Protokoll:
16222

insert_drive_file

Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 16

  • date_rangeSitzungsnummer: 222

  • date_rangeDatum: 14. Mai 2009

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: None Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 18:54 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 16/222 Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Florian Toncar (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz Müntefering (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arnold Vaatz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Christel Riemann-Hanewinckel (SPD) . . . . . Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele, Jens Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD) . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 38: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Sechs- ten Gesetzes zur Änderung eisenbahn- rechtlicher Vorschriften (Drucksache 16/12587) . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die Internetversteigerung in der Zwangsvollstreckung (Drucksache 16/12811) . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- 24326 A 24329 A 24331 A 24333 A 24336 B 24338 A 24339 B 24341 A 24356 A 24358 B 24359 D 24359 D Deutscher B Stenografisc 222. Si Berlin, Donnerstag I n h a Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung des Tagesordnungspunktes 17 . . . Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . Begrüßung des Vizepräsidenten der Repu- blik Gabun, Herrn Daniel Ona Ondo . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Vereinbarte Debatte: 60 Jahre Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD) . . . . . . . . . . Oskar Lafontaine (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 24311 A 24312 C 24312 D 24323 A 24313 A 24317 B 24320 A 24323 B Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Wachstumsprogramm zur Überwindung der Rezession (Drucksache 16/12887) . . . . . . . . . . . . . . . . . 24344 B undestag her Bericht tzung , den 14. Mai 2009 l t : in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, Christian Ahrendt, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Anti-Rezessionsprogramm auflegen (Drucksache 16/10867) . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU) . . . . . . Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . Ute Berg (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . . Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 24344 B 24344 C 24345 C 24347 B 24349 B 24351 B 24353 A 24354 D zes zur Erleichterung elektronische Anmeldungen zum Vereinsregister un anderer vereinsrechtlicher Änderunge (Drucksache 16/12813) . . . . . . . . . . . . . r d n . 24359 D II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Neuregelung der zivilrechtli- chen Vorschriften des Heimgesetzes nach der Föderalismusreform (Drucksache 16/12882) . . . . . . . . . . . . . . . e) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Europol-Gesetzes, des Europol-Auslegungsprotokollgeset- zes und des Gesetzes zu dem Protokoll vom 27. November 2003 zur Änderung des Europol-Übereinkommens und zur Änderung des Europol-Gesetzes (Drucksache 16/12924) . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: a) Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper, Angelika Brunkhorst, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Energieforschung neu ausrich- ten – Deutschland, Energieland der Zu- kunft (Drucksache 16/10329) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Nachteile für den Forschungsstandort Deutschland aufheben – Für ein innova- tionsfreundliches Steuersystem (Drucksache 16/12474) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Gero Storjohann, Volkmar Uwe Vogel, Dr. Andreas Scheuer, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heidi Wright, Klaas Hübner, Sören Bartol, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD: Punkte- Systematik des Verkehrszentralregis- ters in Flensburg einfacher und ver- ständlicher gestalten (Drucksache 16/12993) . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Michaela Noll, Antje Blumenthal, Maria Eichhorn, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Edelgard Bulmahn, Petra Ernstberger, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Die Situation von Frauenhäusern verbessern (Drucksache 16/12992) . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann, Katrin Göring-Eckardt, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Erinnerungsprojekt „Zug der Erinne- rung“ unterstützen (Drucksache 16/12991) . . . . . . . . . . . . . . . 24360 A 24360 A 24360 A 24360 B 24360 B 24360 C 24360 C Tagesordnungspunkt 39: a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Alexander Bonde, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung (Drucksachen 16/7134, 16/12534) . . . . . . b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 9. Juli 2008 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Mexikanischen Staaten zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkürzung auf dem Ge- biet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksachen 16/12589, 16/12908) . . . . . c) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- trag vom 16. September 2004 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Vermar- kung und Instandhaltung der gemeinsa- men Grenze auf den Festlandabschnit- ten sowie den Grenzgewässern und die Einsetzung einer Ständigen Deutsch- Polnischen Grenzkommission (Drucksachen 16/12590, 16/12913) . . . . . d) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes (Drucksachen 16/12427, 16/13028) . . . . . e) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 12. November 2008 zwischen der Bun- desrepublik Deutschland und der Re- publik Bulgarien über die Zusammen- arbeit bei der Bekämpfung des grenzüberschreitenden Missbrauchs bei Leistungen und Beiträgen zur sozialen Sicherheit durch Erwerbstätigkeit und von nicht angemeldeter Erwerbstätig- keit sowie bei illegaler grenzüberschrei- tender Leiharbeit (Drucksachen 16/12588, 16/13017) . . . . . f) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem In- ternationalen Übereinkommen vom 20. Dezember 2006 zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen (Drucksachen 16/12592, 16/13029) . . . . . g) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD 24360 D 24361 A 24361 B 24361 C 24361 D 24362 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 III eingebrachten Entwurfs eines Ersten Ge- setzes zur Änderung des Treibhausgas- Emissionshandelsgesetzes (Drucksachen 16/12853, 16/13022) . . . . . h) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab- geordneten Sylvia Kotting-Uhl, Cornelia Behm, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mit Bioraffinerien in Deutschland die Biomasse effizienter nutzen und zusätzliche Ressourcen er- schließen (Drucksachen 16/5529, 16/11220) . . . . . . i) Beschlussempfehlung und Bericht des Äl- testenrates zu dem Antrag der Abgeordne- ten Winfried Hermann, Bärbel Höhn, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Vorbildfunktion der Politik für Klimaschutz ernst nehmen – Für eine nachhaltige Senkung verkehrsbe- dingter CO2-Emissionen des Deutschen Bundestages (Drucksachen 16/9009, 16/12800) . . . . . . j) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- gie – zu der Verordnung der Bundesregie- rung: Vierundachtzigste Verord- nung zur Änderung der Außenwirt- schaftsverordnung – zu der Verordnung der Bundesregie- rung: Einhundertachtundfünfzigste Verordnung zur Änderung der Ein- fuhrliste – Anlage zum Außenwirt- schaftsgesetz – (Drucksachen 16/12195, 16/12357 Nr. 2.1, 16/12196, 16/12357 Nr. 2.2, 16/12819) . . k) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- entwicklung zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parla- ments und des Rates zur Schaffung ei- nes europäischen Schienennetzes für ei- nen wettbewerbsfähigen Güterverkehr (inkl. 17324/08 ADD 1 bis 17324/08 ADD 6) (ADD 1 bis ADD 5 in Franzö- sisch) KOM(2008) 852 endg.; Ratsdok. 17324/08 (Drucksachen 16/11721 Nr. A.27, 16/12842) l)–o) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 561, 562, 563 und 564 zu Petitionen (Drucksachen 16/12870, 16/12871, 16/12872, 16/12873) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24362 B 24362 C 24362 D 24363 A 24363 B 24363 C Zusatztagesordnungspunkt 4: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Abge- ordneten Thilo Hoppe, Marieluise Beck (Bre- men), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Landrechte stärken – „land grabbing“ in Entwicklungsländern verhin- dern (Drucksachen 16/12735, 16/13023) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- lung – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Andreas Scheuer, Dirk Fischer (Ham- burg), Dr. Klaus W. Lippold, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Rita Schwarzelühr-Sutter, Klaas Hübner, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Mobilität zukunftsfä- hig machen – Elektromobilität fördern – zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Kauch, Horst Meierhofer, Horst Friedrich (Bayreuth), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Elektromobilität – Für einen bezahlbaren und klimaver- träglichen Individualverkehr – zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Kauch, Horst Meierhofer, Horst Friedrich (Bayreuth), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Elektromobilität durch Änderung von immissionsschutz- und verkehrsrechtlichen Regelungen fördern – zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann, Hans-Josef Fell, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Umfassende Förderstrategie für Elektromobilität mit grünem Strom entwickeln (Drucksachen 16/12693, 16/10877, 16/12097, 16/11915, 16/12977) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP) . . . . . . . . . Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Dorothée Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) . . . . . . . . . . Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU) . . . . . . . . . 24363 D 24364 A 24364 C 24365 C 24366 D 24368 D 24369 A 24370 A 24371 A IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 Tagesordnungspunkt 22: a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes (Drucksachen 16/12413, 16/13025) . . – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 16/13026) . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Abgeord- neten Dr. Ilja Seifert, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Soforthilfe zur Teilhabe-Ermöglichung für Conter- ganbetroffene (Drucksachen 16/11639, 16/13025) . . . . . Ilse Falk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antje Blumenthal (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: a) Große Anfrage der Abgeordneten Diana Golze, Klaus Ernst, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Ursachen und Folgen von Ar- mut bei Kindern und Jugendlichen (Drucksachen 16/7582, 16/9810) . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – zu dem Antrag der Abgeordneten Miriam Gruß, Sibylle Laurischk, Ina Lenke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Existenz von Kin- dern sichern – Familien stärken – zu dem Antrag der Abgeordneten Ekin Deligöz, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Kein Kind zurücklassen – Programm gegen Kinderarmut auf den Weg bringen – zu dem Antrag der Abgeordneten Ekin Deligöz, Irmingard Schewe-Gerigk, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bessere Unterstützung für Alleinerziehende 24372 C 24372 C 24372 D 24373 A 24374 B 24375 B 24377 A 24378 A 24379 A 24380 C (Drucksachen 16/9433, 16/9028, 16/10257, 16/12201) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Fischbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Fischbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Spanier (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michaela Noll (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einla- gensicherungs- und Anlegerentschädi- gungsgesetzes und anderer Gesetze (Drucksachen 16/12255, 16/12599, 16/13024, 16/13038) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- nanzausschusses zu dem Antrag der Abge- ordneten Frank Schäffler, Hans-Michael Goldmann, Dr. Hermann Otto Solms, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Reform der Anlegerentschädi- gung in Deutschland (Drucksachen 16/11458, 16/13024, 16/13038) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- nanzausschusses zu dem Antrag der Abge- ordneten Dr. Herbert Schui, Dr. Barbara Höll, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Sozialisierung der Verluste verhindern – Sicherungsfonds für privaten Finanzsektor schaffen (Drucksachen 16/8888, 16/10610) . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- nanzausschusses zu dem Antrag der Abge- ordneten Karin Binder, Ulrich Maurer, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Verbesse- rung des Verbraucherschutzes beim Er- werb von Kapitalanlagen (Drucksachen 16/11185, 16/12354) . . . . . . . . Jörg-Otto Spiller (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24380 C 24381 A 24382 A 24383 B 24383 C 24383 D 24384 D 24386 D 24387 D 24389 A 24389 B 24389 B 24389 C 24389 C 24390 C 24391 B 24393 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 V Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Krista Sager, Priska Hinz (Herborn), weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Problem der ungenutzten Studienplätze in zulassungs- beschränkten Studiengängen umgehend lösen – Staatsvertrag jetzt vereinbaren (Drucksache 16/12476) . . . . . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . Cornelia Hirsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zugewinnaus- gleichs- und Vormundschaftsrechts (Drucksachen 16/10798, 16/13027) . . . . . . . . Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helga Lopez (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: Antrag der Abgeordneten Patrick Döring, Horst Friedrich (Bayreuth), Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Arbeitsplätze im Trans- portgewerbe sichern – Mauterhöhung bis Ende 2009 aussetzen (Drucksache 16/12731) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 26: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Eduard Lintner, Eckart von Klaeden, Klaus Brähmig, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Lothar Mark, Gert Weisskirchen (Wiesloch), Niels Annen, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Eine starke Partnerschaft – Europa und Lateinamerika/Karibik (Drucksachen 16/9072, 16/9466) . . . . . . . . . . Lothar Mark (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24394 B 24394 C 24395 C 24397 A 24398 A 24398 C 24400 A 24400 D 24401 A 24402 D 24403 A 24405 A 24406 A 24407 B 24407 C 24407 D Monika Knoche (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Erich G. Fritz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Niels Annen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Christoph Waitz, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP: Klare Rahmenbedin- gungen für den dualen Rundfunk im multimedialen Zeitalter – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar Bisky, Dr. Petra Sitte, Cornelia Hirsch, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion DIE LINKE: Öf- fentlich-rechtlicher Rundfunk im Digitalzeitalter – zu dem Antrag der Abgeordneten Grietje Bettin, Volker Beck (Köln), Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Besondere Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nach EU-Kompromiss sicherstellen (Drucksachen 16/5959, 16/6773, 16/5424, 16/7343) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Abgeordneten Elke Reinke, Dr. Lothar Bisky, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Neuregelung der GEZ-Be- freiungstatbestände – Neuverhandlung des Rundfunkgebührenstaatsvertrages (Drucksachen 16/5140, 16/7345) . . . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Kultur und Medien – zu der Unterrichtung durch den Beauf- tragten der Bundesregierung für Kultur und Medien: Medien- und Kommu- nikationsbericht der Bundesregie- rung 2008 – zu dem Entschließungsantrag der Ab- geordneten Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Christoph Waitz, Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP zu der Unterrichtung durch den Beauftragten der Bundesre- gierung für Kultur und Medien: Me- dien- und Kommunikationsbericht der Bundesregierung 2008 (Drucksachen 16/11570, 16/12135, 16/12909) 24408 C 24409 C 24410 D 24411 D 24412 C 24412 D 24413 A VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 Tagesordnungspunkt 28: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Bun- desvertriebenengesetzes (Drucksachen 16/12593, 16/13015) . . . . . . . . Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU) . . . . . . Maik Reichel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 27: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab- geordneten Undine Kurth (Quedlinburg), Volker Beck (Köln), Cornelia Behm, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die Be- drohung der Meeresumwelt durch Un- terwasserlärm stoppen (Drucksachen 16/5117, 16/7168) . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Abgeordneten Rainder Steenblock, Undine Kurth (Quedlinburg), Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einführung eines Europäischen Tags der Meere (Drucksachen 16/8213, 16/12654) . . . . . . Bernhard Kaster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Christoph Pries (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurt Bodewig (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 30: Zweite und dritte Beratung des von den Frak- tionen der CDU/CSU und der SPD einge- brachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Helfer der Bundesanstalt Technisches Hilfswerk (Drucksachen 16/12854, 16/13016) . . . . . . . . Beatrix Philipp (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . 24413 D 24414 A 24415 B 24416 B 24417 A 24417 D 24418 B 24418 C 24418 C 24419 B 24420 A 24420 C 24421 C 24422 B 24423 A 24424 B 24424 B 24425 C 24427 A Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 29: Antrag der Abgeordneten Frank Spieth, Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Krankenversicherung für Selbständige be- zahlbar gestalten (Drucksache 16/12734) . . . . . . . . . . . . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Daniel Bahr (Münster) (FDP) . . . . . . . . . . . . Frank Spieth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 32: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD: Sicherheit, Stabilität und Demo- kratie im Südkaukasus fördern (Drucksachen 16/12102, 16/12726) . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Rainder Steenblock, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Demokratie und Sicherheit im Südkau- kasus stärken (Drucksachen 16/12110, 16/12727) . . . . . Manfred Grund (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Eduard Lintner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Link (Heilbronn) (FDP) . . . . . . . . . . Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 31: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Gesundheit zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Krankenhaus- infektionen vermeiden – Multiresistente Problemkeime wirksam bekämpfen (Drucksachen 16/11660, 16/12925) . . . . . . . . Frank Spieth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 24427 D 24428 A 24428 C 24428 D 24429 D 24431 C 24432 A 24432 D 24433 B 24433 D 24433 D 24434 A 24435 A 24435 D 24437 A 24438 D 24439 A 24440 A 24440 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 VII Tagesordnungspunkt 33: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ (Drucksachen 16/12230, 16/12976) . . . . . . . . Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) . . . . . . . . . . Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) . . . . . Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 34: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung eines Sonderver- mögens „Vorsorge für Schlusszahlungen für inflationsindexierte Bundeswertpa- piere“ (Schlusszahlungsfinanzierungsge- setz – SchlussFinG) (Drucksachen 16/12233, 16/12905) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 35: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Geset- zes über die Errichtung einer Bundesan- stalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufga- ben (BDBOS-Gesetz) (Drucksachen 16/12594, 16/12914) . . . . . . . . Clemens Binninger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 36: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Rechtsverhältnisse bei Schuldverschreibungen aus Gesamtemis- sionen und zur verbesserten Durchsetz- barkeit von Ansprüchen von Anlegern aus Falschberatung (Drucksache 16/12814) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 37: Erste Beratung des von den Abgeordneten Sibylle Laurischk, Irmingard Schewe-Gerigk, Dr. Konrad Schily und weiteren Abgeordne- 24441 B 24441 C 24443 A 24443 D 24444 C 24444 D 24445 D 24446 A 24446 B 24447 A 24448 C 24449 B 24449 D 24450 C ten eingebrachten Entwurfs eines … Geset- zes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Strafbarkeit der Genitalverstümmelung (Drucksache 16/12910) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede zum Entwurf eines Gesetzes zur Abschaf- fung des Progressionsvorbehalts für Kurzar- beitergeld (221. Sitzung, Tagesordnungs- punkt 9) Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Einlagensicherungs- und Anlegerentschä- digungsgesetzes und anderer Gesetze – Beschlussempfehlung und Bericht: Reform der Anlegerentschädigung in Deutschland – Beschlussempfehlung und Bericht: Sozia- lisierung der Verluste verhindern – Siche- rungsfonds für privaten Finanzsektor schaffen – Beschlussempfehlung und Bericht: Ver- besserung des Verbraucherschutzes beim Erwerb von Kapitalanlagen (Tagesordnungspunkt 24 a und b, Zusatzta- gesordnungspunkte 5 und 6) Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zugewinnausgleichs- und Vormund- schaftsrechts (Tagesordnungspunkt 18) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24450 D 24450 D 24452 B 24453 A 24454 A 24454 D 24455 D 24455 B/D 24457 A 24457 D 24458 C 24459 B VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Arbeitsplätze im Transportge- werbe sichern – Mauterhöhung bis Ende 2009 aussetzen (Tagesordnungspunkt 23) Wilhelm Josef Sebastian (CDU/CSU) . . . . . . Uwe Beckmeyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Mücke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lutz Heilmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Eine starke Partnerschaft – Europa und Latein- amerika/Karibik (Tagesordnungspunkt 26) Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Beschlussempfehlung und Bericht: – Antrag: Klare Rahmenbedingungen für den dualen Rundfunk im multimedialen Zeitalter – Antrag: Öffentlich-rechtlicher Rundfunk im Digitalzeitalter – Antrag: Besondere Rolle des öffentlich- rechtlichen Rundfunks nach EU-Kompro- miss sicherstellen Beschlussempfehlung und Bericht: – Antrag: Neuregelung der GEZ-Befrei- ungstatbestände – Neuverhandlung des Rundfunkgebührenstaatsvertrages Beschlussempfehlung und Bericht: – Unterrichtung: Medien- und Kommunika- tionsbericht der Bundesregierung 2008 – Entschließungsantrag: Medien- und Kom- munikationsbericht der Bundesregierung 2008 (Tagesordnungspunkt 25 a bis c) Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Marco Wanderwitz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Monika Griefahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) . . . . . Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Grietje Staffelt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24460 D 24462 A 24464 A 24464 C 24465 B 24465 D 24467 A 24468 D 24469 D 24471 D 24473 A 24473 D Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Krankenhausinfektionen vermeiden – Multi- resistente Problemkeime wirksam bekämp- fen (Tagesordnungspunkt 31) Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU) . . . . . . . . Dr. Carola Reimann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konrad Schily (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolf Schwanitz, Parl. Staatssekretär BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung eines Sondervermögens „Vorsorge für Schlusszahlungen für inflationsindexierte Bundeswertpapiere“ (Schlusszahlungsfinan- zierungsgesetz – SchlussFinG) (Tagesord- nungspunkt 34) Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU) . . . . . . Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neurege- lung der Rechtsverhältnisse bei Schuldver- schreibungen aus Gesamtemissionen und zur verbesserten Durchsetzbarkeit von Ansprü- chen von Anlegern aus Falschberatung (Ta- gesordnungspunkt 36) Marco Wanderwitz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Klaus Uwe Benneter (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Mechthild Dyckmans (FDP) . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 11 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24475 B 24476 C 24477 B 24477 C 24478 B 24478 D 24480 B 24480 D 24482 B 24482 C 24483 A 24484 A 24485 A 24486 A 24486 D 24488 C 24489 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24311 (A) (C) (B) (D) 222. Si Berlin, Donnerstag Beginn: 9
  • folderAnlagen
    igung 9 (C), dritter Absatz: Der lesen: „Der Arzt wird ver- en wir übernommen –, der is ein Angebot für die psy- en.“ ässt lebenslange irreparable chädigungen bei den Mäd- handelt sich hierbei auch um ch Migration und Flucht le- uen in Europa, die in ihren en wurden. Und es gibt El- diese grausame Praxis sei für endig. In Deutschland leben chenrechtsorganisation Terre 000 von Genitalverstümm- ie 4 000 bis 5 000 Mädchen, genommen werden. Somit k dass eine Genitalverstümmelu gehenden Aufenthalts im Au schen Strafrecht unterliegt. Mehrfach habe ich dazu au Genitalverstümmlung partei Nach den vielen Gesprächen liegt nun ein Gruppengesetzen verstümmlung ausdrücklich nommen werden soll. Dies wä Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24457 (A) (C) (B) (D) 2,6 Millionen Menschen sind auf Kurzarbeit. Kurzarbeit bedeutet weniger Einkommen und große Unsicherheit,Meckel, Markus SPD 14.05.2009 geld (221. Sitzung, Tagesordnungspunkt 9) Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Krise ist auf dem Arbeitsmarkt angekommen: Karl A. Lösekrug-Möller, Gabriele SPD 14.05.2009 Anlage 1 Liste der entschuldi Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Addicks, Karl FDP 14.05.2009 Aigner, Ilse CDU/CSU 14.05.2009 Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.05.2009 Bätzing, Sabine SPD 14.05.2009 Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.05.2009 Becker, Dirk SPD 14.05.2009 Connemann, Gitta CDU/CSU 14.05.2009 Dreibus, Werner DIE LINKE 14.05.2009 Edathy, Sebastian SPD 14.05.2009 Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 14.05.2009 Flach, Ulrike FDP 14.05.2009 Fornahl, Rainer SPD 14.05.2009 Gehrcke, Wolfgang DIE LINKE 14.05.2009 Grund, Manfred CDU/CSU 14.05.2009 Hänsel, Heike DIE LINKE 14.05.2009 Haibach, Holger CDU/CSU 14.05.2009 Heil, Hubertus SPD 14.05.2009 Hoff, Elke FDP 14.05.2009 Irber, Brunhilde SPD 14.05.2009 Kortmann, Karin SPD 14.05.2009 Krichbaum, Gunther CDU/CSU 14.05.2009 Dr. Lamers (Heidelberg), CDU/CSU 14.05.2009** Anlagen zum Stenografischen Bericht gten Abgeordneten * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- lung des Europarates ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung der NATO *** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung der OSZE Anlage 2 Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede zum Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung des Progressionsvorbehalts für Kurzarbeiter- Merz, Friedrich CDU/CSU 14.05.2009 Dr. Möllring, Eva CDU/CSU 14.05.2009 Nešković, Wolfgang DIE LINKE 14.05.2009 Nitzsche, Henry fraktionslos 14.05.2009 Pflug, Johannes SPD 14.05.2009* Raidel, Hans CDU/CSU 14.05.2009 Dr. Scheer, Hermann SPD 14.05.2009 Schily, Otto SPD 14.05.2009 Schneider (Erfurt), Carsten SPD 14.05.2009 Dr. Schockenhoff, Andreas CDU/CSU 14.05.2009 Schummer, Uwe CDU/CSU 14.05.2009 Seib, Marion CDU/CSU 14.05.2009 Strothmann, Lena CDU/CSU 14.05.2009 Thönnes, Franz SPD 14.05.2009*** Waitz, Christoph FDP 14.05.2009 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich 24458 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 (A) (C) (B) (D) wie es weitergeht. Da ist jede Erleichterung willkom- men. Die Gewerkschaften haben auch bereits an viele Abgeordnete geschrieben und uns aufgefordert, das Kurzarbeitergeld ganz aus der Besteuerung herauszu- nehmen. Kurzarbeitergeld wird zwar steuerfrei ausge- zahlt, führt aber zu einer höheren Besteuerung anderer Einkünfte der Steuerpflichtigen. Dem Anliegen der Ge- werkschaften entsprechend legt die Fraktion Die Linke jetzt einen Gesetzentwurf vor, der den sogenannten Progressionsvorbehalt beim Kurzarbeitergeld abschaffen würde. Die Schwierigkeit liegt nun darin, dass der Progres- sionsvorbehalt auf einen ganzen Katalog von Einkünften angewandt wird. Im Wesentlichen sind dies Lohnersatz- leistungen wie Arbeitslosengeld, Kurzarbeitergeld, Win- terausfallgeld, Insolvenzgeld, Übergangsgeld, Alters- übergangsgeld; auch das Krankengeld, Mutterschafts- geld, Verletztengeld und sogar das Elterngeld erhöhen heimlich die Steuerlast. Kurzarbeit ist also nur eines der Probleme, Arbeitslosengeld ist genauso betroffen. Auch die Arbeitslosenzahlen steigen rapide. Die EU- Kommission schätzt, dass 2009 und 2010 1,5 Millionen Menschen in Deutschland ihren Arbeitsplatz verlieren. Das ist dramatisch. Jemand, der seinen Arbeitsplatz ver- liert, wird sich natürlich fragen, warum Leute in Kurzar- beit, die also ihren Arbeitsplatz noch haben, besser be- handelt werden als Arbeitnehmer, die ihren Arbeitsplatz schon verloren haben. Ich vermute, dass sich dieser Ar- beitnehmer ungerecht behandelt fühlen würde. Und er hätte recht damit. Der Gesetzentwurf der Linken klam- mert diese Ungleichbehandlung aber einfach aus. Ich denke, so geht es nicht. Wir müssen uns die Auswirkun- gen des Progressionsvorbehaltes bei Lohnersatzleistun- gen insgesamt anschauen und dann eine Antwort finden, die allen Betroffenen gerecht wird. Dabei wird es ein wichtiger Punkt sein, dass der Progressionsvorbehalt kleinere Einkommen besonders trifft. Ich möchte das an einem Beispiel illustrieren. Wenn eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer, je- weils verheiratet, ein zu versteuerndes Einkommen von 16 872 Euro erzielt, sind darauf 248 Euro Lohnsteuern zu zahlen. Das sind 1,47 Prozent des zu versteuernden Einkommens. Wenn diese Arbeitnehmerin oder dieser Arbeitnehmer nun außerdem noch 1 534 Euro Kurzar- beitergeld beziehen würde, erhöht sich die Steuerbelas- tung auf 464 Euro bzw. 2,75 Prozent. Das heißt, die Steuerbelastung des Gesamteinkommens steigt deutlich an. Ich stelle also fest: Der Progressionsvorbehalt erzeugt für alle Lohnersatzleistungen eine beträchtliche Steuer- mehrbelastung für die betroffenen Steuerpflichtigen. Ich schlage deshalb vor, im Rahmen der Ausschussberatun- gen typische Arbeitnehmerhaushalte zu betrachten, die Lohnersatzleistungen beziehen, um die steuerliche Mehr- belastung auf das Gesamteinkommen der Beschäftigten in den Blick zu nehmen. Das Bundesfinanzministerium kann ja schon einmal Musterrechnungen erstellen, um die sozialpolitische Dimension beurteilen zu können. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Einlagensicherungs- und Anlegerentschädi- gungsgesetzes und anderer Gesetze – Beschlussempfehlung und Bericht: Reform der Anlegerentschädigung in Deutschland – Beschlussempfehlung und Bericht: Soziali- sierung der Verluste verhindern – Siche- rungsfonds für privaten Finanzsektor schaf- fen – Beschlussempfehlung und Bericht: Verbes- serung des Verbraucherschutzes beim Er- werb von Kapitalanlagen (Tagesordnungspunkt 24 a und b, Zusatztages- ordnungspunkte 5 und 6) Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Auf den ersten Blick scheint es so, als hätten wir es mit einer Verbesserung zu tun: Einlagensicherung und Anlegerschutz sollen auf zu- nächst 50 000 Euro, dann auf 100 000 Euro erhöht wer- den. Tatsächlich jedoch sind zwei entscheidende Fragen zu beantworten. Erstens. Wie zahlungsfähig sind die deutschen Systeme der Einlagen- und Wertpapiersiche- rung? Zweitens. Wer zahlt, wenn die Sicherungseinrich- tungen erschöpft sind? Zu Punkt eins, der Zahlungsfähigkeit der Sicherungs- einrichtungen, ist Folgendes festzustellen. Alle deut- schen Einlagensicherungen zusammengenommen – ge- setzliche und freiwillige – sind nicht in der Lage, einen Einlagenverlust bei der Deutschen Bank aufzufangen. Die Sicherungssysteme sind historisch einzig dazu ge- schaffen worden, Schwierigkeiten bei kleinen und mitt- leren Geldhäusern auszugleichen. Der vorliegende Gesetzentwurf sieht vor, die Zah- lungsfähigkeit geringfügig zu verbessern: über Sonder- beiträge, die zugleich wieder eng gedeckelt sind, und über die Möglichkeit, Kredite aufzunehmen. Das bringt nicht mehr, als würde man fünf Topfkuchen verkaufen, um damit die Bankenrettungen zu finanzieren. Die Anhörung mit Sachverständigen im Finanzaus- schuss kam zum selben Ergebnis. Professor Dr. Wolfgang Gerke beschreibt das Problem wie folgt: „Aktuell würde die aus Anlegersicht wünschenswerte Einlagensicherung bei marktgerechter Beitragskalkulation … zu Insolven- zen führen.“ Mit anderen Worten: Die Banken sind nicht in der Lage, gemessen an ihrem Risiko in die Siche- rungssysteme einzuzahlen. Im Kern gilt daher: Die Bun- desregierung will hier eine EU-Richtlinie umsetzen, ohne sie auf ein tragfähiges Standbein zu stellen. Damit komme ich zur zweiten Frage. Wer zahlt, wenn die Sicherungseinrichtungen erschöpft sind? Wie so oft trifft es die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Daher brauchen wir weitere Schritte, um zu verhindern, dass Einlagensicherung und Anlegerschutz zulasten von Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24459 (A) (C) (B) (D) Steuergeld erfolgen. Erstens müssen es die Banken sein, die für die Sicherung von Einlagen und Wertpapieren aufkommen. Selbst wenn dies zulasten von Zinserträgen und Wertpapiergewinnen erfolgt, ist das weit besser als zulasten von Steuergeld. Zweitens – dazu haben wir einen Antrag einge- bracht – brauchen wir einen zusätzlichen Sicherungs- fonds. Dieser Fonds würde durch eine Sonderabgabe der privaten Finanzinstitute finanziert. Er dient dazu, dass sich Banken gegenseitig vor Insolvenz bewahren. Hierzu können sie untereinander zeitlich befristet nicht werthal- tige Aktiva übernehmen. Die Sicherheit der Banken selbst ist der Grundstein, der zugleich Spareinlagen und Wertpapieranlagen schützt. Drittens fordern wir, den Verbraucherschutz beim Er- werb von Kapitalanlagen zu verbessern. Auch hierzu liegt ein Antrag der Linken vor. Was wir brauchen, ist eine Zulassungsstelle für Anlageprodukte. Diese kann sowohl Verbraucherinnen und Verbraucher schützen als auch Volkswirtschaften vor unüberschaubaren Risiken bewahren. Deshalb brauchen wir europäische Mindest- standards für Anlageprodukte. Wer Verbraucherinnen und Verbraucher schützen will, ohne sie als Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zu belasten, muss an die Quelle des Risikos gehen. Nur so kann eine Sozialisierung der Verluste verhindert werden. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zugewinnausgleichs- und Vor- mundschaftsrechts (Tagesordnungspunkt 18) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Im Kern geht es bei dem Thema Zugewinnausgleich um die gerechte Teilhabe der Eheleute nach einer Scheidung am im Zeitraum der Ehe erwirtschafteten Vermögen. Es geht um die gerechte Verteilung von Vermögen und den Schutz des schwächeren Ehepartners. Der Zugewinnaus- gleich ist eine Frage gleichberechtigter Werteteilhabe. Er ist die Grundlage für die selbstverantwortliche Lebens- gestaltung von Frauen und Männern nach dem Ende der Ehe. Lassen Sie mich zunächst auf einige Zahlen verwei- sen: 368 922 Eheschließungen standen im Jahr 2007 bundesweit 187 072 Ehescheidungen gegenüber. In der großen Mehrzahl der Scheidungsfälle wurde ein Zuge- winnausgleich vorgenommen, da der Ehe meist der so- genannte gesetzliche Güterstand der Zugewinngemein- schaft zugrunde lag. Vor den Amtsgerichten wurden 2007 allein 15 939 Verfahren zum ehelichen Güterstand erledigt. Diese Zahlen machen die große Bedeutung des Zugewinnausgleichs deutlich. Lassen Sie mich jedoch gleich einen großen Irrglau- ben ausräumen. Im Gegensatz zu einer weitverbreiteten Annahme in der Bevölkerung bedeutet der gesetzliche Güterstand der Zugewinngemeinschaft nicht, dass alle während der Ehe erworbenen Gegenstände gemein- schaftliches Vermögen beider Ehegatten werden. Der Güterstand der Zugewinngemeinschaft bedeutet viel- mehr, dass grundsätzlich jeder Ehegatte Alleineigentü- mer seines vor und während der Ehe erworbenen Vermö- gens bleibt. Ein Ausgleich der unterschiedlichen Vermögen der Ehegatten, der sogenannte Zugewinnaus- gleich, findet erst mit dem Ende der Ehe statt. Seit dem Inkrafttreten des Gleichberechtigungsgeset- zes 1958, also vor 50 Jahren, hat es kaum Änderungen im Recht des Zugewinnausgleichs gegeben. Und auch nach 50 Jahren wollen wir heute mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die Grundkonzeption des Zugewinnaus- gleichs nicht antasten. Vielmehr geht es um Korrekturen des bestehenden Systems, um Schwachstellen des bishe- rigen Rechts, die sich über die Jahre herausgebildet ha- ben, zu beseitigen. Mit dem Gesetzentwurf zur Änderung des Zugewinn- ausgleichs und Vormundschaftsrechts wird das geltende Zugewinnausgleichssystem beibehalten, aber mit zahl- reichen Maßnahmen sollen insbesondere illoyale Vermö- gensverschiebungen vermindert werden. Dieser Zu- wachs an Gerechtigkeit ist das Ergebnis einer guten Vorarbeit durch das Bundesjustizministerium, aber auch vor allem intensiver Berichterstattergespräche zwischen allen Koalitionen und der Einbeziehung von hochkaräti- gen externen Sachverständigen in diese Berichterstatter- gespräche. Lassen Sie mich kurz auf die wesentlichen Elemente dieses Gesetzentwurfes eingehen. Für die Ermittlung des Endvermögens und damit für die Ermittlung der Höhe des Zugewinnausgleichs ist der Zeitpunkt der Berechnung von entscheidender Bedeu- tung. Als wesentlicher Zeitpunkt sind bei einer Trennung der Ehegatten in chronologischer Reihenfolge der Tren- nungszeitpunkt selbst, der Zeitpunkt der Zustellung des Scheidungsantrages und letztendlich die Beendigung des Güterstandes zu nennen. Nach geltender Rechtslage galt als Berechnungszeitpunkt der Zeitpunkt der Zustellung des Scheidungsantrages. Die Höhe der Ausgleichsforde- rung war jedoch begrenzt durch das Vermögen, das nach Beendigung des Güterstandes, also im Zweifel Jahre später, noch vorhanden war. Dieses Auseinanderfallen der Zeitpunkte lud zu Manipulationen ein. Nach der Neuregelung gilt für die Berechnung des Zugewinns und für die Höhe der Ausgleichsforderung der einheitliche frühe Zeitpunkt der Zustellung des Scheidungsantrages. Der ausgleichsberechtigte Ehepartner wird dadurch we- sentlich besser geschützt. Diese Neuregelung bringt jedoch in der Praxis nur dann einen wirklichen Vorteil, wenn der ausgleichsbe- rechtigte Ehepartner auch weiß, wie hoch das Endver- mögen des ausgleichspflichtigen Partners wirklich ist. Als wichtige Neuregelung stellt sich somit die Änderung des Auskunftsanspruchs des ausgleichsberechtigten Partners gegen den ausgleichspflichtigen Partner dar. Zahlreiche Gespräche mit Praktikern, insbesondere auch mit Anwältinnen, haben gezeigt, dass in diesem Bereich enormer Verbesserungsbedarf besteht. 24460 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 (A) (C) (B) (D) Nach bestehender Rechtslage war nach Beendigung des Güterstandes jeder Ehegatte dem anderen Ehegatten gegenüber verpflichtet, Auskunft über den Bestand des Vermögens zu geben. Doch wie wir alle wissen, lässt sich viel sagen, wenn nicht auch entsprechende Belege vorzulegen sind. Eine solche Vorlage von Belegen zu Kontrollzwecken sah das geltende Recht jedoch gerade nicht vor. Damit war der Manipulation Tür und Tor ge- öffnet. Der ausgleichspflichtige Ehegatte, in den aller- meisten Fällen noch immer der Ehemann, reduzierte so auf einfache Weise seine Pflicht zur Zahlung des Zuge- winnausgleichs, und allen Beteiligten waren oftmals die Hände gebunden. Aus diesem Grunde wird nun die Be- legpflicht eingeführt. Damit wird die Kontrolle der ge- machten Angaben wesentlich erleichtert. Auch dies stellt somit einen wirksamen Schutz des Ausgleichsberechtig- ten dar. Im Rahmen des erweiterten Berichterstattergesprä- ches im Februar diesen Jahres hat insbesondere auch die von der FDP benannte Sachverständige Frau Professor Dr. Dethloff eindringlich darauf hingewiesen, dass aus- gleichspflichtige Ehegatten versuchen werden, noch vor dem Zeitpunkt der Zustellung des Scheidungsantrages, letztendlich also mit der Trennung der Ehegatten, Ver- mögenswerte beiseitezuschaffen. Aus diesem Grunde setzte sich die FDP-Bundestagsfraktion in den Berichter- stattergespräche gezielt dafür ein, dass der Auskunftsan- spruch weiter ausgedehnt wird. Nach der uns nun zur Abstimmung vorliegenden Empfehlung des Rechtsaus- schusses des Deutschen Bundestages wird der Aus- kunftsanspruch ergänzt um einen weiteren Auskunftsan- spruch über den Bestand des Vermögens zum Zeitpunkt der Trennung. Flankiert wird dieser erweiterte Aus- kunftsanspruch durch eine Beweislastumkehr, wonach der Ausgleichspflichtige darzulegen und zu beweisen hat, dass eine Vermögensminderung in dem Zeitraum zwischen Trennung und Zustellung des Scheidungsan- trages nicht auf illoyalen Vermögensminderungen be- ruht. Damit wird der Schutz des ausgleichsberechtigten Ehegatten weiter gestärkt. Vervollständigt wird dieser Schutz durch die Mög- lichkeit, einen Anspruch auf Zahlung vorzeitigen Zuge- winns bei einer drohenden Vermögungsverschiebung un- mittelbar geltend zu machen. Durch dieses Bündel an Maßnahmen wird nach An- sicht der FDP-Bundestagsfraktion der Schutz des aus- gleichsberechtigten Ehepartners deutlich gestärkt. Als weitere wichtige Änderung ist die Berücksichti- gung negativen Anfangsvermögens bei der Ermittlung des Zugewinns zu nennen, die nach Ansicht der FDP- Bundestagsfraktion zu einer deutlichen Stärkung des Gerechtigkeitsempfindens beitragen wird. Nach der gel- tenden Rechtslage konnten Verbindlichkeiten niemals zu einem negativen Anfangsvermögen führen. Startete zum Beispiel der Ehemann mit Schulden in die Ehe und wur- den diese Schulden während der Ehe komplett abgebaut, wirkte sich dies im Falle eines späteren Zugewinnaus- gleichs überhaupt nicht aus. Die gemeinsame Schulden- tilgung der Eheleute kam also allein dem Ehemann zu- gute. Doch es ist nicht von der Hand zu weisen, dass eben auch der Abbau von Schulden bei einem Ehepart- ner letztendlich einen Vermögenszuwachs darstellt. Die- ses unbefriedigende Ergebnis, dass Schulden beim An- fangsvermögen nicht berücksichtigt wurden, wird nun nach 50 Jahren beendet. Zukünftig werden auch Schul- den, die die Ehegatten mit in die Ehe gebracht haben, beim Zugewinnausgleich berücksichtigt. Dies ist ein we- sentlicher Schritt zu mehr Gerechtigkeit nach einer Scheidung. Erst im Rahmen der Berichterstattergespräche hat der Verzicht auf eine sogenannte Kappungsgrenze Eingang in den vorliegenden Gesetzentwurf gefunden. Die Höhe der Ausgleichsforderung wird zwar richtigerweise auf das bei Ende des Güterstandes vorhandene Vermögen begrenzt. Eine Kappungsgrenze bei 50 Prozent des vor- handenen Vermögens, wie sie der Gesetzentwurf zu- nächst vorsah, hätte dem Gerechtigkeitsempfinden stark widersprochen und war daher abzulehnen. Auch darauf hat die Sachverständige der FDP dezidiert hingewiesen. Insgesamt liegt uns damit ein Gesetzentwurf vor, der die Zustimmung der FDP-Bundestagsfraktion verdient. