungs-gang, um eine verbesserte Erwerbschance zu eröffnen.Es kann nicht sein, dass die Finanzierung einer zweitenAusbildung mit dem Argument gefordert wird, dass dieerste Ausbildung ohne BAföG erfolgt sei. Wenn eine Neu-konzeption gefordert wird, so wie in der letzten AFBG-Änderung, kann dies nicht nur für einen Fachrichtungs-wechsel gelten, sondern müsste dann auch konsequenter-weise bereits abgeschlossene Ausbildungen für dieBAföG-Berechtigung unberücksichtigt lassen.Auch das Ansinnen, die Verlängerung der Förderungs-höchstdauer aufgrund von studienbedingtem Fremdspra-chenerwerb auf alle Fremdsprachen auszuweiten, gehörtin die Rubrik „Was schert mich die Finanzierung?“. Fürdiese Forderung kann ich keinen Bedarf erkennen;schließlich gehört der Erwerb von Fremdsprachenkennt-nissen zum Regelangebot der Schulen, die die Hochschul-zugangsberechtigung vermitteln. Der Ausschluss vonEnglisch, Französisch und Latein ist daher konsequentund richtig.Jedem Leistungsgedanken und -anreiz widersprichtdie Idee, den Leistungsnachweis zur Verlängerung desFörderanspruchs im vierten Semester des Bachelorstudi-ums ersatzlos zu streichen.Der Vorschlag, die elternunabhängige Förderungdurch die Verringerung der nachzuweisenden Zeit einervorherigen Arbeitstätigkeit bzw. Ausbildung auszuweiten,ist kostenträchtig und ohne sachliches Bedürfnis. DieZu ProtokollMindestdauer hat keinen Belohnungscharakter für vorhe-rige Erwerbstätigkeit, die man nach bildungspolitischemGusto großzügiger ausgestalten könnte. Es geht doch umdie Frage der Wahrscheinlichkeit, ab wann jemand, dernoch keinerlei berufsqualifizierende Ausbildung seit sei-ner Volljährigkeit erfahren hat, nach geltendem Unter-haltsrecht keinen Anspruch auf Ausbildungsunterhalt ge-gen seine Eltern mehr hätte. Die Regelung ist eine reineTypisierung des geltenden einzelfallabhängigen Unter-haltsrechts. Niemand steht ihretwegen ohne Finanzhilfeda. Sind die Eltern bedürftig, kann ohnehin gefördertwerden. Sind sie es nicht, verweigern aber atypischer-weise den ihnen zugedachten Unterhalt, könnte über Vo-rausleistung nach § 36 BAföG trotzdem gefördert werden,wobei hinterher bei den Eltern Regress genommen würde.Der Forderungskatalog geht noch weiter: Die Frak-tion Die Linke möchte, dass Auszubildenden in hoch-schulorganisatorisch eingerichteten Teilzeitstudiengän-gen eine Förderung nach BAföG zugänglich gemachtwird. In meinen Augen mag es diskussionswürdig er-scheinen, ob für bestimmte Personengruppen, wie Stu-dierende mit betreuungsbedürftigen Kindern, neben denbereits großzügig eingeräumten Möglichkeiten der För-derungsverlängerung beim Vollzeitstudium auch eineFörderung förmlicher Teilzeitstudiengänge sinnvollwäre. Die Länder diskutieren darüber in einer Arbeits-gruppe innerhalb des Hochschulausschusses der KMKbislang ergebnislos. Der BAföG-Beirat hat sich explizitgegen eine Einbeziehung förmlicher Teilzeitstudien-gänge ausgesprochen und auf die nach seiner Bewertungflexibleren, individuell nutzbaren Verlängerungsmöglich-keiten verwiesen, die § 15 Abs. 3 Nr. 5 BAföG schon jetztbei Kinderbetreuung eröffnet. Mir leuchtet nicht ein, wa-rum man generell jedem anheimstellen sollte, durch Wahleines förmlichen Teilzeitstudiengangs länger zu studieren,später abzuschließen und ins Erwerbsleben einzutretenund dafür von der Steuerzahlergemeinschaft finanziert zuwerden. Der Grundsatz, dass, wer Ausbildungsförderungerwartet, dafür auch den vollen Ausbildungseinsatz zei-gen muss, sollte nicht infrage gestellt werden können.Die Fraktion Die Linke fordert die Ausweitung desAuslands-BAföG auf ein gesamtes gefördertes Auslands-studium in den Bologna-Staaten. Alle Auslandszuschlägesollen als Vollzuschuss gewährt werden. Ich meine, mansollte erst einmal die nächste BAföG-Statistik und den für2010 anstehenden BAföG-Bericht abwarten; denn bisherlässt sich kein Rückgang der Zahl des Auslandsaufent-haltes erkennen. Auslandsstudien sind natürlich auch fürBAföG-Geförderte sinnvoll und wichtig. Ein Rückgangaus finanziellen Gründen wäre daher in der Tat ein Anlass,neu nachzudenken. Ich sehe allerdings keine Veranlas-sung, zusätzlich in die Auslandsförderung zu investieren,solange die Auslandsstudierbereitschaft der BAföG-Empfänger auch mit der geltenden Regelung gesichertwerden kann.Nach Vorstellungen der Linken sollen die Leistungennach BAföG für Schülerinnen und Schüler nicht als Ein-kommen gelten. Das würde bedeuten, dass, soweit es umdie zweckidentische Deckung des Lebensunterhaltesgeht, eine Doppelförderung mit staatlichen Sozialleistun-
Metadaten/Kopzeile:
25910 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Marion Seibgen aus unterschiedlichen Leistungsgesetzen, nämlichdem SGB II und dem BAföG, bewirkt würde.Die Linke fordert die demokratische Besetzung desBAföG-Beirates und weitere Kompetenzen. Verehrte Kol-leginnen und Kollegen, die plurale Zusammensetzungdes BAföG-Beirates ist in § 44 Abs. 2 BAföG gesetzlichgewährleistet. Die demokratisch legitimierte Bundesre-gierung hat in der hierzu erlassenen BeiratsverordnungEinzelheiten zu den Vorschlagsrechten der gesetzlich ge-nannten Institutionen geregelt. Das Berufungsverfahrenerfolgt danach durch die demokratisch legitimierte zu-ständige Bundesministerin im Zusammenspiel mit demBundesrat. Ein demokratischeres Besetzungsverfahrenist kaum vorstellbar.Der gesetzliche Beratungsauftrag „bei der Durchfüh-rung des Gesetzes, der weiteren Ausgestaltung dergesetzlichen Regelung der individuellen Ausbildungsför-derung und der Berücksichtigung neuer Ausbildungsfor-men“ ist so eindeutig weit gefasst, dass ich mir nicht vor-stellen kann, welche nochmals erweiterten Kompetenzenwohl gemeint sein könnten.Die Forderung, die Anhebung der Bedarfssätze undFreibeträge an die Steigerung der studentischen Lebens-haltungskosten und allgemeinen Einkommensentwick-lungen zu koppeln, ist eigenartig. Diese Forderung ausder Opposition ist zwar altbekannt. Aus gutem Grundnimmt § 35 BAföG für die inhaltliche Vorgabe der allezwei Jahre erscheinenden BAföG-Berichte auch die „fi-nanzwirtschaftliche Entwicklung“ gleichrangig nebender Entwicklung der Einkommensverhältnisse, Vermö-gensbildung und Lebenshaltungskosten in Bezug. Dassjeweils der konkreten Gesamtsituation vom Parlamentangemessen und bewusst in Abwägung zur Situation an-derer gesellschaftlicher Gruppierungen eine reflektierteAnpassungsentscheidung getroffen wird, ist eine abge-wogene gesetzgeberische Grundentscheidung. Sichabstrakt im Vorhinein statistischen Parametern zu unter-werfen, die ohne bewusste parlamentarische Entschei-dung zu automatischen ausgabenträchtigen Anhebungender BAföG-Leistungen und -Freibeträge führen würden,käme einer Selbstentmachtung des demokratisch legiti-mierten, aber eben verfassungsrechtlich als Gesetzge-bungsorgan zur verantwortlichen Entscheidung berufe-nen Parlaments gleich. Die Linke möchte also mal mehrund mal weniger Demokratie.Für mich stellt der Antrag der Linken realitätsferneund unbezahlbare Forderungen dar. Nach unseren Vor-stellungen sollte der Staat nur dort Hilfe leisten, wo dieFamilie die Studienfinanzierung aus eigener Kraft nichtleisten kann. Dies wird in vielen Punkten völlig ignoriert.Daher lehnen wir den Antrag ab.
Erst vor ein paar Wochen haben wir das ThemaBAföG diskutiert. Herauszustellen gilt – das ist nach-weisbar –: Das BAföG ist ein zentrales Instrument fürjunge Menschen, wenn es um die echte Chancengleich-heit in der Bildung geht. Es gibt auch heute keinenGrund, einen Deut von dieser Position abzuweichen.Zu ProtokollDer gerade verabschiedete Regierungsentwurf für dasBMBF legt mit rund 10,3 Milliarden Euro erneut einenRekordhaushalt vor. Die Zahlen verdeutlichen, dass dieGroße Koalition ihre Priorität für Bildung und For-schung fortsetzt und an Rot-Grün anknüpft, auch unterden schwierigen Bedingungen, mit denen wir uns durchdie Wirtschafts- und Finanzkrise konfrontiert sehen. Die18 Milliarden Euro für Studienplätze und Forschung, dieBund und Länder vor kurzem beschlossen haben, sindeine erstaunliche Leistung in den Zeiten der Finanzkrise.Die SPD-Bundestagsfraktion versteht sehr gut dasEngagement der vielen jungen Menschen, das sich in denletzten Wochen auf der Straße, beim „Bildungsstreik“ ge-zeigt hat. In etwa 70 Städten gab es Proteste. Der Streikist ein deutliches Signal und zeigt uns, dass wir in unse-ren Reformanstrengungen nicht nachlassen dürfen. Bil-dung für alle, Bildung von Anfang an, mehr Lehrer, keineElite, keine Studiengebühren, bessere Studienbedingun-gen, das ist es, was die jungen Menschen auf der Straßefordern. In die Aufzählung gehören auch Krippenplätzeund Ganztagsschulen.Das sind die richtigen Ansätze für mehr und bessereBildung in Deutschland. Selbstverständlich müssen wirauch sagen: Das kostet. Der Bildungsetat wird vielesinnvolle und notwendige Maßnahmen in Zukunft nichtmehr so wie bisher finanzieren können. Wir als Sozial-demokraten stellen uns den Aufgaben und schlagen zurFinanzierung einen Solidarbeitrag für Bildung vor. Ichfinde es richtig, wenn sehr hohe Einkommen für daswichtige und berechtigte Anliegen für gleiche Chancenauf bessere Bildung herangezogen werden: zweckgebun-den, nachhaltig und gerecht.Mit unserer Forderung nach einem Bildungssoli un-terstreichen wir unsere Auffassung, dass Bildung einMenschenrecht ist. Bildung ist auch ein ökonomischesGut, gerade für den Wissensstandort Deutschland. Sie istaber in erster Linie ein Wert an sich. Zukunftschancenund Teilhabe eines jeden Menschen hängen davon ab.Daher ist es nur folgerichtig, wenn wir auch fordern,dass die Gebühren quer durch die Bildungskette abge-schafft werden – angefangen bei der Kita bis zum Hoch-schulabschluss.Seitdem die SPD in der Regierung Verantwortungträgt, haben wir unserer Auffassung Taten folgen lassenund Deutschland sowohl das größte Schulreformpro-gramm, das größte Programm zum Ausbau von Studien-plätzen als auch das größte Investitionsprogramm für dieBildungsinfrastruktur verordnet. Konkret heißt das:4 Milliarden Euro für Ganztagsschulen, 4 Milliarden fürden Kita-Ausbau, über 365 000 zusätzliche Studienplätzebis 2015, 9 Milliarden für die Sanierung von Kitas, Schu-len und Hochschulen im Konjunkturpaket und die bereitserwähnten 18 Milliarden für die Fortsetzung der Hoch-schul- und Wissenschaftsinitiativen bis 2019. Hinzukom-men zwei BAföG-Erhöhungen für mehr Chancengleich-heit beim Hochschulzugang.Klar ist aber auch, dass es nach wie vor enorme He-rausforderungen gibt. Die Kritik der Studierenden an dennegativen Auswirkungen des Bologna-Prozesses nehmenwir als SPD-Bundestagsfraktion ernst. Dennoch halten
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25911
gegebene Reden
(C)
(D)
Jürgen Kucharczykwir an der Studienreform und der Einführung gestufterStudiengänge fest, sehen aber teilweise deutlichen Kor-rekturbedarf in der konkreten Umsetzung und Ausgestal-tung. Es muss wieder mehr auf Substanz als auf Tempogesetzt werden.Bildung ist eine Kernaufgabe des Staates. Mit unse-rem klaren Bekenntnis zum Bildungssoli als Aufschlagauf den Spitzensteuersatz wollen wir dringend notwen-dige Bildungsmaßnahmen finanzieren. Das ist unser Vor-schlag, und ich freue mich auf die kooperative Bund-Länder-Zusammenarbeit in Bildung und Wissenschaft.
Der Antrag der Fraktion Die Linke zum BAföG ist das,
was man gemeinhin einen Schaufensterantrag nennt,
dessen Bewertung wir heute zu nächtlicher Stunde zu
Protokoll geben.
Es müsste auch der Linken klar sein, dass dieser An-
trag mit seinen weitreichenden systematischen Verände-
rungen und finanziellen Folgen und nach den erhebli-
chen Erhöhungen der Bedarfssätze und der Freibeträge
in dieser ablaufenden Legislaturperiode, die maßgeblich
von der SPD durchgesetzt wurden, nicht in den letzten
paar Sitzungswochen verabschiedet werden konnte. Dies
zeigt, dass dieser Antrag nie ernst gemeint war. Dort, wo
die Linke auf Landesebene mitregiert, wäre ein solcher
Antrag chancenlos. Er ist es auch auf Bundesebene.
Die SPD stimmt folgendem Sammelsurium nicht zu:
einerseits richtige Forderungen, wie zum Beispiel die
Wiedereinführung des Schüler-BAföGs, andererseits
überflüssige bzw. falsche Forderungen, wie die in Nr. 3
genannte BAföG-Förderung des Masters, die längst
möglich ist; dann, die teilweise richtige begrenzte Anhe-
bung der Altersgrenze, die die Linke aber gänzlich fallen
lassen will, und zum guten Schluss wieder illusionäre,
nicht finanzierbare und gleichzeitig ungerechte Zielvor-
stellungen wie eine elternunabhängige Studienförderung
für alle Studierenden ohne Rückzahlungsverpflichtung.
Dieser Antrag illustriert, was diejenigen meinen, die
der Linken den Rücken kehren und von einer zunehmend
illusionären Politik sprechen. Es erübrigt sich deshalb,
hier auf jeden einzelnen Vorschlag einzugehen, nachdem
der genannte Antrag offensichtlich nie ernst gemeint war
und nur dazu dienen sollte, diejenigen, die nicht zustim-
men, „vorzuführen“. Dies sei der Linken unbenommen.
Diejenigen, die auch nur ein wenig vom BAföG verste-
hen, werden diesen Antrag einzuordnen wissen.
Vor wenigen Monaten hat der Deutsche Bundestag dieBAföG-Sätze und die Freibeträge angehoben. Für dieseVerbesserung der finanziellen Situation der BAföG-Empfänger haben die Koalitionsfraktionen und die FDP-Fraktion gestimmt. Für die beschlossene Anhebung derBedarfssätze um 10 Prozent und der Freibeträge um8 Prozent muss der Steuerzahler künftig zusätzlich mehrals 300 Millionen Euro aufbringen. Die FDP war und istder Überzeugung, dass es sich nicht zuletzt sozialpoli-tisch lohnt, aufstrebenden jungen Menschen bei BedarfZu Protokollunter die Arme zu greifen und ihnen den Schritt an dieHochschulen zu erleichtern.Offensichtlich bewerteten die Linken dies anders undlehnten diese vernünftige Gesetzesnovelle ab. Nun,einige Monate später und unter dem Eindruck des sichnähernden Wahltages greift man die Thematik erneut aufund fordert, in gewohnter „Wünsch-dir-was-Manier“,eine realitätsferne Rundumversorgung für Studierende.Diese Art von Bedingungen abgekoppelter, leistungs-unabhängiger Alimentierung einiger weniger Studieren-der auf Kosten des Steuerzahlers können und werden wirnicht unterstützen. Das wäre hochgradig unsozial, sowohlder Allgemeinheit als auch dem Gros der Kommilitonengegenüber. Zum Studentensein gehört mehr als nur dieArbeit im Hörsaal, Lesesaal und Labor. Wenn wir früherzwischen Studenten und Studierenden unterschieden ha-ben, dann war damit die Lücke gemeint, die man sich zumGenießen des Lebens geschaffen und auch dazu genutzthat. Das ist normal, das ist auch legitim unter der Bedin-gung, dass man das Wesentliche nicht aus dem Auge ver-liert: den Erfolg im Studium. Deshalb gilt, bei allem Ver-ständnis für die Besonderheiten des Studentenlebens: Zurstudentischen Freiheit gehört auch die Freiheit zumNichtstun, aber nicht auf Kosten der Allgemeinheit! Undgenau dieser Grundsatz soll mit dem vorliegenden An-trag ausgehebelt werden. Das machen wir nicht mit!Die Förderstruktur im Bereich der akademischen Aus-bildung muss ebenso differenziert und vielfältig sein wiedie von ihr zu unterstützenden Menschen. Natürlichbedürfen studierende Mütter anderer Angebote als Per-sonen, die über die berufliche Ausbildung, möglicher-weise als Handwerksmeister, an die Hochschule gelan-gen und ihr Wissen vertiefen möchten. Und natürlichspielen der familiäre Hintergrund, das Umfeld der Stu-dierenden eine gewichtige Rolle.Gerade diesen Aspekt lässt der Antrag der Linken imWesentlichen unberücksichtigt. Wir haben mehrfach da-rauf hingewiesen, dass jeder zehnte Studierende die Voll-förderung per BAföG erhält. Laut Erhebung des Studen-tenwerks müssen doppelt so viele Studenten mit deutlichweniger Geld als dem BAföG-Höchstsatz ihr Lebenbestreiten. Um es ganz klar zu sagen: Nicht die BAföG-Höchstsatz-Empfänger bereiten uns Kopfzerbrechen, son-dern die vielen Studenten aus Elternhäusern mit mittleremEinkommen, die trotz eines nach dem Gesetz ausreichen-den Bruttoeinkommens ihre Kinder eben nicht in dererforderlichen Form unterstützen können. Hierzu trägtauch die Orgie an Steuererhöhungen bei, die die schwarz-rote Koalition in den letzten vier Jahren hier geboten hat.Deshalb müssen wir heute endlich erkennen, dass wirdringend Unterstützungsinstrumente neben dem BAföGbrauchen.Die FDP hat sich aus dieser Erkenntnis heraus bereitsin den vergangenen Monaten wiederholt dafür eingesetzt,dass mindestens jeder zehnte Studierende in den Genusseines Stipendiums kommt. Unsere Vorstöße – und hier seinochmals dem FDP-Innovationsminister Pinkwart inNRW gedankt – wurden allesamt mit fadenscheiniger Be-gründung von der SPD blockiert und zunichte gemacht.Leidtragende sind die Studierenden. Nun wird das Land
Metadaten/Kopzeile:
25912 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Uwe BarthNordrhein-Westfalen in dieser Frage zunächst alleineagieren. Die Konzeption eines kooperativen Stipendien-wesens, bestehend aus öffentlicher und privater Finan-zierung, werden wir aber auch in Zukunft mit aller Kraftvorantreiben.Neben den Stipendien brauchen wir ein reichhaltigesAngebot an kostengünstigen Studiendarlehen und einAnreizsystem zur Förderung des privaten Bildungsspa-rens. Wir müssen potenzielle Akademiker frühzeitig undprofessionell über die existierenden Möglichkeiten derStudienfinanzierung informieren. Es ist erschreckend, inwelchem Maße die linken Gruselgeschichten und Mythenüber Verschuldungskarrieren bei jungen Menschen fürVerwirrung sorgen. Hier werden auf höchst unverant-wortliche Weise Ängste geschürt, die gerade bei jungenMenschen aus bildungsfernen und einkommensschwachenElternhäusern auf fruchtbaren Boden fallen sollen. Ichkann diesen jungen Menschen nur raten: Glauben Siediesen Unheilsverkündern nicht! Informieren Sie sich,lassen Sie sich beraten, entscheiden Sie selbst über IhreZukunft, es ist nämlich auch Ihre eigene Zukunft um diees geht und nicht die Zukunft einer international histo-risch grandios gescheiterten Ideologie von vorgestern.Wie haltlos die linken Schauermärchen sind, zeigen em-pirische Erhebungen. Das Durchschnittseinkommen vonAkademikern rangiert zehn Jahre nach Abschluss des Stu-diums zwischen durchschnittlich 87 000 Euro – Wirt-schaftsingenieure – und 45 300 Euro – Lehrer. Durch-schnittseinkommen! Davon kann man auch einen Kreditzurückzahlen, das machen übrigens die allermeistenBAföG-Empfänger auch. Bis zu 10 000 Euro zahlen diezurück. Das beweist, dass es geht. Und ganz nebenbei:Wer will angesichts dieser doch beträchtlichen Renditefür die Investition „Studium“ Klein- und Geringverdie-ner dazu verdonnern, Studierenden das Studium nebstLebenshaltungskosten per Steuer voll zu bezahlen?Wir müssen Studierende in die Lage versetzen, die mitdem Studium in Verbindung stehenden Kosten finanzierenzu können. Sie brauchen hierzu Hilfestellungen, Ange-bote und Anreize aber keine staatliche Vollversorgungund keine roten Unheilspropheten. Deswegen lehnen wirdiesen Antrag ab.
Die Linke fordert in ihrem vorliegenden Antrag, dasBundesausbildungsförderungsgesetz an die Studienreali-täten anzupassen und eine Strukturreform vorzubereiten.Zu diesem wichtigen Schritt sind Sie jedoch weiterhinnicht bereit. Damit stehen Sie für eine Politik, die die In-teressen der Studierenden nur unzureichend wahrnimmtund die Hochschulen weiterhin sozial abriegelt.Am Montag veröffentlichte das Allensbach-Instituteine repräsentative Umfrage zur Studienfinanzierung.Die Ergebnisse müssten auch Rot-Schwarz zu denken ge-ben: Über zwei Drittel aller Studieninteressierten habenAngst vor hohen finanziellen Belastungen während desStudiums. Gut jede Dritte bzw. jeder Dritte ist besorgtwegen möglicher Schulden nach dem Studienabschluss.Studierende, die die Finanzierung ihres Studiums als sehrZu Protokollschwer einstufen, denken sechsmal häufiger ernsthaftüber den Abbruch des Studiums nach als Studierende, dieihr Studium sehr leicht finanzieren.Diese Zahlen unterstreichen einmal mehr die Rele-vanz unseres heute vorliegenden Antrags. Studieninteres-sierte und bereits eingeschriebene Studierende an denHochschulen brauchen eine verlässliche Studienfinan-zierung. Das BAföG ist hierfür eine wichtige Errungen-schaft, denn es bietet einen Rechtsanspruch auf Studien-finanzierung. Wer Studierenden unabhängig von ihrersozialen Herkunft ein erfolgreiches Studium sichern will,muss mindestens dafür sorgen, dass das BAföG regelmä-ßig den Lebenshaltungskosten und den Studienrealitätenangepasst wird. Dieser Herausforderung sind Sie in die-ser Legislaturperiode nicht nachgekommen. Ihre BAföG-Novelle kam viel zu spät und war viel zu zögerlich, unddarüber hinaus fehlten wichtige strukturelle Anpassun-gen, die wir mit unserem Antrag einfordern. Insbeson-dere betrifft dies den Anpassungsbedarf, der sich aus derStudiensituation der neuen Bachelor-/Master-Studien-gänge ergibt.Außerdem verweigern Sie sich der Debatte um einesoziale Neustrukturierung der Studienfinanzierung. Inunserem Antrag schlagen wir hierzu ein Zweisäulenmo-dell vor. Der erste Korb soll aus einem für alle Studieren-den einheitlichen Sockelbetrag bestehen, in dem allekindbezogenen Transferleistungen und Freibeträge zu-sammengefasst werden und direkt an die Studierendenfließen. Der zweite Korb soll aus einem – in einem erstenSchritt elternabhängigen – Zuschussteil bestehen, derschrittweise hin zur Elternunabhängigkeit ausgeweitetwird.Mit diesem Modell schlagen wir zwei Fliegen mit ei-ner Klappe: Zum Ersten wäre das Modell sozial gerech-ter, da Studierende, die heute bedarfsorientiert BAföG er-halten, aber nach dem Studium mit der Rückzahlungihrer BAföG-Schulden konfrontiert sind, künftig von An-fang an einen Vollzuschuss erhielten und deshalb keineSchulden machen müssten. Dieser Schritt könnte vieldazu beitragen, dass die Hochschulen sozial geöffnetwerden.Zum Zweiten nimmt das Modell Studierende als er-wachsene Menschen ernst, indem es ihnen elternunab-hängig eine Finanzierung des Studiums garantiert. Klarmuss hierbei sein, dass Gutverdienende und Vermögendemit diesem Schritt nicht aus der Verantwortung für dieStudienfinanzierung entlassen werden. Wer behauptet,sie würden durch dieses Modell bevorteilt, handelt grobfahrlässig. Nach unseren Forderungen würden sie durcheine sozial gerechte Steuerpolitik maßgeblich an der Fi-nanzierung beteiligt. Wegfallen würde aber die Abhän-gigkeit der Studierenden von ihren Eltern.Verbunden mit unserer Forderung nach Gebührenfrei-heit des Studiums wäre auf diese Weise ein großer Schrittgetan, um allen Studieninteressierten unabhängig von ih-rer sozialen Herkunft ein erfolgreiches Studium zu si-chern.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25913
gegebene Reden
(C)
(D)
Über 200 000 junge Menschen sind während des bun-desweiten Bildungsstreikes im Juni für ein gerechteresund besser ausfinanziertes Bildungssystem auf die Straßegegangen. Dieser Protest war richtig und wichtig. Die-sen lauten Ruf nach einer neuen Bildungsoffensive dür-fen wir nicht überhören. Allerdings brauchen wir dafüreinen Kurswechsel – weg von früher sozialer Auslese undZugangshürden hin zu mehr individueller Förderung,gleichen Chancen und Aufstiegsmöglichkeiten für alle.Immer sonntags hat die Bundesregierung die Bil-dungsrepublik ausgerufen, die sich werktags als Etiket-tenschwindel entpuppte. Offenkundig wurde dies unteranderem bei den bildungsfeindlichen Föderalismusrefor-men I und II, der chronischen Unterfinanzierung unseresBildungssystems, dem fortdauernden Zulassungschaosan den Hochschulen und bei der phantasielosen Umset-zung des Bologna-Prozesses.Nicht viel besser fällt die Bilanz bei der Studienfinan-zierung aus. Ohne den Druck von uns Oppositionsfrak-tionen und der Bildungspolitiker der SPD würden dieStudierenden noch heute auf eine Erhöhung des BAföGwarten und weitere Nullrunden drehen. Ohne starkeGrüne würde die staatliche Studienfinanzierung – auchin der kommenden Wahlperiode – am seidenen Fadenhängen. Nach der falschen Ideologie „Privat vor Staat“wandeln Union und FDP weiterhin auf dem Studienge-bühren- und Studienkredit-Irrweg. Dabei steht derjenige,der sein Bachelor- und Master-Studium komplett über ei-nen KfW-Studienkredit finanzieren will, am Ende vor ei-nem Schuldenberg von rund 70 000 Euro. Und das istschon vergleichsweise „günstig“: Gemäß den Zinssätzenvon Oktober 2008 wäre das kreditfinanzierte Studiumnoch einmal rund 25 000 Euro teurer. Kein Wunder, dassselbst die KfW davon abrät, ein Studium komplett überKredite zu finanzieren.Für Abiturienten sind laut DSW-Sozialerhebungen,verschiedenen HIS-Studien und einer aktuellen Untersu-chung des Reemtsma-Begabtenförderwerks Finanzie-rungsprobleme und Verschuldungsängste die Hauptargu-mente gegen die Aufnahme eines Studiums. MitBildungskrediten werden aber keineswegs mehr jungeMenschen motiviert, ein Studium aufzunehmen, wie Mi-nisterin Schavan uns weismachen will. Eher ist das Ge-genteil der Fall.Auch Stipendien sind nach wie vor kein Ausweg ausder Finanzierungsklemme, weil nur zwei Prozent allerStudierenden davon profitieren. Angesichts dieser be-schämend niedrigen Stipendiatenquote bleibt Deutsch-land hochschulpolitisches Entwicklungsland. Besondersdie Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände haben hiereine Bringschuld und Verantwortung, ihre vollmundigenVersprechen über eigene Stipendiensysteme einzulösen.Das BAföG zu glorifizieren und unter eine Käseglockezu stellen, wie es die SPD macht, trägt allerdings auchnicht. Das BAföG hat zwar als wichtige sozialpolitischeLeistung in den letzten Jahrzehnten entscheidend dazubeigetragen, dass überhaupt finanzschwachen und bil-dungsfernen Schichten der Zugang zu Hochschulreifeund Hochschulstudium ermöglicht wurde. Das BAföGZu Protokollmit seiner Mischung aus Zuschuss und Darlehen konnteaber nicht verhindern, dass der Anteil der Kinder aushochschulfernen Gruppen, der ein Hochschulstudiumaufnimmt, immer weiter abgenommen hat. Wer einen ge-samtgesellschaftlichen Bildungsaufbruch will, muss diestaatliche Studienfinanzierung so gestalten, dass alleStudienberechtigten einen Anreiz haben und finanziell indie Lage versetzt werden, tatsächlich ein Studium aufzu-nehmen.An diesem Ziel gehen die Vorstellungen der Linkenvorbei. Nachdem die Fraktion in ihrem Antrag noch vageVorstellungen für eine strukturelle Weiterentwicklung desBAföG und für ein Zwei-Körbe-Modell skizziert hat,fordert die Partei in ihrem Bundestagswahlprogrammnun eine „elternunabhängige, bedarfsdeckende und re-pressionsfreie Grundsicherung“. Dies ist nicht nur einZickzackkurs, sondern in erster Linie ein Geschenk fürStudierende aus Gut- und Besserverdiener-Haushalten.Studierenden aus einkommensreichen Elternhäusern eingenauso hohes bedingungsloses Studierendengrundein-kommen à la Linkspartei zu überweisen wie Studierendenaus einkommensarmen Familien, verletzt und konterka-riert soziale Gerechtigkeit und ist alles andere als zielge-nau.Unser Ziel ist es, an den Hochschulen unterrepräsen-tierte Gruppen stärker für ein Studium zu gewinnen. Die-sem Anspruch gerecht wird das grüne Zwei-Säulen-Mo-dell. Damit wird die staatliche Studienfinanzierunggestärkt und auf breitere Füße gestellt. Unser grünesModell umfasst und kombiniert zwei Säulen: den Studie-rendenzuschuss und den Bedarfszuschuss. Mit dem Stu-dierendenzuschuss erhalten alle Studierenden einen So-ckel, der einen Einstieg in eine elternunabhängigeFinanzierung des Lebensunterhalts von Studierendendarstellt. Zur Gegenfinanzierung werden das bisherigeKindergeld sowie steuerliche Freibeträge in den neuenStudierendenzuschuss überführt. Diese familienbezoge-nen Leistungen kommen dann direkt den Studierendenzugute. Dies ist ein innovativer Perspektiven- und Para-digmenwechsel.Das grüne Zwei-Säulen-Modell umfasst zusätzlicheine starke und unerlässliche soziale Komponente: Die-ser Bedarfszuschuss ist anders als das derzeitige BAföGals nicht zurückzuzahlender Zuschuss ausgestaltet. Ausfinanziellen Gründen liegen in den einkommensarmenund bildungsfernen Familien derzeit die meisten Bil-dungspotenziale brach. Daher begünstigen wir diese Stu-dierenden über den Bedarfszuschuss gezielt. Der neueHöchstsatz läge nach unserem Modell bei 800 Euro, alsoüber dem des heutigen BAföG. Wir wollen damit mehrTeilhabe- und Verteilungsgerechtigkeit sicherstellen.Das neue grüne Zwei-Säulen-Modell leistet einen ent-scheidenden Beitrag zur dringend notwendigen sozialenÖffnung unserer Hochschulen. Die neue Studienfinanzie-rung erfordert eine ambitionierte Reform, die zugleichpolitisch umsetzbar und gut vermittelbar wäre. Bei derReform der Studienfinanzierung setzen wir – im Gegen-satz zu Union und FDP – auf die Leitbilder des mündigenStudierenden und auf „Staat vor Privat“. Zugleich leh-
Metadaten/Kopzeile:
25914 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25915
(C)
(D)
Kai Gehringnen wir eine ungerechte Gießkannen-Förderung à laLinksfraktion ab.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/13592, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/12688 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
mehrheitlich angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 43 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Alexander Bonde, Anna Lührmann, Omid
Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenz bei Konjunkturpaketen sicher-
stellen
– Drucksache 16/12475 –
Wir befinden uns in einer wirtschaftlichen Ausnahme-
situation. Wir erleben zurzeit die schwerste Wirtschafts-
krise der Bundesrepublik. Viele Unternehmen und damit
ganze Wirtschaftsstrukturen sind unverschuldet in ihrer
Existenz bedroht. Soziale Marktwirtschaft bedeutet, dass
der Staat sich in einer solchen Situation handlungsfähig
zeigt, um dafür zu sorgen, dass der Markt funktionsfähig
bleibt.
Wir haben es nicht nur mit einer Finanzkrise zu tun
– wie man in der Anfangsphase der Krise vielleicht noch
hoffen konnte –, sondern mit einer massiven Wirtschafts-
krise. Der Krisenverlauf war leider nicht V-förmig. Wir
kommen aufgrund der massiven Infizierung auch der
Realwirtschaft nicht genauso schnell wieder aus der
Krise heraus, wie wir hereingekommen sind. Um die
Krise zu bewältigen, ist es also nicht damit getan, die
Finanzmärkte zu stabilisieren. Dies ist nur die erste Vor-
bedingung. Viel schwieriger wird es, die realwirtschaftli-
che Krise zu überwinden.
Eine gute Lösungsanalyse beginnt ja immer mit einer
guten Ursachenanalyse. Wie hat sich aus dieser Finanz-
krise eine massive Wirtschaftskrise mit einer weltweiten
Rezession entwickelt? Erstens weil das Geld knapper ist.
Konsum und Investitionen auf Kredit sind nur noch ein-
geschränkt möglich. Zweitens weil weltweit Vertrauen
verloren gegangen ist und sich die Wachstumserwartun-
gen deutlich gemindert haben. Und drittens ist Deutsch-
land durch seine hohe Exportquote ganz besonders
davon betroffen, dass die Auslandsmärkte massiv einge-
brochen sind.
Aufgrund der unterschiedlichen Ursachen und Aus-
prägungen der Krise ist es auch richtig, dass wir ihr mit
einem sehr breiten Ansatz begegnen. Das Krisenmanage-
ment basiert daher auf mehreren Säulen, um die
verschiedenen Ursachen der Krise zu bekämpfen. Die
Konjunkturpakete sind als schnelle Reaktion auf den Ein-
bruch der Konjunktur notwendig gewesen. Der Staat ist
derzeit der einzige Akteur, der in der Krise Impulse gegen
den Trend setzen kann. Denn die Unternehmen und pri-
vaten Haushalte passen sich zwangsläufig den schwieri-
geren Finanzierungsbedingungen und der negativen
Marktlage an. Sie investieren und konsumieren weniger.
Darum sind in der jetzigen Krisenzeit die Staaten ge-
fragt, der Gefahr einer Abwärtsspirale schnell entgegen-
zutreten. In den Konjunkturpaketen finden sich Elemente
von Nachfragepolitik ebenso wie Elemente von Angebots-
politik.
Die Konjunkturpakete sind also kein unkoordiniertes
Sammelsurium verschiedenster Maßnahmen, wie Sie von
den Grünen schreiben, sondern ein ganz bewusstes Ein-
greifen auf breiter Front, sowohl nachfrage- als auch an-
gebotsseitig. Nachfrageseitig wird die private Nachfrage
durch die Einkommensteuersenkung oder beispielsweise
durch die Umweltprämie gestärkt. Die staatliche Nach-
frage wird durch die massive Ausweitung der staatlichen
Investitionen in diesem und dem nächsten Jahr ausge-
dehnt. Angebotsseitig sind insbesondere die Forschungs-
zuschüsse und das Kredit- und Bürgschaftsprogramm der
Bundesregierung hervorzuheben. Wir erleichtern damit
gerade kleineren und mittelständischen Betrieben, Inves-
titionen vorzunehmen, obwohl sie unter erschwerten Kre-
ditfinanzierungsmöglichkeiten leiden.
Ein wesentlicher Aspekt der Konjunkturpakete sind
die zusätzlichen Investitionen in Bildung, Forschung und
Verkehrsinfrastruktur. Damit schaffen wir es, Deutsch-
land in wichtigen Bereichen besser aufzustellen und, wie
man so schön sagt, „stärker aus der Krise herauszukom-
men, als wir hineingegangen sind“. Die Philosophie des
Paketes besteht im Wesentlichen darin, dass langfristig
sinnvolle Investitionen, die sowieso getätigt werden müs-
sen, jetzt vorgezogen werden.
Die vielen Maßnahmen kosten uns heute viel Geld.
Wir müssen für diese Investitionen Schulden machen.
Das ist momentan ohne Alternative. Aber anders als in
früheren Zeiten haben wir uns auf einen Rückzahlungs-
plan geeinigt. Dafür werden die Investitionen des Bundes
aus einem „Investitions- und Tilgungsfonds“ genannten
Sondervermögen bezahlt. Das Bundesministerium der
Finanzen unterrichtet regelmäßig über den Stand der
Einnahmen und Ausgaben dieses Fonds. Dass so ein Mo-
dell erfolgreich sein kann, hat der Erblastentilgungs-
fonds gezeigt.
Es ist natürlich immer richtig, ein hohes Maß an
Transparenz zu fordern. Ich halte jedoch ein Internetre-
gister für alle Maßnahmen des Konjunkturpaketes für
überflüssig. Das schafft nur noch mehr Förderbürokra-
tie. Die entsprechenden Kontrollgremien, sei es auf Bun-
des- oder auf Landes- und kommunaler Ebene, sind
vorhanden. Jetzt geht es darum, die bewilligten Mittel so
schnell wie möglich – zum Teil im wahrsten Sinne des
Wortes – auf die Straße zu bringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie
schreiben: „Die außerordentliche Größenordnung der
Mittel erfordert besondere Kontrollmöglichkeiten durch
die Öffentlichkeit.“ Ich frage mich, warum wir bei den
Konjunkturpaketen spezielle Kontrollmöglichkeiten
(C)
(D)
Dr. Ole Schröder
brauchen, die anders ausgestaltet werden als bei anderen
Ausgaben im Haushalt.
Wir haben Vertrauen in unsere Kommunen. Wir haben
uns ganz bewusst dafür entschieden, dass ein Großteil
der Mittelvergabe über die Kommunen läuft. Diese wis-
sen zusammen mit den Ländern am besten, wo sie das
Geld für sie am sinnvollsten einsetzen.
Das wird uns natürlich nicht davon abhalten, die Mit-
telvergabe im Einzelfall genauestens zu überprüfen und
notfalls auch die Rückzahlung von Bundesmitteln durch-
zusetzen, wenn die Mittel nicht gemäß den Kriterien ver-
wendet wurden. Hierbei wird uns insbesondere der Bun-
desrechnungshof helfen. Wir als Parlamentarier werden
unserer Kontrollpflicht ebenfalls gerecht werden.
Um es gleich vorweg zu sagen: Die beiden Konjunk-turpakete mit einem Umfang von 81 Milliarden Euro ver-folgen ein Konzept, mit dem wir den weltweiten Konjunk-tureinbruch zwar nicht vermeiden, aber in Deutschlandmit seiner großen Exportabhängigkeit zumindest abzufe-dern versuchen. Sie beinhalten einen ausgewogenen Mixan Maßnahmen, mit dem wir Arbeitsplätze in unseremLand in dieser Ausnahmesituation sichern wollen.Ja, wir haben es erfunden, wie BundesaußenministerFrank-Walter Steinmeier zu Recht auf dem SPD-Partei-tag sagte. Wir Sozialdemokraten haben dabei weitgehenddie Vorschläge des Vizekanzlers in konkretes Regierungs-handeln umgesetzt, etwa mit dem Investitionsprogrammfür Bildung und Infrastruktur. Die Anhebung des steuer-lichen Grundfreibetrages im Einkommensteuergesetz,die Senkung des Eingangssteuersatzes, der Kinderbonusvon 100 Euro pro Kind, die besseren Sozialleistungen fürKinder sowie die Senkung der Krankenkassenbeiträgesind Errungenschaften, von denen Familien und Arbeit-nehmer profitieren und zu denen wir uns deshalb gernebekennen. Zugleich haben wir erreicht, dass die Bun-desagentur für Arbeit einen Teil der Sozialbeiträge fürKurzarbeiter übernimmt und das Kurzarbeitergeld auf24 Monate ausgeweitet hat, um Beschäftigung in derKrise zu sichern.Und auch das ist wahr: Sowohl der CDU/CSU alsauch den Grünen fehlten die Alternativen oder die großeIdee. Es kommt deshalb nicht von ungefähr, dass das vonuns konzipierte Konjunkturprogramm II bei Expertenallenthalben auf ein positives Echo stößt: „Die Richtungstimmt“, lobte etwa der DGB. Die Erhöhung der Regel-sätze für Kinder im Bereich des Arbeitslosengeldes IIwurde von den Fachleuten ebenfalls begrüßt. Auch dasDeutsche Institut für Wirtschaftsforschung unterstützte ineiner Anhörung des Haushaltsausschusses das Konjunk-turprogramm. Es sei im europäischen Vergleich respekta-bel. Die Wirkung der sogenannten Abwrackprämie, dieauf Initiative der SPD in das Konjunkturprogramm auf-genommen wurde, verdeutliche, was schnelle Maßnah-men bringen können, unterstrich der DGB. Die Bundes-vereinigung der kommunalen Spitzenverbände lobte dievorgesehenen Maßnahmen zur Verbesserung der Infra-struktur in den Städten und Gemeinden. Es sei hochgra-Zu Protokolldig vernünftig, das Geld zum größten Teil in den Bil-dungsbereich zu investieren. Der BDI-Präsident sagte im„Handelsblatt“, die Bundesregierung habe entschlossenund im Großen und Ganzen richtig agiert. Die gleicheQuelle zitiert den Vorsitzenden des Sachverständigenra-tes, Wolfgang Franz: Die Bundesregierung hat auf dieFinanzkrise schnell und angemessen reagiert. Mit denInvestitionen hat sie ein wachstumspolitisch vertretbaresKonjunkturprogramm in Gang gesetzt.Unsere Konjunkturpakete sind beispielgebend. So hatetwa Barack Obama in den Vereinigten Staaten mit„Cash for Clunkers“ die von Frank-Walter Steinmeierkonzipierte Umweltprämie für Neufahrzeuge, mit der Ar-beitsplätze in der Automobilindustrie gesichert werden,geradewegs übernommen.Was machen wir im Einzelnen? Wir investieren in dieZukunft und sichern damit Arbeitsplätze. Gerade die be-schlossenen Maßnahmen zur Ankurbelung kommunalerInvestitionen im Bildungsbereich sind besonders geeig-net, Geld dorthin zu lenken, wo es dringend gebrauchtwird und wo es andererseits direkt in den Wirtschafts-kreislauf zurückfließt. Besonders als Hauptberichterstat-ter für den Etat des Bundesministeriums für Bildung undForschung kann ich vollen Herzens und guten Gewissensdie Investitionen in Kindertagesstätten, Schulen oderUniversitäten nur begrüßen. Und die Mittel kommen an.Mein Bundesland, Rheinland-Pfalz, ist hier vorbildlich.Zwei von drei abgerufenen Euros aus dem Investitions-programm des Konjunkturpaktes II gingen bislang dort-hin. Und ja, ich bin stolz darauf, dass es uns im Haushalts-ausschuss gelungen ist, bereits im Konjunkturpaket Izusätzliche 200 Millionen Euro für die Wissenschafts-organisationen in Deutschland zu mobilisieren. Mit alldiesen Maßnahmen erhalten vor allem kleine und mitt-lere Unternehmen speziell im Handwerk vor Ort Auf-träge und sichern Arbeitsplätze.Wir sichern Beschäftigung. Gerade die arbeitsmarkt-politischen Maßnahmen wie die Verlängerung der Be-zugszeit für das Kurzarbeitergeld und die Förderung vonFortbildungsmaßnahmen sind von enormer Bedeutungfür die von Arbeitslosigkeit bedrohten Beschäftigten. DieBundesagentur für Arbeit stellt in jedem Monatsberichteindrucksvoll dar, wie Arbeitslosigkeit, gerade auch imVergleich zu Ländern um uns herum, durch Kurzarbeitund die Neuregelung des Kurzarbeitergeldes vermiedenwerden konnte. Die regionalen Arbeitsmarktstatistikenbelegen dies aktuell sehr deutlich.Mit dem „Wirtschaftsfonds Deutschland“ im Umfangvon 115 Milliarden Euro gewähren wir Finanzhilfen ins-besondere für mittelständische Unternehmen, die unver-schuldet in Liquiditätsschwierigkeiten geraten sind undeine wirtschaftliche Perspektive haben. Die im Haus-haltsauschuss dargelegten Zahlen von bislang 1 375 An-trägen, davon exakt 1 331 aus dem Mittelstand, belegendies. Auch die eigenen Erfahrungen in meinem Wahl-kreis, wo mich täglich Nachfragen zu dem KfW-Pro-gramm aus dem Mittelstand erreichen, bestätigen mir dieNotwendigkeit des Fonds. Auch dieser sichert Beschäfti-gung. Arbeit ist allemal besser als Insolvenz. Dazu ste-
Metadaten/Kopzeile:
25916 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Klaus Hagemannhen wir. Darauf sollte insbesondere auch der Bundes-wirtschaftsminister achten.Wir kurbeln die Binnennachfrage an. Mit den steuerli-chen Verbesserungen für mittlere und untere Lohngrup-pen, den geringeren Krankenkassenbeiträgen, dem Kin-derbonus, und mit der verbesserten Absetzbarkeit vonKrankenversicherungsbeiträgen stärken wir in der Krisedie Kaufkraft gerade der unteren und mittleren Einkom-men, also derjenigen, die ihr Geld nicht gleich aufs Spar-buch packen oder in Zertifikaten anlegen, und damit dieInlandsnachfrage. Mit all diesen Maßnahmen wird dieKaufkraft um mehr als 21 Milliarden Euro gestärkt.Ich möchte auch nicht verhehlen, dass die Möglichkei-ten, jetzt, in der Krise zu handeln, erst durch Regierungs-politik der SPD gegeben sind. Was würden wir heutewohl tun ohne die mühsam errungenen Erfolge unsererArbeitsmarktpolitik, ohne Reserven in den Sozialkassenund bei der Bundesagentur für Arbeit? In diesen wirt-schaftlich schwierigen Zeiten muss insbesondere derStaat entschieden handeln können. Wir brauchen denmodernen Sozialstaat, wie er im Grundgesetz festge-schrieben ist. Und diesen Sozialstaat dürfen wir nichtdurch falsche Steuersenkungsversprechen künstlich armmachen – im Interesse der Mehrheit der Menschen, dersolidarischen Mitte.Nun zur Forderung der Grünen, die Transparenz beiden Konjunkturpaketen sicherstellen wollen. Die Kritikder Grünen ist hier völlig fehl am Platze. Selten wurdedie Umsetzung eines Programms so umfangreich imHaushaltsausschuss mit Sachstandsberichten bis hin zurInformation zu Einzelfallentscheidungen – sogar amPfingstsonntag zum Thema Opel – immer wieder beratenund überwacht. Es gibt eigene, vom Haushaltsausschussdurchgesetzte Kontrollgremien. Nein, ihr Antrag hilftkeinem und ist daher in der Sache nicht nötig.
Wir brauchen dringend mehr Transparenz beim Um-gang mit den Geldern der Konjunkturpakete der Bundes-regierung, erstens weil Steuergeld der Bürger verwendetwird und zweitens weil es sich hier um Beträge handelt,die wir uns kaum noch vorstellen können. Deshalb isteine genau Kontrolle und Transparenz absolut notwendigund unabdingbar. Es muss für den Bürger nachvollzieh-bar sein, wo der Staat welches Geld zu welchem Zweckausgibt, und es muss auch für das Parlament nachvoll-ziehbar sein, wie und wo die Exekutive die Geldmittelausgibt und dieses steuert und überwacht. Ich halte es fürdie Pflicht der Regierung, gegenüber Parlament undBürgern größtmögliche Transparenz zu erzeugen. WoTransparenz fehlt, liegt die Vermutung nahe, dass etwasvertuscht werden soll. Deshalb sollte die gebührendeTransparenz der Mittelverwendung eine Bringschuld derRegierung gegenüber Parlament und Steuerzahler seinund nicht erst eingefordert werden müssen. Das Handelndes Staates sollte dabei von Offenheit geprägt sein. DerUmgang mit dem Geld der Steuerzahler sollte immer sosparsam und zielgenau wie möglich stattfinden. Dasmuss einsehbar für Parlament und Bürger sein.Zu ProtokollMit den beiden Konjunkturpaketen werden die unter-schiedlichsten Maßnahmen gefördert. Ein roter Faden istdabei leider nicht zu erkennen – von energetischer Sanie-rung über die Abwrackprämie, Ausgaben im Bereich derMobilität und zur Sanierung von Kulturdenkmälern so-wie Zukunftsinvestitionen in Bildung und Infrastruktur,um nur einige zu nennen. Zur Stützung und zur Stabili-sierung der Wirtschaft hat die Bundesregierung in zweiPaketen mehr als 80 Milliarden Euro bewilligt. Hinzukommen noch die Mittel für den Sonderfonds Finanz-marktstabilisierung.Der Finanzmarktstabilisierungsfonds stellt ein Son-dervermögen dar, welches außerhalb des Bundeshaus-halts geführt wird. Die Ausstattung mit öffentlichen Mit-teln durch Garantien in Höhe von 400 Milliarden Euround Liquiditätshilfen von bis zu 100 Milliarden Euroschafft ein maximales Risiko für die öffentliche Hand vonbis zu 500 Milliarden Euro. Dies entspricht über 30 Pro-zent der Staatsschulden von Bund, Ländern und Gemein-den von etwa 1,48 Billionen Euro. Zur Legitimierungdieses Engagements und zur wirksamen Begleitung deroperativen Stabilisierungsmaßnahmen durch den Deut-schen Bundestag bedarf es daher einer der tatsächlichenVermögens-, Ertrags- und Finanzsituation entsprechen-den Berichterstattung des Fonds.In diesem Zusammenhang möchte ich nur kurz erwäh-nen, dass mit den Konjunkturpaketen vor allem auchMaßnahmen finanziert werden, die nicht die Branchentreffen, die von der Krise besonders in Mitleidenschaftgezogen wurden, wie zum Beispiel die Exportwirtschaft.Jedes Ministerium hat im Rahmen der Konjunkturpro-gramme Geld erhalten, um zusätzliche Projekte zu finan-zieren, auch der Deutsche Bundestag. Ich kann als Haus-hälter leider nicht erkennen, wie wir mit dem Geld zumBeispiel für den Deutschen Bundestag Arbeitsplätze si-chern, die vorher durch die Finanz- und Wirtschaftskrisebedroht waren.Bei der Verteilung der Mittel der Konjunkturpakete Iund II wurde das Füllhorn ausgeschüttet über jeden, derlaut genug „hier“ gerufen hat. Viele Dinge, die wir inden Haushaltverhandlungen aus guten Gründen abge-lehnt hatten, wurden im Rahmen der Konjunkturpro-gramme nachträglich nun doch finanziert. Das stellt mei-nes Erachtens nicht nur die Haushaltsverhandlungeninfrage sondern auch das Selbstverständnis eines jedenParlamentariers. Ich befürchte, dass allein die Höhe derAusgaben, die wir in den kommenden Jahren tätigenwerden, bei manchen Parlamentariern der Koalition Be-gehrlichkeiten geweckt hat, auch für seinen Wahlkreisnoch ein paar Euro umzuleiten.Die Bürgschaften und die Kredite, welche der Staatüber die KfW und den SoFFin, vergibt, müssen transpa-rent dargestellt und kontrolliert werden. Dabei wäre esdringend notwendig, dass zur Risikobeurteilung in regel-mäßigen Abständen Überprüfungen stattfinden würden.Das Finanzministerium und das Wirtschaftsministeriummüssen belegen, dass die Maßnahmen greifen und die Ri-siken handhabbar sind. Besonders eine Risikoprüfungmuss regelmäßig durchgeführt werden. Ich habe großeBedenken, ob bei den verschiedenen Zuständigkeiten und
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25917
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. h. c. Jürgen KoppelinInstitutionen insgesamt der Überblick erhalten werdenkann.Auf Drängen der FDP wurde zumindest bei der Er-stellung des Gesetzes zum Sonderfonds Finanzmarktsta-bilisierung ein Gremium geschaffen, in dem wirParlamentarier über die Verwendung der Mittel regel-mäßig informiert werden. Neun Parlamentarier werdenin geheimen Sitzungen informiert. Von Transparenzkann in diesem Zusammenhang damit sicher nicht wirk-lich gesprochen werden. Zumindest wurden die betrof-fenen Banken gesetzlich verpflichtet, Entscheidungen desSoFFin zu veröffentlichen und damit eine gewisse Trans-parenz herzustellen.Transparenz bedeutet für die FDP aber mehr als nurdie Darstellung, wann wie viel Geld an wen abfließt.Transparenz bedeutet auch die ehrliche Darstellung,welche Ziele mit dem Geld erreicht wurden. Es ist min-destens genau so wichtig zu belegen, dass die Maßnah-men Wirkung hatten. Das bezweifeln wir stark. Denn dieVergangenheit hat es bereits gezeigt. Konjunkturpro-gramme haben selten das erreicht, wozu sie aufgelegtwurden. Dagegen können mit Steuersenkungen wirt-schaftliche Impulse gegeben werden, die bei den Bürgernankommen und über diesen Weg zu mehr Wachstum undso zur Sicherung von Arbeitsplätzen führen.Schließlich geht es auch noch um Transparenz gegen-über den kommenden Generationen. Welche Lasten müs-sen zukünftige Generationen tragen bzw. abtragen? Da-rüber muss heute geredet werden, und man muss sich Ge-danken darüber machen, wie die Schulden realistischer-weise abgebaut werden können. Die Lasten kommenderGenerationen müssen transparent dargestellt werden.Das Hamburger Weltwirtschaftsinstitut hat in einer Stu-die festgestellt, dass die Hauptlast des Schuldenabbausder heutigen Schulden die Geburtsjahrgänge zwischen1980 und 2000 zu tragen haben. Unsere Kinder und de-ren Kinder werden besonders durch die Schulden derschwarz-roten Koalition belastet werden. Wir kommenalso um eine Reduzierung der Staatsschulden gar nichtherum, wenn wir diese Jahrgänge nicht mit der Schul-denlast erdrücken und ihnen auch noch einen Gestal-tungsspielraum zubilligen wollen.Wirtschaftsprüfer und Lenkungsausschuss werdenüber die Bürgschafts- und Kreditanträge informiert, nurParlament und Bürger erfahren nichts. Dabei geht es umSteuergelder. Parlament und Bürger tragen jedoch dasRisiko. Das geht nicht. Wir wollen mehr Transparenz,deshalb stimmen wir dem Antrag zu.
Die Fraktion Die Linke stimmt dem Antrag zu. Bünd-
nis 90/Die Grünen fordern, bei den Konjunkturpaketen I
und II Transparenz sicherzustellen, um öffentliche Kon-
trolle über die Vergabe der Mittel zu ermöglichen. Es ist
ein wichtiger Antrag. Seine Notwendigkeit schlägt mir
bei jedem Gespräch, das ich in meinem Wahlkreis – dem
Burgenlandkreis in Sachsen-Anhalt – führe, entgegen.
Ob Bürgermeister aller Parteien oder Schuldirektorin-
nen und -direktoren, Unternehmerinnen und Unterneh-
mer oder Vertreterinnen und Vertreter der Gewerkschaft –
Zu Protokoll
sie alle wissen ein Lied davon zu singen, wie undurch-
sichtig die Vergabepraxis bei den Mitteln aus den Kon-
junkturpaketen I und II ist.
Unsere Kritik an dieser Vergabepraxis geht freilich
noch viel weiter, als das im Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen angelegt ist. Nicht nur, dass wir im Angesicht des
Umfanges der Finanz- und Wirtschaftskrise, vor dem die
Bundesregierung nach wie vor die Augen verschließt,
das Volumen dieser Pakete für unangemessen niedrig
halten. Wir meinen auch und vor allem, dass hier die
große Chance eines politischen Paradigmenwechsels
vergeben worden ist. Denn das ist es ja, was uns die Ver-
gabepraxis jeden Tag überdeutlich vor Augen führt: Die
beiden Konjunkturpakete sind ganz so, als sei die Krise
nur ein kleines, schnell zu überwindendes Kriselchen, ein
Instrument des einfachen „Weiter so“.
Gefragt aber ist ein Umsteuern, und zwar ein radika-
les, ein an die Wurzeln gehendes, ein gründliches. Es
glaubt doch mittlerweile kein Mensch mehr, dass man,
indem man Mittel für die Gebäudesanierung bei Schulen
bereitstellt, nicht nur der Krise in der Bauwirtschaft, son-
dern auch gleich noch der Krise im Bildungswesen bei-
kommen kann! Und die hoch gelobte Abwrackprämie –
es wird doch niemand ernsthaft behaupten wollen, dass
sie mehr ist als ein Tropfen auf den heißen Stein. Nichts,
aber auch gar nichts ist hier von einem Umsteuern zu
spüren.
Und genau in dieses Schema des „Weiter so“ passt
auch die Undurchsichtigkeit. In Sachsen-Anhalt hat die
Landesregierung die Vergabe der Mittel monopolisiert.
Sie handelt nach einem klassischen „Von-oben-nach-un-
ten“-Schema. Und das ist ein Grundübel. Das Geld muss
dorthin, wo die Menschen leben – also: in die Kommu-
nen. Und der Anteil, der zentral geplant und vergeben
wird, muss dorthin, wo er wirklich nachhaltig zu wirken
vermag, also: in die Bildung, die Kinderbetreuung, die
öffentliche Daseinsvorsorge und natürlich in die erneu-
erbaren Energien. Die Vergabepraxis hätte ein Ort brei-
ter öffentlicher Debatte darüber werden können, wo das
Steuergeld, aus dem die Konjunkturpakete ja bezahlt
werden, tatsächlich so angelegt wird, dass es die Gesell-
schaft krisenfester macht.
Und ein Schritt in die richtige Richtung wäre auch
– wir bleiben da hartnäckig! – die Einführung eines flä-
chendeckenden Mindestlohnes und die Aufstockung des
ALG-II-Regelsatzes. Die Regierungskoalition verweigert
sich einer solchen Art Konjunkturprogramm immer und
immer wieder, und sie beweist damit nur, dass sie zu ei-
nem zeitgemäßen Umdenken nicht fähig ist. Die jetzige
Krise hat ihre Ursache in einer ungehemmten Umvertei-
lung von unten nach oben. Also muss nun endlich einmal
von oben nach unten zurückverteilt werden. Die Un-
durchsichtigkeit der Konjunkturpakete ist ein überaus
durchsichtiger Beitrag dazu, genau das zu verhindern.
Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat unser Land ingroße Schwierigkeiten gebracht. Neben den verheeren-den Konsequenzen für den Finanzsektor fürchten alleBürgerinnen und Bürger besonders die weiteren Folgen
Metadaten/Kopzeile:
25918 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25919
(C)
(D)
Omid Nouripourder Wirtschaftskrise und die Auswirkungen auf den Ar-beitsmarkt. Die Lage ist leider weiter schlecht.Wir waren uns in den vergangenen Monaten alle darineinig, dass der Staat in dieser Lage massiv eingreifenmuss, um zu investieren, um die richtigen Anreize zu set-zen und um letztendlich Wirtschaftswachstum und Ar-beitsplätze zu sichern. Leider macht die Große Koalitiondabei vieles falsch. Im Gegensatz zu Ihnen hätten wirbeispielsweise viel schneller investiert. Außerdem hättenwir nicht solchen ökologischen wie ökonomischenQuatsch namens Abwrackprämie beschlossen, sondernhätten sofort gezielt in Zukunftsbranchen investiert. DieBundesregierung hat sich aber für den weniger effektivenund letztendlich weniger nachhaltigen Weg aus der Kriseentschieden.Wir wissen, dass allein die Konjunkturpolitik der Bun-desregierung mehr als 80 Milliarden Euro kosten wird.Diese Woche gab es weitere schlechte Nachrichten von-seiten der Regierung in Form von drei Insolvenzanträgenmit den Namen zweiter Nachtragshaushalt 2009, Haus-haltsentwurf 2010 und Finanzplanung bis 2013. Wennman einmal alle Schulden reinrechnet, die Ihre Regie-rung versucht zu verbergen und in Schattenhaushalten zuverstecken, zeigt sich das ganze Ausmaß: Bis 2013 wirdder Bund 438 Milliarden Euro neue Schulden aufnehmenmüssen. Diese Summe ist gigantisch. Im Übrigen sind eslaut einer aktuellen Studie der Berenberg Bank und desHamburgischen Weltwirtschaftsinstituts insbesonderedie Generationen der von 1980 bis 2000 Geborenen, diediese Lasten tragen müssen. Da unser Land sich für seinemomentane Konjunkturpolitik wie nie zuvor verschuldenwird, haben die jetzige und alle zukünftigen Generatio-nen ein Recht darauf, zu erfahren, wo die Steuergeldermomentan hinwandern. Wir hätten nicht nur anders undsinnvoller investiert als die Große Koalition, sondern wirhätten den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes auchmehr davon verraten, was wir da überhaupt machen. Wirhätten ganz klar gesagt: Diese Summen sind gigantisch,daher müssen wir mit dem Geld auch die Transparenz er-höhen. Alle müssen erfahren können, was konkret undvor Ort mit den Milliarden passiert.Daher fordern wir – auch in unserem Wahlprogramm –,dass die Regierung eine Internetseite einrichtet, auf deralle einzelnen Maßnahmen und Projekte der beiden Kon-junkturpakete öffentlich einzusehen sind. Jedes Projektsoll inhaltlich und finanziell beschrieben werden. Es sollangegeben werden, welche Auftragnehmer und Empfän-ger von den Maßnahmen profitieren und wie sich dasProjekt auf das Wirtschaftswachstum auswirkt. Wir wol-len damit erreichen, dass bei der Vergabe und Verwen-dung dieser unglaublichen Summen Transparenz, Effi-zienz und Verantwortlichkeit hergestellt werden. Nochnie war die Gefahr so groß wie jetzt, dass bei diesen gi-gantischen Summen zu hohe Preise gezahlt werden undGeld schlicht verschwendet wird. Die besonderen Maß-nahmen der Konjunkturpolitik erfordern besondere Kon-trollmöglichkeiten der Öffentlichkeit.Sagen Sie mir nicht, dass die spärlichen Informatio-nen auf den Seiten des Finanzministeriums da ausreichensollen. Es geht uns um Informationen über jedes einzelneProjekt. Alle Schüler sollen sehen, was die Veränderun-gen in ihren Klassenzimmern gekostet haben. WelcheFirma hat vom Straßenbau um die Ecke profitiert? Wa-rum verzögert sich ein Umbau einer Universität oderKita? Waren die Veränderungen das Geld wert? Wiewurde der Auftrag vergeben? Wie wirkt sich das Projektauf die Konjunktur aus? Nebenbei würden die Bürgerin-nen und Bürger dann auch erfahren, dass Sie ihnen auchWaffen, Klimaanlagen für Hubschrauber und Kunsteis-bahnen als Konjunkturpolitik verkaufen wollen.Es ist einfach und billig. Der amerikanische PräsidentBarack Obama hat es von Anfang an auch gemacht. ImGegensatz zur Bundesregierung hat er immer gesagt,dass mit größeren Ausgaben auch ein Mehr an Transpa-renz kommen muss. Schauen Sie sich das gute Beispieleinmal an auf www.recovery.gov. Was soll man denn dage-gen haben, dass durch ein so einfaches Mittel so viel anVerantwortlichkeit und Transparenz bei der Vergabe undVerwendung von Steuermitteln hergestellt wird? Es istauch noch nicht zu spät dafür: Wenn man die Abwrackprä-mie abzieht, sind bis heute noch nicht einmal 50 MillionenEuro aus dem zweiten Konjunkturpaket abgeflossen. Eslohnt sich also wirklich noch, eine transparente Über-sicht zu erstellen.Ich appelliere an Ihre Verantwortung als Abgeord-nete. Auch in Ihrem Wahlkreis werden Projekte aus demKonjunkturpaket bezahlt. Auch Sie werden regelmäßiggefragt, was mit den abstrakten Milliarden aus Berlinvor Ort denn konkret passiert. Alle Abgeordneten müss-ten ihren Wählern und ihrem Wahlkreis verpflichtet sein,diesen Antrag mitzutragen. Es gibt keine stichhaltigenArgumente dagegen, aber viele dafür. Denn Transparenzist die beste Medizin gegen Verschwendung.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12475.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Der Antrag ist mehrheitlich abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 44 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses zu
dem Antrag der Abgeordneten Patrick Döring,
Mechthild Dyckmans, Michael Kauch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Mietrechtsänderungen zur Erleichterung
klima- und umweltfreundlicher Sanierungen
– Drucksachen 16/7175, 16/12370 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Geis
Dirk Manzewski
Mechthild Dyckmans
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
Wir müssen den Energieverbrauch senken, wenn wirunser Klima stabilisieren wollen. Unsere Erde wird wär-
(C)
(D)
Norbert Geismer, die Gletscher schmelzen. Das Eis an den Polenschwindet. Der Meeresspiegel steigt.Freilich gab es immer schon Klimaveränderungen aufunserer Erde. 1348 war ganz Süddeutschland mitten imSommer mit einer Schneedecke überzogen. Die Ernteverdarb, die Menschen mussten hungern, viele musstensterben. Klimaverschiebungen mit weitrechenden Folgengab es immer wieder in der Geschichte unserer Erde.Niemals aber zuvor war der Mensch selbst die Ursachesolcher dramatischen Veränderungen. Steigende Kon-zentrationen von Kohlendioxid und Methan in derAtmosphäre haben begonnen, das Klima auf der Erde zuerwärmen. Ursache ist der übermäßige Verbrauch vonRessourcen. Nur durch eine nachhaltige Veränderungdes Verhaltens der Menschheit insgesamt können die vo-raussehbaren katastrophalen Folgen der Erderwärmungabgewehrt werden.Eine Möglichkeit, einen wichtigen Schritt zur Stabili-sierung unseres Klimas zu erreichen, ist die Senkung desEnergieverbrauches. Weltweit ist der Verbrauch fossilerBrennstoffe angestiegen. Dadurch kam es zu einer deutli-chen Erhöhung der CO2-Emissionen. Dies hat zu einerspürbaren Belastung der Umwelt geführt.Deshalb geht es um Energieeinsparung, weil dadurchdie Emissionen am meisten zurückgeführt werden kön-nen. Ein großes Einsparpotenzial besteht in der Behei-zung unserer Wohnungen. Energieeffizientes Bauen istder beste Weg, Energiekosten zu sparen, anstatt das Geldsprichwörtlich zu verheizen. Große Einsparmöglichkei-ten bestehen darin, Altbauten energetisch zu modernisie-ren sowie anstehende Zustandserhaltungsarbeiten mitenergieoptimierenden Maßnahmen zu verbinden. Es gehtum den baulichen Wärmeschutz und um effiziente Hei-zungs- und Warmwassersysteme. Dadurch wird nicht nurdas Klima geschützt, sondern gleichzeitig wird sich einsparsamer Umgang mit Energie für jeden Privathaushaltfinanziell mehr und mehr lohnen. Deshalb ist es richtig,Maßnahmen zu treffen, um die Sanierung von Wohn- undGeschäftsräumen nicht nur zu erleichtern, sondern auchentsprechende Anreize zu schaffen. Der Antrag der FDPgeht daher in die richtige Richtung.In dem Antrag werden drei Schwerpunkte angeführt,von deren Umsetzung sich die FDP eine bessere Energie-versorgung und einen besseren Klimaschutz erwartet. Sofordert die FDP in dem Antrag, die Miete erhöhen zukönnen, wenn die Sanierungsmaßnahmen durchgeführtsind und wenn diese eine nachhaltige Einsparung vonEnergie und Wasser bewirken. Immerhin ist zu bedenken,dass vom Gesamtenergieverbrauch eines Privathaushal-tes 87 Prozent auf Raumheizung und Wasserzubereitungentfallen. Das größte Energieeinsparungspotenzial liegtalso in der Tat in der energetischen Modernisierung.Dies gilt insbesondere bei Gebäuden mit einfachemDämmungsstandard. Bei neuen Gebäuden sind von vorn-herein energiesparende Maßnahmen vorgesehen.Bei solchen Modernisierungsmaßnahmen entstehenaber in der Regel erhebliche Kosten, die häufig sowohl denVermieter als auch den Mieter überfordern dürften. ImMietrecht besteht jetzt schon die Möglichkeit für den Eigen-tümer bzw. Vermieter, die jährliche Miete um 11 ProzentZu Protokollder Sanierungskosten dauerhaft zu erhöhen, wenn baulicheMaßnahmen durchgeführt worden sind, die eine nach-haltige Einsparung von Energie und Wasser bewirken.Der FDP-Antrag geht aber darüber hinaus. Nach demAntrag soll der Gesetzgeber die Möglichkeit schaffen,mit den Mietern vertraglich Vereinbarungen zu treffen,um die entstandenen Kosten umlegen zu können. Hierzugenügt die Mehrheit von drei Vierteln aller Mieter desentsprechenden Gebäudes, wenn diese 50 Prozent derGesamtfläche innehaben. Uns scheint diese Forderungüberzogen. Sie bedenkt zu einseitig Interessen der Ver-mieter, bedenkt aber zu wenig die schwierige Situation,in die ein Mieter durch solch eine Mieterhöhung geratenkann.Der zweite Schwerpunkt des Antrags bezieht sich aufdie Duldung von Baumaßnahmen, die zur energetischenVerbesserung durchgeführt werden müssen. Nach § 554Abs. 2 BGB hat der Mieter Baumaßnahmen zu dulden,die zur Einsparung von Energie und Wasser durchgeführtwerden. Insoweit ist also schon eine hinreichende gesetz-liche Grundlage vorhanden, um entsprechende Baumaß-nahmen durchführen zu können. Die Frage ist aber, obauch der Einbau von Solaranlagen eine Maßnahme imSinne des § 554 Abs. 2 BGB darstellt. Die Bundesregie-rung geht davon aus, dass dies der Fall ist. Eine Klarstel-lung wäre aber notwendig. Dies ist ein Merkposten fürdie nächste Legislaturperiode.Ein weiterer wichtiger Punkt des Antrages sind dieVorstellung der FDP über die Umlegung der Betriebs-kosten. Diese Umlegung richtet sich grundsätzlich nachder Vereinbarung, die Mieter und Vermieter insoweit ge-troffen haben. Ist im Vertrag nur die Umlegung derBetriebskosten einer bestimmten Beheizungsart vorgese-hen, dürfen grundsätzlich auch nur die bei dieser Hei-zungsart anfallenden Betriebskosten umgelegt werden.Wird eine gleiche, aber modernere Heizung eingebaut,kann der Vermieter die insoweit entstehenden Kosten um-legen, weil es sich um die gleiche Heizungsart handelt.Probleme treten aber dann auf, wenn der Vermieter imZuge der Modernisierung die Beheizungsart wechselnwill. Dies gilt vor allem dann, wenn der Vermieter nichtmehr selbst für die Wärmeversorgung einsteht, sonderndiese an einen Externen übertragen hat, sogenanntesWärme-Contracting. Nach der Rechtsprechung ist für dieUmstellung auf Wärmelieferung die Zustimmung desMieters erforderlich, wenn ihm erhöhte oder zusätzlicheneue Kosten auferlegt werden sollen. Stimmt der Mieternicht zu, kann der Vermieter nur die nach dem Mietver-trag zulässigen Wärmekosten umlegen, die dann fiktiv zuberechnen sind. Hier ist ebenfalls ein Merkposten für dienächste Legislaturperiode angezeigt. Der Vermieter mussgrundsätzlich die Möglichkeit haben, die ihm durch dieenergiewirksamen Baumaßnahmen entstandenen Kostenauch umlegen zu können.Alles in allem zielt also der Antrag der FDP schon indie richtige Richtung, kann aber nicht so umgesetzt wer-den, wie es vorgeschlagen wird. Es bleibt aber eine wich-tige Aufgabe für die nächste Legislaturperiode, insoweitVerbesserungen im Mietrecht einzuführen, damit entspre-chende Modernisierungsmaßnahmen vom Vermieter auchergriffen werden. Der Vermieter wird ja wohl nicht bereit
Metadaten/Kopzeile:
25920 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Norbert Geissein, Modernisierungen vorzunehmen, wenn er diesenicht umlegen kann. Für ein entsprechendes Umlegungs-verfahren solcher Kosten ist also zu sorgen.
Die FDP behauptet, dass es ihr in ihrem Antrag darum
geht, klima- und umweltfreundliche Sanierungsmaßnah-
men zu fördern. Liest man sich den Antrag dann genau
durch, stellt man schnell fest, dass hier unter dem Deck-
mantel der Ökologie knallhart Klientelpolitik betrieben
wird. Allein der Grundtenor, dass der „ach so selbstlose
Vermieter“ nun so rein gar nichts von entsprechenden
Maßnahmen habe und alleine der Mieter hiervon profi-
tieren würde, geht an der Sache vorbei.