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Arbeitsplätze im Transportgewerbe sichern – Mauterhöhung bis Ende 2009 aussetzen (Tagesordnungspunkt 23) Wilhelm Josef Sebastian (CDU/CSU): Die Situa- tion der Güterkraftverkehrsbranche ist schwierig, ja mehr noch: katastrophal. Es gibt gewaltige Umsatzein- brüche, und niemand kann voraussehen, wann es wieder aufwärtsgeht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, die von Ihnen in Ihrem Antrag aufgeführten Fakten sind bis auf wenige Dinge richtig. Der im Antrag genannte durchschnittliche Mautsatz zum 1. Januar 2009 war nach Angabe des BMVBS 13,5 Cent und nicht 12,5 Cent. Aber um diese Differenz geht es mir gar nicht. Und ich stimme Ihnen zu, dass die Mauterhöhung die schwierige Lage für die Branche, die durch die Finanz- und Wirt- schaftskrise entstanden ist, deutlich verschärft. Weil wir das in unserer Fraktion genauso sehen, haben wir ja schon in der vergangenen Woche erklärt, dass hier drin- gend Handlungsbedarf gegeben ist. Wir haben auch klar formuliert, wie wir dem Gewerbe helfen wollen. Bei allen Überlegungen müssen wir aber auch ehrlich mit den Mautsätzen umgehen. 2003 haben wir uns in der Koordinierungsrunde zur Mauteinführung – in der übri- gens alle Fraktionen anwesend waren – auf 15 Cent pro gefahrenen Kilometer geeinigt. Wir haben die 15 Cent pro Mautkilometer nur nicht von Anfang an eingeführt, sondern einen moderateren Mautsatz gewählt, bis die volle Harmonisierung von 600 Millionen pro Jahr für das Gewerbe durchgesetzt werden konnte. Dies ist seit Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24461 (A) (C) (B) (D) Anfang dieses Jahres der Fall. Darum sind diese 15 Cent fair, weil mit Ihnen die 2007 abgesenkte Kfz-Steuer, das Innovationsprogramm und die seit diesem Jahr abrufba- ren De-minimis-Beihilfen und die Förderung von Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen gegenfinanziert werden. Die abgesenkte Kfz-Steuer, das Innovationsprogramm, die De-minimis-Beihilfen und die Förderung von Aus- und Weiterbildung kommen nur den deutschen Logistik- unternehmen zugute. Die 15 Cent muss auch die auslän- dische Konkurrenz bezahlen. Darüber hinaus fordern wir den durchschnittlichen Mautsatz von 15 Cent nicht nur bis Ende 2009, sondern bis nach Beendigung der Wirtschaftskrise, aber mindes- tens bis Ende 2010. Außerdem fordern wir, dass die von mir erwähnten De-minimis-Beihilfen aufgestockt wer- den und deren Auszahlung beschleunigt und entbürokra- tisiert wird. Die De-minimis-Beihilfen erfordern keine Anzeige und keine Genehmigung der Europäischen Kommission, waren aber deshalb in einem Rahmen von drei Jahren auf 100 000 Euro pro Unternehmen begrenzt. Nun hat die EU-Kommission wegen der Wirtschafts- krise eine Aufstockung dieser Beihilfen auf 500 000 Euro binnen drei Jahren pro Unternehmen erlaubt. Wir wollen diesen Rahmen besser ausschöpfen. Die Beihil- fen sollten deshalb von 600 Euro pro mautpflichtigem Fahrzeug und Jahr auf 1 000 Euro erhöht werden. Für sehr wichtig halten wir auch eine Entbürokratisie- rung des Auszahlungsverfahrens. Momentan zieht sich die Auszahlung über Wochen hin. Eine Möglichkeit wäre die von Bundeswirtschaftsminister zu Guttenberg vorge- schlagene Variante, den Unternehmen sofort nach der Be- willigung Abschlagszahlungen zu gewähren. Denn das Wichtigste ist, dass die Unternehmen in dieser Krise li- quide bleiben. Dazu trägt das von der Bundesregierung aufgelegte Kredit- und Bürgschaftsprogramm mit einem Gesamtum- fang von 115 Milliarden Euro bei. Dieser „Wirtschafts- fonds Deutschland“ besteht aus einem Kreditteil und aus einem Bürgschaftsteil, von dem auch die Transportunter- nehmen profitieren. Und das Bundeswirtschaftsministe- rium legt richtigerweise größten Wert darauf, dass die vorgelegten Fälle zügig entschieden werden. Daran sollte sich das Bundesverkehrsministerium einmal ein Beispiel nehmen. Auch könnte das Bundesverkehrsministerium an sei- ner Informationsphilosophie arbeiten. Im Zuge der Ab- wrackprämie wurde von vielen laut nach einer Abwrack- prämie auch für Nutzfahrzeuge gerufen. Offensichtlich war diesen Kritikern nicht bewusst, dass es beim Erwerb von schadstoffarmen Fahrzeugen bereits Zuschüsse oder verbilligte Kredite gibt. Diese Zuschüsse und verbilligten Kredite gibt es ihm Rahmen des Innovationsprogramms, welches eine Säule der Harmonisierungsmaßnahmen für das Transportgewerbe ist, von dem ich vorhin schon sprach, und – jetzt wiederhole ich mich – für dessen Fi- nanzierung wir unter anderem den durchschnittlichen Mautsatz auf 15 Cent und nicht auf 12,5 Cent senken sollten. Bis zu 4 250 Euro gibt es pro Fahrzeug. Diejeni- gen, die nach einer Abwrackprämie für Nutzfahrzeuge riefen, wussten das offensichtlich nicht. Andere, die dies sehr wohl wissen, nutzen dieses An- gebot nicht, weil sie sich schlicht und einfach keine neuen Fahrzeuge leisten können. Die würden zwar weni- ger Schadstoffe ausstoßen; entsprechend würde die Maut sinken. Doch ihre alten Fahrzeuge können sie schwerlich in Zahlung geben. Deren Preise sind teilweise um die Hälfte gesunken. Ich spreche von den Euro-3-Fahrzeu- gen. Da die Mautsätze für diese Fahrzeuge mit bis zu 9,4 Cent pro Kilometer auf jetzt 22,4 Cent pro Kilometer besonders stark angestiegen sind, ist ein wirtschaftlicher Einsatz dieser relativ neuen Lkw – drei Jahre und älter – im Vergleich zu Euro-5-Lkw mit einer Maut von 15,4 Cent pro Kilometer kaum noch möglich. Auch kön- nen die Transportunternehmen diese Fahrzeuge nur mit großen Abschlägen verkaufen. Dies führt zu Sonderab- schreibungen und Bonitätsverschlechterungen bei den betroffenen Unternehmen. Geringe Veräußerungswerte und schlechtere Bonitäten erschweren die Anschaffung neuer Lkw zusätzlich. Dabei fiel nach zähem Ringen bei der Mauterhöhung zum 1. Januar 2009 die Erhöhung schon um 2 Cent je Mautkilometer geringer aus als ge- plant, wofür die anderen Klassen mit 1 Cent stärker be- lastet wurden. Minister Tiefensee hat sich erst am Dienstag in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung be- sorgt über die Lage im Gewerbe geäußert und eine Ab- senkung der Maut ausgeschlossen. Aber er muss einse- hen, dass hier dringender Handlungsbedarf geboten ist. Aus diesem Grund ist ja auch eine interministerielle Kommission gebildet worden, die nach Lösungen su- chen soll. Wir bitten den Herrn Minister, in der Kommis- sion alles dafür zu tun, dass dem Gewerbe Hilfe gewährt wird. Gerne wiederhole ich an dieser Stelle unsere Forde- rungen: Wir wollen den Mautsatz von aktuell 18,3 Cent auf durchschnittlich 15 Cent absenken, und zwar bis nach Beendigung der Wirtschaftskrise, aber bis mindestens Ende 2010. Damit bleibt nur der Teil der Mauterhöhung bestehen, der für die Finanzierung der zum Jahresanfang endlich durchgesetzten Harmonisierung von 600 Millio- nen Euro benötigt wird. Dies hatten wir schon 2003 ein- vernehmlich mit dem Gewerbe ausgehandelt. Dafür kommt das Transportgewerbe in den Genuss der 600 Mil- lionen Euro in Form der abgesenkten Kfz-Steuer, des In- novationsprogramms, der De-minimis-Beihilfen und der Förderung von Aus- und Weiterbildung. Dieses Geld kommt allein den inländischen Unternehmen zugute, während die ausländische Konkurrenz die durchschnitt- lich 15 Cent pro Kilometer bezahlen muss. Es entfällt da- durch der Teil der Mauterhöhung, der auf dem aktuellen Wegekostengutachten beruht. Wir wollen die De-minimis-Beihilfen von aktuell 600 Euro pro mautpflichtigem Fahrzeug und Jahr auf 1 000 Euro aufstocken. Damit schöpfen wir den durch die EU erhöhten Rahmen besser aus. 24462 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 (A) (C) (B) (D) Und wir wollen das Auszahlungsverfahren bei den De-minimis-Beihilfen beschleunigen und entbürokrati- sieren. Nachdem durch die Krise die Eigenkapitaldecke vie- ler Unternehmen sehr niedrig ist und diese nun auch durch die sehr geringen Wiederverkaufswerte weiter ge- schwächt wird, können gerade kleine und mittlere Unter- nehmen vorgesehene Investitionen nicht mehr tätigen. Die geringen Wiederverkaufswerte, die durch die Maut- spreizung verursacht worden sind, zusammen mit der Mauterhöhung insgesamt verschärfen die Situation im durch die Krise gebeutelten deutschen Transportgewerbe enorm. Und zur Ehrlichkeit gehört: Die Mauterhöhung wäre in dieser Form nicht beschlossen worden, wenn das wahre Gesicht der Krise letztes Jahr schon abzusehen gewesen wäre. Deshalb muss sich Minister Tiefensee unbedingt der Sorgen im Transportgewerbe annehmen, damit nicht noch mehr Schaden entsteht. Uwe Beckmeyer (SPD): Wir beraten heute einen Antrag der FDP, der die Bundesregierung auffordert, die Arbeitsplätze im Transportgewerbe zu sichern und dafür die zum 1. Januar 2009 in Kraft getretene Erhöhung der Maut bis Ende des Jahres 2009 auszusetzen. Das erste Anliegen des Antrags unterstützen wir als Sozialdemokraten vorbehaltlos. Es ist als Politik unsere Aufgabe, dem deutschen Transport- und Logistikge- werbe durch die Zeit der Wirtschaftskrise zu helfen und dabei Arbeitsplätze zu sichern. Daher habe ich bereits vor einem Monat die Vertreter der Branche zu einem Ge- spräch mit den Verkehrspolitikern meiner Fraktion ein- geladen und mit ihnen sowie dem Bundesverkehrsminis- terium vereinbart, dass in direkten Gesprächen – unter Einbindung weiterer Ressorts – besprochen wird, wie man helfen kann. Der erste Termin hat vor einer Woche stattgefunden. Ein nächstes Treffen ist für die kom- mende Woche vereinbart. Wir beobachten derzeit, dass die Wirtschaftskrise in einem rasanten Tempo alle wichtigen Branchen unserer Volkswirtschaft erreicht. Schlüsselsektoren wie die Au- tomobilindustrie, die chemische Industrie, der Maschi- nenbau beklagen einen immensen Einbruch der Auf- tragslage. In einem Land, das einen großen Teil seines Wohl- stands der Exportwirtschaft verdankt, ist klar, dass das Transport- und Logistikgewerbe ebenfalls direkt von den Produktionsausfällen betroffen ist. Wo weniger produ- ziert und exportiert wird, wird auch weniger transpor- tiert. Mir ist bewusst, dass sich die wirtschaftliche Situa- tion für das Logistikgewerbe durch die Wirtschaftskrise verschlechtert hat. Wir verzeichnen eine Zunahme der Insolvenzverfahren. Die Zahl der Betriebsaufgaben steigt. Ausbleibende Aufträge und damit verbundene Überhänge in der Laderaumkapazität ziehen Flottenstill- legungen im Straßengütergewerbe nach sich. Leasingra- ten für den Fuhrpark und Ausgaben für das Personal müssen jedoch weiterhin geleistet werden. In dieser Situation kommt dem Staat eine besondere Bedeutung zu. Wobei wir auch in den Zeiten der Krise nicht den Blick dafür verlieren dürfen, was der Staat leisten kann und was nicht. Als Politik sehen wir uns – verständlicherweise – derzeit einer riesigen Erwar- tungshaltung ausgesetzt. Trotzdem müssen wir auch sa- gen, was geht und was nicht. Meine Frage ist, ob die Antwort auf die Krise, die die Kolleginnen und Kollegen der FDP-Bundestagsfraktion mit ihrem vorgelegten Antrag vorschlagen, wirklich überzeugt. Auf den ersten Blick erscheint die Schlussfolgerung „Weniger Maut gleich weniger Ausgaben gleich weniger Belastung und damit mehr Einnahmen“ sehr einfach und einleuchtend. Ich will mich der Forderung prinzipiell nicht verweigern. Trotzdem müssen wir zwei Dinge be- achten: Ich bin mir nicht sicher, ob bei einer Absenkung der Maut die geringere Belastung wirklich beim Transport- und Logistikgewerbe ankommen würde. Oder ob nicht vielmehr die Auftraggeber die Chance nutzen und die Preise aufgrund der aktuell angespannten Lage noch weiter drücken würden. Dann hätten wir dem Gewerbe auf Kosten des Steuerzahlers einen Bärendienst erwie- sen. Hinzukommt, dass die mit der Veränderung der Maut zum 1. Januar 2009 prognostizierten Mehreinnahmen in die Finanzierung von wichtigen Verkehrsinfrastruktur- projekten fließt. Damit wird dem Transport- und Logis- tikgewerbe indirekt auch geholfen. Gute Infrastruktur heißt auch gute Rahmenbedingungen für das Gewerbe. Wer die Absenkung der Maut fordert, muss daher auch die Frage beantworten, wie die Mindereinnahmen kompensiert werden können. Aus meiner Sicht ist die Beantwortung der von mir genannten Fragen nicht so einfach. Ich vermute, das war auch der Grund, warum die Verkehrsminister der Länder auf ihrer letzten Tagung im April nicht die Forderung nach einem Aussetzen der Maut erhoben haben. Ich will an dieser Stelle auch noch einmal in Erinne- rung rufen, was das gemeinschaftliche Ziel der beiden Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD bei der Änderung der Mauthöheverordnung war: Wir wollten eine Verstetigung und deutliche Verstär- kung der erforderlichen Investitionen in die Verkehrsin- frastruktur erreichen. Dieses war nur möglich, wenn die Mautsätze an die tatsächlichen Wegekosten angepasst werden. Die bis dato geltenden Mautsätze basierten auf der Berechnung des Wegekostengutachtens aus dem Jahr 2002. Mehr Maut bedeutet mehr Investitionen. Durch die Neufestsetzung der Mauthöhe werden für das Jahr 2009 rund 1 Milliarde Euro zusätzlich an Mauteinnahmen er- wartet. Die Zahl wird sich in Anbetracht der wirtschaftli- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24463 (A) (C) (B) (D) chen Lage sicherlich noch ändern. Fest steht aber: Diese Gelder sollen zusätzlich in die Verkehrsinfrastruktur, vor allem in die Fernstraßen, investiert werden. Ich will an dieser Stelle auch darauf hinweisen, dass wir das deutsche Transportgewerbe im Rahmen der Mautharmonisierungsmaßnahmen entlasten. Mit einem Maßnahmenpaket aus Absenkung der Kfz-Steuer, dem Innovationsprogramm für die Anschaffung schadstoffar- mer Lkw, den De-minimis-Beihilfen und der Förderung von Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen gleichen wir Wettbewerbsnachteile der Spediteure gegenüber der aus- ländischen Konkurrenz in einer Größenordnung von über 600 Millionen Euro aus. Und: Im Zuge des Konjunkturprogramms haben wir die Mittel noch einmal um 50 Millionen Euro für die De- minimis-Beihilfen und die Förderung von Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen aufgestockt. Mit den Konjunkturpaketen I und II helfen wir gene- rell, dass Arbeitsplätze und Unternehmen – auch in der Logistikbranche – gesichert und gestützt werden und dass die Konjunktur wieder in Gang kommt. Beide Maß- nahmenpakete zusammen haben einen Umfang von über 80 Milliarden Euro. Wir müssen nun schauen, wie an verschiedenen Stel- len die vorhandenen Instrumente passgenauer gemacht werden können, damit sie auf die besondere Situation in der Transport- und Logistikbranche zugeschnitten sind. Dabei müssen wir zum Beispiel über eine Feinjustie- rung der Kurzarbeiterregelungen reden. Die Koalitions- fraktionen sind sich einig, dass das Kurzarbeitergeld auf 24 Monate ausgeweitet werden soll und ab dem 7. Mo- nat die Sozialversicherungsbeiträge vom Staat übernom- men werden. Das wird auch dem Transport- und Logis- tikgewerbe helfen, ihre Mitarbeiter zu halten. Das Problem ist jedoch, dass die Löhne im Transport- und Logistikgewerbe sich mehrheitlich aus einem Grundeinkommen und einer ergänzenden Überstunden- vergütung zusammensetzt. Das Kurzarbeitergeld bezieht sich jedoch nur auf den Nettolohn. Überstunden bleiben derzeit außen vor. Das Bundesarbeitsgericht verweist in einem Urteil darauf, dass bei Arbeitnehmern, in deren Branchen Überstundenvergütungen üblicherweise im großen Maße vorkommen, diese auch in die Berechnung des Kurzarbeitergeldes einbezogen werden sollte. Hier sollten die Arbeitsmarktexperten noch einmal prüfen, ob hier nicht eine gesetzliche Klarstellung erfolgen sollte. Außerdem müssen wir uns anschauen, wie wir die in der Sache richtigen Liquiditätshilfen der KfW-Bank aus den beiden bereits beschlossenen Konjunkturprogram- men in ihrer Wirksamkeit verbessern. Die Unternehmen der Transport- und Logistikbranche beklagen im ver- stärkten Maße, dass die Hausbanken trotz der Hilfspro- gramme der KfW sehr zögerlich mit der Vergabe von Krediten umgehen. Möglicherweise müssen wir in die- sem Zusammenhang über ein befristetes Aussetzen der Eigenkapitalvorschriften (Basel II) für Kreditinstitute nachdenken. Darüber hinaus sollten wir prüfen, auf welche Art und Weise wir den Kombinierten Verkehr in seiner Struktur in der Zeit der Krise erhalten. Durch sinkende Preise im Straßengüterverkehr wan- dern derzeit verstärkt Verkehre von der Schiene wieder zurück auf die Straße. Das ist nicht im Sinne der Stär- kung des Kombinierten Verkehrs. Entsprechend sollten wir nach Wegen suchen, wie wir den Güterverkehr auf der Schiene halten können. Ferner sollten wir einen Eigenkapitalfonds prüfen, der nach Vorbild der Landesförderbanken Unternehmen, die sich in einer Notlage befinden, mit Eigenkapital versor- gen könnte. Parallel dazu wollen wir schauen, ob wir die Instru- mentarien der Mautharmonisierung punktuell so verän- dern können, dass sie den Unternehmen in der aktuellen Phase des Abschwungs gezielt helfen. Ein erster Schritt darüber hinaus könnte mit der Ver- längerung der Antragsfrist für die Harmonisierungsmit- tel über den 15. Mai 2009 gemacht werden. Gleichzeitig sollten wir prüfen, ob die Begrenzung der De-minimis-Förderung auf 600 Euro pro Fahrzeug und 33 000 Euro im Jahr pro Unternehmen flexibler ge- staltet werden kann. In ähnlicher Weise sollten wir schauen, ob im Rah- men der Mautharmonisierung die Förderansätze in der Förderrichtlinie zur Aus- und Weiterbildung flexibili- siert werden können. Denkbar wäre auch, dass die per Berufskraftfahrer- und Qualifizierungsgesetz obligatorisch vorgesehenen Nachprüfungen gefördert werden könnten. Genauso sollten wir überprüfen, ob die Förderung im Rahmen des De-minimis-Programms und der Aus- und Fortbildung vorerst als Pauschale oder Abschlagszah- lung an die Unternehmen ausgereicht werden können. Außerdem sollten wir prüfen, ob den Unternehmen ein verbessertes Abschreibungsverfahren für die Euro-3- Fahrzeuge helfen könnte, in neue Euro-5-Fahrzeuge zu investieren. Mit den von mir geschilderten Maßnahmen können wir ein Paket aus Instrumentarien schnüren, das dem Transport- und Logistikgewerbe in den kommenden Mo- naten durch die Wirtschaftskrise helfen kann. Dabei ist es von großem Vorteil, dass wir bestehende Programme der Mautharmonisierung und Hilfen der bereits be- schlossenen Konjunkturprogramme nutzen. So verlieren wir nicht viel Zeit und können schnell auf die schwierige Lage reagieren. Ich glaube, wir sind uns im Ziel, dem Transport- und Logistikgewerbe zu helfen, alle einig. Lassen Sie uns die Diskussion über konkrete Hilfen jedoch nicht auf die Frage „Mauthöhe runter – ja oder nein“ verkürzen und gemeinsam schauen, wie wir helfen können. 24464 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 (A) (C) (B) (D) Jan Mücke (FDP): Die Wirtschaftskrise hat die Gü- terkraftverkehrsbranche mit aller Wucht getroffen. Bin- nen eines Quartals verschlechterte sich die Auftragslage um 25 bis 30 Prozent. Ein Ende der Talfahrt ist nicht ab- zusehen. Suchte das Gewerbe im vergangenen Herbst noch händeringend Kraftfahrer, haben mittlerweile 40 Prozent aller deutschen Transportunternehmen Kurz- arbeit eingeführt. 