Eine Wohnung, die klima- und umweltfreundlich sa-
niert worden ist, wird nicht nur erhebliche Energiekosten
einsparen, sondern hierdurch bedingt natürlich auch ei-
nen viel höheren Marktwert erhalten. Fliegen die Ener-
giekosten nicht nur so durch den Schornstein, freut es das
Portemonnaie des Mieters und macht das Mietobjekt da-
mit begehrt.
Ebenso wenig nachzuvollziehen sind die Vorschläge
für eine neue Möglichkeit zur Mieterhöhung im Zuge der
Modernisierungsmaßnahmen. Die FDP meint offenbar,
dass jede Mieterhöhung gerechtfertigt sei, solange diese
durch die entsprechenden Betriebskostenersparnisse ge-
deckt sei. Das klingt alles herrlich theoretisch, erklärt
aber noch nicht einmal, was denn hierunter eigentlich zu
verstehen ist.
Betriebskosten in diesem Zusammenhang sind abhän-
gig unter anderem vom Verbraucherverhalten, von der
Preisentwicklung, aber auch vom Klima in der Heiz-
periode. Ich glaube, es ist deshalb äußerst problema-
tisch, hier insoweit zu einer gerechten Darlegung und
Berechnung der tatsächlichen Betriebskostenersparnis
zu kommen. Warum dies dann alles abhängig sein soll
von einem Dreiviertelvotum der Mieter, erschließt sich
mir dabei überhaupt nicht. Abgesehen davon, das hier-
durch in individuelle Vertragsbeziehungen eingegriffen
werden würde, hätte der Mieter von einer Zustimmung
doch eigentlich nichts, da eine etwaige Betriebskostener-
sparnis ihm nicht zugutekommen, sondern durch die ent-
sprechende Mieterhöhung aufgefressen werden würde.
Warum die Rechte des Mieters bei energetischen Bau-
maßnahmen beschnitten werden sollen und keine Miet-
minderung gelten gemacht werden darf, bleibt schleier-
haft. Entscheidend für eine Mietminderung ist doch die
nicht unerhebliche Minderung des vertragsgemäßen Ge-
brauchs der Mietsache.
Ist also eine Baumaßnahme so umfangreich, das zum
Beispiel ein Teil der Wohnung gar nicht oder nur einge-
schränkt genutzt werden kann, so wird nach der gelten-
den Rechtslage nicht der volle Mietzins geschuldet. Dies
ist nur gerechtfertigt, da der Mieter ja auch nicht die ihm
geschuldete Leistung vertragsgerecht erhält. Deshalb
kann und darf es auch keinen Unterschied machen, was
letztendlich der Grund hierfür ist. Es kann doch nicht
sein, dass eine Wohnung aufgrund entsprechender Um-
bauten quasi eine Baustelle und damit nicht zu bewohnen
Zu Protokoll
ist, und der Mieter, der sich gegebenenfalls deshalb so-
gar übergangsweise nach Ersatzwohnraum umsehen
muss, gleichwohl den vollen Mietzins zu entrichten hat.
Dafür, dass die FDP hier unter dem Deckmantel der
Ökologie knallharte Klientelpolitik betreiben will,
spricht auch der Vorschlag zur Vereinfachung der Um-
lage von Modernisierungserhöhungen. § 559 BGB gibt ja
schon die Möglichkeit, die Kosten einer Modernisierung
auf den Mieter umzulegen. Die Anforderungen hierfür
erscheinen nicht überzogen und zumutbar und haben
sich – dies zeigt nun einmal die Praxis – bewährt. Warum
von der bewährten Praxis abgewichen werden soll, ist
deshalb ebenso schleierhaft, wie die Vorstellung, dass
man bei der Vielzahl von Modernisierungsmaßnahmen
Pauschalwerte zulassen sollte, lebensnah ist.
Die FDP muss sich wirklich einmal fragen lassen, was
den so verkehrt daran sein soll, das die Kosten für eine
Modernisierung vernünftig darzulegen und dann ange-
messen zu verteilen sind; zumal ja der Vermieter nach
billigem Ermessen den Verteilungsschlüssel bestimmen
kann.
Wenn die FDP abschließend die Umlage der Betriebs-
kosten erleichtern möchte, bleibt unklar, was sie damit
meint. Ich würde schon einmal vorschlagen, dass man
vor einem solchen Antrag sich zunächst einmal genau
damit beschäftigt, was unter Modernisierung – explizit
energetische Sanierung – eigentlich zu verstehen und
was insoweit alles bereits umlegbar ist.
Mir bleibt abschließend deshalb nur festzustellen, das
der Antrag der FDP so nie und nimmer unsere Zustim-
mung finden wird.
Zwei Themen sind es, die uns und die Öffentlichkeit inden vergangenen Jahren ganz besonders beschäftigt ha-ben und uns auch über diesen Tag hinaus beschäftigenwerden: der Klimaschutz und die Folgen der gegenwär-tigen Finanz- und Wirtschaftskrise. Wir wollen – das istja ein parteiübergreifender Konsens – den Ressourcen-verbrauch und den CO2-Ausstoß unserer Volkswirtschaftsenken, um Umwelt und Klima zu schonen – und wir wol-len stabiles Wachstum generieren, um Arbeitsplätze zuerhalten und die Krise zu überwinden.Wachstum und Klimaschutz, das klingt für manchenach einem inneren Widerspruch – und in vielen Fällenstehen die beiden Ziele tatsächlich in einem latentenSpannungsverhältnis. Umso wichtiger sollten uns abergerade jene Wirtschaftszweige sein, in denen die beidenZiele nicht im Geringsten in einem Konflikt stehen, son-dern im Gegenteil sich vielfältige Synergien nutzen las-sen. Das gilt für die Wohnungs- und Immobilenwirtschaftvielleicht wie für keinen anderen Wirtschaftszweig.Nur zur Erinnerung: Der Gebäudebereich hat einenAnteil von 40 Prozent am gesamten Endenergiever-brauch in Deutschland. 20 Prozent des CO2-Ausstoßes inDeutschland entstehen hier. Dabei haben viele Wohnun-gen, aber auch Industrie- und Geschäftsgebäude immernoch eine unzureichende Dämmung oder alte Kessel-und Heizungsanlagen – da wird nicht nur für drinnen,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25921
gegebene Reden
(C)
(D)
Patrick Döringsondern auch für draußen geheizt. Das ist sowohl ökono-misch als auch ökologisch fatal. Es ist deshalb kein Wun-der, dass Haus- und Wohnungseigentümer an sich eingroßes Interesse daran haben sollten, ihr Gebäude ener-getisch zu sanieren – nicht aus Selbstlosigkeit, sondernum Energie und damit Kosten zu sparen. Für die Bau-wirtschaft bedeutet dies entsprechende Aufträge – dieSanierung schafft und erhält damit Arbeitsplätze.So weit die an sich einfache, symbiotische Beziehungzwischen Klima- und Wirtschaftspolitik in diesem Markt-segment. Die Bundesregierung hat diese Entwicklungdurch eine Strategie des Forderns und Förderns zu unter-stützen versucht – durch die fortlaufende Verschärfungder Energieeinsparungsverordnung auf der einen und dieFörderung energetischer Sanierungen durch das CO2-Gebäudesanierungsprogramm auf der anderen Seitesollte der Erneuerungsprozess im Gebäudebereich be-schleunigt werden.Ein Blick auf die nackten Zahlen zeigt allerdings, dassdie bisherige Politik dieses Ziel nicht erreicht hat. DasCO2-Gebäudesanierungsprogramm wird zwar zumindestin bestimmten Marktsegmenten gut angenommen – vorallem bei Selbstnutzern sowie großen Wohnungsunter-nehmen. Bundesweit erreichen wir derzeit allerdingsnicht einmal eine Sanierungsquote des Gebäudebestan-des von zwei bis drei Prozent. Das heißt, es werden sogarnoch weniger Gebäude saniert, als es notwendig wäre,um den Gebäudebestand im normalen Turnus zu sanie-ren, von einer Beschleunigung des Sanierungsprozessesganz zu schweigen. Diese banale Wahrheit musste selbstdie SPD in ihrem Programm für die Bundestagswahl an-erkennen – zu einer ehrlichen Analyse für die Ursachedieses Scheiterns hat es dann allerdings nicht mehr ge-reicht.Das Problem ist, und damit kommen wir zum eigentli-chen Kern dieser Debatte, dass vor allem für private Ver-mieter, aber selbst für viele Wohnungsunternehmen derAnreiz für eine Sanierung ihrer Wohnungsbestände denk-bar gering ist. Wir haben hier, mit den Worten des Präsi-denten des Bundesumweltamtes Andreas Troge, ein In-vestor-Nutzer-Dilemma: Der Vermieter hat in ersterLinie Aufwand, Ärger und Kosten – während die finan-ziellen Vorteile durch die Senkung der Energiekosten al-leine dem Mieter zugute kommen. Mit anderen Worten:Die Sanierung rechnet sich einfach nicht. Die Frage, diewir uns einfach stellen müssen, lautet deshalb: Was kön-nen wir tun, um den Aufwand für die Eigentümer zu ver-ringern und den Nutzen zu erhöhen, damit ein Sanie-rungsschub erfolgt, von dem am Ende Eigentümer,Mieter, Umwelt und Wirtschaft profitieren?Die FDP-Bundestagsfraktion hat hierzu einen Antragvorgelegt, in dem wir mögliche Änderungen im Mietrechtskizziert haben. Wir wollen beispielsweise die Möglich-keit schaffen, dass Eigentümer und Mieterschaft nebender herkömmlichen Modernisierungsmieterhöhung aucheine – eventuell höhere – Mieterhöhung vertraglich ver-einbaren können. Dafür muss der Vermieter dem Mietereine Betriebskostenersparnis mindestens in Höhe derMieterhöhung garantieren. Nützlich wären außerdemzum Beispiel Ausnahmen bei den Duldungspflichten undZu Protokollden Regelungen zur Mietminderung: Baumaßnahmen,die überwiegend zur energetischen Sanierung oder zuanderen Umweltschutzzwecken durchgeführt werden,sollten vom Mieter in jedem Fall zu dulden sein und nichtzur Mietminderung berechtigen. Denn es ist einfach un-vernünftig, wenn bauliche Maßnahmen, von denen amEnde vor allem auch die Mieter durch eine Senkung derNebenkosten profitieren, am Ende dadurch bestraft wer-den, dass der Eigentümer während der Bauphase auf50 Prozent oder mehr der ihm zustehenden Miete ver-zichten muss. Solange solche Regelungen in Deutschlandbestehen, müssen wir uns nicht wundern, wenn geradebei finanzschwachen Eigentümern, denen nur wenigeWohnungen oder vielleicht ein oder zwei Häuser gehö-ren, die Bereitschaft für eine energetische Sanierung ih-rer Gebäude nahezu gleich Null ist.Um zu dieser Erkenntnis zu kommen, braucht es ei-gentlich nur ein wenig gesunden Menschenverstand. Si-cherlich kann man sich über die Details streiten, wie sol-che Regelungen ausgestaltet werden müssten – aber inder Sache muss man bei einer ehrlichen Analyse der Fak-ten zu dem Ergebnis kommen, dass entsprechende Refor-men zwingend notwendig sind, wenn wir eine deutlicheErhöhung der Sanierungsquote in den nächsten Jahrenerreichen wollen. Ich bedauere es daher ausdrücklich,dass vor allem die SPD in den Beratungen lieber auf bil-lige Polemik gegen die Vermieter und Wohnungseigentü-mer statt auf eine konstruktive Diskussion gesetzt hat.Allerdings ist wahrscheinlich von Ihnen, verehrte Kol-leginnen und Kollegen, in der Sache zurzeit nichts ande-res zu erwarten. Die pauschale Unterstellung, die Sie inIhrem Bundestagswahlprogramm erheben, dass die Ver-mieter das Instrument der Modernisierungsmieterhö-hung dazu missbrauchen würden, den Preis ihrer Woh-nungen in die Höhe zu treiben, spricht Bände. Schon derBlick auf die real sehr niedrige Sanierungsquote inDeutschland zeigt ja bereits, dass das allenfalls ein Ein-zelfallproblem sein kann und die Modernisierungsmie-terhöhung in ihrer jetzigen Form sicherlich keine großeAnreizwirkung für die Eigentümer hat. Dass Sie, verehrteKolleginnen und Kollegen von der SPD, ausweislich Ih-res Wahlprogramms die bisher bestehende Regelung so-gar noch weiter eingrenzen wollen, würde die energeti-schen Sanierungen im Mietbereich dann wahrscheinlichganz zum Erliegen bringen. Es ist geradezu abenteuer-lich, wie Sie in dieser Debatte plötzlich alte Klassen-kampfrhetorik wiederentdecken und einen vollkommenanachronistischen Gegensatz zwischen Eigentümern undMietern heraufbeschwören. Dabei sollte es an dieserStelle doch eigentlich um die Frage gehen, wie durcheine kluge Ordnungspolitik Investitionen erleichtert wer-den können, die am Ende den Eigentümern ebenso nutzenwie den Mietern, der Umwelt und der Wirtschaft. Mit Ih-rer ideologisch und vielleicht auch wahlkampftaktischgetriebenen Blockadepolitik schaden Sie am Ende allenBeteiligten.Für die FDP ist mit dieser Debatte das Thema jeden-falls nicht beendet. Klimaschutz und Wirtschaftspolitikwerden die zentralen Herausforderungen auch der kom-menden Legislaturperiode sein – die Sanierung des Woh-nungsbestandes und damit auch die ökologische Moder-
Metadaten/Kopzeile:
25922 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Patrick Döringnisierung des Mietrechts bleiben daher für uns auf derTagesordnung.
Diesen Antrag kann man nur ablehnen. Ich danke Ih-nen für Ihre Aufmerksamkeit. – Viel mehr wäre zu denvon den Liberalen beantragten „Mietrechtsänderungenzur Erleichterung klima- und umweltfreundlicher Sanie-rungen“ im Grunde genommen nicht zu sagen. Denn dieFDP treibt mit ihrem auf Drucksache 16/7175 veröffent-lichten Begehren eine Chimäre in die Arena dieses Ho-hen Hauses. Eine Chimäre ist ein Trugbild, etwas, dasnur in der Einbildung von einer oder mehreren Personenexistiert – wie hier in der Gruppe der FDP-Abgeordne-ten, die offensichtlich ein Problem mit dem deutschenMietrecht haben und das Mietrecht gegen den Schutz vonKlima und Umwelt in Stellung bringen wollen.Auf dem Papier ihres Antrages tarnt sich die Chimäreals Retter von Umwelt und Klima, die im Interesse einerstärkeren energetischen Sanierung vor allem einHaupthindernis aus dem Weg zu räumen habe – eben je-nes Mietrecht, das – so die Antragsteller – die Mieternicht ausreichend zum Dulden von Modernisierungs-maßnahmen zwinge. Denn dies gelte nach überwiegen-der Rechtsauffassung nur, wenn die Mieter von der Maß-nahme der Modernisierung finanziell profitierten. Istdies nicht der Fall, dann könne der Mieter der Moderni-sierung von vornherein widersprechen, weil es dadurchzu keiner Einsparung komme. Daher könne der Vermie-ter nach der energetischen Sanierung die Betriebskostenfür die neuen Anlagen in der Regel nicht auf die Mieterumlegen, bedauert die FDP, da diese zumeist nicht Be-standteil des Mietvertrages seien. Neben anderen angeb-lichen Nachteilen habe der Vermieter keinen Anteil anden durch die energetische Sanierung erzielten Einspa-rungen, da die sinkenden Nebenkosten allein dem Mieterzugutekämen. Der Präsident des Bundesumweltamtes,Andreas Troge, habe diesen Umstand als Investor-Nut-zer-Dilemma bezeichnet. Was aber ist ein Dilemma? EinDilemma bezeichnet in seiner wörtlichen Bedeutungnichts anderes als die Entscheidung zwischen zweischlechten Lösungen. In unserem Fall ist es jedoch einfa-cher, da es das angebliche Problem, für das angeblichLösungen gefunden werden müssten, gar nicht gibt.Aber folgen wir zunächst noch einen Augenblick derArgumentation und der etwas eigenartigen Logik der An-tragsteller. Nach ihrer Darstellung lasse die einseitigeBelastung des Eigentümers viele Vermieter vor der ener-getischen Sanierung zurückschrecken. Zusätzliche Vor-gaben für den Fall einer Gebäudesanierung würden vordiesem Hintergrund als zusätzlicher negativer Anreizwirken, sodass der Eigentümer im Zweifelsfall die Sanie-rung eines Objektes weiter verzögert. Daraus lernen wir,dass die deutschen Mieter eine große Schuld am Klima-wandel tragen, da sie unter unerschrockener Beihilfe desdeutschen Mietrechtes die energetische Sanierung ihrerWohnungen zu verhindern wissen und sich damit alsFeinde der Umwelt erweisen. Oder wie es kurz, knappund scheinbar logisch in der Drucksache 16/7175 heißt:Das Haupthindernis für eine stärkere energetische Sa-nierung im Gebäudebereich ist das Mietrecht.Zu ProtokollUnd was schlagen nun die wackeren Verteidiger derenergetischen Sanierung und die Kämpfer gegen nega-tive Anreize vor? Man kann es sich denken. Die Antrag-steller fordern den Gesetzgeber zu neuen Rahmenbedin-gungen und zum Setzen auch positiver Anreize für denEigentümer auf, damit das Mietrecht nicht länger derumweltfreundlichen Sanierung im Wege steht. Das gefor-derte Gesetz solle die energetische Sanierung von Wohn-und Geschäftsgebäuden erleichtern.Erleichtern, das hört sich gut an, das hört sich schönan und sehr positiv. Aber natürlich taucht an dieser Stellesofort die Frage auf, was und wer da eigentlich erleich-tert werden soll, und vor allem auf wessen Kosten. Grei-fen wir ein, zwei entscheidende Vorschläge der Antrag-steller heraus. So sollen zum Beispiel Baumaßnahmen,die zur energetischen Sanierung oder zu anderen Um-weltschutzzwecken durchgeführt werden, künftig zu dul-den sein und nicht zur Mietminderung berechtigen. Sosollen die Umlagen von Modernisierungsmieterhöhun-gen auf die einzelnen Wohneinheiten vereinfacht werden,zum Beispiel durch die Zulassung von Pauschalwerten.Damit wird klar, wer hier erleichtert werden soll: derMieter. Unter Hinweis auf ein so positiv besetztes Krite-rium wie die Umweltfreundlichkeit – zu der die energeti-sche Sanierung zweifelsohne beiträgt – sollen die Lastenwieder einmal die Mieter tragen.Nun ist es aber so, dass das BGB tatsächlich den Tat-bestand der Duldung von Modernisierungsmaßnahmenkennt, unter der Bedingung, dass der Wohnwert verbes-sert wird. In den letzten Jahren wurden die Mieten aller-dings schon oft genug erhöht, ohne dass eine solcheWohnwertverbesserung durch Modernisierungsmaßnah-men stattgefunden hat. Der Spielraum, der den Mieternüberhaupt noch bleibt, ist auf diese Weise in den letztenJahren schon fast bis zur Unmöglichkeit verkleinert wor-den. Ehe wir über eine stärkere Beteiligung der Mieteran der energetischen Sanierung ihrer Wohnungen spre-chen, müssten wir wohl zunächst über angemessenereMieten sprechen, denn das Wohnen muss bezahlbar blei-ben. Das schließt die Forderung nach der „Warmmieten-neutralität“ ein; die Umlage für die Sanierung darf kei-nesfalls teurer werden als die auf diese Weise erreichteEinsparung der Heizkosten.Und noch etwas: Das von der FDP hier zumHaupthindernis für eine energetische Sanierung erklärteMietrecht erlaubt es den Vermietern, die Miete alle dreiJahre um 20 Prozent zu erhöhen, und zwar ohne jede Ge-genleistung. Nach demselben geltenden Recht kann derVermieter pro Jahr 11 Prozent der für die Wohnung auf-gewendeten Modernisierungskosten auf die Miete auf-schlagen. Doch auch wenn die Kosten für die Moderni-sierung längst abbezahlt sind, verbleibt die Miete aufdem höheren Niveau. Auch diese Fakten gehören zu ei-nem vollständigen Gesamtbild, wenn von den Auswir-kungen des deutschen Mietrechts die Rede ist.Was das auch hier angesprochene Investor-Nutzer-Di-lemma angeht, so soll an dieser Stelle noch einmal an dievielfältigen Möglichkeiten zum Nutzen von entsprechen-den Fördermitteln erinnert werden. Das sind durchauspositive Anreize. Allerdings fordert die Linke im Interesse
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25923
gegebene Reden
(C)
(D)
Heidrun Bluhmder Mieterinnen und Mieter eine Umstellung der Förde-rung von der bisherigen Darlehensbasis auf Zuschüsse,die nicht zurückgezahlt werden müssen. Gerade Zu-schüsse, die nicht zurückgezahlt werden müssen, könnenden Teilnehmerkreis an Fördermaßnahmen für die ener-getische Sanierung erweitern, die sich eine andere Artund Weise der Energieeinsparung am Haus und in derWohnung nicht leisten können. Im Übrigen sollte auchbei der energetischen Sanierung der eigenen vier Wändedie gesamte Handwerkerrechnung steuerlich absetzbarsein. Denn Umweltfreundlichkeit und energetische Sa-nierung sind eine Aufgabe, die die gesamte Gesellschaftbetrifft.Mindestens ebenso wichtig wie das Kriterium der Um-weltfreundlichkeit sollte in Zukunft das Kriterium derMieterfreundlichkeit werden, wozu auf jeden Fall ein en-ergiesparendes und bezahlbares Wohnen gehört.Die Behauptung, wonach das bisherige Mietrecht dasHaupthindernis für eine stärkere energetische Sanierungim Gebäudebereich sei, ist eine unbewiesene Behaup-tung, ein mieterunfreundlicher Vorschlag und eine Chi-märe dazu, die aus dieser Arena gejagt werden sollte. DieLinke lehnt den Antrag deshalb aus guten Gründen ab.
Zunächst ist es erfreulich, dass sich auch die FDP fürdas Thema Klimaschutz und energetische Gebäudesanie-rung interessiert. Denn hier liegt ein besonders wichtigesZukunftsfeld zur Erfüllung der Klimaschutzziele. Deutsch-land ist gebaut, das heißt, Neubau findet nur noch in gerin-gerem Maße statt. Aber unser Gebäudebestand entsprichtzu 70 Prozent nicht einmal ansatzweise den technischenund energetischen Anforderungen des 21. Jahrhundertsund steht daher in den nächsten Jahren dringend zur Sa-nierung an. Dabei gilt es neue Anreize zu schaffen, umdie Sanierungsquote signifikant zu steigern. Es bestehtsicherlich Konsens darüber, dass sowohl Vermieter alsauch Mieter und der Staat gemeinsam an der Erreichungder Klimaschutzziele am Bau arbeiten und dass die bis-herigen Bemühungen verstärkt werden müssen. Aber dieStoßrichtung der FDP in ihrem Antrag ist falsch. Denndie Hauptlast würde damit dem schwächsten Glied in derKette, nämlich den Mietern, aufgebürdet. Das überraschtnicht, denn schließlich wissen wir zu gut, dass der Antragdie Handschrift von Haus & Grund trägt, deren Forde-rungen wir aus diversen Fachgesprächen kennen. Aberdie Lösung des wesentlichen Problems, nämlich die ener-getische Gebäudesanierung wirksam zu stimulieren,lässt sich wohl kaum über eine Mietrechtsänderung er-zielen.Wir stimmen jedoch dem Ansinnen zu, dass mehr fürden Klimaschutz und zur Erreichung der von der Bundes-regierung zugesagten Klimaschutzziele getan werdenmuss. Dies kann aber nur im Dreiklang von Staat, Ver-mieter und Mieter geschehen. Neben der bereits beste-henden Förderkulisse ist neben weiteren finanziellen undsteuerlichen Anreizen auch über ein schärferes Ord-nungsrecht nachzudenken. Psychologen wissen, dass„Strafen“ bzw. deren Vermeidung eine deutlich größereWirkung zeigen als Belohnungen; vielleicht wäre das malZu Protokollein neuer Strategieansatz. Eine Diskussion wert scheintmir die verbesserte steuerliche Abschreibung von ener-getischen Sanierungsarbeiten. Das könnte schnelle Ef-fekte erzielen und die energetische Sanierung voranbrin-gen. Auch auf die Konjunktur hätte es positiveAuswirkungen, da Investitionen in den Bestand relativschnell zu realisieren sind.Dagegen kann eine Mietrechtsänderung wohl kaumerreichen, dass die energetische Sanierung schneller vo-rankommt. Schon heute tragen die Mieter erhebliche Be-lastungen durch Sanierungsarbeiten. Die Forderung derFDP ist haarsträubend, künftig ein Mietminderungsrechtwährend Sanierungsarbeiten im Allgemeinen und ener-getischer Sanierungen im Besonderen zu verweigern.Machen Sie doch mal so eine Sanierung mit. Die Unan-nehmlichkeiten sind groß: Lärm ab frühmorgens, Staubund Dreck vor und in der Wohnung sowie eine einge-schränkte Privatsphäre durch die Bauarbeiten in derWohnung. Dass dieser Sachverhalt eine Mietminderungrechtfertigt, ist ja wohl eindeutig.Außerdem ist festzuhalten, dass die Erhöhungen derKaltmiete nach einer umfassenden Modernisierung dieEinsparungen durch verringerte Betriebskosten häufigdeutlich übersteigen, wobei das in vielen Fällen auch ak-zeptiert wird, wenn sich die Wohnqualität insgesamt ver-bessert. Das viel zitierte Nutzer-Investor-Dilemma stelltsich in der Realität ganz anders dar: Es gibt eine großeInvestitionszurückhaltung, die der Notwendigkeit einerzeitnahen Modernisierung entgegensteht. Die Gründemögen vielfältiger Natur sein und nicht unbedingt immer
boomenden Regionen die Investorenträgheit besondersstark ausgeprägt ist, getreu dem Motto: „Warum soll ichetwas energetisch sanieren, wenn ich auch schon so10 Euro pro Quadratmeter in der Kaltmiete erlösenkann?“Vor diesem Hintergrund ist darüber nachzudenken, obes Mietern ermöglicht werden sollte, bei einer Wohnungmit sehr schlechtem energetischem Standard die Mietemindern zu können. Da Belohnungen ja offensichtlichweniger Wirkung zeigen als Bestrafungen, ist dies viel-leicht der Ansatz, der am schnellsten zum Ziel kommt.Zustimmung findet der Antrag, wenn es um das Contrac-ting geht. Es ist sicherlich nicht der Königsweg, aberinsgesamt sind im Großwohnungsbau mit mehr als zehnWohneinheiten durch Energie- oder Wärme-Contrac-ting erhebliche Energiesparmaßnahmen möglich. DieseChance sollte daher zukünftig besser genutzt und erleich-tert werden. Ein Sachverständigengutachten ist in der Tatdringend notwendig, damit hier endlich die Potenzialeausgeschöpft werden können.Um den Klimaschutz im Gebäudebereich voranzu-bringen, ist ein Bündel an Maßnahmen nötig. Aus-schließlich die Mieter in die Verantwortung zu nehmen,ist der falsche Ansatz. Vielmehr müssen Vermieter, Mie-ter und der Staat gemeinsam an dem Ziel der Steigerungder Energieeffizienz arbeiten. Die Klimaschutzziele sindhoch gesteckt, aber wenn alle mitmachen, können sienoch erreicht werden.
Metadaten/Kopzeile:
25924 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25925
(C)
(D)
Peter HettlichDa ich nicht mehr für den 17. Deutschen Bundestagkandidiere, werde ich die Bemühungen künftig von „au-ßen“ weiter verfolgen. Um die gesteckten Klimaschutz-ziele zu erreichen, wünsche ich Ihnen, meine lieben Kol-leginnen und Kollegen, daher viel Kraft für diekommenden Jahre.
Es liegt eine persönliche Erklärung nach § 31 der Ge-
schäftsordnung vor, die wir zu Protokoll nehmen.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/12370, den Antrag der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/7175 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mehrheitlich ange-
nommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 45 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Spieth, Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Krankenversicherung für Selbständige be-
zahlbar gestalten
– Drucksachen 16/12734, 16/13260 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Karl Lauterbach
Bereits am 14. Mai, also vor gerade einmal sieben
Wochen, war der heute zu debattierende Antrag der Lin-
ken Gegenstand einer Bundestagsdebatte. Ich hatte mir
bei dieser Gelegenheit bereits erlaubt, für meine Frak-
tion ein gewisses Erstaunen zum Ausdruck zu bringen,
nämlich Erstaunen darüber, dass die Linke im Titel ihres
Antrags den Eindruck erweckt, als habe sie das Wähler-
potenzial der Selbstständigen entdeckt. Schließlich lautet
der Antrag: „Krankenversicherung für Selbstständige
bezahlbar gestalten“. Doch erwartungsgemäß geht es
der Linken um diejenigen, die wir landläufig als selbst-
ständig Tätige kennen, ja auch gar nicht. Vielmehr geht
es ihr einmal mehr darum, Hartz-IV-betroffene Versi-
cherte in der GKV und solche, die lediglich aus systema-
tischen Gründen der PKV zugeordnet sind, vor einer
Überforderung durch Beitragspflichten zu schützen.
Für den im Antrag der Linken angesprochenen Be-
reich der GKV-Versicherten möchte ich ausdrücklich
feststellen: Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz
sind bereits deutliche Verbesserungen im Hinblick auf
die Beitragsbelastung von gesetzlich krankenversicher-
ten Selbstständigen erreicht worden. Hier leistet die Soli-
dargemeinschaft der übrigen Krankenversicherten und
zunehmend auch die Gemeinschaft aller Steuerzahler be-
achtliche Unterstützung.
1) Anlage 7
Was aber tatsächlich schwer nachvollziehbar ist, sind
die doch erheblichen Ungereimtheiten bei freiwillig ver-
sicherten Grundsicherungsempfängern, die der privaten
Krankenversicherung zugeordnet sind. Es ist erfreulich,
dass sie infolge der Pflicht zur Versicherung inzwischen
grundsätzlich Krankenversicherungsschutz genießen.
Wenn sie als privat versicherte Selbstständige aber
schlicht nicht mehr in der Lage sind, ihre Prämienlücke
im Bereich des PKV-Basistarifs aus eigener Kraft schlie-
ßen zu können, so dürfen diese Lasten nicht einfach auf
die Versichertengemeinschaft übergewälzt werden. Ich
jedenfalls habe Verständnis für die Kritik daran, wenn
Hartz-IV-bedürftige ehemals Selbstständige gut 40 Pro-
zent ihrer Arbeitslosenunterstützung ihrem Krankenver-
sicherungsunternehmen schulden.
Der gerade erst in dieser Woche erschienene und ja
wohl völlig zutreffende Bericht im Nachrichtenmagazin
„Spiegel“ legt den Finger genau in diese Wunde. Sein Titel
„Armut per Gesetz“ ist zumindest alles andere als ein
Kompliment für eine Gesundheitsministerin, die ansonsten
größten Wert auf soziale Ausgewogenheit legt. Ich selbst
darf für mich in Anspruch nehmen, auf diese Ungereimt-
heit im Zuge der damaligen parlamentarischen Beratun-
gen zum GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz und darüber
hinaus hingewiesen zu haben. Nur habe ich bei den Ver-
antwortlichen des Bundesgesundheitsministeriums leider
kein Gehör gefunden.
Hier besteht also tatsächlich Nachbesserungsbedarf.
Der sauberste Weg besteht wohl darin, dass im Falle des
Eintretens von Hilfebedürftigkeit bei privat versicherten
Selbstständigen die Kosten in voller Höhe von den jewei-
ligen Sozialversicherungsträgern zu tragen sind. Sach-
gerecht wäre es, solche Unterstützungsleistungen nach
den allgemein gültigen Bedürftigkeitskriterien über Zu-
schüsse des Steuer- und Sozialtransfersystems zu leisten.
Es sollte zwischen freiwillig GKV-versicherten Grund-
versorgungsempfängern und PKV-zugeordneten Hartz-IV-
Empfängern im Falle der Hilfsbedürftigkeit keine Unter-
scheidung getroffen werden. Wenn in der GKV die Ge-
meinschaft der Steuerzahler über die Träger der Grund-
sicherung Hilfe leistet, so muss dies in vergleichbarer
Form auch für andere Versicherte gelten.
Der Schutz Hilfebedürftiger vor finanzieller Überfor-
derung durch Krankenversicherungsbeiträge ist eine ge-
samtgesellschaftliche Aufgabe der Steuerzahler und
nicht einzelner Versichertengemeinschaften. In der ge-
setzlichen Krankenversicherung haben wir dafür inzwi-
schen ja einen beachtlichen Bundeszuschuss aus Steuer-
mitteln verankert. Unerledigt bleibt hier das gerade auch
von der Bundesgesundheitsministerin gegenüber ihren
Bundesministerkollegen Scholz und Steinbrück verfoch-
tene Anliegen, die übrigen Sozialtransfer-Institutionen
auf kostendeckende GKV-Beiträge für die medizinische
Versorgung von Hilfsbedürftigen im Sinne des Sozial-
rechts zu verpflichten. Einen solchen Bundeszuschuss für
gesamtgesellschaftliche Aufgaben kennt die PKV nicht.
Auch deshalb ist es weder sachgerecht noch angemessen,
die dortige Versichertengemeinschaft in einer Geiselhaft
mit der Kompensation für Beitragsausfälle zu belegen.
(C)
(D)
Max Straubinger
Diese Stoßrichtung der Linken lehnt die Unionsfraktion
ab.
Ich darf zusammenfassen: Unbestreitbar existieren
bei der Ausgestaltung der Beitragspflichten zur Kran-
kenversicherung für eng begrenzte Personengruppen
Ungereimtheiten, die von den Betroffenen als ungerecht
und richtigerweise auch als korrekturbedürftig empfun-
den werden. Nur sollte man diese Ungereimtheiten nicht
jeweils einer isolierten Lösung zuführen. Denn mit jeder
vermeintlichen Gerechtigkeitslücke, die wir schließen,
reißen wir neue auf. Im Steuerrecht ist dies nicht anders.
Ich plädiere deshalb mit Nachdruck für eine umfassende
Bestandsaufnahme. Danach sollten wir uns gemeinsam
um Korrekturen bemühen, die allen Betroffenengruppen
gerecht werden.
Der Antrag der Partei der Linken, die sich hier bemer-
kenswerterweise als Partei der Selbstständigen präsentiert,
besteht aus zwei Forderungen, die beide gut gemeint,
aber falsch sind und deshalb von der SPD-Fraktion ab-
gelehnt werden.
Erstens soll die Bemessungsgrundlage für freiwillig
gesetzlich krankenversicherte Selbstständige so abge-
senkt werden, dass diese nur noch einen Beitrag von min-
destens rund 130 Euro leisten. Dies widerspricht einer
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Min-
destbemessungsgrenze für Selbstständige in der GKV im
Jahr 2001. Darin wurde festgestellt, dass hauptberuflich
Selbstständige mit niedrigen Einnahmen weiterhin höher
belastet werden dürfen als sonstige freiwillige Kranken-
versicherungsmitglieder. Diese unterschiedliche Behand-
lung sei sachlich gerechtfertigt, da die der Beitragsbemes-
sung zugrunde liegenden Einnahmen bei hauptberuflich
Selbstständigen nach den Vorschriften des Einkommen-
steuergesetzes festgestellt werden. Selbstständige können
beispielsweise Betriebsausgaben abziehen; es werden le-
diglich die Nettoeinnahmen zugrunde gelegt. Die übrigen
freiwillig Versicherten zahlen dagegen Beiträge auf der
Grundlage ihrer Bruttoeinnahmen. Insbesondere kommen
ihnen Steuererleichterungen wie Werbungskosten nicht
zugute. Es diene der Beitragsgerechtigkeit, wenn für
hauptberuflich Selbstständige der Vorteil aus der Beitrags-
bemessung typisierend durch die Festsetzung einer beson-
deren Mindestbemessungsgrenze ausgeglichen werde, so
das Bundesverfassungsgericht.
Kurz gefasst bedeutet das, dass bei den freiwillig ver-
sicherten Arbeitnehmern die Beiträge vom Brutto-
einkommen bemessen werden, bei den Selbstständigen
aber vom Netto. Wenn jetzt die Selbstständigen bei den
Beiträgen entlastet würden, wie die die Linke das fordert,
ginge dies automatisch zulasten der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer. Im Gegensatz zur Linken lehnt die
SPD daher eine stärkere finanzielle Belastung der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ab.
Zweitens will die Linke die Selbstständigen entlasten,
die sich gegen die Solidargemeinschaft der GKV ent-
schieden und die private Versicherung gewählt haben,
nun aber Bezieher von Arbeitslosengeld II sind. Seit dem
1. Januar 2009 gilt, dass diese auch dann im System der
Zu Protokoll
PKV verbleiben. Der Träger des Arbeitslosengeldes II
erstattet dem privaten Versicherungsunternehmen jedoch
nur den Betrag, den sie auch für einen gesetzlich versi-
cherten Leistungsempfänger überweist. Dadurch kann
eine Deckungslücke gegenüber dem Unternehmen ent-
stehen, die der ehemals Selbstständige aus dem Leis-
tungsbetrag auffüllen muss.
Die Linke will nun, dass der Staat hier einspringt, um
die Betroffenen zu entlasten. Das ist nachvollziehbar,
verstärkt aber nur die Zweiklassenmedizin. Es kann doch
nicht sein, dass der Steuerzahler für den einen Arbeits-
losen, den ehemals Selbstständigen, mehr aufwendet als
für den anderen, der gesetzlich versicherter Arbeitnehmer
war. Warum sollten die überwiegend gesetzlich versi-
cherten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit ihren
Steuergeldern die Privatassekuranz stützen, von der sie
nichts haben?
Gleichzeitig wirft dieser arbeitnehmerfeindliche An-
trag der Linken aber auch ein erhellendes Licht auf das
gesamte, völlig verquere System der privaten Kranken-
versicherung. Es ist ja nicht so, dass die PKV gezwungen
ist, vom Arbeitslosen die rund 285 Euro zu nehmen. Dieser
halbierte Basistarif ist ja nur der Maximalbetrag. Es ist
nicht einzusehen, warum die PKV beispielsweise für einen
freiberuflich tätigen Hausarzt mit 40 Jahren eine Prämie
von 190 Euro nimmt, während sie vom vierzigjährigen,
arbeitslosen, ehemals selbstständigen Ingenieur 285 Euro
verlangt. Im Interesse ihrer Versicherten sollten die Unter-
nehmen hier schleunigst aus eigener Kraft auf Abhilfe
drängen. Stattdessen rufen die PKV-Unternehmen im
Verein mit der Linken nach dem Staat.
Die Kollegen Spieth und andere, die diesen Antrag
eingebracht haben, sollten meiner Meinung nach hier
noch einmal nachsitzen, ihre Hausaufgaben machen und
ihre Haltung überdenken. Denn auch die Unternehmen
fordern, dass die gesetzliche Krankenversicherung ihre
Arbeitslosen aufnehmen soll, damit die gut verdienenden
Selbstständigen und Beamten entlastet werden. Diese
Haltung zeigt gerade in der Krise, dass das PKV-System
zunehmend abgewirtschaftet hat. Daher wird der nächste
Bundestag die große Herausforderung annehmen müs-
sen, unser Gesundheitssystem, deren privater Teil sich
zunehmend als krisenanfällig erweist, komplett neu zu
ordnen. Wir brauchen eine Bürgerversicherung, die für
alle Bürger eine medizinische Versorgung auf hohem
Niveau garantiert und bei der alle Bürger entsprechend
ihrem Einkommen in die Solidargemeinschaft einzahlen,
so wie die SPD es in ihrem Regierungsprogramm vor-
sieht.
Der Antrag der Linken hat auf einen Missstand auf-merksam gemacht, den auch die FDP-Fraktion bereitsim Gesetzgebungsverfahren zur letzten Gesundheits-reform kritisiert hat. Mittlerweile bestätigen Politikerder Koalitionsfraktionen die aufgeworfenen Probleme.Herr Lauterbach spricht im aktuellen Spiegel von einerRegelungslücke, Herr Kollege Straubinger von Unge-reimtheiten. Aus Sicht der FDP sage ich, dass es sich
Metadaten/Kopzeile:
25926 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Daniel Bahr
hierbei nicht um Kleinigkeiten, sondern um eine grundle-gend falsche Konzeption handelt.Mit der Gesundheitsreform wird die Höhe der Prämiefür hilfebedürftige Versicherte im Basistarif einer priva-ten Krankenversicherung halbiert. Diese Halbierungmuss durch die Versichertengemeinschaft der privatenKrankenversicherung getragen werden. Zu der dannnoch verbleibenden Prämie erhält der hilfebedürftigeVersicherte zwar einen Zuschuss aus Steuermitteln überdas Arbeitslosengeld II. Für viele bleibt jedoch eine nichtschulterbare Finanzierungslücke bestehen.Diese Finanzierungslücke von über 155 Euro pro Mo-nat ist der schwarz-roten Koalition nicht nur bereits seitdem Gesetzgebungsverfahren zum GKV-WSG bekannt,sie hat sie sogar bewusst ignoriert. Damit sollte ganz be-wusst eine Situation geschaffen werden, die daraufhinausläuft, dass die anderen PKV-Versicherten dieseFinanzierungslücke durch eine Verteuerung ihrer Tarifeschließen müssen. Das ist nicht nur inhaltlich falsch. Dasist auch unverantwortlich. Es ist die Fortsetzung des Ver-suchs, die private Krankenversicherung zu schwächen,um beim Marsch in ein staatlich gelenktes, zentralisti-sches Einheitskassensystem wieder ein Stück voranzu-kommen.Die Linke greift mit ihrem hier zur Debatte stehendenAntrag zwar das berechtigte Anliegen auf. Die Linkeschlägt aber ordnungspolitisch keine sinnvolle Lösungvor. Die Finanzierungslücke durch die Versichertenge-meinschaft der privaten Krankenversicherung tragen zulassen, ist falsch und zeugt nur von intransparenter Um-verteilung.Für die FDP-Bundestagsfraktion ist es eine Selbstver-ständlichkeit, dass derjenige, der seine Prämie aus eige-nen Kräften nicht schultern kann, unterstützt werdenmuss. Aus den Regelsätzen für Hartz IV bzw. der Grund-sicherung kann die Finanzierungslücke bei der Prämienicht bestritten werden. Dies ist für die FDP-Bundes-tagsfraktion jedoch eine gesamtgesellschaftliche Auf-gabe, die damit nicht über die Versichertengemeinschaft,sondern über das Steuer- und Transfersystem erfolgenmuss. Die FDP will in ihrem Konzept einer nachhaltigenFinanzierung des Gesundheitswesens den sozialen Aus-gleich ins Steuer-/Transfersystem verlagern. Dort ist ergerechter und treffsicherer. Jeder wird nach seiner Leis-tungsfähigkeit beteiligt, alle Einkunftsarten werden fürden sozialen Ausgleich berücksichtigt, die Unterstützungwird auf die Bedürftigen konzentriert. Das hier ange-sprochene Problem bestärkt uns in unserem Konzept.
Es geht uns mit unserem Antrag um die Lösung zweierunterschiedlicher Probleme: Selbstständigen, die privatkrankenversichert sind und Unterhaltsleistungen nachHartz IV erhalten, konnten bis 2008 in die gesetzlicheKrankenversicherung wechseln. Seit Anfang 2009 gibt esdiese Möglichkeit nicht mehr. Wer privat krankenversi-chert ist, muss in der privaten Krankenversicherung blei-ben. Eine private Krankenversicherung mit den gleichenLeistungen, die in der gesetzlichen Krankenversicherunggelten, im sogenannten Basistarif, kostet den Betroffenen284,81 Euro. Bei von Hartz IV betroffenen Selbstständi-Zu Protokollgen übernimmt die Arge aktuell 124,32 Euro. Der Betrof-fene muss also 160,49 Euro aus seinem Regelsatz von359 Euro zahlen! Es blieben also noch 198,51 Euro zumleben – pro Monat und nicht pro Woche!Das Bundesarbeitsministerium hat auf unsere diesbe-zügliche Anfrage eindeutig auf die Verfassungswidrigkeitdieser Regelung hingewiesen. Es hat erklärt, dass ausden Unterhaltsleistungen in Höhe von 359 Euro keineVersicherungsbeiträge abgezogen werden dürfen, weilsonst das Existenzminimum unterschritten würde. AlleVersuche, dies vernünftig zu regeln, sind bisher an derKoalition gescheitert. Die Folge: Viele Betroffene versu-chen deswegen der Krankenversicherungspflicht zu ent-gehen und bleiben unversichert. Viele reichen nur die124,32 Euro von der Arge an ihre Krankenversicherungweiter. Die muss dann, so ist das im Gesetz geregelt, zwarauch weiterhin volle Leistungen erbringen, erwirbt aberzivilrechtliche Ansprüche gegen den Versicherten. Jeder-zeit können die Versicherungsunternehmen diese Ansprü-che per Mahnung, Mahnbescheid, Vollstreckungsantrag,Gerichtsvollzieher und Pfändung geltend machen. Dasführt am Ende zum Offenbarungseid. Der gesetzlicheZwang zur privaten Überschuldung muss weg. Ob dieLücke durch Steuergelder, die private Krankenversiche-rung oder auf einem anderen Weg gelöst wird, soll dieBundesregierung entscheiden. Jede Regelung ist besserals die, die wir jetzt haben. Nichts anderes wollen wir mitunserem Antrag. Der Koalition ist das Problem von An-fang an bekannt gewesen. Sie konnte sich auf keine Lö-sung verständigen. In der ersten Lesung unseres Antragsam 14. Mai 2009 erklärte uns die Bundesregierung imPlenum, man werde das Problem lösen. Die Betroffenen,mit denen ich gesprochen habe, hatten die Hoffnung,dass eine Lösung getroffen wird. Sie werden enttäuscht.Jetzt ist klar: Vor der Wahl passiert gar nichts mehr!Der Lösungsvorschlag aus den beteiligten Ministerienist an der Unfähigkeit der Koalitionsfraktionen zur Eini-gung gescheitert. Viele ehemals Arbeitslose, die zur Ver-meidung von Hartz IV eine Ich-AG gegründet haben,sind die Leidtragenden. Es sind Tausende, die derzeitschon betroffen sind. Mit jedem Monat – gerade in derKrise – werden noch mehr einkommenslos gewordeneSelbstständige dazukommen. Die Fraktion Die Linkewird in dieser Angelegenheit weiter Druck machen. Beider zweiten Gruppe in unserem Antrag geht es um frei-willig in der gesetzlichen Krankenversicherung versi-cherte Selbstständige mit geringem Einkommen. Ki-oskbesitzer, Friseurinnen, Imbissbudenbesitzer oderscheinselbstständige Callcentermitarbeiterinnen und -mitarbeiter und viele andere mehr haben oft nur ein mo-natliches Einkommen von 900 Euro oder noch weniger.Als freiwillig Krankenversicherte müssen sie aber einenBeitrag zahlen, der unterstellt, sie hätten ein Mindest-einkommen von 1 890 Euro. Geregelt ist das in dersogenannten Mindestbeitragsbemessungsgrenze. Diesbedeutet, dass die Betroffenen rund 282 Euro Kranken-versicherungsbeitrag zu zahlen haben. Bei Sonderfällenkann bei der Krankenkasse eine Reduktion auf ein gerin-geres Einkommen von 1 260 Euro beantragt werden.Aber auch das führt zu einem Beitrag von 188 Euro!Geringverdienende Selbstständige werden infolge-dessen mit bis zu 21 oder 31 Prozent ihres Einkommenszur Krankenversicherung herangezogen. Das hat mit
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25927
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
25928 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Frank Spiethsozialer Gerechtigkeit nichts zu tun und ist eine absoluteÜberforderung der Betroffenen. Deshalb will die Linkedie Mindestbeitragsbemessungsgrenze für die Selbst-ständigen auf die „allgemeine Mindestbeitragsbemes-sungsgrundlage freiwillig Versicherter“ nach § 240 Abs. 4Satz 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (840Euro im Monat) absenken. Damit würde die Untergrenzeder monatlichen Versicherungsbeiträge von 282 Euro bzw.188 Euro auf 125 Euro für die Betroffenen gesenkt. Daswürde eine echte Entlastung für Hunderttausende ge-ringverdienende Solo-Selbstständige oder Ich-AGler be-deuten und den Zugang zur Krankenversicherung auchfaktisch gewährleisten. Die Linke will mit diesem Antragkeine Geschenke verteilen, sondern lediglich zwei Unge-rechtigkeiten beseitigen. Deshalb bitte ich Sie um IhreZustimmung.
Bereits bei der ersten Lesung im Mai waren sich alle
Fraktionen einig, dass für bestimmte Gruppen von
Selbstständigen Handlungsbedarf besteht, damit diese
eine für sie bezahlbare Krankenversicherung abschlie-
ßen können. Ich kann nur wiederholen: Der Jubel der
Bundesregierung in Anzeigen mit dem Titel „Ganz
Deutschland ist versichert!“ stimmt mit der Realität
nicht überein. Die allgemeine Versicherungspflicht ist
sinnvoll, aber sie kann weder über die vielen Defizite der
Gesundheitsreform noch über die konkreten Probleme in
diesem speziellen Fall hinwegtäuschen.
Trotz Gesundheitsreform ist für viele sogenannte
kleine Selbstständige der Krankenversicherungsschutz
nicht finanzierbar. Der Basistarif in der PKV ist für sie zu
teuer, die Mindestbemessungsgrundlage in der GKV zu
hoch. Diese Selbstständigen, deren Zahl ständig steigt,
sind ebenso wie Angestellte auf den Schutz der Solidar-
gesellschaft angewiesen. Die Realität und nicht ein
längst überholtes Bild von Selbstständigkeit muss sich in
den Gesetzen niederschlagen.
Ich habe die zu Protokoll gegebenen Beiträge der ers-
ten Lesung nachgelesen. Wer nicht weiß, dass die Bun-
desregierung und die Regierungskoalition diese Rege-
lungen beschlossen haben, könnte aufgrund des Beitrags
der Union glauben, dass allein die Gesundheitsministe-
rin verantwortlich ist für die Reform. So billig kommt die
Union jedoch nicht davon. Die Gesundheitsreform ist ein
gemeinsames, wenn auch in vielem missratenes Werk.
Gerade die Union verhindert grundsätzliche Verände-
rungen hin zu einem einheitlichen Versicherungsmarkt
mit fairem Wettbewerb zwischen privaten und gesetzli-
chen Krankenversicherungen. Die – in Europa inzwi-
schen einmalige – Zweiteilung unseres Krankenversiche-
rungssystems in GKV und PKV schafft erst die Probleme,
die wir heute erneut diskutieren. Aber gerade an dieser
Ungerechtigkeit, dass sich ausgerechnet die wirtschaft-
lich leistungsstärksten Bevölkerungsgruppen dem Soli-
darausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung
entziehen können, will die Union nichts ändern. Aber
auch die SPD, mit der wir die Grundrichtung einer soli-
darischen Bürgerversicherung teilen, kann es sich nicht
so einfach machen wie bei der ersten Lesung. Darüber zu
klagen, dass der Koalitionspartner nicht will, reicht nicht
aus für eine Regierungsfraktion, die handlungsfähig blei-
ben will.
Die Koalition hätte die Chance gehabt, im Rahmen
der Arzneimittelgesetznovelle, an die ja hunderte andere
Änderungen angehängt wurden, Nägel mit Köpfen zu
produzieren. Doch wir warteten vergeblich auf entspre-
chende Änderungsanträge. Die Koalition konnte sich
mal wieder nicht einigen. Sie demonstriert Handlungsun-
fähigkeit, unter der die Betroffenen nun weiterhin leiden
müssen.
Wir Grünen stimmen diesem vorliegenden Antrag
grundsätzlich zu. Die Forderung, den privaten Kranken-
versicherungsunternehmen zur Auflage zu machen, den
Basistarif so weit abzusenken, dass keine Differenz zwi-
schen den Zahlungen der öffentlichen Hand und der Prä-
mie entsteht, halten wir für gerechtfertigt.
Wir teilen das Anliegen, Selbstständigen mit geringen
Einkommen eine bezahlbare Krankenversicherung zu er-
möglichen. Probleme sehen wir hingegen bei der gefor-
derten Absenkung der Mindestbemessungsgrenze für
Selbstständige auf 840 Euro im Monat. Das beitrags-
pflichtige Einkommen wird bei hauptberuflich Selbst-
ständigen anders ermittelt als bei Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern. Bei den Selbstständigen gilt das Net-
toprinzip des Einkommenssteuerrechts. Dagegen werden
bei den sonstigen freiwillig Versicherten die Bruttoein-
nahmen zur Beitragsberechnung herangezogen. Damit
kommen ihnen bei der Beitragsbemessung Steuererleich-
terungen, wie zum Beispiel Werbungskosten, nicht zu-
gute. Die Mindestbemessungsgrenze für Selbstständige
dient eben auch dazu, diesen Vorteil wieder auszugleichen.
Vor diesem Hintergrund hat das Bundesverfassungsge-
richt im Jahr 2001 die höhere Mindestbemessungsgrenze
für Selbstständige auch als verfassungsgemäß bezeichnet.
Gleichzeitig haben wir Bedenken, dass die bestehende
Selektion zwischen PKV – junge, gesunde, einkommens-
starke – und GKV – einkommensschwache Selbststän-
dige mit hohen Gesundheitsrisiken – durch die vorge-
schlagene Regelung verstärkt wird. Damit würden
jedoch die gesetzlich Krankenversicherten zusätzlich be-
lastet.
Da wir die Zielstellung des Antrags teilen, stimmen
wir trotz dieser Bedenken zu. Damit wir nicht gezwungen
sind, immer wieder Detaillösungen für diese und weitere
Ungerechtigkeiten zu finden, setzen wir Bündnisgrünen
uns für die Weiterentwicklung unseres Krankenversiche-
rungssystems in eine solidarische Bürgerversicherung
ein. Erst dann werden sich die vielen Systembrüche und
Ungerechtigkeiten, die heute zwischen GKV und PKV
stattfinden, beheben lassen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss fürGesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlungauf Drucksache 16/13260, den Antrag der Fraktion DieLinke auf Drucksache 16/12734 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25929
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solmsmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istmehrheitlich angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 46 a auf:Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Jerzy Montag, Irmingard Schewe-Gerigk,Hans-Christian Ströbele, weiteren Abgeordnetenund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver-besserung des Verfahrens zur Wahl der Bun-desverfassungsrichterinnen und Bundesver-fassungsrichter– Drucksache 16/9628 –Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 16/13670 –Berichterstattung:
Joachim StünkerSabine Leutheusser-SchnarrenbergerWolfgang NeškovićJerzy Montag
Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung einen
Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Er
bricht mit einem über Jahrzehnte bewährten System der
Wahlen zum Bundesverfassungsgericht, ohne dabei das
selbstgesteckte Ziel zu erreichen. Der Entwurf ist daher
alles in allem leider unausgegoren und mangelhaft.
Der Vorwurf, das bisherige Wahlverfahren für die vom
Bundestag zu berufenden Bundesverfassungsrichter sei
intransparent und habe demokratische Defizite, ist schon
bemerkenswert vor dem Hintergrund, dass die Grünen
entsprechende Gesetzentwürfe in der 11., 12. und
13. Wahlperiode bereits erfolglos eingebracht haben,
man seit ihrer Regierungsbeteiligung ab der 14. Wahl-
periode aber vergleichbare Initiativen vergebens sucht.
Offenbar gewährleistet nach Ansicht der Grünen also
auch die bisherige Regelung durchaus Transparenz und
Demokratie – solange es sich um eine Bundesregierung
mit grüner Beteiligung handelt; ein fragwürdiges Demo-
kratieverständnis.
Zudem ist auch der Vorwurf in der Sache unhaltbar,
wie ein kurzer Blick auf die jetzige Situation zeigt: Die
öffentliche Akzeptanz der Entscheidungen des Bundes-
verfassungsgerichts ist flächendeckend und überfraktio-
nell. In aktuellen Umfragen genießt es mit 67 Prozent ein
sehr großes Vertrauen in der Bevölkerung. Das Bundes-
verfassungsgericht, das immer wieder als Vorbild für
Verfassungsgerichte im Ausland dient, ist zudem eines
der beliebtesten Exportmodelle deutscher Rechtsstaat-
lichkeit und hat herausragende Richterpersönlichkeiten
hervorgebracht. Eine Verbesserung des Auswahlverfah-
rens ist von den Vorschlägen der Grünen nicht zu erwar-
ten.
Im Hinblick auf die demokratische Legitimation sehe
ich keinen dringlichen Handlungsbedarf. Das Grundge-
setz schreibt in Art. 94 als zentraler Norm vor, dass Rich-
terinnen und Richter zur Hälfte von Bundestag und Bun-
desrat gewählt werden. Weitere Bestimmungen über die
Wahl lassen sich dem Verfassungstext nicht entnehmen.
Dem Gesetzgeber kommt damit in Bezug auf Mehrheit
und Ausgestaltung des Wahlverfahrens ein weiter Ermes-
sensspielraum zu, den er im Bundesverfassungsgerichts-
gesetz ausgeübt hat.
Art. 94 des Grundgesetzes schreibt die unmittelbare
Wahl nicht ausdrücklich vor. In anderen Grundgesetz-
normen, wie etwa Art. 38 Abs. 1 Satz 1 oder Art. 28
Abs. 1 Satz 2 wird diese ausdrücklich erwähnt. Mit der
Nennung von Bundestag und Bundesrat wurde insoweit
lediglich die Wahl durch zwei verschiedene Verfassungs-
organe vorgeschrieben, aber keine unmittelbare Wahl auf
verfassungsrechtlicher Ebene angeordnet. Darauf hat
insbesondere auch Professor Dr. Christian Calliess in
der Sachverständigenanhörung hingewiesen.
Gerade im Hinblick auf Sinn und Zweck der mittelba-
ren Wahl ist zu bedenken, dass bei der Wahl von Bundes-
verfassungsrichtern vielfältige Fragen aufgeworfen
werden. Nicht nur der Parteienproporz, sondern zum
Beispiel auch Länder, Berufe, Fächer, Religionen und
Geschlechter können relevant sein. Ich glaube nicht,
dass alle damit zusammenhängenden Fragen effektiv im
Plenum des Bundestags geklärt und behandelt werden
können. Der Wahlausschuss gewährleistet als kleines
Fachorgan in sachlicher, konzentrierter Arbeit die funk-
tionelle Wahrnehmung dieser schwierigen Auswahlent-
scheidungen. Die Sachkenntnis der im Wahlgremium
vertretenen Abgeordneten und die geringe Größe des
Ausschusses bieten die größtmögliche Garantie für Ver-
traulichkeit, das Zustandekommen einer Wahl und die
Gewinnung geeigneter Persönlichkeiten.
Das Bundesverfassungsgericht hält diese Vorgehens-
weise ebenfalls für rechtmäßig. Auch wenn es selbst nie
explizit zur Verfassungsmäßigkeit der indirekten Wahl
Stellung genommen hat, hat es diese jedoch in seinen
Entscheidungen stets als verfassungsrechtlich zulässig
vorausgesetzt.
Demgegenüber scheinen mir die Grünen lediglich
eine Scheindebatte zu führen, um sich kurz vor der Wahl
in Verfassungsfragen wie der Richterwahl oder aber
morgen beim Wahlrecht noch einmal in Szene setzen zu
können. Aber auch eine Plenumsentscheidung würde
nichts daran ändern, dass aufgrund des Erfordernisses
einer qualifizierten Mehrheit die wesentlichen Abspra-
chen bereits im Vorfeld getroffen werden müssten. Der
vorliegende Entwurf könnte somit Öffentlichkeit und
Transparenz im Entscheidungsprozess nicht verbessern.
Wenn ich dann in dem Entwurf weiter lese, die Zustän-
digkeit solle von dem Wahlausschuss auf den Rechtsaus-
schuss übergehen und dieser solle im Vorfeld eine sich
zentral auf Verfassungsfragen konzentrierende Anhörung
der Kandidaten durchführen, so kann ich nur sagen,
mehr Demokratie und mehr Transparenz ja, immer, aber
nicht um jeden Preis. Ein mediales Schaulaufen der Kan-
didaten, wie es im Stammland der Anhörungen, den USA,
(C)
(D)
Dr. Günter Krings
üblich ist, kann niemand ernsthaft als Verbesserung un-
seres Systems ansehen.
Das Anhörungsverfahren ist charakteristisch für das
amerikanische System, in dem Präsident und Kongress
im politischen Wettbewerb miteinander stehen. Der Prä-
sident ernennt die Richter, das Parlament kontrolliert ihn
insoweit. Diese Kontrollfunktion kann eine Anhörung in
unserem System nicht erfüllen, weil Parlamentsmehrheit
und Regierung auf einer Seite stehen. Zudem sind in den
USA Fragen nach sexueller Orientierung oder familiä-
ren Bindungen keine Seltenheit. In die Anhörung treten
dort bis aufs Letzte vorbereitete Kandidaten, die jede
Positionierung zu vermeiden suchen. Das Anhörungsver-
fahren produziert auf diese Weise mediensichere Richter
mit im Verborgenen gebliebener politischer Überzeu-
gung. Ich kann den Bundestagskollegen der Grünen nur
einmal einen Besuch in der Anhörung des US-Senats zur
Wahl von Bundesrichtern empfehlen; ich glaube, das
würde ihre krausen Ideen einer Spontanheilung zuführen.
Eine Selbstbeschränkung der Parteien in der Aus-
übung ihres Fragerechts halte ich angesichts strittiger
Mehrheiten und der Konkurrenz der Bewerber für un-
wahrscheinlich. In der politischen Realität wird das nicht
durchsetzbar sein. Es handelt sich hierbei doch nicht um
die bloße Anhörung wissenschaftlicher Sachverständi-
ger, sondern um ein Bewerbungsgespräch, in dem von
vornherein eine Konkurrenzsituation zwischen den Be-
fragten sowie den sie befürwortenden Gruppen besteht.
Moralische Fragen verdrängen juristische oder rechts-
politische Kernthemen. Statt mehr Transparenz erhalten
wir hier mehr Politisierung und Ideologisierung. Dies
widerspricht zudem dem Verständnis des Grundgesetzes
von einem Verfassungsgericht, das zwar durchaus auch
politische Fragen entscheidet, aber letztlich primär im-
mer ein Gericht ist.
Im Bundesverfassungsgerichtsgesetz hat der Gesetz-
geber 1956 mit gutem Grund das Erfordernis einer Drei-
viertelmehrheit für die Wahl der Bundesverfassungsrich-
ter auf die heute erforderliche Zweidrittelmehrheit
gesenkt. In der zu dem Gesetzentwurf durchgeführten
Sachverständigenanhörung war man sich einig, dass
eine Erhöhung dieses Erfordernisses abzulehnen sei. Das
Erfordernis der qualifizierten Mehrheit bei der Wahl zum
Bundesverfassungsgericht dient der Absicherung größt-
möglicher Neutralität des Gerichts. Auch für kleinere
Parteien besteht durchaus die Chance, einen Kandidaten
im Auswahlverfahren durchzubringen. Die Praxis zeigt,
dass in Koalitionsregierungen sowohl die FDP als auch
die Grünen Richter haben benennen können. Die Anhe-
bung auf die Dreiviertelmehrheit würde hingegen gerade
im Vorfeld von Wahlen die Findung mehrheitsfähiger
Kandidatinnen und Kandidaten komplexer und langwie-
riger machen als bisher. Dies belegen die Erfahrungen
aus der Vergangenheit mit der Dreiviertelmehrheit. Jede
Richterin und jeder Richter muss heute mit Zweidrittel-
mehrheit gewählt werden. Dies schützt sowohl die Stel-
lung des Bundesverfassungsgerichts als auch seine
Funktionsfähigkeit. Es ist damit ausreichend sicherge-
stellt, dass die Kandidaten von einer breiten Parlaments-
mehrheit getragen werden. Dieses stabile Verteilungssys-
tem durch ein überholtes Instrument aus der
Zu Protokoll
Vergangenheit gefährden zu wollen, halte ich für grob
fahrlässig.
Lassen Sie mich noch auf einen weiteren Aspekt des
Gesetzesentwurfs eingehen: Frauenförderung ist natür-
lich auch und gerade beim höchsten Gericht von heraus-
ragender Bedeutung. Eine verpflichtende Frauenquote
ist jedoch keine Verbesserung für das Auswahlverfahren.
Denn zahlreiche Kriterien sind bei der Wahl der höchs-
ten Richter zu beachten und nicht immer können alle aus-
reichend berücksichtigt werden. Parität durch Zwang ist
Würde und Ansehen des Verfassungsgerichts nicht ange-
messen, zumal künftige Verfassungsrichterinnen in der
Öffentlichkeit dann möglicherweise unabhängig von ih-
rer fachlichen Qualifikation als reine „Quotenfrauen“
angesehen würden. Es wäre zudem merkwürdig, wenn
ausgerechnet beim einzigen Bundesgericht, das zugleich
Verfassungsorgan ist, eine derart demokratiewidrige Be-
schränkung des Wahlverfahrens eingeführt würde – ohne
dass sich diese unter fachlichen und qualitätssichernden
Aspekten rechtfertigen ließe.
Wir haben gute Gründe, stolz auf unser höchstes Ge-
richt zu sein. Es hat sich über Jahrzehnte mehr als nur
bewährt. Es hat den wirtschaftlichen und demokrati-
schen Aufbau Deutschlands seit seiner Gründung 1951
immer wieder durch richtungsweisende Entscheidungen
begleitet und maßgeblich mitgestaltet. Das gilt – da bin
ich sicher – auch für die Zukunft. Es gilt allerdings nur,
wenn wir die fachliche Qualität, die Ausgewogenheit der
Besetzung der Spruchkörper und so letztlich das hohe
Ansehen des Bundesverfassungsgerichts in der Bevölke-
rung bewahren. Deshalb dürfen und werden wir den For-
derungen von Bündnis 90/Die Grünen nicht nachkom-
men.
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bun-destages zur Verbesserung des Verfahrens zur Wahl vonBundesverfassungsrichterinnen und Bundesverfassungs-richtern: In Rede steht das Verfahren zur Wahl der Bun-desverfassungsrichterinnen und Bundesverfassungsrich-ter, ein Verfahren, das sich in über 50 Jahren bewährthat. Dieses Wahlverfahren hat in all den Jahrzehnten da-für gesorgt, dass Richtermacht und Verantwortung durchdie Besetzung des Bundesverfassungsgerichts mit fähi-gen Juristinnen und Juristen in guten Händen liegt. Auchund vor allem deshalb verfügt das Verfassungsgerichtüber großes Ansehen in der Bevölkerung.Ob überhaupt und vor allem wie dann ein an sich be-währtes Verfahren geändert werden soll, muss man sichdaher gründlich und gut überlegen. So soll nach den Vor-stellungen von Bündnis 90/Die Grünen der Rechtsaus-schuss die Wahl der Bundesverfassungsrichterinnen und-richter vorbereiten und insbesondere eine Kandidaten-anhörung durchführen. Die Richterinnen und Richterwählen soll dann der Deutsche Bundestag. Der Vor-schlag klingt einfach, lässt aber zu viele Fragen unbeant-wortet, so etwa die Frage, wie man sich die öffentlicheKandidatenanhörung im Rechtsausschuss vorzustellenhat. Heißt „öffentlich“ unter Beteiligung auch der Me-dienvertreter? Werden wir dann in Zukunft womöglich
Metadaten/Kopzeile:
25930 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Joachim StünkerLiveübertragungen der Kandidatenanhörung im Fernse-hen erleben? Vor allem stellt sich auch die Frage, wasdamit transparent werden soll: die Rechtskunde dieserPerson oder die politische Einstellung dieser Person?Eine weitere Frage ist, wer genau eigentlich ein Kan-didatenvorschlagsrecht haben soll. Die Parteien desDeutschen Bundestages, jede Fraktion? Wie viele Kandi-daten sollen überhaupt vorgeschlagen werden dürfen?So reiht sich Frage an Frage. Und mit jeder Fragenimmt die Gewissheit zu, dass der Änderungsvorschlagam Ende eher etwas verschlimmbessert als verbessert.In der Anhörung des Rechtsausschusses des Deut-schen Bundestags im Juni dieses Jahres haben die Exper-ten den Änderungsvorschlag einer kritischen Betrach-tung unterzogen und viele weitere nachdenkenswerteAspekte aufgezeigt, so zum Beispiel den Aspekt, dassdurch eine öffentliche Befragung Kandidaten zu Festle-gungen in politisch brisanten Fragen gedrängt werdenkönnten und sich bei einem späteren Prozess Befangen-heit vorwerfen lassen müssten. Ein weiterer Aspekt ist dieGefahr einer Politisierung des Anhörungsverfahrens,wenn es von Beteiligten zur politischen Profilierung ge-nutzt würde. Thematisiert wurde auch die Versuchungund Auswirkung, in einer öffentlichen Anhörung den je-weiligen Kandidaten der anderen Seite in ein gewissesZwielicht zu bringen.Unter dem Strich sind die Entwürfe der FraktionBündnis 90/Die Grünen alles andere als ein goldenerWurf. Es reicht eben nicht, in den Entwurfstitel das WortVerbesserung aufzunehmen, wenn sich tatsächlich nichtsverbessert.Noch einmal: Wir haben ein bewährtes Verfahren.Hieran sollten wir nicht rütteln, solange über das Ob undvor allem über das Wie einer Änderung noch erheblicherDiskussionsbedarf besteht. Insofern gilt es, die Diskus-sion in der kommenden Legislaturperiode fortzusetzen.
In der Regel läuft die Neubesetzung von freigeworde-nen Richterstellen am Bundesverfassungsgericht stillund geräuschlos ab. Hinter verschlossenen Türen eini-gen sich die Parteien auf geeignete Kandidaten und dasErgebnis wird vom Richterwahlausschuss bestätigt. Imvergangenen Jahr haben wir erlebt, dass es auch andersgehen kann. Die Neubesetzung der Richterstelle des aus-geschiedenen Vizepräsidenten, Professor Hassemer,wurde von einer öffentlichen Auseinandersetzung beglei-tet. Der von der SPD nominierte Kandidat, ProfessorDreier, war heftigen Angriffen aus den Reihen der Politikund der Medien ausgesetzt. Seine Äußerungen undgrundrechtlichen Kommentierungen wurden öffentlichseziert. Die SPD musste schließlich einsehen, dass ihrKandidat im Richterwahlausschuss nicht mehrheitsfähigwar.Kritik an dem Verfahren der Wahl der Richterinnenund Richter am Bundesverfassungsgericht wurde inStaatsrechtlerkreisen schon häufig geäußert. Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt daher, dass sich nun auchder Gesetzgeber mit dieser Frage auseinandersetzt. DerZu ProtokollRechtsausschuss des Deutschen Bundestages hat zu denInitiativen, die wir heute beraten, eine Sachverständi-genanhörung durchgeführt. Die Sachverständigen warensich einig in ihrer Forderung nach einer Reform desWahlverfahrens. Gemäß Art. 94 Abs. 1 GG werden dieRichter des Bundesverfassungsgerichts vom Bundestaggewählt. Dies ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Gemäߧ 6 BVerfGG erfolgt die Wahl durch einen Wahlaus-schuss. Dieser Ausschuss entscheidet abschließend überdie Wahl der Bundesverfassungsrichter. Ein Beschlussdes gesamten Parlaments erfolgt nicht.Seit vielen Jahren besteht eine Vereinbarung zwischenCDU/CSU und SPD im Richterwahlausschuss, sich ein-vernehmlich auf geeignete Kandidaten zu einigen. Eineverfahrensmäßige Beteiligung der kleinen Fraktionen imParlament ist nicht vorgesehen. Gegebenenfalls sind diebeiden großen Fraktionen bereit, quasi als Gnadenakt,einer kleineren Fraktion das Nominierungsrecht für ei-nen Kandidaten zuzugestehen. Dieses Verfahren istrechtsstaatlich bedenklich. Der Richterwahlausschuss istim Grundgesetz an keiner Stelle genannt. Im Gegensatzdazu enthält Art. 95 Abs. 2 GG eine Vorschrift über denRichterwahlausschuss zur Wahl der Richter der oberstenBundesgerichte. Damit ist der plenarersetzende Be-schluss verfassungsrechtlich legitimiert. Für die Beset-zung des Verfassungsorgans Bundesverfassungsgerichtbefindet sich das Verfahren demgegenüber in einer recht-lichen Grauzone.Es ist daher vernünftig, wenn der Gesetzentwurf vonBündnis 90/Die Grünen die Wahl der Richterinnen undRichter für das Bundesverfassungsgericht durch das Ple-num des Bundestages vorsieht. Man mag in der bloßenZustimmung der Abgeordneten zu der vorbereitendenEntscheidung des Wahlausschusses keinen aktiven Ge-staltungsakt erkennen. Es macht jedoch aus Sicht desBundesverfassungsgerichts einen großen Unterschied,ob die Wahl durch einen Wahlausschuss erfolgt oderdurch das gesamte Parlament. Die Legitimation durchden gesamten Deutschen Bundestag hat eine andere Be-deutung als eine Wahl in einem Ausschuss durch nur we-nige Abgeordnete.In dem Gesetzentwurf wird darüber hinaus eine öf-fentliche Anhörung zur Vorbereitung auf die Wahl vorge-schlagen. In der Sachverständigenanhörung gab es dazusehr unterschiedliche Auffassungen. Es besteht durcheine öffentliche Anhörung die Gefahr der politischen In-strumentalisierung. Zudem könnte sich der Kandidat derGefahr der Befangenheit aussetzen, wenn er auf Fragenzu aktuellen politischen Themen Stellung nimmt, mit de-nen er zu einem späteren Zeitpunkt als Richter des Bun-desverfassungsgerichts in konkreten Verfahren befasstsein könnte. Vorzugswürdiger ist demgegenüber einenichtöffentliche Anhörung. Auch auf diese Weise kanndie Transparenz des Verfahrens gefördert werden, ohneden Kandidaten aufgrund einer zu großen Öffentlichkeitzu beschädigen. Abgelehnt wird von der FDP die Einfüh-rung einer Frauenquote. Frauenquoten werden von derFDP-Bundestagsfraktion grundsätzlich kritisch gesehen.Die Gefahr, Quotenrichter zu sein, ist nicht von der Handzu weisen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25931
gegebene Reden
(C)
(D)
Sabine Leutheusser-SchnarrenbergerAufgrund der zu Ende gehenden Wahlperiode wird derGesetzgeber in dieser Sache keine Entscheidung mehrtreffen können. Die FDP-Bundestagsfraktion ist jedochder Auffassung, dass durch die Sachverständigenanhö-rung viele wichtige Probleme herausgearbeitet wurden,für deren Lösung sich der Gesetzgeber einsetzen sollte.Ich hoffe daher, dass wir dieses wichtige Thema in dernächsten Wahlperiode erneut aufgreifen und hier mit ei-ner hoffentlich breiten Mehrheit des Hauses zu einer ein-vernehmlichen Lösung kommen, die im Ergebnis zu ei-nem rechtsstaatlich einwandfreien und transparentenWahlverfahren führt und die der Bedeutung und Würdedes Verfassungsorgans Bundesverfassungsgericht ange-messen ist.Die FDP-Fraktion enthält sich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Im Bundesverfassungsgericht richten derzeit nur dreiFrauen und niemand mit einer Ostbiografie. Fast alleRichterinnen und Richter haben ihre bildungsbürgerli-che Herkunft in der Mittelschicht. Das hat ganz einfacheUrsachen. Die Besetzung des Gerichtes ist seit jeher dietatsächliche Alleinbefugnis der Christ- und Sozialdemo-kraten. Die Grünen wollen das ändern.Zu ihrem Entwurf sagte ich für meine Fraktion vor fasteinem Jahr sinngemäß: Erst wenn sich die Macht im Dis-kurs der Vielfalt bewähren muss, ist sie legitimiert. DieMacht des Bundesverfassungsgerichtes, seine Deutungs-hoheit über den Verfassungstext muss eine Macht sein, inder sich die Vielfalt der Gesellschaft abbildet. DennRichter sprechen im Namen des Volkes. Deswegen musssich die Vielfalt des Volkes tendenziell bei der Besetzungvon Gerichten widerspiegeln. Hierzu gehören die Vielfaltder unterschiedlichen Gesellschaftsvorstellungen, diesoziale Vielfalt, die Vielfalt moralischer und ethischerAuffassungen, die Vielfalt der Biografien, die auch ausdenen des Ostens besteht, und die – ich möchte sagen –„Zweifalt“ einer im 21. Jahrhundert eigentlich selbstver-ständlichen paritätischen Besetzung der Richterbänkemit ebenso viel Frauen wie Männern. Genau dies soll mitdem Gesetzentwurf sichergestellt werden. Insoweit findeter auch unsere Unterstützung.Wir teilen auch das Anliegen der Grünen, eine öffent-liche Anhörung für die Richterwahl vorzusehen. Andersals die meisten Kritiker des Entwurfs sind auch wir derAuffassung, dass die öffentliche Anhörung der richtigeWeg ist, um die Richterwahl aus den Hinterzimmern indie öffentliche Wahrnehmung zu holen. Wir brauchenmehr Transparenz und Teilhabe der Öffentlichkeit. Ge-nau das erreichen wir mit der öffentlichen Anhörung derBewerber.Vielfach ist geäußert worden, diese Art der Prüfungder Kandidaten sei des Amtes und der Funktion der Ver-fassungsrichter unwürdig. Ich meine, unwürdiger als derderzeitige, sich im Verborgenen abspielende Abnickvor-gang kann die Richterwahl nicht sein. Dass in einer An-hörung nicht nur die juristischen Fähigkeiten, sondernauch die gesellschaftspolitischen Wertungshorizonte derBewerber offenbar werden können, stört nur den, derZu Protokollnicht anerkennen mag, dass Richter generell bei der Aus-legung von Gesetzen eine politische – nicht parteipoliti-sche- Tätigkeit ausüben. Das Gegenteil zu behaupten,gehört zu den Lebenslügen der Justiz. Gerade bei Verfas-sungsrichtern ist die politische Gestaltungsmacht evi-dent. Es ist deswegen ein ganz natürlicher Vorgang,wenn die Parlamentarier auch den persönlichen Wer-tungshorizont der Kandidaten kennenlernen wollen. Undauch die Bevölkerung sollte wissen dürfen, wer da übersie zu Gericht sitzt.Wer sich vor der öffentlichen Anhörung ängstigt, demempfehle ich zur Normalisierung seiner Emotionen denBlick nach Schleswig-Holstein. Dort sieht das Richter-wahlgesetz seit 17 Jahren die öffentliche Anhörung vonRichtern vor. Kritik an diesem Verfahren ist bislang nichtbekannt geworden. Was für die Wahl von Richtern mitweit weniger politischen Gestaltungsmöglichkeiten ge-eignet ist, wird für die Besetzung eines anerkannterma-ßen politisch wirkenden Gerichtes wohl kaum von Scha-den sein.Trotz dieser zu begrüßenden Vorstellungen im Gesetz-entwurf wird die Linke nicht zustimmen, sondern sich derStimme enthalten. Der Entwurf sieht vor, dass für dieRichterwahl eine Dreiviertelmehrheit des Bundestageserforderlich sein wird. In einer Demokratie reicht grund-sätzlich die einfache Mehrheit aus. Denn im Kern lebt dieDemokratie vom Wettstreit um diese Mehrheit. DieseMehrheit hat für eine begrenzte Zeit das Vertrauen unddamit die Entscheidungsmacht. Trifft sie Entscheidun-gen, so hat sie diese zu verantworten. Das bedeutet, dasssich die getroffenen Entscheidungen auch darauf auswir-ken, ob die Macht erhalten oder abgegeben werden muss.Sie stellen also einen wesentlichen Teil des Wettstreits umMehrheit und Macht dar.Wenn dieser Zusammenhang aufgelöst wird, indem– wegen des hohen Quorums von drei Viertel – die Min-derheit gleichberechtigt an der Entscheidung beteiligtwird, gibt die Mehrheit in diesem Bereich die Entschei-dungsverantwortung auf. Damit wird dieser Entschei-dungsgegenstand dem demokratischen Wettstreit zwi-schen Minderheit und Mehrheit entzogen. Da beide dieEntscheidung zu verantworten haben, kann der mit derEntscheidung unzufriedene Wähler die Mehrheit nichtmehr mit der Wahl der Minderheit sanktionieren. Deswe-gen sind Entscheidungsquoren, die darauf ausgerichtetsind, die Opposition in die Entscheidungsverantwortungeinzubeziehen, grundsätzlich abzulehnen und auf wenigeAusnahmefälle zu beschränken.Die Richterwahl, auch die von Verfassungsrichtern,liefert keine Gründe für eine solche Ausnahmeregelung.Im Gegenteil: Es ist absehbar, dass dadurch eine Perso-nalpolitik des kleinsten gemeinsamen Nenners begünstigtwerden würde. Das ist, anders ausgedrückt, die Etablie-rung der Herrschaft der grauen Mäuse. Profilierte Rich-terpersönlichkeiten, die der Minderheit nicht passen,hätten keine Chance mehr, obwohl sie eine sie legitimie-rende demokratische Mehrheit hinter sich hätten. Daswiderspricht dem demokratischen Prinzip des Wettbe-werbes zwischen Mehrheit und Minderheit.
Metadaten/Kopzeile:
25932 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25933
(C)
(D)
„Habemus iudicem“, heißt es seit Jahren, ja Jahr-
zehnten, wenn neue Bundesverfassungsrichter – ab und
zu auch Bundesverfassungsrichterinnen – gewählt wer-
den. Wird die Wahl der Verfassungsrichterinnen und Ver-
fassungsrichter auch in Zukunft weiter nach der bisheri-
gen Praxis vorgenommen, dann bleibt die Wahl so
undemokratisch und so undurchsichtig wie die Wahl des
Papstes.
Das Bundesverfassungsgericht ist ein Verfassungsor-
gan und der berufene „Hüter der Verfassung“. Es ist die
staatliche Institution, die bei Bürgerinnen und Bürgern
das höchste Vertrauen genießt. Umso notwendiger ist es,
dass die Wahl der Bundesverfassungsrichterinnen und
Bundesverfassungsrichter transparent, öffentlich und
nach den Regeln der Verfassung erfolgt. Genau das Ge-
genteil ist aber der Fall. Bei der Anhörung zu unserem
Gesetzentwurf hielten einige Sachverständige die derzei-
tige Rechtslage gar für verfassungswidrig.
In Art. 94 GG heißt es, dass die Mitglieder des Bun-
desverfassungsgerichts vom Bundestag und vom Bundes-
rat zu wählen sind. Die Modalitäten der Wahl regelt das
Bundesverfassungsgerichtsgesetz unterschiedlich. Der
Bundesrat wählt – den Vorgaben der Verfassung entspre-
chend – direkt, öffentlich und namentlich. Der Bundestag
wählt gar nicht. Er delegiert an einen Ausschuss, wo in-
direkt, geheim und intransparent entschieden wird.
Die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungs-
gerichts werden nicht vom Plenum des Bundestages ge-
wählt. Wir wählen lediglich am Anfang der Legislaturpe-
riode einen verfassungsrechtlich nicht vorgesehenen
Wahlausschuss von zwölf Kolleginnen und Kollegen. Der
entscheidet in geheimer Sitzung. Er wird als einziger
Ausschuss nach dem Höchstzahlverfahren nach d’Hondt
besetzt – sodass die Opposition kaum oder gar nicht ver-
treten ist. Die Entscheidung des Ausschusses muss noch
nicht einmal durch das Plenum bestätigt werden, was das
Recht jedes einzelnen Abgeordneten auf Mitwirkung ver-
letzt.
Wir schulden es unseren Wählerinnen und Wählern,
ihren Willen auch bei der Wahl eines Verfassungsorgans
zu repräsentieren. Schließlich käme niemand auf die
Idee, den Kanzler und die Bundesregierung durch einen
Ausschuss zu wählen. Der ehemalige Vizepräsident des
Bundesverfassungsgerichts Professor Dr. Hassemer hat
in der Sachverständigenanhörung des Rechtsausschus-
ses zu Recht darauf hingewiesen, dass es eine schlechte
Behandlung des Gerichts sei, seine Wahl wie eine der
eher unwichtigen Fragen in einen Ausschuss zu verla-
gern. Selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass die
Wahl durch den Ausschuss rechtlich nicht zu beanstan-
den ist, dann wäre es doch unter Berücksichtigung der
Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts politisch
sinnvoll und richtig, dass wir die Richterinnen und Rich-
ter unmittelbar durch den Bundestag wählen.
Die Namen der Kandidatinnen und Kandidaten wer-
den lange geheim gehalten. Im Halbdunkel nichtlegiti-
mierter Kungelrunden der großen Fraktionen werden
Tauschgeschäfte gemacht und vermeintliche Parteigän-
ger auf die Plätze geschoben, die den Fraktionen nach
einem seit Jahrzehnten ausgedealten Verfahren gehören.
Wenn das Geschäft perfekt ist, kann die staunende Öf-
fentlichkeit das Ergebnis bewundern. Und manchmal
– wie zuletzt im Fall von Professor Dreier – sickert der
Name zu früh durch und wird bewertet, gewogen und
auch herabgewürdigt, alles dies, ohne dass die betroffe-
nen Kandidaten darauf eingehen könnten.
Deshalb wollen wir auch eine Anhörung der Kandida-
tinnen und Kandidaten in einem ordentlichen und öffent-
lichen Verfahren in einem Ausschuss des Bundestages;
wir haben den Rechtsausschuss vorgeschlagen. Nur so
kann die Öffentlichkeit sich eine Meinung über die vorge-
schlagenen Kandidaten bilden. Nur so können auch die
Kandidaten selbst auf Argumente und auch Angriffe ein-
gehen, denen sie ausgesetzt sind. Nur in einem solchen
geregelten transparenten Verfahren kann fair diskutiert
und nach sachlichen Kriterien entschieden werden.
Die Argumente gegen eine öffentliche Anhörung ver-
fangen nicht. Wer nicht das Zeug hat, sich einer solchen
Anhörung zu stellen – oder wer sich dazu zu schade ist –,
der sollte sich vielleicht auch nicht ein so hochpolitisches
Amt, wie es eine Bundesverfassungsrichterin oder ein
Bundesverfassungsrichter nun mal innehat, zutrauen. Es
entspricht einem vordemokratischen Denken, die Bun-
desverfassungsrichter in einem abgehobenen Elfenbein-
turm am besten aufgehoben zu sehen. Das Bundesverfas-
sungsgericht ist Teil und Spitze eines demokratischen
Rechtsstaates. Die Wahl seiner Mitglieder muss sich des-
halb in der Öffentlichkeit abspielen.
Ich weiß, dass trotz des schlechten Wahlverfahrens
bisher fast immer sehr gute Richterinnen und Richter an
das Bundesverfassungsgericht gekommen sind. Dieser
richtige Befund kann aber die Mängel und Defizite des
Verfahrens nicht beseitigen. Ganz im Gegenteil.
Mehr als die Hälfte unserer Bevölkerung ist weiblich.
Das Bundesverfassungsgericht ist männlich dominiert.
Von 16 Richterinnen und Richtern sind drei Frauen.
Diese Zahlen sprechen für sich. Ich bin mir sicher, dass
es nicht daran liegen kann, dass wir einen Mangel an ex-
zellenten Juristinnen hätten. Das zeigt mir, dass wir es
trotz guten Willens nicht geschafft haben, das Gericht pa-
ritätisch zu besetzen. In unserem Gesetzentwurf sehen
wir deshalb eine Quote bei der Wahl vor, um nach einer
mehrjährigen Übergangszeit ein Gleichgewicht herzu-
stellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, folgen Sie der Auf-
forderung Professor Hassemers in der Anhörung. Zeigen
Sie Mut und ermöglichen Sie eine demokratisch legiti-
mierte und transparente Wahl, indem Sie unserem Ge-
setzentwurf zustimmen!
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Der Rechts-
ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/13670, den Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9628 abzu-
lehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mehrheitlich abgelehnt. Die dritte Be-
ratung entfällt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 47 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Martin Zeil, Cornelia Pieper, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP
Luftfahrttechnologie und Luftfahrtindustrie
in Deutschland – Neue Ziele für saubere Um-
welt und sichere Arbeitsplätze
– Drucksache 16/8410 –
Wir diskutieren heute über einen Antrag der FDP zurStärkung der deutschen Luftfahrtindustrie, der schonüber ein Jahr alt ist und kurz nach der Debatte zu unse-rem Koalitionsantrag „Die Zukunft der deutschen Luft-fahrtindustrie sichern“ im Februar 2008 geschriebenwurde. Analyse und Ziel bleiben auch heute richtig: Diedeutsche Luftfahrtindustrie ist eine strategisch wichtigeSchlüsselindustrie mit starken Wachstumschancen; dennlangfristig wird sich der Luftverkehr alle 15 bis 20 Jahreverdoppeln. Die Luftfahrtindustrie ist Innovationsmotorfür die Technologieentwicklung in anderen wichtigenWirtschaftszweigen und Sektoren wie Automobilbau,Feinmechanik oder Optik, Antriebstechnik und Material-entwicklung, Elektronik, Robotik, Mess-, Steuer-, Werk-stoff- und Regeltechnik oder Navigationssystemen. DieLuftfahrtindustrie ist ein Schlüsselfaktor bei der Be-kämpfung des Klimawandels. Gleichzeitig befindet sichdie Luftfahrtindustrie in Deutschland nach wie vor in ei-ner schwierigen Umbruchsituation, die mit der Restruk-turierung von EADS/Airbus noch lange nicht abge-schlossen ist.Wir müssen alles daran setzen, den deutschen Luft-fahrtstandort auch künftig international wettbewerbsfä-hig zu halten: durch die richtigen Rahmenbedingungenfür mehr Wachstum und Arbeit und durch die gezielteFörderung innovativer, sicherer und umweltfreundlicherTechnologien. Dies ist umso wichtiger in der aktuellenglobalen Finanz- und Wirtschaftskrise, in der auch dieLuftfahrtindustrie und besonders die zivilen Zulieferbe-triebe in Turbulenzen geraten sind. Die Lagerbeständeerhöhen sich, die Verschuldung steigt, die Verluste 2008und 2009 sind hoch. Auch 2010 wird noch ein schwieri-ges Jahr werden – auch wenn sich die Branche insgesamtauf der Luftfahrtmesse Le Bourget im Juni bereits verhal-ten optimistisch gezeigt hat und Airbus erst kürzlich ei-nen Milliardenauftrag aus Katar verbuchen konnte.Mit ihren Forderungen rennt die FDP jedoch längstoffene Türen ein und hinkt der Realität weit hinterher.Die Branche selbst – seit jeher sehr forschungsintensiv –will noch mehr investieren, um mit Innovation und Qua-lifikation aus der Krise zu kommen, und sie hat sich aufihrem diesjährigen Tag der Luft- und Raumfahrt in Stutt-gart erneut intensiv mit zukunftsweisenden Innovations-,Netzwerk- und Personalstrategien beschäftigt. Dieunionsgeführte Bundesregierung hat bereits seit 2006 einganzes Bündel von Maßnahmen ergriffen, um die deut-Zu Protokollsche Luftfahrtindustrie inklusive der Zulieferindustrie indiesen Zielen stärker zu unterstützen, und wir werdendies weiterhin tun. Die Forderungen der FDP nach einerauf Umweltschutz ausgerichteten Luftfahrttechnologie-strategie, nach Bekämpfung des Fachkräftemangels,nach mehr Förderung von Kooperationen zwischen In-dustrie und Wissenschaft und nach Einbeziehung desLuftverkehrs in den Emissionshandel sind längst erfülltoder in Angriff genommen.Die Förderung der technologieintensiven Luftfahrtin-dustrie bleibt eine Kernaufgabe des Bundeswirtschafts-ministers, der dafür im Haushalt 2010 rund 175 Millio-nen Euro zur Verfügung stellen will, rund 40 MillionenEuro mehr als 2009. Davon gehen allein 125 Millionenin die Forschungsförderung. Ein wichtiges Kernelementwiederum bleibt das seit 1995 fortgeschriebene natio-nale Luftfahrtforschungsprogramm LuFo, das wir in denletzten Jahren deutlich ausgebaut haben. Für das neueLuFo IV stehen über die Laufzeit 2007 bis 2013 mehr als600 Millionen Euro zur Verfügung. Das LuFo ist– ebenso wie übrigens auch das Deutsche Zentrum fürLuft- und Raumfahrt, DLR – ganz klar an den ACARE-2020-Klimaschutzzielen des Advisory Council for Aero-nautics Research in Europe ausgerichtet. Das heißt: Bis2020 sollen die Flugzeuge der nächsten Generationdurch technischen Fortschritt insgesamt 50 Prozent we-niger Kraftstoff verbrauchen, 50 Prozent weniger CO2und 80 Prozent weniger NOx ausstoßen und den Lärmpe-gel halbieren. Ziel ist das klimaschonende integrierteLuftverkehrssystem der Zukunft, besonders im wachs-tumsstarken Segment innovativer Großflugzeuge fürKurz- und Mittelstrecken. LuFo IV konzentriert sich da-bei besonders auf die Entwicklung von energieeffizientenAntriebssystemen, modernsten Leichtbaustrukturen, bes-serer Aerodynamik und innovativen Energieversorgungs-und Kabinensystemen. Besondere Schwerpunkte in deraktuellen dritten Ausschreibungsrunde sind verbrauchs-arme Triebwerke für Kurzstrecken wie Getriebefan-Triebwerke oder Open-Rotor-Triebwerke und leichteCFK-Flugzellen aus Kohlefaserverbundwerkstoffen. ImBereich Kabine sollen neue integrierte Technologiege-samtkonzepte entwickelt werden.Wichtiges Kriterium bei der Vergabe der staatlichenMittel ist die Förderung von Kooperationen. Durch diestarke Einbindung von Hochschulen, Großforschungs-einrichtungen und kleinen und mittleren Unternehmenmit einem Anteil von durchschnittlich 40 Prozent derFördermittel soll eine intensive Vernetzung von Grundla-genforschung und angewandtem Engineering erfolgen.Das ist besonders in der Luftfahrtbranche wettbewerbs-entscheidend. Es gibt bereits viele zukunftsweisende Bei-spiele. So wird ein neues Forschungszentrum im CFK-Valley Stade – seit über 20 Jahren einer der führendenCFK-Standorte weltweit – die CFK-Technologie in Zu-sammenarbeit von Flugzeugindustrie und Forschungs-einrichtungen wie DLR und Fraunhofer weiterentwi-ckeln, unter anderem durch die weitere Automatisierungund Beschleunigung der Klebetechnik. Das ist besondersangesichts des wachsenden Einsatzes von CFK-Werk-stoffen bedeutsam, deren Anteil zum Beispiel bei Airbus-Großraumflugzeugen von derzeit 20 auf 50 Prozent an-
Metadaten/Kopzeile:
25934 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Heinz Riesenhubersteigen soll. Auch für die Automobilindustrie und denSchiffbau sind CFK-Werkstoffe die Schlüsseltechnologieder Zukunft.Der CFK-Standort Stade hat auch gute Chancen aufzusätzliche Fördermittel des Bundes in der noch laufen-den zweiten Runde des neuen Spitzenclusterwettbewerbsim Rahmen der Hightech-Strategie, mit dem das BMBFdie bundesweit leistungsfähigsten Cluster aus Wissen-schaft und Wirtschaft fördert. Bereits in der ersten Rundewurde das Luftfahrtcluster Metropolregion Hamburg alseines der fünf besten Cluster in Deutschland für eineFörderung von rund 40 Millionen Euro über 5 Jahre aus-gewählt. Dieses weltweit drittgrößte Netzwerk der zivilenLuftfahrtindustrie ist mit rund 36 000 Mitarbeitern undeinem Netz von über 300 Luftfahrtunternehmen und Zu-lieferern unter Einbeziehung der Hochschulen bereitsheute ein Aushängeschild für die internationale Wettbe-werbsfähigkeit des Luftfahrtstandorts Deutschland undsoll weiter zum Kompetenzzentrum „Neues Fliegen“ausgebaut werden. Dazu sollen insbesondere innovativeKabinentechnologien und neuartige Brennstoffzellenan-wendungen für Flugzeuge entwickelt werden. Außerdemgeht es um neue Servicetechnologien zur Wartung, Repa-ratur und Überholung unter Einsatz neuer Materialien,und um innovative Konzepte für den Effizienten Flugha-fen 2030 inklusive Lufttransportsysteme.In den wachsenden Luftfahrtclustern spielen längstauch – und das weiß auch die FDP – die maßgeschnei-derte Qualifizierung des Nachwuchses und die Weiterbil-dung eine große Rolle, um Fachkräftemangel abzubauenbzw. vorzubeugen. Bund und Länder bieten hier grundle-gende Hilfestellung mit der neuen Qualifizierungsoffen-sive von 2008, die besonders auch die naturwissenschaft-lich-technische Aus- und Weiterbildung auf allen Ebenenvom Kindergarten bis zum lebenslangen Lernen adres-siert. Wir haben zudem die Zuwanderung ausländischerFachkräfte erleichtert und unterstützen öffentlich-privatePartnerschaften zur Verbesserung des technischenKnow-hows in der Luftfahrt. Besonders zukunftsweisendist das Ziel der Clusterinitiative Future Aerospace Net-work, FAN, in der Region Stuttgart, im nächsten Jahreine Luft- und Raumfahrtakademie als Bindeglied zwi-schen Hochschule und Weiterbildung zu gründen.Gemeinsam mit der Industrie richten die Länder auchimmer mehr gemeinsame Forschungszentren und Stif-tungslehrstühle ein. Zum Beispiel finanziert Airbus imLuftfahrtcluster Hamburg einen neuen Stiftungslehrstuhlan der TUHH im Bereich Flugzeug-Kabinensysteme, mitdem die TU ihr Zentrum für Luftfahrtforschung weiterausbauen kann. Die TUHH hat im letzten Jahr außerdemden neuen Masterstudiengang Flugzeug-Systemtechnikgestartet und gemeinsam mit industriellen Partnern undweiteren Hochschulen das neue Zentrum für angewandteLuftfahrtforschung, ZAL, gegründet. Auch die TU Mün-chen gewinnt durch zwei neue Stiftungslehrstühle weiteran Kompetenz als Exzellenzcenter für Luftfahrttechnik.Die SGL Group fördert mit dem Lehrstuhl für Kohlefa-serstoffe die Forschung am „Stahl des 21. Jahrhunderts“auch zugunsten des Flugzeugbaus. Der EADS-Stiftungs-lehrstuhl für Hubschraubertechnologie von Eurocoptersoll als Basis für das zukünftige Kompetenzzentrum fürZu ProtokollLuft- und Raumfahrt, KLR, dienen. Über den Lehrstuhlfür Luftfahrttechnik, der ebenfalls als Stiftungslehrstuhlbegann, pflegt die TU München bereits seit 1989 engeForschungskooperationen mit der bayerischen mittel-ständischen Zulieferindustrie, den großen europäischenFlugzeugherstellern, mit den großen deutschen For-schungsinstitutionen und weiteren internationalen Part-nern.Rolls-Royce Deutschland unterstützt Technologiezen-tren an der TU Dresden und Cottbus und kooperiert – ge-meinsam mit MTU – mit dem Fraunhofer-Institut fürProduktionstechnologie und der RWTH Aachen. DieListe ließe sich fortführen. Die Strategie der staatlichenFörderung der Luftfahrtindustrie hat Erfolg. Sie bringtinsgesamt Fortschritte für den Klimaschutz und dieEnergieeffizienz. Sie unterstützt die deutsche Luftfahrt-industrie bei der rechtzeitigen Entwicklung und Produk-tion von strategisch wichtigen, konkurrenzfähigen Luft-fahrzeugen, Systemen und Triebwerken der nächstenGeneration am Standort Deutschland und sichert sozahlreiche Arbeitsplätze.Die positiven Rahmenbedingungen für Airbus und dieübrige zivile Luftfahrtindustrie haben zu einem deutli-chen Anstieg der Beschäftigung in der Luft- und Raum-fahrt von rund 75 000 in 2004 auf rund 93 000 in 2008geführt. Der Umsatz stieg im gleichen Zeitraum von16 Milliarden Euro auf knapp 23 Milliarden Euro. Da-von profitiert zu je zwei Dritteln die zivile Luftfahrt.Diese Rahmenbedingungen wollen wir künftig weiterverbessern. Die Technologieförderung bleibt dabei zen-trales Anliegen; denn Unternehmen, die in der Krise– und auch sonst – ihre Innovationen zurückfahren, ver-spielen ihre und unsere Zukunft. Deshalb werden wir dasLuftfahrtforschungsprogramm fortschreiben. Deshalbwollen wir die steuerliche Forschungsförderung für alleforschenden Unternehmen einführen. Deshalb solltenwir auch die künftigen Zertifikatserlöse aus der Einbezie-hung des Luftverkehrs in den Emissionshandel für wei-tere Forschungsprojekte in diesem Sektor nutzen – für ei-nen zusätzlichen Innovationsschub zugunsten von Klimaund Standort.Wir unterstützen die Bundesregierung in dem Ziel, dieEntwicklung des innovativen LangstreckenflugzeugsA350 XWB – geplanter Jungfernflug 2012 – gemeinsammit Frankreich und England und möglichst auch Spanienmit rückzahlbaren und verzinslichen Milliardenkreditenstaatlich zu fördern. Dabei wollen Deutschland bis zu1,1 Milliarden Euro und Frankreich bis zu 1,4 MilliardenEuro zur Verfügung stellen. Die Verhandlungen der Air-bus-Länder sind noch nicht abgeschlossen. Seit 1992 hatAirbus den Regierungen übrigens inklusive Zinsen sogar40 Prozent mehr zurückgezahlt als das Unternehmen ins-gesamt an staatlichen Darlehen erhalten hat. Wir wollenden deutschen Einfluss beim europäischen Luft- undRaumfahrtkonzern EADS mit der Airbus-Tochter lang-fristig sichern. Zwar ist das von der FDP propagierteZiel grundsätzlich richtig, die staatliche Beteiligung anEADS zurückzuführen, um so die unternehmerischeHandlungsfreiheit zu fördern, das darf jedoch nicht imdeutschen Alleingang geschehen. Damit die deutschen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25935
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Heinz RiesenhuberLuftfahrtstandorte langfristig eine gute Zukunft haben,wollen wir in guter Partnerschaft mit Frankreich errei-chen, dass das industrielle Gleichgewicht zwischenDeutschland und Frankreich erhalten bleibt. Das solltesich in gleichen Aktienanteilen an der EADS ausdrücken.Das sollte einen ausgewogenen Anteil von Produktionund Entwicklung an den deutschen Luftfahrtstandortensichern. Letzteres ist deshalb eine richtige Kernforde-rung der Bundesregierung im Zusammenhang mit derGewährung eines staatlichen Kredits zur anteiligen Fi-nanzierung der Entwicklungskosten für den A350 XWB.Die aktuelle Wirtschaftskrise stellt die Unternehmender deutschen Luftfahrtindustrie und ihre Zulieferer na-turgemäß vor zusätzliche Herausforderungen. Die staat-lichen Kredit- und Bürgschaftsprogramme stehen auchdiesen Unternehmen offen. Insbesondere hat die Bundes-regierung die Luftfahrtbranche durch erheblich aus-geweitete Hermesdeckungen zur Absicherung ihrerExportgeschäfte unterstützt. Wir begrüßen, dass die Bun-desregierung zurzeit prüft, mit Hilfe der KfW weitereRefinanzierungsmöglichkeiten für Exportgeschäfte zuschaffen. Der Bericht des Luft- und Raumfahrtkoordina-tors beim Bundeswirtschaftsminister mit möglicherweiseweiteren Handlungsempfehlungen wird in Kürze vomKabinett verabschiedet. Wir werden aus diesem Berichtin der nächsten Legislaturperiode umgehend die notwen-digen Konsequenzen ziehen, um den deutschen Luftfahrt-standort weiter zu stärken. Bei allem Respekt vor denLeistungen der Großen Koalition: In einer unionsgeführ-ten Bundesregierung mit einem Koalitionspartner FDPwäre dieses Thema sicherlich in den allerbesten Händen.
Die Luftfahrtindustrie in Deutschland ist Motor fürtechnologischen Fortschritt und wirtschaftliche Ent-wicklung. Sie vereinigt viele Hochtechnologien miteinan-der, die in unserem Kommunikationszeitalter von zentra-ler Bedeutung sind. Hier denke ich insbesondere an dieBereiche Elektronik, die Steuer-, Regel- und Werkstoff-technik. Hinzu kommen die positiven Auswirkungen aufandere Bereiche wie die Automobil- und Ausrüstungsin-dustrie, die Feinmechanik oder die Optik.Die Luftfahrt überwindet im wahrsten Sinne des Wor-tes Grenzen: Sie verbindet nicht nur Erdteile miteinan-der, sondern bringt Menschen zueinander und transpor-tiert sie über den Globus.Die Luftfahrtindustrie hat in der Vergangenheit vieleund vor allem hochqualifizierte Arbeitsplätze geschaffen.Über 90 000 Menschen sind direkt in der Luft- undRaumfahrtindustrie beschäftigt, während der Umsatzvon 14,8 Milliarden Euro im Jahr 2000 auf 22,7 Milliar-den Euro im vergangenen Jahr gestiegen ist. Dabei ge-hen ungefähr 65 Prozent des Umsatzes und der Be-schäftigten auf die zivile Luftfahrt zurück. Weit mehr als250 000 Menschen arbeiten zudem im Luftverkehrs-bereich. Diese Zahlen können sich sehen lassen. Sie sindauch ein Beleg dafür, dass Deutschland eine technologi-sche Spitzenposition bei der Luftfahrt innehat, die es zufestigen und auszubauen gilt.Zu ProtokollWir können nicht mit Billiglöhnen in Asien oder Ost-europa konkurrieren. Deutschland braucht die techno-logisch besten und anspruchvollsten Produkte, damit wirunsere führende Stellung als Exportnation bewahrenkönnen. Darüber hinaus sind gut ausgebildete Fach-arbeiter gefragt, die die anspruchsvollen Tätigkeitenausführen können. Um den Fachkräftemangel zu be-heben, sind weitere Anstrengungen erforderlich. Die In-dustrie setzt hierbei auf die Nahwuchsförderung undstellt damit die richtigen Weichen.Natürlich macht die aktuelle Finanzkrise auch dieserBranche zu schaffen. Gerade in Zeiten wie diesen kommtes umso mehr darauf an, dass unser Land gestärkt da-raus hervorgeht. Hier sind Investitionen in Spitzentech-nologien und Forschungsprojekte besonders gefragt.Mit dem Luftfahrtforschungsprogramm der Bundesre-gierung sind wir gut vorbereitet. Als eines von 17 Leucht-turmprojekten der Hightech-Strategie sollen Unterneh-men auch in Zukunft technologisch anspruchsvolleArbeitsanteile mit hoher Wertschöpfung akquirieren kön-nen und hierzulande weitere Arbeitsplätze schaffen. DasBudget für das Luftfahrtforschungsprogramm ist in denvergangenen Jahren deutlich erhöht worden. Für denZeitraum 2007 bis 2012 stellt die Bundesregierung För-dermittel in Höhe von insgesamt 634 Millionen Euro zurVerfügung. Dies verbessert die Rahmenbedingungen derzivilen Luftfahrt und trägt zur Stärkung des deutschenStandorts in einem verschärften internationalen Wettbe-werb bei. Zu den Förderbereichen gehören neben Tech-nologieprojekten für fortgeschrittene Fertigungs- undMontagekonzepte auch effiziente Antriebs- und innova-tive Energieversorgungssysteme. Ziel muss es sein,sowohl Fertigungskosten als auch das Gewicht abzu-senken und zugleich die Sicherheit an Bord zu erhöhen.Eng verbunden mit den Erfolgen der Luftfahrt-industrie in Deutschland ist der FlugzeugherstellerAirbus. Die Turbulenzen, in die das Unternehmen durchdie Lieferverzögerung beim Airbus 380 und denschwachen Dollarkurs geraten war, sind weitgehendüberwunden. Das Sanierungsprogramm „Power 8“trägt. Die Politik unterstützt diesen Prozess. Sie solltesich aber nicht in einzelne unternehmerische Ent-scheidungen einmischen. Airbus wird auf Dauer umsoerfolgreicher sein, je mehr sich die Politik aus dem Un-ternehmen heraushalten kann. Es bleibt dabei, dassDeutschland und Frankreich hier an einem Strang ziehenmüssen. Uns muss das Ziel einen, die ErfolgsgeschichteAirbus gemeinsam fortzuschreiben, und zwar im Inte-resse der Beschäftigten und im Interesse der europäischenLuftfahrtindustrie als einer wichtigen Zukunftsbranche.Eine schrittweise Einschränkung der Beteiligung beiderLänder an Airbus, wie von der FDP gefordert, ist keineFrage, die unmittelbar ansteht. Jedenfalls muss es beieiner vernünftigen Balance bleiben, die sich in gleichenAktienanteilen und einer effizienten Standortpolitikwiderspiegelt. Deutschland darf kein Außenlager werdenund muss bei Entwicklung und Produktion Kernkompe-tenzen behalten und Frankreich ebenbürtig bleiben. Un-sere beiden Länder wissen um die Bedeutung der Luft-und Raumfahrtindustrie als Innovationsmotor und
Metadaten/Kopzeile:
25936 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Martin DörmannWachstumsmarkt. Dies war und bleibt der entscheidendeGrund für das staatliche Engagement.Insgesamt greift der FDP-Antrag, den wir heutedebattieren, zu kurz. Vieles von dem, was er aufgreift, istzudem bereits auf den Weg gebracht. Die Einbeziehungdes Luftverkehrs in den Emissionshandel im Jahre 2012ist bereits beschlossen. Das Bundeswirtschaftsministe-rium setzt sich dafür ein, die künftigen Zertifikatserlösefür die Forschung in diesem Bereich einzusetzen.Die offiziellen Forderungen nach einer Reduzierungder CO2-Emission bis 2020 um 50 Prozent, der Stickstoff-oxid-Emissionen um 80 Prozent und des Lärms um50 Prozent sind keine Erfindung des DLR, sondernoffizielle Zielsetzungen von ACARE – Advisory Councilfor Aeronautics Research in Europe – und finden sichauch im Clean-Sky-Programm der EU-Kommissionwieder. Letzteres ist als erstes Projekt seiner Art eine EU-weite öffentlich-private Partnerschaft, an der kleinereund mittlere Unternehmen, Universitäten und For-schungszentren sowie führende Unternehmen der Luft-fahrtindustrie beteiligt werden. Hiermit wird einer neuenGeneration umweltfreundlicherer, leiserer und effizien-terer Flugzeuge der Boden bereitet.Alles in allem befindet sich die deutsche Luftfahrtin-dustrie auf einem guten Weg. Da wir in der Vergangen-heit unsere Hausaufgaben gemacht haben, wird dieserSektor die aktuelle Krise gut meistern und zur Stärkungder Wirtschaftskraft beitragen. Die SPD-Bundestags-fraktion wird auch in Zukunft ihren Beitrag dazu leisten,den Stellenwert der Luftfahrt weiter zu sichern und aus-zubauen.
Im vergangenen Jahr steigerte die zivile Luftfahrt inDeutschland ihren Umsatz um 17,3 Prozent auf 15,3 Mil-liarden Euro. Die Militärsparte legte leicht um 0,7 Pro-zent zu auf 5,8 Milliarden Euro. So die Zahlen des BDLI.Noch im April sagte Airbus-Chef Tom Enders dem „Han-delsblatt“: „Wir sind keine Branche, die gerettet werdenmuss.“Inzwischen hat die Wirtschafts- und Finanzkrise auchdie Luftfahrt erreicht. Airbus reduziert – ebenso wieBoeing – die Produktionszahlen. Dennoch ist EuropasLuftfahrtindustrie offenbar bisher gut durch die Krise ge-kommen, wie auch die Bestellungen für Airbus bei derLuftfahrtausstellung in Le Bourget zeigen.Der Weg, auf ökoeffizientes Fliegen zu setzen, ist rich-tig. Das Ziel, bis 2020 den Treibstoffverbrauch um15 Prozent zu senken, ist nur mit neuen, umweltfreundli-chen Triebwerken zu schaffen.Kaum eine Branche profitiert so von der Globalisie-rung wie die zivile Luftfahrt. Wir sehen immer mehr, dassdie Wachstumsmärkte in Asien und im arabischen Raumliegen. Diese Märkte zu erschließen und auszubauenmuss Ziel der Exportnation Deutschland sein. Dort wer-den wir in den nächsten Jahren stärker mit Konkurrentenzu tun haben, die Nischenmärkte erobern, zum BeispielBrasilien oder Russland.Zu ProtokollDie Probleme der Luftfahrtindustrie haben zwar auchmit der aktuellen Krise zu tun, manche sind aber bereitsseit Jahren ein Ärgernis: der schwache Dollar, der dieAbrechnung für europäische Flugzeugbauer benachtei-ligt; die schleppende Realisierung von Programmen, bei-spielsweise das EU-Programm Clean Sky. Es ist für einim Wettbewerb stehendes Unternehmen angesichts knap-per Ressourcen nicht sinnvoll, rund 800 Millionen Euroin nicht laufende Programme zu binden; der Mangel anqualifizierten Fachkräften, insbesondere in den inge-nieurwissenschaftlichen Berufen; der Zugang zu Kredit-programmen. Als Haushälter bin ich natürlich zurück-haltend, aber es kann doch nicht sein, dass diefranzösische Regierung 5 Milliarden Euro für Kredite anAirlines zur Verfügung stellt, während die Bundesregie-rung dies für Deutschland im Februar abgelehnt hat.Hier brauchen wir eine europäische Koordination undnicht die Wettbewerbsverzerrung einzelner Staaten.In der letzten Sitzungswoche macht es keinen Sinnmehr, die Bundesregierung zu Handlungen aufzufordern.Die Legislaturperiode ist zu Ende, Sie hatten IhreChance. Was ist in der nächsten Wahlperiode zu tun?Wir sollten an den umweltpolitischen Zielen festhal-ten. 50 Prozent weniger CO2-Emissionen, 80 Prozent we-niger NOx-Emissionen und 50 Prozent weniger Lärm bis2020.Wir müssen uns über die Schwerpunkte von LuFo Vunterhalten, denn das gegenwärtige Programm läuft2012 aus. Dabei meinen wir, dass die Schwerpunkte derForschungsförderung die unternehmerischen und ökolo-gischen Ziele der europäischen Luftfahrtindustrie unter-stützen müssen.Wir müssen deutlichere Initiativen gegen den Fach-kräftemangel ergreifen, einerseits durch ein Weiterbil-dungsprogramm für ältere Ingenieure, gemeinsam mitdem VDI und den Ländern. Ich würde es aber auch sehrbegrüßen, wenn die Luftfahrtindustrie sich entschließenwürde, eine eigene Stiftungshochschule zu gründen, diegezielt Studiengänge zur Luftfahrt anbietet und bündelt,um ein internationales Zentrum für die Luftfahrtbranchezu werden.Wir wollen den Luftverkehr in den Emissionshandeleinbeziehen, nicht national isoliert, sondern nach Ab-schluss einer internationalen Vereinbarung. Dann wirdsich die Anstrengung für ökoeffizientes Fliegen auch imWettbewerb rechnen.Wir wollen weniger staatlichen Einfluss auf unterneh-merische Entscheidungen bei Airbus und bei EADS. Hierwird vor allem mit Frankreich zu reden sein. Vorschlägewie zum Beispiel Goldene Aktien, mit denen der Staatstärkeren Einfluss nehmen könnte, lehnen wir ab.Wir brauchen ein modernes Zuwanderungsrecht, dennohne Fachkräfte aus dem Ausland sind die Lücken nichtzu schließen. Hier hat die Große Koalition nichts zu-stande gebracht.Zuständigkeiten für die Luft- und Raumfahrt solltengebündelt und koordiniert werden. Es macht wenig Sinn,wenn zum Beispiel die Forschung im BMBF, die Zustän-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25937
gegebene Reden
(C)
(D)
Ulrike Flachdigkeit für Galileo beim Verkehrsminister und die Bürg-schaftsprogramme beim BMWi liegen, ohne dass es eineabgestimmte Strategie gibt. Wenn man einen Koordinatordafür hat, muss dieser auch entsprechende Befugnissehaben.Letzter Punkt: A 400 M. Hier erwarte ich von der Bun-desregierung nun endlich einmal eine klare Aussage. Ste-hen Sie zu dem Projekt, oder wollen Sie aussteigen? Dieursprüngliche Frist im April ist verstrichen, zweimal ha-ben Sie die Frist verlängert, zuletzt bis Ende Juli. Was istdenn nun die Linie der Regierung? Fakt ist: Die Ma-schine liegt mehr als drei Jahre im Zeitplan zurück, sieleistet nicht die geforderten Parameter, und sie wird er-heblich teurer. Sicher muss das mit den NATO-Partnernabgestimmt werden, aber Sie müssen doch eine Meinungdazu haben.Deutschland ist mit 60 Stück bisher größter Abnehmerbeim A 400 M. Als Haushälterin sage ich: Wir brauchenTransparenz über die Kostenentwicklung und die Leis-tungsparameter. Und wenn die Kosten pro Stück steigen,dann können wir eben nicht die volle Stückzahl abneh-men. Es kann nicht sein, dass Verträge abgeschlossenwerden, die vom beauftragten Unternehmen weder zeit-lich, noch von der Leistung her, noch vom Preis her er-füllt werden und der Auftraggeber dann ohne mit derWimper zu zucken ein teureres, schlechteres FlugzeugJahre später in vollen Stückzahlen abnimmt.Fazit: Die Luftfahrtindustrie in Deutschland wirdlangfristig erheblichen Zuwachs verzeichnen, weil derinternationale Luftverkehr wächst. Die gegenwärtigeKrise wird eine Delle auslösen, wie wir sie aber auchnach dem 11. September 2001 schon einmal hatten. Mit-telfristig wird vor allem der asiatische und arabischeMarkt wachsen.Rund 90 000 Arbeitsplätze hängen von der Luftfahrt-industrie in Deutschland ab. Das ist erheblich mehr alsbei Opel. Und anders als bei Opel, wo durch Fehlent-scheidungen des Mutterkonzerns die Trends zu Ökologieund Energieeinsparung jahrelang verschlafen wurden,hat sich die Luftfahrtbranche schon seit Jahren auf öko-effizientes Fliegen konzentriert.Unsere Aufgabe als Bund ist es, Rahmenbedingungenzu setzen, die Wettbewerb begünstigen. Unsere Aufgabeist nicht, unternehmerische Entscheidungen zu treffenund Strukturen zu konservieren. Da haben wir in derkommenden Wahlperiode noch viel zu tun.
Die FDP fordert von der Bundesregierung eine aktive
Politik, um die Luftfahrtindustrie technologisch voranzu-
bringen. Die praktische Zusammenarbeit in Forschungs-
verbünden zwischen Wirtschaft und Wissenschaft gehe
noch nicht weit genug. Die Luftfahrtforschung solle auf
Klimaschutzmaßnahmen ausgerichtet werden. Erhebli-
che Anstrengungen von Bund und Ländern bei Qualifi-
zierung und Weiterbildung, speziell von älteren Ingenieu-
ren, seien nötig. Schließlich nimmt die FDP auch noch
den Wunsch der Zulieferindustrie wohlwollend zur
Zu Protokoll
Kenntnis, der Staat möge ihre Investitionsrisiken absi-
chern.
Aus all dem wird deutlich, dass der Staat in der Luft-
fahrtindustrie deutlich mehr tut und mehr tun muss, als
nur Rahmenbedingungen zu setzen. Private Kapitalgeber
sind nicht willens oder in der Lage, die sehr langfristigen
Investitionen der Branche zu finanzieren und die damit
verbundenen Risiken zu tragen. Wir erinnern uns an die
vergeblichen Versuche der Bundesregierung, für Anteile
von Daimler an EADS einen privaten Käufer zu finden.
Neben Beteiligungen finanziert der Staat einen großen
Teil der Forschung und Entwicklung. Hinzu kommen die
umfangreichen Bestellungen von Kriegsgerät.
Der Staat finanziert nicht nur, er koordiniert auch.
Ohne Regie des Staates wäre es zur Gründung von Air-
bus nie gekommen. Zu Recht verlangt die FDP auch
politische Vorgaben für die Ausrichtung der Forschung,
eine Forschungsstrategie der Bundesregierung.
Nun stellt sich die Frage: Wenn der Staat finanziert,
Investitionsrisiken übernimmt, die Forschung ausrichtet,
für die Qualifizierung der Mitarbeiter sorgen muss, wa-
rum soll er dann nicht auch Einfluss auf die Geschäfts-
politik haben? Airbus und Boeing haben bereits seit Jahren
erhebliche Probleme. Diese sind keine Folge staatlicher
Einmischung. Ein Problem war Managementversagen,
nämlich gewagte Zusagen der Verkaufsabteilung und Ko-
ordinationsmängel bei Entwicklung und Fertigung. Ein
weiteres Problem ist die forcierte Auslagerung von Wert-
schöpfung an Zulieferer bei Airbus und Boeing. Sie ist
Ausdruck davon, dass private Kapitaleigner ihren Kapi-
taleinsatz minimieren und Entwicklungsrisiken abgeben
wollen. Wie gefährlich dies ist, zeigen die Probleme beim
Modell 787 von Boeing. Staatlicher Einfluss kann dafür
sorgen, dass die Wertschöpfung im Konzern verbleibt.
Für den Bereich der Luftfahrtindustrie erkennt die
FDP die Notwendigkeit von mehr staatlichen Weiterbil-
dungsmaßnahmen und einer staatlichen Entwicklungs-
strategie an. Diese Notwendigkeit besteht auch in ande-
ren Branchen. Die Bundesagentur für Arbeit muss mit
Mitteln ausgestattet werden, um für Arbeitslose aus allen
Bereichen anspruchsvolle Weiterbildungs- und Qualifi-
zierungsmaßnahmen anbieten zu können. Der Klima-
schutz schließlich muss zum Ziel nicht nur eines Luft-
fahrtforschungsprogramms, sondern eines öffentlichen
Zukunftsprogramms für umweltverträgliche Verkehrslö-
sungen gemacht werden.
Um es schon vorweg zu sagen: Der Antrag der Kolle-ginnen und Kollegen von der FDP findet unsere große– wenn auch nicht volle – Zustimmung. Wir werden ihmdaher auch zustimmen.Liebe Kollegin Flach, leider haben sich unsere Wegein dieser 16. Legislaturperiode nur noch selten gekreuzt.Daher möchte ich mich auf diesem Wege von Ihnen ver-abschieden, da ich ja dem 17. Deutschen Bundestagnicht mehr angehören werde. Wir haben häufig zu The-men der Luft- und insbesondere der Raumfahrt miteinan-der debattiert, und ich erinnere mich gerne an Ihre Über-
Metadaten/Kopzeile:
25938 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25939
(C)
(D)
Peter Hettlichraschung, dass ich so ganz und gar nicht Ihrem Bildeines grünen Politikers entspreche. Das kann ich aberumgekehrt auch von Ihnen sagen. Sieben Jahre im Bun-destag haben mir geholfen, mit so manchen Vorurteilengegenüber Kolleginnen und Kollegen anderer Fraktio-nen aufzuräumen. Ich wünsche Ihnen jedenfalls persön-lich alles Gute und weiterhin viel Freude an Ihrer politi-schen Arbeit.Die Luftfahrtindustrie und -technologie steht in denkommenden Jahren vor großen Herausforderungen,denn es gilt angesichts des Klimawandels und der stei-genden Energiekosten, neue Wege hin zu emissionsarmenund energieeffizienten Flugzeugen bzw. Fluggeräten zubeschreiten. Nur solche Flugzeuge werden auch in Zu-kunft eine Chance am Markt haben. Unser aller Zielsollte letztlich die Zero-Emission-Technologie in derLuftfahrt sein. Aber bis dorthin sind noch einige Hürdenzu überwinden.In den vergangenen Jahren konnten wir beobachten,dass es offensichtlich erhebliche Konflikte bei der Flug-zeugentwicklung zwischen Management und Marketingeinerseits und der Forschung, Entwicklung, Planung undUmsetzung andererseits zu geben scheint. Die Krisen beiEADS um den Airbus A380, den militärischen Transpor-ter Airbus A400M und die sich abzeichnenden Problemebeim A350XWB, aber auch beim großen amerikanischenKonkurrenten Boeing mit seinem „Dreamliner“ zeigen,dass die Prioritäten in der Unternehmenspolitik oft nichtrichtig gesetzt werden. Und eine bestimmte Führungs-ebene scheint genau den Menschen nicht zuzuhören, dieam besten wissen, was geht und was nicht. Ich kenne ei-nige Ingenieurinnen und Ingenieure aus der Luftfahrt-industrie; ihre Erzählungen über unrealistische Marke-ting- und Managementvorgaben haben bei mir einigesKopfschütteln verursacht.Frühzeitigen Hinweisen zum Beispiel auf die Pro-bleme in der Triebwerksentwicklung und -adaption fürden A400M wurde jedenfalls auf bestimmten Manage-mentebenen keine Beachtung gezollt, jedenfalls so langenicht, bis sich die Probleme nicht mehr unter der Deckehalten ließen. Die Zeche beim A400M zahlen entwederdie Steuerzahler oder, falls Aufträge storniert werden, dieMenschen, die rechtzeitig davor gewarnt haben: die In-genieure, Techniker und Fachkräfte. Das war beim Air-bus A380 auch nicht anders.Die technischen Herausforderungen erfordern neueWege und die Entwicklung neuer Technologien, die andie Grenzen von Materialeigenschaften stoßen. Die Re-duktion der CO2-Emissionen um 50 Prozent oder derNOx-Emissionen um 80 Prozent lässt sich nur mit einerdeutlichen Leergewichtseinsparung, einer verbessertenAerodynamik und hocheffizienten Triebwerken errei-chen. Da sind zu enge Termin- und Kostenvorgaben nichtnur kontraproduktiv, sondern geradezu fahrlässig. Letzt-lich dürften sie beim A380 den Konzern weit mehr gekos-tet haben, als er sich durch Einsparungen erhofft hatte.Die Abhängigkeit von wenigen sehr großen Anbieternin der Luftfahrtindustrie – eigentlich reden wir ja welt-weit nur von zwei Unternehmen – ist natürlich für die in-novativen und sehr forschungsintensiven Zulieferbe-triebe ein großes Problem. Daher muss die Politik imRahmen ihrer Möglichkeiten zumindest darauf achten,dass derartige Oligopolstrukturen – dazu zum Teil nochmit erheblicher Staatsbeteiligung – bzw. große Profiteurestaatlicher Nachfrage kritischer kontrolliert werden. Ichstimme zwar auch Ihrer Forderung zu, dass die staatli-chen Beteiligungen eingeschränkt werden sollten, machemir aber angesichts der aktuellen industriepolitischenStrategie unserer französischen Freunde wenig Hoff-nung. Ich kann aber derzeit leider nicht sehen, wie eineAbsicherung der Investitionsrisiken der mittelständi-schen Zulieferindustrie praktisch umsetzbar sein könnte.Ich sehe gleichwohl die erheblichen Probleme, die sich inden letzten Wochen und Monaten – wenn man die Signaleaus Le Bourget 2009 richtig deutet – wohl noch deutlichzugespitzt haben.Die deutsche Luft- und Raumfahrtindustrie wäre nichtmöglich ohne die Menschen, ohne die Forscher, die Inge-nieure und die exzellenten Fachkräfte in der Montage.Daher unterstützen wir ausdrücklich die vielen Forde-rungen im Antrag der FDP, in denen es um die „Köpfe“geht. Egal ob es um die Förderung des Interesses bei jun-gen Menschen, um die Ausbildung, Weiterbildung, diebessere Vernetzung von Hochschulen oder um den er-leichterten Zuzug von ausländischen Fachkräften geht,wir müssen uns endlich dem drängenden Problem desFachkräftemangels in allen Bereichen stellen, und zwarheute und nicht morgen; obwohl „heute“ bedeutet, dassunsere Bemühungen eigentlich fast schon zu spät kom-men angesichts eines Vorlaufs von fünf bis zehn Jahren.Das Höchsttechnologie- und Hochlohnland Deutsch-land wird nur dann eine Chance im internationalen Wett-bewerb haben, wenn wir uns den Herausforderern an derBildungs- und Wissensfront stellen. Hierfür müssen wirunsere Anstrengungen erheblich erhöhen. Das gilt ei-gentlich für alle Industriezweige, aber für die Luftfahrt-industrie ganz besonders.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/8410. Wer stimmt
für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Der Antrag ist mehrheitlich abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 48 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Auch Verletztenrenten früherer NVA-Angehö-
riger der DDR anrechnungsfrei auf die
Grundsicherung für Arbeitsuchende stellen
– Drucksachen 16/13182, 16/13622 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Markus Kurth
(C)
(D)
Die Fraktion Die Linke fordert, dass eine Unfallrente
von ehemaligen NVA-Angehörigen nicht auf Leistungen
der Grundsicherung für Arbeitsuchende angerechnet
wird. Mit ihrem Antrag verfolgt die Linke aber eine
durchsichtige Strategie: Kurz vor Ende der Legislatur-
periode wird ein Antrag nachgeschoben und ein rasches
Handeln der Bundesregierung gefordert. Dies zeigt, dass
es den Antragstellern nicht um Lösungen für die Betrof-
fenen geht, sondern wie immer um Aktionismus und
Populismus. Schon aus diesem Grund werden wir als
Unionsfraktion dem Antrag nicht zustimmen.
In der Sache selbst ist festzustellen. Wehrdienstbe-
schädigungen bei Soldaten der Bundeswehr und der
ehemaligen NVA sind in unterschiedlichen Rechtsgrund-
lagen geregelt. Bundeswehrsoldaten erhalten eine
Versorgung nach dem Soldatenversorgungsgesetz. Ehe-
malige Angehörige der NVA sind im Rahmen der Renten-
überleitung nicht in die Versorgung nach dem Soldaten-
versorgungsgesetz aufgenommen worden. Unfälle von
Zeit- und Berufssoldaten der ehemaligen NVA werden
über einen Dienstbeschädigungsausgleich abgewickelt.
Unfälle von Wehrpflichtigen waren in der DDR Arbeits-
unfällen gleichgestellt und sind konsequenterweise in die
gesetzliche Unfallversicherung übergeleitet worden. Das
ist in der Tat heute diskussionswürdig. Die unterschiedli-
che Behandlung von Berufssoldaten und Wehrpflichtigen
ist zwar gerichtlich bestätigt, politisch aber durchaus zu
hinterfragen.
Bei der Einkommensberechnung im Rahmen der
Grundsicherung für Arbeitsuchende sind die Unter-
schiede nämlich erheblich. Die Verletztenrente nach dem
Soldatenversorgungsgesetz ist als Grundrente nach dem
Bundesversorgungsgesetz eingestuft und stellt damit pri-
vilegiertes Einkommen dar, das nicht angerechnet wird.
Die Verletztenrente eines ehemaligen NVA-Wehrpflichti-
gen ist als Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung
keine Grundrente im Sinne des Bundesversorgungsgeset-
zes und wird auch nicht als zweckbestimmte Einnahme
eingestuft. Deshalb wird sie angerechnet. So entsteht die
Situation, dass Verletztenrenten aus nahezu vergleichba-
ren Sachverhalten unterschiedlich behandelt werden.
Eine gerichtliche Anfechtung der Anrechnung scheiterte
bislang an dem Umstand, dass tatsächlich unterschiedli-
che Rechtsgrundlagen bestehen und damit ein Gleich-
heitsverstoß ausscheidet.
Diese Problematik hat den Petitionsausschuss auf Ini-
tiative der CDU/CSU-Bundestagsfraktion dazu bewo-
gen, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales auf-
zufordern, eine gerechte Regelung der vergleichbaren
Sachverhalte zu erarbeiten.
Vor allem muss eine verlässliche Datengrundlage er-
stellt werden, wie viele Bürger betroffen sind. Das ist mit
dem statistischen Material der Bundesagentur für Arbeit
durchaus zu leisten. Auf dieser Grundlage sollte in der
nächsten Wahlperiode das Anliegen fundiert beraten
werden.
Mögliche Befürchtungen über eine Ausweitung der
Freistellung auf alle Empfänger von Verletztenrente
durch Schaffung eines Präzedenzfalls ist entgegenzuhal-
Zu Protokoll
ten, dass die Gruppe der ehemaligen NVA-Wehrpflichti-
gen während ihrer Dienstzeit, ebenso wie Wehrpflichtige
bei der Bundeswehr, in einem besonderen Dienst- und
Treueverhältnis zu ihrem Dienstherrn standen und sich
schon deshalb von anderen Gruppen unterscheiden. Zu-
dem ist der Wehrdienst, unabhängig von der Bewertung
zu DDR-Zeiten, nicht als normale Berufstätigkeit einzu-
ordnen. Die Besonderheiten des Dienstverhältnisses bei
den Streitkräften sind mit anderen Tätigkeiten nicht zu
vergleichen.
Der Schaufensterantrag der Fraktion Die Linke geht
auf diese Thematik nicht ein. Deshalb ist er unglaubwür-
dig. Ich möchte, dass die Verletztenrenten in der kom-
menden Wahlperiode pragmatisch beraten werden, auch
einschließlich aller Kostenfragen. Deshalb plädiere ich
für eine lösungsorientierte Herangehensweise im Sinne
der betroffenen ehemaligen NVA-Soldaten.
Ich hoffe, ich konnte deutlich machen, dass eine strikte
Ablehnung des Antrages an sich nicht gerechtfertigt ist.
Der Antrag der Linken war aber nicht hilfreich, weil sich
die Initiatoren die Sache viel zu einfach machen.
Wir reden heute hier über einen Antrag, dessen Ab-stimmung mir und vielen meiner ostdeutschen Kollegin-nen und Kollegen nicht leichtfällt. Denn es geht wiedermal um die Überleitung von Ansprüchen aus den Versor-gungssystemen der ehemaligen DDR. Es geht um die zu-stehende und wohlverdiente Anerkennung ihrer Lebens-leistung aus vielen Jahren Dienstzeit.Bevor ich zum Antrag selber komme, möchte ich nochmal an die schwierige Situation von damals erinnern.Die freiwillige Zusatzrentenversicherung, die auf-grund der Beitragsbemessungsgrenze von nur 600 Markdem niedrigen Rentenniveau im Osten entgegenwirkensollte, sowie die rund 60 Zusatzversorgungssysteme unddie Sonderversorgungssysteme mussten überführt wer-den. Die Schwierigkeit bestand darin, dass die ostdeut-sche Alterssicherungsform dem Rentenversicherungssys-tem der Bundesrepublik unbekannt war.Als besonders schwierig erwies sich dabei die Einbe-ziehung von Versorgungssystemen, die nicht immer eineBeitragspflicht nach sich zog, aber in jedem Fall zu einerhöheren Rentenleistung führte.Der damalige Gesetzgeber und das Bundesverfas-sungsgericht, BVerfG, haben entschieden, dass höhereSteigerungssätze und Anrechnung von Verdiensten, fürdie keine Beiträge gezahlt wurden, nicht mit den Grund-sätzen des lohn- und beitragsbezogenen Rentenrechts derBundesrepublik Deutschland vereinbar waren. Nach demGrundsatz der Beitragsäquivalenz richtet sich die Höheder Rentenleistung nach dem durch Beiträge versicher-ten Arbeitsentgelt. Das heißt, höhere Leistungen aus derRentenversicherung setzen höhere Beiträge voraus. ImFall des besonderen Steigerungssatzes ist dieser Grund-satz nicht gewährleistet. Darüber hinaus hätte eineÜbernahme in das einheitliche Rentenrecht zu einerUngleichbehandlung gegenüber den Berufsgruppengeführt, die nicht in den Genuss des besonderen Steige-
Metadaten/Kopzeile:
25940 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Angelika Krüger-Leißnerrungssatz kamen. Aus diesem Grund haben der Gesetz-geber und das BVerfG gegen eine Übernahme entschie-den.In vielen parlamentarischen Beratungen hier in die-sem Hause – zuletzt im Mai diesen Jahres – haben wir dieRegelungen der Überleitung lang und breit diskutiert.Auch die Gerichtsbarkeit hat sich mit ihren verschiede-nen Instanzen intensiv damit beschäftigt. Was bleibt, istdie politische Grundsatzentscheidung, in einem wieder-vereinigten Deutschland ein gemeinsames lohn- und bei-tragsbezogenes Rentenrecht einzuführen. Die war 1990richtig und bleibt es auch.Auch wenn mit der Überleitung nicht alle Erwerbs-biografien, die in der DDR zurückgelegt wurden, denender Bundesrepublik gleichgestellt werden konnten, sowurde jedoch durch großzügige Übergangsregelungenden damaligen Rentnern und rentennahen Jahrgängenein Vertrauensschutz gewährt.Natürlich würde ich mir wünschen, dass wir endlicheine vernünftige Regelung für alle Ostrentner finden undzu einer absehbaren Angleichung der Ostrenten an West-niveau kommen. Wir feiern in diesem Jahr 20 Jahre Wie-dervereinigung. Da sollte es eigentlich keinen Unter-schied mehr zwischen Ost- und Westrenten geben. Dochwir alle hier wissen, dass es keine einfache Lösung gibt.Im Einigungsvertrag von 1990 ist das Ziel festgehalten,dass die Renten dauerhaft angeglichen werden sollen.Und an dem Ziel halte ich weiterhin fest. Ich weiß, dass derWeg dorthin schwierig ist, aber wir werden ihn gehen –Stufe für Stufe.Ich möchte, das sage ich ganz besonders in Richtungder Linken, noch mal darauf hinweisen, dass es eine his-torische und vor allem solidarische Leistung des deut-schen Volkes war, zwei völlig unterschiedliche Renten-systeme zu einem einheitlichen zusammenzuführen. Dasbitte ich, auch bei aller gefühlter Ungerechtigkeit, dochdringend zu beachten und zu würdigen.Auch bei dem uns heute zur Abstimmung vorliegendenAntrag, die Verletztenrente früherer NVA-Angehörigerder DDR – wie die der Bundeswehrsoldaten – anrech-nungsfrei auf das ALG II zu stellen, wird die Thematikder Ungleichbehandlung wieder aufgegriffen.Natürlich sagt mir mein Bauchgefühl, Moment mal?Ist das nicht formal das Gleiche? NVA-Soldat und Bun-deswehrsoldat. Wenn bei der Gruppe der Bundeswehr-soldaten die Verletztenrente bis zur Höhe der Grundrenteanrechnungsfrei auf die Grundsicherung ist, sollte dasdoch auch für NVA-Soldaten gelten?Ähnlich hat es auch der Petitionsausschuss gesehen.Doch von den ihm zur Verfügung stehenden Voten hat ermit „Überweisung als Material“ ein doch sehr schwa-ches Votum gewählt. Die Bundesregierung wird damitaufgefordert, den Petitionsbeschluss in weitere Untersu-chungen einzubeziehen. Das Thema „Bombodrom“, demgeplanten und hoffentlich nie in Betrieb gehenden Luftbo-denschießplatz in der Kyritz-Ruppiner Heide, wurde bei-spielsweise zur „Erwägung“ überwiesen. Damit wurdeder Verteidigungsminister aufgefordert, nach Möglich-keiten der Abhilfe zu suchen.Zu ProtokollBei der Beurteilung von Ungleichbehandlungen müs-sen wir jedoch unterscheiden zwischen Bauchgefühl undRechtslage. Auch wenn es nicht immer leichtfällt. DieRechtslage ist in diesem Fall zugegeben etwas schwierig,dennoch eindeutig. Das hat das Bundessozialgerichtdurch verschiedene Urteile bestätigt. Ich werde versu-chen, das mit einfachen Worten verständlich darzustel-len.Die Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz,BVG, und Leistungen nach Gesetzen, die eine Anwen-dung des BVG vorsehen, sind privilegiert. Privilegiertdeshalb, weil diese Renten und Leistungen den Verlustkörperlicher Unversehrtheit als Sonderopfer für die All-gemeinheit sehen und ausgleichen. Dieser Ausgleich sollnicht durch Anrechnung auf das ALG II entwertet wer-den.Zu diesen privilegierten Leistungen gehören auchLeistungen für Bundeswehrsoldaten, die während ihrerWehrdienstzeit in Ausübung ihres Dienstes gesundheitli-che Schäden erlitten haben.Nun können Sie sagen, na das ist doch bei der NVA ge-nau das Gleiche gewesen. Rechtlich ist es das eben nicht.Denn der Gesetzgeber hat bewusst zwischen Unfällen,die während der Wehrdienstzeit eingetreten sind und Un-fällen die während der Arbeit eingetreten sind unter-schieden. Und für Arbeitsunfälle besteht kein Anspruchaus dem BVG, sondern aus der gesetzlichen Unfallversi-cherung. Da die Verletztenrente aus der gesetzlichen Un-fallversicherung als Lohnersatzleistungen gelten, ist sieals anzurechnendes Einkommen auf die Grundsicherungzu berücksichtigen.Was hat das aber mit der Verletztenrente der NVA zutun? Ich werde es Ihnen sagen.In der DDR wurde nicht zwischen Wehrdienst- und Ar-beitsunfällen unterschieden. Im Arbeitsgesetzbuch derDDR war geregelt, dass erlittene Körper- und Gesund-heitsschäden in Ausübung des Dienstes bei den bewaff-neten Organen als Arbeitsunfälle gelten.Das, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfrak-tion, war eine Systementscheidung der kommunistischenDiktatur in der DDR. Demzufolge wurden Ansprüche ausNVA-Wehrdienstunfällen in die gesetzliche Unfallversi-cherung übergeleitet.Würden wir diese schwierige, aber dennoch richtigeEntscheidung von vor 20 Jahren rückgängig machen undeine teilweise Privilegierung der Verletztenrente einfüh-ren, hätte das weitere Forderungen anderer Bezieher vonVerletztenrenten aus der Unfallversicherung zur Folge.Vom Bauchgefühl her kann ich das Anliegen der Be-troffenen verstehen und nachvollziehen. Dennoch sindrechtlich beide Sachverhalte – NVA und Bundeswehr –nicht miteinander zu vergleichen. Da gibt es eher andereUngerechtigkeiten wie zum Beispiel die geringeren Hin-zuverdienstgrenzen von pensionierten Bundeswehrsolda-ten mit NVA-Vordienstzeiten. Eine von uns gewollteAngleichung scheiterte bisher an unserem Koalitions-partner.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25941
gegebene Reden
(C)
(D)
Angelika Krüger-LeißnerIch hoffe, dass wir nach dem 27. September andereMehrheiten im Bundestag haben, damit wir an dieserStelle eine Verbesserung der Bundeswehrsoldaten mitNVA-Vordienstzeiten erreichen.Lassen Sie mich noch eine abschließende Bemerkungmachen: Dinge, die in der DDR 40 Jahre lang falsch ge-macht wurden, können wir nicht mit einem Federstrichwieder rückgängig machen! Gleichzeitig sollten wir aberDinge, die richtig gelaufen sind, nicht mir einem Feder-strich abschaffen.
In dem Antrag, den die Fraktion Die Linke hier zur
Debatte gestellt hat, wird die Gleichstellung von früheren
Wehrdienstleistenden bei der NVA mit solchen bei der
Bundeswehr gefordert. NVA-Wehrdienstleistende, die
wegen eines Unfalls oder wegen einer erlittenen Schädi-
gung eine Verletztenrente beziehen, sollen, so wird gefor-
dert, denen gleichgestellt werden, die ihre Schädigung im
Dienst der Bundeswehr erfuhren.
Zu der Ungleichbehandlung, die in dem Antrag kon-
statiert wird, kommt es, wenn die Verletztenrente ehema-
liger NVA-Wehrdienstleistender auf die Leistungen der
Grundsicherung für Arbeitsuchende, das ALG II, ange-
rechnet wird, während die Beschädigtenrente für Bun-
deswehrangehörige, die nach dem Soldatenversorgungs-
gesetz gezahlt wird, beim ALG II als privilegiertes
Einkommen behandelt wird, und zwar bis zur Höhe der
Grundrenten nach dem Bundesversorgungsgesetz. Die
unterschiedliche Behandlung beider Gruppen ergibt sich
daraus, dass Bundeswehrangehörige, wie gesagt, nach
wie vor nach dem Soldatenversorgungsgesetz eine Be-
schädigtenrente erhalten, während die Verletztenrenten
der ehemaligen NVA-Wehrdienstleistenden mit der deut-
schen Einheit in die gesetzliche Unfallversicherung
überführt worden sind. Denn Unfälle von Grundwehrsol-
daten in der DDR wurden – anders als bei Berufs- oder
Zeitsoldaten der NVA – nach DDR-Recht als Arbeits-
unfälle behandelt.
Tatsächlich kann man feststellen, dass es hier eine ge-
wisse Ungleichbehandlung gibt, handelt es sich doch in
beiden Fällen um ehemalige Armeeangehörige. Doch
ganz so leicht ist es nicht. Denn man muss wissen, dass
hier nun wieder einmal die Schwierigkeiten zutage tre-
ten, die der Vereinigungsprozess mit sich gebracht hat.
Wie so oft bei der deutschen Einheit ergab sich auch hier
die Frage, wie zwei unterschiedliche Systeme miteinan-
der zu verbinden sind. Denn Bundeswehrsoldaten fallen
in den Geltungsbereich des Soldatenversorgungsrechts.
Der Gesetzgeber stellte seinerzeit fest, den Geschädigten
sei mit der Schädigung ein „Sonderopfer“ abverlangt
worden, wofür sie Vergünstigungen erhalten sollten. Da-
mit genossen geschädigte ehemalige Bundeswehrsolda-
ten einen Sonderstatus. Unfälle von Wehrdienstleisten-
den bei der NVA hingegen galten nach DDR-Recht als
Arbeitsunfälle. Insofern war es also nur konsequent, dass
der Gesetzgeber im Einigungsprozess ehemalige NVA-
Angehörige, die eine Verletztenrente bezogen haben oder
noch heute beziehen, wie andere Arbeitnehmer auch in
Zu Protokoll
die gesetzliche Unfallversicherung bzw. in den Geltungs-
bereich des SGB VII überführte.
Faktisch ist also der Gesetzgeber damals bei der Ein-
heit lediglich dem Rechtsverständnis der DDR treu ge-
blieben, indem auch weiterhin Grundwehrpflichtige der
NVA, die eine Verletzung oder sonstige Schädigung erlit-
ten hatten, so behandelt werden, wie es das DDR-Recht
tat, nämlich als solche, die einen Arbeitsunfall erlitten
haben. So zeigt sich noch heute bei der Frage der An-
rechnung auf das ALG II der Unterschied der beiden Sys-
teme bzw. unterschiedlicher Rechtsverständnisse.
Doch natürlich hilft die Erkenntnis, dass sich an der
Anrechnungsfrage noch heute die Systemunterschiede
besichtigen lassen, nicht den Betroffenen. Denn, wie ge-
sagt, es handelt sich doch letztlich in beiden Fällen um
ehemalige Angehörige der Armee ihres Landes. Insofern
kann man hier einen Handlungsbedarf sehen, zumal
20 Jahre nach dem Fall der Mauer. Und an dieser Stelle
ist die Frage zulässig, ob man hier nicht im Jahr 20 nach
dem Mauerfall zu einer Vereinheitlichung kommen kann.
Zwar vertritt die Bundesregierung die Position, dass man
sehr wohl einem fest umrissenen Personenkreis aus be-
sonderem Anlass Vergünstigungen zugestehen könne,
ohne dass jemand anderes – in diesem Fall die ehemali-
gen NVA-Wehrdienstleistenden – daraus für sich ein ver-
fassungsrechtliches Gebot ableiten könne, dieselben Ver-
günstigungen in Anspruch nehmen zu dürfen. Allerdings
hat sich auch der Petitionsausschuss bereits mit der An-
gelegenheit beschäftigt. Er kommt zu dem Ergebnis, dass
es ich in beiden Fällen um einen vergleichbaren Sachver-
halt handele.