60 Prozent der Betriebe sahen sich so- gar bereits gezwungen, Mitarbeiter zu entlassen. In dieser Situation täte die Politik gut daran, die Bran- che bestmöglich zu entlasten. Die Koalition hingegen überzieht sie seit Jahresbeginn mit der größten Maut- erhöhung seit Beginn der Mautpflicht. Was das für die Unternehmen bedeutet, erschließt sich, wenn man weiß, dass allein 25 bis 40 Prozent der Gesamtkosten eines Speditionsunternehmens mit eigenem Fuhrpark und schwerpunktmäßig nationalem Geschäft auf Kraftstoff und Maut entfallen. In der Bundesrepublik wird mit 0,47 Euro pro Liter Diesel bereits der europaweit zweit- höchste Steuersatz für Kraftstoffe erhoben. Man kann sich vorstellen, welche Auswirkungen zusätzliche Belas- tungen durch eine um 47 Prozent erhöhte Maut auf die wirtschaftliche Lage der Unternehmen haben. In der der- zeitigen, angespannten wirtschaftlichen Lage kann diese häufig nicht einmal teilweise an die Auftraggeber wei- tergegeben werden. Zudem ergaben die jüngsten Erhebungen, dass sich der durchschnittliche Mautsatz nicht, wie von der Bun- desregierung noch im letzten Jahr stets angeführt, auf 16,3 Cent pro Kilometer, sondern auf 18,4 Cent pro Ki- lometer erhöht hat. Die Bundesregierung zieht sich zwar darauf zurück, dass sich dieser Wert nicht allein auf das Mautaufkommen im Jahr 2009 beziehe, sondern einen Durchschnittswert der Mautsätze der Jahre 2009 bis 2011 darstelle. Was nutzt den Spediteuren in der heuti- gen Situation ein Durchschnittswert, der die Prognosen für spätere Jahre mit einbezieht? Zumal sich aller Vo- raussicht nach auch diese Prognosen nicht einstellen werden. Sie gründen auf der Annahme, dass die Unter- nehmen ihre Flotten kontinuierlich erneuern werden. Dafür fehlt ihnen aber schlichtweg das Geld. Vielmehr kämpfen viele Spediteure zurzeit ums reine Überleben. Hinzu kommt, dass durch die enorme Mautspreizung Euro-III-Fahrzeuge einen Großteil ihres bisherigen Marktwertes verloren haben. Dieser fehlt den Unterneh- men zusätzlich als Finanzierungsanteil. Die aktuelle Zu- lassungsstatistik des Kraftfahrt-Bundesamtes bestätigt die Krisenlage: Die Zahl der Neuzulassungen für Sattel- zugmaschinen nahm gegenüber dem jeweiligen Vorjah- resmonat im Januar 2009 um 28,7 Prozent, im Februar 2009 sogar um 48,2 Prozent ab. Angesichts dieser Zah- len ist es nicht nachvollziehbar, wie die Bundesregierung ihre Ziele erreicht sehen will. Die FDP-Bundestagsfraktion schlägt daher vor, die Mauterhöhung des Jahres 2009 bis zum Ende dieses Jah- res auszusetzen. Die Unternehmen werden hierdurch schnell und effektiv entlastet. Für viele ist es die letzte Chance. Wachen wir nicht erst auf, wenn es bereits zu spät ist! Den Pressemeldungen der letzten Tage war zu entnehmen, das auch Vertreter der Unionsfraktion eine Mautentlastung anstreben. Ich hoffe auf Ihre Unterstüt- zung. Lutz Heilmann (DIE LINKE): Die Wirtschaftsleis- tung geht in diesem Jahr um voraussichtlich 6 Prozent zurück. Güterverkehrsunternehmen verzeichnen Rück- gänge um bis zu 40 Prozent. Frachtraten auf Schiene und Straße gehen vor allem wegen des Exporteinbruchs zu- rück. Spediteure machen Dumpingangebote. Dadurch kommt es teilweise zur Verlagerung von Verkehren von der Schiene auf die Straße. Damit einher gehen Kurz- arbeit und steigende Arbeitslosigkeit in allen Bereichen der Wirtschaft. Besonders betroffen ist das Transportge- werbe. Ich stimme den Kolleginnen und Kollegen von der FDP in ihrem Anliegen ausdrücklich zu, Arbeitsplätze sichern zu wollen. Ist allerdings der vorgeschlagene Weg der Richtige? Ist die geforderte Aussetzung der Erhö- hung der Lkw-Maut der richtige Weg? Ich denke Nein. Warum? Die Lkw-Maut ist ein sinnvolles Mittel. Mit Einführung der Lkw-Maut zum 1. Januar 2005 wurde die Benachteiligung des in (fast) allen Belangen wesent- lich umweltfreundlicheren Schienenverkehrs weitge- hend aufgehoben. Seit der Einführung ist es tatsächlich zu einer Reduzierung von unnötigen Leerfahrten gekom- men. Auch sollen künftig weitere Anreize geschaffen werden, Güterverkehr auf die Schiene zu verlagern. Ich stimme aber auch zu, dass Spediteure zurzeit große Probleme haben, die Lkw-Mauterhöhung weiter- zugeben. Zum Teil liegt das daran, dass die Weitergabe der Lkw-Maut einfach nicht vertraglich vereinbart wurde. Zum Teil zahlt die Wirtschaft aber ganz einfach nicht die höhere Maut für Lkws, die in einer schlechte- ren Emissionsklasse sind. Das ist insbesondere für kleine Spediteure ein Problem, die eben nicht neue und alte Fahrzeuge haben und jetzt einfach mal die alten mit schlechten Emissionswerten stehen lassen können. Eine spezielle Förderung kleiner Spediteure ist EU-beihilfe- rechtlich nicht unproblematisch, wäre aber nach meiner Auffassung der bessere Weg, als für alle Lkws die Maut- erhöhung auszusetzen. Eine Absenkung der Mauterhöhung wäre aber durch- aus möglich. Man wird jetzt fragen: Um wie viel? Dazu sage ich, einfach nur pauschal aussetzen ist der falsche Weg. Noch einmal zur Erklärung: Die Mauterhöhung er- folgt in zwei Stufen. Die erste kam zum 1. Januar 2009, und die zweite kommt zum 1. Januar 2011. Bei einem Dreiachser in der Schadstoffklasse III oder II mit Parti- kelminderungsstufe 1 bedeutet das eine Maut von 19 bzw. 21 Cent pro Kilometer. Es kommt damit zu der eigenartigen Entwicklung, dass 2009 und 2011 die Maut stark steigt, danach aber wieder fallen wird. Dabei sagt das Wegekostengutachten von 2007, dass ab 2012 die Maut steigen müsste, eben weil die Wegekosten steigen, im Durchschnitt 2012 auf 18 Cent. Nach der Verordnung ist es aber so, dass dieser Wert schon 2009 erreicht wird und danach wieder abfällt. Die Linke sagt: Wenn, dann sollte eine Neufestlegung der Lkw-Maut erfolgen. Dabei sollte in kleineren Schrit- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24465 (A) (C) (B) (D) ten vorgegangen werden. Also könnten die Mautsätze jetzt durchaus etwas geringer sein und, was sinnvoll wäre, man könnte ein paar Stufen mehr einfügen, um dann bis 2012 den Mautsatz steigen zu lassen. Dann hät- ten gerade die kleineren Spediteure etwas mehr Zeit. Es würde zwar etwas weniger Geld reinkommen, aber ich denke, es wäre vertretbar und würde gerade jetzt den Spediteuren helfen. Letztlich wollen wir die Menschen bei dem, was wir tun, mitnehmen und nicht gegen sie et- was durchdrücken. Auch der Einbau eines Partikelfilters aus dem De- minimis-Programm kann nun gefördert werden. Mit ei- nem solchen Dieselrußfilter rutschen die Lkws in die nächstniedrigere Mautklasse. Das spart dann Maut. Hier kann durchaus die Förderung von derzeit maximal 2 000 Euro erhöht werden, denn ein Filter kostet 4 500 Euro. Das würde gerade auch für kleine Speditio- nen eine Entlastung bringen. Wie viele Fahrzeuge über- haupt schon umgerüstet wurden, dazu gibt die Bundesre- gierung keine Auskünfte. Es wäre aber wichtig zu wissen, ob die Unterstützung überhaupt angenommen wird. Darüber hinaus brauchen wir ein wirkliches Antikri- senprogramm, das die Arbeitsplätze der Menschen er- hält: eine Anhebung des Hartz-IV-Regelsatzes, einen ge- setzlichen Mindestlohn, ein Investitionsprogramm für den sozialen und ökologischen Umbau der Gesellschaft. Damit erhöhen wir die Nachfrage im Land. Und damit ich nicht falsch verstanden werde, die Linke steht für re- gionale Wirtschaftskreisläufe, das schließt die Vermei- dung von unnötigem Güterfernverkehr ein. Fazit: Der Antrag der FDP macht zwar auf beste- hende Probleme aufmerksam. Die Aussetzung der Maut- erhöhung wird von uns aber als nicht richtig erachtet. Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der FDP-Antrag ist ein Showantrag, der nichts kostet, aber Wählerstimmen bei der Lkw-Lobby bringen soll. Denen sei ein Blick in das FDP-Wahlprogramm empfoh- len, das am Wochenende beschlossen werden soll. Kein Wort zur Senkung der Lkw-Maut, die hier gefordert wird. Und das ist auch logisch. Denn natürlich weiß auch die FDP, dass eine Senkung der Lkw-Maut eins zu eins auch zu einer Senkung der Verkehrsinvestitionen führen würde. Oder glaubt hier irgendjemand, dass angesichts von prognostizierten Steuerausfällen von 316 Milliarden Euro bis 2012 der Bundesfinanzminister dann ein- springt? Unterschlagen wird in der Diskussion um die Maut- erhöhung auch gerne, dass ein Großteil der Erhöhung di- rekt dem deutschen Speditionsgewerbe zugutekommt. Seit Wochen und Monaten stehen in den Fachzeitschrif- ten Tipps und Tricks, wie man an diese Hilfen kommen kann unter der Überschrift „So sichern Sie sich Ihr Geld vom Staat“. Würde man die Maut zurückdrehen, müsste man auch diese sogenannten De-minimis-Beihilfen zu- rückdrehen. Ich will ein Beispiel geben, was dann nicht mehr möglich wäre: So gewährt der Bund für die Nachrüstung eines Lkw mit Dieselrußpartikelfilter aus den De-mini- mis-Beihilfen 2 000 Euro Zuschuss. Mit dem Filter kom- men die Lkw dann in die nächstgünstigere Mautstufe. Ein umgerüsteter Euro-2-Lkw spart 8,4 Cent pro Kilo- meter, ein Euro-3-Lkw wird zu Euro-4, spart 2,1 Cent pro Kilometer und erhöht den Restwert beträchtlich. Das nutzt Spediteuren und Umwelt gleichermaßen. Das wäre aber nicht mehr möglich, wenn der FDP-Antrag umge- setzt würde. Außerdem wissen wir alle, dass die deutsche Lkw- Maut weit unter dem liegt, was nach dem letzten Wege- kostengutachten möglich wäre, und dass die externen Kosten des Lkw-Verkehrs immer noch nicht angelastet werden. In der Schweiz ist die Maut viermal so hoch wie in Deutschland, und trotzdem gibt es dort noch in nen- nenswerten Umfang Lkw-Verkehr. Aber was auf die Schiene verlagert werden kann, das wird in der Schweiz verlagert, und so sollten wir das hier auch machen. Statt über Hilfen für den Lkw zu reden, sollten wir da- her besser über Hilfen für den Schienengüterverkehr re- den. Gerade im kombinierten Verkehr drohen große Rückverlagerungen. Denn die gesamte Verbindung wird unwirtschaftlich, wenn das Ladungsaufkommen nur um 10 bis 20 Prozent einbricht. Genau das ist aber derzeit der Fall. Und obendrauf möchte die FDP mit der Union noch die Gigaliner zulassen, die nach einer aktuellen Studie des Fraunhofer-Instituts für System- und Innova- tionsforschung, ISI, zu einer massiven Rückverlagerung des Verkehrs von der Schiene auf die Straße führen und damit die Klimabilanz des Gütertransports massiv ver- schlechtern würden. Daher lehnt meine Fraktion diesen Antrag ab. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Eine starke Partnerschaft – Europa und Lateinamerika/Karibik (Tagesordnungs- punkt 26) Marina Schuster (FDP): Es freut mich, dass es die Beziehungen zu Lateinamerika und der Karibik nach langer Pause auf die Tagesordnung des Plenums ge- schafft haben. Bedauerlich ist nur, dass einer strategisch so bedeutenden Thematik kein prominenter Platz einge- räumt wird. Eigentlich sollte uns diese Vernachlässigung nicht wundern. Die Lateinamerika-Politik führt bei der Bun- desregierung nach wie vor nur ein trauriges Schatten- dasein; das kann auch ihr Antrag nicht verdecken. Jahre- lang sind Sie wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Region unser natürlicher Partner ist, um den man sich nicht weiter zu bemühen braucht. Selbstver- ständlich, wir teilen mit den Menschen in der Region viele kulturelle, religiöse Werte. Doch in einer globali- 24466 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 (A) (C) (B) (D) sierten Welt sind natürliche Partner zu einer Rarität ge- worden. Wir müssen uns viel aktiver einbringen, um die engen Beziehungen zu dieser Region nicht aufs Spiel zu setzen. Das Beispiel Afrika zeigt, wie direkt vor unserer Haustüre Länder wie China vehement nicht nur ihre wirtschaftlichen Interessen vertreten und die Europäer dabei zunehmend ins Hintertreffen geraten. Auch in La- teinamerika bahnen sich ganz neue Partnerschaften an. Venezuela sucht demonstrativ den Schulterschluss mit Iran, China, Nordkorea und Russland – von Chávez mit zynischem Blick auf die USA „Achse des Guten“ ge- tauft. Auch Brasilien ist bestrebt, ein System globaler Bündnispartner aufzubauen – mit Erfolg: so war die stra- tegische Partnerschaft mit Indien und Südafrika Aus- gangspunkt für die Gründung der G 20. Brasilien hat sich darüber hinaus im Rahmen der WTO zu einem füh- renden Player entwickelt. Und vergessen wir nicht: Die asiatische Nachfrage nach Energie und Lebensmitteln aus Südamerika steigt rasant. Europa darf nicht den Zug verpassen, auf den andere schon längst aufgesprungen sind. Dies muss auch im la- teinamerikanischen Interesse liegen. Denn für die EU bleiben Demokratie und Rechtsstaat ein zentrales Ele- ment der Kooperation. In dieser umfassenden Zusam- menarbeit grenzt sich die EU von anderen Akteuren ab. Bestes Beispiel sind die EU-Assoziierungsabkom- men, welche in einigen Ländern zur Verhandlung stehen. Neben der wirtschaftlichen Zusammenarbeit bieten diese auch und gerade eine Plattform für den politischen Dia- log. Selbstverständlich stellen wirtschaftliche Aspekte einen zentralen Bestandteil dieser Abkommen dar, dies aber im beiderseitigen Interesse. Denn entgegen der öf- fentlichen Wahrnehmung profitieren gerade auch die Schwellenländer von einer schrittweisen Einbindung in die Weltwirtschaft. Dies hat der indisch-amerikanische Ökonom Jagdish Bhagwati in seinem jüngsten Buch be- legt: Der Rückgang von Armut ist vor allem dort zu verzeichnen, wo die Prinzipien der sozialen Marktwirt- schaft und des Freihandels verantwortungsvoll umge- setzt werden. Die Gesprächspartner vor Ort sprechen ganz offen aus: Schickt uns den Wirtschaftsminister und – bei allem Respekt – eben nicht die Entwicklungsministerin! Wir können nicht wegschauen, wenn Länder wie Kuba und Venezuela immer noch der alten Mär eines So- zialismus unter Palmen nacheifern – auf Kosten einer langfristigen Entwicklung ihrer Länder. Mit Petrodollars hat sich etwa der venezolanische Präsident Chávez die Gunst der armen Bevölkerung erkauft und die vieler Nachbarländer. Korruption und Verstaatlichungen schre- cken ausländische Investoren ab. Durch die Abhängig- keiten von teuren Nahrungsmittelimporten drohen mit dem sinkenden Ölpreis Versorgungskrisen. Hier wün- sche ich mir von der Bundesregierung mehr Mut, bilate- ral Flagge zu zeigen: Die Beschränkung elementarer Bürgerrechte, die Untergrabung freier Märkte und die Aushöhlung staatlicher Institutionen dürfen keine Schule machen. Davon kann ich in Ihrem Antrag nichts finden. Ich will hier aber nicht verallgemeinern. Bei der Be- wertung des in den vergangenen Jahren zu beobachten- den Trends zu Linksregierungen gilt es klar zu differen- zieren. Mit Brasilien, Argentinien und Chile erleben wir Regierungen, die eher einen gemäßigten, sozialdemokra- tischen Kurs verfolgen, die mit dem Chávez-Projekt ei- nes sozialistisch vereinten Lateinamerikas glücklicher- weise wenig gemein haben. Vor diesem Hintergrund dürfen wir uns nichts vorma- chen: Die starke Betonung regionaler Kooperation, wie sie im Koalitionsantrag festgehalten ist, wird der aktuel- len politischen Situation in der Region nicht mehr ge- recht, auch wenn wir uns das nach wie vor wünschen. Vielmehr gilt es, sie durch subregionale und gegebenen- falls auch bilaterale Kooperationsformen zu stärken, nämlich dann, wenn aufgrund innerer Spannungen, wie bei der Andengemeinschaft oder dem Mercosur, eine Blockade eingetreten ist. In diesem Rahmen müssen wir endlich strategische Fragen angehen wie die Bekämp- fung der internationalen Kriminalität, des Drogenhan- dels und der Fortschritte bei der rechtsstaatlichen Ent- wicklung. Aber auch viele andere Themen schreien geradezu nach Kooperation. So hat die Diskussion um nachwach- sende Kraftstoffe Brasilien fast von einem auf den ande- ren Tag ins Rampenlicht internationaler Energiepolitik gerückt. Doch welche Rolle soll Lateinamerika künftig bei der Energiediversifizierung der EU spielen? Die Bundesregierung hat auch darauf noch keine Antwort gegeben. Bis heute ist eine klare Strategie und präzise Definition von Zielen und Interessen nicht erkennbar. Daran ändert auch der vorliegende Antrag der Koalition nichts. So treffend die Bestandsaufnahme auch sein mag, so wenig überzeugt er in Fragen der politischen Konse- quenzen. Denn bis heute ist die 1999 in Rio beschwo- rene strategische Partnerschaft leider nicht mit Leben ge- füllt worden. Gleichzeitig ist die Bundesregierung gefordert, auf eine Kohärenz innerhalb der EU hinzuwirken. Es darf nicht sein, dass einzelne EU-Mitgliedstaaten politische Sonderwege zu einzelnen Staaten definieren. Denn da- mit untergräbt man die Glaubwürdigkeit der Gemeinsa- men Außen- und Sicherheitspolitik. Deutschland und die EU schöpfen ihr Potenzial in Lateinamerika weder politisch noch wirtschaftlich aus. Dabei haben wir einige Trümpfe in der Hand: das ge- meinsame Wertefundament, die traditionell guten Bezie- hungen Deutschlands zu Lateinamerika. Vor allem die ausgestreckte Hand unserer Partner in Lateinamerika ist eine exzellente Basis für eine vertiefte Kooperation. Die Kooperation bietet große Chancen. Sie von der Bundes- regierung müssen aufpassen, dass in Lateinamerika am Ende Ihrer Amtszeit nicht nur verpasste Chancen stehen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24467 (A) (C) (B) (D) Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Beschlussempfehlung und Bericht: – Antrag: Klare Rahmenbedingungen für den dualen Rundfunk im multimedialen Zeital- ter – Antrag: Öffentlich-rechtlicher Rundfunk im Digitalzeitalter – Antrag: Besondere Rolle des öffentlich- rechtlichen Rundfunks nach EU-Kompro- miss sicherstellen Beschlussempfehlung und Bericht: – Antrag: Neuregelung der GEZ-Befrei- ungstatbestände – Neuverhandlung des Rundfunkgebührenstaatsvertrages Beschlussempfehlung und Bericht: – Unterrichtung: Medien- und Kommunika- tionsbericht der Bundesregierung 2008 – Entschließungsantrag: Medien- und Kom- munikationsbericht der Bundesregierung 2008 (Tagesordnungspunkt 25 a bis c) Reinhard Grindel (CDU/CSU): Wir haben bereits vor einigen Wochen über den Medien-und Kommunika- tionsbericht debattiert. Insofern will ich mich vor allem mit den hier vorgelegten Oppositionsanträgen befassen. Richtig bleibt: Der Medien- und Kommunikationsbe- richt ist eine umfassende Grundlage für die Beschäfti- gung mit der Medienpolitik und ihren aktuellen gesetzli- chen Rahmenbedingungen. Der Bericht beschäftigt sich mit einer Vielzahl wichtiger Themen, die über die Me- dienpolitik im engeren Sinne hinausreichen, vom Ju- gendschutz über das Urheberrecht bis zu Onlinesucht und Breitbandstrategie. Es ist richtig, dass wir mit unse- rem Staatsminister für Kultur und Medien den entschei- denden Mann der Medienpolitik auf Bundesebene mit Sitz im Kanzleramt haben. Dieses dokumentiert ein- drucksvoll, dass es sich bei der Medienpolitik um eine wichtige Querschnittsaufgabe handelt, und die bedeu- tende Rolle, die die Bundesregierung ihrem Beauftrag- ten für Kultur und Medien dabei einräumt. Zu Recht bezeichnet die Bundesregierung die Medien in ihrem Bericht gleichermaßen als Kultur- und Wirt- schaftsgut. Dabei betont sie die Bedeutung eines qualita- tiv hochwertigen und vielfältigen Medienangebots für unsere Demokratie. Darauf sind wir als Politiker beson- ders angewiesen. Wir brauchen Plattformen für den öf- fentlichen Diskurs. Das können nur Medien leisten. Von der Lokalzeitung bis hin zu den großen Fernsehanstalten sind sie es, die dazu beitragen, dass wir den Menschen unsere Politik erläutern und den Wettbewerb unter- schiedlicher politischer Meinungen möglichst breitflä- chig abbilden können. Gerade vor dem Hintergrund der Europawahlen wird das besonders deutlich. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die befürchtete schwache Wahlbeteiligung und die zu geringen Kenntnisse über die gewachsene Bedeutung des Europaparlaments auch damit zusammenhängen, dass in unseren Medien zu wenig über die Arbeit des Parlaments und seine Kompetenzen berichtet wird. Weil in den verschiedenen FDP-Anträgen so viel von einem angeblich unfairen Wettbewerb zwischen öffent- lich-rechtlichen und privaten Rundfunkanstalten die Rede ist, darf an dieser Stelle darauf hingewiesen wer- den, dass die beiden großen öffentlich-rechtlichen An- stalten, ARD und ZDF, immerhin große Europastudios in Brüssel unterhalten, während Private wie zum Bei- spiel Sat.1 ihre Studios geschlossen haben. Die Privaten haben ein Lobbybüro in Brüssel, das die wirtschaftlichen und verbandspolitischen Interessen der Sender vertritt. Ein Redaktionsbüro haben sie nicht. Für sie sind die Me- dien offenbar eher ein Wirtschafts- als ein Kulturgut. Deshalb unterstütze ich ausdrücklich das Bekenntnis zu starken öffentlich-rechtlichen Anstalten, das sich im Medien- und Kommunikationsbericht findet. Ich will mich nicht in die Gebührendebatte einmischen: Der Be- richt gibt dazu ebenfalls einige Hinweise, so, dass die Rundfunkfinanzierung Sache der Länder ist. Ich will aber darauf hinweisen, dass wir in einer globalisierten Welt den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als Kraft der Orientierung und Integration dringend benötigen. Dafür muss er finanziell angemessen ausgestattet werden. Der Bedarf wird durch die KEF transparent und fundiert fest- gestellt. Insofern halte ich es für die Grundvorausset- zung einer möglicherweise neu einzuführenden Medien- abgabe, die die Rundfunkgebühr ersetzen würde, dass dieses für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk aufkom- mensneutral ausgeht. Das muss umso mehr gelten, als die mediale Inflation in den letzten Jahren die normale Preissteigerung wegen der deutlich gestiegenen Preise für Sport- und Filmrechte bei weitem übertroffen hat. Im Gegensatz zur FDP stelle ich ausdrücklich fest, dass ne- ben dem Auftrag für Kultur, Bildung und Information natürlich auch die Unterhaltung und der Sport wichtige Elemente des Programmangebots eines gebührenfinan- zierten Rundfunks sind. Die Öffentlich-Rechtlichen müssen sich neben dem Wettbewerb um Qualität auch dem Quotenwettbewerb stellen, weil zu einem gebüh- renfinanzierten Programmangebot gehört, dass es mas- senwirksam ist. Die Begründung für die Gebührenfinan- zierung würde wegfallen, wenn im Schnitt nur noch 3 bis 5 Prozent der Zuschauer die öffentlich-rechtlichen Sender einschalten würden. Deshalb ist es unverzichtbar, dass sich die öffentlich- rechtlichen Anstalten auf allen Verbreitungswegen an ihre Zuschauer oder Zuhörer wenden können. ARD und ZDF müssen auch über den Verbreitungsweg Internet ihre Integrationsfunktion in der Gesellschaft erfüllen, zumal sich immer mehr jüngere Menschen ausschließ- lich über das Internet informieren. Es ist auch nicht ein- zusehen, weshalb die zum Teil teure Ware nach sieben Tagen für den Zuschauer nicht mehr zur Verfügung ste- hen soll. 24468 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 (A) (C) (B) (D) Geradezu rührend ist die Aufforderung der FDP, die Bundesregierung möge sich gegen eine Diskriminierung der ausländischen Investoren in der Medienwirtschaft einsetzen. Wenn man sich die Entwicklung bei ProSie- benSat.1 anschaut, sieht man: Das Gegenteil