Wir sehen hier einen Handlungsbedarf, weshalb wir
dem Antrag zustimmen werden. 20 Jahre nach der deut-
schen Einheit sollte auch hier eine einheitliche Regelung
für alle ehemaligen Armeeangehörigen gefunden wer-
den, dies insbesondere auch deshalb, weil die Wehr-
pflicht in der DDR ja nicht eine Wehrpflicht war, wie wir
sie heute aus der Bundesrepublik kennen. Man konnte
nicht ein Formular ausfüllen und war dann eben ein
Kriegsdienstverweigerer, der statt des Dienstes an der
Waffe Krankenwagen fahren oder im Altenheim helfen
konnte. Nein, die Wehrpflicht wurde vom Staat rigoros
durchgezogen. Wer den Wehrdienst verweigerte, ging für
zwei Jahre ins Gefängnis. Somit hatten Wehrpflichtige
keine Chance, dem zu entgehen. Wir sollten die Men-
schen nicht noch beim ALG-II-Bezug gegenüber Bundes-
wehrwehrpflichtigen benachteiligen.
Die Regelung erachtet der Petitionsausschuss nichtfür sachgerecht und für verfassungsrechtlich be-denklich.Diese Feststellung hat nicht die Fraktion Die Linke,sondern der Petitionsausschuss im Jahr 2007 getroffen.Worum geht es? Bundeswehrangehörige, die während ih-res Wehrdienstes einen gesundheitlichen Schaden erlittenhaben, erhalten eine Wehrdienstbeschädigtenrente. NVA-Angehörige erhalten eine Verletztenrente. So weit, so gut,kann man sagen. Wie die Rente heißt, sollte unerheblichsein, ist es aber nicht: Sobald die Grundsicherung für Ar-
Metadaten/Kopzeile:
25942 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25943
(C)
(D)
Dr. Martina Bungebeitsuchende – also Arbeitslosengeld-II-Empfänger –eine Rolle spielt, erweist sich der Unterschied als erheb-lich.Die Wehrdienstbeschädigtenrente des Bundeswehran-gehörigen gilt bis zur Höhe der Grundrente nach Bun-desversorgungsgesetz als privilegiertes Einkommen.Dieser Teil wird demzufolge nicht auf das ALG II ange-rechnet und kommt dem Betroffenen voll zugute. Andersist es bei dem NVA-Angehörigen. Dessen Verletztenrentewird vollständig auf das ALG II angerechnet.Das ist eine Ungleichbehandlung. Zu diesem Schlusskam offensichtlich auch, wie schon eingangs zitiert, derPetitionsausschuss. Dessen Auffassung, dass diese Rege-lung nicht sachgerecht und verfassungsrechtlich bedenk-lich ist, haben wir uns alle, hat sich der Bundestag in sei-ner Beratung vom 5. Juli 2007 zu eigen gemacht.Das Parlament folgte dem Vorschlag der Beschluss-empfehlung und überwies die Petition an die Bundes-regierung, das Bundesministerium für Arbeit und Sozia-les, als Material und gab sie den Fraktionen zurKenntnis. Das liegt jetzt genau zwei Jahre zurück. Ausdem Bundesministerium war in dieser Sache nichts zuhören, und auch die Koalitionsfraktionen, deren Aufgabees wäre, eine Änderung herbeizuführen, blieben tatenlos.Unlängst verwies das Bundesverfassungsgericht in sei-ner Entscheidung vom 17. März 2009 auf den vorhande-nen Gestaltungsspielraum in dieser Sache. Auch dasblieb ohne Echo.Deshalb hat sich meine Fraktion entschlossen, denvorliegenden Antrag einzureichen. Ich fordere Sie auf,ihm zu folgen. Springen auch Sie, werte Kolleginnen undKollegen von den Koalitionsfraktionen, über IhrenSchatten, so, wie es FDP und Grüne im Ausschuss schongetan haben. Damit könnte ein besonders krasses Bei-spiel von Ungleichheit zwischen Ost und West beseitigtwerden. Es kann nicht sein, dass eine Dienstbeschädi-gung im Osten weniger wert ist als eine Dienstbeschädi-gung im Westen.
Für mich und meine Fraktion gibt es in der Sozial-
politik und darüber hinaus einen ganz klaren Grundsatz.
Gleiches muss gleich behandelt werden, Ungleiches
nicht. Wir müssen also untersuchen, ob hier eine Un-
gleichbehandlung von früheren Angehörigen der Natio-
nalen Volksarmee, NVA, und der Bundeswehr vorliegt,
die nicht gerechtfertigt ist.
Die Linke fordert die Gleichstellung bei der Einkom-
mensprüfung im SGB II von Personen, die in der NVA
Arbeitsunfälle erlitten haben, mit solchen, denen selbiges
in der Bundeswehr zugestoßen ist. Dazu muss man erklä-
ren, dass Unfälle von Wehrpflichtigen in der DDR als Ar-
beitsunfälle entschädigt wurden, bei der Bundeswehr da-
gegen nach dem Soldatenversorgungsrecht. ALG-II-
Empfänger müssen sich eine Unfallrente voll anrechnen
lassen, da sie der Sicherung des Lebensunterhalts dient
und damit demselben Zweck wie das ALG II. Leistungen
nach dem Soldatenversorgungsgesetz zählen dagegen
zum Entschädigungsrecht und gelten als zweckbestimmte
Einnahmen, da sie erlittene Schäden kompensieren sol-
len. Sie werden nur oberhalb einer gewissen Höhe – ver-
gleichbare Grundrente nach dem Bundesversorgungsge-
setz – angerechnet.
Es liegt ganz klar auf der Hand, dass es sich dem
Sinne nach auch bei Zahlungen an die ehemaligen NVA-
Angehörigen um Entschädigungen handelt, genauso wie
es bei der Bundeswehr der Fall ist. Auch der Petitions-
ausschuss des Bundestages hat gerügt, dass sich dadurch
ein Nachteil für die NVA-Wehrpflichtigen ergibt.
Ein Kläger aus Jena wurde während seines Wehr-
dienstes bei der NVA durch ständigen Lkw-Lärm schwer-
hörig. Das Bundessozialgericht, BSG, wies seine Klage
ab. Nicht jede sich aus der deutschen Wiedervereinigung
ergebende Ungleichheit sei so schwerwiegend, dass sie
als Verstoß gegen das Gleichheitsgebot des Grundgeset-
zes zu werten sei, erklärte das BSG zur Begründung. Das
mag man juristisch so sehen können, politisch ist diese
Wertung aber unzutreffend.
Lassen Sie uns also hier ganz deutlich sagen: Gleiche
Sachverhalte müssen gleich behandelt werden. Die Ver-
letztenrente der ehemaligen NVA-Angehörigen darf ge-
nauso wie die Leistungen an Bundeswehrangehörige
nach dem Soldatenversorgungsrecht nicht auf die Grund-
sicherung nach dem ALG II angerechnet werden. Des-
halb ist es geboten, dem Antrag zuzustimmen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 16/13622, den Antrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 16/13182 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mehrheitlich angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 49 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses zu
dem Antrag der Abgeordneten Ekin Deligöz,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sorgerechtsregelung für Nichtverheiratete re-
formieren
– Drucksachen 16/9361, 16/13446 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Christine Lambrecht
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag
Wir stimmen heute über einen Antrag der Grünen ab,
der die Sorgerechtsregelung Nichtverheirateter zum Ge-
genstand hat.
(C)
(D)
Ute Granold
Ich habe bereits in der Beratung vor einem Jahr das
Wesentliche aus Sicht der Union gesagt. Daher möchte
ich mich an dieser Stelle nicht wiederholen und be-
schränke mich auf die aus unserer Sicht entscheidenden
Punkte:
Nach dem Willen der Antragssteller soll die gemein-
same Sorge bei nicht miteinander verheirateten Eltern
künftig nicht nur durch übereinstimmende Sorgeerklä-
rungen der Eltern, sondern auch durch gerichtliche Ent-
scheidung begründet werden können. Ein entsprechender
Anspruch des Vaters soll dann gegeben sein, wenn die
gemeinsame Sorge dem Wohl des Kindes am besten ent-
spricht. Die Union steht diesem Anliegen grundsätzlich
offen gegenüber. Das möchte ich an dieser Stelle beto-
nen. Wogegen wir uns allerdings aussprechen, sind ge-
setzgeberische Schnellschüsse bei einer doch sehr sen-
siblen Materie.
Der Gesetzgeber hatte bei der Kindschaftsrechtsre-
form im Jahr 1998 bewusst die gemeinsame elterliche
Sorge von der Zustimmung der Mutter abhängig ge-
macht, da er die Lebenssituationen, in die nichteheliche
Kinder hineingeboren werden, als weniger stabil einge-
schätzt hat als bei einer Ehe. Danach könne man nicht
von vornherein davon ausgehen, dass die Eltern bereit
und in der Lage seien, zum Wohl des Kindes zu koope-
rieren. Dies gelte erst recht für Lebenssituationen, in
denen Vater und Mutter nicht einmal zusammen leben.
Die gemeinsame Sorge wird daher in diesen Fällen da-
von abhängig gemacht, dass die Eltern ihre Kooperations-
bereitschaft durch die Abgabe einer gemeinsamen Sorge-
erklärung dokumentieren.
Das Bundesverfassungsgericht hat diese Wertung des
Gesetzgebers im Kern für verfassungskonform erklärt,
ihm jedoch zeitgleich eine Beobachtungspflicht aufer-
legt: Bestehen die Lebenssituationen tatsächlich so, wie
der Gesetzgeber angenommen hat, oder muss das Gesetz
nachgebessert werden? Wie sieht es also heute – gut zehn
Jahre später – aus? Treffen die Annahmen von damals
noch zu, oder haben sich nicht vielmehr die gesellschaft-
lichen Bedingungen und damit das Selbstverständnis der
Väter weiterentwickelt? Ist es vielleicht sogar so, dass es
eher die Mütter sind, die eine dauerhafte Kooperation
mit dem Vater nicht wünschen? Und wenn ja, welche
Konsequenzen sind hieraus im Interesse des Kindes zu
ziehen?
Dies sind in der Tat schwierige Fragen, auf die wir bis
zum heutigen Tag noch keine wirklich belastbaren Ant-
worten haben. Wir wissen derzeit noch immer zu wenig
über die Lebenssituation der betroffenen Väter, Mütter
und Kinder. Auch eine Umfrage des Bundesjustizministe-
riums bei Rechtsanwälten und Jugendämtern im Herbst
2006 hat keine verlässlichen Informationen gebracht.
Statistisch belegt ist lediglich, dass etwa 45 Prozent aller
nicht miteinander verheirateten Paare gemeinsame Sor-
geerklärungen abgegeben haben. Die Gründe, warum
55 Prozent dies nicht getan haben, waren vielfältig. Hier-
bei ist allerdings zu beachten, dass es sich bei diesen Be-
fragungen nicht um eine Untersuchung handelte, die wis-
senschaftlichen Anforderungen genügte.
Zu Protokoll
Wir schulden es den Kindern – im Übrigen auch den
Vätern –, dass wir diese Fragen zügig klären und in der
Folge dann gegebenenfalls gesetzgeberisch handeln.
Die Union hat vor diesem Hintergrund darauf ge-
drängt, ergänzend zu den bisherigen Erhebungen eine
wissenschaftliche Untersuchung durchzuführen, um die
erforderliche Datenbasis schnell zu schaffen. Das Bun-
desjustizministerium hat inzwischen einen Forschungs-
auftrag vergeben. Die Ergebnisse werden Ende 2010 er-
wartet.
Unabhängig vom Ausgang dieser Untersuchung
zeichnet sich bereits jetzt ab, dass sich die gesellschaftli-
che Realität in den letzten zehn Jahren stark verändert
hat. Wir können beobachten, dass sich mit der Herausbil-
dung neuer Formen des familiären Zusammenlebens
gleichzeitig auch die Rolle der Väter ganz erheblich ver-
ändert hat. Entgegen einem lange verbreiteten Vorurteil
wollen immer mehr nichteheliche Väter ebenso wie Müt-
ter Verantwortung für ihre Kinder übernehmen und sich
an der Erziehung ihres Kindes engagiert beteiligen. Auch
diese Väter haben ein natürliches Elternrecht, das ihnen
nur bei schwerwiegenden Einwänden und aus Gründen
des Kindeswohls verweigert werden darf. Diesem Um-
stand müssen wir Rechnung tragen.
Obwohl wir aus besagten Gründen einen gesetzgebe-
rischen Schnellschuss zum gegenwärtigen Zeitpunkt ab-
lehnen, spricht aus unserer Sicht einiges dafür, dass das
gemeinsame Sorgerecht künftig nicht nur durch überein-
stimmende Sorgeerklärungen der Eltern, sondern auch
durch gerichtliche Entscheidung begründet werden kann.
Ein entsprechender Anspruch des Vaters sollte dann ge-
geben sein, wenn die gemeinsame Sorge im jeweiligen
Einzelfall im Interesse des Kindes liegt, sie also am bes-
ten dem Kindeswohl entspricht. Ein Anhaltspunkt hierfür
könnte etwa sein, wenn der Vater über einen längeren
Zeitraum gezeigt hat, dass er in der Lage und willens ist,
für das Kind zu sorgen. Diese Lösung wäre moderat und
würde sowohl die Interessen beider Eltern, aber vor al-
lem eben auch das Interesse des Kindes berücksichtigen.
Die Union wird daher in der neuen Legislaturperiode
diese Frage offen angehen. Im Mittelpunkt steht dabei für
uns immer das Kindeswohl. Wir sind es aber den Vätern
schuldig, dass wir etwaige Gesetzesänderungen zeitnah
prüfen und dabei auch ihre berechtigten Interessen be-
rücksichtigen.
Wir beraten heute die Beschlussempfehlung und denBericht des Rechtsausschusses zum Antrag von Bünd-nis 90/Die Grünen „Sorgerechtsregelung für Nichtver-heiratete reformieren“. Darin fordert die Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen die Bundesregierung dazu auf, einenGesetzentwurf zur Änderung des § 1626 a BGB, der dasSorgerecht nichtverheirateter Eltern betrifft, vorzulegen.Seit der Kindschaftsrechtsreform im Jahr 1998 siehtdas Gesetz vor, dass nichtverheiratete Eltern das gemein-same Sorgerecht dann erhalten können, wenn die Elternentweder beide erklären, dass sie die Sorge gemeinsamübernehmen wollen, oder einander heiraten. Ansonsten
Metadaten/Kopzeile:
25944 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Christine Lambrechtbleibt es bei der Regelung, dass die Mutter das Sorge-recht behält.Das Sorgerecht betrifft die wesentlichen Entscheidun-gen im Leben des Kindes, das Aufenthaltsbestimmungs-recht, die Vornamensgebung, Festlegung der Religion,Einwilligung in die ärztliche Behandlung, Anmeldungzur Kindertagesstätte, Schule usw. Nur in den seltenenFällen, wenn der Mutter das Sorgerecht entzogen wurdeoder sie aus praktischen oder rechtlichen Gründen selbstnicht in der Lage, ist die Sorge auszuüben, kann der Vatersein eigenes Sorgerecht erwirken. Nunmehr fordert dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen eine Öffnung der bishe-rigen Regelung dahin gehend, dass ein Anspruch auf ge-richtliche Einzelfallentscheidung zum gemeinsamen Sor-gerecht möglich wird. Sie fordern eine neue Regelung,wonach eine gerichtliche Einzelfallentscheidung zuguns-ten des gemeinsamen Sorgerechts auch gegen den aus-drücklichen Willen der Mutter möglich ist.Einigen sich also die Elternteile – aus welchen Grün-den auch immer – nicht darauf, eine einvernehmlicheSorgeerklärung abzugeben, bleibt es bislang beim allei-nigen Sorgerecht für die Mutter. Dem lag bei der Reform1998 die Annahme zugrunde, dass ein gegen den Willender Mutter erzwungenes Sorgerecht nicht dem Wohl desKindes entsprechen kann. Diese Regelung hat das Bun-desverfassungsgericht auch in seinem Urteil vom 29. Ja-nuar 2003 als verfassungskonform bestätigt.Die Gründe, aus denen es nicht zu einem gemeinsa-men Sorgerecht kommt, mögen vielfältig sein, sowohl beiEltern, die niemals eine Beziehung hatten, als auch beisolchen, die zusammenleben. Tatsächlich kann man sa-gen, dass die Familienformen in Deutschland vielfältigerwerden, die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaf-ten mit Kindern steigt und die Unterschiede in der Le-bensweise zwischen verheirateten und nichtverheiratetenPaaren insgesamt geringer werden. In der Tat gibt es eingewandeltes Selbstverständnis von Vätern, die sich zu ih-rer Erziehungsverantwortung bekennen, Umgangs- undUnterhaltspflichten erfüllen und bereit sind alltäglicheVerantwortung für ihre Kinder zu übernehmen, also auchfür die wesentlichen Entscheidungen im Leben des Kin-des, die das Sorgerecht betrifft.In seinem Urteil vom 29. Januar 2003 hat das Bundes-verfassungsgericht dem Gesetzgeber allerdings keineVorgaben gemacht, wie er den Prüfauftrag erfüllt. Insbe-sondere hat das Bundesverfassungsgericht die seit 1998bestehende Regelung nicht infrage gestellt. In seinen Ur-teilsgründen hat es festgestellt, dass angesichts der neu-geschaffenen Rechtsform zum damaligen Zeitpunkt desUrteils noch keine tragfähigen empirischen Aussagenmöglich waren .Es verbietet sich daher eine vorschnelle Gesetzesän-derung, vielmehr bleibt zu prüfen, inwieweit die gesetz-geberischen Annahmen der Wirklichkeit entsprechen.Damit kommt der Gesetzgeber seiner Verantwortungnach, zu prüfen, ob es Gründe gibt, die für die Änderungder Regelung sprechen, und in wie vielen Fällen ein ge-meinsames Sorgerecht der unverheirateten Eltern demKindeswohl entspricht.Zu ProtokollHierzu wurden bereits verschiedene Maßnahmen ge-troffen: Seit 2004 wird die Begründung der gemeinsamenSorge durch Sorgeerklärungen statistisch erfasst. Da-nach geben etwa 45 Prozent aller nicht miteinander ver-heirateten Paare Sorgeerklärungen ab. Außerdem hatdas Bundesjustizministerium im Herbst 2006 eine Um-frage bei Rechtsanwälten und Jugendämtern zum Kon-fliktpotenzial der gesetzlichen Regelung durchgeführt.Da diese Befragung keine belastbaren Erkenntnisse überdie wahren Motivlagen der Mütter lieferte, sondern aufEindrücken und Erfahrungen Dritter beruhte, hat dasBundesjustizministerium dazu ergänzend in diesemFrühjahr eine wissenschaftliche Untersuchung in Auf-trag gegeben. Betroffene Mütter und Väter werden hierdurch geschulte Interviewer befragt, um belastbare sta-tistische Daten zu erlangen. Ergebnisse sind nicht vorEnde des Jahres 2010 zu erwarten.Bei der im Grünen-Antrag vorgesehenen Klage desVaters soll die gerichtliche Prüfung für alle Fälle gelten,in denen der Vater seinen Anteil an elterlicher Fürsorgeerfüllt oder dies gern tun würde, aber bislang nur darangehindert wurde. Die Klage des Vaters soll nach dem An-trag im Wesentlichen voraussetzen, dass der Vater seinenAnteil an elterlicher Fürsorge erfüllt, die Mutter sich je-doch aus kindeswohlfremden Gründen weigert, eine ge-meinsame Sorgeerklärung abzugeben.Bevor es jedoch zu einer so weitreichenden, unter Um-ständen gegen die Interessen alleinerziehender Müttergerichteten Regelung kommt, sollte auf jeden Fall dievom Bundesjustizministerium in Auftrag gegebene wis-senschaftliche Untersuchung sorgfältig ausgewertet wer-den. Es ist selbstverständlich – wir sind es den Mütternschuldig – zunächst mehr über die Motivlagen der Müt-ter zu erfahren, darüber, warum sie nicht mit einem ge-meinsamen Sorgerecht einverstanden sind. Dies ent-spricht auch dem Kindeswohl. Daher lehnen wir denAntrag zum gegenwärtigen Zeitpunkt ab. Wir werden unsaber bei Vorlage der belastbaren Information dieserFrage stellen.
Bereits im Juni letzten Jahres haben wir uns in derersten Lesung mit dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Sorgerechtsregelung für Nichtverheiratetereformieren“ beschäftigt. In diesen zurückliegendenzwölf Monaten hat sich jedoch kein wesentlich neuer Er-kenntnisgewinn ergeben. Die von mir geforderte Sach-verständigenanhörung im Rechtsausschuss des Deut-schen Bundestages hat nicht stattgefunden. Die FraktionBündnis 90/Die Grünen hat eine solche Anhörung zu ih-rem eigenen Antrag gescheut. Gerade bei einem solchsensiblen Thema wie der Zusprechung des Sorgerechtsfür Kinder ist eine sehr sorgfältige Abwägung erforder-lich. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen versucht mitihrem Antrag jedoch auf einer populistischen Welle mit-zureiten, die seit einigen Monaten immer wieder in derdeutschen Medienlandschaft auftaucht. Ein solcher Po-pulismus wird diesem schwierigen Thema jedoch nichtgerecht. Aus diesem Grunde wird auch die FDP-Bundes-tagsfraktion jetzt dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nicht zustimmen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25945
gegebene Reden
(C)
(D)
Sabine Leutheusser-SchnarrenbergerDass dieser Antrag gerade von der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen so vehement vorangetrieben wird,verwundert. Vor der Kindschaftsrechtsreform stand dieelterliche Sorge bei einem nichtehelichen Kind allein derMutter zu. Eine gemeinsame Sorgetragung für dasnichteheliche Kind war gar nicht vorgesehen. Mit demKindschaftsrechtsreformgesetz, welches am 1. Juli 1998in Kraft trat, wurde unter anderem das Sorgerecht inDeutschland neu geregelt. Diesen Gesetzentwurf habeich als damalige Bundesjustizministerin intensiv vorbe-reitet und leidenschaftlich begleitet.Erst durch die Kindschaftsrechtsreform wurde die Ei-genverantwortung der nichtehelichen Lebenspartner ge-stärkt. Seit diesem Zeitpunkt haben nicht miteinanderverheiratete Eltern eines Kindes unter anderem dann diegemeinsame elterliche Sorge, wenn die beiden Elternteileübereinstimmende Sorgeerklärungen abgeben. Ganz be-wusst hat der Gesetzgeber damals die gemeinsame SorgeNichtverheirateter von der Zustimmung der Mutter ab-hängig gemacht. Denn eine gemeinsame elterliche Sorgesetzt im Sinne des Kindeswohls die Übereinstimmungund Kooperationsbereitschaft beider Elternteile voraus.Dem Kind ist nicht geholfen, wenn die Elternteile ständigüber Sorgerechtsfragen nur noch über ihre Anwälte re-den.Darüber hinaus werden nichteheliche Kinder nichtnur in intakten nichtehelichen Lebensgemeinschaften ge-boren, sondern sind eben oftmals auch das Ergebnis spo-radischer und instabiler Beziehungen. Auch in diesenFällen scheint ein Mindestmaß an Übereinstimmung undKooperationsbereitschaft beider Elternteile nicht gene-rell gegeben zu sein. Auch das Bundesverfassungsgerichthat in seinem Urteil im Jahre 2003 die jetzige gesetzli-che Regelung für verfassungsmäßig erklärt. Der Ge-setzgeber sei nur verpflichtet, die tatsächliche Entwick-lung zu beobachten und zu prüfen, ob die der Regelungzugrunde liegenden Annahmen auch der Wirklichkeitentsprechen.Es stellt sich also die Frage, ob Anlass dazu besteht,den Müttern zu misstrauen, anzunehmen, dass sie denleiblichen Vätern das Sorgerecht aus sachfremden Erwä-gungen entziehen. Oder ist es nicht vielmehr so, dass dieMütter diese Entscheidung in aller Regel sehr bewusstzum Wohl des Kindes nutzen? Dies jedenfalls, die selbst-bestimmte Entscheidung der Mutter zum Wohl des Kin-des, war die gedankliche Ausgangslage bei der Verab-schiedung der Kindschaftsrechtsreform 1998. Diesegedankliche Ausgangslage wurde auch von der FraktionBündnis 90/Die Grünen damals nicht nur mitgetragen,sondern unterstützt. Vor diesem Hintergrund muss mansich schon die Frage gefallen lassen, was zu einem sol-chen Sinneswandel geführt hat, was die Antragsteller zuder Einsicht gebracht hat, dass die Mütter ihre Möglich-keiten im Zusammenhang mit dem gemeinsamen Sorge-recht missbrauchen. Die reinen Tatsachen jedenfalls kön-nen es nicht sein.Die Bundesregierung hat vor dem Hintergrund desUrteils des Bundesverfassungsgerichtes eine Rechtsver-gleichung mit den EU-Mitgliedstaaten durchgeführt, dasStatistische Bundesamt erfasst seit 2004 die Zahl der ge-Zu Protokollmeinsamen Sorgeerklärungen und das Bundesjustizmi-nisterium hat eine nichtrepräsentative Umfrage bei Ju-gendämtern und Rechtsanwälten durchgeführt. DasErgebnis dieser nichtrepräsentativen Studie ist einzigund allein die Feststellung, dass 45 Prozent der nichtmiteinander verheirateten Eltern die gemeinsame Sorgedurch Sorgerechtserklärung begründen. Alle diese Maß-nahmen sind jedoch letztendlich nicht geeignet, abschlie-ßend den Prüfauftrag des Bundesverfassungsgerichtes zuerfüllen. Hier besteht noch dringender Nachholbedarf.Das Bundesjustizministerium hat eine entsprechendeStudie in Auftrag gegeben. Mit den Ergebnissen ist leidererst in der nächsten Wahlperiode zu rechnen.Bis diese Ergebnisse vorliegen, sind jedoch aus Sichtder FDP-Bundestagsfraktion viele Fragen zu klären, be-vor dem Vater die Möglichkeit einer gerichtlichen Einzel-fallentscheidung zur Erlangung der gemeinsamen Sorgegegen den Willen der Mutter eingeräumt werden kann:Inwieweit wird die Sorgeerklärung tatsächlich alsMachtposition gegenüber dem Vater missbraucht? Wasbringt eine gemeinsame Sorge, wenn keine Übereinstim-mung und Kooperationsbereitschaft der Eltern besteht?Was bringt eine solche gemeinsame Sorge insbesonderedem betroffenen Kind? Ist dem Kindeswohl, das im Mit-telpunkt unserer Überlegungen stehen muss, damitwirklich gedient? Vor der Klärung dieser Grundlagenist jedoch nicht zu beurteilen, inwieweit überhaupt Re-formbedarf besteht. Der heute dem Deutschen Bundestagin zweiter Lesung vorliegende Antrag basiert somit aufeiner nicht ausreichenden Tatsachenforschung.Die FDP-Bundestagsfraktion wird sich vor diesemHintergrund enthalten und das Thema in der nächstenWahlperiode erneut zu Sprache bringen.
Nichts wird besser! Wie bereits vor über einem Jahrfestgestellt: Die Grünen fordern in ihrem Antrag die Ein-führung der Möglichkeit einer gerichtlichen Überprü-fung der Weigerung der Mutter, eine gemeinsame Sorge-erklärung mit dem Vater des Kindes abzugeben. Derhistorisch-juristische Abriss zum Kindschaftsrecht wurdevon der Kollegin Granold bereits in der ersten Lesungvor einem Jahr zutreffend dargestellt.Inhaltlich lässt sich nach wie vor feststellen, dass ineiner intakten Paarbeziehung bzw. Einvernehmlichkeitder unverheirateten Eltern in aller Regel die gemeinsameSorge erklärt wird. Wir wissen aber immer noch zu wenigüber die Gründe, warum Eltern die gemeinsame Sorgenicht erklären. Allein aus dem Umstand, dass über50 Prozent der unverheirateten Eltern die gemeinsameSorge nicht erklären, lässt sich nicht schließen, dass dieEltern wegen einer Weigerung der Mütter auf die Abgabeeiner gemeinsamen Sorgeerklärung verzichten. Wirbrauchen belastbare Ergebnisse, bevor gesetzliche Neu-regelungen angestrebt werden.Ergebnisse der vom Justizministerium angekündigtenwissenschaftlichen Gutachten liegen immer noch nichtvor. Nach dem Vorliegen dieser Ergebnisse würden wireinen Weg beschreiten können, den uns unsere europäi-schen Nachbarn bereits vormachen, nämlich das grund-
Metadaten/Kopzeile:
25946 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Jörn Wunderlichsätzliche gemeinsame Sorgerecht von unverheiratetenEltern mit der Möglichkeit, dieses durch einen Elternteilgerichtlich regeln zu lassen, sowohl in der Richtung, dasSorgerecht auf sich allein übertragen zu lassen, als auchin Richtung auf den anderen Elternteil.Sinngemäß hat auch das Bundesverfassungsgerichtdarauf hingewiesen, als es um die Pflicht eines Vaterszum Umgang mit seinem Kind ging. Ein erzwungenerUmgang, dem ein Vater nur widerwillig nachkommt,kann für ein Kind traumatisierend sein, argumentiertedas Gericht. Eine erzwungene gemeinsame Sorge kanneventuell ähnliche Wirkungen haben. Von daher mussauch die Möglichkeit geschaffen werden, das Sorgerechtauf den anderen Elternteil übertragen zu lassen.Der Wunsch, es Kindern zu ermöglichen, Kontakt zubeiden Eltern zu haben und von beiden Eltern sowohlfinanziell als auch tatsächlich versorgt und erzogen zuwerden, bleibt nach wie vor bestehen, zumal Kinder essich nicht aussuchen können, ob ihre Eltern vor der Ge-burt eine Ehe eingegangen sind oder nicht.Fraglich ist nach wie vor, ob der Vorschlag im vorlie-genden Antrag der Grünen überhaupt praktikabel ist.Eine Regelung über die elterliche Sorge, die nicht imEinvernehmen der Eltern erreicht werden soll, entsprichtnach den Erfahrungen in der Praxis gerade nicht demKindeswohl. Durch die Einführung eines Überprüfungs-verfahrens, wie es die Grünen vorschlagen, wird dasKindeswohl instrumentalisiert und zum Spielball der El-terninteressen. Ein enttäuschter Vater, der sich vielleichteine Beziehung mit der Mutter gewünscht hat, bekommtso ein Druckmittel über das Kind in die Hand. Oder garwenn das Kind aus einer Vergewaltigung entstanden ist:Soll die Mutter wirklich befürchten müssen, dass der Ver-gewaltiger das Sorgerechtsüberprüfungsverfahren ein-leitet? Gerade in letzterem Fall wäre die Übertragungdes Sorgerechts auf die Mutter, für den Fall der vorhinvon mir geschilderten visionären grundsätzlich gemein-samen Sorge, ein Beispiel für die Begründetheit einessolchen Antrags auf Übertragung der alleinigen Sorge.Die bereits vor einem Jahr angeführte Untersuchungdes Justizministeriums führt als einen Grund der fehlen-den gemeinsamen Sorgeerklärung an, dass die Elternüber die rechtlichen Folgen sehr häufig nicht ausrei-chend informiert seien. Hier muss gegenwärtig angesetztwerden. Im Falle des grundsätzlichen gemeinsamen Sor-gerechts – wie bei Ehepaaren – wäre dies hinfällig. Ge-genwärtig wird von Eltern aktives Tun gefordert, um diegemeinsame Sorge zu erlangen. Warum sollte es nichtder Regelfall werden und aktives Tun eines Elternteilserst dann notwendig werden, wenn es um die alleinigeSorge für das Kind geht?Deshalb gilt es, Lösungen zu finden, die Kindeswohlund Elterninteressen berücksichtigen, nicht gerichtlicherzwungenes gemeinsames Sorgerecht. Nur muss das Er-gebnis des im Frühjahr vergebenen Forschungsvorha-bens zum gemeinsamen Sorgerecht abgewartet werden,was nach Auskunft den BMJ nicht vor Ende 2010 zu er-warten ist. Das letzte Wort in dieser Sache ist jedenfallsnoch nicht gesprochen; dem Antrag der Grünen jeden-Zu Protokollfalls fehlt nach wie vor die Weitsicht, und deshalb kanndie Linke diesem Antrag nicht zustimmen.
Leider hat das parlamentarische Verfahren bezüglichunseres Antrages zur Reform der Sorgerechtsregelungfür Nichtverheiratete zu keinen neuen Erkenntnissen ge-führt. Die Sachlage ist in der Debatte bei der ersten Le-sung am 26. Juni 2008 schon hinreichend geschildertworden, sodass sich hier eine Wiederholung erübrigt.Folgt man der Beschlussempfehlung des federführendenRechtsausschusses, wird es in dieser Wahlperiode auchzu keiner Gesetzesänderung kommen.Auch genau ein Jahr nach der ersten Lesung unseresAntrages ist das Anliegen einer Sorgerechtsreform im-mer noch drängend. Es mag Aufgaben geben, die mit derZeit weniger virulent werden oder sich sogar von selbsterledigen – zugegebenermaßen ist dies nicht so oft derFall –, bei diesem Thema sicherlich nicht. Von daherhätte sich eine eingehende Befassung mit unserem Vor-schlag gelohnt. Das Interesse aller anderen Fraktionenhat sich jedoch, gelinde gesagt, in sehr engen Grenzengehalten. Da kam es vermutlich gerade recht, dass ersteine entsprechende wissenschaftliche Studie in Auftraggegeben wurde, mit deren Ergebnissen erst weit in dernächsten Wahlperiode zu rechnen ist. Hierzu ist dreierleifestzustellen.Ein besonders großes Engagement oder gar beson-dere Eile kann man hier dem zuständigen Ministeriumnicht unterstellen. Es wäre nicht vermessen, elf Jahrenach der großen Reform des Kindschaftsrechts und sechsJahre nach dem Bundesverfassungsgerichtsauftrag zu ei-ner Überprüfung der sorgerechtlichen Praxis bei Nicht-verheirateten bereits eine abgeschlossene Untersuchungzu erwarten. Das gilt besonders angesichts der Tatsache,dass natürlich nicht die gesamte Kindschaftsrechtsrefom,sondern ein klar umrissener Ausschnitt – die gemein-same Sorgeerklärung bei Nichtverheirateten – zur Dis-kussion steht. Es handelt sich um ein diffiziles und hoch-emotionales Thema. Rechtsregelungen in einem solchprivat-persönlichen Bereich werden immer kontroversbleiben und wohl nie auf ungeteilte Zustimmung stoßen.Dennoch sollte man der Versuchung widerstehen, hierauf Zeit zu spielen und notwendige Debatten vor sichherzuschieben.Beim Stichwort der notwendigen Debatte komme ichzu meiner zweiten Feststellung. Es gibt diverse Themen,bei denen gerade seitens der Koalition betont wird, hierwäre das Anstoßen oder Verstärken einer öffentlichen ge-sellschaftlichen Debatte überaus wichtig, auch wennnoch nicht sofort die entsprechende Umsetzung gewähr-leistet werden könne. Das ist bei einigen familienpoliti-schen Themen so erfolgt. Im Hinblick auf das Sorgerechtsoll das jetzt nicht gelten. Ich finde, diese Debatte – die jaexistiert und die etliche Bürgerinnen und Bürger betrifft,hätte vom Parlament mit bedeutend mehr Engagementaufgegriffen werden müssen. Sie, liebe Kolleginnen undKollegen von der Koalition, aber auch von der FDP undder Linken, haben schlichtweg abgewinkt.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25947
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
25948 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Ekin DeligözEine dritte und entscheidende Feststellung: Wir habenunsere Position zum Sorgerecht gründlich erarbeitet.Dazu gehörte ein enger inhaltlicher Austausch mit sehrvielen Fachleuten und Verbänden. Das ist übrigens beivielen Initiativen hier im Hause die Arbeitsgrundlage,das heißt Entscheidungen werden auf Basis von Empfeh-lungen der Fachwelt getroffen, auch wenn diese ebennicht alle dezidiert empirisch unterlegt sind. Zudem istdie Hoffnung auf empirische Untersuchungen zumeisteine trügerische: Wie oft führen diese eben nicht zu ein-deutigen Ergebnissen und wie oft sind die zu ziehendenSchlussfolgerungen Interpretationen und keine zwingen-den, unbezweifelbaren Ableitungen?Unser aus dieser Arbeit resultierender Reformvor-schlag ist plausibel begründet. Er bietet eine sachgerechteund überzeugende moderate Lösung der bestehenden Pro-blemlage. Die prinzipielle Möglichkeit des Ausschlussesdes nichtverheirateten Vaters vom Sorgerecht unabhän-gig jedweder Umstände stellt ein Gerechtigkeitslückedar, die geschlossen werden sollte. Eine solche Regelungist absolut unzeitgemäß, und sie ist im europäischen Ver-gleich nahezu beispiellos. Ich bin fest davon überzeugt,dass man unseren Antrag auch ohne eine gesonderte em-pirische Untersuchung abstimmen und umsetzen könnte.Dazu hätte es selbstredend einer Mehrheit im Ausschussbzw. im Plenum des Bundestages bedurft. Voraussetzungwäre dafür jedoch eine wirkliche Befassung mit demThema – einschließlich einer Fachanhörung – gewesen,was aber bedauerlicherweise nicht erfolgt ist.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/13446, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9361 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mehrheitlich angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 50 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christel
Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann,
Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der FDP
Biotechnologische Innovationen im Interesse
von Verbrauchern und Landwirten weltweit
nutzen – Biotechnologie ein Instrument zur
Bekämpfung von Armut und Hunger in den
Entwicklungsländern
– Drucksachen 16/6714, 16/11450 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Max Lehmer
Elvira Drobinski-Weiß
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Ulrike Höfken
Wir dürfen uns die Chancen der Biotechnologie nicht
verbauen. Sie bietet große Potenziale, insbesondere im
Hinblick auf die weltweit drängenden Fragen der Zu-
kunft: nämlich die Sicherung der Welternährung, die Ge-
sundheit und die Energieversorgung. Die Biotechnologie
hat wahrscheinlich mehr Antworten auf diese dringen-
den Fragen der Menschheit als jede andere Spitzentech-
nologie. Natürlich kann sie die Probleme nicht alleine lö-
sen, aber sie kann einen wichtigen Beitrag hierzu leisten.
Dabei steht das Prinzip der Sicherheit für Mensch, Tier
und Umwelt immer an oberster Stelle.
Die Weltbevölkerung wächst jährlich um 80 Millionen
Menschen. Laut Welternährungsorganisation wird der
Bedarf an Lebensmitteln bis 2030 um 60 Prozent steigen.
Geradezu dramatisch ist die Prognose, dass die verfüg-
bare Anbaufläche für Nahrungs- und Energiepflanzen
pro Erdenbürger sich bis zum Jahre 2040 halbieren wird.
Wir können also gar nicht umhin, die Leistungsfähigkeit
unserer Kulturpflanzen und damit die Effizienz der Land-
wirtschaft entscheidend zu steigern. Die Agrar- und Er-
nährungswissenschaften spielen dabei mehr denn je eine
zentrale Rolle. Wir müssen uns in Zukunft noch intensiver
als bisher mit Pflanzenzüchtung und -forschung beschäf-
tigen. Vor allem auch, um nicht den Anschluss zu verlie-
ren und damit abhängig von anderen Ländern zu werden.
Es ist ein geradezu ein Widersinn, gentechnisch ver-
änderte Pflanzen hierzulande nicht verfüttern zu dürfen,
das importierte Fleisch von derart gefütterten Tieren
aber zu verspeisen. Wir müssen eine nachhaltige Produk-
tivitätssteigerung durch moderne Technologien wie zum
Beispiel die Grüne Gentechnik, modernen Pflanzen-
schutz und Pflanzenernährung ermöglichen. Nur mit de-
ren Hilfe werden wir in der Lage sein, die Weltbevölke-
rung zukünftig zu ernähren.
Breite Wissenschaftskreise in Deutschland und
Europa sprechen deshalb bei der Biotechnologie von der
Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts. Denn sie bie-
tet die Möglichkeit der Verbesserung von Pflanzeneigen-
schaften für die Produktion von Lebensmitteln, Rohstof-
fen und die Bioenergie.
Ich nenne als Stichworte: verbesserte Nährstoffge-
halte, höhere Energiedichte bei Energiepflanzen, erhöhte
Widerstandsfähigkeit gegen klimatischen Stress – Eig-
nung für wasserarme Standorte –, Widerstandsfähigkeit
gegen Schädlinge und Krankheiten und damit die Mög-
lichkeit zur Vermeidung von Ertrags- und Qualitätsver-
lusten. Aber auch die ökologischen Vorteile sind zu nen-
nen: weniger chemischer Pflanzenschutz, geringerer
Energiebedarf moderner Produktionsmethoden und
mehr Erosionsschutz.
Die Pflanze als zentraler Organismus wird damit,
mehr als bisher angenommen, in den Fokus von öko-
logisch und nachhaltig ausgerichteter Nahrungs- und
Energieerzeugung gerückt. Gerade Landwirte in Ent-
wicklungs- und Schwellenländern profitieren von den so-
zioökonomischen Vorteilen des Anbaus genveränderter
Pflanzen. In Indien beispielsweise können die Landwirte,
die Bt-Baumwolle anbauen, ihre Erträge um bis zu
50 Prozent steigern. Ihr Einkommen liegt im Durch-
(C)
(D)
Dr. Max Lehmer
schnitt um 250 US-Dollar höher als beim Anbau konven-
tioneller Sorten. Die Zahlen in China sind ähnlich.
Oft wird vor der Gefahr einer Monopolisierung ge-
warnt. Diese Tendenz ist nicht von der Hand zu weisen.
Ich meine allerdings, dass nur mit einer eigenen starken
nationalen bzw. staatlichen Forschung und einer konse-
quenten Unterstützung unserer überwiegend mittelstän-
disch geprägten Pflanzenzucht in Deutschland dieser un-
erwünschten Entwicklung entgegengewirkt werden kann.
Deutschland hat ein enormes wissenschaftliches
Potenzial für eine erfolgversprechende, weltweit ver-
wertbare Forschung in diesem Bereich. Wir müssen die-
ses Potenzial endlich offensiv nutzen. Der Wissenschafts-
und Forschungsstandort Deutschland muss auch in die-
sem Bereich führend sein.
Die Idealisierung von Stillstand ist dagegen eine ge-
fährliche Illusion.
Man kann Ihnen zugute halten, dass Ihr Antrag bereitsaus dem Oktober 2007 stammt. Damals lag der Welt-agrarbericht noch nicht vor, der kam erst im April 2008,und auch der Bericht des Büros für Technikfolgenab-schätzung, TAB, „Transgenes Saatgut in Entwicklungs-ländern“ erschien erst vor kurzem und konnte von derFDP noch nicht berücksichtigt werden.Allerdings gibt es schon so lange, wie es die GrüneGentechnik gibt, berechtigte Zweifel daran, dass sie dasgeeignete Instrument ist, den Hunger in der Welt zu be-kämpfen. In zahlreichen Untersuchungen warnen Exper-ten immer wieder davor, auf die Grüne Gentechnik alsWundermittel gegen Hunger zu setzen. Aber solche Er-kenntnisse werden offenbar ignoriert, weil sie nicht insFDP-Konzept passen.Der Weltagrarbericht beschäftigt sich intensiv mit derFrage, wie in den sogenannten EntwicklungsländernHunger und Armut bekämpft werden können. Ein breitgefächertes Spektrum von 400 Experten aus dem Agro-business, der Lebensmittelindustrie, der Wissenschaft,der Verbraucher-, Bauern-, Umwelt- und anderer Nicht-regierungsorganisationen fordert in diesem Bericht dieAbkehr vom monokulturellen Intensivanbau: Dessen Bi-lanz fiel bei hohem Einsatz von Kapital und Energie zwarüber Jahrzehnte positiv aus, dies aber vor allem deshalb,weil die Umweltkosten ausgeklammert wurden.Die Produktivitätssteigerung durch technologischeFortschritte ist an ihre Grenzen gestoßen und die Kostenfür die Umwelt und die Entwicklungsländer werden zuhoch. Die Zukunft der landwirtschaftlichen Produktionliegt in einer nachhaltigen, das heißt in einer umwelt-und ressourcenschonenden Produktion. Die Agrogen-technik ist da der falsche Weg. Über den Nutzen gentech-nisch veränderter Pflanzen lassen sich kaum Aussagenmachen, dokumentiert sind sowohl Ertragszuwächse instark schwankender Höhe als auch Ertragsrückgänge.Vielmehr ist zu beobachten, dass Grüne Gentechnik dielokalen Anbaupraktiken unterwandert, die die Nah-rungsmittelversorgung der Bevölkerung und der Wirt-schaft vor Ort sichern. Genverändertes Saatgut ver-Zu Protokolldrängt heimische und lokal angepasste Sorten. Patentetreiben die Kosten in die Höhe, treiben Bauern in dieAbhängigkeit von Biotechnologieunternehmen und sor-gen für eine Konzentration des Eigentums an landwirt-schaftlichen Ressourcen.Armut und fehlender Zugang zu ausreichender Nah-rung sind nach wie vor auf mangelnde Verteilungsge-rechtigkeit zurückzuführen.Dass bis heute der Beweis für den Nutzen des Einsat-zes der Gentechnik fehlt, stellt auch der TAB-Bericht fest.Das TAB hat die Datenlage zur Verwendung von transge-nem Saatgut in bestimmten Ländern untersucht, insbe-sondere in China, Costa Rica, Chile und Brasilien. Dabeigeht es neben den ökologischen und gesundheitlichenEffekten vor allem um sozioökonomische bzw. wirtschaft-liche Resultate: Wer entwickelt bzw. verwendet transge-nes Saatgut, mit welchem Nutzen und wie verteilen sicheventuelle Gewinne? Ein wichtiges Ergebnis dieserUntersuchung ist: Der bisherige Nutzen des Einsatzestransgenen Saatguts in Entwicklungsländern erscheint inBezug auf das Spektrum der Pflanzenarten, Sorten undEigenschaften begrenzt.Wichtig ist aber auch die Feststellung, dass der bisherbeschrittene Weg der technologiefixierten Bewertungnicht erfolgversprechend ist: Sie wird der Komplexitätder ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Effekteund den großen Interessen- und Zielkonflikten ver-schiedener gesellschaftlicher Gruppen nicht gerecht.Das TAB plädiert für ein Umsteuern von der seit langemfestgefahrenen technologiebasierten Nutzen- und Risi-kendebatte auf „eine problemorientierte Herangehens-weise, in deren Rahmen Pflanzenzucht und Gentechnikals Elemente von Handlungsoptionen bzw. -strategienzur Lösung spezifischer Probleme im Vergleich zuanderen Technologien und Maßnahmen geprüft wer-den“.Wenn Sie sich mit diesem Bericht ernsthaft auseinan-dersetzen, werte Kolleginnen und Kollegen von der FDP,werden Sie feststellen, dass sich aus der Situation in denEntwicklungsländern ganz konkreter Handlungsbedarffür uns hier in der EU ableitet, denn die Entwicklungs-länder importieren die GVO-Sorten aus den Industrie-ländern und hängen damit von den dortigen Zulassungs-verfahren ab. Das EU-Zulassungsverfahren berücksichtigt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25949
(C)
(D)
Metadaten/Kopzeile:
25950 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25951
(C)
(D)
Metadaten/Kopzeile:
25952 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25953
Metadaten/Kopzeile:
25954 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
(C)
(D)
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25955
(C)
(D)
Metadaten/Kopzeile:
25956 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25957
Metadaten/Kopzeile:
25958 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
zu dem Antrag der Abgeordneten
(C)
(D)
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25959
(C)
(D)
Metadaten/Kopzeile:
25960 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25961
(C)
(D)
Metadaten/Kopzeile:
25962 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25963
(C)
(D)
Metadaten/Kopzeile:
25964 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25965
(C)
(D)
Metadaten/Kopzeile:
25966 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25967
(C)
(D)
(C)
(D)
Metadaten/Kopzeile:
25968 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25969
(C)
(D)
Metadaten/Kopzeile:
25970 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25971
Metadaten/Kopzeile:
25972 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
richts des Innenausschusses zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine
Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, Karin Binder, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Fünf Jahre Karenzzeit für Mitglieder der
Bundesregierung
– Drucksachen 16/13366, 16/13655 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Brandt
Siegmund Ehrmann
Dr. Max Stadler
Petra Pau
Silke Stokar von Neuforn
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses
– zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen
Koppelin, Dr. Max Stadler, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Verhaltenskodex für ausscheidende Regie-
rungsmitglieder
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gregor
Gysi, Oskar Lafontaine, Dr. Gesine Lötzsch
und der Fraktion DIE LINKE
Gesetzliche Regelung für frühere Mitglieder
der Bundesregierung und Staatssekretäre
zur Untersagung von Tätigkeiten in der Pri-
vatwirtschaft, die mit ihrer ehemaligen Tä-
tigkeit für die Bundesregierung im Zusam-
menhang stehen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck
, Monika Lazar, Jerzy Montag, Silke
Stokar von Neuforn und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Berufstätigkeit von ausgeschiedenen Mit-
gliedern der Bundesregierung regeln
– Drucksachen 16/677, 16/846, 16/948, 16/13656 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Brandt
Siegmund Ehrmann
Dr. Max Stadler
Petra Pau
Silke Stokar von Neuforn
Wir beraten heute über einen Antrag der Fraktion die
Linke, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, ein
Gesetz vorzulegen, wonach ausscheidenden Regierungs-
mitgliedern fünf Jahre lang untersagt werden soll, einen
Vorstands- oder Aufsichtsratsposten in einem Unterneh-
men anzunehmen, das jüngst mit Steuergeldern vor der
Insolvenz gerettet worden ist. Die Linke begründet ihren
Antrag damit, dass mit einem solchen Gesetz dem Ein-
druck entgegen gewirkt werden solle, die Regierungsmit-
glieder seien korrupt.
Bevor ich auf den Antrag eingehe, lassen Sie mich
Folgendes sagen: Keiner Regierung, erst recht nicht der
derzeitigen Regierung, ist jemals Korruption nachgesagt
worden. Im Gegenteil, unsere Regierung ist überaus inte-
ger, und ich lasse nicht zu, dass von der Linken Gegentei-
liges suggeriert wird. Vielmehr wird gerade mit solchen
„vorsorglichen“ Anträgen die Auffassung gestärkt, es
bestünde Handlungszwang zur Korruptionsbekämpfung
in den Reihen der Regierungsmitglieder. In unserem
Rechtstaat hätte es schon lange eine gesetzliche Rege-
lung gegeben, wenn diese angebracht gewesen wäre.
Das ist sie jedoch nicht.
Nach diesen grundsätzlichen Worten, möchte ich nun
en détail auf Ihren Antrag eingehen. Sie fordern für aus-
scheidende Regierungsmitglieder eine fünfjährige Karenz-
zeit. Freilich beschränken Sie den Anwendungsbereich auf
Unternehmen, die im Rahmen der Konjunkturpakete vor
dem Ruin gerettet worden sind. Dies veranlasst mich zu
der Bemerkung, dass wir die Konjunkturpakete einzig
und allein zum Zwecke der Abfederung der Finanzkrise
verabschiedet haben. Ich bin mir sicher: Kein Minister
hat sich davon persönliche Vorteile erhofft. Kein Minister
hat dabei auf potentielle zukünftige Ämter geschielt.
Am Rande sei mir gestattet, darauf hinzuweisen, dass
wir im Finanzmarktstabilisierungsgesetz ein Gremium
gemäß § 10 a eingeführt haben, das über die Verteilung
der öffentlichen Gelder durch die KfW wacht. Für die
Fraktion Die Linke ist Herr Roland Claus in diesem Gre-
mium zuständig. Es ist also keineswegs so, dass die Re-
gierungsmitglieder das Geld nach ihren persönlichen In-
teressen verteilen könnten.
Davon einmal abgesehen, dass eine gesetzlich veran-
kerte Karenzzeit einen Präzedenzfall darstellen würde
und im Zuge einer einfachen Gesetzesänderung auf an-
dere privatwirtschaftliche Bereiche ausgeweitet werden
(C)
(D)
Helmut Brandt
könnte, kommt Ihr Antrag dem Grunde nach einem fünf-
jährigen Berufsverbot für Minister und Parlamentari-
sche Staatssekretäre gleich. Dies wiederum verstieße
nach meiner Auffassung eindeutig gegen Art. 12 Abs. 1
des Grundgesetzes, wonach alle Deutschen das Recht
haben, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu
wählen. Ich darf Sie daran erinnern, dass es in der deut-
schen Geschichte mehrmals zu Berufsverboten gekom-
men ist. Wir dürfen nicht zulassen, dass es in der Bundes-
republik Deutschland – und seien sie auch zeitlich
begrenzt und beträfen sie auch nur wenige Menschen –
zu neuerlichen Berufsverboten kommt. Ich bin auch der
festen Überzeugung, dass das Bundesverfassungsgericht,
das bei Verabschiedung Ihres Antrages mit Sicherheit an-
gerufen würde, das Gesetz zu Recht mit Berufung auf
Art. 12 GG als verfassungswidrig einstufen würde.
Zu den verfassungsrechtlichen kommen auch politi-
sche Bedenken hinzu. Ein fünfjähriges Berufsverbot
würde sich nämlich auch negativ auf das Niveau und die
Vielfalt des politischen Personals auswirken. Zu Recht
wird sporadisch in der Bevölkerung Kritik an dem Phä-
nomen des Berufspolitikers laut. Es wird moniert, dass
wir mehr Politiker mit Berufserfahrung außerhalb der
Politik benötigen und es nicht erstrebenswert sein kann,
ausschließlich Berufspolitiker zu haben. Wenn man diese
Forderung ernst nimmt – und das tun wir von der CDU/
CSU-Fraktion –, so muss sowohl der Wechsel von einer
beruflichen Tätigkeit in das politische Leben möglich
sein wie auch umgekehrt nach Beendigung des Mandates
beziehungsweise nach Ausscheiden aus dem Amt der
Wechsel in eine wirtschaftliche Betätigung. Und das
ohne Diskriminierung.
Dadurch, dass Menschen und auch Eliten aus der Pri-
vatwirtschaft auf Zeit in die Politik – und dabei meine ich
genauso in die Bundesregierung wie in den Bundestag –
wechseln, diversifiziert sich deren Zusammensetzung.
Gleichzeitig kann dabei auch besonders wertvolle Kom-
petenz in die Leitung der Geschicke der Bundesrepublik
einfließen. Besonders in der aktuellen Wirtschaftskrise
können gerade in Schwierigkeiten geratene Unterneh-
men kompetente Führungskräfte gebrauchen. Wollte man
jedoch ein Berufsverbot – und erst recht ein fünfjähriges
– nach Ausscheiden aus der Bundesregierung einführen,
wäre zu befürchten, dass sich diese Spitzenkräfte von der
Politik abwendeten. Dazu kommt, dass gerade Regie-
rungsmitglieder ihr Amt nur auf Zeit innehaben. Da muss
auch der Wechsel in die Wirtschaft eine Perspektive blei-
ben. Das Verprellen von Spitzenkräften können wir uns
nicht leisten. Ganz im Gegenteil, es ist unsere Pflicht, für
politisches Engagement in allen Schichten zu werben,
anstatt es zu verprellen, so wie es die Linke ihrem Antrag
nach zu urteilen beabsichtigt.
Dass auch wir von der CDU/CSU-Fraktion alles da-
ran setzen, Korruption entschieden zu bekämpfen, steht
außer Frage. Wir sehen jedoch keinen Anlass, ein Be-
rufsverbot einzuführen, denn neben Art. 66 Grundgesetz
und dem Bundesministergesetz regeln auch viele Vor-
schriften des Strafgesetzbuches das Verhalten von Re-
gierungsmitgliedern. So kommen § 331 StGB – Vor-
teilsannahme – und § 353 b StGB – Verletzung des
Dienstgeheimnisses – nicht nur während der Mitglied-
Zu Protokoll
schaft in der Bundesregierung zur Geltung, sondern fin-
den nach Auffassung vieler Rechtswissenschaftler auch
noch danach, wenn nämlich die Aufnahme einer Tätig-
keit und die damit verbundene Vorteilsannahme in unmit-
telbarem Zusammenhang mit der früheren Tätigkeit als
Mitglied der Regierung stehen sollte, Anwendung. Diese
Regelungen kommen natürlich auch für die Annahme von
Vorstands- und Aufsichtsratstatigkeiten von staatlich un-
terstützten Unternehmen zum Tragen.
Es spricht alles gegen den Antrag der Linken. Dem Be-
rufsverbot für ausscheidende Regierungsmitglieder – und
sei es in seinem Anwendungsbereich noch so beschränkt –
kann die CDU/CSU-Fraktion nicht zustimmen: Zum ei-
nen wäre das Gesetz verfassungswidrig. Zum anderen
würden wir damit unserer Demokratie und unserer Wirt-
schaft schaden. Beides liegt nicht in unserem Interesse.
Uns liegen heute verschiedene Anträge vor, die sichmit der Frage beschäftigen, wie die weitere Berufstätig-keit ehemaliger Regierungsmitglieder geregelt werdensoll. Ein Thema, das im Parlament bereits behandeltwurde. Ich verweise da auf die Aktuelle Stunde am16. Februar 2006 und die Plenardebatten zu den Anträ-gen. Zudem gab es erst kürzlich, am 15. Juni 2009, eineAnhörung des Innenausschusses, die sich mit Transpa-renz auseinandersetzte und dabei auch die Möglichkeiteiner Karenzzeit für ausscheidende Regierungsmitglie-der thematisierte. Weitestmögliche Transparenz ist einunabdingbares Element des Handelns politischer Ent-scheidungsträger und muss als solches ernst genommenwerden.Der Antrag der Linken zielt darauf ab, ehemaligenRegierungsmitgliedern die Tätigkeit als Vorstand oderAufsichtsrat eines Unternehmens für fünf Jahre zu ver-bieten, wenn dieses Unternehmen mit Steuergeldern vorder Insolvenz gerettet wurde. Dieser Antrag ist schondeshalb abzulehnen, weil es sich dabei nur um eine punk-tuelle Regelung handelt. Subventionen „in letzter Mi-nute“ sind nicht die einzigen Unterstützungsmaßnah-men, die ein Unternehmen erhalten kann. Zudemvernachlässigt der Antrag Beraterverträge, anhand de-rer eine Belohnung für das ehemalige Regierungsmit-glied ebenfalls möglich ist. Auf der anderen Seite gehtder Antrag zu weit, da er sich nicht auf Maßnahmen zu-lasten des Bundeshaushalts beschränkt.Der Antrag der Grünen ist in seiner Zielsetzung diffus.Er fordert „in einem Ehrenkodex oder durch Vorlage ei-nes Gesetzentwurfs die Zulässigkeit einer Berufstätig-keit“ ehemaliger Regierungsmitglieder zu regeln. Wasdenn nun? Gesetz oder Ehrenkodex? Der Letztere hatkeine rechtliche Bindungswirkung, wenn es aber auf einegesetzliche Regelung hinausläuft, so ist der Verweis aufdie beamtenrechtliche Regelung in § 105 BBG problema-tisch. Diese Regelung greift nämlich nicht, wenn der oderdie Betroffene entlassen wird und sich in der Rentenver-sicherung nachversichern lässt. Dann zieht das Beam-tenrecht überhaupt nicht. Insofern müssen der Personen-kreis und die Dauer einer sehr wohl zu erwägendenKarenzzeit präzisiert werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25973
gegebene Reden
(C)
(D)
Siegmund EhrmannFür die ehemaligen Mitglieder der Bundesregierunggilt, dass sie Übergangsgeld entsprechend der Dauer ih-rer Amtsausübung erhalten, jedoch mindestens für sechsMonate und maximal für drei Jahre. Sollte die Über-nahme der beamtenrechtlichen Regelung auf Regie-rungsmitglieder tatsächlich erwogen werden, müsste dieUntersagungsmöglichkeit wohl enden, wenn das Über-gangsgeld endet und kein Versorgungsanspruch erwor-ben wurde.Diese und andere auch in der Anhörung vorgetrageneHinweise gilt es, sorgfältig auszuwerten und in dernächsten Wahlperiode zu beraten. Transparenz hilft, demArgwohn entgegenzutreten, Mitglieder der Regierungseien Sonderinteressen und nicht den ihrem Amt gemä-ßen Erwägungen verpflichtet. Eine gesetzliche Karenz-regelung für Minister und Parlamentarische Staatssekre-täre könnte dabei helfen. Zu klären gilt es, wer hierüberentscheiden würde.Die vorgelegten Anträge werden wir wegen der darge-legten Mängel ablehnen.
Wir alle stimmen darin überein, dass eine private Ver-
wertung von Amtswissen nach dem Ausscheiden aus dem
Amt das Vertrauen der Allgemeinheit in die Integrität des
Regierungshandelns und des öffentlichen Dienstes beein-
trächtigen kann. An sich sollte es eine Selbstverständ-
lichkeit sein, dass sich Mitglieder der Bundesregierung,
Parlamentarische Staatssekretäre und politische Beamte
auch nach ihrem Ausscheiden der Würde ihres früheren
Amtes gemäß verhalten, Interessenkonflikte vermeiden
und alles unterlassen, was das Ansehen staatlichen Han-
delns und das Vertrauen der Allgemeinheit in dessen In-
tegrität gefährden kann.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Nicht jeder
Wechsel eines Ministers, eines Parlamentarischen Staats-
sekretärs oder eines politischen Beamten, wozu auch be-
amtete Staatssekretäre zählen, begründet per se einen In-
teressenkonflikt und ist per se geeignet, das Ansehen
staatlichen Handelns zu gefährden. Im Gegenteil, gerade
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie sind keine Beamten. Ihre Amtszeit ist begrenzt. Sie
können jederzeit entlassen werden. Dann muss es ihnen
auch möglich sein, nach dem Ausscheiden aus dem Amt
in den früheren Beruf zurückzukehren oder sich eine neue
berufliche Existenz aufzubauen. Das ist schon mit Blick
auf die Freiheit der Berufsausübung geboten.
Es kann daher nur um solche Fälle gehen, bei denen
die Aufnahme einer Beschäftigung außerhalb des öffent-
lichen Bereichs beabsichtigt ist, die im Zusammenhang
mit der früheren dienstlichen Tätigkeit steht. In solchen
Fällen ist eine Anzeigepflicht gegenüber der Bundesre-
gierung vorzusehen. Es ist dann Aufgabe der Bundesre-
gierung, die Art der geplanten Tätigkeit zu prüfen. Droht
eine Beeinträchtigung dienstlicher Interessen, kann die
Bundesregierung dem früheren Minister oder Parlamen-
tarischen Staatssekretär die Beschäftigung untersagen.
Was den zeitlichen Rahmen der Anzeigepflicht anbe-
trifft, ist zu beachten, dass für Minister und Parlamenta-
Zu Protokoll
rische Staatssekretäre das Lebenszeitprinzip nicht gilt.
Der zeitliche Rahmen muss deshalb unterhalb der für Be-
amte geltenden Regelung von drei bzw. fünf Jahren blei-
ben. In dem Antrag der FDP-Bundestagsfraktion wird in-
soweit ein Zeitraum von zwei Jahren vorgeschlagen. Das
ist angemessen und trägt dem Grundsatz der Freiheit der
Berufsausübung Rechnung.
Zudem spricht sich die FDP für eine Regelung durch
einen Verhaltenskodex aus. Eine gesetzliche Regelung
scheint uns nicht angezeigt und auch nicht angemessen
zu sein. Schon aus diesem Grund sind die Anträge der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen für die FDP-Bundestagsfraktion so nicht zustim-
mungsfähig. Hinzu kommt bei dem Antrag der Linksfrak-
tion die deutlich zu lang bemessene Frist von fünf Jahren
nach Ausscheiden aus dem Amt. Hier ergeben sich be-
reits verfassungsrechtliche Bedenken mit Blick auf die
Berufsfreiheit. Keiner weiteren Erwähnung bedarf der
Antrag der Linksfraktion auf Drucksache 16/13366 vom
17. Juni 2009, der den Wechsel zu Unternehmen betrifft,
die mit Steuergeldern vor der Insolvenz gerettet worden
sind. Der Antrag ist viel zu unbestimmt und in populisti-
scher Absicht mit heißer Nadel gestrickt.
Offen bleibt ein ganz wichtiger anderer Punkt, den die
FDP-Bundestagsfraktion bereits in der letzten Wahlpe-
riode angesprochen hat. Gemeint sind Fälle, in denen
Beamte ohne Versorgungsbezüge ausscheiden. Hierbei
handelt es sich zumeist um Mitarbeiter mit besonderen
Kenntnissen und einem erheblichen „Marktwert“, bei
denen der neue Arbeitgeber die Versorgung gleich mit
übernimmt. In solchen Fällen gelten die beamtenrechtli-
chen Anzeigepflichten bislang nicht. Die Sachverständi-
gen haben die Notwendigkeit einer Ausweitung der ein-
schlägigen Vorschriften auf Fälle, in denen ehemalige
Beamte ohne Versorgungsbezüge ausscheiden, in der An-
hörung des Innenausschusses am 15. Juni 2009 noch ein-
mal betont. Die FDP-Bundestagsfraktion hat dies bereits
in ihrem Antrag „Regeln und Grenzen für den Personal-
wechsel vom öffentlichen Dienst zur Wirtschaft“ vom
22. September 2004 auf Drucksache 15/3739 angeregt.
Leider kam dieser Antrag wegen des vorzeitigen Endes
der 15. Wahlperiode nicht mehr zur Abstimmung. Wir
alle sollten diesen Ansatz in der nächsten Wahlperiode
weiter verfolgen.
Milliarden an Steuergeldern fließen in Banken, Versi-cherungen und andere Unternehmen, um sie vor der In-solvenz zu retten. An den Rettungsaktionen sind Mitglie-der der Bundesregierung beteiligt. Sie entscheiden überdas Fortbestehen oder den Untergang dieser Unterneh-men. Um den Verdacht zu vermeiden, dass Mitglieder derRegierung nicht nur dem Allgemeinwohl, sondern auchprivaten Interessen verpflichtet sind, werden die Mitglie-der der Bundesregierung durch unseren Antrag aufgefor-dert, fünf Jahre nach ihrem Ausscheiden aus der Bundes-regierung keine Vorstands- oder Aufsichtsratsposten ineinem Unternehmen anzunehmen, das mit Steuergeldernvor der Insolvenz gerettet wurde.
Metadaten/Kopzeile:
25974 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25975
(C)
(D)
Dr. Gesine LötzschIn einer schriftlichen Frage wollte ich wissen, ob dieMitglieder der Bundesregierung bereit wären, eineSelbstverpflichtung einzugehen, bis zu fünf Jahre nachihrem Ausscheiden aus der Bundesregierung keinen Vor-stands- oder Aufsichtsratsposten in Banken, Versiche-rungen oder anderen Unternehmen anzunehmen, die mitSteuermitteln vor der Insolvenz gerettet werden mussten.Die Bundesregierung antwortete wie folgt: „Die Ent-scheidung, ob und ggf. welche Tätigkeit ein ehemaligesMitglied der Bundesregierung nach Ende der Amtszeitaufnimmt, ist wie bisher zum konkreten Zeitpunkt vomBetroffenen unter Abwägung sämtlicher Gesichtspunktezu treffen.“ Das heißt, die Bundesregierung ist zu einersolchen Selbstverpflichtung nicht bereit. Deshalb müssenrechtliche Grundlagen geschaffen werden, damit nichtder Eindruck entstehen kann, dass Mitglieder der Bun-desregierung Entscheidungen treffen, die durch ihr per-sönliches Interesse geprägt sind.Das ist keine theoretische Diskussion. Ich erinnerenur an die ehemaligen Mitglieder der Regierung, diekurz nach ihrem Ausscheiden aus der Bundesregierungin der Wirtschaft Karriere gemacht haben, ohne eine Ka-renzzeit abzuwarten, wie: Gerhard Schröder, WolfgangClement, Caio Koch-Weser, Sigmar Moosdorf, DietmarStaffelt, Alfred Tacke, Werner Müller, Martin Bury,Andrea Fischer, Matthias Berninger. Ähnliche Vorgängekönnen sich nach der Bundestagswahl wiederholen,wenn wir heute nicht unseren Antrag beschließen.Ein Scheitern unseres Antrages eröffnet Spekulatio-nen Tür und Tor. Es wäre also auch im Sinne der Bundes-regierung, klare Verhältnisse zu schaffen. Wenn die Ver-hältnisse so unklar bleiben, wie sie jetzt sind, kann dasfür den Steuerzahler sehr teuer werden. Möglicherweisewerden bestimmte Unternehmen nur deshalb gerettet,weil sich daraus eine zweite Karriere für einen Regie-rungspolitiker ergeben könnte.Die Linke erwartet von den Regierungsparteien CDU/CSU und SPD ein klares Signal gegen Korruption. DieZustimmung zu unserem Antrag wäre ein solches Signal.
Alle Oppositionsfraktionen fordern bereits seit Beginn
der Wahlperiode eine Art Verhaltenskodex oder eine ge-
setzliche Regelung mit dem Ziel, die Zulässigkeit einer
Berufstätigkeit von ausgeschiedenen Mitgliedern der
Bundesregierung zu regeln. Die Koalition hat sich be-
dauerlicherweise diesem Begehren bis heute verweigert.
Dabei brauchen wir hier klare Regelungen. In der Euro-
päischen Union etwa gibt es eine Regelung, die nach dem
Fall Bangemann, dem früheren EU-Kommissar der FDP,
eingeführt wurde, als er unmittelbar nach seinem Aus-
scheiden aus der Kommission, wo er für das Telekommu-
nikationsgeschäft zuständig war, zu einem Telekommuni-
kationsunternehmen gewechselt ist.
Ich meine: Es schadet dem Ansehen der parlamentari-
schen Demokratie, der Bundesregierung und der politi-
schen Klasse, wenn wir hier keine präzise Lösung finden.
In der Öffentlichkeit entsteht der Verdacht – und dem will
ich entgegentreten –, Regierungsmitglieder fällten in ih-
rem Amt Entscheidungen, die sich hinterher für sie direkt
oder indirekt auszahlten, weil sie sich Unternehmen ge-
wogen gemacht hätten. Diesen Verdacht müssen wir aus-
räumen, indem wir klare und transparente Regelungen
festlegen.
Zur Lösung dieses Problems gibt es zwei Ansätze. Der
eine Ansatz orientiert sich an § 69 a des Bundesbeam-
tengesetzes, der für Beamte gilt. Dabei werden mutatis
mutandis die versorgungsrechtlichen und die statusrecht-
lichen Verhältnisse von Bundesministern und Staatsse-
kretären angepasst. Der andere Ansatz ist – wie bereits
angesprochen – der Verhaltenskodex der Europäischen
Union für ehemalige Kommissionsmitglieder. Mein Vor-
schlag wäre: In einem festgelegten Verfahren meldet das
ausgeschiedene Mitglied die Tätigkeit an. Danach unter-
sucht ein Gremium, ob es einen Konflikt zur früheren Tä-
tigkeit gibt. Dann wird entschieden, ob die Tätigkeit in-
nerhalb der Karenzzeit aufgenommen werden darf oder
ob bis zum Ende der Karenzzeit gewartet werden muss.
Selbstverständlich gilt es dabei, die Berufsfreiheit,
insbesondere die Schranken von Art. 12 Grundgesetz
sorgsam zu beachten. Deshalb meinen wir, dass eine
Frist von fünf Jahren Karenz, wie sie die Linke in ihren
Anträgen vorschlägt, möglicherweise uns hier Problem
bescheren könnte. Etwas knapp bemessen ist nach mei-
ner Auffassung dagegen der Vorschlag der FDP, der le-
diglich eine Frist von zwei Jahren vorsieht. Aber ich
möchte das gar nicht kritisieren: Alle Anträge, die hier
heute – und teilweise schon sehr lange – auf dem Tisch
liegen, gehen in die richtige Richtung.
Uns geht es darum, das Ansehen der politischen
Klasse zu stärken und jeden Anschein von Korruption
und Makeleien anderer Art zu vermeiden. Wir haben die
Koalitionsfraktionen schon bei der ersten Lesung vor
rund drei Jahren dazu aufgefordert, gemeinsam mit der
Opposition eine Lösung auszuarbeiten. Nichts ist seitdem
geschehen. Das ist eine Schande und bei neuerlichen
Vorfällen à la Bangemann oder Schröder wird sich diese
Untätigkeit rächen.
Wir kommen zur Abstimmung, zunächst Tagesord-nungspunkt 54 a. Der Innenausschuss empfiehlt in seinerBeschlussempfehlung auf Drucksache 16/13655 die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke aufDrucksache 16/13366 mit dem Titel „Fünf Jahre Karenz-zeit für Mitglieder der Bundesregierung“. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mehrheit-lich angenommen.Tagesordnungspunkt 54 b. Der Ausschuss empfiehltunter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache16/13656 die Ablehnung des Antrags der Fraktion derFDP auf Drucksache 16/677 mit dem Titel „Verhaltens-kodex für ausscheidende Regierungsmitglieder“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istmehrheitlich angenommen.Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehltder Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Metadaten/Kopzeile:
25976 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsDie Linke auf Drucksache 16/846 mit dem Titel „Ge-setzliche Regelung für frühere Mitglieder der Bundesre-gierung und Staatssekretäre zur Untersagung von Tätig-keiten in der Privatwirtschaft, die mit ihrer ehemaligenTätigkeit für die Bundesregierung im Zusammenhangstehen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mehrheitlich angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei-ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antragsder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/948mit dem Titel „Berufstätigkeit von ausgeschiedenen Mit-gliedern der Bundesregierung regeln“. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mehrheitlichangenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 55 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. KirstenTackmann, Dr. Gesine Lötzsch, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion DIE LINKEBundeswaldgesetz ändern – Agroforstsys-teme unterstützen, forstwirtschaftliche Ver-einigungen stärken und Gentechnik imWald verbieten– zu dem Antrag der Abgeordneten CorneliaBehm, Undine Kurth , BärbelHöhn, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDas Bundeswaldgesetz novellieren und öko-logische Mindeststandards für die Waldbe-wirtschaftung einführen– Drucksachen 16/9075, 16/9450, 16/12198 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Hans-Heinrich JordanDr. Gerhard BotzDr. Christel Happach-KasanDr. Kirsten TackmannCornelia Behm
Die Nahrungsmittel- und Bioenergieproduktion sowie
der Natur- und Umweltschutz stehen in einem untrennba-
ren dynamischen Zusammenhang. Die kürzlich eingetre-
tene weltweite Krise bei der Versorgung mit bezahlbaren
Nahrungsmitteln, verbunden mit der Tatsache, dass Le-
bensmittelpreise sich zukünftig am Erdölpreis orientieren
werden, ist nur ein Beleg für diese Wirkung. Hinzu
kommt, dass die Weltbevölkerung bis 2050 auf annä-
hernd 9 Milliarden Menschen anwachsen wird. Dies wird
die Nachfrage nach Lebensmitteln weiter erhöhen. Au-
ßerdem werden sich die Verzehrgewohnheiten weiter ver-
ändern.
Seit zehn Jahren ist der Verbrauch in den Schwellen-
ländern, zum Beispiel China oder Indien, von Fleisch
und Milch gewachsen, und er wird sich weiter erhöhen.
Hinzu kommt, dass der weltweit steigende Energiebedarf
Auswirkungen auf das Energie- und Rohstoffangebot und
die Energiepreise haben wird. Das Ziel muss sein, die in
Deutschland vorhandenen Potenzen im Sinne von hoher
Wertschöpfung und größtmöglicher Unabhängigkeit zu
nutzen und zu entwickeln. Land- und forstwirtschaftliche
Rohstoffe und die Nahrungsmittelproduktion dürfen nicht
als Objekt spekulativer Eingriffe genutzt werden.
Die Land- und Forstwirtschaft befindet sich derzeit in
einem rasanten Wandel. Die Nachfrage nach erneuerba-
ren Energien und das Wachstum der gesamten Branche
haben dazu geführt, dass die Landwirtschaft vor neue
Herausforderungen gestellt wird. Landwirte sind seit ei-
niger Zeit nicht mehr nur Nahrungsmittelerzeuger, son-
dern zunehmend auch Energiewirte. Mit diesem Wandel
gehen vielfältige Gesetzesänderungen einher, die sowohl
die Land- als auch die Energiewirtschaft betreffen. Ein-
geleitet, begleitet und unterstützt wurden diese Verände-
rungen durch vielfältige Aktions- und Förderprogramme
der Bundesregierung zum Erhalt der biologischen Viel-
falt und zum Klimaschutz. Das novellierte Erneuerbare-
Energien-Gesetz wird weitere Veränderungen mit sich
bringen. Ganz entscheidend sind dabei die finanziellen
Anreize. Fest steht, dass es ohne Startfinanzierungen und
angemessene Subventionen zu keiner marktwirtschaftlich
getragenen Veränderung in diesem Energiesektor
kommt. Dennoch ist das langfristige Ziel der CDU/CSU-
Fraktion, auch hier stärker die Kräfte des Marktes zur
Entfaltung kommen zu lassen.
Aufgabe dieser Bundesregierung ist es, die vor uns lie-
genden gesellschaftlichen Veränderungsprozesse in die-
sem immer wichtiger werdenden Sektor aktiv zu gestal-
ten. Dabei hilft es nicht, mit ideologischen Vorbehalten
die bevorstehenden Probleme und Entscheidungen anzu-
gehen, sondern mit ausgewogenem Sachverstand. Es gilt,
die vielfältigen Dimensionen, die jede dieser Entschei-
dungen betrifft, gut zu durchdenken. Die vorliegenden
Anträge werden diesen Zielen und der rechtlichen Ein-
bindung von Agroforstsystemen in die Normen der Land-
nutzung nicht gerecht.
Mit der Frage der agroforstlichen Bewirtschaftung
von landwirtschaftlichen Flächen sind auch die Fragen
nach der Flächenkonkurrenz für die Nahrungsmittel- und
Energieproduktion sowie die Fragen nach den umwelt-
und naturschutzrechtlichen Auflagen und Regelungen zu
klären. Diese wiederum sind oft von europarechtlichen
Regelungen, wie der Entkopplung der Direktzahlungen
von der Produktion, sowie der Einführung der Cross-
Compliance bestimmt. Die 2003 beschlossene EU-
Agrarreform koppelt Direktzahlungen ab 2005 unmittel-
bar auch an die Erbringung bestimmter Leistungen im
Umwelt- und Naturschutz.
Aber nicht nur das. Es stellt sich außerdem die Frage,
wie das Bundeswaldgesetz gestaltet werden muss, damit
landwirtschaftliche Flächen unbeschadet ihres rechtli-
chen Status als Agroforst oder mit anderen neuartigen
Systemen zukünftig kombiniert und genutzt werden kön-
(C)
(D)
Dr. Hans-Heinrich Jordan
nen. Diese Klärung fordert zwar auch der Antrag der
Grünen; doch geht die vorliegende Klarstellung nicht
weit genug. Der Gesetzgeber muss vor allem entschei-
den, wie restriktiv mit der neuen Form der landwirt-
schaftlichen Nutzung „Agroforst“ umgegangen werden
soll: Reicht die gute fachliche Praxis zur Agroforstbe-
wirtschaftung? Inwieweit soll das Jagdrecht, der Um-
welt- und Naturschutz hier zum Tragen kommen? Welche
wasserschutzrechtlichen Voraussetzungen sind zu beach-
ten? Entscheidend ist auch die Einbindung in die Um-
weltgesetzgebung.
Gute Erfahrungen in England und Frankreich mit
Agroforstsystemen lassen durchaus den Schluss zu, dass
sich diese Systeme aus land- und forstwirtschaftlicher
Sicht lohnen können. Die Leistungen von Gehölzen bei
der Produktion, der mikroklimatischen Regulierung und
dem Erosionsschutz sind unbestritten und sind weiter
wissenschaftlich zu untersuchen. Die Zahl der wissen-
schaftlichen Untersuchungen ist weiter zu erhöhen und
die Ergebnisse von verschiedensten Standortbedingun-
gen zu verdichten. Die Feldversuche, wie von der Uni-
versität Leeds durchgeführt, haben gezeigt, dass auf ei-
ner agroforstlichen Fläche in trockenen Sommern eine
Ertragssteigerung der Wintergerste von über 20 Prozent
erreicht werden konnte. Grund hierfür war der durch
Baumreihen bewirkte Windschutz, der den Wasserbedarf
der Ackerpflanzen verringerte.
Die Wirtschaftlichkeit dieser Systeme ist also durch-
aus möglich. Auch aus Sicht der Biodiversität haben
Agroforstsysteme keine negativen Auswirkungen. Durch
den Anbau von Gehölzen zur Wertholznutzung auf einer
Fläche, die gleichzeitig landwirtschaftlich durch Acker-
bau und/oder Weidehaltung genutzt wird, entsteht ein
mehrschichtiges Ökosystem, das das ganze Jahr über Le-
bensraum für Tiere bietet. Aufgrund der Fragen, die sich
aus dieser neuen Nutzungsform der landwirtschaftlichen
Flächen ergeben, hat die Bundesregierung bereits 2005
mehrere Forschungsprojekte initiiert. Zudem wurden mit
den Veränderungen in der Ressortforschung des BMELV
die Voraussetzungen für eine kontinuierliche, wissen-
schaftlich fundierte Beratungs- und Begleitforschung
geschaffen. So sind die dem Johann-Heinrich-von-
Thünen-Institut angeschlossenen Forschungseinrichtun-
gen zu Biodiversität, ökologischem Landbau, Waldökolo-
gie, Forstgenetik und Holzbiologie exzellent dazu geeig-
net, die notwendigen, wissenschaftlich begründeten
Entscheidungshilfen zu liefern. Ob eine agroforstliche
Nutzung von landwirtschaftlichen Flächen sich letztend-
lich wirtschaftlich lohnt, muss der Markt entscheiden.
Nach kritischer Gewichtung der zuvor dargestellten
Sachverhalte sind die Anträge der Fraktion Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen.
Bereits Tagesordnungspunkt 33 der heutigen Plenar-sitzung beschäftigte sich mit Punkten, die eine Novellezum Bundeswaldgesetz betroffen hätten, eine Gesetzes-novellierung, die in vielen Fragen an sich völlig unstrit-tig ist. Es geht um Punkte, die auch von den Fachleutenin der Anhörung zum Bundeswaldgesetz am 24. Septem-Zu Protokollber 2008 als wünschenswert und bundeseinheitlich ge-fordert wurden; zum Beispiel die Neudefinition desStaatswaldbegriffes. Denn durch eine Neuorganisationwurden die Bundesforstverwaltung sowie einige Landes-forstverwaltungen in Körperschaften des öffentlichenRechts oder andere Rechtsformen umgewandelt. Mit derÄnderung sollte sichergestellt werden, dass diese Wälderungeachtet ihrer Rechtsform auch weiterhin Staatswaldim Sinne des § 3 Abs. 1 bleiben und somit den Vorschrif-ten des BWaldG und der Länderwaldgesetze über denStaatswald unterliegen.Dann als zweiter Punkt die Erweiterung des Aufga-benkataloges der forstwirtschaftlichen Vereinigungen. Sokönnten zukünftig auch Kleinwaldbesitzer zu fairen Be-dingungen ihr Holz nutzen und auf den Markt bringen.Als dritter Punkt müssen die Vorschriften zur Bundes-waldinventur an die Erfordernisse eines modernen Wald-monitorings angepasst sowie mit europäischen und inter-nationalen Abkommen in Einklang gebracht werden.Viertens wurde von allen Fraktionen eine klare Ab-grenzung der Begriffe „Agroforstsysteme“ und „Kurz-umtriebsplantagen“ vom Waldbegriff gefordert. Beidessind Formen der Gehölznutzung auf landwirtschaftlicherNutzfläche, beides kann mehrjährig genutzt werden –auch bis hin zu 20-jährigen Beständen und wäre somitnicht mehr rechtlich sicher von Waldflächen abzugren-zen. Diese Rechtssicherheit sollte durch eine Novelle zumBundeswaldgesetz geschaffen werden. Auch das war völ-lig unstrittig.Der fünfte gemeinsame Punkt ergab sich dankenswer-ter Weise durch die Expertenanhörung hier im Bundes-tag: die Erleichterung der Regelungen zur Verkehrs-sicherungspflicht. Mit erweitertem Nutzungsspektrumdes Waldes, verändertem Erholungsverhalten der Men-schen im Wald – offroad und wegelos – und gleichzeitighöheren Umwelt- und Naturschutzstandards, wie zumBeispiel vermehrtem Todholzanteil, sind naturgegebeneGefahren im Wald allgemein bekannt und dürfen nichtden Waldeigentümern zur Last gelegt werden.Doch dann verlässt uns diese fast zu schöne Einigkeitunter den Parlamentariern, wie sie wohl nur selten zufinden ist oder aber nicht offen zugegeben werden kann.Ungefähr ein Drittel der Fläche der Bundesrepublik istWaldfläche. Der Holzzuwachs ist zurzeit noch größer alsdie derzeitige Holznutzung. Der weltweite Holzmarktschwankt auch mit der Krise, aber noch nicht zu sehr. DiePrognosen sehen sehr unterschiedlich aus, je nach Blick-winkel des Betrachters. Umweltverbände warnen vor ei-ner Übernutzung des Waldes, Wirtschaftsverbände seheneher schwarz für die Holzwirtschaft – wahrscheinlichliegt die Wahrheit wie so oft in der Mitte. Doch niemandweiß wirklich genau, was uns die Zukunft bringen wird.Niemand kann heute festschreiben, dass nicht die eineoder die andere Seite recht behalten wird.Daher ist es dringend notwendig, alle Entscheidungenim Sinne der Nachhaltigkeit zu treffen. Unser Ziel musses sein, den Wald für kommende Generationen zu erhal-ten, die Bewirtschaftung des Waldes mit bundeseinheitli-chen ökologischen Mindeststandards einer „guten fach-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25977
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Gerhard Botzlichen Praxis“ nachhaltig zu gestalten. Dabei möchteniemand von meinen SPD-Fraktionskollegen – und schongar nicht ich selbst – eine überregelte und völlig über-trieben einschränkende Regelung für die Waldbewirt-schaftung, wie sie im Antrag der Grünen zu finden ist.Viel zu feingliedrig, die regionalen natürlichen Gegeben-heiten und Waldstrukturen völlig außer Acht gelassen,dies kann auch nicht Sinn eines Bundesgesetzes sein. Inden Landesgesetzen sind vergleichbare Festlegungen oftschon enthalten. Aber eine grundlegende Regelung zurnachhaltigen Holzproduktion, zur Kahlschlagsminimie-rung, zur Bevorzugung von Naturverjüngung, zurbestands- und bodenschonenden Forsttechnik und Holz-ernteverfahren, zum Bevorzugen vom integrierten Pflan-zenschutz, zu den Schäden durch Wild, zum Aufbau stabi-ler, vitaler, standortgerechter Wälder mit hinreichendemAnteil standortheimischer Baumarten muss natürlich un-bedingt in die Bundesgesetzgebung.Wachen Sie auf, werte Kollegen der CDU/CSU: Nie-mand gibt uns die Garantie, dass zum Beispiel verän-derte Wirtschaftsbedingungen, veränderte Klimabedin-gungen unseren Holzvorrat nicht zurückgehen lassen,den Raubbau für einige Akteure wirtschaftlich reizvollmachen. Im Übrigen ist es fast schon eine Verhöhnung,sehr geehrter Herr Schirmbeck, wenn Sie erst die Bun-deswaldgesetzesnovelle an den Kriterien der guten fach-lichen Praxis scheitern lassen und im Anschluss in einemBrief an meinen SPD-Fraktionsvize „Wald vor Wild“fordern. Das war doch aber genau das erste Kriterium,das von Ihnen und Ihren Unionskollegen aus unseremVorschlag zur guten fachlichen Praxis herausgestrichenwurde. Zumindest muss man eine solche Verfahrensweiseals unredlich bezeichnen.Die Geschichte hat es mehrfach gezeigt, dass Wälderzu stark genutzt wurden. Nun sagen einige wieder: Ja,die Forstfachleute und Waldbesitzer wissen, was sie tun.Die Mehrheit von ihnen bewirtschaftet sowieso im Sinneeiner guten fachlichen Praxis. Wozu muss das denn jetztwieder durch den Gesetzgeber vorgeschrieben werden?Wozu wurde die Gleichberechtigung von Mann und Frauin unserem Grundgesetz verankert, obwohl es doch vie-lerorts gängige Praxis ist? Warum ist eine Selbstver-ständlichkeit wie die Würde des Menschen im Grundge-setz festgehalten? Wenn man so an die Dinge herangeht,könnte man wohl generell auf Gesetze verzichten, aberdas sieht wohl keiner wirklich so.Wir sind zuversichtlich: Diese Erkenntnisse werdensich auch noch dort einstellen, wo wir in dieser Legisla-tur noch auf kurzsichtige Widerstände gestoßen sind.
Die drei Oppositionsfraktionen haben gemeinsam imAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-cherschutz eine Anhörung zur Nutzung von Agroforst-systemen durchgesetzt. Die Regierungskoalition wollteuns dies verweigern. Das zeigt die Zerstrittenheit vonschwarz-rot und deren geringes Engagement für denländlichen Raum.Die FDP-Fraktion hat in einem eigenen Antrag dieökologischen Vorteile der Biomasseproduktion in Agro-Zu Protokollforstsystemen beschrieben und wie die Linke und Bünd-nis 90/Die Grünen die Änderung des Bundeswaldgeset-zes gefordert.In diesem Punkt sind wir uns sehr einig.Trotzdem können wir die vorliegenden Anträge nichtunterstützen. Der Antrag der Linken ist diskussions-würdig. Die reflexartig vorgetragene Forderung nach ei-nem Verbot der Gentechnik im Wald ist den vielen Angst-kampagnen geschuldet und somit nichts weiter als reineSymbolpolitik.Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen entpuppt sicheinmal mehr als ein ideologisch geprägtes Papier, wel-ches größtenteils unrealisierbare Forderungen enthält.Nicht einmal die Ergebnisse der letzten Bundeswaldin-ventur wurden inhaltlich verarbeitet, die in der rot-grünen Regierungszeit verabschiedete Charta für Holzist schon vergessen, die hohe wirtschaftliche Bedeutungdes Clusters Forst und Holz spielt bei grünen Zukunfts-fantasien keine Rolle.Für die FDP ist die Ausformung einer nachhaltigenForstwirtschaft in unserem waldreichen Land von beson-derer Bedeutung. Die verschiedenen Clusterstudien zei-gen, dass die Forst- und Holzwirtschaft entscheidend zurStärkung der wirtschaftlichen Entwicklung des ländli-chen Raumes beitragen kann. Die großen Holzvorräte inunseren Wäldern haben ein hohes Nutzungspotenzial.Die Nutzung von Holz im Bau sowie für die Herstellungvon Möbeln, Zellstoff, die Erzeugung von Wärme undStrom aus Rest- und Durchforstungsholz liefert einenwichtigen Beitrag zum Klimaschutz und stärkt gleichzei-tig die regionale Wirtschaft. Holz ist ein wichtiger Werk-stoff, um Gewichtseinsparungen zu realisieren und damitzur Energieeinsparung beizutragen.Die besondere Herausforderung für die Forstwirt-schaft besteht darin, heute Wälder zu formen, die ökolo-gischen Kriterien genügen, die den Klimawandel berück-sichtigen und zukünftigen Anforderungen an die Nutzungvon Holz gerecht werden. Die Produktion des nach-wachsenden Rohstoffs Holz muss unter dem Nachhaltig-keitsgedanken sowohl ökologieorientiert als auch nut-zungsorientiert erfolgen. Bei der Bewirtschaftung derWälder muss auch heute schon berücksichtigt werdenwelche Holzarten in späteren Jahrzehnten gebrauchtwerden.Zur Umsetzung eines solchen Anforderungsprofils,dem wir uns als Liberale verpflichtet fühlen, trägt derkleinteilig formulierte Antrag der Grünen nichts bei. Essoll jeder Arbeitsschritt im Wald so bürokratisch wiemöglich geregelt werden. Eigeninitiative, Engagementund Motivation, wodurch sich unsere Forstleute aus-zeichnen, bleiben dabei auf der Strecke.Die potenzielle natürliche Vegetation in Deutschlandist Wald. Die nachhaltige Nutzung von Wäldern bietetdaher gegenüber anderen Nutzungsformen der Flächeenorme ökologische Vorteile. Holz ist unser wichtigsternachwachsender Rohstoff. Dies gilt für die rohstofflicheNutzung genauso wie für die energetische Nutzung. Die
Metadaten/Kopzeile:
25978 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Christel Happach-Kasannachhaltige Nutzung von Holz bildet damit das Rückgrateiner nachhaltigen Entwicklung.Deshalb schadet das Bürokratieprogramm der Grü-nen der nachhaltigen Nutzung von Holz und der Natur inDeutschland.Wir Liberalen setzen uns für ein integratives Wald-nutzungsmodell ein. Das heißt, wir wollen die Produk-tion von Holz mit dem Natur- und Artenschutz, demGrundwasser- und Klimaschutz kombinieren. In unseremdicht besiedelten Land ist außerdem die Nutzung derWälder zur Erholung unverzichtbar. Der sonntäglicheWaldspaziergang gehört bei vielen Familien zu denbesonders beliebten Freizeitaktivitäten.Das Cluster Forst und Holz weist bei Betrachtung imRahmen der entsprechenden Clusterdefinition der Euro-päischen Union eine deutlich höhere volkswirtschaftlicheund arbeitsmarktpolitische Bedeutung auf, als bisher an-genommen wurde. Es ist gekennzeichnet durch etwa185 000 Betriebe mit über 1,3 Millionen Beschäftigten,die einen Umsatz von über 180 Milliarden Euro erwirt-schaften.Die Zertifizierung ist ein marktwirtschaftliches Instru-ment, mit dem Unternehmen besondere Leistungen ihrerProduktion dokumentieren. Es ist keine staatliche Auf-gabe, durch Bevorzugung oder Diskriminierung einesZertifizierungssystems die Nachfrage zu steuern.Die Grünen wären gut beraten gewesen, den aus demletzten Jahr stammenden Antrag zurückzuziehen oder ihnzumindest der Diskontinuität anheimfallen zu lassen.Seine Regelungsdichte passt nicht in die Zeit der Wirt-schaftskrise, in der wir alle gefordert sind, alles dafür zutun, um Arbeitsplätze zu erhalten. Dem dient dieser An-trag nicht.
Das Bundeswaldgesetz hat sich grundsätzlich be-währt. Die Inhalte einer nachhaltigen Waldbewirt-schaftung sollen im Gesetz klarer gefasst und Maß-nahmen ergriffen werden, um strukturelle Nachteileinsbesondere nichtstaatlicher Forstbetriebe zuüberwinden.Das ist kein Zitat von mir, sondern steht wortwörtlichim Koalitionsvertrag von Schwarz-Rosa. Vier Jahre hattedie Koalition der großen Ansagen und kleinen LösungenZeit gehabt, wenigstens diesen Minimalansprüchen zuentsprechen, die ordnungsgemäße Forstwirtschaft klarerzu fassen, einige Probleme im Bundeswaldgesetz zu klä-ren und die nachhaltige Waldbewirtschaftung zu stärkenund auch in der Zukunft zu sichern. Stattdessen wurdevier verlorene Jahre lang alles verschoben, blockiert,verwässert und letztendlich dann doch gestoppt. Alle, de-nen ebenso wie uns die einheimischen Wälder und Fors-ten wichtig sind, sollten nun endgültig erkannt haben:Schwarz-Rosa bringt es nicht und gehört abgewählt –nicht nur, aber auch wegen einer nicht vorhandenenForstpolitik.Dabei hat es an Vorschlägen seitens der Branche, derGesellschaft, den Umweltverbänden und nicht zuletzt al-Zu Protokolllen drei Oppositionsfraktionen nicht gemangelt. DieLinke hat den vorliegenden Antrag 16/9075 eingebracht,mit dem wir wenigstens die dringendsten Änderungsvor-schläge zum Bundeswaldgesetz unterbreiten und dieBundesregierung auffordern, endlich wenigstens dort ak-tiv zu werden, wo es weitgehend unstrittige Positionengibt. Gemeinsam haben die Oppositionsfraktionen eineAnhörung zum Bundeswaldgesetz beantragt. Diese hatganz klar ergeben: Genau an den von unserem Antragbenannten Stellen muss das Bundeswaldgesetz unverzüg-lich novelliert werden. Doch was ist passiert? Nichts!Die Linke steht für eine naturnahe Waldbewirtschaf-tung, in welcher sowohl die Nutz- als auch die Erho-lungs- und Schutzfunktionen des Waldes im Einklang ste-hen. Gerade in den ländlichen Räumen kann durch einenachhaltige Waldwirtschaft Leben und Arbeit sowohl inder Forstwirtschaft als auch in der Säge- und Holzindus-trie erhalten werden. Diese Nachhaltigkeit schließt aller-dings eine überzogen kurzfristige wirtschaftliche Nut-zung aus. Beispielsweise die vollständige energetischeNutzung, also auch von Ästen und Stümpfen nach Stark-windereignissen, anstatt diese dem Nährstoffkreislauf zu-rückzugeben.Die Forstwirtschaft ist die historische Mutter derNachhaltigkeit. Dieses Prinzip darf nicht dem kurzfristi-gen Gewinnstreben einiger Konzerne oder Waldbesitzergeopfert werden. Da die einzelnen Landeswaldgesetzedafür keinen hinreichenden Schutz bieten – beispiels-weise sei hier die uneinheitliche Definition des BegriffesKahlschlag genannt – muss das Bundeswaldgesetz Min-destregelungen beinhalten, wie eine zukunftsfähigeForstwirtschaft aussehen soll. Dabei geht es nicht um bü-rokratische Überregulierung, sondern um die Sicherungder gesellschaftlichen Interessen heutiger und morgigerGenerationen.Für die Linke ist der multifunktional genutzte Waldmit an den Standort angepassten Wilddichten das Ziel.Wir benötigen daher nachhaltige Nutzungskonzepte, diesowohl die energetische als auch die stoffliche Nutzungvon Holz zusammendenken. So kann der Wald Einkom-mens- und Beschäftigungsmöglichkeiten bieten undbleibt in seiner ökologischen, Landschafts- und Erho-lungsfunktion erhalten. Im Gegensatz zu vielen anderenErholungs- und Freizeiteinrichtungen können alle Bür-gerinnen und Bürger den Wald frei und kostenlos betre-ten. Das muss auch so bleiben. Dabei können vielfältigeErfahrungen gesammelt und gerade für Kinder wichtigeGrundlagen eines sich entwickelnden Umweltbewusst-seins gelegt werden. In einem monokulturellen Fichten-oder Kiefernforst ist so etwas allerdings nur sehr schwermöglich und vorstellbar. Deshalb bleibt der Waldumbauein wichtiges Ziel.Neben der Erholung ist natürlich auch die Nutzfunk-tion von wesentlicher Bedeutung. Hierbei sieht die Linkevor allem beim Kleinprivatwald noch ungenutzte Mög-lichkeiten. Dort stehen erhebliche Holz- und damit auchEinkommensvorräte. Dieses Potenzial sollte erschlossensowie ökologisch und sozial gewinnbringend ausge-schöpft werden. Hierbei können die forstwirtschaftlichenZusammenschlüsse eine herausragende Rolle spielen,
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25979
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
25980 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Dr. Kirsten Tackmannwenn ihre Betätigungsmöglichkeiten, wie wir in unseremAntrag fordern, ausgeweitet und sie damit gestärkt wer-den. Die Linke wird die Diskussion über eine zukunftsfä-hige Waldwirtschaft weiter vorantreiben und in dernächsten Legislaturperiode neben der Novelle des Bun-deswaldgesetzes auch die Diskussion zur Überarbeitungdes Bundesjagdgesetzes wiederbeleben. Mit beiden Ge-setzesänderungen soll die Grundlage einer nachhaltigenWaldbewirtschaftung gefestigt und damit der Brancheweiterhin eine Zukunft gegeben werden.Eine Änderung des Bundesjagdgesetzes müsste so-wohl ein Aufräumen bei den bejagbaren Arten als aucheine grundsätzlich auf das Wohl des Waldes und des Wil-des ausgerichtete Jagdpolitik beinhalten. Die For-schungsaktivitäten der Agrarressortforschung bei Wild-tieren müsste daher deutlich gestärkt werden, und zwarsowohl hinsichtlich eines tierschutzgerechten, den Stand-ortbedingungen angepassten Populationsmanagements,als auch bezogen auf ihre Rolle als Reservoir und Über-träger von Infektionskrankheiten und ihre Wirkung aufandere Populationen und Biotope.Im Interesse einer nachhaltigen Waldbewirtschaftungstimmen wir auch dem Antrag der Grünen zu und bittenum breite Zustimmung zum Antrag der Linken.
Der Wald ist und wird in vielen Ländern und Kulturen
oft besungen, und das sicherlich nicht in Bezug auf maxi-
male Holzerträge, sondern weil er unabhängig von der
jeweiligen Eigentumsform ein Gemeingut ist. Wälder
dienen nicht nur der Holzproduktion, sondern auch und
gerade der Erholung, sowohl im Naherholungsbereich
als auch für den Tourismus. Vor allem aber sind sie Öko-
systeme mit vielfältigen Funktionen für die biologische
Vielfalt, den Klimaschutz und den Landschaftswasser-
haushalt, um nur einige zu nennen. Darüber hinaus
schützen Wälder vor Bodenerosion, leisten einen Beitrag
für die Bereitstellung von sauberem Trinkwasser und
können Hochwasserschäden für besiedelte Gebiete und
die Landwirtschaft abwenden. Der Erhalt unserer Wäl-
der und ihre nachhaltige Bewirtschaftung sind deshalb
nicht nur unter ökonomischen Gesichtspunkten geboten,
sondern eine Verpflichtung, die wir den kommenden Ge-
nerationen gegenüber haben.
Dem wird das aktuelle Bundeswaldgesetz nicht ge-
recht. Es fehlen ökologische Mindeststandards für die
Waldbewirtschaftung. Denn nur sie können arten- und
strukturreiche und damit naturnahe und vitale Wälder
mit vielfältigen Habitaten für Pflanzen und Tiere schaf-
fen, die dauerhaft als CO2-Speicher wirken, für die
Reinigung des Regenwassers sorgen und nicht zuletzt in
Form einer Win-win-Situation für Ökologie und Ökono-
mie die Produktivität der Wälder erhöhen. Regional
auftretende Übernutzungen bis hin zum Kahlschlag, An-
fälligkeit gegenüber Schädlingsbefall, Stürmen und
Waldbrand – um nur einige Problembereiche zu nennen –
legen den Finger auf die Wunde und zeigen den akuten
Handlungsbedarf für eine Novellierung des Bundeswald-
gesetzes.
Wer in diesem Zusammenhang vor einem überflüssi-
gen Bürokratieaufbau oder der Einschränkung von För-
dermöglichkeiten warnt, hat das Problem nicht begriffen.
Die Waldgesetznovelle muss her, weil wir eine gewisse
Begrenzung der heutigen Waldnutzung zugunsten der
Allgemeinheit und der kommenden Generationen brau-
chen und Selbstverpflichtungen ihren Erfolg schuldig ge-
blieben sind. Dabei will ich keinesfalls unterschlagen,
dass es durchaus Waldbesitzer gibt, die im Bewusstsein
um die Sinnhaftigkeit von Naturschutz, Baumartenviel-
falt und des Einsatzes von gut ausgebildetem Personal
Herausragendes für die Zukunft des Waldes geleistet ha-
ben. Nur ist das leider nicht der Normalfall.
Die Expertenanhörung im Deutschen Bundestag zur
Waldgesetznovelle hat im vergangenen November noch
einmal deutlich gemacht, dass das Bundeswaldgesetz der
Waldbewirtschaftung einen klare ökologischen und na-
turschutzfachlichen Rahmen geben muss. Kernstück der
Novelle muss daher die Festlegung von Standards und
Grundsätzen sein, die die gute fachliche Praxis konkret
nach ökologischen Kriterien definieren. Doch die Große
Koalition stiehlt sich aus der Verantwortung, löst ihr Ver-
sprechen im Koalitionsvertrag, das Waldgesetz zu novel-
lieren, nicht ein und offenbart einmal mehr ihr Versagen,
wenn es darum geht, Reformen, im Großen wie im Klei-
nen, auf den Weg zu bringen.
Dabei ist in vielen Punkten längst Einvernehmen
erzielt worden, beispielsweise bei der Lockerung der Ver-
kehrssicherungspflicht für die Waldbesitzer, bei der
Ausweitung der Rechte von forstwirtschaftlichen Zusam-
menschlüssen und bei der klaren Unterscheidung von
Agroforstsystemen und Wäldern. Doch da die Union die
ökologischen Mindestanforderungen als wohlfeiles
Wahlkampfthema betrachtet, mit dem sie glaubt, bei den
Waldbesitzerverbänden punkten zu können, ist der Koali-
tionsvertrag auch hier nicht das Papier wert, auf dem er
geschrieben steht. Mit unserem Antrag setzen wir dem
eine konkrete Politik für den Wald in der Gegenwart so-
wie für die kommenden Generationen entgegen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz auf Drucksache 16/12198.Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seinerBeschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags derFraktion Die Linke auf Drucksache 16/9075. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mehrheit-lich angenommen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 16/9450. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenstimmen! – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mehrheitlich angenom-men.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 56 a und b auf:a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, Jens
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25981
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsAckermann, weiteren Abgeordneten und derFraktion der FDP eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Lockerung des Verbots wieder-holter Befristungen– Drucksache 16/10611 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Soziales
– Drucksache 16/12092 –Berichterstattung:Abgeordnete Anette Krammeb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordneten
Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, Ulla Lötzer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEBefristete Arbeitsverhältnisse begrenzen,unbefristete Beschäftigung stärken– Drucksachen 16/9807, 16/12092 –Berichterstattung:Abgeordnete Anette Kramme
Das Teilzeit- und Befristungsgesetz eröffnet derzeit die
Möglichkeit des Abschlusses von befristeten Verträgen.
Ein solcher ist zulässig, wenn ein sachlicher Grund vor-
liegt. Diese Gründe sind eng abgegrenzt. So können
unter anderem öffentliche Arbeitgeber befristete Arbeits-
verträge abschließen, wenn der Arbeitnehmer aus Haus-
haltsmitteln vergütet wird, die haushaltsrechtlich für eine
befristete Betätigung bestimmt sind, und der Arbeitneh-
mer entsprechend beschäftigt wird. Eine frühere Be-
schäftigung bei demselben Arbeitgeber ist hierbei kein
Hinderungsgrund.
Das Gesetz gestattet auch die Befristung ohne sachli-
chen Grund bis zur Dauer von zwei Jahren mit einer
höchstens dreimaligen Verlängerung innerhalb dieser
Frist. Eine Befristung ist dann unzulässig, wenn mit dem-
selben Arbeitgeber zuvor ein befristetes oder unbefriste-
tes Arbeitsverhältnis bestanden hat.
An diese Möglichkeiten zur Befristung von Arbeitsver-
hältnissen knüpfen die beiden Anträge an, wobei die For-
derungen der Antragsteller gegensätzlicher nicht sein
könnten. Nach dem Willen der Fraktion der FDP soll die
Möglichkeit einer sachgrundlosen Befristung nahezu un-
beschränkt ausgeweitet, nach dem Willen der Fraktion
der Linken ersatzlos gestrichen werden. Die Lektüre bei-
der Anträge offenbart eine sehr einseitige Weltsicht nach
dem Motto „Schwarz-Weiß“. Eine solche Sichtweise ist
einfach. Sie wird nur nicht der Realität gerecht. Denn
dort geht es um Betroffene, deren Interessen aus jeweils
legitimen Gründen abweichen. Ein unbefristeter Vertrag
ist aus Sicht eines Arbeitnehmers natürlich einem befris-
teten vorzuziehen. Denn er gibt größere Beschäftigungs-
sicherheit und damit auch persönliche Sicherheit. Zwar
kann auch ein unbefristetes Arbeitsverhältnis durch Kün-
digung beendet werden. Das Ende ist ihm aber nicht
schon von Beginn an eigen. Arbeitgeber sind dagegen
eher zögerlich, sich in allen Fällen unbefristet zu binden.
Denn eine Anpassung zum Beispiel an konjunkturelle
Veränderungen, wie wir sie jetzt erleben, ist damit nur
noch eingeschränkt möglich. Sie stellen deshalb tenden-
ziell weniger Arbeitnehmer ein, wenn sie generell ge-
zwungen sind, unbefristete Arbeitsverträge abzuschlie-
ßen.
Deshalb muss der rechtliche Rahmen eine Abwägung
zwischen dem legitimen Wunsch nach Absicherung und
der Beschäftigungswirkung vornehmen. Im Teilzeit- und
Befristungsgesetz sind diese unterschiedlichen Interes-
sen von Arbeitnehmern einerseits und Arbeitgebern an-
dererseits miteinander in Einklang gebracht worden. Der
Gesetzgeber hat beiden Interessen Rechnung getragen.
Eine solche Interessenabwägung findet in den beiden
vorliegenden Anträgen nicht statt. Beide schreiben sich
lediglich die Interessen jeweils eines der Beteiligten auf
die Fahne. Und so prallen in der heutigen Debatte die
Gegensätze aufeinander.
Die Fraktion der FDP fordert, ein Verbot wiederholter
Beschäftigung vor Ablauf von drei Monaten einzuführen
und damit die Befristungsmöglichkeiten nahezu unbe-
schränkt auszuweiten. Damit soll zwar vermeintlich den
Interessen von Unternehmen Rechnung getragen werden,
nicht jedoch von Arbeitnehmern. Denn eine solche
grundsätzliche Ausweitung birgt die Gefahr, dass die be-
fristete Beschäftigung zum Dauerzustand wird. Aus die-
sem Grund muss die Möglichkeit der sachgrundlos be-
fristeten Arbeitsverträge zum Schutz der Arbeitnehmer
beschränkt werden.
Die Fraktion der Linken will dagegen mit ihrer Forde-
rung nach einer ersatzlosen Streichung der sachgrundlo-
sen Befristung vermeintlich Arbeitnehmer schützen.
Vermeintlich; denn was sich auf den ersten Blick als
Schutzmaßnahme darstellt, entpuppt sich bei genauerer
Betrachtung als Bumerang. Befristete Arbeitsverträge
sind besser als keine Arbeitsplätze. Und das wäre die
Konsequenz, wenn es Arbeitgebern gänzlich verboten
wäre, flexibel auf die Entwicklungen am Markt zu reagie-
ren. Ihre Forderung würde dazu führen, dass Arbeitgeber
eher weniger Arbeitnehmer beschäftigen und in florie-
renden Zeiten Mengen an Überstunden anhäufen lassen,
statt in diesen guten Zeiten mehr Arbeitnehmer zu be-
schäftigen. Diese Arbeitnehmer erhalten mit ihrem be-
fristeten Arbeitsvertrag eine Chance. Diese Chancen
würden die Linken vernichten.
Die seinerzeit rot-grüne Bundesregierung hat es in der
Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP am 16. Fe-
bruar 2005 wie folgt formuliert: „Die Regelung des § 14
Abs. 2 Teilzeit- und Befristungsgesetz gibt Arbeitgebern,
die sich zunächst nicht zu unbefristeten Einstellungen
entschließen können, die Möglichkeit, bis zur Dauer von
zwei Jahren befristete Arbeitsverträge abzuschließen, die
nicht durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt sein
müssen. Das ist vor allem eine beschäftigungspolitisch
sinnvolle Alternative zur Überstundenarbeit. Zugleich
bekommen Arbeitsuchende die Gelegenheit, wieder im
Berufsleben Fuß zu fassen, ihre Eignung und Leistungs-
(C)
(D)
Gitta Connemann
fähigkeit zu beweisen und damit ihre Chancen auf eine
unbefristete Weiterbeschäftigung zu verbessern.“
Meine Damen und Herren von den Linken und der
FDP, eine Interessenabwägung liegt Ihren Anträgen
nicht zugrunde. Es geht Ihnen also offensichtlich nicht
um die Sache, sondern allein um Einfluss und Status.
Dem wirklichen Leben werden Sie mit Ihren Anträgen
dagegen nicht gerecht, die wir, die Mitglieder der CDU/
CSU-Fraktion, ablehnen werden.
Schwarz-Weiß-Malerei ist mit uns nicht zu machen.
Wir stellen uns der Realität. Diese zeigt das Bild, das sich
eine Anzahl von Betrieben und Unternehmen infolge der
internationalen Finanzmarktkrise aktuell in wirtschaftli-
chen Schwierigkeiten befinden. Diese sehen sich laut ei-
ner Analyse des Deutschen Industrie- und Handelskam-
mertages momentan nicht in der Lage, Mitarbeiter am
Ende ihres befristeten Arbeitsvertrages fest einzustellen.
Der DIHK weist daher darauf hin, dass die derzeitige
Regelung, wonach eine sachgrundlose Befristung beim
selben Unternehmen nur einmal im Erwerbsleben mög-
lich ist, sich in der aktuellen Situation als problematisch
erweisen könnte. Wenn heute aufgrund einer schwachen
Auftragssituation ein Mitarbeiter am Ende eines befriste-
ten Vertrages nicht weiter beschäftigt werden könnte,
könne dieser Mitarbeiter zu einem späteren Zeitpunkt
nicht mehr erneut befristet eingestellt werden, wenn sich
Silberstreifen am Horizont zeigen würden. Da aber ange-
sichts der Tiefe der Krise auch am Beginn der Erholungs-
phase noch Vorsicht bei Festeinstellungen vorherrschen
dürfte, könnte diese Regelung den Wiederaufbau von Be-
schäftigung erschweren. Wohlgemerkt: Der DIHK for-
dert keine unbeschränkte Ausweitung wie die FDP.
Leider war mit unserem Koalitionspartner eine solche
auch von meiner Fraktion für notwendig erachtete Flexi-
bilisierung des Befristungsrechts nicht machbar. Dies ist
umso bedauerlicher, als sich die SPD auf dem Jobgipfel
von 2005 bereits mit der Union auf die Abschaffung des
Ersteinstellungsgebotes verständigt hatte, die betref-
fende Regelung aber wegen der bekannten Ereignisse
dann der Diskontinuität anheimfiel. Sollte mit der Ab-
schaffung des Ersteinstellungsgebotes jedoch Arbeitslo-
sigkeit – übrigens auch daraus resultierende Transfer-
leistungen – vermieden werden können, sollten wir
diesen Vorschlag ohne ideologische Scheuklappen be-
handeln. Die Union wird dieses sinnvolle Anliegen wei-
terhin verfolgen.
Meine Damen und Herren von den Linken, liebe Kol-
legen aus der FDP, leider haben Sie diese ideologischen
Scheuklappen nicht abgelegt. Wir werden deshalb die
vorliegenden Anträge ablehnen.
Diesmal sind es also die sachgrundlosen Befristun-gen. Weg damit oder mehr davon? Linke und FDP sindverschiedener Auffassung. Die Linke sagt: Sachgrund-lose Befristungen brauchen wir nicht; Beschäftigtewollen Kündigungsschutz, wenn es keinen besonderenGrund gibt, auf ihn zu verzichten. Die FDP meint, Kün-digungsschutz ist ein Nachteil für Arbeitsuchende, darummehr sachgrundlose Befristungen. Um es gleich klarzu-Zu Protokollstellen: Letzteres ist Unfug. Über die beschäftigungspoli-tischen Wirkungen des Kündigungsschutzes können wiruns gerne noch die nächsten zehn Jahre streiten. Ichwürde mal sagen, wenn es ein Ergebnis aus den Hunder-ten von Untersuchungen zu diesem Thema gibt, dann,dass es nicht nachweisbar ist, dass Kündigungsschutzeine negative Beschäftigungswirkung hat. Warum ihnalso für ein Phantom opfern?Gegen den Antrag der FDP sprechen aber auch genü-gend andere Gründe. Die FDP kann es noch so gut mitden Arbeitsuchenden meinen – wenn ein Vorschlag anverfassungsrechtliche Grenzen stößt, ist Schluss. Dannist es völlig egal, ob ein Änderungsvorschlag nützt, oderdoch, weil die Beschäftigungswirkung anders ist als er-wartet, Arbeitsuchenden schadet.Die FDP will eine Regelung, die es erlaubt, Arbeit-nehmer ein Leben lang für jeweils bis zu zwei Jahre an-zustellen. Einzige Einschränkung: Zwischen den einzel-nen Befristungen sollen die Arbeitnehmer drei Monatepausieren. In dieser Zeit können sie zum Beispiel von Ar-beitslosengeld leben. Damit wäre der Kündigungsschutzpraktisch außer Kraft gesetzt. Welchen Anreiz könnte esfür einen Arbeitgeber geben, unbefristet einzustellen,wenn er den Kündigungsschutz ein für alle Mal vermei-den kann?Die Gefahr, dass der Arbeitnehmer gerade in den dreiMonaten Pause zu einem anderen Arbeitgeber abwan-dert, ist gering – leider. Denn in der Regel findet ein Ar-beitnehmer erst sechs Monate nach Verlust seines letztenArbeitsplatzes eine neue Stelle. Der Normalarbeitsu-chende steht seinem letzten Arbeitgeber also nach dreiMonaten wieder zur Verfügung. Im Zweifel ein Lebenlang – nicht anders als ein unbefristet Beschäftigter. Nurdass der Arbeitnehmer bei jeder Pause damit rechnenmuss, dass sein Arbeitgeber es sich dieses Mal vielleichtdoch anders überlegt und nicht mehr will.Die Verfassung fordert aber einen Mindestkündi-gungsschutz. Bei befristeten Arbeitsverhältnissen ist derKündigungsschutz für den Zeitpunkt der Befristung auf-gehoben. Wenn sie eine gleichwertige Option nebenunbefristeten Arbeitsverhältnissen sind, ist auch derMindestkündigungsschutz beseitigt. Der Gesetzgeber hatdies im Jahr 2001 erkannt. Darum wurde eine Regelung,wie die FDP sie nun wieder vorschlägt und die wir fastidentisch bereits fünf Jahre lang hatten, wieder abge-schafft.Die FDP und die Verfassung – ohnehin kein harmoni-sches Paar. Für die nächste Wahlperiode verspricht dieFDP auch wieder einmal die faktische Abschaffung derTarifautonomie – mittels Erlaubnis von Tarifvertragsab-weichungen durch Betriebsvereinbarungen. Der Arbeit-geber kann dann schlicht wählen: Wenn er keinen Streikmöchte, regelt er einfach alles mit dem Betriebsrat. DieGewerkschaften könnten dann vielleicht noch hier undda Empfehlungen abgeben – ganz unverbindlich natür-lich. Die Verfassung sieht auch das anders.Mit ihrem Antrag möchte die FDP angeblich aberauch Arbeitgeber davor bewahren, einen Bewerber ver-sehentlich unbefristet einzustellen. Das stehe zu befürch-
Metadaten/Kopzeile:
25982 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Anette Krammeten, wenn ein Arbeitgeber mal den Überblick verliert,welche Bewerber früher schon einmal bei ihm beschäf-tigt waren. Diese Sorge hingegen ist unbegründet. DerArbeitnehmer wird sicher nicht vergessen haben, ob er esschon einmal mit demselben Arbeitgeber zu tun hatte.Man kann den Bewerber also fragen. Und wenn er lügt,kann man den Vertrag anfechten.Die Linke möchte dagegen den Kündigungsschutzstärken – über einen Umweg. Sie will, dass sachgrund-lose Befristung nicht mehr zulässig ist. Ich denke ebenso.Und unser Koalitionsvertrag mit der CDU/CSU enthältauch dieses Vorhaben. Zwar darf kein Arbeitgeber ge-zwungen sein, einen Arbeitnehmer weiterbeschäftigen zumüssen, von dem er sich aus nachvollziehbaren Gründentrennen will. Aber Arbeitgeber sollten die Gründe für ih-ren Trennungswunsch kommunizieren müssen. Von einemerst letzte Woche gefeierten Jubilar, von JürgenHabermas, konnten wir lernen, dass wir nur dann eineChance haben, unsere Gesellschaft auf Vernunft zu grün-den, wenn wir kommunikativ handeln und in der Lagesind, Akzeptanz für unsere Entscheidungen zu erzeugen.Sachgrundlose Befristungen braucht, wer eben nicht be-gründen kann, dass er sich von einem Arbeitnehmer tren-nen will.Die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung, auchder Einstellungsanspruch für befristet Beschäftigte:schöne Ideen, leider im Augenblick nicht machbar mitdem Koalitionspartner. Darum eine pragmatisch moti-vierte Ablehnung auch des Linken-Antrags. Ob es derLinken besonders leidtut um diesen Antrag, ist ohnehinzweifelhaft. Für die nächste Wahlperiode hat sie sich dieBegrenzung befristeter Beschäftigung jedenfalls nichtmehr vorgenommen. Oder das Thema wurde im Wahlpro-gramm vergessen.
Wir wollen mehr Flexibilisierung auf dem Arbeits-
markt. Die Einschränkung im Teilzeit- und Befristungs-
gesetz, wonach eine sachgrundlose Befristung ausge-
schlossen ist, wenn mit dem Arbeitnehmer früher schon
ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis be-
standen hat – und sei es nur formal für einen Tag, ist ein
Einstellungshindernis. Von älteren Arbeitnehmern sind
oft keine Unterlagen mehr vorhanden, und der bürokrati-
sche Rechercheaufwand ist unter Umständen enorm
hoch, wenn sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht an-
greifbar machen wollen. Kontakte, die man als Prakti-
kant bei einer solchen Beschäftigung in einem Unterneh-
men geknüpft hat, sind für eine spätere Bewerbung auf
eine befristete Stelle nicht nutzbar.
Deshalb fordern wir statt einer lebenslangen Sperre
ein Verbot wiederholter Beschäftigung vor Ablauf von
drei Monaten. Dieser Zeitrahmen ist aus unserer Sicht
ausreichend, um Kettenarbeitsverträge zu verhindern.
Mit diesen verbesserten Rahmenbedingungen wären Ein-
stellungen wesentlich leichter geworden. Leider konnten
wir in den Beratungen noch keine Mehrheit für unsere
Position finden. Stattdessen hat die schwarz-rote Bun-
desregierung in ihrer unsäglichen Weisheit die theoreti-
sche Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes erneut verlän-
Zu Protokoll
gert und damit Großbetrieben erneut den Weg in die
Frühverrentung von älteren Arbeitnehmern eröffnet.
Die Möglichkeit einer sachgrundlosen Befristung von
Arbeitsverträgen ermöglicht es Arbeitsuchenden, insbe-
sondere denen, die länger arbeitslos waren, wieder ins
Berufsleben einzusteigen. Sie können ihre Leistungsfä-
higkeit beweisen und damit ihre Chancen auf Weiterbe-
schäftigung verbessern. Zudem müssen gerade jetzt Un-
ternehmen wegen der unsicheren Auftragslage wieder
verstärkt befristet einstellen.
Es ist an der Zeit, dieses lebenslange Arbeitsverbot
aufzuheben. Dem Antrag der Linken auf Streichung der
Möglichkeit, ohne Sachgrund Arbeitsverhältnisse auf
zwei Jahre befristen zu können, können wir gar nicht fol-
gen, weil damit gerade beruflichen Neu- oder Wiederein-
steigern konkrete Chancen auf Beschäftigung verschlos-
sen werden.
Die Arbeitsmarktpolitik der schwarz-roten Regierung
war ebenso wenig erfolgreich wie die Arbeitsmarktpoli-
tik der rot-grünen Regierung. Es ist Zeit für einen Politik-
wechsel. Wir brauchen mehr Flexibilität, damit Arbeits-
plätze geschaffen und erhalten werden können – nicht
noch mehr Regulierung. Wir fordern deshalb die grund-
legende Reform der Arbeitsverwaltung mit einer
Stärkung des Versicherungsprinzips in der Arbeitslosen-
versicherung, die Reform des Tarifvertragsrechts zur Si-
cherung betrieblicher Bündnisse für Arbeit sowie ein
zeitgemäßes Kündigungsschutzrecht, das nicht nur dem
Schutz der Beschäftigten dient, sondern auch Arbeits-
losen die Chance auf einen Wiedereinstieg in Beschäfti-
gung einräumt.
Gerade im Interesse mittelständischer Betriebe sind
ein flexibilisiertes und entbürokratisiertes Betriebsver-
fassungsgesetz und Lockerungen im Teilzeit- und Befris-
tungsgesetz notwendig, damit sie zeitnah auf sich verän-
dernde Auftragslagen reagieren können.
Ich möchte meine Rede mit der Frage beginnen: Wasist gute Arbeit? Die meisten Menschen antworten darauf:Die Arbeit muss sicher sein, und sie muss anständig be-zahlt sein. Arbeit soll nicht krank machen. Der Berufsollte mit Familie, Freunden und Hobbys gut vereinbarsein. Sie möchten mitbestimmen können, was sie machenund wie sie ihre Arbeit machen.Mehr als 80 Prozent der Beschäftigten halten ein un-befristetes Arbeitsverhältnis für ein wichtiges Elementguter Arbeit. Der DGB-Index Gute Arbeit 2009, der inder vergangenen Woche der Öffentlichkeit vorgestelltwurde, zeigt: Befristet Beschäftigte sind mit ihrer Arbeitüberdurchschnittlich oft unzufrieden. 41 Prozent der Be-schäftigten mit befristetem Arbeitsvertrag bewerten ihreArbeit als schlecht. Nur 9 Prozent halten ihre Arbeit füreine gute Arbeit. Auch von den unbefristet Beschäftigtenbewerten 32 Prozent ihre Arbeit als schlecht und nur12 Prozent als gut. Hier spielen die anderen Dimensio-nen von Arbeit eine wichtige Rolle. So herrscht bei denBeschäftigten in Bezug auf ihr Einkommen die größteUnzufriedenheit.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25983
gegebene Reden
(C)
(D)
Werner DreibusDie befristete Beschäftigung hat wie alle anderen For-men der prekären Beschäftigung in den letzten Jahren ei-nen Boom erlebt. Hatten im Jahr 2000 bereits 4,08 Mil-lionen Menschen einen befristeten Arbeitsvertrag, warenes im Jahr 2008 sogar 4,95 Millionen. Das bedeutet ei-nen Anstieg um 866 000 oder 17,5 Prozent in nur achtJahren. Im gleichen Zeitraum haben die Teilzeitarbeit ummehr als 1 Million, die Minijobs um 830 000 und dieLeiharbeit um 460 000 zugenommen. Demgegenübersteht ein Verlust von fast 1,5 Millionen sozialversiche-rungspflichtigen Vollzeitstellen. Und auch die Niedrig-lohnbeschäftigung hat deutlich zugenommen. Zwischenden Jahren 2000 und 2006 ist der Anteil der Beschäftig-ten, die zu Niedriglöhnen arbeiten müssen, von 17,5 auf22,2 Prozent gestiegen. 6,5 Millionen Menschen arbeite-ten im Jahr 2006 zu Niedriglöhnen; von den MillionenArbeitslosen, die in Hartz IV stecken und die bereits inden Jahren des Aufschwungs keine Chance auf eine ver-nünftige Arbeit hatten, ganz zu schweigen.Meine Damen und Herren von SPD, CDU/CSU undBündnis 90/Die Grünen, das ist der Erfolg Ihrer Arbeits-marktpolitik! Der Abbau von Arbeitnehmerschutzrechtenund die Drangsalierung der Arbeitslosen wurden vonRot-Grün mit der Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzenbegonnen. Die Große Koalition hat diese arbeitnehmer-feindliche Politik nahtlos weitergeführt mit der Folge,dass das prekäre, schlecht bezahlte Arbeitsverhältnis fürviele Beschäftigte heute immer mehr zur Norm wird.Dass ich Ihnen jetzt nicht gratuliere, meine Damen undHerren von der FDP, liegt schlicht daran, dass Sie in denletzten Jahren nichts zu sagen hatten. Auch Sie setzen aufdie Förderung schlechter Arbeit. Das beweist Ihr Gesetz-entwurf, mit dem Sie Befristungen noch weiter erleich-tern wollen.Wie unsicher diese Beschäftigungsverhältnisse tat-sächlich sind, führt uns die Wirtschaftskrise drastisch vorAugen. Mehr als 100 000 Leiharbeiterinnen und Leihar-beiter wurden gleich zu Beginn der Krise entlassen. Invielen Betrieben, die von der Krise betroffen sind, wur-den und werden die Verträge der befristet Beschäftigtennicht mehr verlängert, auch sie stehen bereits massenhaftauf der Straße. Schnellere und häufigere Arbeitslosigkeitsind nur der drastischste Ausdruck der systematischenSchlechterstellung von prekär Beschäftigten. Welche ver-heerenden Konsequenzen dies für das Leben der Betrof-fenen hat, haben wir in unserem Antrag und in der erstenLesung bereits ausführlich dargelegt. Schlechte Arbeitermöglicht kein gutes Leben.Angesichts der Prognosen der Wirtschaftsinstitute, dieeinhellig voraussagen, dass die Wirtschaftskrise erst inden nächsten Monaten richtig auf den Arbeitsmarktdurchschlagen wird, müssen wir jetzt verhindern, dassdie Krise zu einer neuen Runde der Erpressung der Be-schäftigten genutzt wird und schlechte Arbeit und pre-käre Beschäftigung noch weiter zunehmen. Es ist an derZeit, dass Sie die verfehlte Arbeitsmarktpolitik der letztenJahre korrigieren. Lehnen Sie den Gesetzentwurf derFDP ab. Stellen Sie die Weichen für einen Boom der gu-ten Arbeit. Machen Sie einen ersten Schritt und stimmenSie unserem Antrag zu. Liebe Kolleginnen und Kollegenvon der SPD, noch ein Wort an Sie: Wenn Sie, wie Sie inZu Protokollder ersten Lesung und in der Beratung des Fachaus-schusses gesagt haben, dem Antrag inhaltlich zustimmenkönnen, dann stimmen Sie ihm zu! Sie werden von denMenschen nicht daran gemessen, wie Sie den Koalitions-vertrag erfüllen. Sie werden daran gemessen, was Siekonkret getan haben, um die Bedingungen für die Be-schäftigten zu verbessern.
In den vergangenen Jahren wurde im Verlauf der gu-ten Konjunkturentwicklung in vielen Großbetrieben undauch im öffentlichen Dienst neben den Kernbelegschaf-ten in steigendem Umfang eine flexible Randbelegschaftaufgebaut. Zehn Prozent aller Beschäftigten müssen sichinzwischen mit einem befristeten Arbeitsvertrag zufrie-dengeben. Betroffen sind vor allem junge Menschen,Frauen und Geringqualifizierte. Bei ihnen ballen sich dieRisiken der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Sie ver-dienen wenig, sind bei Fort- und Weiterbildung fast im-mer außen vor und verlieren in der Krise als Erste ihrenArbeitsplatz. Viele haben dann aufgrund der geringenBeschäftigungsdauer keinen Anspruch auf Arbeitslosen-geld I. Die aktuellen Zahlen belegen das Problem: In denersten fünf Monaten des Jahres sind 1,8 Millionen Men-schen arbeitslos geworden. Mehr als jeder Vierte war so-fort auf Arbeitslosengeld II angewiesen. Andere habenzwar Anspruch auf Arbeitslosengeld I, aber aufgrund ih-res niedrigen Lohnes reicht die Versicherungsleistungnicht zum Leben.Die Lösung der mit der zunehmenden Flexibilisierungauf dem Arbeitsmarkt verbundenen Probleme liegt aberweder in der einfachen Rückkehr zum „Normalarbeits-verhältnis“ – und dann wird alles gut –, so wie sich dieLinke das offensichtlich vorstellt, noch hilft mehr Flexi-bilität à la FDP. Darauf genau laufen aber der Antragder Linken und der Gesetzentwurf der FDP jeweils unterdem Strich hinaus. Beides lehnen wir ab.Sie, meine Damen und Herren von der Linken, wollendie sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen ein-fach abschaffen. Das bedeutet aber definitiv weniger Ar-beitsplätze. Unternehmen, die expandieren wollen, sichaber ihres Erfolges nicht sicher sind, würden ihr Vorha-ben dann allein mit Überstunden realisieren, ohne neueStellen zu schaffen. Und: Befristete Arbeitsverträge, un-abhängig davon, ob sie sachgrundlos oder begründet be-fristet sind, führen nicht per se nur zu Problemen. Zahl-reiche Untersuchungen zeigen, dass in Deutschland etwa40 Prozent der befristet Beschäftigten nach einem Jahrund zwei Drittel nach drei Jahren einen Dauerarbeits-platz gefunden haben. Das ist gut so.Die FDP dagegen will die Regelungen zur sachgrund-losen Befristung von Arbeitsverträgen lockern, um zu-künftig zu verhindern, dass diejenigen keine Chance aufeinen solchen Vertrag haben, die zuvor irgendwannschon einmal bei demselben Unternehmen beschäftigtwaren. Das Ziel ist ehrenwert, aber der Lösungsvor-schlag – die jetzige Regelung durch eine dreimonatigeBeschäftigungspause zu ersetzen – führt unweigerlich zuKettenverträgen und ist von daher mangelhaft. Selbst der
Metadaten/Kopzeile:
25984 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25985
(C)
(D)
Brigitte PothmerDeutsche Industrie- und Handelskammertag hält eineWartefrist von sechs Monaten für notwendig.Flexibilität darf keine Sackgasse für die Beschäftigtensein. Darum brauchen wir einen grundlegenden Per-spektivwechsel, um zu verhindern, dass die zunehmendeAusdifferenzierung des Arbeitsmarktes einhergeht mit ei-ner immer tieferen Spaltung und Entsolidarisierung derGesellschaft. Dafür stehen wir Grünen mit unseren Vor-schlägen für mehr Sicherheit in einer flexibilisierten Ar-beitswelt, die wir in etlichen Initiativen hier im Bundes-tag zur Diskussion gestellt haben. Wir fordern gleicheBezahlung und gleiche Behandlung für Leiharbeit, einengesetzlichen Mindestlohn für alle Beschäftigten, einebessere Absicherung durch die Arbeitslosenversicherungfür flexible Arbeitsverhältnisse und nicht zuletzt eine bes-sere Absicherung im Rahmen der Grundsicherung.Denn: Flexibilität braucht zuallererst Sicherheit.
Wir kommen zunächst zu Tagesordnungspunkt 56 a:
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der
FDP zur Lockerung des Verbots wiederholter Befristun-
gen. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt
unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
16/12092, den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP auf
Drucksache 16/10611 abzulehnen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mehrheitlich ab-
gelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung
die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 56 b: Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und So-
ziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Befristete Arbeitsverhältnisse begrenzen, unbe-
fristete Beschäftigung stärken“. Unter Nr. 2 empfiehlt
der Ausschuss auf Drucksache 16/12092, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/9807 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mehrheitlich angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 57 a und b auf:
a) – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Hartfrid Wolff , Gisela Piltz,
Dr. Max Stadler, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den
Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Inte-
gration von Ausländern im Bundesgebiet
– Drucksache 16/13160 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Ulla Jelpke, Wolfgang Nešković, Sevim
Dağdelen, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs
eines … Gesetzes zur Änderung des Aufent-
haltsgesetzes
– Drucksache 16/12415 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses
– Drucksache 16/13494 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff
Ulla Jelpke
Josef Philip Winkler
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses zu
dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip
Winkler, Volker Beck , Birgitt Bender,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Verlängerung der Frist für die gesetzliche Alt-
fallregelung
– Drucksachen 16/12434, 16/13494 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff
Ulla Jelpke
Josef Philip Winkler
Die Debatte über eine Verlängerung der Altfallrege-
lung ist aus mehreren Gründen unehrlich. Wir wissen im
Augenblick überhaupt nicht, wie viele Personen von den
Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise so
sehr betroffen sind, dass für sie eine Verlängerung der
Altfallregelung überhaupt nötig wäre. Entsprechende
Zahlen sollen von den Ländern geliefert werden, liegen
aber noch nicht vor.
Ich frage mich auch, wie die Fallkonstellation über-
haupt sein müsste, dass jemand ausschließlich durch die
jetzt schwierigere Arbeitsmarktlage betroffen sein
könnte. Wer nach dem Inkrafttreten der Altfallregelegung
am 28. August 2007 beschäftigt war und jetzt wegen der
Krise arbeitslos werden würde, der hat doch nichts zu be-
fürchten, weil er überwiegend in einem Beschäftigungs-
verhältnis tätig war und deswegen seine Perspektive
auch sehr gut ist.
Wer bisher keine Arbeit gefunden hat, dem würde es
auch nichts nützen, wenn wir jetzt in einer Hochkonjunk-
turphase wären, weil nach unserer Regelung nur dann
eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis in Betracht
gekommen wäre, sofern der betroffene Ausländer in den
letzten neun Monaten vor dem 31. Dezember 2009 unun-
terbrochen in Arbeit gewesen wäre. Diese Frist ist er-
sichtlich abgelaufen, und zwar zu einem Zeitpunkt, als im
Frühjahr die Arbeitsmarktlage noch deutlich besser war
als zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Altfallregelung
im Herbst 2007.
Das bedeutet: Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise
haben im Kern mit der Altfallregelung nichts zu tun. Man
muss das ganz klar sagen: Wer bis jetzt keine Arbeit ge-
(C)
(D)
Reinhard Grindel
funden hat, der hat die Chance, die ihm der Gesetzgeber
eingeräumt hat, nicht genutzt, und der muss in seine
Heimat zurückgeführt werden.
Wir haben als Union immer gesagt: Wir wollen nicht
eine Altfallregelung, bei der diejenigen, die ihrer Pflicht
zur Ausreise nicht nachgekommen sind, am Ende noch
prämiert werden. Wir haben immer gesagt: Die Altfallre-
gelung ist dann gerechtfertigt, wenn sich die Betroffenen
aus nicht von ihnen verschuldeten Gründen sehr lange in
Deutschland aufgehalten haben, wenn sie diese Zeit ge-
nutzt haben, sich zu integrieren, und wenn es auch ein
wirtschaftliches Interesse an ihrem Aufenthalt in
Deutschland gibt.
Wir haben damals gesagt, wer sich durch Arbeit selbst
versorgen kann, wer sprachlich integriert ist, wer seine
Kinder erfolgreich auf die Schule geschickt hat, der soll
eine Perspektive für ein Leben in unserem Land haben.
Für uns war die Altfallregelung also nie nur eine Frage
der Frist, wie lange jemand in Deutschland lebt, sondern
wir haben diese Regelung immer mit einer integrations-
und wirtschaftspolitischen Komponente verbunden.
Insofern ist es auch kontraproduktiv, dass seit Mona-
ten die Opposition und auch einige Verbände und
Interessengruppen diese Debatte über eine mögliche
Verlängerung der Altfallregelung führen. Sie lassen da-
durch die Antriebskräfte der betroffenen Ausländer er-
lahmen, sich um eine Arbeitsaufnahme nun verstärkt zu
bemühen, wenn sie den Betroffenen suggerieren, sie dürf-
ten auf jeden Fall in Deutschland bleiben. Dass sie da-
durch auch massiv in schwieriger Zeit die Sozialkassen
der Länder und Kommunen belasten, sei nur am Rande
erwähnt.
Integration ist keine Einbahnstraße. Dies bedeutet
auch, auf eine Beendigung des Aufenthalts derjenigen
hinzuwirken, die sich in der sozialen Hängematte ausru-
hen oder die Rechtsordnung unseres Landes missachten.
Wer an dieser Stelle nicht konsequent bleibt, schafft An-
reize für illegale Migration und Schleusungskriminalität.
Damit wäre weder den Interessen der deutschen
Bevölkerung noch denjenigen unserer rechtmäßig hier
lebenden ausländischen Mitbürger gedient.
Diejenigen, die jetzt eine Fristverlängerung ver-
langen, zielen in Wahrheit auf ein allgemeines Blei-
berecht ab und benutzen die Wirtschaftskrise nur als
argumentatives Vehikel. Sie verfahren im Grunde nach
dem Motto: Wer unter die Altfallregelung fällt, darf
bleiben, und wer nicht unter die Altfallregelung fällt, der
darf auch bleiben. Das ist unehrlich und das lehnen wir
ab.
Wir haben auch nie gesagt, dass wir generell Ketten-
duldungen abschaffen wollen. Es gibt eine Vielzahl von
Asylbewerbern, die über ihre Identität getäuscht und die
ihren Reiseweg verschleiert haben, und deren Rückfüh-
rung aufgrund dieser Gesetzesverstöße bisher geschei-
tert ist. Denen wollen wir auf keinen Fall ein Bleiberecht
einräumen. Die müssen auf jeden Fall wieder in ihre Hei-
mat zurückgeführt werden.
Und deshalb will ich für unsere Fraktion auch beto-
nen: Sollte es Gründe geben, weshalb man aus humani-
Zu Protokoll
tären Überlegungen doch zu einer Fristverlängerung
kommen sollte – über die der Bundestag in der neuen Le-
gislaturperiode sehr schnell entscheiden könnte – dann
werden wir das mit der Frage verbinden, was denn mit
denen geschehen soll, die auf keinen Fall unter die Alt-
fallregelung fallen, weil sie zum Beispiel während ihres
Aufenthalts in Deutschland kriminell geworden sind.
Dann müssen wir uns über die Beseitigung von
Abschiebehindernissen unterhalten. Hier sehen wir ein
klares Junktim. Es kann keine Ausdehnung einer Altfall-
regelung geben, ohne dass nicht gleichzeitig durch ent-
sprechende Gesetzesänderungen die Rückführung von
ausreisepflichtigen Personen erleichtert wird.
Im Übrigen – auch da werden ja merkwürdige Szena-
rien verbreitet – muss niemand, der seine „Aufenthalts-
erlaubnis auf Probe“ verlieren würde, seine sofortige
Abschiebung zum 1. Januar 2010 befürchten. Sollte eine
politische Einigung über eine Fristverlängerung erzielt
werden, kann der Aufenthalt für die Betroffenen auf
administrativem Wege gesichert werden, selbst wenn wir
erst im Frühjahr 2010 zu einer Gesetzesänderung
kommen sollten. Wer anderes behauptet, der verunsichert
in fahrlässiger Weise die betroffenen Menschen.
Ich will nochmals betonen: Gesetze sollten nicht ins
Blaue hinein verändert werden, sondern in Kenntnis der
Faktenlage. Wir haben noch keine belastbaren Zahlen,
wie viele jetzt überhaupt in Schwierigkeiten kommen
können. Niemandem droht die sofortige Abschiebung.
Insoweit gibt es jetzt keinen Grund zur Eile.
Als sich Union und SPD vor dreieinhalb Jahren zurGroßen Koalition zusammentaten, schrieben sie sich be-kanntermaßen folgenden Prüfauftrag in den Koalitions-vertrag: „Wir werden das Zuwanderungsgesetz anhandder Anwendungspraxis evaluieren. Dabei soll insbeson-dere auch überprüft werden, ob eine befriedigende Lö-sung des Problems der sogenannten Kettenduldungen er-reicht worden ist.“Unser ursprüngliches und leider am Widerstand derCDU/CSU im Bundestag und im Bundesrat gescheitertesZiel in der rot-grünen Koalition war es, mit dem Zuwan-derungsgesetz die Duldung generell abzuschaffen. Im Er-gebnis waren Ende des Jahres 2006 rund 180 000 Aus-länder – darunter etwa 50 000 Kinder – lediglich imBesitz einer Duldung; Zigtausende von ihnen schonsechs bzw. acht oder noch mehr Jahre lang. Um diesenMissstand zu beheben, verhandelte die Große Koalitionsehr kontrovers über eine gesetzliche Altfallregelung.Heraus kam ein Kompromiss. Er war in der Öffentlich-keit umstritten und er hat den Berichterstattern auf bei-den Seiten viele Zugeständnisse abverlangt.Letztlich zählt jedoch nur eines: Hat er den Menschen,die wir erreichen wollten, geholfen? Und hier lautet dieAntwort: Ja. Ich habe immer gesagt, dass die Regelungdes § 104 a des Aufenthaltsgesetzes dann ein Erfolg ist,wenn wir mit ihr und dem IMK-Beschluss mehr als50 000 Menschen den Weg in die Aufenthaltserlaubnisebnen können. Die jüngste umfassende Auswertung mitStand vom 31. März 2009 verdeutlicht, dass dies Ziel er-
Metadaten/Kopzeile:
25986 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Rüdiger Veitreicht worden ist. Die Länder haben 33 371 Personen ge-meldet, die eine Aufenthaltserlaubnis nach den §§ 104 a,104 b des Aufenthaltsgesetzes erhalten haben. 24 271Aufenthaltserlaubnisse wurden aufgrund der IMK-Blei-berechtsregelung erteilt. Insgesamt erhielten also 57 642ehemals Geduldete eine Aufenthaltserlaubnis.Heute geht es um die Frage, ob der eben dargestellteErfolg auf der Kippe steht. Und das tut er: Von den33 371 Aufenthaltserlaubnissen, die nach der gesetzli-chen Altfallregelung erteilt wurden, sind 26 993 aufProbe erteilt. Das bedeutet: Auch sie müssen bis Ende2009 ihren Lebensunterhalt überwiegend selbst verdie-nen können. Uns allen dürfte klar sein, dass das, nicht je-dem gelingen wird. Das hat sicher viele Ursachen, abersicher ist auch, dass, als wir die Frist „Dezember 2009“beschlossen haben, keiner von uns die einschneidendeWirtschaftskrise des Jahres 2008, die im weiteren Verlaufdes Jahres 2009 ihre Auswirkungen auf dem Arbeits-markt noch stärker als heute zeigen wird, voraussehenkonnte. Dazu kommt, dass viele der Betroffenen überJahre vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen waren und Zeitbenötigen, um sich zu integrieren. Hierbei können sie mitdem Bundesprogramm zur arbeitsmarktlichen Unterstüt-zung für Bleibeberechtigte und Flüchtlinge mit Zugangzum Arbeitsmarkt unterstützt werden. Dieses Programmwurde aber erst im Juni 2008 aufgelegt. Die einzelnenProjekte haben ihre Arbeit zwischen September 2008 undJanuar 2009 aufgenommen. Sie konnten bislang nochkaum Wirkung entfalten.Mit milliardenschweren Konjunkturpaketen, die in derGeschichte unserer Republik ohne jedes Beispiel sind,versuchen wir, die absehbare negative Wirtschaftsent-wicklung zumindest abzufedern. Mit der gleichen logi-schen Konsequenz sollten wir als Gesetzgeber aber auchüberall dort handeln, wo ansonsten unbeabsichtigteKonsequenzen drohen. Da haben vormals nur geduldeteausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger eben auchschlechtere Chancen, unter den erschwerten Wirtschafts-und Arbeitsmarktbedingungen ihre Arbeitsstelle zu be-halten oder eine neue zu finden.Wir sind der Meinung, dass es fatal wäre, wenn in-folge dessen eine große Zahl derer, die die Aufenthaltser-laubnis auf Probe erhalten haben, zurück in die Duldungfielen. In ihrem Interesse haben wir mit allen im Bundes-tag vertretenen Fraktionen diskutiert, und natürlich vorallem auch mit unserem Koalitionspartner. Wir wolltendie Frist des § 104 a Abs. 5 AufenthG bis zum Jahresende2011 verlängern. Die Verlängerung der Aufenthaltser-laubnis auf Probe sollte am besten unmittelbar kraft Ge-setzes erfolgen, ohne dass es eines neuen Verwaltungsak-tes im Einzelfall bedurft hätte.Seien wir einmal ehrlich: Im Grunde wäre es sogaram sinnvollsten, wenn alle diejenigen, die in den Anwen-dungsbereich der gesetzlichen Härtefallregelungen ge-kommen sind, nach Fristablauf eine dauerhafte Aufent-haltserlaubnis erhalten würden. Mit Fristablauf werdensich diese Menschen dann auf jeden Fall acht bzw. zehnJahre in Deutschland aufhalten, manche auch noch viellänger. Diese Menschen werden in den meisten Fällensowieso nicht abgeschoben werden können. Statt einesZu Protokollweiteren Lebens auf dem Abstellgleis sollten wir endlichanfangen, sie vernünftig zu integrieren.Zwar hatte die Union diesbezüglich zunächst Ge-sprächsbereitschaft signalisiert, schließlich haben je-doch sowohl der Berichterstatter, der Kollege Grindel,als auch der Bundesinnenminister Dr. Schäuble deutlichgemacht, dass es mit der Union in dieser Legislatur keineÄnderung der gesetzlichen Altfallregelung geben wird.Auch auf der letzten IMK in Bremerhaven Anfang Junikonnte keine Verlängerung der Frist erreicht werden. Mitanderen Worten: Unsere Bemühungen, noch in dieser Le-gislatur eine Verlängerung der Frist der gesetzlichen Alt-fallregelung zu erreichen, sind gescheitert. Es wird zukeiner Änderung des Aufenthaltsgesetzes mehr kommen.Das bedauere ich sehr, vor allem für die Betroffenen.Auch wenn es nach der Bundestagswahl zu einer Re-gelung kommen sollte – ich gehe davon aus, dass kaumeiner derjenigen, die eine Aufenthaltserlaubnis auf Probeerhalten haben, gleich ab 1. Januar 2010 abgeschobenwird – ist es für die Betroffenen eine neuerliche unerträg-liche Hängepartie, die auch unter Integrationsgesichts-punkten einfach grausam und überflüssig ist und fürunsere Gesellschaft und den Steuerzahler unnötig belas-tend.Die Gedanken und Vorschläge, die in den Anträgender Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke ent-halten sind, sind richtig und wir haben sie, wie dargelegt,längst schon selbst verfolgt und versucht, umzusetzen.Aber da die Mehrheitsverhältnisse in diesem Haus undim Bundesrat momentan noch so sind, wie sie sind, mussich leider empfehlen, den Antrag abzulehnen.Hartfrid Wolff (FDP):Die Reform des Bleiberechts durch die Bundesregie-rung im Sommer 2007 war ein längst überfälliger Schritt.Wenn bei lange geduldeten, gut integrierten Auslän-dern eine Abschiebung nicht mehr vertretbar ist, mussdieser Tatsache durch eine vernünftige und unbürokrati-sche Regelung Rechnung getragen werden.Doch die entscheidenden Kriterien waren und sind„lange geduldet“ und „gut integriert“. Aus Sicht derFDP muss die tatsächliche Integration das entschei-dende Kriterium sein, nachgewiesen durch eigenständi-gen Lebensunterhalt, deutsche Sprachkompetenz und Ak-zeptanz im persönlichen sozialen Umfeld auch außerhalbder Migrantengesellschaft.Der eigenständige Lebensunterhalt ist dabei von ent-scheidender Bedeutung. Das Zahlenmaterial, das Grüneund Linke in den vorliegenden Anträgen zitieren, deutetgenau darauf hin, dass dies eine für die Integration sehrbedeutsame Anforderung ist.Es ist berechtigt, die Frage nach der Perspektive einesgesicherten Lebensunterhaltes zu stellen, und es ist zu-tiefst inhuman, Menschen eine Aufenthaltsperspektivevorzugaukeln, die ihren Lebensunterhalt hier nicht selbstverdienen können. Wer so etwas tut, der hält Alimentie-rung für humane Politik. Eine dauerhafte Unterstützungdurch den Staat ist weder für den oder die Betroffene eine
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25987
gegebene Reden
(C)
(D)
Hartfrid Wolff
freiheitliche, eigenverantwortlich gestaltbare Perspek-tive, noch ist die gesellschaftliche Akzeptanz hierfür ge-geben.Wir Liberalen halten es dagegen für besser, MenschenChancen für ein erfülltes Leben zu eröffnen. In diesemZusammenhang wird einmal mehr deutlich: Arbeit ist einbedeutender Integrationsfaktor. Der Zusammenhang vonArbeitserlaubnis und Aufenthaltsrecht muss deshalb einebesondere Aufmerksamkeit finden.Arbeit ermöglicht den Zuwanderern, finanziell auf ei-genen Beinen zu stehen, und fördert dadurch das Selbst-wertgefühl nicht nur des Berufstätigen, sondern auch derFamilienangehörigen. Sie ermöglicht soziale Kontakteund schafft Akzeptanz in der Bevölkerung. Dies ist auchim Interesse der Gesellschaft als Ganze. Ohne gleichbe-rechtigten Arbeitsmarktzugang können Zuwanderer sichnicht aus ihrer ökonomischen Abhängigkeit befreien. Er-werbstätigkeit ist die Grundlage für wirtschaftliche Ei-genständigkeit.Deshalb ist es notwendig, dass mit der Aufenthalts-erlaubnis automatisch auch die Aufnahme einer Er-werbstätigkeit ermöglicht wird. Die große Schwierigkeiteiner sinnvollen Bleiberechtsregelung besteht darin, ei-nerseits den unhaltbaren Zustand der Kettenduldungenabzuschaffen, andererseits aber die Zuwanderung nachDeutschland so zu steuern, dass diese auch nachhaltigeAkzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern findet. Auchhier muss die Integration die Leitlinie sein.Dazu gehört, die Arbeitsmarktverhältnisse zu akzep-tieren und die daraus resultierenden Schlussfolgerungenklar zu ziehen: Wir brauchen qualifizierte Zuwanderung.Gerade in diesem Zusammenhang müssen wir endlichauch beim Problem der sogenannten Altfälle den Tatsa-chen ehrlich ins Auge schauen. Dazu gehört auch, klar zusagen, wer im Hinblick auf den Arbeitsmarkt in Deutsch-land eine Perspektive hat und wer nicht.Wer dem Daueraufenthaltsrecht Letzterer in vermeint-lich humanitärer Gesinnung das Wort redet, riskiert diesteigende Ablehnung der Bevölkerung gegen Zuwande-rer und könnte den Boden für gesellschaftliche Spannun-gen aufgrund des Vorwurfs der Ausnutzung des Sozial-systems bereiten. Behutsamkeit in der Argumentation istwichtig.Der Antrag der Linken hat exakt die entgegengesetzteZielsetzung: Er verneint die Notwendigkeit einer eigen-ständigen Lebensunterhaltssicherung für Menschen, dieein Aufenthaltsrecht in Deutschland suchen, und akzep-tiert ausdrücklich, dass er „Kosten in unbekannter Höhedurch die Gewährung von Sozialleistungen“ verursacht.Eine solche Rücksichtslosigkeit gegenüber unseremSozialsystem trägt die FDP nicht mit.Der Antrag der Grünen ist dagegen diskussionswür-dig. Zwar weckt er ebenfalls Zweifel an der aus Sicht derFDP unverzichtbaren Forderung nach selbstverdientemLebensunterhalt, der ergänzenden SGB-II-Anspruch aus-schließt. Allerdings weisen die Grünen zu Recht daraufhin, dass die Bundesregierung lange Zeit geduldete Men-schen durch ein Arbeitsverbot an der Integration in denArbeitsmarkt gehindert hat. Zudem wollen die GrünenZu Protokollnicht das „Aufenthaltsrecht auf Probe“ durch das Auf-enthaltsrecht nach § 23 Abs. 1 Satz 1 ersetzen, wie dasdie Linkspartei tut, sondern nur die Fristsetzung, bisher31. Dezember 2009, verlängern.Das hält auch die FDP für notwendig, da nach derNeuwahl des Bundestages eine neue Gesetzgebung füreine praktikable Umsetzung zu kurzfristig ist. Deshalbhaben wir einen eigenen Gesetzentwurf eingebracht. Die„Kettenduldungen“ müssen einer nachhaltigen Lösungzugeführt werden. Wir brauchen für alle, insbesonderefür die bisher „Geduldeten“, Rechtssicherheit undRechtsklarheit und damit einen eigenständigen, jeweilsbefristeten Aufenthaltstitel. Die Diskussion hierzubraucht Zeit. Gleichzeitig müssen aber die jetzt unter diedamals geänderte Bleiberechtsregelung fallenden Perso-nen bis 2010 Sicherheit haben – bis in der neuen Legisla-turperiode dann eine tragfähige Lösung gefunden wird.
Seit nun zwei Jahren ist eine sogenannte gesetzlicheAltfallregelung in Kraft. Demnach erhält ein Bleiberecht,wer im Juli 2007 seit sechs bzw. acht Jahren in Deutsch-land lebte und eine Reihe weiterer Kriterien erfüllt. DieLinke hat von Beginn an darauf hingewiesen, dass dieseAltfallregelung völlig unzureichend ist, um den langjäh-rig Geduldeten wirklich zu helfen. Denn zentral für denErhalt des Bleiberechts ist der Nachweis des eigenständi-gen Lebensunterhalts. Dieses Gesetz trägt die Hand-schrift derjenigen, die die ökonomische Nützlichkeit vonMigrantinnen und Migranten über jede humanitäreÜberlegung stellen.Bisher haben die Menschen, die noch keine Arbeit ge-funden haben, nur eine Aufenthaltserlaubnis auf Probeerhalten. Diese Menschen müssen nun fürchten, dass ih-nen diese Aufenthaltserlaubnis am Ende des Jahres wie-der weggenommen wird. Danach droht ihnen, weiterhinjahrelang nur geduldet in Deutschland zu leben. Einigehaben auch die Abschiebung zu fürchten. Wir reden da-bei wohlgemerkt über Menschen, die dann seit mindes-tens achteinhalb Jahren in Deutschland leben, einigenoch viel länger. Und wir reden über Kinder, die dasLand noch nie zu Gesicht bekommen haben, in das siedann abgeschoben werden. Deshalb fordern wir mit un-serem Gesetzentwurf, dass bei der Verlängerung der Auf-enthaltserlaubnisse zum Jahreswechsel auf den Nach-weis des eigenständigen Lebensunterhalts verzichtetwird. Die Betroffenen sollen eine sichere Perspektive er-halten.Der nächste Bundestag wird nicht mehr rechtzeitig einGesetz auf den Weg bringen können, mit dem diesenMenschen geholfen werden kann. Allgemein ist es imAufenthaltsrecht so, dass ein Aufenthaltstitel erst einmalweiter gilt, wenn seine Verlängerung beantragt ist. Dasist in diesem Spezialfall anders – schon deshalb droht dermassenhafte Verlust von Aufenthaltserlaubnissen, so-wohl den regulären als auch den „auf Probe“ erteilten.Nur dieser Bundestag kann noch rechtzeitig eine Geset-zesänderung beschließen, die den Menschen aus diesemaufenthaltsrechtlichen Loch heraushilft.
Metadaten/Kopzeile:
25988 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Ulla JelpkeDie Probleme, denen sich die langjährig Geduldetenausgesetzt sehen, werden von genau dem Gesetz, das ih-nen angeblich helfen sollte, verursacht. Denn nach jah-relangem Arbeitsverbot musste die Anforderung, den ei-genen Lebensunterhalt ohne Hilfe bestreiten zu können,zu einem Aus-Kriterium für die Mehrheit der Betroffenenwerden. Die Zahlen bestätigen das. Seit Inkrafttreten derRegelung erhielten 80 Prozent der Antragsteller nur eineAufenthaltserlaubnis auf Probe. Das sind in Zahlen mehrals 28 000 Menschen. Derzeit sind sie mit weiteren He-rausforderungen konfrontiert: Zum einen hat der Bun-dessozialgerichtshof die Grenzen heraufgesetzt, ab derein Einkommen als ausreichend gilt. Zum anderen, unddas ist viel gravierender: Viele der Betroffenen habenauch aufgrund des jahrelangen Arbeitsverbots nur imBereich niedrig qualifizierter Beschäftigung eineChance, eine Anstellung zu erhalten. Genau in diesemBereich werden aber derzeit in der Krise Jobs einge-spart.Und da die Programme zur Integration langjährigGeduldeter in den Arbeitsmarkt erst im vergangenenJahr angelaufen sind, können sie noch gar nicht die er-wünschte Wirkung entfalten. Eine große Zahl von Wohl-fahrtsverbänden, die sich in diesem Bereich engagieren,hat den Bundestag deshalb um eine Verlängerung derAltfallregelung gebeten. Aber aus ideologischer Bor-niertheit und einer Mentalität der Abschottung habensich die Unionsvertreter noch nicht einmal von denchristlichen Kirchen hereinreden lassen, auf die sie sichsonst so gern berufen.Aber selbst wenn überraschenderweise doch nocheine Regelung getroffen werden sollte, um den aktuellBetroffenen zu helfen: Eine dauerhafte Lösung steht wei-terhin aus. Weiterhin befinden sich Menschen in einer so-genannten Kettenduldung. Statt ihnen nach einer gewis-sen Frist eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, müssensie sich von einer Duldung zur nächsten hangeln. DerAufenthalt von über 63 000 Menschen ist derzeit längerals sechs Jahre nur geduldet. Und es werden ständigmehr. Die Linke wird sich deshalb auch in der kommen-den Legislaturperiode für eine dauerhafte Bleiberechts-regelung einsetzen, die den humanitären Interessen derBetroffenen gerecht wird.
Das humanitäre Aushängeschild der Großen Koali-tion – die sogenannte Altfallregelung – droht zu schei-tern: In Deutschland leben derzeit immer noch fast130 000 Personen mit einer Duldung bzw. einer soge-nannten Aufenthaltsgestattung. Das ist das ersteProblem. Denn die Hälfte dieser Menschen lebten bereitslänger als sechs Jahre in Deutschland. Sie sollten eben-falls den Anspruch auf eine Bleibeperspektive inDeutschland haben. Da die Große Koalition aber zukeiner strukturellen Lösung willens bzw. imstande war,werden wir Grünen das Thema einer zukunftstauglichenAltfallregelung in der kommenden Wahlperiode erneutauf die Tagesordnung setzen müssen.Zu ProtokollZweites Problem: Nach der gesetzlichen Altfallrege-lung wurden 33 500 Aufenthalterlaubnisse erteilt. Aber:In über 29 000 Fällen, das sind 87 Prozent, haben dieMenschen nur eine sogenannte Aufenthalterlaubnis aufProbe erhalten. Und die kann – so sieht es das Gesetz vor– nur verlängert werden, wenn Ende 2009 „der Lebens-unterhalt des Ausländers überwiegend eigenständigdurch Erwerbstätigkeit gesichert ist“. Allen Verantwort-lichen – auch innerhalb der Regierungskoalition – istklar: Nur ein Bruchteil der Begünstigten wird die Vor-aussetzungen für die Verlängerung ihrer Aufenthaltser-laubnis auf Probe schaffen. Der Rest wird erkennbar indie alten Kettenduldungen zurückfallen.Ich sage Ihnen: Dies hat auch – aber nicht nur – mitder Wirtschaftskrise zu tun. Es ist auch die Folge vonUntätigkeit bzw. von verspätetem Handeln seitens derGroßen Koalition: Im letztjährigen Arbeitsmigrations-steuerungsgesetz etwa sind Regelungen zugunsten ar-beitsuchender Geduldeter enthalten. Aber dieses Gesetzkam so spät, dass die Vorgaben des § 104 Abs. 5 Aufent-haltsgesetz nur von ganz wenigen Menschen erfüllt wer-den können. Ebenfalls zu spät – nämlich erst Ende Juni2008 – hat die Große Koalition ihr „ESF-Bundespro-gramm zur arbeitsmarktlichen Unterstützung für Blei-beberechtigte“ aufgelegt. Aber auch hierüber werdenBegünstigte der Altfallregelung die geforderte Lebens-unterhaltssicherung nicht bis Ende 2009 nachweisenkönnen.Wir Grünen haben rechtzeitig einen Antrag auf eineangemessene Verlängerung der gesetzlichen Frist derAltfallregelung in den Bundestag eingebracht. Die GroßeKoalition jedoch war zu einem verantwortungsvollenUmgang mit diesem humanitären Problem nicht willensoder nicht in der Lage. So hat das Bundesinnenminis-trium eine frühzeitige Evaluierung der Altfallregelungrichtiggehend verschlafen. Erst Ende Mai wurden dieLänder aufgefordert, bis Mitte Juli Daten über denTransferbezug von Begünstigten der Altfallregelung be-reitzustellen. Wer so vorgeht, hintertreibt systematischeine Lösung für diese Menschen noch in dieser Wahlperi-ode.Dass die Integrationsbeauftragte der Bundesregie-rung Flüchtlinge im Regen stehen lässt, wundert inzwi-schen niemanden mehr. Auf der Bundeskonferenz für In-tegrations- und Ausländerbeauftragte hatte sie AnfangMai noch vollmundig versprochen, sich dafür einzuset-zen, die Bleiberechtsregelung um ein Jahr zu verlängern– eine Woche später unterstützte Frau Böhmer auf demTreffen der zuständigen Berichterstatter im Innenaus-schuss wieder einmal die Verschleppungstaktik des BMI.Das nenne ich nicht nur doppelzüngig, sondern auch ver-antwortungslos den Flüchtlingen gegenüber.Und die SPD? Den guten Willen möchte ich ihr nichtabsprechen. Aber nachdem die Union auf dem Treffender zuständigen Berichterstatter im Innenausschuss malwieder auf stur stellte, fiel ihr Engagement leider völligin sich zusammen. So schnell hätte sie nicht zurückste-cken dürfen.Ein letztes Wort: Eine reine Verlängerung der Frist so,wie sich das die Integrationsbeauftragtenkonferenz, aber
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25989
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
25990 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Josef Philip Winklerauch die FDP und die Linken vorstellen, reicht nicht. Wirmüssen, wie von uns Grünen gefordert, zusätzlich auchKorrekturen an den Voraussetzungen der Lebensunter-haltssicherung vornehmen. Denn was nützt eine längereFrist, wenn – wie zum Beispiel in der vorliegenden Fas-sung der Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz– jeglicher Bezug von Transferleistungen eineVerlängerung der Aufenthalterlaubnis auf Probe aus-schließen würde? Ich warne davor, dass die Innenminis-ter des Bundes und der Länder in den Verhandlungenüber die Verwaltungsvorschriften dabei sind, der Altfall-regelung endgültig den Garaus zu machen.
Tagesordnungspunkt 57 a. Wir kommen zur Abstim-
mung über den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP zur
Änderung des Gesetzes über den Aufenthalt, die Er-
werbstätigkeit und die Integration von Ausländern im
Bundesgebiet. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13494,
den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP auf Drucksache
16/13160 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung mehrheitlich abgelehnt. Damit
entfällt die dritte Beratung.
Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13494, den
Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache
16/12415 zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes abzu-
lehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mehrheitlich abgelehnt. Die dritte Be-
ratung entfällt.
Tagesordnungspunkt 57 b. Schließlich empfiehlt der In-
nenausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/13494 die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12434 mit
dem Titel „Verlängerung der Frist für die gesetzliche
Altfallregelung“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mehrheitlich angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 58 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Müller , Dr. Uschi Eid, Ute Koczy, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kenia stabilisieren – Entwicklung in Frieden
unterstützen
– Drucksachen 16/8403, 16/9457 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Anke Eymer
Gert Weisskirchen
Marina Schuster
Dr. Norman Paech
Kerstin Müller
In dieser Debatte stimmen wir in zweiter und dritter
Lesung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen „Kenia stabilisieren – Entwicklung in Frieden
unterstützen“ und die Beschlussempfehlung des Auswär-
tigen Ausschusses ab.
Vier Monate nach den Parlaments- und Präsident-
schaftswahlen konnte am 17. April 2008 eine neue Regie-
rung gebildet werden, die erste große Koalitionsregie-
rung, angeführt von den einstigen erbitterten politischen
Gegnern Präsident Kibaki und dem neuen Ministerpräsi-
denten Odinga. Der Präsident Mwai Kibaki gehört der
Ethnie der Kikuyus an, während Ministerpräsident Raila
Odinga der Ethnie der Luos angehört.
Nach den Wahlen im Dezember 2007 waren Luos auf
Kikuyus losgegangen, weil sie sich um den Sieg ihres
Spitzenkandidaten Raila Odinga betrogen fühlten. Die
Kikuyus schlugen brutal zurück. Diese Auseinanderset-
zungen forderten 1 200 Tote, und mehr als 300 000 Men-
schen wurden zu Flüchtlingen im eigenen Land gemacht.
Wie sieht die Situation heute aus? Das Land wird zwar in
einer großen Koalition mit mehr als 40 Ministern regiert.
Präsident Kibaki muss mit seinem Widersacher Odinga
als Ministerpräsident leben. Von den im Koalitionsver-
trag vorgesehenen Reformen wie die Reform des Wahl-
rechts, Reform des Boden- und Landrechts, Übertragung
von Aufgaben der Zentralregierung an die Provinzen ist
nicht eine einzige in die Tat umgesetzt worden. Keiner
der großen Korruptionsskandale der Vergangenheit
wurde aufgeklärt, es kommen immer neue hinzu. Der
wohl folgenreichste war der sogenannte Maisskandal im
Januar.
Korruption, Tribalismus, immense soziale Unter-
schiede, Armut und Gewalt sind immer noch eine Bedro-
hung des zivilen Friedens im Land. Kenia ist ein Vielvöl-
kerstaat und seit vielen Jahren ein Einwanderungsland,
mehr als 40 Ethnien leben dort und sprechen mehr als
50 verschiedene Sprachen. Auch danach muss sich die
Weiterentwicklung eines demokratischen Gesellschafts-
gefüges ausrichten.
Kenia gehört zu diesen Staaten mit einer sogenannten
defekten Demokratie. Davon gibt es in Afrika viele. Das
heißt aber vor allem, dass der demokratische Aufbruch
noch nicht vollendet ist. Die demokratischen Aufbrüche
in Afrika sind – und dazu zählt auch Kenia – Hoffnungs-
zeichen für den gesamten Kontinent. Daran knüpfen sich
auch viele Erwartungen der Nachbarn und der gesamten
Region. Die massiven Manipulationen bei den Präsident-
schaftswahlen, das Verhalten vieler Verantwortlicher in
Kenia und die Gewalt waren für viele, auch und gerade
für internationale und afrikanische Beobachter, ein
Schock. Was dort in wenigen Wochen geschehen ist, war
in dieser Härte nicht vorauszusehen. Hier hat sich ein
Krisenpotenzial gezeigt, das weit über Kenia hinaus die
ganze Region politisch und auch wirtschaftlich bedroht
hat.
Nun aber hier im Haus mangelnde Frühwarnsysteme
anzumahnen oder eine Nachlässigkeit auch auf der Seite
einer europäischen oder deutschen Afrika-Politik ablei-
ten zu wollen, ist überzogen. Das wäre auch der falsche
(C)
(D)
Anke Eymer
Ansatz. Der vorliegende Antrag geht hier teilweise deut-
lich zu weit. Aus dieser Krise aber Erkenntnisse für die
Zukunft und unsere weitere Zusammenarbeit mit Kenia
zu ziehen, ist natürlich wichtig und unverzichtbar. Es
geht darum, das bisher Erreichte nicht leichtfertig zu ris-
kieren und den demokratischen Prozess in Kenia fortzu-
setzen. Auch die internationalen Partner Kenias, vor al-
lem die Länder der Afrikanischen Union, die Partner der
NEPAD, die Europäische Union und auch wir in
Deutschland, müssen auf die Einhaltung getroffener Ver-
pflichtungen für mehr Demokratie und Rechtsstaatlich-
keit beharren.
Mehr noch mahnt uns deren Opfer, aus dieser Krise
für die Zukunft zu lernen. Im Gegensatz zu den schnellen
Schuldzuweisungen – leider auch im vorliegenden An-
trag –, plädiere ich dafür, an dem Kurs unserer deutschen
Politik festzuhalten und ihn nicht schlechtzureden. Die
Zusammenarbeit mit Kenia als Schwerpunktland für das
östliche Afrika ist für das deutsche Engagement unver-
zichtbar und muss auf hohem Niveau gehalten werden.
Der vorliegende Antrag bietet mir dafür nicht die not-
wendige ausgewogene Grundlage.
Wenn wir einmal von der medialen Aufmerksamkeitabsehen, die die Inhaftierung von somalischen Piraten inMombasa erregt hat, dann müssen wir feststellen, dass esseit über einem Jahr still um Kenia geworden ist.Nur noch ab und zu berichten westliche Medien vonSkandalen, die die neue Koalitionsregierung von Präsi-dent Kibaki und Ministerpräsident Odinga erschüttern.Im gleichen Atemzug verweisen Beobachter vor Ort aufden nach wie vor fragilen Frieden, den diese Koalitions-regierung seit ihrer Amtsübernahme am 13. April 2008zu bewahren sucht.Dieser fragile Frieden hält nun schon seit 14 Mona-ten. Es ist daher an der Zeit, dass wir uns die Situation inKenia noch einmal vor Augen führen. Ferner sollten wirdiese Gelegenheit nutzen, um eine Einschätzung vorzu-nehmen, inwieweit unser Engagement dazu beigetragenhat, die Situation in Kenia zu stabilisieren und die Ent-wicklung und den Frieden zu unterstützen.Wir erinnern uns: Im Nachgang zu den Präsident-schaftswahlen am 27. Dezember 2007 kam es zu schwe-ren Auseinandersetzungen zwischen Anhängern derRegierung und der Oppositionsparteien. Da die keniani-schen Politiker bereits im Vorfeld der Wahlen auf dieInstrumentalisierung ethnischer Zugehörigkeit im poli-tischen Machtkampf gesetzt hatten, war diese Auseinan-dersetzung zugleich ein Kampf zwischen der herrschen-den Gruppe der Kikuyu und den übrigen Ethnien, vorallem den Luo und Kalenjin.Von den gewaltsamen Auseinandersetzungen beson-ders betroffen waren die fruchtbare und wirtschaftlichdaher besonders wichtige Provinz Rift Valley und dieElendsquartiere rund um die Hauptstadt Nairobi. Inner-halb weniger Tage fielen den Todesschwadronen, Milizenund selbsternannten Warlords etwa 1 500 Menschen zumZu ProtokollOpfer. Über 300 000 Menschen wurden aus ihren Häu-sern und von ihrem Land vertrieben.Deutschland hat auf den Ausbruch der schweren Krisein Kenia umgehend reagiert. So hat die BundesregierungPräsident Kibaki aufgrund der offensichtlichen Wahlfäl-schungen explizit von einer Gratulation ausgenommenund ihm damit die Anerkennung des Wahlsieges ver-wehrt. Ferner unterstützte Außenminister Steinmeier dieVermittlungsbemühungen des ehemaligen UN-General-sekretärs Kofi Annan und setzte sich – gemeinsam mitBundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul – für eingemeinsames europäisches Vorgehen gegenüber der Re-gierung Kibaki ein.Anfang Februar 2008 reiste Staatsminister GernotErler auf Bitte Kofi Annans als Vermittler nach Kenia.Staatsminister Erler klärte die Konfliktparteien im Ver-lauf intensiver Gespräche darüber auf, wie nach einerknappen Wahlentscheidung eine gemeinsame Regierunggebildet werden kann. Er verwies dabei explizit auf diedeutschen Erfahrungen mit der Bildung von Großen Ko-alitionen. Die diplomatischen Aktivitäten wurden durchrege Diskussionen über das weitere Vorgehen bei derEntwicklungszusammenarbeit ergänzt. So forderteHeidemarie Wieczorek-Zeul spürbare Konsequenzen fürdie Regierung Kibaki und setzte sich dafür ein, die di-rekte Finanzhilfe aus dem Europäischen Entwicklungs-fonds an Kenia einzufrieren.Zahlreiche Stimmen, wie zum Beispiel die Fraktionder Grünen, sprachen sich darüber hinaus dafür aus, dieFortführung der Entwicklungszusammenarbeit weit-gehend von der Kompromissbereitschaft der RegierungKibaki abhängig zu machen. Auf diese Weise sollte diekenianische Regierung dazu gezwungen werden, Neu-wahlen auszurufen oder Odingas OppositionsbündnisOrange Democratic Movement an der Macht zu beteili-gen.Die friedliche Lösung der Krise gelang schließlichdurch die Bildung einer Großen Koalition, wie sie Staats-minister Erler bereits auf seiner Kenia-Reise im Februarvorgeschlagen hatte. An der Vorbereitung und Vermitt-lung dieser Lösung waren neben Kofi Annan auch anderePersönlichkeiten der afrikanischen Politik, wie zum Bei-spiel der südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu undder damalige Vorsitzende der Afrikanischen Union JohnKufuor, maßgeblich beteiligt. Ihren Gesprächen – in Ver-bindung mit massivem internationalen Druck – ist es zuverdanken, dass Präsident Kibaki und MinisterpräsidentOdinga seit April 2008 gemeinsam das Land regieren.Ihnen zur Seite steht ein Kabinett mit nicht weniger als42 Ministern aus beiden Lagern. Die Klagen über Kor-ruption und Vetternwirtschaft sind seit dem nicht leisergeworden. Doch immerhin hat die Beteiligung des Oppo-sitionsbündnisses an der Regierung die blutige Krisevorerst beendet.Welche Lehren haben wir in Deutschland aus derKrise in Kenia und aus ihrer Überwindung gezogen? Dieblutige Krise in Kenia ist vorrangig durch diplomatischeEinmischung und weniger durch einen kurzfristigen Ak-tionismus in der Entwicklungszusammenarbeit überwun-den worden. Eine der zentralen Lehren, die ich aus den
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25991
gegebene Reden
(C)
(D)
Brunhilde IrberEreignissen in Kenia gezogen habe, ist die, dass wir un-sere Entwicklungszusammenarbeit mit einem Partner-land nicht von kurzfristigen politischen Erwägungen ab-hängig machen sollten.Ich halte es zwar für richtig, durch die Aussetzung di-rekter Finanztransfers oder auf die Regierungsmitgliederzielende Sanktionen deutliche Signale zu setzen. Dochsollte die Fortführung der Entwicklungszusammenarbeit– anders als es in dem Antrag der Grünen suggeriertwird – nicht infrage gestellt werden. Schließlich geht esdarum, die jeweilige Regierung unter Druck zu setzenund nicht die Menschen für das Verhalten ihrer Regie-rung zu bestrafen. Gerade in Kenia hätte das Ausbleibenunserer Hilfs- und Entwicklungsarbeit die humanitäre Si-tuation zusätzlich verschlimmert.Neben diesen humanitären Überlegungen gibt es zweiweitere Gründe, weshalb es sinnvoll ist, keine kurzfris-tige Kürzung der Entwicklungszusammenarbeit zu ver-anlassen.Erstens wissen wir heute, dass Entwicklungszusam-menarbeit sehr langfristig angelegt sein muss. Entwick-lung und vor allem Demokratisierung sind Prozesse, dieJahrzehnte in Anspruch nehmen und nicht durch einzelneVerfassungsänderungen oder Regierungswechsel zumAbschluss zu bringen sind. Wenn ein wichtiger Partnerwie Kenia eine kritische politische Phase durchläuft,sollte unsere Überlegung nicht dahin gehen, wie wir unsmöglichst schnell von ihm distanzieren können. UnsereÜberlegung sollte vielmehr sein, wie wir die verfügbarenMittel am besten einsetzen können, um diese Krise zu be-enden. Eine Konsequenz der Wahlfälschungen ist zumBeispiel der veränderte Einsatz der Mittel des Europäi-schen Entwicklungsfonds, für den wir uns in Brüsselstark gemacht haben. So wird von den 383 MillionenEuro, die für Kenia vorgesehen sind, kein einziger Centin die allgemeine Budgethilfe fließen.Der zweite Grund dafür, dass wir unsere Entwick-lungszusammenarbeit nicht als kurzfristiges politischesDruckmittel einsetzten sollten, liegt ebenfalls auf derHand: Kenia ist für die Stabilisierung der Region dergroßen Seen und des Horns von Afrika von nicht zu un-terschätzender Bedeutung. Ein Abzug unserer Unterstüt-zung könnte eine fatale internationale Signalwirkunghaben und letztlich das bewirken, was die Entwicklungs-pessimisten schon zuvor beschworen haben: den Zerfalldes Landes und die Radikalisierung der Bevölkerung.Was wir aber tun können, ist eine stärkere Verlagerungder Entwicklungszusammenarbeit. So sollte die Bundes-regierung die zur Verfügung stehenden Mittel stärker zurFörderung guter Regierungsführung einsetzen. Da eineZusammenarbeit in diesem sensiblen Bereich auch mitder jetzigen Koalitionsregierung – die noch immer vonWahlbetrüger Kibaki geleitet wird – nur bedingt erfolg-versprechend ist, sollten die Mittel auf zwei andere Maß-nahmen konzentriert werden: die Unterstützung des Par-laments und die Förderung der Zivilgesellschaft zumBeispiel über politische Stiftungen.Die Unterstützung des Parlaments ist mir dabei einbesonderes Anliegen. Denn es besteht in Kenia heutewieder die realistische Perspektive, dass die AustragungZu Protokolldes politischen Konflikts zwischen Regierung und Oppo-sition auf das Parlament verlagert werden kann. Die ke-nianische Volksvertretung hat in den letzten Jahren deut-liche Fortschritte gemacht. Sie ist heute in erheblichgrößerem Maße als zuvor ein Ort der politischen Debatteund ein Instrument zur Kontrolle der Regierung. Auchsollten wir nicht übersehen, dass bei den Wahlen vieleKabinettsmitglieder und andere Abgeordnete, die alskorrupt galten, abgewählt wurden. Positiv zu bewertensind zudem die hohe Wahlbeteiligung und der relativfriedliche Verlauf der Wahlen vor der Stimmenauszäh-lung.Diese richtungweisende Entwicklung gilt es zu unter-stützen. Ich fordere die Bundesregierung daher auf, dieDurchführung der für 2012 angesetzten Wahlen in Keniaeffektiv zu unterstützen. Ferner rufe ich die Bundesregie-rung auf, die Arbeit des kenianischen Parlaments zu för-dern. Über Parlamentarierorganisation, wie sie bereitsmit dem Panafrikanischen Parlament, der East AfricanLegislative Assembly und vor allem der Assoziation Eu-ropäischer Parlamentarier für Afrika – AWEPA – beste-hen, können wir echte Kontrollinstanzen gegenüber derRegierung aufbauen. So übernimmt AWEPA, derenDeutschlandabteilung ich seit über einem Jahr leite, be-reits heute eine wichtige Funktion bei der Förderung vonDemokratie und Parlamentarismus in Afrika. Als eineüberparteiliche Organisation von aktiven und ehemali-gen Abgeordneten versammelt AWEPA ein breites Spek-trum an Wissen über die Funktionsweise und die Aufga-ben von Parlamenten. Dieses Wissen wird im Rahmenvon Konferenzen und Workshops aktiv an afrikanischeParlamentarier weitergegeben. Denn gerade in afrikani-schen Ländern, in denen traditionell ein großer Teil derMacht in den Händen der Präsidenten liegt, ist ein parla-mentarischer Ausgleich wichtig. Nur ein funktionieren-des Parlament ist in der Lage die Regierung zu kontrol-lieren, ob sie die erhaltene Entwicklungshilfe für dievorab bestimmten Aufgaben verwendet oder nicht. Damitist ein funktionierendes Parlament eine der zentralen Vo-raussetzungen, um die tief gespaltene Gesellschaft Ke-nias zu stabilisieren und die Entwicklung und den Frie-den zu unterstützen.Gleichermaßen sollten zivilgesellschaftliche Struktu-ren unterstützt werden. Auf diese Weise können die offenzutage getretenen Stammesunterschiede abgebaut undein einheitliches Nationalgefühl aufgebaut werden. Wirglauben nicht, dass diese Ziele mit den von den Grünengeforderten Maßnahmen zu erreichen sind. Deshalb leh-nen wir den Antrag der Grünen ab und stimmen für dieBeschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses.
Vor nicht allzu langer Zeit galt Kenia noch als Vorzei-geland. Kenia stand für politische Stabilität am fragilenHorn von Afrika. Kenia stand für demokratische Refor-men und auch für marktwirtschaftliche Entwicklung.Doch der Wahlbetrug und die blutigen Unruhen zeigten,was die FDP-Fraktion schon lange davor befürchtet hat.Das „Erfolgsmodell Kenia“ hat so nie existiert. Bereitsim März 2006 haben wir einen Antrag zur Überprüfung
Metadaten/Kopzeile:
25992 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Marina Schusterder Entwicklungszusammenarbeit in Kenia eingebracht,weil uns die Entwicklungen im Lande sehr beunruhigten.Die Hoffnungen, die in Mwai Kibaki von der NationalRainbow Coalition Party, NARC, gesetzt wurden, hattensich zwei Jahre nach der Machtübernahme von DanielArap Moi leider nicht bestätigt. Kibaki war Ende 2002mit dem Versprechen angetreten, die weitverbreitete Kor-ruption in Kenia zu beenden. Doch bald häuften sich wie-der Meldungen zu undurchsichtigen Zwischenfällen. We-gen des Verdachtes der Korruption hat die kenianischePolizei im Februar 2006 20 prominente Politiker undGeschäftsleute aufgefordert, ihre Pässe abzugeben. JohnGithongo, der vom Präsidenten bestellte Korruptionsbe-auftragte, ist bereits 2005 nach London geflohen, zer-mürbt von Todesdrohungen. Seit 2002 sollen Beste-chungsgelder von bis zu 1 Milliarde US-Dollar gezahltworden sein.Ich freue mich, dass John Githongo – seit 2006 Trägerdes Deutschen Afrika-Preises – nun wieder nach Keniazurückgekehrt ist. Aber nach wie vor hat Kenia einenschweren Weg vor sich. Und man hat hier manchmal denEindruck, dass Kenia im Vergleich zum Einsatz gegen diePiraterie von der Bundesregierung nicht die notwendigeAufmerksamkeit erhält.Dabei gerät die Situation in Kenia immer mehr außerKontrolle. Die Machtteilung zwischen Präsident Kibakiund Premierminister Odinga, dem einstigen Opposi-tionsführer, funktioniert schlecht. Mit über 40 Kabinetts-mitgliedern ist diese Regierung mehr mit sich selbst be-schäftigt als daran, Verbesserungen für die Bevölkerungzu erreichen. Die Regierung der nationalen Einheit, vomehemaligen VN-Generalsekretär Kofi Annan vor einemJahr vermittelt, steht kurz vor dem Zusammenbruch. Mitder Justizministerin Karua ist im April auch die letzteHoffnung geschwunden, in drei Jahren eine Verfassungzu verabschieden. Kibaki scheint drängende Problemeauf Kosten der Entwicklung seines Landes auszusitzen.Doch auch Schwarzmalerei hilft hier nicht weiter. Ja,Kibakis unverantwortlicher Führungsstil ist eineschwere Hypothek. Aber noch haben wir in Kenia, an-ders als in Somalia, ein gewisses Maß an Staatlichkeit.Darauf müssen wir aufbauen. In dieser Überzeugung ha-ben die Grünen mit ihrem vorliegenden Antrag bereitsvor einem Jahr ganz eindeutige Forderungen an die Bun-desregierung gestellt. Sie appellieren an ihre Verantwor-tung zu unverzüglicher und effektiver Hilfe. Denn dieBundesregierung darf nicht ein weiteres Mal unvorberei-tet von den Entwicklungen in Kenia überrollt werden.Die internationale Staatengemeinschaft ist aufgefor-dert, den Kenianern die notwendige diplomatische undwirtschaftliche Rückendeckung zu geben, um ihren Bei-trag gegen ein Wiederaufflammen der Kämpfe zu leisten.Leider ist die Bundesregierung bisher hinter ihren Mög-lichkeiten zurückgeblieben. Nehmen wir die Entwick-lungszusammenarbeit. Es war ein unglaublicher Skandal,dass der Europäische Entwicklungsfonds unmittelbarnach der Wahl 40 Millionen Euro Budgethilfe direkt andie korrupte kenianische Staatskasse überwiesen hat.Zwischen Weihnachten und Silvester waren wohl in Brüs-Zu Protokollsel alle ausgeflogen, und die Terminüberweisung machte– Business as usual – unbemerkt ihren Weg nach Kenia.Ich frage deswegen hier und heute: Welche Konsequen-zen haben Sie aus diesen Fehlern gezogen? Gibt es ver-bindliche, neue Kontrollstrukturen, damit so etwas nichtmehr passieren kann? Denn es gilt doch endlich, ausFehlern zu lernen. Da sind in vielen Jahrzehnten Ent-wicklungshilfe genug gemacht worden. Gerade dasInstrument der Budgethilfe sehen wir grundsätzlich kri-tisch, und für Kenia war es schon lange nicht geeignet.Wir dürfen uns auf bilateraler Ebene nicht auf kor-rupte Regierungen stützen, sondern müssen gute Regie-rungsführung in den Mittelpunkt stellen. Dazu gehörtauch, dass man afrikanische Partner auf Augenhöhe be-trachtet; denn sie selbst sind für die Entwicklung in ih-rem Land zuallererst verantwortlich. Das sagen auchafrikanische Forscher wie James Shikwati aus Keniaoder Dambisa Moyo aus Sambia. Wir müssen deren Stim-men endlich ernst nehmen.Gerne unterstützen wir Kenia durch Rat und Tat beimUmbau seines Staatssystems, bei der Vorbereitung dernächsten Wahlen und geben fachlichen Rat bei der Um-setzung der so dringend notwendigen Wirtschafts-, So-zial- und Bildungsreformen. Dafür müssen wir aber auchdie kenianische Regierung in die Pflicht nehmen. Dennmehr Geld heißt doch nicht mehr Entwicklung, geradewenn es in die falschen Hände fließt.Wir sind auf ein starkes und sicheres Kenia angewie-sen. Denn die Stabilität der ganzen Region hängt davonab. Darum ist es erforderlich, den vorliegenden Antragum eine regionale Perspektive zu ergänzen. Ich denke,dies liegt auch im Interesse meiner geschätzten KolleginDr. Uschi Eid von den Grünen. Ich bedauere, dass sie mitihren großen Fachkenntnissen nicht mehr dem nächstenDeutschen Bundestag angehören wird.Vergessen wir nicht: Kenia ist Transitland für die Ver-sorgung vieler zentralafrikanischer Länder. Der Hafenvon Mombasa ist ein gewichtiger Umschlagplatz. Keniaist auch Zufluchtsort Hunderttausender somalischerFlüchtlinge und neuerdings auch Zielort festgesetzter Pi-raten. Wir haben also ein elementares Interesse an funk-tionierenden rechtstaatlichen Strukturen. Darum frageich die Bundesregierung: Welchen regionalen Ansatz se-hen Sie in Kenia heute? Warum haben Sie bis heute keinKonzept für das Horn von Afrika ausgearbeitet?Kenia kann dem vereinfachenden Bild eines Vorzeige-lands nicht mehr gerecht werden. Kenia steht vielmehrals Beispiel dafür, dass auf dem Weg zu politischem Wan-del viele Hürden zu überwinden sind. Dies kann nur mitinternationaler Vermittlung und passgenauer Unterstüt-zung gelingen. Dies ist die Kernaussage des Antrags vonBündnis 90/Die Grünen, dem die FDP-Bundestagsfrak-tion zustimmen wird.„Friede ist ein Prozess, ein Weg, Probleme zu lösen“,hat John F. Kennedy einmal gesagt. Das setzt für michvoraus, die Probleme erst einmal zu erkennen. Auf dieserBasis fordere ich die Bundesregierung auf, sichengagierter in Kenia einzubringen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25993
gegebene Reden
(C)
(D)
Der Antrag, der heute zur Abstimmung vorliegt,wurde vor über einem Jahr vor dem Hintergrund dermehrwöchigen bürgerkriegsähnlichen Gewalt nach denWahlen in Kenia verfasst. Trotz des damals bereits ausge-handelten Machtteilungsabkommens betonten die An-tragsteller, dass der innere Frieden gefährdet bleibe unddie politische Krise des Landes noch lange nicht über-wunden sei. Leider haben weder Antrag noch Lageein-schätzung an Aktualität verloren.Beobachter berichten über häufige örtliche Konflikte,die derzeit zwar auf niedrigem Niveau bleiben, aber einerhebliches Eskalationspotenzial in sich bergen. Zuletztkam es im April in der Region Kirinyagi zu Kämpfen, beidenen über 40 Menschen starben. Auch reißt die Serievon Übergriffen staatlicher Sicherheitskräfte auf Journa-listen, Oppositionelle und Bevölkerung nicht ab. Ein ak-tueller Bericht von Human Rights Watch dokumentiertdie massive Staatsgewalt im Zuge einer Entwaffnungsak-tion von Milizen im Oktober 2008 im Nordosten Kenias,bei der Hunderte Zivilisten geschlagen, gefoltert undFrauen vergewaltigt wurden. Der Fall wirft ein Schlag-licht auf die Brutalität und das Klima der Straflosigkeitim kenianischen Gewaltapparat. Bezeichnend ist, dassauch der Bericht der Waki-Kommission, in dem nachge-wiesen wurde, dass Anfang 2008 rund 400 Menschendurch unverhältnismäßige Polizeigewalt getötet wurden,bis heute ohne politische Folgen blieb.Die sozioökonomischen Konfliktursachen, die damalszur Gewalteskalation beitrugen, sind nicht entschärft.Aufgrund der Weltwirtschafts- und Finanzkrise sowie in-folge der Ausschreitungen brach Kenias Wirtschaft imletzten Jahr ein. Ein Wachstum von nur 1,7 Prozent – ge-genüber 7 Prozent in 2007 –, gepaart mit 20 ProzentInflation, verschlimmert die soziale Lage im Land dras-tisch, das außerdem von der Nahrungsmittelkrise massivbetroffen war. Zwar liegen die Lebensmittelpreise heutewieder unter denen des Vorjahres, doch selbst Grund-nahrungsmittel sind für viele Kenianer und Kenianerin-nen unerschwinglich. Verschärft wird dies durchwitterungsbedingte Ernteausfälle. Nach aktuellen Schät-zungen benötigen rund 6,5 Millionen Menschen Nah-rungsmittelhilfen. Beobachter warnen daher vor sozialenUnruhen und wachsenden Spannungen zwischen Bevöl-kerungsgruppen. Zudem verweisen sie darauf, dass Poli-tiker auf nationaler wie auf lokaler Ebene durch dieverstärkte ethnische Instrumentalisierung der sozioöko-nomischen Konflikte zusätzlich Öl ins Feuer gießen.Die Hoffnungen, die in die durch internationale Ver-mittlung zustande gekommene Koalitionsregierung ausallen Konfliktakteuren – Kibaki, Odinga und deren Par-teien PNU, ODM sowie der KANU – gelegt wurden, er-füllten sich nicht. Ihre rund einjährige Amtszeit ist durchBlockaden und Machtrivalitäten, durch Skandale, Kor-ruption und die Verschleppung vereinbarter Reformen,unter anderem der Verfassungsreform, geprägt.Besonders besorgniserregend ist, dass die Regierungkeine der im Machtteilungsabkommen vereinbartenMaßnahmen zur Überwindung der politischen Krise, zurAufarbeitung der Gewalt und zur nationalen AussöhnungZu Protokollumgesetzt hat. So hat die Kommission für Wahrheit, Ge-rechtigkeit und Versöhnung, TJRC, bis heute ihre Arbeitnicht aufgenommen. Durch die politische Blockade derTJRC unterblieb auch die Einrichtung des Sondertribu-nals zur Verurteilung von Gewalttätern sowie den verant-wortlichen Hintermännern.Auf dem Kursgipfel, der Ende März in Genf stattfand,überstellte der Leiter der Untersuchungskommission zurAufklärung der Gewalt, Philip Waki, eine Liste mit zehnmaßgeblichen Verdächtigten an den damaligen Chefver-mittler Kofi Annan. Darauf befinden sich angeblich dieheutigen Minister Uhuru Kenyatta und William Ruto.Bislang machte Annan seine Drohung nicht wahr, dieListe an den Internationalen Strafgerichtshof weiterzu-leiten. Seine nach dem ergebnislosen Gipfel geäußerteWarnung, dass die fortgesetzte Blockade der TJRC sowiedas Verschleppen der Reformen eine erneute – gewalt-same – Krise heraufbeschwören, richtet sich auch an dieinternationale Gemeinschaft.Anstelle weiter die Augen vor der zunehmenden Insta-bilität in Kenia zu verschließen, muss diese mit neuenVermittlungsangeboten und konzertierten politischen Ini-tiativen aktiv werden. Dabei ist ausdrücklich die Bundes-regierung gefordert, die sich ihrer guten Beziehungen zuKenia rühmt und die im letzten Jahr Anteil am Zustande-kommen der Koalitionsregierung hatte. Die damaligenBemühungen zeigten, dass externes Engagement zum Er-folg führen kann. Umso schwerer wiegt die darauf fol-gende Tatenlosigkeit.Die Linke fordert von der Bundesregierung, dass siesich bilateral, auf europäischer und internationalerEbene endlich sichtbar und glaubwürdig für eine ursa-chenbezogene Konfliktbearbeitung im ostafrikanischenLand einsetzt.Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Es ist jetzt eineinhalb Jahre her, dass wir Zeugen bei-spielloser brutaler Gewalt in Kenia geworden sind.Die ethnisch aufgeladenen Ausschreitungen nach dengefälschten Wahlen vom Dezember 2007 forderten1 500 Tote; die Menschen wurden teils sogar zerhackt,viele Frauen vergewaltigt. Mehr als 300 000 Menschenwurden zu Flüchtlingen im eigenen Land. Erst nach zä-hen Verhandlungen gelang es dem Vermittler Kofi Annan,die Widersacher Präsident Mwai Kibaki und seinem He-rausforderer Raila Odinga zur Bildung einer GroßenKoalition zu bewegen.In Kenia haben wir gesehen, was es heißt, wenn wirdie Anzeichen einer Krise wie überbordende Korruption,Jugendarbeitslosigkeit und Massenarmut über Jahre ein-fach ignorieren. In Kenia haben sämtliche Frühwarnsen-soren der Konfliktprävention versagt, weil in Afrikas so-genanntem Musterland nicht sein konnte, was nicht seindurfte. Das darf uns jetzt nicht noch einmal passieren.Gerade die Geschichte Kenias zeigt uns immer wieder:Nach der Krise ist vor der Krise. Deshalb fordern wir mitunserem vorliegenden Antrag die Bundesregierung auf,gegenüber der kenianischen Regierung darauf zu behar-
Metadaten/Kopzeile:
25994 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25995
(C)
(D)
Kerstin Müller
ren, dass sie ihre Versprechen auch einlöst. Sie muss dieKrise aufarbeiten und die notwendigen Reformschritteendlich gehen, um die Ursachen für die Spannungen unddie Gewalt im Land dauerhaft zu bekämpfen. Das istheute nötiger denn je. Denn der Reformeifer in Keniasgroßer Koalition ist bereits erlahmt, ehe er überhauptErgebnisse hervorgebracht hat. Weder die Verfassungs-reform, die Landreform noch die Einsetzung eines Son-dertribunals zur Untersuchung der Menschenrechtsver-brechen stehen mehr auf der Agenda.Die Ausgangsprobleme für die Gewalt, die Korrup-tion, die Armut und der Ausgleich zwischen den verschie-denen Ethnien, bestehen nicht nur weiter fort, sie ver-schärfen sich sogar wieder. Darüber darf uns auch diebeispiellose „Obama-Mania“ in Kenia nicht hinwegtäu-schen, die wir mit der Präsidentschaftswahl in den USAgesehen haben. Den Menschen geht es nicht besser. Um-fragen zeigen: 70 Prozent der Bevölkerung sind von ihrerRegierung maßlos enttäuscht. „Das ganze Land lebt in-zwischen in einem Zustand der Angst“, sagt der von derRegierung geschasste Korruptionsjäger Githongo. Ichfinde es deshalb umso bedauerlicher, dass die Koali-tionsfraktion unserem Antrag heute nicht zustimmen will.Anstatt die Probleme anzugehen, kultiviert der ganzeStaatsapparat die notorische Korruption einfach weiter.Die Regierungsminister gönnen sich als eine der erstenAmtshandlungen 150 neue Mercedes-Limousinen, ma-chen teure Auslandsreisen und mischen weiter in zwie-lichtigen Geschäften in der Landwirtschaft, Öl- und Tou-rismusindustrie mit und stecken hohe Gewinne ein.Gleichzeitig fordern sie internationale Unterstützung indreistelliger Millionenhöhe zur Überwindung der Le-bensmittelkrise. Das ist schamlos und nicht akzeptabel.Die Minister der Regierungskoalition sind ihrem Ruf, derihnen schon 2008 vorausgeeilt ist, voll und ganz gerechtgeworden: „Kibaki und die 40 Räuber“ hatten mancheZeitungen getitelt.Als wenn das noch nicht genug wäre, sieht sich heuteder Chefermittler des IstGH, Ocampo, genötigt, den ke-nianischen Justizminister samt Staatsanwaltschaft nachDen Haag zu zitieren. Denn Regierung und Parlamentsind trotz ihrer Zusage noch immer nicht bereit, die Ge-waltwelle von 2008 durch ein Sondertribunal untersu-chen zu lassen, und das, obwohl die Faktenlage des soge-nannten Waki-Untersuchungsberichts vom Oktober 2008erdrückend ist.Der Kenia-Sonderberichterstatter der UNO, PhilipAlston, setzt jetzt noch einen drauf: Seine Untersuchun-gen haben ergeben, dass der amtierende Polizeichef2008 für gezielte Tötungen verantwortlich sei und be-stimmte Richter entsprechende Verfahren verschleppenwürden. Alston fordert deshalb dringend die Absetzungdes Polizeichefs und den Austausch der korrupten Rich-ter. Doch die Regierung in Nairobi schweigt weiter be-harrlich.Kenia ist auf dem besten Weg, seine gewalttätige Ge-schichte zu wiederholen. Wenn der kenianische Staat sichnicht um die Opfer kümmern will, dann muss das derIStGH übernehmen. Es kann ohne Gerechtigkeit keinendauerhaften Frieden in Kenia geben. Dazu muss die ke-nianische Regierung den entgleisten Reformzug wiederauf die Spur bringen, damit er schleunigst Fahrt aufneh-men kann. Die Bundesregierung und die EU sollten siedabei unterstützen, wie in unserem Antrag gefordert. Siesollten aber gleichzeitig auch den Druck erhöhen, gege-benenfalls bis hin zu Sanktionen gegen Regierungsmit-glieder, die die Bekämpfung der Ursachen der Krise wei-terhin vereiteln.Es wäre ein verheerendes Signal für afrikanischePolitiker, wenn das Machtteilungsmodell „große Koali-tion“ bei seinem ersten Testlauf auf dem Kontinent er-gebnislos scheitern würde. Wir dürfen ein Abgleiten Ke-nias aber auch deshalb nicht zulassen, weil das Horn vonAfrika auf den Stabilitätsanker Kenia angewiesen ist alsehrlicher Friedensmakler und auch als Drehkreuz für hu-manitäre Hilfe. Doch mit dem Vormarsch von al-Qaida-Kämpfern von Somalia aus und neuen Unruhen im an-grenzenden Südsudan wächst der Druck auf Kenia nichtnur von innen, sondern zunehmend auch von außen.Wir dürfen nicht zulassen, dass die prekäre Lage inKenia heute, morgen in eine dauerhafte Instabilität inKenia und der Region umschlägt. Es ist 5 vor 12. Neh-men sie die Konfliktprävention endlich ernst, und han-deln sie nicht erst wieder, wenn bereits Menschen ster-ben.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/9457, den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8403 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mehrheitlich angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 59 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Ernst Burgbacher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Kommunale Betreuung bei der Grundsiche-
rung für Arbeitssuchende stärken
– Drucksache 16/9339 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Der Antrag der FDP, den wir heute beraten, ist mehr
als ein Jahr alt. Er hatte vielleicht in Bezug auf das da-
mals diskutierte „kooperative Jobcenter“ seine Berechti-
gung. Heute ist er weitgehend überholt. Die Entfristung
der Option hatte Bundesarbeitsminister Scholz im April
2008 zugesagt. Das entspricht einer Forderung der
Union und wird unterstützt.
Im Koalitionsvertrag wurde für die Organisation der
Grundsicherung für Arbeitsuchende eine „Vertrauens-
klausel für optierende Kommunen“ vereinbart. Darin ist
(C)
(D)
Karl Schiewerling
geregelt, dass die derzeit geltende gesetzliche Regelung
für Kommunen zu optieren im bisherigen Umfang nach
dem 31. Dezember 2010 um weitere drei Jahre verlängert
werden soll. Der Koalitionsvertrag stellt dabei klar, dass
dies auch für den Fall gelten soll, dass „es bei der in
2008 anstehenden Evaluation zu keiner gemeinsamen
Bewertung und Schlussfolgerung der Koalitionspartner
kommen“ sollte. Bekanntermaßen ist dieser Fall nun-
mehr eingetreten.
Entsprechend dieser Koalitionsvereinbarung hat sich
der Bundesarbeitsminister im letzten Jahr mehrfach ge-
äußert und zugesagt, dass eine Optionsverlängerung bis
2013 zu ermöglichen ist, selbst wenn im Hinblick auf eine
Neuorganisation der Trägerschaft im SGB II eine Eini-
gung nicht zustande kommt.
Ich bedaure sehr, dass es in der Koalition nicht gelun-
gen ist, noch in dieser Legislaturperiode eine Lösung zur
Neuorganisation der Argen aufgrund des Urteils des
Bundesverfassungsgerichtes zu erzielen. Ich will das
nicht im Einzelnen bewerten. Wir erwarten aber, dass die
bisher gemeinsam getroffenen Absprachen in der Koali-
tion halten.
Die Entfristung und Öffnung des Optionsmodells war
und ist das gemeinsame Ziel der CDU/CSU-Bundestags-
fraktion und der unionsgeführten Bundesländer gewe-
sen. Insofern hat die FDP mit ihrem Antrag diesen rich-
tigen und vernünftigen Gedanken übernommen.
Die CDU hat sich im Bereich des SGB II immer dafür
ausgesprochen, dass Kommunen, die optieren wollen,
dies auch können. Die Kommunen mit ihrem jugend-, so-
zial-, familien- und bildungspolitischen Know-how lie-
fern dafür gute Argumente. Vor diesem Hintergrund hat
die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bei allen Reformen
wie zuletzt bei der Neuausrichtung der arbeitsmarktpoli-
tischen Instrumente versucht, den Einfluss der Kommu-
nen zu verteidigen bzw. wenn möglich auszubauen. Mit
dem neuen § 16 f SGB II und den §§ 45 und 46 SGB III
ist dies gut gelungen.
Im Zentrum aller nun anstehenden Beratungen muss
stehen, wie die Leistungen im Interesse der Hilfebedürfti-
gen möglichst bürgernah, effektiv und nachvollziehbar
erbracht werden. Es gibt sehr gute Optionskommunen
und weniger erfolgreiche Optionskommunen, sehr gute
und weniger erfolgreiche Argen. Viele Kommunen wer-
den nicht optieren wollen. Die Organisationsreform muss
erreichen, dass wir dem Ziel „Hilfe aus einer Hand“
auch ohne Verfassungsänderung sehr nahe kommen. Da-
her kann der Blick nicht nur auf die Optionskommunen
gerichtet werden. Wir müssen schnell eine verfassungs-
konforme Lösung finden, die den betroffenen Menschen,
die auf SGB-II-Leistungen angewiesen sind, gerecht
wird. Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt aus diesem
Grund eine SGB-II-Neuorganisation, die die Aufgaben-
wahrnehmung erleichtert. Hierfür sind klare Zuständig-
keiten und die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips un-
erlässlich.
Deshalb muss dieses Thema in der nächsten Legisla-
turperiode mit hoher Priorität angegangen werden. Wir
brauchen eine dauerhafte und gute SGB-II-Organisa-
Zu Protokoll
tion, im Interesse der Betroffenen und im Interesse der
dort tätigen Mitarbeiter.
Erinnern Sie sich? Die ersten Film- und Fernsehjahrewaren schwarz-weiß. Danach erst kam Farbe ins Bild,und bis heute hat es viel Entwicklung gegeben, mehrBrillanz und Detailtreue zu erreichen. Ihr Antrag bleibtin Phase schwarz-weiß, wie zu Stummfilmzeiten. Er hätteauch stumm bleiben können. Denn was ist der Kern? Siebeschreiben ihn so: kommunale Betreuung bei derGrundsicherung für Arbeitsuchende stärken! Ich fasseihn so zusammen: Optierer sind die Guten. Der Erzfeindist die Bundesagentur für Arbeit. Schwärzer und weißergeht es nicht. Gerne bringe ich etwas Farbe ins Bild derDienstleistungen, auf die Arbeitsuchende in der Grund-sicherung einen Anspruch haben.Jene 63 Kommunen in Deutschland, die sich entschie-den haben, das gesamte Leistungsspektrum kommunal zuorganisieren, leisten genauso gute Arbeit wie jene, die imRahmen eines Jobcenters die Aufgabe gemeinsam mitder Bundesagentur für Arbeit erledigen. Beide Modellemüssen, dies hat das Bundesverfassungsgericht vorgege-ben, verfassungskonform abgesichert werden.Die SPD bedauert sehr, dass unser Koalitionspartneran dieser wichtigen Stelle nicht die Kraft für eine Ent-scheidung hat. Das ist schlecht, schlecht für die Arbeitsu-chenden im Rechtskreis des SGB II. Und es ist auchschlecht für die Beschäftigten – gleich ob bei kommuna-ler AG oder der Bundesagentur. Es enttäuscht die Sozial-politikerinnen und -politiker der SPD sehr, auch deshalb,weil angesichts der zu erwartenden weiteren Herausfor-derungen in der Arbeitsmarktpolitik verlässliche undsachgerechte Strukturen notwendig sind.Ihre Vorschläge jedoch, meine Damen und Herren vonder FDP-Fraktion, sind in keiner Weise geeignet, diesemZiel näher zu kommen. Womit wir wieder bei Ihremschwarz-weißen Film wären. Was sehen wir? Eine Lie-beserklärung und ein Feindbild. Die Liebeserklärung giltden Kommunen. Ihr Feindbild steht in Nürnberg undheißt Bundesagentur für Arbeit. Mit diesen zwei Begrif-fen lässt sich der erste Abschnitt Ihres Antrages am bes-ten zusammenfassen.Im zweiten Abschnitt erheben Sie fünf Forderungen,die ich kurz debattieren möchte: Erstens. Die Zeit bisEnde 2010 nutzen, um bestmögliche Lösungen zu finden.Das ist richtig. Zweitens. Die Arbeit der Optionskommu-nen nachdrücklich unterstützen und nicht etwa durchübereiltes Einführen kooperativer Jobcenter schwächen.Zum einen: Wer sich am 1. Juli 2009 um ein übereiltesEinführen sorgt, sollte auf den Kalender schauen. MeineSorge ist nicht die Eile, sondern die viele Zeit, die ver-streicht, ohne einer Lösung näher zu kommen. Zum ande-ren: Die SPD wendet sich strikt gegen eine Einführungder „Premiumbehandlung“ für Optionskommunen unddie „Holzklasseversion“ für die Jobcenter. Sachgerechteund zielführende Betreuung muss für alle Grundsiche-rungsempfänger gewährleistet sein. Drittens. Sie fordernsofortige Planungssicherheit nur für Optionskommunen.Wir setzen dagegen: Planungssicherheit für alle. Vier-
Metadaten/Kopzeile:
25996 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Gabriele Lösekrug-Möllertens. Aufgabenwahrnehmung ausschließlich durch eine,nämlich die kommunale Hand. Und dann werden Siesprachlich elegant. Ich zitiere: „Finanzbeziehungengrundgesetzlich absichern“. Lassen wir die Eleganz bei-seite, dann heißt das wohl: Der Bund bezahlt, und andereentscheiden. Fünftens. Abschließend fordern Sie, „we-nigstens“ jenen Kommunen, die eine alleinige Träger-schaft übernehmen wollen, dies zu ermöglichen. Wasnichts anderes bedeutet, als dass Sie eigentlich fordern,auch Kommunen gegen ihren Willen diese Aufgabe zuzu-ordnen.Seit mehr als einem Jahrzehnt bin ich Kommunalpoli-tikerin. Ich halte viel von kommunaler Aufgabenerledi-gung, ja, ich spreche mich ausdrücklich für den Fortbe-stand der bestehenden Optionsregelung aus. Aber ich binebenso strikt gegen eine Kommunalisierung der gesam-ten Aufgabe. Es überrascht allerdings nicht, dass geradedie Arbeitsmarktpolitiker der FDP dies fordern: Kom-mune gut – Bundesagentur schlecht. Soviel schwarz-weißist unvereinbar mit einer guten Politik für Arbeitsu-chende in Deutschland.
Wir reden hier heute über eine der dringendsten Fra-
gen für die Zukunft unseres Landes. Manch einem mag
das nicht bewusst sein. Mancher – auch hier in diesem
Haus – mag glauben, es gehe hier um irgendeine verwal-
tungstechnische Frage, eine Frage der Verwaltungsorga-
nisation, die nicht wichtig ist. Dem ist nicht so. Es geht
um die Frage, wie wir Millionen Menschen in unserem
Land eine Perspektive bieten können, und wie es gelin-
gen kann, den Millionen Betroffenen, die keine Arbeit ha-
ben, wieder eine existenzsichernde Beschäftigung zu ver-
schaffen.
Das Bundesverfassungsgericht hat Ende 2007 ent-
schieden, dass die Arbeitsgemeinschaften aus Bundes-
agentur für Arbeit, BA, und Kommunen verfassungswid-
rig sind, weil sie gegen das Verbot der sogenannten
Mischverwaltung des Art. 83 f. GG verstoßen. Die Regie-
rung wollte zunächst laut einem Eckpunktepapier vom
Jahresbeginn 2008 künftig auf die freiwillige Zusammen-
arbeit der BA und der Kommunen setzen und sogenannte
kooperative Jobcenter schaffen. Dann waren sogenannte
ZAG, Zentren für Arbeit und Grundsicherung, im Ge-
spräch.
Die bisher vom Bundesministerium für Arbeit und So-
ziales und von der Arbeits- und Sozialministerkonferenz
unterbreiteten und nun nicht weiterverfolgten Vorschläge
wurden den Anforderungen an eine einheitliche, gebün-
delte Aufgabenwahrnehmung nicht in gleichem Maße ge-
recht wie eine kommunale Gesamtverantwortung. Es
sollten Mischverwaltungen, die sich in der Vergangenheit
als problematisch erwiesen haben, grundgesetzlich ab-
gesichert werden. Die Vorschläge hätten im Ergebnis zu
einer weiteren Zentralisierung der Aufgaben bei der BA
geführt. Und das ist genau das, was wir im Interesse der
Betroffenen nicht brauchen. Wir brauchen eine dezen-
trale Lösung, klare Verantwortlichkeit vor Ort.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat das Modell der Ar-
gen, also einer Mischverwaltung von Arbeitsagenturen
Zu Protokoll
und Kommunen, immer abgelehnt. Wir haben durchweg
gefordert, die Durchführung des SGB II den kommunalen
Trägern zu überlassen. Zumindest aber sollte die beste-
hende Optionsregelung entfristet werden und denjenigen
Kommunen, die die alleinige Trägerschaft übernehmen
wollen, dies auch ermöglicht werden. Damit würde dem
Anliegen Rechnung getragen werden, die Grundsiche-
rung für Arbeitsuchende aus einer Hand zu gewährleis-
ten.
Lassen Sie mich bei der Gelegenheit noch auf die Ar-
beitsverwaltung im Ganzen zu sprechen kommen und Ih-
nen vorstellen, was wir für wichtig halten: Die BA muss
aufgelöst und ein Dreisäulenmodell umgesetzt werden,
das meine Fraktion entwickelt und auch schon in den
Deutschen Bundestag eingebracht hat.
Nach diesem Modell wird, erstens, eine leistungs- und
kundenorientierte Versicherungsagentur die Versiche-
rungsleistung der Arbeitslosenversicherung erbringen.
Zweitens wird sich eine kleine Arbeitsmarktagentur
der überregionalen und internationalen Dimensionen
der Arbeitslosigkeit annehmen, die es trotz der großen
Bedeutung der lokalen Ebene auch gibt.
Drittens – das ist das Entscheidende – erfolgt die Be-
treuung der Langzeitarbeitslosen nach unserem Konzept
vor Ort, wo sie auch hingehört, durch kommunale Job-
center und nicht länger – zentral gesteuert – durch die
BA. Wir brauchen im Interesse der vielen Millionen be-
troffenen Arbeitslosen eine Betreuung vor Ort und aus ei-
ner Hand. Wir brauchen eine Betreuung der Arbeitslo-
sen, die die Gegebenheiten und Bedürfnisse des lokalen
Arbeitsmarktes kennt und in der Lage ist, schnell darauf
zu reagieren, im Interesse der Arbeitslosen.
Dafür bitten wir am 27. September um das Vertrauen!
Es ist schon merkwürdig, dass die FDP in der vorletz-ten ordentlichen Sitzung des Bundestages in dieser Wahl-periode den Antrag noch auf die Tagesordnung setzenlässt, und das in dem Wissen, dass über den Antrag imAusschuss nicht mehr diskutiert und entschieden werdenkann. Hinzu kommt, dass sich einige Punkte des Antragsdurch Zeitablauf bereits erledigt haben. Da kann mannur sagen: Hier geht es um Wahlkampf pur und nicht umdie Sache. Und das bei der Brisanz dieses Themas. Im-merhin geht es um die Zukunft von 60 000 Beschäftigtenund circa 6 Millionen Leistungsbezieher im SGB II sowieum ein Finanzvolumen von circa 40 Milliarden Euro.Die Fraktion Die Linke hatte ihre Position zur Zukunftder Argen und Optionskommunen bereits im Zusammen-hang mit der Debatte über den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen geäußert. Die Debatte ist fast einJahr her. An unserer Position zur Zukunft der Argen hatsich zwar nichts geändert, geändert hat sich allerdingsdie Situation.Am 17. März 2009 hatte die CDU/CSU-Fraktion be-schlossen, diese Frage in dieser Wahlperiode nicht mehrzu entscheiden. Der Grund: CDU und CSU wollen dieBundestagswahl im September abwarten. Eine neue Ko-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25997
gegebene Reden
(C)
(D)
Katrin Kunertalition mit der FDP könnte Hartz IV dann in die Händeder Kommunen legen. Der Bund würde seine Verantwor-tung für das gesamtgesellschaftliche Problem Erwerbs-losigkeit zunächst organisatorisch und später auch fi-nanziell ablegen. Diese Entwicklung muss verhindertwerden. Die Linke ist der Auffassung, dass Erwerbslosig-keit ein gesamtgesellschaftliches Problem ist, das mannicht einfach auf die Kommunen abwälzen kann. Diesbe-züglich steht der Bund in der Pflicht. Der Antrag derFDP zielt darauf ab, den Bund diesbezüglich aus derVerantwortung zu nehmen. Daher können wir dem An-trag nicht zustimmen.Wir meinen, dass sich die künftige Organisation desSGB II an folgenden Prämissen messen lassen muss: Ausder Sicht der Erwerbslosen und Hilfebedürftigen: AlleErwerbslosen, nicht Arbeitslose, werden gefördert. Ihnenzustehende Leistungen sind schnell, unbürokratisch, auseiner Hand und ohne Widerspruch einlegen zu müssen,zu gewähren. Sie müssen jeweils einen ständigen, kompe-tenten, direkt erreichbaren und freundlichen Ansprech-partner haben. Die Arbeitsvermittlung muss nach indivi-duellen Merkmalen erfolgen. Dazu sind auf die Personzugeschnittene Integrations- bzw. Beschäftigungsange-bote auf dem örtlichen, mindestens aber dem regionalenArbeitsmarkt zu unterbreiten. Bei allen Maßnahmen giltdas Prinzip der Freiwilligkeit.Aus der Sicht der Kommunen: Die Kommunen müssenHandlungs- und Entscheidungsspielräume erhalten, dieeine Verzahnung einer kommunalen Sozial- mit einer ak-tiven Beschäftigungs- und Strukturpolitik ermöglichen.Dabei sind die positiven Erfahrungen lokaler Arbeits-marktpolitik vor der Einführung der Hartz-Gesetze ein-zubeziehen. BA und Kommunen sind als gleichwertigePartner zu betrachten, um eine Leistungsgewährung, Ar-beitsförderung und soziale Betreuung aus einem Guss inden Kommunen steuern und miteinander vernetzen zukönnen. Dabei soll die kommunale Ausrichtung und Ver-antwortung für den Gesamtprozess Priorität haben.Aus der Sicht der Beschäftigten: Die Beschäftigtenmüssen unbefristete Arbeitsverträge erhalten. Es sindMöglichkeiten der Qualifizierung zu schaffen. Sie brau-chen Ermessensspielräume, um im Interesse der Betrof-fenen Entscheidungen treffen zu können. Die Zahl der zubetreuenden Erwerbslosen je Beschäftigtem muss verrin-gert werden, und es muss für alle Beschäftigten eine ein-heitliche tarifliche Bezahlung geben.Aus der Sicht des Bundes: Es sind Wege zu finden, dieunter Beachtung der kommunalen Organisationshoheitdie Leistungserbringung absichern und zentrale arbeits-marktpolitische Ziele realisierbar machen, die eine Be-schäftigungs- und Strukturpolitik und einen Ausgleichzwischen den Regionen ermöglichen. Die gegenwärtigenWidersprüche und Auseinandersetzungen zeigen, dassmittelfristig die Bundesagentur in ihrer Gesamtheit re-formiert werden muss, vor allem hinsichtlich ihrer De-mokratisierung. Es geht um die Wiederbelebung undNeubestimmung der Selbstverwaltung. Entscheidungenüber die konkrete Ausgestaltung der Politik der BA müs-sen das Ergebnis eines öffentlichen Dialogs sein, in denalle betroffenen Gruppen einbezogen werden.Zu ProtokollKurzfristig gilt es, die Verwaltung so lange aufrecht zuerhalten und die Beschäftigten zu schützen, bis eine poli-tische Einigung gefunden wurde.
Zum Ende der Wahlperiode hat die FDP wieder ein-mal in ihrer politischen Resterampe gewühlt und einenAntrag hervorgezogen, an dem der Zahn der Zeit bereitsordentlich genagt hat.Denn Ihr Antrag, Kolleginnen und Kollegen von derFDP, ist überholt. Er berücksichtigt überhaupt nicht,dass wir es bei der Trägerschaft in der Grundsicherungmit einer vollkommen anderen Problemlage zu tun habenals noch vor einem Jahr.Ich muss Sie vielleicht daran erinnern, dass dieUnionsfraktion die Frage der Jobcenter im Frühjahr vordie Wand gefahren hat. Von einer Absicherung der Trä-gerschaft im Grundgesetz sind wir entfernter denn je.Und das bringt nicht nur die Arbeitsgemeinschaften inenorme Schwierigkeiten, sondern natürlich auch dieOptionskommunen, die Ihnen ja immer so besonders amHerzen liegen.Hauptleidtragende dieses Desasters aber sind die Ar-beitsuchenden. Ich rede hier von aktuell 6,74 Millionendirekt und indirekt betroffenen Bürgern. Ihnen blühen einorganisatorisches Chaos, Ansprechpartner, die oft aufdem Sprung in einen anderen Job sein werden, und derGang von Pontius zu Pilatus auf der Suche nachfinanzieller und anderer Unterstützung. Das ist der ei-gentliche Skandal, über den wir hier reden müssen.Mit fadenscheinigen Argumenten hat sich die Unions-fraktion im Bundestag gegen sämtliche Ministerpräsi-denten der Union, gegen Angela Merkel und gegen dasPräsidium der CDU gestellt. Es spricht Bände über dieinnere Verfassung der Union, dass die Fraktion sich da-mit durchsetzen konnte. Die Union hat dadurch einenKompromiss torpediert, der nach langen Verhandlungenvon allen Fraktionen und Ebenen getragen wurde.Dieser Kompromiss hätte immerhin für eine Grundlagebei der Trägerschaft im SGB II gesorgt, auf der hätteweitergearbeitet werden können.Sie können mir glauben, dass auch wir Grünen ge-nügend Kritik an den geplanten Zentren für Arbeit ha-ben. Aber wir standen und stehen zu einer Grundge-setzänderung, die sowohl die Zusammenarbeit vonBundesagentur und Kommunen als auch rein kommunaleLösungen gesichert hätte. Das wäre die Grundlage ge-wesen, auf der wir für weitere Verbesserungen gestrittenhätten. Das sind vor allen Dingen: die wirkliche Hilfeaus einer Hand, die Sicherstellung der finanziellen undleistungsrechtlichen Verantwortung des Bundes und dieStärkung des kommunalen Einflusses.Dank der Union stehen wir jetzt aber mit gänzlich lee-ren Händen da. Ohne eine Grundgesetzänderung werdendie Arbeitsgemeinschaften sukzessive auseinanderfal-len, da Verträge auslaufen und Liegenschaften nichtmehr gemeinsam genutzt werden können. Ab 2011 ergibtsich dann automatisch eine getrennte Trägerschaftzwischen Bundesagentur und Kommunen. Das bedeutet
Metadaten/Kopzeile:
25998 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 25999
(C)
(D)
Brigitte Pothmerdas Ende der Leistungen aus einer Hand und eineschlechtere Betreuung der Langzeitarbeitslosen. Aberauch die reine kommunale Trägerschaft, wie FDP undTeile der Union sie fordern, bedarf einer Grundgesetzän-derung. Allen, die mit einer einfachgesetzlichen Lösungliebäugeln, will ich es noch einmal ganz deutlich sagen.Damit wäre – unter der Voraussetzung, der Bundesratstimmt dem zu – lediglich eine Aufgabenübertragung andie Länder möglich. Diese Lösung würde das Ende derBundesverantwortung für Langzeitarbeitslosigkeit be-deuten. Die Folgen und den Streit um die finanziellenLastenverteilungen können Sie sich sicherlich alle leb-haft ausmalen.Beide Aussichten können mich nicht zufriedenstellen,denn beide sind nicht im Sinne der Arbeitsuchenden. De-ren Interessen haben die Verursacher dieser Situationvöllig aus den Augen verloren. Das ist armselig und einerFraktion im Deutschen Bundestag unwürdig.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9339 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 60 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Kultur und Medien
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Undine Kurth , Katrin Göring-
Eckardt, Peter Hettlich, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Umsetzungsgesetz für UNESCO-Welterbe-
übereinkommen vorlegen
– Drucksachen 16/13176, 16/13581 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Grütters
Steffen Reiche
Christoph Waitz
Dr. Lukrezia Jochimsen
Undine Kurth
Das Welterbekomitee der UNESCO hat in der vergan-genen Woche dem Elbtal in Dresden den Welterbetitelaberkannt, trotz aller Anstrengungen zum Kompromissund des hohen Stellenwerts, den das Kulturland Deutsch-land seinen Welterbestätten beimisst. Wir bedauern dieseEntscheidung außerordentlich. Sie schadet dem AnsehenDeutschlands in der Welt, das zuvorderst auf seine Tradi-tion als Kulturnation mit einer weltweit überragendenkulturellen Vielfalt und Geschichte gründet.Verlierer ist dabei aber nicht nur das Dresdner Elbtal,sondern auch die UNESCO selbst. Denn offensichtlichging es der Mehrzahl der Mitglieder des Welterbekomi-tees darum, ein Exempel zu statuieren. Man hätte mit derAberkennung des Titels bis zur Fertigstellung der Wald-schlößchenbrücke warten können, um die tatsächlicheRaumwirkung der Brücke in Augenschein zu nehmen.Man hätte dieselben Maßstäbe wie in Pompeji oderPeking, in Angkor Wat oder Babylon anlegen können, jamüssen, wo Beeinträchtigungen oder Vernachlässigun-gen der Welterbestätten trotz Ermahnungen weiter taten-los hingenommen werden.Vor allem aber hätte man respektieren müssen, dassder Bau der Waldschlößchenbrücke auf einen Volksent-scheid der Dresdner zurückgeht. Der Bau war Bürger-wille. Zu Recht fühlen sich die Dresdner von derUNESCO nicht ganz fair behandelt. Hier handelt es sichum einen im Kern unauflöslichen Konflikt: Wenn man einMehr an Bürgerbeteiligung will, dann muss die Politik denWillen der Bürger auch ernst nehmen und als bindend be-trachten. Ginge man über das Ergebnis von Volksentschei-den so schnöde hinweg wie jetzt die UNESCO und an-dere Fraktionen in diesem Hause, führte dies zu einerVerarmung der Demokratie.Und hier ist auch Kritik an der Bundesregierung an-gebracht. Bundesbauminister Tiefensee hat Dresden be-reits vor der Aberkennung des UNESCO-Welterbetitelsbeantragte Mittel aus dem 150-Millionen-Förderpro-gramm verweigert. Er hat damit der Entscheidung desWelterbekomitees Vorschub geleistet, zum Schaden Dres-dens, zum Schaden Sachsens, zum Schaden Deutsch-lands.Aber noch ist Dresden nicht verloren! Ich fordere dieDresdner auf, sich nach der Fertigstellung der Brückeerneut um den Welterbetitel zu bewerben. Die 33 aktuel-len deutschen Welterbestätten fordere ich auf, dass siedann mit einer zweiten Bewerbung Dresdens solidarischsind.Es gab von der Sitzung des Welterbekomitees in Se-villa zum Glück auch Erfreuliches zu vermelden.Deutschland hat eine neue UNESCO-Weltnaturerbe-stätte hinzugewonnen: das Wattenmeer. Aufgrund seineseinzigartigen Ökosystems ist das Wattenmeer als erstedeutsche Naturlandschaft zum Welterbe der Menschheiterklärt worden. Besonders freut mich, dass hiermit eindeutsch-niederländischer Gemeinschaftsantrag erfolg-reich war. Diese gemeinsame Ehre wie Verpflichtungwird unsere nachbarschaftlichen Beziehungen weiter be-fördern. Als Schleswig-Holsteiner freue ich mich beson-ders über diese Auszeichnung für meine Heimat. Nachder Hansestadt Lübeck ist das Wattenmeer die zweiteschleswig-holsteinische Welterbestätte auf der Liste derUNESCO.Die UNESCO-Weltkultur- und Weltnaturerbestättenbesitzen einen außergewöhnlichen universellen Wertnicht nur für die eigene Nation, sondern für die gesamteMenschheit. Mit dem 1972 von der UNESCO verabschie-deten und von Deutschland im Jahr 1976 ratifiziertenÜbereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbesder Welt verpflichtet sich jedes Land, die innerhalb sei-ner Landesgrenzen gelegenen Denkmäler zu schützenund für zukünftige Generationen zu erhalten. In der Zwi-schenzeit umfasst die Liste des Welterbes insgesamt878 Kultur- und Naturstätten in 145 Ländern. Deutsch-land ist aktuell mit 33 Stätten als Natur- oder Kulturerbeauf der Liste des UNESCO-Welterbes vertreten. Weitere
(C)
(D)
Wolfgang Börnsen
stehen derzeit auf der Vorschlagsliste für den Welterbe-status zur Entscheidung an.Für die Bundesrepublik Deutschland bedeutet die Ver-leihung des UNESCO-Welterbetitels nicht nur internatio-nale Anerkennung, sondern zugleich auch die große Ver-pflichtung, für den fortdauernden Schutz und dieErhaltung des gemeinsamen Erbes der Menschheit Sorgezu tragen. Dies gilt auch für die Welterbestätten auf deut-schem Territorium, die auf Initiative europäischer Nach-barstaaten auf die UNESCO-Welterbeliste gelangt sind.Die unterschiedlichen Träger der Welterbestätten – Bund,Länder, Kommunen, Kirchen, Stiftungen und Private – be-kennen sich zu ihrer gemeinsamen Verantwortung. Den-noch stehen sie oft vor großen Herausforderungen: Dieseliegen vor allem im investiven und konsumtiven Bereich.Die Welterbestätten sind eine Angelegenheit desDenkmalschutzes und damit vorrangig eine Aufgabe vonLändern und Kommunen. Ihnen obliegt die Hauptver-antwortung für den Schutz und den Erhalt der Welterbe-stätten. Daher geht an die Länder der Appell, ihreDenkmalschutzgesetze zu überprüfen und mit dem Ziel,vergleichbare Standards zu etablieren, gegebenenfalls zunovellieren. Bundesweit würden dadurch die Bedingun-gen für Erhalt und Schutz der deutschen Welterbestättenverbessert.Der Forderung von Bündnis 90/Die Grünen, zur recht-lichen Stärkung des UNESCO-Welterbes in Deutschlandein nationales Ausführungsgesetz zu beschließen, könnenwir uns allerdings nicht anschließen, sie ist auch rechtlichfragwürdig. Die Bundesrepublik Deutschland ist demÜbereinkommen am 23. August 1976 auf der Grundlageeines Kabinettbeschlusses beigetreten, nach vorherigerZustimmung der damaligen Länder. Ein Vertragsgesetzwurde damals nicht für erforderlich erachtet. Die Bun-desregierung hat die Frage der Verbindlichkeit der Welter-bekonvention – ohne Vertrags- oder Ausführungsgesetz –anlässlich der geplanten Waldschlößchenbrücke in Dres-den gutachterlich geprüft und bejaht. Das Gutachten derBundesregierung vom Dezember 2007 kommt zu dem Er-gebnis, dass die Welterbekonvention für Bund und Länderverbindlich ist. Ein Vertrags- sowie ein Ausführungsge-setz sind entbehrlich, da die Welterbekonvention nur Be-mühensverpflichtungen enthält.Der Bund hat die UNESCO-Konvention zum Schutzdes Kultur- und Naturerbes der Welt – Welterbekonven-tion – von 1972 durch Kabinettbeschluss vom 8. Juli 1976wirksam in innerstaatliches Recht übertragen. Die Inkor-poration durch die Länder im Bereich ihrer ausschließli-chen Gesetzgebungskompetenzen ist jedenfalls in ihrerEinverständniserklärung nach der Lindauer Absprachezu dem oben genannten Kabinettbeschluss zu sehen. DieInkorporation mit Wirkung für die neuen Länder ist durchdie Gültigkeitserstreckung der völkerrechtlichen Ver-träge der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 11 desEinigungsvertrages erfolgt. Als Ergebnis des Gutachtensder Bundesregierung sind gesetzliche Maßnahmen nichterforderlich für die Geltung der Welterbekonvention inder Bundesrepublik Deutschland. Aus unserer Sicht be-steht kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf.Zu ProtokollDie Regierungschefs der Länder halten ein Vertrags-gesetz ebenfalls nicht für erforderlich. Sie haben be-schlossen, dass für die Erreichung des Zwecks der Welt-erbekonvention im Einzelfall ausschließlich die jeweilsgeltenden landesrechtlichen Bestimmungen maßgebendsind.Der Bund unterstützt in nennenswertem Umfang diedeutschen Welterbestätten: So fördert der Beauftragteder Bundesregierung für Kultur und Medien, BKM,Staatsminister MdB Bernd Neumann, institutionell imRahmen des Leuchtturm-Programmes in den neuen Län-dern Welterbestätten, wie unter anderem die Luther-Ge-denkstätten in Wittenberg und Eisleben, die Klassik Stif-tung Weimar, die Stiftung Fürst-Pückler-Park in BadMuskau sowie die Museumsinsel in Berlin als Teil derStiftung Preußischer Kulturbesitz und die preußischenSchlösser und Gärten im Rahmen der StiftungPreußische Schlösser und Gärten. Aus dem Programm„National wertvolle Kulturdenkmäler“ für die Substanz-erhaltung und Restaurierung von gesamtstaatlich bedeu-tenden Baudenkmälern werden beträchtliche Mittel fürdenkmalpflegerische Maßnahmen im Bereich vonUNESCO-Welterbestätten eingesetzt. Weitere Förderun-gen erfolgen unter anderem aus dem Etat des Bundes-ministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung,BMVBS, im Rahmen verschiedener Städtebauförde-rungsprogramme. Besonders hervorzuheben ist das aufeinen Beschluss des Deutschen Bundestages beruhendeProgramm zur Förderung von Investitionen in nationaleUNESCO-Welterbestätten, mit dem der Bund im Rahmendes Maßnahmenpakets „Beschäftigungssicherung durchWachstumsstärkung“ für die Jahre 2009 bis 2013 insge-samt 150 Millionen Euro für die nationalen UNESCO-Welterbestätten bereitstellt. Neben den Fachkollegen ausden Koalitionsfraktionen danke ich besonders MdBThomas Silberhorn und MdB Monika Grütters für ihrenaktiven und anhaltenden Einsatz bei dieser Thematik.Bei aller Anerkennung der erheblichen finanziellenAnstrengungen von allen Trägern der Welterbestättensind jedoch auch vermehrte Anstrengungen wünschens-wert, das wirtschaftliche Potenzial der Welterbestättenbei gleichzeitigem Schutz der kulturellen Substanz pro-fessioneller zu nutzen. Managementpläne der einzelnenWelterbestätten könnten zu einer besseren touristischenVermarktung führen. Bisher existieren diese nur für dieab dem Jahr 2000 aufgenommenen Welterbestätten. Vonder Welterbeorganisation werden sie seit 2005 gefordert.Sie sind ein geeignetes Instrument, um die Vernetzungund Kooperation der Welterbestätten bundesweit und in-ternational zu verbessern und um neue Finanzierungs-quellen zu erschließen.2001 schlossen sich die deutschen Welterbestätten unddie jeweiligen touristischen Organisationen in dem Ver-ein „UNESCO-Welterbestätten Deutschland e. V.“ zu-sammen, um die touristische Vermarktung vernetzt undkooperativ zu betreiben. Ziel ist es, nicht nur das Welter-beprogramm der UNESCO einer breiteren Öffentlichkeitnäher zu bringen, sondern Menschen jeder Herkunft undBildung zu motivieren, die Stätten zu besuchen. Hierfür ar-beitet der Verein eng mit den Denkmalschützern, den tou-ristischen Organisationen und Unternehmen, der
Metadaten/Kopzeile:
26000 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Wolfgang Börnsen
UNESCO und Bildungsträgern in Deutschland und welt-weit zusammen. Gemeinsam mit der Deutschen UNESCO-Kommission organisiert der Verein die seit 2001 regel-mäßig stattfindende Jahrestagung aller deutschen Welt-erbestätten sowie den seit 2005 bundesweit durchgeführ-ten „Welterbetag“. Das Besucherpotenzial schätzt er auf50 Millionen Gäste im Jahr, die Umsätze von circa1,5 Milliarden Euro generieren. Dies korrespondiert mitErkenntnissen der Deutschen Zentrale für Tourismuse. V. in ihrem „Qualitätsmonitor Deutschland-Touris-mus“ für 2007/2008, wonach für mehr als 50 Prozent derausländischen Touristen das Kunst- und Kulturerlebnisdas Hauptmotiv für den Deutschlandbesuch ist.Diese Zahlen unterstreichen einerseits das touristi-sche Potenzial der deutschen Welterbestätten. Sie ma-chen andererseits aber auch ungenutzte Chancen deut-lich. Im internationalen Tourismusgeschäft sollten diedeutschen Welterbestätten ein Zugpferd bei der Werbungfür Deutschland sein. Aber auch innerhalb Deutschlandsmuss für ihren international anerkannten außergewöhn-lichen Wert noch stärker geworben werden.Die deutschen Welterbestätten verdienen es – mehrnoch, als bisher geschehen –, in den Mittelpunkt der öf-fentlichen Aufmerksamkeit gerückt zu werden, um denErhalt des Welterbes für die künftigen Generationen zusichern und gleichzeitig ihr wirtschaftliches Potenzial imeigenen, aber auch im Interesse der Gebietskörperschaf-ten und Regionen zu stärken. Hierauf hat zuletzt auch derAbschlussbericht der vom Deutschen Bundestag einge-setzten Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“hingewiesen.Wir begrüßen, dass alle staatlichen Ebenen sich imRahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten der besonderenVerantwortung gegenüber Erhalt und Schutz der Welt-erbestätten bewusst sind. In diesem Zusammenhang istallen Trägern von Welterbestätten und hier besondersden zahlreichen Bürgerinnen und Bürgern zu danken fürdie bisher für den Erhalt der Welterbestätten unternom-menen ideellen und vor allem materiellen Anstrengun-gen.Wir begrüßen die Bestrebungen aller verantwortli-chen Träger, Gefahren für das Weltkulturerbe abzuweh-ren und dabei zum Beispiel bei Genehmigungs- und Pla-nungsverfahren dem Schutz und dem Erhalt derWelterbestätten eine hohe Priorität beizumessen.Wir begrüßen die von der Bundesregierung unter derBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel in ihrem Zuständig-keitsbereich vorgenommenen Aktivitäten zur Unterstüt-zung deutscher UNESCO-Welterbestätten und halten es fürwünschenswert, diese Förderungen möglichst zu versteti-gen. Wir begrüßen das Programm in Höhe von 150 Millio-nen Euro, das der Erhaltung, Sanierung und Weiterent-wicklung nationaler UNESCO-Welterbestätten dienensoll, und gehen davon aus, dass national wertvolleKulturdenkmäler, die sich in unmittelbarer Nähe vonUNESCO-Welterbestätten befinden, darin einbezogenwerden können, unter Mitfinanzierung der Länder.Zur weiteren Verbesserung der Förderung derUNESCO-Welterbestätten in Deutschland fordern wir dieZu ProtokollBundesregierung abschließend auf: erstens dem Deut-schen Bundestag über die Umsetzung des Programms zurFörderung von Investitionen in nationale UNESCO-Welterbestätten kontinuierlich zu berichten – Kriteriender Förderung, Zeitrahmen, Jury etc.; wir gehen davonaus, dass auch die Welterbestätten auf deutschem Terri-torium, die auf Initiative europäischer Nachbarstaatenauf die UNESCO-Welterbeliste gelangt sind, darin ein-bezogen werden können –; zweitens zu prüfen, ob Erlöseaus den Sondermünzen mit Motiven der Welterbestätten,zweckgebunden für den Erhalt zu diesen Welterbestättenfließen könnten; drittens ihre Förderaktivitäten unter Fe-derführung des Beauftragten der Bundesregierung fürKultur und Medien im Interesse einer effektiven undnachhaltigen Förderung der Welterbestätten zu bündelnund dabei den Sachverstand der Deutschen UNESCO-Kommission, des Deutschen Nationalkomitees für Denk-malschutz, der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, derStiftung Baukultur, des Vereins Welterbestätten Deutsch-land e. V. sowie der Deutschen Zentrale für Tourismuse. V. einzubeziehen; viertens vor allem zur Unterstützungdes privaten Engagements zu prüfen, ob Welterbegebieteähnlich wie Sanierungsgebiete von einer höheren steuer-lichen Absetzbarkeit profitieren könnten – insbesondere§§ 7 i, 10 f EStG –; fünftens darauf hinzuwirken, dass dastouristische Potenzial der Welterbestätten noch stärkerausgeschöpft wird – die Bundesregierung sollte daherihre Einflussmöglichkeiten bei der Deutschen Bahn undbei der Deutschen Zentrale für Tourismus nutzen, um ge-meinsam mit den Welterbestätten, den beteiligten Touris-musverbänden und Welterbeorganisationen einen Planzur besseren touristischen Erschließung der Welterbe-stätten zu erarbeiten, zum Beispiel durch die Schaffungeines „Welterbetickets“–; sechstens künftig in ihremTourismusbericht gesondert über die Initiativen zur Stär-kung der Belange der UNESCO-Welterbestätten zu infor-mieren; siebtens ihre Initiative fortzusetzen, bei den vomBund unterstützten Welterbestätten auf die Erstellungvon Managementplänen zu drängen; wir appellieren analle anderen Träger, im gleichen Sinne aktiv zu werden.Welterbestätten gehören zu unserem reichhaltigen kul-turellen Erbe. Unser Erbe gibt den Bürgerinnen und Bür-gern Halt und Orientierung, es stiftet Identität. Gerade inZeiten gewaltiger ökonomischer Umwälzungen und Ver-werfungen tut dies besonders not. In den aktuellen Tur-bulenzen der Globalisierung gehören auch unsere Welt-erbestätten zu den unverwechselbaren Ankern, die unsunserer Herkunft versichern und zum Zusammenhalt derGesellschaft beitragen.
Um es gleich vorwegzunehmen: Die SPD setzt sich füreine bessere, möglichst lückenlose gesetzliche Veranke-rung des UNESCO-Welterbeschutzes in Deutschland ein.Das Debakel um die Aberkennung des Dresdner Welt-erbestatus ist der beste Beweis dafür, dass die behaupteteinnerdeutsche Bindungswirkung der Welterbekonventionnur Durchschlagskraft besitzt, wenn sie zum einen vonallen beachtet und anerkannt wird und zum anderen hin-reichend gesetzlich verankert und damit einklagbar ist.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 26001
gegebene Reden
(C)
(D)
Steffen Reiche
Das gilt es – unabhängig vom Fall des Elbtales Dres-den –, noch einmal sehr genau zu prüfen.Das Desaster in Dresden sollte als Lehre dafür die-nen, dass das jetzige und zukünftige deutsche Weltkultur-und das neue einzige deutsche Weltnaturerbe Watten-meer bislang keineswegs dauerhaft und nachhaltig in ih-rem jeweiligen Bestand geschützt sind. Die Diskussionenum das Mittelrheintal und Regensburg untermauerndiese Ansicht. Es reicht eben nicht, wenn die Bundes-regierung zwar zu den Verpflichtungen aus demUNESCO-Übereinkommen zum Welterbeschutz steht,diese aber auf kommunaler oder Landesebene relativiertoder sogar missachtet werden. Die zwingende Beachtungvon Aspekten des Welterbeschutzes muss auf allen staat-lichen Ebenen eindeutiger und überhaupt explizit gere-gelt werden.Das Deutsche Nationalkomitee für Denkmalschutz hatwiederholt darauf hingewiesen, dass der Schutz über dieDenkmalschutzgesetze der Länder allein nicht ausreicht,sodass eine Reihe einschlägiger Bundesgesetze aus völ-kerrechtlicher und kulturstaatlicher Verantwortung denBelangen des Denkmalschutzes mehr als bisher Rech-nung tragen muss; Resolution des Nationalkomitees vom13. November 2006. Die von der UNESCO-Kommissionerarbeitete Wartburg-Erklärung vom 23. Oktober 2008äußert die Besorgnis, dass dynamische Entwicklungspro-zesse den Schutz und die Erhaltung des außergewöhnlichuniversellen Wertes von Welterbestätten bedrohen. DieseSorge teile ich.Wir sind in der SPD-Fraktion im Gegensatz zu unse-rem Koalitionspartner der Auffassung, dass die in derKonvention formulierten Bemühenspflichten eben nichtbedeuten, dass allein die Behauptung, man bemühe sich,ausreicht. Es bedarf des tatsächlichen Bemühens um denSchutz und den Erhalt des Weltkulturerbes, was bei derCDU in Sachsen und Dresden nicht der Fall war. Rechthat die CDU/CSU-Fraktion aber mit der Feststellung,dass die Waldschlößchenbrücke ganz offensichtlichselbst mit weitergehenden Regelungen des Welterbe-schutzes nicht aufhaltbar gewesen wäre. Die DresdnerCDU war es, die auf Biegen und Brechen die Brückebauen wollte. Die durch unseren BundesverkehrsministerWolfgang Tiefensee mit großer Ernsthaftigkeit diskutiertewelterbeverträgliche Tunnellösung wurde in den Windgeschlagen.Gern hätten wir hier mit unserem Koaltionspartner indieser Legislaturperiode noch eine parlamentarischeInitiative zur Stärkung der UNESCO-Welterbestätten er-griffen. Wenn aber die CDU/CSU-Fraktion im erstenSchritt nicht bereit ist, in einem gemeinsamen Antrags-entwurf die Bedeutung der Bindungswirkung und ihreAnerkennung mitzutragen, und dann im zweiten Schrittnicht bereit ist, anzuerkennen, dass das Bundesministe-rium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ganz maß-geblich zum Erhalt deutscher Welterbestätten beiträgt,ist die Kompromissbereitschaft unsererseits überstrapa-ziert. Auch der in einem Antragsentwurf unsererseits for-mulierte wünschenswerte Vorbildcharakter Deutsch-lands bei der Wahrung des Welterbes hätte auf WunschZu Protokollder CDU/CSU gestrichen werden sollen – uns völlig un-erklärlich.Insoweit weist der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aus Sicht der SPD in die richtige Richtung.In dieser Legislatur stellt er sich aber nicht mehr als ziel-führend heraus. Das von ihnen geforderte Umsetzungs-gesetz würde ausschließlich auf die Welterbekonventionabstellen. Es gibt aber Grund zur Hoffung, dass uns inder nächsten Legislatur ein größerer Wurf als nur einUmsetzungsgesetz für die UNESCO-Welterbekonventiongelingt. Wir wünschen uns, dass ein Gesetz zur Berück-sichtigung des Denkmal- und Welterbeschutzes im Bun-desrecht zum einen das UNESCO-Weltkulturerbe als be-sonderes öffentliches Interesse ausdrücklich verankertund zugleich weitere offene Fragen zum Welterbe- undDenkmalschutz regelt.Ich darf an dieser Stelle daran erinnern, dass wir auchzur Frage des Schatzfundes eine den denkmalpflegeri-schen Interessen gerecht werdende Lösung finden müs-sen und dass wir uns weiter für die Umsetzung desUNESCO-Übereinkommens zum Schutz des Kulturerbesunter Wasser einsetzen müssen. Deshalb möchte ich füreine große Lösung werben und hoffe, dass es uns frak-tionsübergreifend möglichst frühzeitig in der kommendenWahlperiode gelingt, ein Paket zu schnüren, das all dieseBelange in einem Artikelgesetz mit einbezieht.Weiterhin nimmt die SPD-Fraktion mit Freude wahr,dass nun auch in der CDU/CSU-Fraktion das Interessean der Umsetzung der UNESCO-Konvention zum Schutzdes immateriellen Kulturerbes wächst. Auch die Umset-zung dieser Konvention könnte in ein solches Paket ein-bezogen werden. Schon zu Beginn dieser Legislatur istuns mit der Umsetzung der Kulturgutschutz-Konventionund der UNESCO-Konvention zur Sicherung der Vielfaltkultureller Ausdrucksformen ein großer und wichtigerSchritt gelungen. Ich bin zuversichtlich, dass uns einähnlich großer Schritt auch ein zweites Mal gelingenwird.Deshalb wäre es falsch, sich zum jetzigen Zeitpunktauf ein Umsetzungsgesetz, das nur den Welterbeschutz imBlick haben kann, zu versteifen.
Durch den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen wird die Bundesregierung aufgefordert, ein Umset-zungsgesetz für das UNESCO-Welterbeübereinkommenvorzulegen. Anlass des Antrages ist der Rechtsstreit umden Brückenbau über das Dresdner Elbtal. Hier wurdedeutlich, dass die bisherige Annahme der direkten Bin-dung völkerrechtlicher Verträge für alle staatlichen Ebe-nen nicht gilt: Das OVG Bautzen und das Bundesverfas-sungsgericht hatten im Jahr 2007 eine unmittelbareinnerstaatliche verpflichtende Bindungswirkung derWelterbekonvention infrage gestellt, da die Welterbekon-vention nur durch ein Verwaltungsabkommen nachArt. 59 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz umgesetzt wurde.Im Mittelpunkt der Welterbekonvention steht der Denk-malschutz, der in die Zuständigkeit der Länder fällt. Nacheiner zentralistischen Ansicht liegt die Abschlusskompe-
Metadaten/Kopzeile:
26002 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Christoph Waitztenz beim Bund, die Länder seien jedoch für die Transfor-mation des Vertrages in innerstaatliches Recht zuständig.Nach einer föderalistischen Ansicht lägen sämtlicheKompetenzen – des Abschlusses und die der Transforma-tion – bei den Ländern. Hier existieren also zwei konkur-rierende Ansichten.Nach Auffassung der Mehrheit der FDP-Fraktionliegt hier keine Bundeszuständigkeit vor. Aus diesemGrund lehnt die FDP-Fraktion den Antrag ab und be-gründet dies im Konkreten wie folgt:Das UNESCO-Übereinkommen hat den Schutz so-wohl des Weltnatur- als auch des -kulturerbes zum Inhalt.Der Bund ist jedoch nur hinsichtlich des Naturerbes be-fugt, die Konvention in innerstaatliches Recht umzuwan-deln, denn hinsichtlich des Kulturerbes fehlt ihm die Ge-setzgebungskompetenz. Des Weiteren kommt dem Bundnach Art. 59 Abs. 2 Grundgesetz ein formelles, aber keinmaterielles Gesetzgebungsrecht zu. Eine völkervertragli-che Regelung ist nicht automatisch eine auswärtige An-gelegenheit, für die der Bund nach Art. 73 Nr. 1 Grund-gesetz die ausschließliche Gesetzgebungskompetenzhätte. Ein Vertragsgesetz des Bundes ist daher nur inso-weit zulässig, wie es eine Materie der Bundesgesetzge-bung regelt. Soll hingegen ein völkerrechtliches Abkom-men in die nationale Rechtsordnung überführt werden,für das seinem Inhalt nach die Länder die Gesetzge-bungskompetenz besitzen, ist es allein deren Aufgabe, einentsprechendes Gesetz zu erlassen. Der Bund kann inso-weit nicht anstelle der Länder tätig werden. In Bezug aufden Denkmalschutz verleiht das Grundgesetz dem Bundkeine Gesetzgebungskompetenz, somit sind gemäß Art.70 Abs. 1 Grundgesetz die Länder zuständig.Unabhängig von diesem Ergebnis gilt: Die Bundesre-publik Deutschland hat einen verpflichtenden völker-rechtlichen Vertrag geschlossen. Als Konsequenz diesesVertrages sind die Länder durch das Lindauer Abkom-men an den Inhalt gebunden.Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“hatte die Bundesregierung eindringlich aufgefordert, einUmsetzungsgesetz in Abstimmung mit den Ländern aufden Weg zu bringen. Sie begründete dies mit Blick aufden Rechtsstreit zur Waldschlößchenbrücke und führteaus, dass im Rahmen eines Ausführungsgesetzes eine in-nerstaatlich verpflichtende Bindungswirkung für dasWelterbe zu schaffen und die Verpflichtung aus der Welt-erbekonvention in Bundesgesetzen wie dem Raumord-nungsgesetz, dem Baugesetzbuch, dem Bundesnatur-schutzgesetz etc. zu verankern sei.Ob wir den Schutz auf Bundes- oder auf Landesebenesicherstellen, ist meines Erachtens nicht entscheidend.Entscheidend ist, dass wir die notwendigen administrati-ven und gesetzlichen Maßnahmen ergreifen, um das welt-weite Vertrauen in die uneingeschränkte Geltung derWelterbekonvention in Deutschland wiederherzustellen.Da die Länder im Jahr 2007 schon einen Vorstoß unter-nahmen, jedoch keine einheitliche Position herstellenkonnten und dies daher nicht in einer Initiative des Bun-desrates mündete, ist es meines Erachtens dringend ge-boten, das Verfahren nun wieder aufzunehmen.Zu ProtokollAus politischer Sicht sprechen für die Umsetzung derWelterbekonvention mindestens drei Gründe:Erstens. Die Aufnahme auf die von der UNESCO ge-führte Liste des Welterbes ist eine große Ehre für das je-weilige Land und die Region. 890 Denkmäler in 148 Län-dern sind auf der Liste verzeichnet. Ein Eintrag auf dieListe macht für Deutschland den besonderen Wert derkulturellen Tradition und des kulturellen Erbes deutlich,denn die Kultur- und Naturstätten stehen unter demSchutz der Internationalen Konvention für das Kultur-und Naturerbe der Menschheit.Zweitens. Wird der gegenwärtige Status quo erhaltenund kein Umsetzungsgesetz geschaffen, ist eine weitereFörderung durch Bundesmittel kaum mehr zu begründen:Immerhin stellt das Bundesministerium für Verkehr, Bauund Stadtentwicklung in den Jahren 2009 bis 2013 insge-samt 150 Millionen Euro zur Verfügung, um investive undkonzeptionelle Maßnahmen zum Schutz und zur Pflegeder deutschen Welterbestätten und ihres städtebaulichenUmfeldes zu ermöglichen. Ohne ein Ausführungsgesetzstände jede Abweichung von der Welterbekonvention inder Beliebigkeit der Länder und Gemeinden. Ohne einenrechtlichen Rahmen für den Schutz des Weltkulturerbeshaben wir keine Basis für weitere Investitionen von Steu-ergeldern.Drittens. Es ist davon auszugehen, dass weitere deut-sche Bewerberstädte und Regionen für das Weltkultur-erbe künftig nur dann Aussicht auf Erfolg haben werden,wenn die Bundesrepublik Deutschland durch das Ausfüh-rungsgesetz die rechtliche Konkretisierung des Schutzesverwirklicht hat. Wir glauben auch nicht, dass diese Nor-mierung zu einer weiteren Aufblähung der Bürokratieführen würde, die von CDU und CSU in diesem Zusam-menhang beschworen wird. Aber wir begrüßen, dassauch die CDU und CSU im nächsten Deutschen Bundes-tag dieses Thema wieder aufgreifen wollen.Meines Erachtens dürfen wir es rechtlich gesehennicht beim Status quo belassen. Wir müssen dafür Sorgetragen, dass die Bundesregierung und die Länder ge-meinsam möglichst umgehend ein Ausführungsgesetz inAngriff nehmen. Unabhängig von Kompetenzfragen. Un-abhängig von der Frage, ob dies auf Ebene der Länderoder des Bundes zu geschehen hat. Auf diese Weisewürde deutlich, dass mit der Eintragung in die Welterbe-liste der UNESCO nicht nur eine Ehre und touristischeAnziehungskraft, sondern auch eine besondere Verpflich-tung verbunden ist – nicht der UNESCO zuliebe, sonderndamit das gemeinsame kulturelle Erbe für künftige Gene-rationen bewahrt wird.
Seit zweieinhalb Jahren versucht die Fraktion DieLinke, die Bundesregierung auf ihre Verpflichtung alsvölkerrechtliche Vertragspartnerin der UNESCO-Kon-vention aufmerksam zu machen.Aufgeschreckt durch die Causa Waldschlößchenbrü-cke in Dresden hatten wir bereits im September 2006 be-antragt, dass Bundestag und Bundesregierung im Hin-blick auf die Achtung und Einhaltung völkerrechtlicher
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 26003
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Lukrezia JochimsenVerpflichtungen Position beziehen müssen. Zitat aus derBegründung:Die UNESCO-Konvention enthält völkerrechtlicheVerpflichtungen, die jeder Hoheitsträger – alsoBund, Länder, Kommunen – im Rahmen seiner Zu-ständigkeit und der Gesetze zu erfüllen hat. Es gehtnicht, dass die Stadt Dresden sich freiwillig um denEintrag in die Weltkulturerbeliste beworben hat undjetzt das Völkerrecht ignoriert. Die BundesrepublikDeutschland macht sich als völkerrechtlicher Ver-tragspartner unglaubwürdig.Von der CDU/CSU gab es nur Ablehnung. Stichwort„Kommunales Thema“! Die Abgeordnete Maria Michalksagte in der Sitzung des Kulturausschusses am 20. Sep-tember 2006, das Parlament habe sich nicht einzumi-schen; deshalb gehe der Antrag der Fraktion Die Linkean der Sache vorbei und werde abgelehnt. Genausogeschah es auch, und das, obwohl der AbgeordneteWolfgang Thierse ausdrücklich feststellte, dass es nichtum ein lokales Problem Dresdens gehe, sondern um dieFrage, ob Deutschland „welterbefähig“ bleibt; letztlichstehe die Glaubwürdigkeit der BRD als internationalerVertragspartner auf dem Spiel. Trotzdem wurde der An-trag der Fraktion Die Linke abgelehnt, mit den Stimmenvon CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der SPD und derGrünen. Das war 2006.Ein halbes Jahr später haben wir unseren Antrag ak-tualisiert – das Desaster in Dresden nahm ja immer gro-teskere Züge an – und forderten erneut die Regierungzum Handeln auf.Mit der Unterzeichnung der Welterbe-Konventionhat sich die Bundesrepublik Deutschland dazu ver-pflichtet, die innerhalb seiner Landesgrenzen gele-genen Denkmäler von außergewöhnlicher, weltwei-ter Bedeutung zu schützen und zu erhalten.Alles umsonst. Die von mir im Ausschuss vorgetra-gene Begründung – leider ist es versäumt worden, dieUNESCO-Welterbekonvention in nationales Recht umzu-setzen; aus dem aktuellen Konflikt müssten daher Konse-quenzen gezogen werden – ging in Gelächter unter, unddie Abgeordnete Monika Griefahn erklärte, dass man un-abhängig vom Antrag der Linksfraktion prüfe, ob natio-nales Recht zu ergänzen sei, und deshalb diesen Antragnun ablehnen werde, was dann auch glatt geschah, mitden Stimmen von CDU/CSU und SPD und FDP – beiEnthaltung der Grünen. Das war am 13. Juni 2007, alsofast auf den Tag genau vor zwei Jahren.Mit der Prüfung „unabhängig von den Linken“ istman in der großen SPD-Fraktion allerdings seitdem nichtso recht vorangekommen. Denn 2009 in Erwiderung aufden Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Um-setzungsgesetz für UNESCO-Welterbe vorlegen“ ist manimmer noch unentschlossen, nicht sicher, muss weiterprüfen und beraten, obwohl im Kern schon überzeugt,dass es irgendwie in diese Richtung gehen müsse.Manchmal freut man sich ja, wenn man recht hat, auchwenn es nichts nützt. Denn nun wurde im Ausschuss derAntrag der Grünen abgelehnt – von einer sturen CDU/CSU und einer wackelpuddinghaften SPD – bei Befür-Zu Protokollwortung durch die drei Oppositionsparteien. Ja, alle dreisind jetzt auf der anderen Seite. Das war die eigentlicheÜberraschung: Die FDP zieht eine Lehre aus dem Dresd-ner Desaster und erklärt öffentlich:Die höchst bedauerliche Streichung des DresdnerElbtals von der Liste des UNESCO-Weltkulturerbeszeigt schwarz auf weiß, dass wir in Deutschlanddringend ein Ausführungsgesetz benötigen.Diese Auffassung vertraten auch die Grünen mit ih-rem Antrag und wir schon seit langem. Schade nur, dasswir bei diesen Koalitionsfraktionen auf die nächste Le-gislaturperiode warten müssen, damit aus dieser Sacheetwas wird! Notfalls werden wir einen neuen Antrag stel-len – allein oder zusammen mit jenen, die der gleichenAuffassung sind, dass konkrete gesetzliche Regelungenzum Schutz des Welterbes geschaffen werden müssen, jeeher, desto besser.Undine Kurth (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Seit 1977 ist Deutschland Vertragsstaat derUNESCO-Konvention – und das nicht gezwungenerma-ßen, sondern aus freiem demokratischen Willen. DieseKonvention legt fest, dass jeder Vertragsstaat Erfassung,Schutz und Erhaltung des in seinem Hoheitsgebiet be-findlichen Welterbes sowie seine Weitergabe an künftigeGenerationen sicherzustellen hat. Es ist eine allgemeinePolitik zu verfolgen, die darauf gerichtet ist, erstens demKultur- und Naturerbe eine Funktion im öffentlichen Le-ben zu geben, zweitens den Schutz dieses Erbes in allePlanungen einzubeziehen und drittens die erforderlichenrechtlichen, wissenschaftlichen, technischen, Verwal-tungs- und Finanzmaßnahmen zu treffen, die für „Erfas-sung, Schutz, Erhaltung in Bestand und Wertigkeit sowieRevitalisierung dieses Erbes erforderlich sind“.Es ist wirklich beschämend, dass es einer Kultur-nation wie Deutschland als erstem Staat weltweit nichtgelungen ist, eine solche Politik konsequent zu verfolgen,sodass ihm eine Kulturstätte von der Welterbeliste gestri-chen wurde. Dem Dresdner Elbtal wurde aufgrund desBaus der umstrittenen Waldschlößchenbrücke der Welt-erbetitel aberkannt.Wir bedauern, dass es aufgrund der Sturheit, Unein-sichtigkeit und Überheblichkeit der Verantwortlichen vorOrt und in Sachsen – hier sind vor allem CDU und FDPzu nennen – zu dieser Entscheidung hat kommen müssen.Das große Engagement vieler Dresdnerinnen und Dresd-ner für den Erhalt des Welterbetitels blieb erfolglos, wirteilen ihre Enttäuschung.Dabei geht es nicht in erster Linie um den Verlust ei-nes werbewirksamen Titels. Es geht vor allem um dieMissachtung völkerrechtlicher Verpflichtungen, die nunauch den Verlust von Fördergeldern zur Folge haben.Dazu hätte es nicht kommen müssen. Das Kompromiss-angebot stand, den Bürgerentscheid für eine Elbquerungauch durch Realisierung eines Tunnels umzusetzen.Die Ereignisse in Dresden zeigen, wie wichtig undrichtig der vorliegende Antrag von Bündnis 90/Die Grü-nen ist, die UNESCO-Welterbekonvention endlich in na-
Metadaten/Kopzeile:
26004 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 26005
(C)
(D)
Undine Kurth
tionales Recht umzusetzen. Nur mit der Verankerung derKonventionsinhalte in den entsprechenden Fachgesetzenwird sichergestellt, dass die Anforderungen, die sich ausdiesem Übereinkommen an die deutschen Welterbestät-ten ergeben, frühzeitig in allen Planungsprozessen Be-rücksichtigung finden.Das sächsische Oberverwaltungsgericht hatte, als esum die Beurteilung der Brückenplanung und -genehmi-gung ging, am 9. März 2007 festgestellt: „Eine unmittel-bar verpflichtende Bindungswirkung des – insgesamtumsetzungsbedürftigen – Vertragswerks dürfte allerdingsausscheiden.“ Die Welterbekonvention sei mangels Zu-stimmungs- oder Vertragsgesetzes wohl nicht Teil der in-nerstaatlichen Rechtsordnung der BundesrepublikDeutschland geworden, sodass ihr eine unmittelbareBindungswirkung nicht zugemessen werden könne. Aus-gehend von einer mittelbaren Bindungswirkung der Welt-erbekonvention und der auf ihrer Grundlage ergangenenEntscheidungen des Welterbekomitees vermochte der Se-nat daher eine offensichtliche Rechtswidrigkeit der imStreit stehenden kommunalaufsichtlichen Bescheidenicht zu erkennen. Wir haben also einen Rechtszustand,in dem die Welterbekonvention in rechtlichen Konflikt-fällen keine unmittelbare Wirkung entfalten kann. DerDenkmalschutz ist so in Abwägungsfällen deutlich ge-schwächt, die völkerrechtliche Verpflichtung zum Schutzdes Welterbes kann nicht konsequent umgesetzt werden.Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“des Deutschen Bundestages hatte bereits im Dezember2007 der Bundesregierung empfohlen, „ein Vertrags-gesetz zur Umsetzung der UNESCO-Welterbekonventionin Abstimmung mit den Ländern auf den Weg zu brin-gen“. Es ist schade, dass sich CDU/CSU und SPD nurdarauf einigen konnten, in der kommenden Legislatur-periode ein solches Umsetzungsgesetz prüfen zu lassen.Die aktuellen Probleme in Dresden oder am Mittelrheinzeigen, dass zügig gehandelt werden muss. Eine zögerli-che Haltung ist hier falsch.Die Bundesregierung der 17. Legislaturperiode solltedaher nicht so lange warten, bis auch die CDU/CSU ausihrem Dornröschenschlaf wach geküsst ist, sondern demneuen Bundestag baldmöglichst entsprechend ihrer Ge-setzgebungskompetenz einen Gesetzentwurf zur rechtli-chen Umsetzung der UNESCO-Welterbekonvention innationales Recht vorzulegen.Wir müssen das Welterbe in Deutschland schnellrechtlich stärken, denn auch der Welterbetitel für denMittelrhein ist in Gefahr. Im kommenden Jahr wird dieUNESCO-Welterbekommission auf ihrer 34. Sitzung inBrasilien darüber beraten, ob der geplante Bau einerRheinbrücke zwischen Mainz und Koblenz mit dem Welt-erbestatus vereinbar ist. Allerdings ist der rheinland-pfälzischen Landesregierung zu attestieren, dass sie eineLösung in Zusammenarbeit mit der UNESCO-Kommis-sion sucht. Die sächsische Landesregierung wollte mitdem Kopf durch die Wand und hat sich dabei das geholt,von dem schon jedes Kleinkind weiß, dass man es sichdabei einhandelt: eine blutige Nase.Dresden wird weiter eine schöne und sehenswerteKulturstadt sein. Der Stadt ist aber eine politische Ver-waltung zu wünschen, die nicht weiter Porzellan zer-schlägt oder gar dem Verlust des Welterbetitels mit Trotzund weiteren unverzeihlichen Bausünden begegnet. Lei-der ist zu befürchten, dass Bürgerprotest nun erst rechterforderlich sein wird, denn erste Stimmen reden nun be-reits – unter dem Deckmantel „moderner Urbanität“ –einer völlig enthemmten Bauwut das Wort.
Hierzu liegt eine persönliche Erklärung nach § 31 der
Geschäftsordnung vor, die wir zu Protokoll nehmen.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Kultur und Medien empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 16/13581, den Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/13176
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mehrheitlich angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 61:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Michael Kauch, Daniel Bahr , Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP
Lebendspenden bei der Transplantation von
Organen erleichtern
– Drucksachen 16/9806, 16/13573 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Hubert Hüppe
Organspende kann Leben retten und verlängern. Or-
ganspende nach Feststellung des Hirntodes ist, wie es die
Kirchen formuliert haben, ein Akt der Nächstenliebe. Die
Lebendspende eines Organs kann umso mehr ein Akt der
Nächstenliebe sein.
Die Organspende nach Feststellung des Hirntodes
und die Lebendspende haben wir 1997 nach langer und
intensiver Debatte im Transplantationsgesetz geregelt.
Die Fortschritte der Medizin und immer erfolgrei-
chere Transplantationen haben dazu geführt, dass eine
Organtransplantation heute in Fällen infrage kommt, in
denen früher keine Transplantation erwogen worden
wäre. Dadurch wächst der Bedarf an Organen konti-
nuierlich. Gleichzeitig wächst die Zahl der Organe von
hirntoten Spendern nicht im gleichen Maße. Wir verste-
hen den Wunsch von Patienten und ihren Angehörigen,
die ihre Hoffnungen in die Transplantation eines geeig-
neten Organs setzen.
Der vorliegende Antrag der FDP zur Ausweitung der
Lebendspende ist in mehrfacher Hinsicht problematisch.
Der Antrag will offenbar dem Mangel an postmortal ge-
spendeten Organen durch eine weitreichende Ausdeh-
nung der Lebendspende begegnen. Weil dies ein höchst
1) Anlage 8
(C)
(D)
Hubert Hüppe
problematischer Weg wäre, haben sowohl im Gesund-
heitsausschuss wie auch im Rechtsausschuss alle Frak-
tionen mit Ausnahme der FDP gegen diesen Antrag ge-
stimmt.
Die Entnahme eines Organs bedeutet ein gesundheit-
liches Risiko für den Spender, einschließlich des Risikos
seines Todes. Die Stiftung Lebendspende nennt als Risko
des Lebendspenders einer Niere einen Todesfall auf
1 600 Lebendspender. 2008 sind, ebenfalls nach Anga-
ben der Stiftung Lebendspende, 565 Nierentransplanta-
tionen mit Organen lebender Spender durchgeführt wor-
den. Damit kam jede fünfte transplantierte Niere von
einem Lebendspender. Bei der Lebendspende eines Le-
berlappens besteht offenbar ein höheres Risiko als bei
der Lebendspende einer Niere, so wurde für 2003 von
vier Todesfällen allein in Deutschland berichtet.
Die Problematik fasst die Bundesärztekammer in ih-
ren Empfehlungen zur Lebendorganspende so zusam-
men: „Der Arzt muss sich seiner besonderen Verantwor-
tung gegenüber dem Spender bewusst sein: Einem
Gesunden werden ausschließlich zum Wohl eines ande-
ren die Entnahme eines unersetzlichen Organs oder eines
Organteils, die dazu notwendige Operation und damit
verbundene Belastungen und Risiken zugemutet.“
Kosten für mittelbare und Spätfolgen der Lebend-
organspende sind, anders als die Kosten der Organent-
nahme, von der Krankenversicherung des Empfängers
nicht gedeckt. Zwar sind Berufs- oder Erwerbsunfähig-
keit infolge einer Lebendorganspende von der jeweiligen
Rentenversicherung, Pflegebedürftigkeit von der sozia-
len oder der privaten Pflegeversicherung abgedeckt,
doch weist die Bundesärztekammer darauf hin, dass das
Risiko finanzieller Einbußen durch Arbeitsunfähigkeit
und vorzeitige Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit nicht ab-
gesichert sind. Wenn wir die Lebendspende also diskutie-
ren, dann gehören sicher diese Aspekte zum Schutz der
Spender an erster Stelle dazu.
Die Lebendspende von Organen ist heute daher nur
unter engen Voraussetzungen zulässig, insbesondere darf
kein geeignetes Organ eines hirntoten Spenders zur Ver-
fügung stehen, und die Spende von Organen, die sich
nicht wieder bilden können, ist nur zulässig, wenn der
Empfänger ein Verwandter ersten oder zweiten Grades,
ein Ehegatte oder Verlobter ist oder wenn er dem Spen-
der in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkun-
dig nahesteht.
Zunächst müssen wir an den Schutz der Spender den-
ken. Lebendspende eines Organs sollte daher eine Aus-
nahme sein, und so ist es im Transplantationsgesetz gere-
gelt. Indem die FDP das Subsidiaritätsprinzip der
Lebendspende ersatzlos streichen will, macht sie die Le-
bendspende von der Ausnahme zur Regel. Auch die
Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen
Medizin“ hatte sich für die Beibehaltung dieses Subsi-
diaritätsprinzip ausgesprochen
Der Antrag will Überkreuzspenden und gezielte Le-
bendspenden auch ohne Näheverhältnis zulassen, er will
als Anreiz zur Lebendspende ein Bonuspunktesystem für
Organspender, die dann vorrangig Organe empfangen
Zu Protokoll
dürfen sollen. Die FDP will einen „Organpool“ zur
anonymen Lebendspende, wo die eigene Spendebereit-
schaft die Voraussetzung für ein Spenderorgan bedeutet.
Ich halte es für die bessere Lösung, Organe primär nach
Prüfung der medizinschen Eignung eines bestimmten Or-
gans für den Empfänger zu transplantieren, als unter der
Voraussetzung eigener Spendebereitschaft eine medizi-
nisch nicht optimale Zuordnung zwischen Spender und
Empfänger zu treffen. Hier wird am deutlichsten der bis-
herige und aus medizinischer Sicht vernünftige Grund-
satz aufgegeben, dass ein zur Verfügung stehendes Organ
dem Patienten übertragen wird, für den es unter medizi-
nischen Gesichtspunkten am geeignetsten ist und der es
am nötigsten braucht.
Es ist nicht auszuschließen, dass sublimer Druck zur
Lebendspende entsteht, etwa wenn der Partner ein
Transplantat benötigt, an das nur durch eine Überkreuz-
spende zu kommen ist. Es werden Graubereiche zum
Organhandel eröffnet, wenn etwa die gezielte Le-
bendspende ohne Näheverhältnis zugelassen würde. Die
CDU/CSU wird daher heute den Antrag der FDP ableh-
nen.
Am 13. Mai 2009 haben wir in erster Lesung über denAntrag der FDP zur Erleichterung von Lebendspendenbei der Transplantation von Organen debattiert. Das istnoch nicht lange her. Es ist weniger der Thematik desAntrags, sondern mehr dem Ende der Legislaturperiodegeschuldet, dass wir bereits heute abschließend überdiesen Antrag zu befinden haben.Wie ich in meiner Rede anlässlich der ersten Lesungdes Antrags ausgeführt habe, bin ich den Kolleginnenund Kollegen der FDP-Fraktion dafür dankbar, dass sieuns mit dem Antrag zur Lebendorganspende die Gele-genheit geben, uns mit diesem wichtigen Thema öffent-lich auseinanderzusetzen. Jeden Tag sterben in Deutsch-land immer noch drei Menschen, weil wir zu wenigSpenderorgane zur Verfügung haben. Auf den Wartelistenfür dringend notwendige Organspenden stehen 12 000Menschen, die auf ein Spenderorgan warten. Gleichzeitigwissen wir, dass wir das Potenzial an transplantierbarenSpenderorganen nicht ausschöpfen. Es ist deshalbwichtig, dass wir uns mit der Frage auseinandersetzen,wie wir die Zahl der Spenderorgane steigern können.Allerdings berücksichtigt der FDP-Antrag zur Er-leichterung der Lebendspende von Organen nur einenvon mehreren Aspekten, denen wir uns in diesem Zusam-menhang ausführlich zuwenden sollten. Nach meinemDafürhalten müssen wir Aspekte der Lebendspende ge-meinsam mit der Frage diskutieren, wie wir die Anzahlder postmortal gespendeten Organe steigern können.Dabei spielen neben organisatorischen Fragen auchethische Dimensionen eine große Rolle. Den heute ab-schließend beratenen Antrag der FDP-Fraktion habe ichdeshalb in meiner Rede anlässlich der ersten LesungMitte Mai als Startpunkt eines wichtigen Diskussions-prozesses bezeichnet, an dessen Ende der DeutscheBundestag in der kommenden Wahlperiode über die
Metadaten/Kopzeile:
26006 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Peter FriedrichWeiterentwicklung des Transplantationsgesetzes zu ent-scheiden hat.Im Mai 2007 haben wir die europäische Gewebericht-linie in deutsches Recht umgesetzt und das Transplanta-tionsgesetz an einigen Stellen an europäisches Recht an-geglichen. Auch damals war uns bereits klar, dass füreine Optimierung des Organtransplantationsprozessesweitere Änderungen des Transplantationsgesetzes not-wendig sind. Um diese Änderungen auf eine breite undmöglichst ausgewogene Entscheidungsgrundlage zustellen, haben wir damals mit den Stimmen der Mehrheitdes Deutschen Bundestages das Bundesministerium fürGesundheit gebeten, einen Erfahrungsbericht zur Situa-tion der Transplantationsmedizin in Deutschland zuerarbeiten und in diesem Wege zur Weiterentwicklungdes Transplantationsgesetzes aufzuzeigen.Der Bericht liegt dem Deutschen Bundestag seit die-ser Woche vor. Damit ist die verbleibende Zeit zu knapp,noch in dieser Legislaturperiode eine Debatte über diegesetzlichen und organisatorischen Rahmenbedingungensowie die ethischen Dimensionen der Transplantationvon Organen in Deutschland zu führen und am Ende die-ser Debatte das Transplantationsgesetz weiterzuent-wickeln. Auch können wir uns im Plenum und in den Aus-schüssen des Deutschen Bundestages aus Zeitgründennicht einmal mehr mit den zentralen Ergebnissen desBerichts aus der letzten Woche auseinandersetzen.Angesichts der 12 000 Patientinnen und Patienten aufder Warteliste und angesichts von drei Menschen, diestatistisch betrachtet pro Tag aufgrund der mangelndenAnzahl von Spenderorganen sterben, ist dies ein unbe-friedigendes Ergebnis dieser Legislaturperiode. Ichhoffe, dass sich der nächste Deutsche Bundestag gleichnach der Bundestagswahl mit Verve diesem Themaerneut zuwenden wird.Der uns in der letzten Woche vorgelegte ausführlicheBericht wird dem neugewählten Deutschen Bundestaghierbei die Chance geben, in einem strukturierten Ver-fahren nach vorne zu gehen. Ohne die anstehendeDiskussion notwendigerweise präjudizieren zu wollen,lassen sich aus dem Bericht, aber auch aus weiteren Ex-pertenbeiträgen wie etwa der Stellungnahme des Natio-nalen Ethikrates zur Organspende vom April 2007 sowieunterschiedlichen Fachveröffentlichungen zahlreicheorganisatorische wie rechtliche Anknüpfungspunkteinnerhalb des bestehenden Transplantationsprozesseszur deutlichen Steigerung der Anzahl der postmortal ge-spendeten Organe ableiten. Beispielhaft möchte ich andieser Stelle drei Punkte herausgreifen, die nach meinemDafürhalten in der kommenden Wahlperiode verstärkterAufmerksamkeit bedürfen.Der erste Punkt betrifft die Frage, inwiefern alle orga-nisatorischen wie finanziellen Anreize, die innerhalb desderzeit bestehenden Transplantationswesens existieren,auf das Ziel ausgerichtet sind, möglichst alle Spender-organe zu identifizieren und zu transplantieren. Der Na-tionale Ethikrat hat in seinem Votum vor zwei Jahrendarauf verwiesen, dass die Erstattung der Kosten organ-entnehmender Krankenhäuser nicht in allen Fällen dazugeeignet ist, die entstandenen Kosten zu decken. ZudemZu Protokollkritisierte der Ethikrat mangelnde Sanktionen für dieKrankenhäuser, die sich an der Organspende nicht odernicht ausreichend beteiligen. In meinen Augen sollte sichder Deutsche Bundestag in der kommenden Legislatur-periode mit der Frage auseinandersetzen, inwiefern po-sitive ökonomische Anreize, die über die reine Erstattungentstandener Kosten hinausgehen, nicht ein wirksamesInstrument zur Verbesserung der Melderate darstellenkönnten.Mein zweiter Punkt betrifft die Frage, inwiefern dieMonopolstellung der Deutschen Stiftung für Organ-spende ohne umfassende Rechts- und Fachaufsicht desStaates eine ausreichende organisatorische Gewähr fürdie möglichst optimale Koordination der Organspende inDeutschland und aller damit einhergehenden organisa-torischen Rahmenbedingungen bieten kann. Aus meinerSicht ist es gerade bei einer so wichtigen Aufgabe wie derVermittlung und Vergabe von Organen von zentraler Be-deutung, ein Höchstmaß an Transparenz sicherzustellen.Dies spricht dafür, dem Staat durch die Gewährung vonAufsichtsrechten umfassende Kontroll- und Durchgriffs-möglichkeiten zu gewährleisten, damit Transparenz unddemokratische Verantwortlichkeit jederzeit gewährleistetsind. In meinen Augen kann die Überwachungskommis-sion, in der die Vertragspartner der DSO vertreten sind,diese notwendigerweise staatliche Aufgabe nicht alleinewahrnehmen. Ich vermag nicht zu erkennen, weshalb derStaat über die umfassenden Aufsichtsrechte, über die erauch in anderen Bereichen des Gesundheitswesens ver-fügt, nicht auch in der Transplantationsmedizin verfügensollte.Der dritte Punkt, den ich an dieser Stelle beispielhafthervorheben möchte, bezieht sich auf die Trans-plantationsbeauftragten in den Krankenhäusern. Ichdenke, durch eine klare Aufgabenbeschreibung derTransplantationsbeauftragten mit einer organisatorischstärkeren Einbindung in den Klinikalltag, mit einer ange-messenen Vergütung und mit einer festgeschriebenenFreistellung der Transplantationsbeauftragten für dieWahrnehmung ihrer Aufgaben innerhalb des Organ-transplantationsprozesses ließe sich die Zahl postmortalgespendeter Organe deutlich verbessern.Neben zahlreichen organisatorischen und aufsichts-rechtlichen Gesichtspunkten, auf die ich an dieser Stellenur kurz eingegangen bin, sollte sich der nächste Deut-sche Bundestag nach meinem Dafürhalten auch mit denethischen Dimensionen des Transplantationswesens inDeutschland auseinandersetzen. Ich persönlich befür-worte das Votum des Nationalen Ethikrats, der die beiuns bislang praktizierte erweiterte Zustimmungslösungzur Entnahme von Organen zugunsten eines Stufen-modells ablösen möchte, das Elemente einer Erklärungs-regelung mit einer Widerspruchsregelung verbindet. DerStellungnahme des Ethikrates zufolge sollte jeder undjedem die Möglichkeit gegeben werden, zu Lebzeiten eineErklärung über die persönliche Bereitschaft zur Organ-spende abzugeben. Bei einer unterbliebenen Erklärungsollte es dann möglich sein, Organe nach dem Tod ent-nehmen zu dürfen, solange die Angehörigen dieser Organ-entnahme nicht widersprechen. Ich würde es sehr begrüßen,wenn unabhängig von den rechtlichen und organisatori-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 26007
gegebene Reden
(C)
(D)
Peter Friedrichschen Fragestellungen in der Weiterentwicklung desTransplantationsgesetzes in der kommenden Legislatur-periode aus der Mitte des Deutschen Bundestages herausein Gruppenantrag initiiert werden würde, der das vomNationalen Ethikrat vorgeschlagene Stufenmodell imDeutschen Bundestag zur Abstimmung stellt und einegesellschaftliche Diskussion hierüber anstößt, die einebelastbare Unterstützung für eine derart tiefgreifendeVeränderung schaffen kann.Auch die Aspekte hinsichtlich der Lebendspende, diein dem uns heute vorliegenden Antrag der FDP-Fraktionenthalten sind, berühren zahlreiche ethische Dimen-sionen, die vor einer abschließenden Befassung einenlängeren Diskussionsprozess voraussetzen. Darüber hi-naus sollten diese Fragen nach einer Erleichterung derLebendspende nicht isoliert betrachtet, sondern mit denFragen nach der Steigerung postmortal gespendeterOrgane gemeinsam diskutiert werden.Unabhängig davon habe ich persönlich allerdings ins-besondere mit zwei der in dem Antrag enthaltenenPunkte erhebliche Schwierigkeiten. Nach meinem Dafür-halten sollten wir den Grundsatz der Subsidiarität derLebendspende nicht aus dem Transplantationsgesetzstreichen. Vielmehr sollte eine Lebendspende erst dannerlaubt sein, wenn kein geeignetes postmortal gespende-tes Organ zur Verfügung steht. Unbeschadet dessen wärees jedoch in meinen Augen denkbar, stärker als bislangauch medizinische Kriterien in die Abwägung zwischenpostmortaler Spende und Lebenspende miteinzu-beziehen. Eine Lebendspende könnte erlaubt werden,wenn sich hiervon aus medizinischer Sicht bessereErgebnisse als aus einer postmortalen Spende erwartenlassen würden. Grundsätzlich sollte diese Möglichkeitden Vorrang der postmortalen Spende aber nicht infragestellen.Der zweite Punkt in dem vorliegenden Antrag, der mirerhebliche Schwierigkeiten bereitet, betrifft die darinvorgesehende Überkreuzspende. Hier gilt es nach mei-nem Dafürhalten, dem Spenderschutz und der Kommer-zialisierungsgefahr weiterhin gerecht zu werden. Ich be-fürchte, dass eine Zulassung der Lebendspende auchzwischen Personen, die in keinem persönlichen oder ver-wandtschaftlichen Näheverhältnis zueinander stehen,dazu führen könnte, dass sich potenzielle Spender einemhohen moralischen Druck zugunsten einer Organspendeausgesetzt fühlen könnten. Auch würde die Zulassung derÜberkreuzspende durch die Ausweitung des Kreises derunmittelbar betroffenen Personen dazu führen, dassganze Beziehungsgeflechte von der Entscheidung hin-sichtlich einer Lebendspende betroffen wären undFragen von Freundschaft, Vertrauen und vielleicht auchvon Liebe an Bedeutung gewinnen. Die Sorge vor er-handelten Lebendspenden oder Lebendspenden, die un-ter Druck zustande gekommen sind, müssen wir im Sinnedes Spenderschutzes ernst nehmen und ausführlichdiskutieren.Es ist wichtig, dass wir uns aus der Mitte des Parla-ments heraus allen Aspekten der Organspende umfas-send annehmen. Ich hoffe sehr, dass sich der neuge-wählte Deutsche Bundestag ausführlich den Fragen zurZu ProtokollSteigerung der postmortalen Spende, zu den Rahmenbe-dingungen der Lebendspende und auch zur abgestuftenWiderspruchslösung widmen wird. Wenngleich uns diesin dieser Legislaturperiode nicht gelungen ist, konntenwir mit den zwischenzeitlich erfüllten Berichtsaufträgenzur Verbreiterung der Entscheidungsgrundlage für denDeutschen Bundestag der kommenden Wahlperiode bei-tragen.Sicherlich werden die Aspekte des FDP-Antrags, deruns heute zur Abstimmung vorliegt, in der inner- wie au-ßerparlamentarischen Diskussion eine wichtige Rollespielen. Ich kann dem Antrag in der Form, in der er unsnun zur Abstimmung vorliegt, allerdings nicht zustim-men.
Noch immer herrscht in Deutschland ein Mangel anSpenderorganen. 2008 ging die Zahl der Spender sogarum 9 Prozent zurück. 12 000 Menschen stehen auf denWartelisten, davon 8 000 für eine Niere. Viele versterbenin dieser Zeit, leiden über Jahre unter den Einschränkun-gen der Dialyse oder müssen andere gesundheitlicheEinschränkungen hinnehmen. Diese Menschen stehennicht allein: Sie haben Familien, die sie lieben und fürdie sie einstehen, Freunde, mit denen sie ein emotionalesBand verbindet. Sie sind Kollegen, auf die ein Betriebbaut, Arbeitgeber, an denen weitere Existenzen hängen,sind ehrenamtlich engagiert. Kurz und gut: Die Zahl derBetroffenen ist viel höher, als uns die Statistik vermittelt.Eine schwere Erkrankung ist ein Handicap, das vorallem, aber nicht nur für den Erkrankten teils schwersteEinschränkungen mit sich bringt. Nicht nur die Lebens-qualität des Patienten ist durch die Sorge beeinträchtigt,nicht durchzustehen, bis ein geeignetes Spenderorgan ge-funden ist, sondern auch die seiner Nächsten. Es gibtFälle, da bietet sich die Möglichkeit, einem Menschen,der einem nahesteht, zu helfen: durch eine Lebendspende.Was aber, wenn einem dieser Weg nicht offensteht, weildie eigene Blutgruppe mit der des Patienten nicht über-einstimmt? Obwohl man helfen will und Hilfe dringendbenötigt wird, kann man nichts tun. Eine schlimme Si-tuation.Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet die Über-kreuzspende. Wir sehen die Lebendspende keineswegs alsErsatz für die postmortale Spende. Es sind alle Anstren-gungen zu unternehmen, um die Transplantation von Or-ganen Verstorbener voranzubringen. Diese sogenanntepostmortale Spende erfordert einerseits eine Steigerungder Bereitschaft in der Bevölkerung, nach dem Tod Or-gane zu spenden und einen Organspendeausweis auszu-füllen. Andererseits müssen auch die organisatorischenund personellen Voraussetzungen im Krankenhaus ver-bessert werden, um aus möglichen Spenderorganen auchtatsächliche eine Transplantation zu machen.Aber wir sehen die Organlebendspende als wichtigeErgänzung, eine Option, um Leben zu retten, eine Op-tion, um zu helfen. Doch das Transplantationsgesetz setztdem Helfen enge Grenzen. So dürfen nur Verwandte undenge Freunde einem Todkranken ein Organ spenden.
Metadaten/Kopzeile:
26008 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Michael KauchDie FDP-Bundestagsfraktion will das Transplanta-tionsgesetz bei Lebendspenden von unnötigen Vorschrif-ten befreien, den Organhandel aber weiter unter Strafestellen. Wir wollen mehr Freiheit zum Helfen. Nächsten-liebe darf nicht länger unter Strafe stehen. Mit unseremAntrag wollen wir den Kreis der zulässigen Spender er-weitern. So sollen zum Beispiel Ehepaare bei Blutgrup-penunverträglichkeit über Kreuz einem anderen Paarspenden dürfen, und zwar ohne die heutigen Einschrän-kungen.Kritiker argumentieren, es bestünde die Gefahr, dasseine solche Entscheidung nicht freiwillig sei, dass Druckausgeübt werde, dass ein Ehepartner sich kaum verwei-gern könnte, wenn sein Partner ihn bittet, einer Über-kreuzspende zuzustimmen. Deshalb bräuchte es des Nä-heverhältnisses zwischen Spender und Empfänger.Glauben Sie wirklich, dass eine Mutter oder eine Schwes-ter keinen Druck empfindet, wenn ihr Sohn, ihr Geschwis-ter todkrank ist? Es sind die Krankheit und ihre gravie-renden Folgen, die Druck aufbaut, nicht die Frage, ob einNäheverhältnis vorliegt.Die FDP will außerdem die Nachrangigkeit der Le-bendspende gegenüber der postmortalen Spende aufhe-ben. Heute ist eine Lebendspende verboten, wenn einpostmortal gespendetes Organ verfügbar wäre, und das,obwohl bei Lebendspenden die Überlebensraten für denEmpfänger einer Niere deutlich besser sind und das Or-gan des Toten einem anderen Kranken helfen könnte.Für uns ist eins klar: Schon ein gerettetes Leben istGrund genug, die Beschränkungen des Transplantations-gesetzes infrage zu stellen.Aber selbst wenn man nicht so weit gehen will, wie wirdas vorschlagen: Helfen ist kein strafwertes Unrecht.Eine Ordnungswidrigkeit für den Arzt würde bei Übertre-tungen des Gesetzes völlig ausreichen. Damit mehr Men-schen helfen können, stimmen Sie unserem Antrag zu.Stimmen Sie für mehr Freiheit für die Nächstenliebe.
Heute, in der planmäßig letzten Sitzungswoche der16. Legislaturperiode, befasst sich das Hohe Haus er-neut mit einem ethischen Thema, mit Organspenden.Konkreter Anlass ist uns diesmal ein Antrag der FDP, derLebendspenden – nicht zuletzt sogenannte Überkreuz-spenden – erlauben will. Ich will gar nicht darum herum-reden: Dieses Ansinnen lehne ich ab. Und ich füge hinzu,dass die Fraktion Die Linke diese Ablehnung teilt.Dieser Tagesordnungspunkt zu später Stunde veran-lasst mich jedoch, einen etwas größeren Zusammenhangdarzustellen: Unsere Debatten über ethische Problemescheinen mir nämlich insgesamt zu verkrampft, zumachtüberlagert, zu wenig frei von Erfolgsinteressen zusein. Zu oft wird so getan, als ob solche Debatten nutzlosseien, wenn sie nicht in gesetzgeberische Ergebnissemünden, also nicht zu neuen Gesetzen führen. Besondersdeutlich wurde das im vergangenen Monat, als der Deut-sche Bundestag über Patientenverfügungen debattierteund schließlich auch ein Gesetz verabschiedete.Zu ProtokollLebendspenden scheinen den FDP-Kollegen das ge-eignete Mittel zu sein, den Mangel an Organen, die im-plantiert werden können, zu beheben. Und kommerziel-len Missbrauch schließen sie selbstverständlich völligaus. Besonders haben es ihnen Überkreuzspenden be-freundeter Ehepaare angetan. Als wäre das ohne jedenInteressenkonflikt. Aber sie schlagen auch gleich nocheinen Organpool vor. Da lugt der Kommerz aus allenKnopflöchern.Am Beginn dieser Wahlperiode wurden vielfältige Ver-suche von Abgeordneten aus allen Fraktionen unternom-men, uns ein ständiges Gremium zu schaffen, in demethische Fragen in aller Ruhe, mit politischem Verant-wortungsbewusstsein – also praxisorientiert – beratenwerden können. Doch weder diesem Vorschlag noch derEinsetzung einer erneuten Enquete-Kommission, die sichmit Ethik und Recht in der modernen Medizin befassthätte, wollten die Vorstände der Koalitionsfraktionen zu-stimmen. Der Antrag der Linken „Einsetzung einesEthik-Komitees des Deutschen Bundestages“, Druck-sache 16/3277 vom 7. November 2006, wurde von CDU/CSU, SPD und FDP abgelehnt. Stattdessen hängte dieRegierung dem Nationalen Ethikrat ein neues Mäntel-chen um und meinte, damit sei genug getan.Wie groß dieser Irrtum war, erwies sich nicht zuletzt inden vergangenen Monaten, als wir über sogenannteSpätabtreibungen, die Patientenverfügung, das Sterbenund heute auch über Lebendspenden zur Organtrans-plantation sprachen und sprechen.Dass bei Transplantationen widersprüchliche Interes-sen im Spiel sind, lässt sich nicht leugnen. Der Wunsch,mit einem funktionsfähigen Organ gut weiterleben zukönnen, ragt zwar am deutlichsten heraus – zumindestwird das am häufigsten ins argumentative Feld geführt –,er ist bei Weitem aber nicht das einzige Argument, häufigwohl nicht einmal das wichtigste. Geht es um Le-bendspenden, lassen sich kommerzielle Interessen amwenigsten verdrängen. Aber auch verdeckte Interessenwirken subtil. Beispielsweise kann ein gewisser Zwangzur Spende entstehen, wenn bekannt ist, dass zwischenVerwandten gute Immunverträglichkeitswerte bestehen.Mit Freiwilligkeit hat das dann nur noch wenig zu tun.Da die Mehrheit dieses Hohen Hauses meinte, ohneein entsprechendes Beratungsgremium auskommen zukönnen, blieben unsere Erkenntnisfortschritte eher zufäl-lig. Wenn ich das sage, spreche ich keiner Kollegin undkeinem Kollegen das redliche Bemühen ab, sich – nebenall den anderen Verpflichtungen, die uns alle alltäglichumtreiben – so sachkundig wie möglich zu machen. Aberdie kollektive Selbstverständigung in der Kombinationvon Fachexpertenwissen und Politikerkenntnis fehlteuns, sehr sogar.In der ersten Lesung dieses Antrags konstatierten fastalle Rednerinnen und Redner mit mehr oder wenigerausgeprägtem Bedauern, dass die Spendenbereitschaft inder BRD eher rückläufig sei. Dabei sei doch im Trans-plantationsgesetz, das die FDP mit ihrem Antrag erwei-tern – ich sage: aufweichen, womöglich völlig aushöhlen –will, alles vortrefflich geregelt. Kaum jemand fragte nachden Ursachen, erst recht entwickelte man Verständnis
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 26009
gegebene Reden
(C)
(D)
Dr. Ilja Seifertdafür. Nein, Ziel sei und müsse bleiben, mehr implanta-tionsfähige Organe zu gewinnen.Vielleicht hätten wir in einer Ethik-Kommission desBundestages einige Fragen, die mit dem Ende des Lebenszusammenhängen, etwas anders gestellt und beantwor-tet? Vielleicht hätten wir mehr Zeit und dann tiefgründi-gere Argumente darauf verwendet, über die natürlicheEndlichkeit des Lebens zu reden? Vielleicht hätten wirder Illusion, reparierbare Körper zu haben, allgemeinverständlichere und das Menschenbild weniger verzer-rende Alternativen entgegenzustellen vermocht? Wie tief-greifend verändern wir unser Menschenbild, wennmanchmal der Eindruck erweckt wird, wir könnten demTod ein Schnippchen schlagen? Warum verwenden wir soviel Energie darauf, den Tod und das Sterben aus unse-rem Alltag zu verdrängen? Stünde es uns nicht mindes-tens genauso gut – vermutlich sogar besser – zu Gesicht,mit diesen Lebensphasen viel selbstverständlicher um-zugehen und offener darüber zu reden? Und wenn Kör-perorgane versagen, nicht nach Reparatur zu rufen, son-dern – alle klassischen Mittel der medizinischen Kunstnutzend – uns trotzdem auf das Unvermeidbare vorzube-reiten?In etlichen Plenardebatten – zum Beispiel wenn es umdie Contergan-Opfer oder um Menschen ging, die assis-tierende und pflegende Hilfe benötigen – äußerten vieleRednerinnen und Redner, wie wichtig es ihnen sei, Leidabzuwenden, oder es zumindest lindern zu helfen. Nichtselten klangen ihre Stimmen dabei tief betroffen.Erinnern Sie sich einiger Debatten, in denen es umHospizarbeit, insbesondere um Kinderhospize ging:Große Betroffenheit allenthalben. Höchstes Lob fürhaupt- und ehrenamtlich arbeitende Hospizangestellte.Am Ende gab es ein bisschen mehr Geld und das Verspre-chen, zukünftig dieser wichtigen Aufgabe größere Aner-kennung zu widmen.Die Wahrheit auszusprechen, dass medizinisch ebennicht alles möglich – nicht einmal wünschenswert – ist,scheuen wir uns aber häufig. Ich schließe mich da aus-drücklich ein. Könnten wir einander jedoch in regelmä-ßiger Befassung mit ethischen Fragen auch gegenseitigMut machen, solche Wahrheiten beim Namen zu nennen,fielen uns vermutlich auch solche öffentlichen Debattenleichter. Vor allem aber könnten wir sie mit weniger Pa-thos führen. Und somit unserer Vorbildfunktion – ichmeine, dass wir gewählten Abgeordnete eine solche inder Öffentlichkeit haben – besser entsprechen. Wirbräuchten uns weniger an politisch korrekte Begriffe zuklammern, sondern könnten eine einfache und verständ-liche Sprache sprechen.Der Ruf nach größerer Spendenbereitschaft klammertunter anderem die Erfahrungen derjenigen aus, die zumBeispiel mit einer Spenderniere leben, inzwischen aberdeutlich sagen, dass sie darunter mehr leiden als unterder Dialyse-Abhängigkeit. Sowohl die drastischen Aus-,Neben- und Hauptwirkungen der starken Medikamente,die lebenslänglich gegen die Abstoßgefahr des neuen Or-gans genommen werden müssen, als auch ethische Fra-gen nach der Spenderin bzw. dem Spender spielen dabeieine große Rolle.Zu ProtokollAuch klammern wir die Phase der Explantation gernaus den Debatten aus. Wer aber einmal mit Anästhesistenoder anderem medizinischen Personal, das der Organ-entnahme beiwohnt, spricht, versteht, warum so viele vonihnen Gewissenskonflikte haben. Schließlich braucht Or-gantransplantation „warme Leichen“. Dafür definiertedas Transplantationsgesetz extra den Hirntod. Es gäbenoch so vieles zu bedenken, dafür reicht die heute ange-setzte Debattenzeit aber bei weitem nicht aus. Ich jeden-falls bedaure es sehr, dass sich das Parlament kein Gre-mium schuf, in dem solche Fragen wesentlich intensiverberaten werden könnten und empfehle dem nächstenBundestag dringend, sich dieser Frage erneut zu stellen.
Wir haben den vorliegenden Antrag der FDP zur Er-leichterung von Organlebendspenden im Mai im Bundes-tag und dann im Juni auch im Gesundheits- und imRechtsausschuss beraten. Der FDP ist es dabei nicht ge-lungen, die anderen Fraktionen von ihren Forderungenzu überzeugen. Nicht nur wir Grüne, alle Fraktionen leh-nen diesen Antrag ab. An den Argumenten, die ich bereitsin der ersten Lesung dazu erörtert habe, hat sich dabeinichts geändert.Doch will ich zunächst darauf hinweisen, dass wirdurchaus Übereinstimmungen mit der FDP in manchenPunkten des Antrags finden können. So steht völlig außerFrage, dass die FDP mit der Förderung der Organ-spende ein wichtiges Thema aufgreift, mit dem sich si-cherlich auch dieses Haus auseinandersetzen muss. Indiesem Kontext darf ich auf den Bericht des Instituts fürGesundheits- und Sozialforschung zur Situation derTransplantationsmedizin hinweisen, den die Bundesre-gierung vor wenigen Tagen vorgelegt hat. Auch dieserBericht liefert für die kommende Wahlperiode ausrei-chend Diskussionsstoff, unter anderem auch zur Le-bendspende. Beispielsweise will ich nur kurz verweisenauf das Problem versicherungsrechtlicher Absicherungs-probleme bei Lebendspenderinnen und -spendern, dieder Bericht benennt. Dies bedarf sicherlich einer Vertie-fung. Darauf geht die FDP in ihrem Antrag im Übrigennicht ein.Insgesamt aber wird die Vorgehensweise der FDPüber einen wenig differenzierten Antrag diesem Themanicht annähernd gerecht. Die FDP deutet nicht einmalan, dass es zu dieser Frage unterschiedliche ethischeÜberzeugungen geben könnte.Wir sind auch einig mit der FDP, dass wir mehr für dieAufklärung der Bevölkerung tun und die Organisations-strukturen in den Kliniken vor Ort verbessern müssen,um die Zahl der postmortalen Organspenden zu erhöhen.Dies sind jedoch allenfalls Randbemerkungen in diesemAntrag.Im Zentrum des Antrags stehen die Forderungen derFDP zur Erleichterung der Organlebendspende. Ichbleibe dabei, dass diese Frage sicherlich diskussions-würdig ist. Zum einen muss dies jedoch in einen breit an-gelegten Diskurs über den gesamten Komplex der Or-ganspende eingebettet sein. Zum anderen diskutiert die
Metadaten/Kopzeile:
26010 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 26011
(C)
(D)
Elisabeth ScharfenbergFDP das Thema ja gar nicht, sondern präsentiert aus ih-rer Sicht unumstößliche Wahrheiten, die ihres Erachtenskeiner weiteren Debatte bedürfen. Den Umgang der FDPmit diesem Thema als lax zu bezeichnen ist deshalb nochsehr diplomatisch formuliert.Ich möchte nochmals die für uns wesentlichen Schwie-rigkeiten mit den Forderungen der FDP verdeutlichen.Die rechtlichen Grenzen der Lebendspende im Trans-plantationsgesetz, kurz: TPG, werden von der FDP imKern als überflüssige Barrieren dargestellt. Dass dieserechtlichen Bestimmungen einen Sinn haben und im Üb-rigen nach harten parlamentarischen Debatten Ende der1990er-Jahre eingezogen wurden, ficht die FDP offenbarnicht weiter an.Die erste zentrale Forderung der FDP betrifft dabeidas Nachrangigkeits- oder Subsidiaritätsprinzip im TPG.Nach diesem Prinzip ist die Organlebendspende gegen-über der postmortalen Spende immer nachrangig zu be-handeln. Ethische Überlegungen sowie der Schutz poten-zieller Lebendspender sind es, die dieses Prinzip unseresErachtens zu Recht begründen. Bei der Lebendspendehandelt es sich um einen schwerwiegenden und riskantenoperativen Eingriff, der nicht leichtfertig vorgenommenwerden sollte. Keine Reflexion dazu, etwa unter Erwä-gung der Empfehlungen der Enquete-Kommission „Ethikund Recht der modernen Medizin“ aus der letzten Wahl-periode, findet sich im vorliegenden Antrag.Nach dem Willen der FDP sollen künftig zudem nichtnur Verwandte oder nahestehende Personen spendendürfen, sondern auch anonyme Spenden in einen „Or-ganpool“ möglich sein. Die ethischen Bedenken der er-wähnten Enquete-Kommission zu diesem Thema spielenauch an dieser Stelle keine Rolle im Antrag der FDP. Dasheißt, die FDP macht sich nicht einmal die Mühe, dieseBedenken zu entkräften.Dasselbe trifft auf die potenziellen Gefahren einerKommerzialisierung der Organvermittlung, sprich eineserhöhten Risikos für Organhandel, zu. Es kann nicht sein,dass die FDP zu diesem Thema nichts zu sagen hat, au-ßer dass sie Organhandel natürlich ablehne.Wir bleiben dabei: Einen Antrag, der so schwerwie-gende Eingriffe in Persönlichkeitsrechte fordert – auchwenn sie sicherlich einer guten Sache dienen sollen –,dafür aber keine ethisch überzeugende Abwägung liefert,können wir nicht unterstützen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/13573, den Antrag der Fraktion der
FDP auf Drucksache 16/9806 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mehrheit-
lich angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 62 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe zu dem Antrag
der Abgeordneten Volker Beck ,
Marieluise Beck , Birgitt Bender, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Menschenrechtsverletzungen durch Unterneh-
men verhindern
– Drucksachen 16/13180, 16/13647 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Lamp
Christel Riemann-Hanewinckel
Burkhardt Müller-Sönksen
Michael Leutert
Thilo Hoppe
Am 10. Dezember 2008 feierten wir das 60-jährige
Jubiläum der „Allgemeinen Erklärung der Menschen-
rechte“. Und in der Tat – es war ein Tag zu feiern. In den
letzten sechs Dekaden gab es große Fortschritte in die-
sem so wichtigen Bereich. Ein Garant dafür sind vor
allem stabile Demokratien und Rechtsstaaten, die Vor-
bild für andere Staaten sind und bleiben müssen. Ich
denke, Deutschland ist hierbei ein Vorreiter und sollte
sich auch weiterhin – wie bisher – international für die
Einhaltung von Menschenrechtsstandards einsetzen.
Doch leider werden auch 60 Jahre nach Deklaration
der Menschenrechte diese in vielen Staaten der Erde zum
Teil erheblich verletzt. Wir alle kennen Berichte über
Folter, Menschenhandel oder Zwangsprostitution. Durch
die zunehmende Globalisierung, die wir uns in Deutsch-
land ja wünschen und von der wir sehr profitieren, sind
Unternehmen – auch Mittelständler – in solchen Ländern
tätig, in denen die Einhaltung der Menschenrechte durch
die Regierenden nicht unbedingt oberste Priorität hat
bzw. in denen Menschenrechte nicht so stark juristisch
verankert sind wie etwa bei uns und daher auch nicht so
gut eingeklagt werden können.
Es gab und gibt – zu meinem großen Bedauern –
Fälle, in denen Produkte von international agierenden
Firmen unter menschenunwürdigen Bedingungen herge-
stellt werden. Dazu zählten unter anderem verschiedene
Formen von Kinderarbeit, aber auch beispielsweise eine
bewusste Inkaufnahme von Umweltverschmutzungen
oder Zwangsenteignungen. Besonders die Gas- und Erd-
ölbranche wird mit den zuletzt genannten beiden Proble-
men hin und wieder in Verbindung gebracht.
Um dem entgegenzuwirken und weil Unternehmen
festgestellt haben, dass eine derartige „Negativwer-
bung“ auch einfach schlecht für das eigene Image und
für das Geschäft ist, haben sich etliche Firmen zum einen
eigene, strenge Leitlinien in Bezug auf die Einhaltung
der Menschenrechte gegeben. Zum anderen sind sehr
viele auch schon dem Global Compact der UNO, der ver-
schiedene soziale und ökologische Mindeststandards de-
finiert, beigetreten. Ich finde dies richtig und wichtig und
freue mich daher auch, dass viele deutsche Firmen sich
diesem Pakt unterwerfen. Zu Recht ehrte im Jahr 2003
die ehemalige rot-grüne Bundesregierung das vorbildli-
che Engagement dieser deutschen Mitgliedsunterneh-
men.
(C)
(D)
Helmut Lamp
Wenn die Daimler AG mit der „German Automotive
Academy Afghanistan Gottlieb Daimler“ in Kabul einen
Beitrag zur Stabilisierung der sozialen Verhältnisse vor
Ort leisten kann, dann begrüße ich das genauso wie das
Engagement der Bayer AG bei der Bekämpfung von Kin-
derarbeit in Südamerika und Asien.
Laut Aussage der damaligen Staatsministerin der
Grünen im Auswärtigen Amt, Kerstin Müller, im März
2003 hat die rot-grüne Bundesregierung den Global
Compact „von Anfang an unterstützt. Wahrscheinlich
war Joschka Fischer sogar der erste Außenminister, der
bereits im Jahr 2000 die Global-Compact-Initiative von
Kofi Annan offiziell begrüßt hat“. Daher begrüße ich
auch das Engagement der damals in Regierungsverant-
wortung stehenden Grünen in dieser Sache ausdrücklich.
Der noch nicht sehr lange bestehende Global Compact
ist natürlich kein Allheilmittel gegen Menschenrechts-
verletzungen, aber er ist eine sehr gute Maßnahme, die
man natürlich ständig überprüfen und gegebenenfalls
verbessern muss.
Vor diesem Hintergrund ist der Antrag der Grünen
nicht nachzuvollziehen. Erst wird der Global Compact
von ihnen gefordert und gefördert. Kaum stehen sie nicht
mehr in Regierungsverantwortung, hagelt es Kritik,
Unternehmen werden unter Generalverdacht gestellt und
sollen sich teils unsinnigen, teil unpraktischen Maß-
nahmen unterwerfen. Des Weiteren ist nicht ersichtlich,
wie derartige Maximalforderungen der Grünen über-
haupt positive Effekte für die Einhaltung oder Umsetzung
von Menschenrechten vor Ort bringen können. Denn es
fehlen konkrete Ausführungen zur Ausgestaltung. Dieser
Antrag hilft niemanden. Im Gegenteil: Nur die Wett-
bewerbsfähigkeit von deutschen Unternehmen würde da-
durch stark eingeschränkt werden.
Aber noch aus einem anderen, wichtigeren Grund
muss man den Antrag der Grünen ablehnen: Sosehr Un-
ternehmen – zu Recht – für etwaige Verletzungen von
Menschenrechten zur Verantwortung gezogen werden
müssen, so sind Abkommen zu Menschenrechten doch
rein zwischenstaatliche Vereinbarungen. Das heißt: In
erster Linie sind die Nationalstaaten für deren Umset-
zung und Überwachung zuständig.
Nochmals: Menschenrechtsverletzungen durch Unter-
nehmen müssen in jeden Fall geahndet werden – aller-
dings durch die Nationalstaaten. Wenn es in bestimmten
Staaten Probleme mit der Einhaltung von Menschenrech-
ten gibt, dann müssen wir als Parlamentarier die Bun-
desregierung oder auch nichtstaatliche Organisationen
darauf aufmerksam machen und das jeweilige Land
gegebenenfalls bei einer Lösung ihrer Probleme unter-
stützen. Unternehmen können nur als Ergänzung, nicht
aber allein für die Einhaltung von Menschenrechten sor-
gen. Grundsätzlich fördert ein wirklich freier Handel
demokratische und damit auch menschenrechtliche
Rahmenbedingungen und Strukturen.
Ich denke, dass deutsche Unternehmen sich in Men-
schenrechtsfragen ihrer Verantwortung sehr wohl be-
wusst sind und sich daher ja auch dem Global Compact
der UNO unterwerfen. Wir sollten dieses Instrument
überprüfen und sinnvoll stärken und nicht schon nach so
Zu Protokoll
kurzer Zeit wieder durch etwas anderes ersetzen. Wir
müssen den Dialog und Kooperationen fördern, anstatt
mit Verboten zu arbeiten. So sind Unternehmen nicht Teil
des Problems, sondern Teil der Lösung.
Eine Vielzahl von international agierenden Firmenund Konzernen hat ihren Sitz in Deutschland. MitGeldern aus Deutschland werden Tätigkeiten im Auslandfinanziert. Die Unternehmen sind verantwortlich dafür,dass Exporte, Investitionen und auch Entwicklungs-projekte sich nicht negativ auf Menschenrechte, ins-besondere die wirtschaftlichen und sozialen Rechte derMenschen, auswirken.Bislang gibt es keine verbindlichen internationalenNormen im Hinblick auf das Agieren transnationalerUnternehmen. Alle Versuche dazu sind auf UN-Ebenegescheitert. Ich bin der Auffassung, dass eine Regulie-rung von transnationalen Konzernen notwendig ist.Durch unternehmerische Entscheidungen können Men-schenrechte verletzt werden.Menschenrechte sind in erster Linie Rechte eines Indi-viduums gegenüber seinem Staat. Es erscheint mir abernicht mehr sachgerecht, es bei dieser engen Sichtweisezu belassen. Denn die Verhältnisse haben sich durch dieGlobalisierung verändert. Transnationale Unternehmenhaben sich zu Global Playern entwickelt, greifen in dieinternationalen Beziehungen ein und üben teilweisemehr politische Macht aus als manche Staaten.Die Gastländer, in denen produziert wird, sind zwarprimär in der Verantwortung, die Menschenrechte ihrerBevölkerung zu schützen. Aber sie verfügen oft nicht überausreichende Strukturen, oder die Regierungen sindnicht willens, Standards einzuhalten, die nötigen Kon-trollen durchzuführen und Maßnahmen zu ergreifen, umeinen effektiven Schutz zu gewähren. Ein weiteres Pro-blem ist der mangelnde Zugang zu Rechtssystemen. VieleMenschen können ihre Rechte nicht einfordern, weil siesie nicht kennen, weil sie dazu finanziell nicht in derLage sind oder weil gar keine Gerichte vorhanden sind.Deshalb müssen in den Herkunftsländern, die über ge-nügend Ressourcen verfügen, geeignete Regelungen ge-funden werden, die dann eine extraterritoriale Wirkungentfalten. Wir müssen über Maßnahmen im Gesell-schafts- und Konzernrecht, im Wettbewerbsrecht und imAußenwirtschaftsrecht nachdenken. Warum werden Her-mesbürgschaften auf ihre ökologischen und sozialen,nicht aber auf menschenrechtliche Auswirkungen ge-prüft? Warum findet diese Prüfung erst ab einem Auf-tragsvolumen von 15 Millionen Euro statt? Hier sehe ichHandlungsbedarf.Es ist klar, dass die deutsche Politik das Leben vielerMenschen in anderen Teilen der Welt beeinflusst. Und esist auch klar, dass die Verantwortung des Staates nicht ander Landesgrenze aufhören darf. Auch der UN-Aus-schuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechtebetont, dass Staaten sicherstellen müssen, durch ihre Po-litik keine Menschenrechte in anderen Ländern zu ver-letzen.
Metadaten/Kopzeile:
26012 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Christel Riemann-HanewinckelEs gibt eine Reihe von Richtlinien und freiwilligenVereinbarungen, die allesamt ein Schritt in die richtigeRichtung sind. Jedoch verfügen nur wenige über effektiveund transparente Kontroll- und Sanktionsmechanismen.Der allseits bekannt Global Compact bietet Unterneh-men die Möglichkeit, sich auszutauschen, Partnerschaf-ten zu bilden und praktikable Ansätze weiterzuent-wickeln. Er versteht sich nicht als Regulierungs-instrument. Kontrolle und Sanktionen bei Verstößen sindnicht vorgesehen.Dagegen sind die OECD-Leitsätze für multinationaleUnternehmen derzeit das wohl wichtigste Instrument fürdie weltweite Unternehmensverantwortung. Allerdingswerden ihre Potenziale nur unzureichend genutzt.Deutschland hat seine Nationale Kontaktstelle imBundesministerium für Wirtschaft und Technologie ein-gerichtet. Das hat der UN-Sonderbeauftragte JohnRuggie zu Recht kritisiert. Wenn eine solche Stelle in derAbteilung für Außenwirtschaft im zuständigen Ministe-rium angesiedelt ist, dann wird sofort klar, dass die Un-abhängigkeit der Stelle nicht gewährleistet werden kann.Auch hier erkenne ich Handlungsbedarf für die deutschePolitik. Mehr Transparenz und eine deutlichere Wahr-nehmbarkeit der Nationalen Kontaktstelle sind nötig. Diejüngst von FIAN eingereichte Beschwerde gegen dieNeumann-Kaffee-Gruppe kann ein Beispiel dafür sein,wie transparent die Arbeit einer Nationalen Kontakt-stelle ist.Was kann neben politischen Weichenstellungen inDeutschland durch die Unternehmen vor Ort geleistetwerden? Transnationale Unternehmen können in denGastländern eine positive Rolle einnehmen. Sie könnenwirtschaftlichen Aufschwung und sozial abgesicherteArbeitsplätze schaffen. Sie können aber auch zu einerVerschärfung von Konflikten beitragen oder diese sogarauslösen, indem sie eine Partei bevorzugen oder durchUmweltverschmutzungen die Lebensgrundlage der Be-völkerung zerstören. Oft sind sich Unternehmen im Vor-feld ihrer Investition und auch während ihrer Tätigkeitdieser Nebenwirkungen ihres Handelns nicht bewusst. Inder Entwicklungspolitik wurde deshalb eine Methodeentwickelt, um Projekten zu helfen, ihre Auswirkungenauf einen Konflikt abzuschätzen und ihn im Rahmen ihrerMöglichkeiten zu bearbeiten. Das Peace and Conflict As-sessment ist für alle Projekte der staatlichen Entwick-lungszusammenarbeit, die in konfliktreichen Regionendurchgeführt werden, verbindlich. Auch für private Un-ternehmen könnte eine solche Analyse im Vorfeld ihrerTätigkeit sinnvoll sein. So würde die eigene Rolle in Kon-fliktgebieten deutlich und zugleich könnten Möglichkei-ten, sich menschenrechtskonform zu verhalten, abge-steckt werden. Unternehmen müssen dafür sorgen, dassin ihrem Einflussbereich und bei Subunternehmen keineMenschenrechtsverletzungen stattfinden.Allein die langen Zulieferketten machen deutlich, dasses sich um eine komplexe Materie handelt, die nicht ein-fach zu normieren ist. Wir brauchen einen Mix aus frei-willigen Vereinbarungen, gesetzlichen Regelungen aufnationaler und internationaler Ebene und eine starkeund kritische Zivilgesellschaft. Nichtregierungsorganisa-tionen und natürlich die Verbraucherinnen und Verbrau-Zu Protokollcher müssen weiterhin das Agieren großer Konzerne be-obachten. Die Kaufentscheidung jeder und jedesEinzelnen hat ein Potenzial, das oft unterschätzt wird.Gerade Markennamen sind verwundbar.Zum Schluss ein Beispiel: Öffentlicher Druck aus derZivilgesellschaft und auch aus der Politik hat dazu ge-führt, dass sich der Handelskonzern Metro nun dochseiner Verantwortung stellt und die Zusammenarbeit mitR. L. Denim aus Bangladesch fortsetzen wird. Nachdemder Tod der jungen Näherin Fatema Akter bekannt ge-worden war, die unter haarsträubenden Bedingungen ar-beiten musste, wollte Metro den Betrieb von seiner Liefe-rantenliste streichen. Damit hätten allein die betroffenenArbeiterinnen und Arbeiter die Konsequenzen für Fehlerund Versäumnisse des Metro-Konzerns zu tragen gehabt.Metro muss sich der Verantwortung stellen – und dasheißt, für menschenwürdige Arbeitsbedingungen in sei-nen Zulieferbetrieben sorgen, diese durch regelmäßigeKontrollen sichern und bei Verstößen das Unternehmenzur Verantwortung ziehen.Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen istsinnvoll und notwendig. Leider kann die SPD diesem An-trag nicht zustimmen, da wir durch die Koalitionsverein-barung an ein übereinstimmendes Abstimmungsverhal-ten gebunden sind. Die Kolleginnen und Kollegen derUnion lehnen diesen Antrag „aus voller Überzeugung“ab. Ich finde das unangemessen und sehr bedauerlich.Aber ich hoffe, dass sich der nächste Bundestag und dienächste Bundesregierung erneut mit diesem Thema be-schäftigen werden und Standards auf internationalerEbene zur Wahrung von ökologischen und sozialen Rech-ten und Menschenrechten verabschieden.
Die aktuelle weltweite Wirtschaftskrise verdeutlicht,wie stark die Welt vernetzt ist. Dies wird sich künftig wei-ter verstärken. Auch wenn wir uns derzeit in einer inihrer globalen Dimension einmaligen Phase des Ab-schwungs befinden, muss festgestellt werden, dass dieGlobalisierung sich bisher als das auf lange Sicht erfolg-reichste Armutsbekämpfungsprogramm der Geschichteerwiesen hat. Ein tragender Pfeiler dieser positiven Ent-wicklung sind international operierende Unternehmen,die in vielen Ländern Arbeitsplätze schaffen, Entwick-lung vorantreiben und neue Märkte erschließen.Gleichwohl ist unstrittig, dass im Rahmen der Globa-lisierung einige wenige Unternehmen nicht stets in ver-antwortlicher Weise ihrer Tätigkeit nachgegangen sind.Laut Medienberichterstattung hat es in den vergangenenJahren wiederholt Fälle gegeben, in denen Unternehmenin ihrem Verantwortlichkeitsbereich Menschenrechtenicht beachtet haben. Der vorliegende Antrag derGrünen bietet jedoch keine geeigneten Lösungen, um be-stehende Defizite zu beheben.Der Antrag stellt zu Recht fest, dass „das Feld dermenschenrechtlichen Folgen von Unternehmenshandelnnoch wenig erforscht ist“. Daher ist es unpassend, dassdie Grünen bereits mit einem sehr umfangreichen Antragvorpreschen, der in stark hinderlicher Weise in wirt-schaftliche Abläufe eingreifen und auch dem deutschen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 26013
gegebene Reden
(C)
(D)
Florian ToncarStaat umfangreiche Aufgaben zuweisen würde. In der jet-zigen Phase ist noch nicht hinreichend klar, in welchemUmfang und in welcher Form Unternehmenshandeln zuMenschenrechtsverletzungen führt.Doch der Reihe nach: Zunächst ist festzuhalten, dassdie prinzipielle Verantwortung bei den Staaten liegt.Diese haben sich in verschiedenen internationalenAbkommen verpflichtet, die Menschenrechte zu achtenund zu schützen. Daher möchte ich unterstreichen: Essind grundsätzlich die Staaten, die in der Pflicht stehen,Menschenrechte zu achten und allgemein durchzusetzen.Dabei ist jeder Staat dazu verpflichtet, die Menschen-rechte auf seinem Territorium umzusetzen. Wenn also eineuropäisches Unternehmen beispielsweise in Brasilienarbeitet, ist vornehmlich Brasilien für die Achtung derMenschenrechte durch besagtes Unternehmen verant-wortlich, nicht der europäische Staat, in dem das Unter-nehmen seinen Hauptsitz hat. Der Antrag der Grünenignoriert diese Verantwortlichkeitsaufteilung. Er stelltden Herkunftsstaat eines Unternehmens auf eine Ebenemit dem Staat, in dem ein Unternehmen aktiv wird, demGastgeberstaat. Damit verkennen die Grünen die Verant-wortung, die ein Gastgeberstaat für die Einhaltung derMenschenrechte auf seinem eigenen Territorium hat, zuder er sich verpflichtet hat. Die Gastgeberstaatenwürden einseitig aus der Pflicht genommen. Ferner wirdden Herkunftsstaaten der Unternehmen eine Wächter-rolle beim Schutz der Menschenrechte in anderensouveränen Staaten zugewiesen. Diese Rollenverteilungist aus den internationalen Menschenrechtsverträgennicht ableitbar. Auch wenn die Intention der Grünenwohlgemeint ist, entspricht dieser Ansatz nicht den inter-nationalen Regeln des Umgangs zwischen ebenbürtigenStaaten.Ebenso widerspricht Forderung Nummer 1 unseremRechtsverständnis, nämlich einen Gesetzentwurf in Deutsch-land vorzulegen und auf EU-Ebene eine Richtlinie an-zuregen, die europäische Mutterunternehmen für ihreTöchterunternehmen für Handlungen andernorts in Haf-tung zu nehmen.Die Grünen gehen weiter und schlagen vor, für deut-sche Unternehmen Berichtspflichten über die Einhaltungvon Menschenrechtsstandards einzuführen. Das erzeugtumfangreiche Bürokratie. Der Nutzen ist sehr zweifel-haft. Das lehnt die FDP daher ab.Als Nächstes wollen die Grünen das Vergaberecht um-fänglich für die Achtung der Menschenrechte heranzu-ziehen. Wiederum: Dies ist das falsche Mittel, um an dasrichtige Ziel zu gelangen. Denn das Vergaberecht isthierfür denkbar ungeeignet. Wenngleich große Unter-nehmen menschenrechtliche Kriterien bei öffentlichenBeschaffungen beachten könnten, ist dies angesichts desKontroll-, Dokumentations- und Bürokratieaufwands fürkleine und mittelständische Unternehmen, KMU, schlicht-weg nicht leistbar. Dies würde die KMU von öffentlichenAusschreibungen effektiv ausschließen. Derart dirigis-tischer Interventionismus wäre nicht zu rechtfertigen.Außerdem führt die von den Grünen ja generell gewollteAufnahme immer weiterer Vergabekriterien zu Intrans-Zu Protokollparenz bei Auftragsvergaben und öffnet die Tür für Will-kür und Vetternwirtschaft im deutschen Vergabewesen.Die Grünen erkennen auch richtigerweise, dass vieleUnternehmen mit dieser Zertifizierungs- und Kontroll-aufgabe überfordert wären. Doch die Lösung, die dieGrünen, vorschlagen, besteht im Ruf nach dem Staat.Dieser solle, so die Grünen, „als Maßnahme der Wirt-schaftsförderung“ umfangreiche Unterstützung zur Ver-fügung stellen. Würde man dieser Forderung tatsächlichnachkommen, müssten Beamte des Bundeswirtschafts-ministeriums demnächst auf Reisen nach China oderVietnam gehen, um die dortigen Fabrikarbeiter hinsicht-lich der Länge ihrer Mittagspause, der Verwirklichungihres Streikrechts und sonstiger Arbeitsschutzbestimmun-gen zu befragen, um den Unternehmen einen Persil-schein zur Teilnahme an öffentlichen Ausschreibungenauszustellen. Sehr geehrte Kollegen der Fraktion derGrünen, das kann nicht Ihr Ernst sein. Ich bin übrigensüberzeugt davon, dass sie diese weitreichendenForderungen in der Regierungsverantwortung schnellwieder zurücknehmen würden. 1998 bis 2005 haben Siediese Dinge jedenfalls nicht angepackt. Der Antrag istalso nicht ganz redlich.Ich möchte einige Bemerkungen aus liberaler Per-spektive an die Grünen richten. Zunächst ist festzuhalten,dass die große Mehrheit der Unternehmen verantwort-lich agiert. Der Zungenschlag des Antrags trägt demnicht Rechnung. Der Grundsatz der Corporate SocialResponsibility und der verantwortlichen Unternehmens-führung hat sich heute im Bewusstsein fast jedes Un-ternehmenslenkers verankert. Dies ist kein Lippenbe-kenntnis, sondern gelebtes Verantwortungsbewusstsein.Zahlreiche Initiativen sind bisher auf freiwilliger Basisentstanden, bei denen sich Unternehmen über Erfah-rungen in ihren jeweiligen Bereichen austauschen undvoneinander lernen.Darüber hinaus haben sich viele Unternehmen ausfreien Stücken selbst Standards gesetzt. Die Initiative desdamaligen VN-Generalsekretärs Kofi Annan, der GlobalCompact, ist eine beispielhafte Erfolgsgeschichte. Hiertritt nicht ein Staat gängelnd auf, sondern motivierteUnternehmen vernetzen sich und arbeiten im Interesseder Menschenrechte zusammen.Dies soll nicht heißen, dass es keine Probleme hin-sichtlich der Achtung der Menschenrechte im Zuge derTätigkeit internationaler Unternehmen gäbe. Jedoch istder effektivste Ansatz, die jeweiligen Branchen selbst füreffektive Verbesserungsmaßnahmen zu gewinnen.Wenn sich spezielle Branchen mit Missachtung vonmenschenrechtlichen Standards durch Zulieferer kon-frontiert sehen, dann müssen sie in eigener Verantwor-tung diese Missstände abstellen. Dass dies möglich ist,beweist der Fall der Sportartikelhersteller. In den 90er-Jahren machten Presseberichte über durch indische Kin-derhände hergestellte Fußbälle die Runde in deutschenund europäischen Zeitungen. Die öffentliche Empörungwar zu Recht groß. Die Markenunternehmen sahen ihrPrestige beschädigt. Die entsprechenden Firmen reagier-ten prompt und schufen ein System, in dem unabhängigeNichtregierungsorganisationen die Produktionsstätten der
Metadaten/Kopzeile:
26014 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Florian ToncarZulieferer kontrollieren. Wenn es zu Verstößen kommt,muss dies aufgedeckt und durch die Wirtschaft abgestelltwerden. Und dies geschieht effektiver auf Grundlage deröffentlichen Meinungsbildung und des Verbraucherver-haltens als durch staatlichen Bürokratismus.Aktuell kursieren Berichte über Kinderarbeit in indi-schen Steinbrüchen, deren Produkte, wie Grab- oderPflastersteine, auch für den deutschen Markt exportiertwerden. Doch wäre es falsch und wirkungslos, wenn derdeutsche Staat mittels des Vergaberechts – quasi miteinem langen Schraubenzieher – von Deutschland dasProblem in Indien zu lösen versuchte. Hier ist in ersterLinie der indische Staat in der Pflicht, die Achtung derMenschenrechte in seinem Land zu gewährleisten. Solltedies nicht effektiv geschehen und sich die in Europa be-troffenen Unternehmen weiter der öffentlichen Kritikausgesetzt sehen, müssen die Unternehmen handeln.Andere Branchen, wie die Spielwarenindustrie, habendies vorgemacht, indem sie Mängel bei Zulieferern abge-stellt und selbstständig Zertifizierungssysteme organi-siert haben. Aufmerksame Kunden können dazu einenBeitrag leisten.Insgesamt muss man sagen, dass wir am Anfang einerEntwicklung stehen. Bevor Deutschland einseitig in ge-setzgeberischen Aktionismus verfällt, wie die Grünendies vorschlagen, sollte man sich zuerst ein genaueresBild verschaffen. Der UN-Sonderbeauftragte für Men-schenrechte und transnationale Unternehmen, JohnRuggie, leistet hier einen Beitrag. Sein erster Bericht ausdem Jahr 2008 hat einige Problembereiche umrissen. ImZuge seines neuen, um drei Jahre verlängerten Mandatskönnte er auch konkrete Lösungsansätze erarbeiten. Wiediese aussehen werden, ist bisher völlig unklar. Bis dahinsollte Deutschland den eingeschlagenen Weg weiter-verfolgen.Sollte es in der Zukunft zu verbindlichen Regelungenfür das Handeln von Unternehmen in anderen Staatenkommen, ist in jedem Fall sicherzustellen, dass dieseRegeln allgemein verbindlich sind, und nicht europäi-sche oder deutsche Unternehmen einseitig im Wettbe-werb benachteiligen. Dieses Kerngebot der Fairnesshaben die Grünen in ihrem Antrag leider nicht beachtet.So wird auch der Menschenrechtspolitik kein Dienstgeleistet. Dieser Antrag schielt auf Wählerstimmen, aberer weckt falsche Erwartungen. Daher werden wir denAntrag der Grünen ablehnen.
Die Problematik, die im vorliegenden Antrag ange-
sprochen wird, liegt meiner Fraktion sehr am Herzen.
Während die Restbestände der sozialen Demokratie hier-
zulande noch ein wenig von den Zumutungen abfedern
können, die sonst auf Menschen zukämen, wenn das
Kapital frei schalten und walten könnte, kann man der-
gleichen von weiten Teilen der Welt überhaupt nicht sa-
gen.
Investitionen bringen nicht immer nur Wohlstand, erst
recht nicht immer für alle. Aber das ist vielleicht nichts
Neues. Auch nicht neu und unbekannt sind die unge-
zählten Beispiele der Vertreibungen von Menschen in-
Zu Protokoll
folge von Abholzungen und aufgrund der Erschließung
und Förderung von Bodenschätzen. Damit verbunden
– sei es billigende Inkaufnahme, sei es aktiv betrieben –
sind die Niederschlagung von Protesten und die Ver-
folgung von Aktivisten. In sehr vielen Staaten gibt es
keine effektive Wirksamkeit sozialer Mindeststandards,
basale Normen humanen Arbeitens scheinen für viele
Menschen auch ins Reich der Utopien zu gehören.
Aber auch in der Bundesrepublik Deutschland scheint
es zum guten Ton effizienter Unternehmensführung zu
gehören, Angestellte zu überwachen, ihnen ein Recht auf
Intimität und Privatheit abzuerkennen und damit auch
die Würde abzusprechen. Die Linke begrüßt es daher,
dass sie nicht immer als einzige Fraktion darauf hin-
weisen muss, dass Menschenrechte nicht automatisch mit
der Kapitalverwertung aufblühen müssen. Manchmal
scheinen Menschenrechte eben auch hinderlich zu sein
für eine ansprechende Profitmenge.
Daraus kann man die verschiedensten Folgerungen
ziehen. Eine davon hat uns vor kurzem die FDP in ihrem
Antrag „Eigentumsfreiheit weltweit schützen“ aufge-
zeigt, in dem – vorsichtig ausgedrückt – dem Konflikt
zwischen Profit- und Menschenrechtsinteressen nicht
übermäßig viel Platz eingeräumt worden ist. Die Linke
ist jedenfalls der Auffassung, dass die Verletzung von
Menschenrechten durch keinerlei Gründe gerechtfertigt
werden kann. Ganz ohne Wertung möchte ich hinzu-
fügen: Es ist aber auch nicht Aufgabe des Kapitalismus
und der Märkte, für Gerechtigkeit und Menschenrechte
zu sorgen. Dafür – und das erschreckt natürlich die FDP –
sind die Zwangsmittel des Rechts in einem Rechtsstaat
zuständig und daher aus unserer Sicht auch sachlich
zulässig. Die Rechtschaffenheit, mit der Adam Smith
noch an die unsichtbare Hand des Marktes glauben
konnte, die können wir heute nicht im Ernst propagieren.
Auch deutsche Unternehmen waren und sind an Men-
schenrechtsverletzungen mitschuldig geworden, die sich
im Zuge von Investitionen einstellen. Daraus erwächst
Deutschland eine besondere Verantwortung. Sie ist umso
größer, wenn man die ökonomische Potenz deutscher
Unternehmen weltweit berücksichtigt. Das ist aus Sicht
der Linken auch der entscheidende Vorzug im Antrag der
Grünen. Es geht um die politische Anerkennung des Um-
standes, dass Unternehmen für Menschenrechts-
verletzungen mitverantwortlich sind und dass hier nur
staatliche, gesetzgeberische Maßnahmen greifen können.
Daher möchte ich auch die Kritik an Details zurück-
stellen, da der Zeitpunkt dafür erst herangereift sein
dürfte, wenn diesem Antrag Erfolg beschieden wäre.
Lassen Sie mich diese Rede beginnen mit einem Zitataus dem Jahr 2001. Es stammt aus dem Grünbuch derEuropäischen Kommission zu Europäischen Rahmenbe-dingungen für die soziale Verantwortung der Unterneh-men und lautet:Die Menschenrechte sind ein sehr komplexesThema, das politische, rechtliche und ethische Pro-bleme aufwirft. Für die Unternehmen stellen sichdabei schwierig zu beantwortende Fragen, unter
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 26015
gegebene Reden
(C)
(D)
Thilo Hoppeanderem: Wie lassen sich ihre Verantwortlichkeitenabgrenzen gegenüber denjenigen der Regierungen?Wie lässt sich überwachen, ob die Geschäftspartnerdas für das eigene Unternehmen aufgestellte Werte-schema einhalten? Wie verhält man sich gegenüberund agiert man in Ländern, in denen die Menschen-rechte häufig verletzt werden?In der Tat sind dies schwerwiegende und komplizierteFragen, für die es sicher keine einfachen Ad-hoc-Lösun-gen gibt. Die zugrunde liegenden Probleme sind aller-dings drängend. Dazu ein Beispiel aus Nigeria – ich zi-tiere aus einem Bericht von Amnesty International vom26. Juni 2009 –:In ihrer Gier nach fossilen Energieträgern missach-ten Ölunternehmen in Nigeria die Umweltbelangeund Menschenrechte der betroffenen Gemeinschaf-ten regelmäßig. Das schwarze Gold hat bereits Ein-nahmen in Milliardenhöhe gebracht, trotzdem hatsich die Lebenssituation für die Mehrheit der 30 Mil-lionen BewohnerInnen des Niger-Deltas nicht ver-bessert. Im Gegenteil, die Armut ist noch größer ge-worden. Die Ölkonzerne haben die Umwelt unddamit die traditionellen Lebensgrundlagen der loka-len Bevölkerung zerstört. Ihre Aktivitäten heizen re-gelmäßig Konflikte an. Immer wieder werden Akti-vistInnen Opfer von gewalttätiger Unterdrückung.Vor 14 Jahren sind der nigerianische SchriftstellerKen Saro-Wiwa und acht weitere Ogoni-Aktivistennach einem unfairen Prozess hingerichtet worden,weil sie sich gegen die Zerstörung der Lebensgrund-lagen durch die Ölindustrie zur Wehr gesetzt hatten.Wir sind uns einig, dass im Kontext der Globalisierunginsbesondere transnational agierende Unternehmen im-mer weiter reichende Einflussmöglichkeiten haben. DieTätigkeit solcher Konzerne hat auch Auswirkungen aufmenschenrechtliche Belange. Dieses Feld der menschen-rechtlichen Folgen von Unternehmenshandeln ist bishernoch wenig erforscht. Aber gerade weil die damit verbun-denen Fragen so komplex sind, wie eingangs zitiert, ge-rade deshalb ist die Bundesregierung – sind wir alle – ge-fordert, Lösungen auszumachen und Möglichkeiten zufinden, mit denen die menschenrechtliche Unternehmens-verantwortung effektiver gestaltet werden kann. In denletzten vier Jahren ist dazu vonseiten der Bundesregie-rung nichts passiert. Sie hat weder versucht, nationaleAnsätze zu entwickeln, noch hat sie sich mit Nachdruckdafür eingesetzt, verbindliche internationale Regelungenauf den Weg zu bringen. In der Beratung im federführen-den Menschenrechtsausschuss haben Union und FDPeinvernehmlich betont, dass freiwillige Initiativen wie derGlobal Compact völlig ausreichten, um das Problem zulösen.Nichts liegt uns ferner als eine billige Kritik am Glo-bal Compact oder anderen freiwilligen Initiativen zurStärkung der Unternehmensverantwortung. Diese Maß-nahmen sind sinnvoll, sie werden von vielen Unterneh-men mit großer Ernsthaftigkeit und Konsequenz umge-setzt, und sie können viel bewegen. Dass ihre Wirkungdennoch beschränkt ist, das können wir alle seit Jahrenbeobachten. Und deshalb ist es notwendig, nach ergän-Zu Protokollzenden verbindlichen Regelungen zu suchen, mit denenbesser als bisher verhindert werden kann, dass Unter-nehmen Menschenrechtsverletzungen begehen. Die Bun-deskanzlerin hat in den Monaten nach dem Ausbruch derWirtschafts- und Finanzkrise häufig davon gesprochen,dass wir eine Charta des nachhaltigen Wirtschaftens be-nötigen. Die gesetzlich festgelegte Stärkung der Unter-nehmensverantwortung im Bereich Menschenrechtewäre unserer Meinung nach ein wesentliches Element fürnachhaltiges Wirtschaften.Der Staat hat die Verpflichtung, die Menschenrechteseiner Bürgerinnen und Bürger zu schützen, zu respektie-ren und zu gewährleisten. Dies gilt auch für den Fall,dass Menschenrechte durch Unternehmen beeinträchtigtwerden. Wir fordern, dass die Bundesregierung die beste-henden Haftungsmöglichkeiten ausbaut und festschreibt,dass Unternehmen darüber berichten müssen, wie sichihre Tätigkeiten auf Menschenrechte auswirken. Dazugehört auch, dass Unternehmen eine Menschenrechtsri-sikoanalyse vornehmen. Unternehmen müssen vom Ge-setzgeber dazu verpflichtet werden, ihr Handeln darauf-hin zu überprüfen, ob alle Menschenrechte respektiertwerden. Dabei können sich für Unternehmen nicht nurUnterlassungspflichten ergeben, sondern auch positivePflichten wie zum Beispiel die Einführung von Antidis-kriminierungsregelungen. Zudem benötigten die Opfervon Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen ei-nen besseren Zugang zu Rechtsbehelfen.Ziel muss es sein, klar umrissene Pflichten für Unter-nehmen hinsichtlich der Verletzung aller Menschen-rechte zu gestalten. Es sind eben nicht – wie zum Teil inder Debatte behauptet wird – nur einige wenige Men-schenrechte von unternehmerischem Handeln betroffen;eine eingegrenzte Liste reicht daher nicht aus. Der Son-derberichterstatter der UN für Unternehmen und Men-schenrechte, John Ruggie, hat deutlich herausgestellt,dass Unternehmen grundsätzlich in der Lage sind, alleMenschenrechte zu verletzten. Dies müssen wir angehen.Mit unserem Antrag „Menschenrechtsverletzungendurch Unternehmen verhindern“ fordern wir die Bundes-regierung dazu auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen undauf EU-Ebene die Erarbeitung eines Richtlinienentwur-fes anzuregen, der eine Haftung der Mutter- für ihreTochterkonzerne festlegt für den Fall, dass ein Tochter-unternehmen Menschenrechte missachtet. Zudem soll dieBundesregierung prüfen, inwieweit bisherige Berichts-pflichten von Unternehmen um die Einhaltung von Men-schenrechtsstandards ergänzt werden können. Darüberhinaus sollen in der Außenwirtschaftsförderung Men-schenrechtskriterien stärker als bisher verankert werden.Menschenrechtskriterien sollen auch bei der Vergabe vonExportkrediten, ungebundenen Finanzkrediten sowie In-vestitionsgarantien als Prüfkriterien für eine Bewilli-gung von Anträgen stärker berücksichtigt werden.Lassen Sie uns nicht gegeneinander und nicht in Kon-kurrenz von freiwilligen und verbindlichen Regelungenan diesem Thema weiterarbeiten. Es geht hier um zu viel,als dass sich die Bundesregierung oder einzelne Fraktio-nen des Bundestages zurücklehnen und auf bereits Er-reichtem ausruhen könnten. Lassen Sie uns dies, wenn
Metadaten/Kopzeile:
26016 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 26017
(C)
(D)
Thilo Hoppewir hier und jetzt nicht zu einem gemeinsamen Ent-schluss kommen, in der kommenden Legislaturperiodegemeinsam angehen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13647, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/13180 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mehrheitlich angenom-
men.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 63 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zu dem
Antrag der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Bärbel
Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vorbildlich und importunabhängig Ökostrom
und Biogas einkaufen
– Drucksachen 16/11964, 16/13625 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Christian Hirte
Marko Mühlstein
Michael Kauch
Hans-Kurt Hill
Hans-Josef Fell
Ich bin ein Verfechter der erneuerbaren Energien. Die
erneuerbaren Energien sind in unserem Energiemix
heute bereits ein zuverlässiger Part geworden und ich
begrüße das ausdrücklich.
Im künftigen Energiemix nehmen die erneuerbaren
Energien unstreitig und richtigerweise eine Schlüssel-
position ein. In Zeiten des fortschreitenden Klima-
wandels, sich verknappender Ressourcen und steigender
Energiepreise hat die Koalition in dieser Legislatur viel
dafür getan, um den erneuerbaren Energien den Weg zu
ebnen. Ich darf allem voran verweisen auf die Ergebnisse
aus Meseberg. Konsequent haben wir vor diesem Hinter-
grund unter anderem das Erneuerbare-Energien-Gesetz
novelliert.
Den Inhalt dieses Antrags kann ich, ungeachtet des
Umstands, dass ich mich für die erneuerbaren Energien
einsetze, nicht mittragen. Die Vorbildfunktion des Deut-
schen Bundestages und der Bundesregierung stütze ich,
nicht aber die Symbolpolitik, die dem Antrag gleichfalls
zugrunde liegt. Gerne begründe ich das nachfolgend und
will einige Schwachpunkte des Antrags exemplarisch
aufgreifen:
Einmal ist der Begriff des Ökostroms nicht legal-
definiert. Dieses Problem hatte der Kollege Hirte in der
ersten Lesung bereits aufgegriffen, und ich darf darauf
nochmals vertiefend zurückkommen: Im Falle von Öko-
strombezug durch deutsche Behörden möchte man doch
erwarten, dass entsprechend eine echte Anreizsetzung für
den marktgetriebenen Ausbau der erneuerbaren Ener-
gien, idealerweise im Inland, entsteht. Dafür müsste ins-
besondere eine Differenzierung dahin erfolgen, ob der
Strom aus dem In- oder Ausland kommt und ob tatsäch-
lich physische Stromlieferungen erfolgen oder lediglich
sogenannte Guarantees of Origin zugrunde liegen. Fakt
ist aber, dass heute etwa schwedische und österreichi-
sche Wasserkraftanbieter Strommengen und Herkunfts-
zertifikate anbieten; dabei handelt es sich übrigens
regelmäßig um ältere Bestandsanlagen. Unter einer
sinnvollen Stützung des Ausbaus von inländischem Öko-
strom verstehe ich anderes als ein zweites finanzielles
Leben für abgeschriebene Altanlagen im Ausland – die
dann im jeweiligen nationalen Energiemix ausgewiesen
und Deutschland als Bezieherland gerade nicht
zugerechnet würden.
Ein weiterer Schwachpunkt, den der Antrag aufweist,
ist: Wir fördern die erneuerbaren Energien bereits in vor-
bildlicher Weise über das Erneuerbare-Energien-Ge-
setz – durch die garantierte Mindestvergütung. Überse-
hen wurde hier offenbar von den Antragstellern, dass just
in § 56 EEG das sogenannte Doppelvermarktungsverbot
zur Vermeidung von übermäßiger Subventionierung
besteht. Deshalb kämen für den Bereich der nachweisli-
chen Ökostromausweisung faktisch also nur jene Anla-
gen in Betracht, die außerhalb des Anwendungsbereiches
des EEG fallen, das heißt speziell Anlagen, die entweder
die EEG-Voraussetzungen nicht erfüllen oder für die eine
Direktvermarktung bevorzugt wird. Jedoch steht fest,
dass EEG-Strom aufgrund des Doppelvermarktungs-
verbots gerade nicht als Ökostrom vermarktet werden
darf. Den gewünschten Anreizeffekt des Antrags für neue
regenerative Anlagen sehe ich auch insofern nicht in ent-
sprechendem Maße.
Darüber hinaus geht der Antrag mit keinem Wort da-
rauf ein, dass die öffentliche Hand den Grundsätzen der
Wirtschaftlichkeit Rechnung zu tragen hat. Es ist nicht
vertretbar, dass der Strombedarf in Bundesministerien
und dem Bundeskanzleramt jenseits des Gebots der Wirt-
schaftlichkeit per se über Ökostromanbieter zu decken
wäre und die Gesamtökobilanz gerade nicht in ent-
sprechend verbindlicher Weise – ich verweise insofern
auf meine obigen Ausführungen – verbessert würde.
Ökonomie und Ökologie müssen sinnvoll verbunden wer-
den, das muss die Maßgabe sein.
Zum Bereich der Biogasversorgung will ich ein-
führend kurz ergänzen, dass der Anspruch im Antrag
zunächst einmal in Bezug auf die Größenordnung der
Anwendungsfälle entscheidend in das richtige Verhältnis
zu setzen ist: nämlich insofern, als dass sich etwa der
Bezug von Gas seitens der oberen Bundesbehörden in
Berlin in sehr engen Grenzen hält, wie uns die Bundes-
anstalt für Immobilienaufgaben im Zusammenhang mit
Ihrem Antrag mitgeteilt hat. Demnach würde Gas hier
vor allem für den Kantinenbetrieb und vereinzelte
Liegenschaften benötigt.
Dann im Weiteren sehr gerne meine Haltung zur Bio-
gaseinspeisung: Meines Erachtens liegt in der Einspei-
sung von aufbereitetem Biogas in das Erdgasnetz eine
(C)
(D)
Dr. Georg Nüßlein
ganz entscheidende Alternative, die uns mittelfristig eine
Erfolg versprechende Perspektive bietet – insbesondere
auch vor dem Hintergrund, im Gasbereich die Import-
abhängigkeit zu reduzieren. Diesem Umstand hat die
Große Koalition auch Rechnung getragen: Mit der neuen
Regelung der Biogaseinspeisemodalitäten in der Gas-
netzzugangsverordnung 2008 wurde die Einspeiseseite
auf eine neue Rechtsgrundlage gestellt, und mit der
Novelle des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes 2008
bekam auch die Biogasverwendungsseite einen neuen
Rechtsrahmen. Es wurde insofern für die Biogas-
produzenten und Gasnetzbetreiber ein geeigneter
Rechtsrahmen geschaffen. Kein Wort über diese Leistung
in Ihrem Antrag, meine Damen und Herren von den Grü-
nen.
Nein, vielmehr wird mit Fokus auf einen verhältnis-
mäßig reduzierteren Anwendungsbereich – der aus dem
Antrag nicht unmittelbar erkennbar ist, vergleiche inso-
fern meine obigen Ausführungen – ein Aufschlag ge-
macht wie beim großen Tennis. Und dabei droht Ihnen
der Ball auch an dieser Stelle gerade aus ökologischer
Sicht ins Aus zu gehen: Wir müssen uns vor Augen füh-
ren, dass die Klima- und Flächenbilanz im Falle einer
reinen Wärmenutzung wesentlich schlechter ist als im
KWK-Anwendungsbereich. In dieser Undifferenziertheit
ist der Antrag auch an dieser Stelle nicht zu stützen. Den-
noch darf ich Ihnen, sozusagen beschwichtigend, mit auf
den Weg geben: Der Ältestenrat kam in seiner 77. Sitzung
am 18. Juni einvernehmlich zu dem Schluss, dass die Ver-
waltung des Deutschen Bundestags im Zusammenhang
mit der Neuauschreibung des Gasliefervertrages für den
Deutschen Bundestag die Möglichkeiten zum Bezug von
Biogas sowie die vorhandenen Anbieter prüfen solle.
Neben den notwendig zu berücksichtigenden öko-
nomischen Aspekten werden hier meines Erachtens aller-
dings auch stringent die vorgenannten Aspekte einer
effektiven Klima- und Flächenbilanz im Blick bleiben
müssen.
Zu guter Letzt ein Wort zur Plenardisziplin in der Op-
position: Ich darf im Zusammenhang mit den erneuerba-
ren Energien auf einen Antrag von Bündnis 90/Die Grü-
nen vom 12. Dezember 2007 verweisen: „Den Deutschen
Bundestag zum Vorbild für die sparsame und klimaf-
reundliche Stromversorgung machen“. Die Kommission
für Bau- und Raumangelegenheiten hatte sich in ihrer
10. Sitzung am 12. März 2008 mit dem Antrag befasst:
Man war dort mehrheitlich zu der Auffassung gekommen,
dass der Deutsche Bundestag bereits über ein vorbild-
liches ökologisches Energiekonzept verfügt. Etliche im
Antrag angeführte Vorschläge seien nach Einschätzung
der Kommission teils im Deutschen Bundestag bereits
umgesetzt, teilweise aus technischen Gründen nicht um-
setzbar und teilweise aufgrund der technischen Entwick-
lung noch nicht im erforderlichen Umgang verfügbar,
vergleiche die entsprechende Beschlussempfehlung 16/8820.
In einer bedauerlich konsequent fortgeführten Weise ist
auch der uns heute vorliegende Antrag wiederum als
schlichtweg nicht ausgereift und zu Ende gedacht zu be-
trachten. Ich würde mir an dieser Stelle wünschen, dass
sich die Regierungsfraktionen mit gut durchdachten und
aufbereiteten Anträgen beschäftigen dürfen.
Zu Protokoll
Wir entscheiden heute über einen Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen, der die Bundesregierung auffor-dert, die Energieversorgung der Bundesministerien zügigauf erneuerbare Energien umzustellen.Grundsätzlich kann die SPD-Fraktion diesem Anlie-gen folgen. Und in den letzten Jahren ist insbesondereder Deutsche Bundestag seiner Vorbildfunktion in Sa-chen regenerative Energien gerecht geworden. So verfü-gen die Gebäude des Hohen Hauses bereits seit seinemUmzug von Bonn nach Berlin über ein zukunftsweisen-des, umweltpolitisch verantwortungsvolles und vorbildli-ches Energiekonzept. So betreibt der Bundestag hausei-gene Blockheizkraftwerke in Kraft-Wärme-Kopplung,die der Erzeugung regenerativer Energien dienen. Derdarüber hinaus benötigte Bedarf wird ebenfalls durchden Einkauf von Strom aus erneuerbaren Energien ge-deckt. Gleiches gilt für das Bundesumweltministeriumund seine nachgeordneten Behörden.Wie gesagt, unterstützen wir als SPD die Forderung,diesen Prozess auch in anderen Bundesministerien undauch dem Bundeskanzleramt fortzusetzen. Doch gilt esaus unserer Sicht, hierbei bestehende Verträge und dieVersorgungsmöglichkeiten mit entsprechenden Kapazitä-ten zu berücksichtigen. Ich gehe davon aus, dass die Ver-antwortlichen in den Ministerien und im Bundeskanzler-amt sich dieser Problematik bewusst sind und in einigenJahren sämtliche Behörden der Bundesregierung mitStrom aus erneuerbaren Energien versorgt werden. Denndie Umstellung der Stromversorgung auf regenerativeEnergien ist aus meiner Sicht keine Frage der Kapazitä-ten oder technischen Möglichkeiten, sondern hängt imWesentlichen von der Ausgestaltung und Laufzeit der be-stehenden Lieferverträge sowie von dem Willen der Ver-antwortlichen ab.Die von den Grünen geforderte Umstellung auf Bio-gas wird sich dagegen aus verschiedenen Gründen nichtebenso schnell realisieren lassen, weshalb dem Antrag inder vorliegenden Form nicht zugestimmt werden kann.Zum einen wird aus unserer Sicht nicht berücksichtigt,dass die Biogasnutzung nur im Rahmen einer Gesamt-strategie nachhaltig ausgebaut werden kann. Dies be-deutet, dass die Nutzung von Biogas den gesamten An-wendungsbereich berücksichtigen muss. So haben wirbeispielsweise erst vor kurzem mit der Verabschiedungdes Gesetzes zur Änderung der Förderung von Biokraft-stoffen den Weg für eine Anrechnung von Biogas auf dieBiokraftstoffquote freigemacht. Damit haben wir einenneuen Nutzungspfad für Biogas eröffnet, der bei der Be-rechnung der Potenziale beachtet werden muss. Zudemmuss beachtet werden, dass die Einspeisung von Biogasin das Erdgasnetz erst seit relativ kurzer Zeit an Bedeu-tung gewinnt. Mit der Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes haben wir an dieser Stelle wichtigeImpulse gesetzt, doch eine solche Entwicklung benötigteben auch eine gewisse Zeit.Vor diesem Hintergrund ist äußerst fraglich, ob kurz-fristig überhaupt die benötigten Mengen an Biogas gene-riert werden können, die für eine verlässliche Versorgungaller Bundesministerien einschließlich des Kanzleramtes
Metadaten/Kopzeile:
26018 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
gegebene Reden
(C)
(D)
Marko Mühlsteinsowie des Bundestages benötigt werden. Ich plädiere da-für, diesen Prozess mit Augenmaß zu entwickeln und inden nächsten Jahren Schritt für Schritt die Nutzung vonBiogas zu intensivieren. Dies ist in der Praxis eher umzu-setzen als eine schnelle Umstellung der entsprechendenAusschreibungen. Denn Biogas ist ohne Zweifel ein nach-haltiger und umweltfreundlicher Energieträger, aberauch nicht in unendlichen Mengen erzeugbar. In diesemZusammenhang fordere ich alle Kolleginnen und Kolle-gen in diesem Hohen Hause auf, sich für eine verstärkteenergetische Abfall- und Reststoffverwertung einzuset-zen. Hierdurch würde sich die verfügbare Menge an Bio-gas drastisch erhöhen.Abschließend möchte ich nochmals betonen, dass diemit dem Antrag verbundenen Arbeiten intensiv angegan-gen werden müssen, eine Umsetzung in die Praxis jedochnicht wie beschrieben erfolgen kann.
Der von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vorge-
legte Antrag zum Einkauf von Ökostrom und Biogas
durch Bundesbehörden stellt auf die Vorbildfunktion der
öffentlichen Hand ab. Dabei soll allen Bundesministe-
rien und Bundesbehörden der Bezug von Ökostrom und
Biogas vorgeschrieben werden.
Wir müssen zunächst einmal feststellen, dass es in die-
sem Antrag vorrangig um Symbolik geht. Durch den Ein-
satz regenerativen Stroms und Gases durch Bundesbe-
hörden wird kein großer Beitrag zu Klimaschutz und
Versorgungssicherheit geleistet. Dennoch ist anzuerken-
nen, dass eine solche Symbolwirkung dann ein wirklicher
Beitrag ist, wenn er zu nennenswerten Nachahmeffekten
durch Bürger und Unternehmen führt. Ob es zu solchen
Nachahmeffekten kommt und diese dann die Zusatzkos-
ten für die öffentlichen Haushalte rechtfertigen, muss
Gegenstand der Ausschussberatungen sein. Die Grünen
übersehen aber in jedem Fall die Gesetzeslage, die sie
selbst befürwortet haben. Denn nach dem Erneuerbare-
Wärme-Gesetz darf Biogas nur in KWK-Anlagen, nicht
aber in Gasheizungen eingesetzt werden. Nachahmef-
fekte durch private Haushalte sind so ausgeschlossen.
Und damit gibt es auch keine Vorbildfunktion.
Denn die Bundesregierung betreibt Greenwashing:
die CO2-Einsparung durch Biogas wird schöngerechnet,
da es nur für besonders effiziente Verwendungen verkauft
werden darf, während das „böse“ russische Erdgas in
den „schlechten“ Gasheizungen verbrannt wird. Die
Grünen haben das bei Verabschiedung des Gesetzes
nicht kritisiert. Ökologisch ist das natürlich Unsinn,
denn niemand kann nach der Einspeisung ins Netz unter-
scheiden, ob die Gas-Moleküle aus russischem Erdgas
oder heimischem Biogas stammen.
Da nun aber die schwarz-rot-grüne Allianz diese Be-
schränkung aus ideologischen Gründen ins Gesetz ge-
schrieben hat, ist die Forderung im Antrag der Grünen
teils sogar gegen das Erneuerbare-Wärme-Gesetz. Denn
anders als im Bundestag werden viele Verbrauchsstellen
in Bundesbehörden keine KWK-Anlagen, sondern zum
Beispiel Gasheizungen sein.
Zu Protokoll
Vor diesem Hintergrund empfehle ich den Grünen, mit
der FDP erst einmal für einen Abbau der gesetzlichen
Beschränkungen für Biogas einzutreten.
Ich bleibe bei meiner Beurteilung, dass die Grünen
hier lediglich einen Schauantrag für den Wahlkampf
bringen.
Wer von anderen mehr Klimaschutz fordert, sollte zu-nächst selbst seine Hausaufgaben machen. Deshalb ist esrichtig, wenn Bundestag und Bundesbehörden bei ihrenLiegenschaften vorangehen und bei der Versorgung aufheimische erneuerbare Energien umsteigen.Der Bundestag ist in der Sache bereits tätig geworden.So bezieht das Parlament Ökostrom und wird in Zukunftden Bezug von Biogas in der Ausschreibung berücksich-tigen. Immerhin „verheizt“ das Hohe Haus pro Jahrrund 1,8 Millionen Kubikmeter Erdgas. Das Problemwar für Energieversorger bisher, diese großen Mengenals Biogas aus nachhaltiger Erzeugung bereitzustellen.Ab 2010 werden aber mehrere Anbieter – darunter auchdie Berliner GASAG – dieses Produkt anbieten können.Für den Bundestag hat sich diese Anforderung derGrünen damit erledigt. Ein herzlicher Dank gilt deshalbauch der Verwaltung des Deutschen Bundestages, diesich früh und professionell dieser Thematik angenommenhat. Deren Engagement zeigt: Wenn Biogas nachgefragtwird, stellt sich der schnell wachsende Markt auch da-rauf ein. Die Bundesministerien und deren Behördenkönnten also ohne Weiteres folgen. Ob sie dies tun, wirdsich zeigen. Ein guter Glaubwürdigkeitstest für die Wahl-programme von CDU/CSU und SPD: Wer erneuerbareEnergien fordert, muss auch voran gehen.Man muss dabei an die Adresse der Grünen anmer-ken, dass sie derzeit – in Übereinstimmung mit der Bun-desregierung – wenig dafür tun, den erforderlichen Bio-gasaufwuchs zu unterstützen. Das Problem ist, dass inDeutschland nur begrenzt Flächen für die Bioenergienut-zung zur Verfügung stehen.Von der landwirtschaftlichen Fläche in Deutschlandmit knapp 16 Millionen Hektar können nach Untersu-chungen des Sachverständigenrats für Umweltfragen,SRU, unter Berücksichtigung sozialer und ökologischerBelange langfristig 19,0 Prozent oder drei MillionenHektar für die Bioenergienutzung bereitgestellt werden.Derzeit beträgt der Anteil schon 12,7 Prozent. Ein Groß-teil dieser Flächen wird bereits für den Anbau von Pflan-zen zur Biospriterzeugung belegt. Dabei hat sich dieBundesregierung unter Beifall der „Ökopartei“ sehrhohe Ziele gesteckt.Die Folge ist allerdings, dass kein Platz mehr fürEnergiepflanzen zur Biogasproduktion bleibt. Es seidenn, man verzichtet auf den Schutz des Naturhaushaltesoder schränkt die Nahrungsmittelerzeugung ein. NachBerechnungen des SRU würden beim Festhalten an derjetzigen Biokraftstoffstrategie sämtliche Flächen für dieErzeugung von Agroenergie benötigt. Wir müssen unsalso entscheiden zwischen der teilweise klimaschädli-chen und ineffizienten Biospritherstellung oder für Bio-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 26019
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
26020 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009
(C)
(D)
Hans-Kurt Hillgas, das je Hektar Biomasse eine dreimal höheren Ener-gieausbeute erreicht.Die Linke spricht sich deshalb für eine gezielte Förde-rung von Biogas aus und fordert eine hindernisfreie Re-gelung zur Einspeisung von Biogas ins Erdgasnetz. Dannkommt auch genug Biogas im Bundeswirtschaftsministe-rium an.
Bundesregierung und Bundestag müssen Ökostrom
beziehen. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Das sollte
man zumindest meinen. Schließlich sagen in diesem
Hause und der Regierung alle, dass ihnen der Klima-
schutz sehr wichtig sei. Selbstverständlich müsste es da-
her sein, dass sämtliche Regierungshäuser Ökostrom be-
ziehen. Dass dies nicht der Fall ist und dieser Antrag
überhaupt gestellt werden musste, ist schon schwer er-
klärbar. Dass der Antrag dann auch noch abgelehnt
wird, ist überhaupt nicht erklärbar. Das hatten Sie offen-
bar erkannt, weshalb die FDP gestern im Umweltaus-
schuss auch den Antrag gestellt hatte, dass im Ausschuss
darüber nicht diskutiert werden soll. Union und SPD hat-
ten dankbar zugestimmt. Heute müssen Sie allerdings
Farbe bekennen. Ich vermute aber, dass Sie bei Union,
SPD und FDP lediglich wieder einen Wettbewerb um die
besten Ausreden abhalten werden. Die Debatte zur ersten
Lesung des Antrags bot hier schon eine Menge Anschau-
ungsmaterial. Die FDP war dabei am Kreativsten und
erfand einen Zusammenhang zum Wärmegesetz für er-
neuerbare Energien, das angeblich den Einsatz von Bio-
gas in Ministerien ausschlösse. Das ist absurd. Man darf
gespannt sein, ob der FDP mittlerweile ein besserer
Grund für ihre Ablehnung eingefallen ist.
Die SPD neigt ja dazu, sich hinter der Union zu ver-
stecken. Meine Damen und Herren von der SPD, es tut
mir leid, das zählt in diesem Falle nicht. Jeder Ihrer Mi-
nister hätte in den letzten Jahren die Möglichkeit gehabt,
sein Haus auf Ökostrom umzustellen und den Einsatz von
Biogas zu prüfen. Dies ist nicht geschehen, und mit der
Ablehnung des Antrags geben Sie Ihren Segen zu dem
Fehlverhalten. Die Ablehnung der Union ist begreiflich.
Die Minister der Union halten sowieso nichts von Öko-
strom und für die Kanzlerin ist Atomstrom der wahre
Ökostrom. Die Ablehnung der Union ist somit wenigstens
konsequent, auch wenn man gespannt sein darf, welchen
Ablehnungsgrund Sie vorgeben werden.
Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung
haben eine wichtige Vorbildfunktion beim Klimaschutz
und bei der Energieversorgungssicherheit. Der Bundes-
tag, das Bundesumweltministerium und seine nachgeord-
neten Behörden sind dieser Vorbildfunktion im Bereich
der Stromversorgung mittlerweile gerecht geworden, da
sie inzwischen infolge eines früheren grünen Antrags an-
hand festgelegter Ausschreibungskriterien den Strombe-
zug auf Ökostrom umgestellt hat. Bei den übrigen
Ministerien und im Kanzleramt herrscht immer noch
Fehlanzeige. Zwar sind alle Minister und die Bundes-
kanzlerin in ihren Sonntagsreden für den Klimaschutz.
Wenn es aber darum geht, wenigstens in ihren eigenen
Häusern mit gutem Beispiel voran zu gehen, herrscht
Fehlanzeige.
Braunkohlestrom, Steinkohlestrom, Strom aus Atom-
kraftwerken: All das ist heute noch Standard in den meis-
ten Ministerien, obwohl diese längst Strom aus erneuer-
baren Energiequellen beziehen könnten. Vollkommen
überflüssig werden daher Klimagase in die Luft gebla-
sen, Schwermetalle über das Land verteilt und Atommüll
erzeugt, von dem keiner weiß, wo er mal landen soll.
Noch dürftiger als beim Ökostrom sieht die Bilanz der
Bundesregierung beim Bezug von Biogas aus. Mittler-
weile gibt es einige Biogasanlagen, die ihr Biogas aufbe-
reitet in das Erdgasnetz einspeisen. Aber nicht einmal
das Bundesumweltministerium und dessen nachgeord-
nete Behörden beziehen Biogas. Wie sollen die Bürger
die Reden von der Energieversorgungssicherheit ernst
nehmen, wenn nicht einmal die Bundesregierung für ihre
eigenen Gebäude eine von Erdgaslieferanten unabhän-
gige Energieversorgung sicher stellen kann? Biogas wird
zwar erst seit relativ kurzer Zeit in das Erdgasnetz einge-
speist. Mittlerweile gibt es aber Unternehmen, die bereit
sind, Biogas zu liefern. Wir fordern die Bundesregierung
auf, in sämtlichen Ministerien und dem Bundeskanzler-
amt – inklusive der nachgeordneten Behörden – den
Strombedarf, der nicht über Eigenerzeugung abgedeckt
wird, künftig von einem Ökostromanbieter zu beziehen.
Die Institutionen sollen diesbezüglich nach Ablauf der
geltenden Verträge Ausschreibungen vornehmen.
Ebenso fordern wir die Bundesregierung auf, zu prü-
fen, welche Anbieter Biogas für die Gasversorgung der
Gebäude der Bundesregierung sowie der nachgeordne-
ten Behörden zur Verfügung stellen können, und eine ent-
sprechende Ausschreibung vorzubereiten. Sollte es noch
laufende Verträge geben, die die Institutionen für einen
bestimmten Zeitraum binden, soll ein Angebot des Ver-
tragspartners für die Belieferung mit Biogas eingeholt
werden. Sie können Gewiss sein, dass die grüne Bundes-
tagsfraktion auch in den nächsten vier Jahren die Regie-
rung zu einem vorbildlichen Verhalten anhalten wird, un-
abhängig davon, ob wir selbst die Regierung stellen
werden oder nicht. Der Antrag ist damit zur Wiedervor-
lage.
Einen kleinen Erfolg konnten wir immerhin schon mit
diesem Antrag erwirken. Der Ältestenrat des Bundesta-
ges zeigte sich offen für eine Prüfung des Einsatzes von
Biogas. Wir sind zuversichtlich, dass schon im nächsten
Jahr eine Ausschreibung erfolgen kann. Dann wäre der
Deutsche Bundestag auch in dieser Hinsicht ein leuch-
tendes ökologisches Vorbild.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss fürUmwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt inseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13625,den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 16/11964 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mehrheitlich angenom-men.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 230. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juli 2009 26021
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsWir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-ordnung.
Ich bedanke mich bei den anwesenden Abgeordnetenfür ihre Disziplin und Geduld.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf Freitag, den 3. Juli 2009, 9 Uhr, ein.Die Sitzung ist geschlossen.