der Fall. Die Investorengruppe KKR/Permira in Verbindung mit dem ausländischen Sender SBS bekam den Zuschlag und nicht die Axel-Springer-Gruppe, weil in diesem Fall das inländische Unternehmen aufgrund der kartellrecht- lichen Lage ProSiebenSat.1 nicht übernehmen durfte. Es ist Diskriminierung, wenn KKR/Permira ProSiebenSat.1 und den Axel-Springer-Verlag gemeinsam hätte erwer- ben können, der Verlag aber nicht den Sender. Wenn man sich anschaut, wie dort die Informationsangebote ein Opfer der radikalen Sparmaßnahmen und herunter- gefahren werden, kann das einem Medienpolitiker in der Seele wehtun. Ich bin ganz sicher, dass der Axel-Springer- Verlag ein journalistisch deutlich anspruchsvolleres Konzept mit dem Sender verfolgt hätte. Insofern ist es zu bedauern, dass sich die Übernahme so vollzogen hat. Von Diskriminierung kann man hier also wahrlich nicht sprechen. Vielmehr zeigt dieser Vorgang die Schutzbe- dürftigkeit deutscher Sender und Verlage vor ausländi- schen Investoren, deren Interesse eben ausschließlich dem Wirtschaftsgut und nicht dem Kulturgut Medien gilt. Die FDP spricht sich in ihrem Antrag für einen werbe- und sponsoringfreien öffentlich-rechtlichen Rundfunk aus. Letzteres halte ich für richtig, sofern es sich nicht um Sportsendungen handelt, bei denen der Zu- schauer Sponsoring erwartet, nicht zuletzt wegen der Bandenwerbung in den Stadien und der Werbung auf den Trikots der Mannschaften. Aus Gründen der Glaub- würdigkeit sollte der öffentlich-rechtliche Rundfunk an- sonsten auf Sponsoring verzichten. Aber Werbefreiheit kann ich gerade mit Blick auf die werbende Wirtschaft nicht unterstützen. Die Wirtschaft hat ein großes Interesse daran, dass es eine gewisse Kon- kurrenz zwischen Öffentlich-Rechtlichen und Privaten gibt. Sonst hätte das wahrscheinlich einen erheblichen Anstieg der Tausenderkontaktpreise zur Folge. Es ist für die Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Systems nicht falsch, wenn man nicht ausschließlich auf Gebüh- reneinnahmen angewiesen ist. Wenn wir über die Breitbandstrategie reden und die Versorgung des ländlichen Raums mit schnellen Inter- netzugängen betrachten, ist der Hinweis auf frei wer- dende Frequenzen im Rahmen der digitalen Dividende richtig. Ich will bei dieser Gelegenheit allerdings hervor- heben, dass es eine große Zahl von Konzertveranstaltern und Medienschaffenden gibt, die hier eine Problematik sehen, weil die Kommunikation mit drahtlosen Mikrofo- nen offenbar über einen Frequenzbereich geht, der dann in Konkurrenz zu den Frequenzen für das Internet stehen würde. Das muss untersucht werden, übrigens auch des- halb, weil auch die drahtlose Kommunikation unter Fuß- ballschiedsrichtern gefährdet wäre. Da die Fußball- schiedsrichter schon mit drahtloser Kommunikation oft genug schlecht pfeifen, wäre es nicht auszuhalten, wenn auch die noch wegfällt. Im Medienbericht wird zu Recht die große Bedeutung einer vielfältigen Presselandschaft betont. Auch die Printinitiative von Minister Neumann geht in diese Rich- tung. Wir werden nur dann eine vielfältige Zeitungsland- schaft erhalten können, wenn wir auch viele Zeitungsle- ser haben. Wir sind dringend darauf angewiesen, dass insbesondere vor Ort bei den Regional- und Lokalzeitun- gen ein vielfältiges Angebot erhalten bleibt. Das muss durch ein vernünftiges Pressekonzentrationsrecht ge- währleistet sein. Dabei sollten wir auch dafür sorgen, dass die Parteien, was ihre Beteiligung an Medien, vor allem Zeitungen, angeht, ein Höchstmaß an Zurückhal- tung üben müssen. Es ist schon widersprüchlich, wenn sich gerade die SPD für Staatsferne in Rundfunk und Fernsehen ausspricht, aber über ihre Beteiligung an Zei- tungen sogar wirtschaftlich direkt an Sendern beteiligt ist. Abschließend ein Wort zur Deutschen Welle. Sie hat den großen Vorteil, dass wir da als Bund sogar zuständig sind. Mit Blick auf die neue Aufgabenplanung, über die wir in einigen Monaten zu befinden haben, will ich beto- nen, dass wir nach meinem Eindruck damit aufhören müssen, immer nur Prioritäten zu benennen, wo wir auf der Welt Schwerpunkte in unserer Präsenz setzen wol- len. Wir haben nicht den notwendigen Spielraum, um hier alle Wünsche zu erfüllen. Wir kommen nicht umhin, auch einmal zu sagen, wo wir unsere Aktivitäten zurück- fahren müssen, um in anderen Regionen der Welt unse- ren Auftritt zu stärken. Der Medien- und Kommunikationsbericht ist eine gute Grundlage, um die zahlreichen Handlungsempfeh- lungen in parlamentarische Initiativen zu gießen. Damit werden wir in der neuen Legislaturperiode unmittelbar beginnen. Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Mit dem von der Bundesregierung vorgelegten Medien- und Kommunika- tionsbericht 2008 liegt eine umfassende Dokumentation der erfolgreichen Bundesmedienpolitik der letzten Jahre vor. Die Bündelung der verschiedenen Berichtspflichten im Bereich der Medien- und Kommunikationspolitik trägt der Konvergenz der Medien und den tiefgreifenden Veränderungen der letzten Jahre auf diesem Sektor gut Rechnung. Gleichzeitig weist der Bericht in die Zukunft. Indem er Handlungsoptionen für die nächsten Jahre auf- zeigt, wird er quasi zum medienpolitischen Kursbuch künftigen Regierungshandelns. Aufgrund des breiten Themenspektrums möchte ich nur auf drei Initiativen ex- emplarisch kurz eingehen. Der schon 1597 vom britischen Philosophen Francis Bacon geprägte Ausspruch „Wissen ist Macht“ hat heute nicht im Geringsten an Bedeutung verloren. Wissen be- zieht man insbesondere auch durch Zeitungslektüre. Wer keine Zeitungen liest, sich nicht informiert und sich da- mit kein Wissen zugänglich macht, bringt sich um die Chance, die Zukunft des Gemeinwesens mitzugestalten. Aus diesem Grunde liegt mir die „Nationale Initiative Printmedien – Zeitungen und Zeitschriften in der Demo- kratie“ besonders am Herzen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24469 (A) (C) (B) (D) Tatsache ist leider, dass immer weniger Jugendliche Zeitung lesen. Zeitungen und Zeitschriften sind aber auch im digitalen Zeitalter – zumindest noch – die wich- tigsten Leitmedien. Genau dieses Bewusstsein, den Wert, den Zeitungen und Zeitschriften in der Gesellschaft als Kulturgut haben, gilt es vor allem jungen Menschen stär- ker zu vermitteln. Jugendliche müssen das Handwerks- zeug, Zeitungstexte sachgerecht nutzen zu können, quasi als Kulturtechnik wie das Lesen erlernen. Wem die Lese- kompetenz insbesondere bei Zeitungen fehlt, der wird in letzter Konsequenz von der Teilnahme am gesellschaftli- chen Leben ausgegrenzt sein. Dem gilt es entgegenzu- wirken. Zu den Partnern der Initiative, die auch bereits vorhan- dene Projekte in Schulen wie „Zeitung in der Schule“ oder „Zeitschriften in der Schule“ bündelt, gehören unter anderem der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger, der Verband Deutscher Lokalzeitungen, der Deutsche Journalisten-Verband und der Bundesverband Presse- Grosso. Dieses verdienstvolle private Engagement be- grüßt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausdrücklich. Die „Nationale Initiative Printmedien“ stellt eine Kom- munikations- und Aktionsplattform dar, die der Unter- stützung einzelner Förderprojekte dient. Ein Schülerwett- bewerb ist ein wichtiger Bestandteil. An diese Bemühung, junge Menschen für Zeitungs- lektüre zu begeistern, schließt das nächste Projekt, die Ergründung und Bekämpfung eines neuen Phänomens, quasi nahtlos an. Nach verschiedenen Studien finden sich in Deutschland 3 bis 7 Prozent „onlinesüchtige“ In- ternetnutzer oder solche, die stark suchtgefährdet sind. Der exzessive Gebrauch der elektronischen Medien von 10 bis 18 Stunden pro Tag ist in der Folge eine Verab- schiedung vom realen gesellschaftlichen Leben, verbun- den mit allen negativen sozialen und gesundheitlichen Konsequenzen. Mangels ausreichender wissenschaftli- cher Expertise ist Online- oder Neue-Medien-Sucht bis- her international noch nicht ausreichend erforscht. Vor diesem Hintergrund begrüßt die CDU/CSU-Bundestags- fraktion, dass das Bundesministerium für Gesundheit Anfang 2008 eine zweijährige Studie über „Beratungs- und Behandlungsangebote zum pathologischen Internet- gebrauch in Deutschland“ in Auftrag gegeben hat. Der Bundestagsausschuss für Kultur und Medien hat sich des Themas ebenfalls bereits angenommen und am 9. April 2008 eine öffentliche Anhörung durchgeführt. Auf der Basis verlässlicher wissenschaftlicher Analy- sen werden sich, so hoffe ich, gezielt Präventionsmaß- nahmen und Behandlungsmethoden entwickeln lassen. Als solche kommen beispielsweise Warnhinweise zum Suchtpotenzial, verpflichtende Spieldauereinblendungen oder auch die Begrenzung der Spieldauer durch techni- sche Vorkehrungen in Betracht. Wichtig ist insbesondere aber die gezielte Förderung und Unterstützung von Me- dienkompetenz sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene durch Zusammenarbeit von Eltern, Schulen und Medienpädagogik. Das dritte Projekt, das ich beispielhaft herausgreifen möchte, dient einer solchen Förderung. Das „Netz für Kinder“, www.fragFINN.de, ist eine Gemeinschaftsini- tiative von Bundesregierung und Wirtschaft. Dieses Pro- jekt trägt dazu bei, Kindern einen bewussten und ange- messenen Umgang mit dem Internet nahezubringen. Zum ersten Mal wurde in Europa ein gesicherter Surfraum für Kinder im Alter von acht bis zwölf Jahren geschaffen, ohne dabei potenziellen Gefahren oder den Nachteilen der anderweitig verfügbaren Filtersysteme ausgesetzt zu sein. „fragFINN“ verbindet auf sinnvolle Weise speziell für Kinder aufbereitete Inhalte, soge- nannte Kinderseiten, mit dem gesamten World Wide Web. Die Initiative hat in den ersten fünf Monaten be- reits eine „Weißliste“ mit mehreren Tausend Domains und über 30 Millionen Dokumenten aufgebaut. Täglich kommen weitere dazu, nachdem auf Vorschlag von Nut- zern die entsprechenden Seiten zuvor von besonders ge- schulten Medienpädagogen aufbereitet wurden. Diese Beispiele zeigen eindrucksvoll, dass diese Bun- desregierung medienpolitisch viel auf den Weg gebracht hat. Angesichts des insbesondere im Medienbereich be- sonders schnellen, tiefgreifenden und beständigen Wan- dels werden wir uns allerdings immer wieder auf neue Herausforderungen einstellen müssen. Die von der Bun- desregierung gestarteten Initiativen dazu sind vielver- sprechend. Wir werden diese auch weiterhin parlamenta- risch begleiten und weiterentwickeln. Mein besonderer Dank gilt an dieser Stelle Staatsminister Bernd Neumann, der sich um Kultur und Medien in unserem Land verdient macht. Monika Griefahn (SPD): Wir beraten heute ab- schließend den „Medien- und Kommunikationsbericht der Bundesregierung 2008“ und die Anträge der Fraktio- nen der FDP, des Bündnisses 90/Die Grünen und der Linken zur Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rund- funks. Mit der Vorlage des Medien- und Kommunikations- berichtes ist die Bundesregierung – wenn auch mit eini- ger Verspätung – ihren Berichtspflichten gegenüber dem Deutschen Bundestag zum Thema Medien, insbesondere zur fortschreitenden Digitalisierung im Medienbereich und zu Wegen der Überwindung der digitalen Spaltung der Gesellschaft nachgekommen. Dabei ist festzustellen, dass sich die Neukonzeptionierung des Berichts, mit dem verschiedene Berichtspflichten im Bereich der Me- dien- und Kommunikationspolitik gebündelt wurden, bewährt hat und der Konvergenz der Medien und den technischen Entwicklungen der letzten Jahre Rechnung trägt. Auch wenn es sicher Unterschiede bei der Bewertung im Detail gibt, so kann doch insgesamt festgestellt wer- den, dass der Medien- und Kommunikationsbericht eine umfassende Grundlage für die Beschäftigung mit der Medienpolitik, ihren aktuellen gesetzlichen und marktli- chen Rahmenbedingungen darstellt. Das breite Themen- spektrum – von Jugendschutz und Computerspielen über Medienkompetenz und Urheberrecht bis zu Onlinesucht und der Breitbandkabelstrategie – illustriert die Vielfalt und Komplexität des Politikfeldes Medienpolitik und 24470 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 (A) (C) (B) (D) macht zugleich die Bedeutung von Medienpolitik als Querschnittsaufgabe mit all ihren Facetten deutlich. Mit dem Medien- und Kommunikationsbericht wird zugleich eine Bilanz der Medienpolitik der vergangenen Jahre – der letzte Medienbericht datiert ja aus dem Jahr 1998 – gezogen, und gleichzeitig gibt der Bericht Hin- weise auf die Herausforderungen der Medien- und Kom- munikationspolitik in den kommenden Jahren. Aus der Fülle der mit dem Medien- und Kommunikationsbericht vorgelegten Informationen möchte ich für die SPD-Bun- destagsfraktion vor allem drei Themen aufgreifen: die Vielfaltssicherung, den Jugendmedienschutz und mögli- che Gefährdungen wie Medien- und Onlinesucht. Wie ein roter Faden zieht sich die Vielfaltssicherung auch in der digitalen Welt durch den Medien- und Kom- munikationsbericht. Notwendig ist auch in Zukunft die verfassungsrechtlich gebotene Vielfaltssicherung, die durch das Pressekartellrecht des Bundes und das Me- dienkonzentrationsrecht im Rundfunkstaatsvertrag der Länder sichergestellt wird. Dieses Grundmodell wirt- schafts- bzw. wettbewerbsrechtlicher Regelungen einer- seits und speziell auf die Meinungsvielfalt bezogener Bestimmungen andererseits hat sich nach gemeinsamer Auffassung von Bund und Ländern grundlegend be- währt. Reformbedarf bestehe jedoch insbesondere im Bereich des Medienkonzentrationsrechts der Länder, da dieses einseitig auf den Rundfunk fixiert sei und damit den komplexen Konvergenzentwicklungen nicht mehr gerecht werde. Bund und Länder prüfen derzeit die Möglichkeiten einer crossmedial orientierten Fortent- wicklung der geltenden Bestimmungen, die auch die zu- nehmende Internationalisierung der Medienbranche deutlich stärker als bisher wird berücksichtigen müssen. Neben der gebotenen Vielfaltssicherung wird auch der Frage der Sicherstellung von Qualität in den Medien entscheidende Bedeutung zukommen, verbunden mit der Frage, wie diese seitens des Bundes gefördert werden kann. Wichtig sind hierbei vernünftige Rahmenbedin- gungen für die Wirtschaft und ergänzende Fördermaß- nahmen. Auch das Urheberrecht – angepasst an die He- rausforderungen der digitalen Welt – spielt für eine angemessene Finanzierung eines anspruchsvollen und qualitativ hohen Medienangebots eine zentrale Rolle. Als problematisch wird in dem Bericht die Situation von Zeitungen und Zeitschriften beschrieben, die zum Teil erhebliche Reichweiten- und Auflagenrückgänge sowie Einbußen bei Anzeigenerlösen hinnehmen müssen. Hinzu kommt, dass die Nutzung von Zeitungen und Zeitschriften bei jungen Menschen weit überproportio- nal sinke. Hier sollte, neben dem Erhalt des Presse- Grosso, überprüft werden, ob weiterer Handlungsbedarf besteht. Medienkompetenz ist ein wichtiges Stichwort. Ein entscheidender, häufig unterschätzter Faktor für ein qua- litativ anspruchsvolles Medienangebot ist die Stärkung der Verantwortung von Medienanbietern und -nutzern. Ein wichtiger Baustein ist hier zunächst die von uns im Jahr 2003 initiierte Verbesserung des Jugendmedien- schutzes. Das Konzept der „regulierten Selbstregulie- rung“ wird als richtig bestätigt. Zudem wird die Bundes- regierung die konkreten Ansatzpunkte des aktuellen Evaluationsberichts des Hans-Bredow-Instituts zum Ju- gendmedienschutz aufgreifen. Medienkompetenz ist die Schlüsselqualifikation in der Informations- und Kommu- nikationsgesellschaft und fördert die Befähigung von Menschen, sich in unserer von Medien durchdrungenen Welt kompetent zu integrieren und zu orientieren. Dabei geht es nicht nur darum, die verschiedenen, sich immer schneller entwickelnden Medienanwendungen zu ken- nen und technisch zu beherrschen. Angesichts der Viel- zahl verfügbarer Quellen geht es vor allem auch um die Fähigkeit des kritischen Umgangs mit Informationen und Inhalten. Wichtig sind dabei auch der verantwor- tungsvolle Umgang mit persönlichen Daten sowie die Kompetenz, einzuschätzen, was sich durch die freiwil- lige Preisgabe persönlicher Daten ergeben kann. Eine besondere Herausforderung für den Jugendme- dienschutz sind gewalthaltige Computer- und Video- spiele sowie jugendgefährdende und illegale Inhalte im Internet. Mit der am 1. Juli 2008 in Kraft getretenen Än- derung des Jugendschutzgesetzes wurde ein Teil der Er- gebnisse der Evaluation zum Jugendmedienschutz be- reits umgesetzt. Ich habe gerade gestern zusammen mit dem Geschäftsführer der Unterhaltungssoftware Selbst- kontrolle, USK, neue Alterskennzeichen vorgestellt, die jetzt viel klarer gefasst sind als bisher. Ich bin der Mei- nung, dass solche untergesetzlichen Initiativen viel wirk- samer und nachhaltiger sind, als wenn wir das Gesetz öf- fentlichkeitswirksam immer weiter verschärfen, aber daraus gar keine Konsequenzen entstehen. Gesetzlich ist im Bereich des Jugendmedienschutzes alles vorhanden, was man braucht. Es muss von den Ländern nur umge- setzt und vollzogen werden. Was aus unserer Sicht darüber hinaus wirklich nötig ist, ist eine nachhaltige Verbesserung der Medienkompe- tenz, die unabdingbar ist, um eine digitale Spaltung der Gesellschaft in eine Infoelite einerseits sowie Technik- verweigerern und Modernisierungsverlierern anderer- seits zu vermeiden. Besonders zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang der von uns als SPD-Fraktion initiierte und inzwischen auf den Weg gebrachte „Deutsche Com- puterspielepreis“, der im März dieses Jahres zum ersten Mal vergeben wurde und der – nach dem Vorbild des Deutschen Filmpreises – Anreize für die Entwicklung hochwertiger und pädagogisch wertvoller Produkte schaffen und deren Verbreitung unterstützen soll. Die Nutzung elektronischer Medien kann auch mit problematischen gesundheitlichen und sozialen Konse- quenzen verbunden sein. Wenn, was in jüngster Zeit zu- nehmend beobachtet werden kann, die Mediennutzung so exzessiv betrieben wird, dass sie letztlich nicht mehr selbstbestimmt ist, sind die Auswirkungen und Begleit- erscheinungen den Symptomen anderer Suchterkrankun- gen vergleichbar. Das Ursache- und Wirkungsgefüge ist jedoch noch weitgehend unerforscht. Es spricht viel da- für, dass das Internet insoweit ein besonderes Gefähr- dungspotenzial hat, sodass auch von „Onlinesucht“, „neuer Mediensucht“ oder „pathologischem Internet- gebrauch“ gesprochen wird. Nach verschiedenen Stu- dien gelten in Deutschland 3 bis 7 Prozent der Internet- nutzer als „onlinesüchtig“ und ebenso viele als stark Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24471 (A) (C) (B) (D) suchtgefährdet. Im Blickpunkt steht dabei die aus- ufernde Teilnahme an Onlinespielen oder Chats ebenso wie der übermäßige Konsum sexueller Inhalte. „Online- süchtige“ verbringen im Extremfall nahezu ihre gesamte Zeit – 10 bis 18 Stunden pro Tag – mit derartigen Aktivi- täten. In der Folge vernachlässigen sie ihre Umwelt mehr und mehr und beeinträchtigen oder verlieren da- durch ihre übrigen sozialen Kontakte. Mangels ausrei- chender wissenschaftlicher Expertise ist „Online- oder Neue-Medien-Sucht“ aber bisher international noch nicht als eigenständiges Krankheitsbild anerkannt. Auch wenn es noch keine Statistiken zur Häufigkeit in der Bevölkerung gibt, ist der exzessive Internetge- brauch ein sehr ernst zu nehmendes Problem. Es bedarf zunächst vor allem einer vertieften Forschung zu Stö- rungsbildern und der Entwicklung entsprechender dia- gnostischer Instrumente. Erst auf der Basis verlässlicher wissenschaftlicher Grundlagen lassen sich gezielte Prä- ventionsmaßnahmen und Behandlungsmethoden entwi- ckeln. Präventionsmaßnahmen müssen von staatlichen Einrichtungen und der Wirtschaft gemeinsam in Angriff genommen werden. Wir wollen uns dafür einsetzen, zu prüfen, wie diese Forschungsdefizite schnellstmöglich abgebaut werden können und ob dieses Krankheitsbild von der WHO als Krankheit anerkannt werden sollte. Wir müssen dafür sorgen, dass den Betroffenen und ih- ren Angehörigen schnellstmöglich geholfen werden kann. Die Koalitionsfraktionen haben bei der abschließen- den Beratung des Medien- und Kommunikationsberich- tes im Ausschuss eine Entschließung eingebracht und angekündigt, die zahlreichen Handlungsempfehlungen aufzugreifen und hierzu zeitnah parlamentarische Ini- tiativen zu initiieren. Aus Sicht der SPD-Bundestags- fraktion sind dies insbesondere die Sicherstellung der verfassungsrechtlich gebotenen Vielfaltsicherung im Medienbereich und der Schutz der Kommunikations- grundrechte sowie die Förderung von Qualität und Ver- antwortung von Medienanbietern und Nutzern als Grundprinzipien der Medien- und Kommunikationspoli- tik. Die FDP-Fraktion spricht in ihrem Antrag zum Me- dien- und Kommunikationsbericht vor allem die Sicher- stellung der Kommunikations- und Mediengrundrechte an. Vielleicht können wir als Medienpolitiker eine ent- sprechende Initiative nach der Bundestagswahl ergrei- fen. Gestatten Sie mir abschließend, auf die ebenfalls auf der Tagesordnung stehenden Anträge der Opposition zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk einzugehen. Grund- sätzlich ist zunächst zu begrüßen, dass sich offensicht- lich alle Fraktionen im Grundsatz dahin gehend einig sind, dass es – gerade angesichts der im Medien- und Kommunikationsbericht beschriebenen Herausforderun- gen – ein öffentlich-rechtliches Medienangebot geben muss, wenn auch nicht über dessen Umfang und Reich- weite. So konstatiert zwar die Fraktion der FDP in ihrem Antrag, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland einen Pfeiler der modernen Informations- gesellschaft bildet und die mediale Grundversorgung der Bevölkerung mit einem qualitativ hochwertigen, infor- mierenden, bildenden, beratenden und unterhaltenden Programm absichert. Auf der anderen Seite fordert sie aber gleichzeitig – trotz der Einigung zwischen der Europäischen Kom- mission und der Bundesregierung – eine Präzisierung der Vereinbarung dahin gehend, die Aufgaben und Pflichten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks klar zu definieren. Die Bundesregierung soll nach Auffassung der FDP gegenüber den Ländern für eine Evaluierung der Aktivitäten – vor allem auch mit Blick auf die Online- aktivitäten – der öffentlich-rechtlichen Rundfunkveran- stalter eintreten und gegebenenfalls für eine Rückführung auf den verfassungsrechtlich vorgegebenen Rahmen sor- gen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich dagegen, wie die beiden anderen Oppositionsparteien in ihren Anträ- gen, immer für einen starken öffentlich-rechtlichen Rundfunk eingesetzt, dem es ermöglicht werden muss, die mit der Digitalisierung verbundenen Entwicklungs- potenziale auf allen Übertragungswegen, also auch im Onlinebereich, uneingeschränkt zu nutzen. Leider ist es uns als Koalition – auch nach langen und schwierigen Verhandlungen – nicht gelungen, einen ge- meinsamen Antrag zur Zukunftsfähigkeit des öffentlich- rechtlichen Rundfunks auf den Weg zu bringen, weil die Unionsfraktion eine abgestimmte Fassung des Antrages zurückgezogen hat. Vorausgegangen waren dem Rück- zug der Unionsfraktion Medienberichte, denen zufolge die Union mit diesem gemeinsamen Antrag einen Rich- tungswechsel in ihrer Medienpolitik vollzöge. Für die SPD-Bundestagsfraktion möchte ich nochmals mein Be- dauern zu diesem Rückzug von der gemeinsam erarbei- teten Position ausdrücken, weil es damit nach Jahrzehn- ten medienpolitischer Grabenkämpfe gelungen wäre, nach der wichtigen Entscheidung des Bundesverfas- sungsgerichtes einen medienpolitischen Grundkonsens über den Bestand und Erhalt sowie vor allem auch die Entwicklungsmöglichkeiten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu formulieren. Wir werden aber als Fraktion das Thema „Fortentwicklung der dualen Medienordnung in Deutschland“ auch weiterhin auf die Tagesordnung setzen und uns auch weiterhin für einen starken öffent- lich-rechtlichen Rundfunk auf allen Übertragungswegen als Garant von Vielfalt und Qualität starkmachen. Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Der Me- dien- und Kommunikationsbericht der Bundesregierung liefert einen recht umfassenden und detaillierten Ein- blick in die Medienordnung von Heute und stellt auch ei- nige Perspektiven und Handlungsnotwendigkeiten für die Medien- und Kommunikationspolitik der Zukunft heraus. Wenngleich der Bericht in einigen Bereichen die relevanten Probleme nicht genügend herausstellt – etwa beim in den Jahren der Großen Koalition aus der Ba- lance geratenen Verhältnis zwischen den Sicherheitsinte- ressen des Staates und der Privatsphäre der Bürger – und auch gelegentlich nicht die richtigen Schlussfolgerungen aus den durchaus zutreffenden Erkenntnissen zieht, hat der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Me- dien dem Bundestag insgesamt doch eine geeignete Dis- kussionsgrundlage vorgelegt. 24472 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 (A) (C) (B) (D) Über die vorliegenden Entschließungsanträge zum Medien- und Kommunikationsbericht und über einige Anträge, die sich mit der Zukunft des dualen Rundfunk- systems auseinandersetzen, wird heute gemeinsam de- battiert. Auch die FDP-Fraktion hat bereits vor langer Zeit einen entsprechenden Antrag in den Bundestag ein- gebracht, der klare Rahmenbedingungen für den öffent- lich-rechtlichen Rundfunk im multimedialen Zeitalter einfordert. Es ist richtig, dass wir diese Anträge gemein- sam mit dem Bericht der Bundesregierung behandeln, denn gerade in der Rundfunkpolitik offenbart dieser doch eine seiner größten offenen Flanken. Und es ist auch richtig, dass sich der Deutsche Bundestag – trotz der Zuständigkeit der Länder für Medien und Rund- funk – mit diesen Themen auseinandersetzt. Denn auch die Bundespolitik trägt große Verantwortung für den Er- halt eines qualitativ hochwertigen und pluralistischen Mediensystems, für fairen Wettbewerb und für die euro- parechtskonforme Ausgestaltung des öffentlich-rechtli- chen Rundfunksystems. Der Antrag der FDP ist bereits fast zwei Jahre alt, der 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag ist beschlossene Sache und befindet sich in der Ratifizierungsphase, und der 13. Rundfunkänderungsstaatsvertrag wird bereits zwischen den Staatskanzleien der Länder abgestimmt. Wie immer glänzen die Staatskanzleien nicht gerade mit besonders präziser Öffentlichkeitsarbeit, trotz der viel beschworenen notwendigen gesamtgesellschaftlichen Debatte über das duale Rundfunksystem. Gerade deswe- gen muss der Deutsche Bundestag hier aufmerksam blei- ben und vor allem auf die Einhaltung der europarechtli- chen Vorgaben achten. Nach wie vor bin ich übrigens der Meinung, dass der 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag nicht vollständig umsetzt, was die Bundesregierung mit der Europäischen Kommission im sogenannten Beihilfe- kompromiss im April 2007 ausgehandelt hat. Daher hat auch unser Antrag nichts von seiner Aktualität einge- büßt. Der Deutsche Bundestag muss sich endlich in die Debatte einschalten und die Medienordnung der Zukunft mitgestalten. Ein wesentlicher Punkt für einen fairen Wettbewerb im Mediensektor ist eine effektive, unabhängige und transparente Aufsicht für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Eine solche existiert bis heute nicht; das hat auch das Gezerre um den Chefredakteur des ZDF, über das wir bereits in der ersten Lesung ausgiebig gespro- chen haben, eindrucksvoll demonstriert. Wir müssen uns immer wieder vergegenwärtigen, dass die Aktivitäten von ARD, ZDF und Co., ausgestattet mit über 8 Milliar- den Euro Gebührengeldern pro Jahr, erhebliche Auswir- kungen auf den schnelllebigen Medienmarkt entfalten. Ein neues öffentlich-rechtliches Angebot kann dort sehr schnell das Ende eines privaten Angebots bedeuten, Ar- beitsplatz- und Vielfaltsverluste inklusive. Es führt kein Weg daran vorbei, dass dieser öffentlich-rechtliche Gigant wirksam kontrolliert wird. Im digitalen und kon- vergenten Zeitalter, gepaart mit rasantem technologi- schem Fortschritt, ist eine öffentlich-rechtliche Binnen- kontrolle durch auch noch so gutwillige ehrenamtliche Rundfunkräte bei weitem nicht mehr ausreichend. Was wir benötigen, ist eine moderne, professionelle, einheit- liche und externe Medienaufsicht für öffentlich-rechtli- chen sowie privaten Rundfunk, Medien und Telekom- munikation. Vorbild könnte hier die britische Ofcom sein. In diesem Zusammenhang möchte ich auch an dieser Stelle darauf hinweisen, dass eine effektive Kontrolle natürlich voraussetzt, dass auch belastbare Kritierien existieren, anhand derer die Kontrolle durchgeführt wer- den kann. Diese Anforderung hat der öffentlich-rechtli- che Rundfunkauftrag noch lange nicht erreicht. Daher muss er dringend präzisiert werden. Es muss klar sein, was der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit seinen Ge- bührenmilliarden leisten soll, und vor allem auch, was nicht. Ich denke, eine damit verbundene Stärkung der Programmschwerpunkte Information, Bildung und Kul- tur wäre an dieser Stelle ebenfalls angebracht. Lassen Sie mich den Kreis der dringlichsten Refor- men beim dualen Rundfunksystem schließen. Eine an das Bereithalten sogenannter Rundfunkempfangsgeräte – das können heute nicht nur Fernseher und Radios, son- dern auch PCs mit Modem, Telefone und demnächst wo- möglich auch Kühlschränke sein – anknüpfende Rund- funkgebührenpflicht passt in das digitale multimediale und mobile Zeitalter wie Wählscheiben zu Mobiltelefo- nen. Seit Jahren mühen sich Vertreter vor allem von CDU/CSU und SPD daran ab, wie sie die fällige Ablö- sung der Rundfunkgebühr noch länger hinauszögern können und wie sie danach ein möglichst kompliziertes und bürokratisches Nachfolgemodell finden können. Da- bei liegt die einfachste Lösung schon lange auf dem Tisch. Wir sollten mit Nachdruck darauf hinwirken, dass die Rundfunkgebühr durch eine allgemeine Medienab- gabe ersetzt wird. Diese würde von allen erwachsenen Bürgern mit steuerpflichtigen Einkommen getragen wer- den und müsste zum Erhalt des bisherigen Gebührenauf- kommens nur bei circa 11 Euro pro Monat liegen. Die aberwitzigen Doppelbelastungen – etwa für das Autora- dio, den PC am Arbeitsplatz und die beruflich bedingte Zweitwohnung – würden ein Ende haben, ebenso die un- fairen und unsystematischen Belastungen der Wirtschaft, die insbesondere den Mittelstand belasten. Betreiber von Hotels und Pensionen können Ihnen ein Lied davon sin- gen. Und der Clou bei der Medienabgabe: Auch die Ge- bühreneinzugszentrale – GEZ –, die man wohl nur noch als institutionalisiertes Imageproblem für ARD und ZDF ansehen kann, könnte abgeschafft, die Kosten von gut 200 Millionen Euro pro Jahr eingespart werden. Die Ge- bührenschnüffelei und die Jagd nach Schwarzsehern wä- ren ebenfalls vorbei. Die gäbe es nämlich nicht mehr. Wenn diese drei Reformbestandteile endlich angegan- gen werden, sind wir einen großen Schritt weitergekom- men auf dem Weg hin zu einem zukunftssicheren und modernen dualen Rundfunksystem. Wir dürfen nicht zu- lassen, dass der durchaus wichtige öffentlich-rechtliche Rundfunk aufgrund der medienpolitischen Zurückhal- tung in Deutschland dauerhaften Schaden nimmt. Auch das Mediensystem insgesamt muss, vor allem im Hin- blick auf die noch immer bemerkenswert hohe Qualität und Vielfalt der Angebote, gestärkt werden. Ich be- fürchte, dass etwa eine weitgehend unbegrenzte Expan- sion gebührenfinanzierter öffentlich-rechtlicher Ange- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24473 (A) (C) (B) (D) bote in den Bereich der elektronischen Presse zu dauerhaften Verwerfungen in diesem ohnehin stark unter Druck geratenen Markt und zur Verringerung von Pres- sevielfalt führt. Das muss verhindert werden. Die FDP greift in ihrem Entschließungsantrag zum Medien- und Kommunikationsbericht die dortigen Im- pulse auf, entwickelt sie weiter und macht konkrete Vor- schläge zur Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen für eine moderne Medien- und Kommunikationswelt im digitalen und konvergenten Zeitalter. Der FDP-Antrag zur Reform des dualen Rundfunksystems enthält die dringlichsten Reformbestandteile, die zur Stärkung und dauerhaften Sicherung des Systems unabdingbar sind. Für beide werbe ich um Ihre Unterstützung. Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE): Die Welt der Me- dien befindet sich in einem rasanten Wandlungsprozess. Die Bedingungen der digitalen Kommunikation und ih- rer Netzwerke sind allgegenwärtig. Das gilt für die Presse, die Buchverlage, die Film- und die Musikindus- trie schon jetzt. Deren Zukunft liegt jenseits von Dru- ckerpresse, CD und DVD. Das sagen uns jedenfalls die handelnden Akteure und Akteurinnen des Internetzeital- ters. Damit werden tiefgreifende Umbrüche in den Ge- schäftsmodellen und der Beschäftigungssituation dieser Branchen verbunden sein. Schon jetzt ist ein Kultur- kampf darüber entbrannt, wie das neue Zeitalter zu regu- lieren ist. Er verläuft zwischen Jung und Alt, zwischen Digital und Analog. Die schnelle technologische Ent- wicklung zeigt allerdings, dass wir das Neue nicht nach den Maßstäben des Alten steuern können. Auch der klassische Rundfunk und das Fernsehen werden zunehmend vom Sog der Digitalisierung und der damit einhergehenden Revolutionierung althergebrach- ter kultureller Grundlagen erfasst. Während die Sende- möglichkeiten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Internet mühselig erkämpft werden müssen, entwickeln private Internet- und Telekommunikationsunternehmen weltweit Programmangebote jenseits einer demokrati- schen Medienordnung. Sie mausern sich ohne kulturel- len Auftrag, ohne öffentliche Kontrolle und Transparenz zu Sendeanstalten von morgen. Öffentliche Berichter- stattung wird unter diesen Bedingungen zum Spielball rein finanzieller Interessen. Das lehnen wir Linke im In- teresse einer an Transparenz und Objektivität orientier- ten Berichterstattung ab. Wenn wir keine moderne Medienordnung schaffen, werden Radio und Fernsehen vom Internet verdrängt werden. Dann werden allein private Unternehmen wie Google und andere zum Rundfunk der Zukunft. Ohne moderne medienrechtliche Rahmenbedingungen wer- den die Bedingungen des Marktes und des Wettbewerbs zum bestimmenden Beweggrund digitaler Kommunika- tion. Einflussnahmen auf die öffentliche Meinung werden dann in naher Zukunft durch die Aufzeichnung des Nut- zungsverhaltens, durch individuell zugeschnittene Wer- bung, durch die Bündelung und Verwertung von Inhalten in vordefinierten Programmpaketen, durch elektronische Programmführer und durch einseitig dominierte Emp- fangsgeräte und Set-Top-Boxen erfolgen. Gegenüber einer vollständigen Kommerzialisierung von Kultur und Information kann der öffentlich-rechtli- che Rundfunk ein notwendiges Korrektiv sein. Auch im Digitalzeitalter bleibt sein Funktionsauftrag bestehen. Dazu müssen die Öffentlich-Rechtlichen die mit der Di- gitalisierung verbundenen neuen Entwicklungsmöglich- keiten frei und ohne Beschränkungen nutzen können. Das jetzige Verfahren – gefunden im Kompromiss zwi- schen der Europäischen Kommission und der Bundesre- gierung – ist für einen zukunftsfähigen öffentlich-recht- lichen Rundfunk ungeeignet. Es hat sich zu einem bürokratischen und kostenfressenden Monstrum entwi- ckelt. Der sogenannte Dreistufentest schafft keine Mi- nute neues Programm. Stattdessen verschlingt er unnö- tige Summen an Gebührengeldern – Gelder, die in die Entwicklung eines zukunftsfähigen Programmangebo- tes, in dem die Kreativen mehr und die Verwaltungen weniger zu sagen haben, aus Sicht der Linken besser an- gelegt wären. Das Fundament für einen öffentlich-rechtlichen Rund- funk im Digitalzeitalter ist seine konsequent werbefreie und nichtkommerzielle Ausrichtung. Nur so lässt sich seine Akzeptanz und seine Finanzierung durch Gebühren bei den Bürgerinnen und Bürgern langfristig sicherstellen und die zunehmende Konkurrenzsituation zu den privaten Rundfunkanbietern aufheben. Zugleich ist das die we- sentliche Vorrausetzung, um sich dem Druck des europäi- schen Wettbewerbsrechts und dem Primat der Kommis- sion zu entziehen. Ein Werbe- und Sponsoringverbot – mit Ausnahme des Sports – wäre dazu ein erster wich- tiger Schritt. Entgegen anderslautender Behauptungen sind Werbe- und Sponsoringfreiheit durchaus finanzier- bar, entweder über das Einspar- und Umschichtungspo- tenzial in den bestehenden Haushalten der öffentlich- rechtlichen Anstalten oder aber durch die Kompensation des Ausfalls von Gebührenbefreiungen durch die Träger sozialer Leistungen. Wir plädieren für Letzteres. Grietje Staffelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist Wirklichkeit geworden, was wir Grünen gerne ver- hindert hätten: ARD und ZDF müssen nicht nur neue Onlineangebote dem Dreistufentest unterziehen, sondern auch das komplette bestehende Onlineangebot der Öf- fentlich-Rechtlichen muss noch einmal auf den Prüf- stand. Damit werden die Öffentlich-Rechtlichen im In- ternet noch stärker lahmgelegt als durch die engen Restriktionen, die im 12. Rundfunkänderungsstaatsver- trag ohnehin schon festgelegt sind, wie zum Beispiel das Verbot presseähnlicher Angebote oder die Siebentage- frist. Wir Grünen haben uns immer für eine 1:1-Umset- zung des Brüsseler Kompromisses starkgemacht. Statt- dessen haben wir es nun mit einem bürokratischen Monstrum zu tun. Warum auch das bestehende Onlineangebot im Nach- hinein noch einmal „zugelassen“ werden muss, ist un- klar. Es ist unnötig. Viel Geld, Personal und Aufwand werden für die Durchführung des Dreistufentests von den Redaktionen abgezogen, was nicht nur die inhaltli- 24474 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 (A) (C) (B) (D) che Arbeit und die Qualität gefährdet, sondern letztend- lich ein noch unüberschaubares Mehr an Gebührengel- dern fordert. Nach Schätzungen der ARD wird die Bestandsprüfung der gemeinschaftlichen Telemedien mindestens 5 Millionen Euro kosten. Damit wird den Anstalten ein Berg Arbeit aufgeladen, der wohl nur mit zusätzlichen Beschäftigten abgetragen werden kann. Das Programm wird dadurch nicht besser, aber viel teurer. Hier freuen sich die Verleger der Onlinepresse und die Privaten; denn sie haben es dank des 12. Rundfunk- änderungsstaatsvertrags geschafft, ARD und ZDF online ordentlich auszubremsen. Und sie lassen nicht locker: Die Attacken bei der Nichtveröffentlichung des Kika- Gutachtens belegen dies. Dabei sind die neuen Regelun- gen noch nicht einmal in Kraft. Ich fordere alle an den Prüfverfahren direkt und indi- rekt Beteiligten dazu auf, den Populismus eine Weile beiseite und ARD und ZDF in Ruhe ihre Verfahren aus- arbeiten zu lassen. Nach einer ersten Evaluierung ist immer noch Zeit genug, Änderungen vorzunehmen. Aber ich fordere auch alle am öffentlich-rechtlichen Pro- gramm interessierten Verbände und Institutionen auf, von ihrer Möglichkeit Gebrauch zu machen, zu den Te- lemedienangeboten im Rahmen des Dreistufentests schriftlich Stellung zu nehmen und damit die Rundfunk- gremien bei ihrer neuen Aufgabe zu unterstützen. Wenn hier nämlich nur Stellungnahmen von Verlegern und dem Privatrundfunk eintreffen, entsteht eine extreme Schieflage bei der Beurteilung des Angebots. Wir haben uns immer dafür ausgesprochen, dass die Bestands- und Entwicklungsgarantie des öffentlich- rechtlichen Rundfunks gewährleistet sein muss. Der öf- fentlich-rechtliche Rundfunk muss das Internet als dritte Säule neben Radio und TV nutzen dürfen. Er erreicht sonst wesentliche Zielgruppen nicht, und der Gebühren- einzug wird immer ungerechtfertigter. Bündnis 90/Die Grünen sind der Meinung, dass Rundfunkgebühren richtig und notwendig sind, um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und sein Qualitätsange- bot zu erhalten und allen zugänglich zu machen. Die Ge- bührenerhebung pro Gerät macht aber in Zeiten der Kon- vergenz der Geräte und Inhalte keinen Sinn mehr. Vielmehr brauchen wir eine Medienabgabe pro Haushalt und Betrieb, unabhängig von den jeweiligen Geräten. Diese Reform kann kostenneutral und leicht durchge- führt werden, denn die GEZ würde auch weiterhin die Gebühren einziehen und verwalten. Sie müsste keine Kontrollbesuche mehr machen und nach verschiedenen Geräten „fahnden“; Verwaltungsaufwand und -kosten könnten reduziert werden. Die Mediengebühr pro Haus- halt ist unabhängig von technischen Entwicklungen und neuen Geräten und ist somit ein zukunftsfähiges Modell, das leidliche Diskussionen über die Gebühren für unter- schiedliche Gerätetypen unnötig macht. Dies sind keine leeren Worte im Wind. Wir haben ein solches Modell durchkalkuliert, und wir gehen sogar von einer etwas geringeren monatlichen Gebühr für die Haushalte aus. Wir wissen aber auch, dass es viele Menschen gibt, die sich die Gebühr auch heute schon nicht leisten kön- nen. Die GEZ muss den ihr zugedachten Beurteilungs- spielraum bei Härtefällen voll ausschöpfen. Es kann nicht sein, dass nur der befreit wird, der einen entspre- chenden Bescheid vorlegen kann, und Tausende damit durchs Raster fallen. Schließlich sollen die Regelungen zum Nutzen und nicht zulasten der Geringverdienenden wirken. Diese Befreiungsmöglichkeiten wollen wir auch bei einer Haushaltsmedienabgabe erhalten. Wir sind ge- spannt, ob sich die Ministerpräsidenten in diesem Jahr für unser Modell entscheiden. Noch einige Worte zum Medien- und Kommunikati- onsbericht, der heute ebenfalls beraten wird. Er bietet eine solide Grundlage und einen wunderbaren Überblick über das, was medienpolitisch geschieht, und auch darü- ber, was notwendig wäre. Allerdings entsprechen seine Inhalte nicht annähernd der tatsächlichen Politik unseres Beauftragten für Kultur und Medien, Bernd Neumann. Dessen „Medienpolitik“ drehte sich hauptsächlich um Filmförderung, Computerspielepreis und die Initiative Printmedien. Das ist sehr schade. Gerade weil die me- dienpolitischen Aktionsfelder so weit gestreut und ver- schiedenste Ressorts damit befasst sind, hätten wir uns mehr Engagement und eine zusammenführende Koordi- nation des gesamten Politikfeldes gewünscht. Zu medi- enpolitisch äußerst relevanten Fragen wie der Freiheit im Netz oder dem diskriminierungsfreien Zugang zu Ange- boten, zur Vorratsdatenspeicherung oder dem Breit- bandausbau äußert sich Herr Neumann einfach nicht. Die neuen Medien scheinen ihm bis auf Computerspiele seltsam fremd geblieben zu sein. Die wirklich wichtigen Themen überlässt er dem Familien-, Wirtschafts- oder Innenministerium. Im Bericht stellt die Bundesregierung die Freiheit der Medien in den schillerndsten Farben dar. Doch die Ten- denzen zur Überwachung der Bürgerinnen und Bürger im Internet sind erschreckend und stellen das genaue Ge- genteil dessen dar, was der Bericht propagiert. Der Be- griff der Medienfreiheit verkommt zur Floskel. Einige Beispiele. Seit dem 1. Januar 2009 gilt die Vorratsdatenspeicherung, das heißt, Telekommunika- tionsanbieter müssen verdachtslos für sechs Monate alle Verbindungsdaten der Deutschen speichern, also wer wann wem gemailt hat. Die Inhalte der Kommunikation wurden zum Glück noch ausgenommen. Hierzu haben wir kein Wort unseres Medienstaatsministers vernom- men. Darüber hinaus erleben die Bürger permanenten Missbrauch ihrer persönlichen Daten durch die Privat- wirtschaft, wie erst kürzlich bei Lidl, Telekom oder der Deutschen Bahn geschehen. Gerade Unternehmen müs- sen aber Datenschutz gewährleisten. Liebe CDU/CSU, bitte lassen Sie das von der Bundesregierung vorgeschla- gene Ende des Listenprivilegs im „Gesetz zur Regelung des Datenschutzaudits und zur Änderung datenschutz- rechtlicher Vorschriften“ so stehen und verwässern Sie es nicht durch entsprechende Anträge. Schenken Sie der Wirtschaftslobby hier kein Gehör! Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24475 (A) (C) (B) (D) Noch ein letztes Beispiel. Im Bericht steht: „Die Bun- desregierung sieht die Medienvielfalt nicht konkret ge- fährdet.“ An anderer Stelle wiederum steht: „Ein Groß- teil der Nutzer nimmt nur das wahr, was von Google auf den ersten beiden Seiten ausgeworfen wird.“ Das sind zwei widersprüchliche Aussagen. Meinungsmacht haben nicht mehr allein die Bild-Zeitung oder das RTL-Ange- bot. Meinungsmacht gibt es längst bei Suchmaschinen und durch die Konvergenz von Print, Radio, TV und In- ternet. Die bestehende, für den Rundfunk- und Pressebereich gut funktionierende Medienkonzentrationskontrolle muss also ans Internet angepasst werden. Die Ermittlung von Meinungsmacht über Zuschaueranteile ist veraltet. Wir brauchen eine moderne Konzentrationskontrolle, die Google und Co. und mediale Verstrickungen mit ein- schließt. Beteiligungsbegrenzungen für internationale Medienunternehmen sind keine Lösung. Wir hätten uns sehr gewünscht, hier vonseiten des BKM einmal Vor- schläge und Antworten zu hören. Wir Grüne sprechen uns in jedem Fall für klarere Transparenzregeln aus. Surfer, Zuschauer, Leser und Hörer müssen nachvollziehen können, mit welchen Teil- habern und Mitgesellschaftern sie es bei den von ihnen genutzten Medien zu tun haben. Nur dann können sie frei entscheiden, von wem sie Informationen beziehen wollen. Ich wage kaum zu hoffen, dass wir irgendwann ein- mal ein eigenes Ministerium haben werden, das sich den drängenden Fragen der Informationsgesellschaft an- nimmt und sich die Medienpolitik mit ihren vielfältigen Themenfeldern zur Brust nimmt. Ich hoffe aber sehr, dass wenigstens der Medien- und Kommunikationsbe- richt zu einer Art Agenda des nächsten Beauftragten für Kultur und Medien wird. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Krankenhausinfektionen vermeiden – Multiresistente Problemkeime wirksam be- kämpfen (Tagesordnungspunkt 31) Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU): „Das Umden- ken muss bei den Akteuren im ambulanten und stationä- ren Bereich stattfinden, und hier als wichtigster Punkt die Verbesserung der Händehygiene.“ Diesen einfachen, aber nach wie vor zutreffenden Leitsatz zur Vermeidung von nosokomialen Infektionen der Übertragung einer Er- krankung auf Patienten im zeitlichen Zusammenhang mit einem Krankenhausaufenthalt oder eines Aufenthalts in einer anderen medizinischen Einrichtung formulierte Herr Professor Markus Dettenkofer vom Institut für Um- weltmedizin und Krankenhaushygiene an der Uniklinik Freiburg bereits im Oktober des vergangenen Jahres. Diese einfache und zugleich zutreffende Erkenntnis wurde im Wesentlichen auch durch die Sachverständi- gen, so zum Beispiel Frau Professor Dr. Petra Gastmeier, während der öffentlichen Anhörung des Gesundheitsaus- schusses am 25. März 2009 bestätigt. In diesem Zusam- menhang möchte ich eine weitere, mir als Krankenhaus- arzt wichtige Erkenntnis aus der öffentlichen Anhörung des Gesundheitsausschusses, hier auch vor dem Plenum des Deutschen Bundestages besonders hervorheben. Denn sowohl einzelne Medien als auch die Fraktion Die Linke verunsichern die Bevölkerung mit Angaben über durch im Krankenhaus erworbene Infektionen zu Tode gekommene Patientinnen und Patienten, die den Ein- druck erzeugen, dass es höchst gefährlich sei, ein deut- sches Krankenhaus aufzusuchen. Das Nationale Refe- renzzentrum für Surveillance von nosokomialen Infektionen, NRZ, führt in seiner schriftlichen Stellung- nahme diesbezüglich aus: Erstens. „(…) Zahlen wie 50 000 Tote durch Kran- kenhausinfektionen seien wissenschaftlich nicht haltbar, weil Studien dazu methodisch sehr anspruchsvoll sind. Denn wenn ein Patient mit Infektion stirbt, ist es häufig sehr schwer abzugrenzen, ob er wirklich ,an‘ der Infek- tion oder lediglich zeitlich ,mit‘ der Infektion verstorben ist, das heißt in diesem Falle wäre der Patient wahr- scheinlich ohnehin an seinen Grundkrankheiten verstor- ben (…).“ Zweitens. „(…) Das Europäische Center for Disease Control and Prevention (ECDC) schätzt die Anzahl der Todesfälle, die als direkte Konsequenz der nosokomia- len Infektionen pro Jahr in Europa auftreten, auf 37 000. Unter der Annahme einer gleichmäßig hohen Sterblich- keit wegen nosokomialer Infektionen in Europa müsste man somit in Deutschland mit circa 7 500 Todesfällen wegen nosokomialer Infektion rechnen. Nimmt man ei- nen Anteil von 20 bis 30 Prozent vermeidbarer Fälle an, kann man davon ausgehen, dass pro Jahr circa 1 500 bis 4 500 Patienten in Deutschland an einer vermeidbaren nosokomialen Infektion versterben (…).“ Diese Aussagen werden auch durch Untersuchungen bestätigt, die während des 33. Interdisziplinären Fortbil- dungsforums der Bundesärztekammer vorgestellt wur- den. So veröffentlichte dort unter anderem Frau Dr. Christine Geffers vom Hygieneinstitut der Charité Berlin aktuelle Daten zu methicillinresistenten Staphylo- kokken, MRSA, in Deutschland. Nach den medizinisch- wissenschaftlichen Erkenntnissen von Frau Dr. Geffers lag in Deutschland der Anteil der MRSA an allen Sta- phylokokken, S. aureus, in Blutkulturen im Jahr 2007 bei 16 Prozent, nach über 20 Prozent in den Jahren da- vor. Eine ähnlich gute rückläufige Tendenz ist bei post- operativen Wundabstrichen festzustellen: Hier lag die Quote im Jahr 2007 bei 20,7 Prozent, im Jahr zuvor noch bei 21,9 Prozent. Und wenn die tatsächlichen Infektio- nen in Kliniken analysiert werden, zeigt sich sogar ein noch deutlicherer Rückgang. So lag die Inzidenzdichte für MRSA-Infektionen auf deutschen Intensivstationen in den Jahren 2006 und 2007 bei 0,3 Infektionen pro 1 000 Patiententage. 1997 waren es noch 50 Prozent mehr Fälle. Die Auseinandersetzung mit nosokomialen Infektio- nen muss vor allem in den Krankenhäusern bzw. in den medizinischen Abteilungen und auf den pflegerischen 24476 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 (A) (C) (B) (D) Stationen erfolgen. Nur hier können die richtigen Schlüsse in Bezug auf mögliche Konsequenzen bei den Infektionspräventionsmaßnahmen gezogen werden. Und dass dieser Ansatz der zielführendere ist, wird durch die von mir soeben vorgetragenen medizinisch-wissen- schaftlichen Erkenntnisse unterstrichen. Dass die deutschen Krankenhäuser sich ihrer diesbe- züglichen Verantwortung auch bewusst sind, wird da- durch deutlich, dass mittlerweile 1 116 Krankenschwes- tern bzw. Krankenpfleger mit der Zusatzqualifikation „Hygienefachkraft“ in den Häusern beschäftigt werden und dort eine vorbildliche Arbeit leisten. Wirklich bedauerlich ist, dass Sie hier wieder einmal nur einen Antrag eingebracht haben, der wenig zur Lö- sung von Herausforderungen im Gesundheitssystem bei- trägt, sondern Ängste und Sorgen bei den Menschen weckt. Denn wenn es Ihnen ernsthaft um die Bekämp- fung von Krankenhausinfektionen gegangen wäre, hät- ten Sie – spätestens nach der Öffentlichen Anhörung des Gesundheitsausschusses vom 25. März 2009 – Ihren An- trag „Krankenhausinfektionen vermeiden – Multiresis- tente Problemkeime wirksam bekämpfen“ auf Bundes- tagsdrucksache 16/11660 zurückziehen müssen. Und da Sie diesen Mut zur besseren Erkenntnis nicht besessen haben, wird die CDU/CSU-Bundestagsfraktion daher heute diesen Antrag hier ablehnen. Wir stimmen Ihren Forderungen, wie zum Beispiel nach einer „Eindämmung der Krankenhauskeime“ sowie einer „wirkungsvollen verbindlichen Regelungen zur er- folgreichen Eindämmung und Prävention“ nicht zu, da das Infektionsschutzgesetz, IfSG, sowie die Kranken- haushygieneverordnungen auf Landesebene bei konse- quenter Umsetzung sowohl Prävention als auch Be- kämpfung von Krankenhausinfektionen bereits heute schon fördern und ermöglichen. Wir stimmen Ihren For- derungen nach einer „personellen Aufstockung und Qua- lifizierung des Personals in Gesundheitsämtern“ nicht zu, da dies Aufgabe der Länder ist und der Bund hier keine Regelungskompetenz hat. Allerdings möchte ich in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass die Bundesregierung die Qualitätssicherung in der Hygiene im Rahmen des Krankenhaus-Infektions-Surveillance- Systems, KISS, fördert und bei der Antibiotikaresistenz- strategie eine enge fachliche Kooperation zwischen Krankenhäusern und Gesundheitsämtern bereits schon vorgesehen ist. Wir stimmen Ihren Forderungen nach ei- ner „Präventionsstrategie gegen nosokomiale Infektio- nen, die für Krankenhäuser betriebswirtschaftlich sinn- voll sein soll“ nicht zu, da sowohl KISS als auch die Antibiotikaresistenzstrategie Vorgaben enthalten, die be- reits kurzfristig zu einer finanziellen Entlastung der Krankenhäuser führen, wenn die Eindämmung der Kran- kenhausinfektionen durch Investition in entsprechende Hygienemaßnahmen konsequent umgesetzt werden. Und wir stimmen abschließend Ihren Forderungen nach einer Kopie „von geeigneten Maßnahmen erfolgreicher europäischer Nachbarländer“ nicht zu, da bereits schon bei der MRSA-Bekämpfung das Euregio-Netzwerk zur MRSA-Bekämpfung bei der Antibiotikaresistenzstrate- gie zugrunde gelegt wurde. Darüber hinaus wurden bei der Erstellung der Strategie die Antibiotikaresistenzstra- tegien in Dänemark, Holland und den USA evaluiert. Die Auffassung, die Bundesregierung tue zu wenig ge- gen Krankenhausinfektionen, ist weder gerechtfertigt noch zutreffend. Vielmehr ist die Bundesregierung im Rahmen ihrer Zuständigkeit tätig und initiiert Aktivitäten in ihrer Zuständigkeit durch Gesetzgebung – Regelungen des IfSG, Vorbereitung einer Meldepflichtverordnung für MRSA –, fachliche Empfehlungen – der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention, KRINKO –, Projekte und Impulse – Nationales Referenzzentrum für die Surveillance von nosokomiale Infektionen und KISS, „Aktion saubere Hände“, Deutsche Antibiotikaresistenz- strategie und darin zusammengefasste Aktivitäten. Weil Ihr Antrag eben nicht auf der Höhe der Zeit ist, ist dieser abzulehnen. Für die CDU/CSU-Bundestags- fraktion sind die Patientensicherheit und die Qualität der Versorgung von Patientinnen und Patienten hohe Güter. Ihr Antrag hilft in dieser Beziehung aber nicht weiter. Dr. Carola Reimann (SPD): Der Antrag der Links- fraktion fordert die Bundesregierung auf, Maßnahmen zur Eindämmung der Krankenhausinfektionen zu ergrei- fen. Wir lehnen diesen Antrag ab, weil er Forderungen beinhaltet, die von der Bundesregierung längst in An- griff genommen wurden, und weil er darüber hinaus auch noch Zuständigkeiten missachtet. Das gilt bei- spielsweise für die Forderung nach mehr Fachpersonal in den Gesundheitsämtern. Dafür sind die Bundesländer und nicht der Bund zuständig. Auch der Erlass von Krankenhaus-Hygiene-Verordnungen ist Aufgabe der Länder. Einige Länder, wie zum Beispiel Bremen, Sach- sen und Berlin, spielen hier eine Vorreiterrolle. Ich er- warte, dass andere Länder diesem Beispiel folgen. Krankenhausinfektionen stellen ein ernsthaftes Pro- blem dar. Die Bundesregierung ist sich dieser Problema- tik sehr bewusst, und aus diesem Grund ist sie in diesem Bereich schon seit geraumer Zeit aktiv. Maßnahmen zur Bekämpfung der Krankenhausinfektion hat die Bundes- regierung längst in Angriff genommen: Zuallererst ist hier das Infektionsschutzgesetz zu nennen, das zahlrei- che Bestimmungen enthält, damit die Gesundheitsämter Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung nosoko- mialer Infektionen treffen können. Zudem kann auch den Kolleginnen und Kollegen der Linken nicht entgangen sein, dass das Bundesministerium für Gesundheit bereits eine Verordnung zur Erweiterung der Meldepflicht von MRSA in enger Abstimmung mit den Ländern, Verbän- den und Experten erarbeitet hat. Der Gesundheitsaus- schuss des Bundesrates hat ja bereits einstimmig für die Verordnung gestimmt. Morgen wird sich dann das Ple- num des Bundesrates damit befassen. Es ist davon aus- zugehen, dass die Verordnung im August in Kraft treten kann. Der Handlungsbedarf ist also längst erkannt, und entsprechende Maßnahmen sind ergriffen worden. Dazu bedarf es nicht auch noch eines zusätzlichen Antrages. Eine effektive Strategie zum Kampf gegen Kranken- hausinfektionen muss einen Mix aus verschiedenen Maßnahmen beinhalten. Neben gesetzlichen Bestim- mungen spielen Kampagnen und Programme für eine Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24477 (A) (C) (B) (D) Verbesserung der Krankenhaushygiene eine wichtige Rolle. Ein Beispiel dafür ist die vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte „Aktion Saubere Hände“. Die sorgfältige Handdesinfektion ist die wichtigste Maß- nahme zur Vermeidung der Übertragung von Infektions- erregern. Bundesweit nehmen fast 500 Krankenhäuser an dieser Aktion teil. Ich freue mich über die gute Reso- nanz. Diese vergleichsweise einfachen, aber höchst wirksamen Programme zur Handdesinfektion sind ein wichtiger Baustein zur Eindämmung von Krankenhaus- infektionen. Neben den hier genannten Programmen und gesetzli- chen Bestimmungen existieren noch zahlreiche andere, wirkungsvolle Maßnahmen. Zu nennen ist hierbei das Krankenhaus-Infektions-Surveilance-System, KISS, das die Erfassung und Analyse von Daten über Krankenhaus- infektionen ermöglicht und an dem sich über 800 Kran- kenhäuser beteiligen. Einen wichtigen Beitrag zur Ver- besserung der Krankenhaushygiene und zur Verhütung nosokomialer Infektionen leistet auch die Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention, KRINKO. Sie stellt fachlich fundierte Empfehlungen auf dem Stand der Wissenschaft für Ärzte, Pfleger und Reinigungskräfte zur Verfügung. Die Bundesregierung hat also in ihrem Verantwor- tungsbereich die notwendigen Maßnahmen auf den Weg gebracht. Daher ist eine Aufforderung an die Bundesre- gierung, wie sie im vorliegenden Antrag formuliert ist, überflüssig. Aus diesem Grund lehnen wir den vorlie- genden Antrag ab. Dr. Konrad Schily (FDP): Jährlich kommt es Schät- zungen zufolge zu 20 000 bis 40 000 Todesfällen auf- grund von Krankenhausinfektionen. Dies ist auch aus unserer Sicht ein unhaltbarer Zustand. Hinzu kommt eine nur zu schätzende Zahl von Patienten, die sich bei einer medizinischen Behandlung im Krankenhaus infi- zieren. Diese Fakten beunruhigen uns sehr, da sie für den einzelnen Patienten zusätzliches und sogar vermeidbares Leiden bedeuten. Dazu kommen die enormen Zusatz- kosten, die sich aus den unnötigen und verlängerten Krankenhausaufenthalten ergeben. Das Anliegen der Fraktion der Linken, Krankenhaus- infektionen zu vermeiden, wird somit von der FDP-Bun- destagsfraktion ausdrücklich geteilt. Wir betrachten je- doch die im Antrag formulierten Forderungen und Maßnahmen als wenig zielführend. Als ein Indikator da- für kann die Behauptung der Linken betrachtet werden, dass die Bundesregierung eine Mitverantwortung trägt, die unhygienischen Zustände in den Krankenhäusern zu beenden. Diese Position können wir nicht unterstützen. Die Hygiene ist vielmehr eine ureigenste Aufgabe der Krankenhäuser selbst. In erster Linie müssen die Kran- kenhäuser die Verantwortung tragen. Darüber hinaus werden in diesem Antrag Maßnah- men vorgeschlagen, die bereits gesetzlich umgesetzt sind. Bei weiteren Maßnahmen muss man fragen, ob sie wirklich den behaupteten Nutzen bringen oder nicht bes- ser anders ausgestaltet werden sollten. Allein ein Ver- weis auf die Erfahrungen europäischer Länder lässt keine Ableitung auf unsere Situation in Deutschland zu. Das Blickfeld muss für eine breitere Diskussion geöffnet werden. Beispielweise ist der Antibiotikagebrauch in Deutschland eine Diskussion wert. Die Komplexität der Thematik lässt sich, aus unserer Sicht, nicht mit diesem Antrag nachhaltig und umfäng- lich bearbeiten. Deshalb enthält sich die Fraktion der FDP. Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Infektionen mit multiresistenten Keimen sind ein zuneh- mendes Problem in Krankenhäusern. Seit 1990 ist bei- spielsweise die Zahl der MRSA-Infektionen in Kliniken deutlich angestiegen, von 1,7 auf 32 Prozent. Die Linke schlägt eine umfassende Initiative des Bundes vor, um das Infektionsrisiko zu senken. Leichter gesagt als getan. Ich bezweifle, dass dieser Vorschlag wirklich trägt und zur Lösung des Problems in seiner ganzen Breite führen kann. Die Ursachen für die Infektion mit multiresistenten Keimen sind vielfältig. Und genauso vielfältig sind die Zuständigkeiten in dieser Frage. Ein Alleingang des Bundes ist hier schwer möglich. Eine spürbare Ände- rung der derzeitigen Situation können wir nur herbeifüh- ren, indem wir alle Verantwortungsträger einbeziehen. Wie bei allen biologisch aktiven, wandlungsfähigen Keimen werden wir derartige Infektionen nie umfassend und komplett verhindern können. Wir können aber einen Beitrag dazu leisten, dass Menschen vor bleibenden Ge- sundheitsschäden oder im schlimmsten Fall sogar vor dem Verlust ihres Lebens geschützt werden. Ein Aspekt, den die Linke zutreffend benannt hat: In deutschen Kliniken herrscht eine hohe Arbeitsbelastung. Es gibt zunehmende Dokumentationspflichten, und der damit verbundene Zeitmangel kann teilweise dazu füh- ren, dass Klinikbeschäftigte oder die Krankenhauslei- tung Maßnahmen zur Infektionsprävention nicht wirk- sam umsetzen. Die bessere personelle und materielle Ausstattung der Krankenhäuser, auch mit Hygienefach- kräften und -fachärzten, liegt allerdings in der Zustän- digkeit der Länder und der Krankenhausträger. Der Bund kann hier allenfalls Initiator einer konzertierten Aktion der Gesundheitsministerkonferenz sein, damit entsprechende personelle, materielle und organisatori- sche Ressourcen in Krankenhäusern mobilisiert werden. Ein weiterer Grund für die zunehmende Ausbreitung von resistenten Keimen ist ein sorgloser Umgang mit Antibiotika nicht nur bei der Behandlung von Menschen, sondern insbesondere auch in der Tiermast. Diesen As- pekt hat die Linke in ihrem Antrag leider völlig verges- sen. Die von der Bundesregierung im November 2008 verabschiedete Antibiotikaresistenzstrategie beschränkt sich leider auf die Beschaffung von Informationen und die Einrichtung einer interministeriellen Arbeitsgruppe. Wirklich effektive Strategien und Maßnahmen fehlen bislang. Viele Wege, über die resistente Keime übertragen werden, können – auch durch gesetzliche Regelungen oder Aktionen wie „Saubere Hände“ oder „HAND- 24478 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 (A) (C) (B) (D) KISS“ – nicht beseitigt werden, wenn die einzelnen Ak- teure nicht mitziehen. Die Einhaltung von bereits exis- tierenden Hygienevorschriften, beispielsweise des Robert-Koch-Instituts, oder das verantwortungsvolle Verschreiben von Antibiotika liegen in der Hand der Ärzte und des Pflegepersonals. Natürlich hat der Bund im Rahmen des Infektions- schutzgesetzes Möglichkeiten, auf die Ausbreitung be- stimmter Erreger Einfluss zu nehmen. Es bleibt aller- dings die Frage, ob Maßnahmen wie beispielsweise die vorgeschlagene Einführung einer Meldepflicht wirklich ausreichen. Wie sehr in dieser Frage die Zuständigkeiten zersplit- tert sind und Fortschritte vom Aktivwerden einzelner Akteure abhängen, zeigt auch eine andere Tatsache: Die Verbreitung von multiresistenten Keimen ist nicht nur von Bundesland zu Bundesland, sondern teilweise auch von Region zu Region und von Krankenhaus zu Kran- kenhaus unterschiedlich. Hier könnte zwar die Einfüh- rung einer Meldepflicht das Problembewusstsein schär- fen, gezielter auf die Einhaltung der Hygienevorschriften zu achten. Für eine wirkungsvolle Prävention aber brau- chen wir gezielte Maßnahmen auf allen Ebenen: von der Einführung von Screeningprogrammen über eine konse- quente Desinfektion bis hin zum vermehrten Einsatz von Hygienefachkräften und -fachärzten. Berlin, Bremen und Sachsen ebenso wie ein Modellprojekt im Raum Münster machen uns vor, wie es gehen könnte. Auch die Krankenkassen müssten im Zuge der Quali- tätsdiskussion ein Interesse daran haben, hier ihren Bei- trag zu leisten. Denn langfristig wird dadurch das Leid vieler Betroffenen verhindert, und so werden auch Kos- ten gesenkt. Dem vorliegenden Antrag der Linken ist zugutezuhal- ten, dass damit ein wichtiges Problem aufgegriffen wird. Der vermittelte Eindruck, dass es in der alleinigen Macht des Bundes stehe, die Infektionsgefahr durch entspre- chende Schutzmaßnahmen zu verringern, geht allerdings an der Realität vorbei. So wünschenswert dies in diesem Fall vielleicht wäre, weil es die Sache einfacher machen würde, so wenig stimmt es. Wir können daher dem An- trag der Linken nicht zustimmen. Rolf Schwanitz, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin für Gesundheit: Letzte Woche machte die WHO mit ihrem weltweiten Aktionstag „Safe Lives: Clean Your Hands“ auf die Bedeutung der Händehy- giene zur Eindämmung von Krankenhausinfektionen aufmerksam. Die Händehygiene ist eine einfache und kostengünstige, aber zugleich auch sehr wirkungsvolle Maßnahme, um Krankenhausinfektionen zu vermeiden. Das Bundesministerium für Gesundheit unterstützt die Aktion der WHO mit dem deutschen Projekt „Aktion Saubere Hände“, das bereits vor eineinhalb Jahren ange- laufen ist. Ein Viertel aller deutschen Krankenhäuser nehmen aktiv an der Aktion teil. Dies ist nur ein Bei- spiel, wie sich die Bundesregierung für die Verhinderung von Krankenhausinfektionen engagiert. Sie tut dies im Bereich der Rechtsetzung, wie jetzt ak- tuell die Meldepflichtverordnung für MRSA in Blut und Liquor zeigt, auf dem Gebiet der fachlichen Expertise, zum Beispiel durch die KRINKO-Empfehlungen, und durch gezielte wichtige Projekte wie die „Aktion Saubere Hände“. Unsere Aktivitäten haben wir in der Deutschen Antibiotikaresistenzstrategie in einem umfangreichen Maßnahmenkatalog zur Bekämpfung und Verhütung von antimikrobiellen Resistenzen und Krankenhausinfektio- nen gebündelt. Diese Strategie wird jetzt umgesetzt. Jeder der beteiligten Akteure muss in seinem Zuständig- keitsbereich tätig werden, Verantwortung und Engage- ment zeigen. Auch bei der Anhörung mit Expertinnen und Exper- ten wurde deutlich, dass die Bundesregierung bereits die notwendigen vielfältigen und zielgerichteten Aktivitäten unternommen hat, um bei dem Problem der Kranken- hausinfektionen voranzukommen. Der vorliegende An- trag bringt keine wesentlichen weiteren Aspekte ein. Ich möchte abschließend noch einmal klarstellen: Die Risiken für Patientinnen und Patienten, sich bei einem Krankenhausaufenthalt zu infizieren, müssen minimiert werden. Die Bundesregierung nimmt diese Problematik sehr ernst und hat mit den eingeleiteten Maßnahmen zur Eindämmung der Krankenhausinfektionen und Antibio- tikaresistenzen den richtigen Weg eingeschlagen. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung eines Sondervermögens „Vorsorge für Schlusszahlungen für inflationsindexierte Bundeswertpapiere“ (Schlusszahlungsfinanzie- rungsgesetz – SchlussFinG) (Tagesordnungs- punkt 34) Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Alleine den Titel dieses Gesetzentwurfs auszusprechen, erfordert höchste Konzentration. Worum es bei diesem Gesetzent- wurf aber eigentlich geht, möchte ich Ihnen hier zu- nächst verdeutlichen. Das Ziel ist, für den Bund bei der Fälligkeit von inflationsindexierten Wertpapieren hohe Einmalbelastungen vermeiden. Lassen sie mich zunächst erklären, was sich hinter dem Begriff „inflationsindexierte Wertpapiere“ verbirgt. Inflationsindexierte Wertpapiere zeichnen sich dadurch aus, dass sie im Gegensatz zu nominalverzinslichen Wertpapieren einerseits nur einen relativ niedrigen jähr- lichen Zinscoupon haben. Andererseits sind sie aber mit einem von der Entwicklung des Inflationsindexes abhän- gigen Rückzahlungsbetrag bei Fälligkeit des Wertpa- piers verknüpft, der sogenannten Schlusszahlung. Der Zins enthält zwei Komponenten. Zum einen ist er das Entgelt für den Konsumverzicht, den der Darlehensge- ber zugunsten des Darlehensnehmers leistet. Zum ande- ren enthält der Zins auch einen Ausgleich für den infla- tionsbedingten Wertverlust, den ein Darlehen zwischen der Gewährung und der Rückzahlung erleidet. Gerade Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24479 (A) (C) (B) (D) die letzte Komponente enthält einen hohen spekulativen Anteil. Niemand kann vorhersehen, wie sich die Preis- entwicklung während der Laufzeit eines Darlehens ge- staltet. Genau hier setzt die inflationsindexierte Anleihe an. Sie will dieses Risiko für den Gläubiger praktisch ausschließen, indem anhand der tatsächlichen Verhält- nisse eine „Nachkalkulation“ vorgenommen wird. Diese gestaltet sich passgenau und kann ohne jegliche Sicher- heitsmarge erfolgen. Wenn man dagegen diesen Teil des Entgeltes am Beginn einer Laufzeit festlegt, so muss man einen Sicherheitszuschlag machen, weil niemand die Entwicklung genau vorhersehen kann. Um diesen einzusparen, kann man mit inflationsindexierten Anlei- hen arbeiten. Bei Inflation erhöht sich der Zinsbetrag in jedem Jahr, und im Fälligkeitsjahr der Papiere kommt die Schluss- zahlung, die eine Ausgleichszahlung für die Inflation über die gesamte Laufzeit enthält, auf den Bund zu. Durch diese Konstruktion der Papiere entstehen Pro- bleme für den Bundeshaushalt, weil sich zeitlich andere Belastungen als bei nominalverzinslichen Papieren erge- ben. Zwar sind die jährlichen Zinszahlungen bei infla- tionsindexierten Wertpapieren geringer, im Gegenzug ist aber die von der Inflation abhängige Schlusszahlung zu leisten, die es bei nominalverzinslichen Papieren nicht gibt. Daraus resultiert im Falle einer steigenden Infla- tionsrate eine hohe Einmalbelastung für den Bundes- haushalt im Fälligkeitsjahr, für die Vorsorge getroffen werden muss, die es bisher nicht gibt. Die Haushaltspla- nung berücksichtigt bisher nämlich nur die Couponzah- lungen, nicht aber die Schlusszahlungen, da die erstma- lige Fälligkeit einer fünfjährigen Bundesobligation im Jahr 2013 ansteht und damit nicht im aktuellen Finanz- planungszeitraum liegt. Die Höhe der im Haushalt aus- gewiesenen Kredittilgung des Bundes ist daher zu nied- rig angesetzt. Durch dieses Gesetz soll die Möglichkeit geschaffen werden, diesen Sprung zu vermeiden. Ich kann mir an dieser Stelle den Hinweis nicht ver- kneifen, dass ein modernes Haushaltsrecht den umständ- lichen Weg, der heute als Gesetz beschlossen werden soll, vermeiden würde. Hätte man ein doppisches Haus- haltsrecht, so hätten bereits in den Jahren, in denen die Anleihen laufen, Rückstellungen für die Schlusszahlung gebildet werden müssen. Es ist ganz klar, dass für jedes Jahr der Laufzeit am Ende feststeht, ob eine Schlusszah- lung fällig wird oder nicht. Durch die entsprechende Rückstellung würde automatisch zweierlei erreicht: Zum einen müsste die Rückstellung in dem Jahr gebildet wer- den, in dem die Inflationsrate eine Schlusszahlung erfor- derlich macht, und damit würde automatisch die Anlas- tung im richtigen Haushaltsjahr, dem Verursachungsjahr, sichergestellt. Zum anderen hätte man die fiskalische Wirkung, dass im Jahr der Fälligkeit die entsprechenden Kassenmittel zur Verfügung stehen, ohne dass sie dann den laufenden Etat außerordentlich belasten. Leider ha- ben wir ein solches fortschrittliches Haushaltsrecht nicht und werden es nach der jetzigen Beschlusslage mit der erweiterten Kameralistik auch nicht bekommen. Deshalb sind Hilfskonstruktionen erforderlich. Das heute zu be- schließende Gesetz soll eine solche Hilfskonstruktion schaffen. Wie geschieht dies? Es wird ein Sondervermögen er- richtet, um eine Vorsorge für die Schlusszahlungen die- ser Wertpapiere zu treffen. Durch die regelmäßigen Zah- lungen von Geldern im Jahr der Verursachung an das Sondervermögen wird dem Haushalt Geld entnommen und im Sondervermögen geparkt und so sichergestellt, dass bei Fälligkeit eines inflationsindexierten Wertpa- piers die Schlusszahlung komplett aus dem Sonderver- mögen geleistet werden kann und der Bundeshaushalt im Fälligkeitsjahr nicht mit der Schlusszahlung belastet wird. Dies entspricht einer vorausschauenden und nach- haltigen Finanzpolitik; denn durch das Sondervermögen können die Schlusszahlungen von der übrigen Finanz- entwicklung im Bundeshaushalt im jeweiligen Fällig- keitsjahr entkoppelt sowie die Kosten periodengerecht zugeordnet und dadurch transparent gemacht werden. Dies ist unter den gegebenen Umständen ein vernünfti- ger Weg, und deshalb wird die Union dem Gesetzent- wurf auch zustimmen. Das unschöne Ergebnis dieser „Krücke“ ist die Schaf- fung einer Sonderrechnung außerhalb des Haushaltes. Dies wollen wir aus Gründen der Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit eigentlich gerade vermeiden. Es ent- stehen auf diesem Wege Töpfe und Nebenhaushalte; man kann sie auch als Schattenhaushalte bezeichnen, die niemand überblickt und die dem verfassungsrechtlich bestehenden Transparenzgebot zuwiderlaufen. Deshalb handelt es sich wirklich nur um eine „Krücke“ und nicht um eine vernünftige Lösung. Wenn es nach mir ginge, gäbe es noch einen anderen Weg, mit dem die Verabschiedung von Gesetzen wie dem vorliegenden nicht mehr erforderlich wäre. Ich for- dere nach wie vor – ich werde nicht müde, dies immer wieder zu unterstreichen, und die auf dem Tisch liegende Fehlentwicklung gibt mehr als Anlass dazu – die Einfüh- rung eines modernen, allen Anforderungen genügenden Haushaltsrechts in Form der öffentlichen Doppik. An- stelle einer Hilfskonstruktion wäre es auch heute besser, Nägel mit Köpfen zu machen und das richtige System zu schaffen. Leider habe ich dafür keine Mehrheit gefun- den. Ein unschöner Nebeneffekt der bisherigen Regelung ist, dass während der Laufzeit des Darlehens der Haus- halt eine höhere Konsumkraft ausweist, als eigentlich gegeben ist. Ohne die Belastung im laufenden Haushalt zum Aufbau einer entsprechenden Rückstellung in Form eines Sondervermögens werden die dafür notwendigen Zahlungen aufgeschoben, aber nicht aufgehoben. In den Jahren, in denen sie aufgeschoben sind, scheint der Um- fang der Pflichtzahlungen des Staates zu niedrig und führt dementsprechend auch nicht zu einer Lenkung der Mittel in die richtigen Kanäle. Im Gegenteil: Es entsteht der Eindruck einer höheren Konsumkraft, die aus politi- schen Gründen regelmäßig auch genutzt wird. Der Staat gibt also Geld aus, das er eigentlich gar nicht mehr hat. Genau das müssen wir vermeiden. Da die Vernunft nicht ausreicht, müssen wir Zwangsmechanismen schaffen. Dieses Thema gibt mir Veranlassung, einen Appell an alle Kräfte dieses Hauses zu richten, endlich dem Grund- satz, auch der Staat kann nur das ausgeben, was er hat, 24480 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 (A) (C) (B) (D) Genüge zu tun. In der Beratung findet sich zur Sicher- stellung dieser Volksweisheit die sogenannte Schulden- bremse. Nun höre und lese ich insbesondere in der Han- noverschen Allgemeinen Zeitung, dass Teile dieses Hauses und damit leider auch Teile der Koalition von der Schuldenbremse Abstand nehmen wollen. Das ist eine Versündigung an der Generation unserer Kinder und un- serer Enkel. Wir konsumieren heute, und diese müssen morgen dafür zahlen, ohne dass sie die Möglichkeit hat- ten, unser Verhalten zu beeinflussen, oder wir ihnen ent- sprechend höhere Werte überlassen hätten. Gerade in der Krise wird deutlich: Spare in der Zeit, dann hast du in der Not. – Wenn wir diesem in der Vergangenheit Rech- nung getragen hätten oder wenn wir wenigstens nicht mehr ausgegeben hätten, als wir eigentlich erwirtschaftet haben, dann wäre der Zinsblock im Bundeshaushalt deutlich geringer. Statt der 43 Milliarden Euro würde er vielleicht 15 bis 20 Milliarden Euro umfassen, die wir für den Wiederaufbau in den neuen Bundesländern oder für die Beseitigung der Schäden durch die kommunis- tische Diktatur im östlichen Teil unseres Vaterlandes aufwenden müssten. Was könnten wir dann nicht alles Gutes zur Förderung der Wirtschaft und damit zur Be- kämpfung der augenblicklichen Notlage erreichen! Ich empfehle Ihnen heute die Zustimmung, obwohl ich mir persönlich etwas Weitergehenderes wünsche. Aber für Erkenntnisse ist es ja nie zu spät; vielleicht ist auch diese Regelungsnotwendigkeit eine Treppenstufe auf dem Wege zur Erkenntnis, dass wir eines Tages doch noch das wirklich Richtige tun. Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD): Die Er- richtung eines Sondervermögens „Vorsorge für Schluss- zahlungen für inflationsindexierte Bundeswertpapiere“ hat das Ziel, den Aufbau dieses Marktsegments fortzu- setzen, um damit über ein breites Spektrum an Instru- menten für eine möglichst günstige Kreditaufnahme zu verfügen. Die haushaltspolitischen Folgen der interna- tionalen Finanz- und Wirtschaftskrise erfordern weitaus höhere Kreditaufnahmen und daher beabsichtigen wir, den Aufbau dieses – auch an den internationalen Finanz- märkten etablierten – Instruments fortzusetzen. Was sind inflationsindexierte Bundeswertpapiere? Es sind Schuldverschreibungen, deren Verzinsung an einen Inflations- bzw. Preisindex gekoppelt ist. Die Indexie- rung ermöglicht den Investoren eine Absicherung gegen schwankende Inflationsraten und ermöglicht es dem Kreditnehmer, den Wertpapiercoupon deutlich zu sen- ken. Das ist gut für Anleger und Kreditnehmer, die beide von einer verbesserten Risikoaufteilung profitieren. Der Bund nutzt dieses Marktsegment bereits seit 2006 und strebt an, mittelfristig bis zu fünf Prozent der Brutto- kreditaufnahme am Kapitalmarkt über diese Papiere zu decken. Bisher hat die Finanzagentur im Auftrag des Bundes sehr erfolgreich inflationsindexierte Bundes- wertpapiere mit einem Volumen von 22 Milliarden Euro auf den Kapitalmarkt gebracht. Für das Haushaltsjahr 2009 hat die Finanzagentur die Emission dieser Papiere mit einem Volumen von 6 bis 10 Milliarden Euro ange- kündigt. Für den Bundeshaushalt ergeben sich aus inflations- indexierten Bundeswertpapieren zeitlich andere Belas- tungen als bei nominalverzinslichen. Die jährlichen Zinszahlungen sind bei inflationsindexierten Bundes- wertpapieren geringer als bei nominalverzinslichen. Im Gegenzug ist bei Fälligkeit der inflationsindexierten Bundeswertpapiere eine von der Entwicklung der Infla- tion abhängige Schlusszahlung zu leisten, die es bei nominalverzinslichen Bundeswertpapieren nicht gibt. Auf den Bundeshaushalt kommt im Fälligkeitsjahr des inflationsindexierten Bundeswertpapiers eine hohe Ein- malbelastung zu, während in anderen Jahren keine Schlusszahlungen inflationsindexierter Bundeswertpa- piere fällig sind. Eine vorausschauende und nachhaltige Haushalts- und Finanzpolitik – nach der jüngsten Steuerschätzung wich- tiger denn je – erfordert eine Vorsorge für die in Zukunft mit Sicherheit entstehenden kassenwirksamen Ausgaben aus der Kreditaufnahme. Aus diesem Grund soll durch dieses Gesetz ein Sondervermögen des Bundes geschaf- fen werden, das Vorsorge für die Schlusszahlungen dieser inflationsindexierten Bundeswertpapiere trifft. Mit der Errichtung des Sondervermögens können die Schlusszah- lungen von der übrigen Finanzentwicklung im Bundes- haushalt im jeweiligen Fälligkeitsjahr entkoppelt sowie die Kosten periodengenau zugeordnet und dadurch auch absolut transparent gemacht werden. Durch die kontinu- ierliche Zuführung von Mitteln an das Sondervermögen wird sichergestellt, dass bei Fälligkeit eines inflationsin- dexierten Bundeswertpapiers die Schlusszahlung, also der den Gesamtnennbetrag übersteigende, der Inflation während der Laufzeit des Wertpapiers geschuldete Be- trag, aus dem Sondervermögen geleistet werden kann, und der Bundeshaushalt im Fälligkeitsjahr insoweit nicht mit der Schlusszahlung belastet wird. Ich bitte um Zustimmung und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Otto Fricke (FDP): Wieso müssen wir plötzlich ein weiteres Sondervermögen, diesmal mit dem Titel „Vor- sorge für Schlusszahlungen für inflationsindizierte Bun- deswertpapiere“ errichten? Hat sich das Geschäftsgeba- ren des Bundes auf dem Kapitalmarkt etwa in den letzten Jahren derart verändert, dass der Bund seine Geschäfte absichern muss? Mindestens 1,5 Milliarden Euro beträgt der Finanzbe- darf, der sich für die inflationsindizierten Bundeswertpa- piere allein bis 2012 gegenwärtig ergibt. „Hedgen“ ist der Begriff, der in der Finanzwelt das Absichern von Ge- schäften gegen bestimmte Risiken bezeichnet. Genau die- ses Hedgen gibt den Namen für Hedgefonds, die Minis- ter Steinbrück so gerne kritisiert. Warum begab sich der Staat auch auf diese Spielfläche? Weshalb müssen wir ein Sondervermögen schaffen, um die Finanzierungsge- schäfte des Bundes zu gewährleisten und Haushaltsklar- heit herzustellen? In der Vergangenheit war es eben nicht notwendig, solch einen „Nebenhaushalt“ zu führen, um Finanzierungskosten periodengerecht zu erfassen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24481 (A) (C) (B) (D) Der Grund für solch eine Abgrenzung ist einfach: Der SPD-Finanzminister und die Koalition haben 2006 be- gonnen, auf die Entwicklung des Europäischen Infla- tionsniveaus zu wetten. Die Wette erfolgte in der Form, dass seit März 2006 Bundesobligationen und Bundesan- leihen begeben wurden, deren Rückzahlungshöhe von der Inflationsrate im Euroraum abhängt. Ich denke, dass sich das Bundesfinanzministerium wiederholt gefragt hat, warum es ohne Not ein neues Fi- nanzierungsinstrument, oder sagen wir besser: Wettin- strument, genutzt hat, dessen Folgen es wirklich nicht abschätzen, geschweige denn kontrollieren kann. Die allermeisten Bürgerinnen und Bürger, aber auch Unternehmen kennen Bundesschatzbriefe, Bundesanlei- hen und Tagesanleihen des Bundes und schätzen diese sichereren Anlageformen. Dies liegt unter anderem da- ran, dass die Finanzkraft des Bundes von den Rating- agenturen als nahezu bestmöglich auf der Welt angese- hen wird. AAA nennt sich das dann und eröffnet den Weg zu günstigster Finanzierung. Warum war eine Abweichung von den normalen Fi- nanzierungsformen notwendig? War sie notwendig? Den Erklärungsversuch, dass inflationsindizierte Anleihen international zunehmend begeben werden, kann die FDP nicht gelten lassen, denn die Nachfrage nach altbekann- ten Bundeswertpapieren war ungebrochen. Die Argu- mentation, die anderen machen es ja auch, kann nicht ziehen. Welche Rolle sollte und darf der Staat bei der Be- schaffung seines Kapitalbedarfs einnehmen? Broker? Oder ist er eben doch in erster Line Treuhändler des Steuerzahlers? Nach dem Verständnis meiner Fraktion ist es eben nicht Aufgabe des Staates, Zinswetten einzu- gehen und dafür Risiken in Kauf zu nehmen. Das zeigt gerade die aktuelle Finanzmarktsituation. Hätte die Große Koalition ernsthaft versucht, Zinsen einzusparen, dann hätte sie die Neuverschuldung zu- rückfahren müssen, als sie die Gelegenheit dazu hatte. Zinsen spart man nämlich am besten dadurch, dass man keine neuen Schulden anhäuft. Vorschläge zur Vermei- dung von Neuverschuldung der FDP – Stichwort: Libe- rales Sparbuch: gab es. Ich möchte betonen, dass die FDP immer wieder konkrete, umsetzbare Vorschläge zur Reduzierung der Staatsausgaben eingebracht hat. Diese wurden von der Großen Koalition immer wieder igno- riert. Statt also den Bundeshaushalt in Ordnung zu bringen hat, die Bundesregierung ihre Ausgaben stets stärker er- höht, als die Wirtschaft gewachsen ist. Um ihre Unfähig- keit bei der Haushaltskonsolidierung zu überspielen, hat die Bundesregierung sich auf die Spielwiese des „Ca- sino-Kapitalismus“ begeben, um das Geld der Steuer- zahler eben nicht auf Rot oder Schwarz, sondern auf fal- lende bzw. stagnierende Inflation zu setzten. Vernünftige Haushaltspolitik sieht anders aus. Wie aber funktionieren diese neuen Wettinstrumente? Der Bund garantiert den Anlegern einen Zinssatz, der um die Inflation angepasst wird. Der Rückzahlungsbe- trag des Wertpapieres ergibt sich aus dem Nennwert multipliziert mit dem harmonierten Verbraucherpreis- index zum Ende der Laufzeit. Um den Einflussfaktor der Inflationsentwicklung bewusst zu machen, will ich Ih- nen zwei Beispiele anführen: Eine Inflationsrate von durchschnittlich 1,5 Prozent führt dazu, dass einem Anleger, der 10 000 Euro Bun- desanleihe nominal gezeichnet hat, am Ende der Lauf- zeit circa 11 600 Euro zurückgezahlt werden. Beträgt jedoch die Inflation 2,5 Prozent, würde der gleiche Anleger fast 13 000 Euro zurückbekommen. Welches Risiko sich hieraus ergibt, brauche ich bei 22 Milliarden Euro an begebenen Wertpapieren nicht weiter auszuführen – Quelle: www.deutsche-finanzagen tur.de. Wir sehen also deutlich, dass die Entwicklung der Inflationsrate einen enormen Einfluss auf die Rückzah- lung der Anleihen hat. Zum Hintergrund inflationsindizierter Wettpapiere möchte ich ein paar Punkte anführen: Wie entsteht Inflation, welche Einflussgrößen beein- flussen also die Rückzahlungshöhe der Wertpapiere? Die Inflation hat mehrere Gründe. Die Ursachen liegen unter anderem in einer hohen, am Markt befindlichen Geld- menge, in einem starken Wirtschaftswachstum oder ei- ner Nachfrage, die nicht von einem entsprechenden An- gebot gedeckt wird. Hieraus ergibt sich doch die Frage, welche Erwar- tungshaltung das Bundesfinanzministerium hatte, als es die Wertpapiere begeben hat. Hat der Bundesfinanzmi- nister seit 2006 mit einem Abschwung gerechnet? Ab- schwung oder Rezession führt nämlich tendenziell erst einmal zu sinkenden Inflationsraten. In diesem Fall würde der Finanzminister davon profitieren, dass es der deutschen Wirtschaft schlecht geht. Die zweite denkbare Alternative ist, dass der Bundes- finanzminister die Schwankung der Inflation falsch ein- geschätzt hat, denn in 2008 lag die Inflation deutlich über dem von der EZB angepeilten Wert von rund, aber nicht über 2 Prozent, was die Kosten der Wettpapiere des Bundes in die Höhe treibt. Das Bundesfinanzministe- rium hat gewettet, dass die EZB die Inflationsrate im Zielkorridor von rund 2 Prozent halten wird und das Bundesfinanzministerium so einen Zinsvorteil gegen- über bewährten Finanzinstrumenten haben wird. Ob dies langfristig aufgeht, bezweifle ich. Wie viele Banker bestätigen, ist kurz und mittelfristig mit einer stark inflationären Tendenz zu rechnen. Was für den Bürger an der Zapfsäule ärgerlich ist und für den Sparer erst recht, bedeutet für den Staat einen Aufwand in Milliardenhöhe. Für diesen Mehraufwand beim Inflationsausgleich, der in Zukunft mit Sicherheit entstehen wird und für den im Haushaltsplan noch keine Vorsorge getroffen wurde, soll jetzt ein Sondervermögen errichtet werden. Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass die Bundesre- gierung nun endlich bekennt, dass sie die Kosten ihres aufgenommenen Kapitalbedarfs transparent machen muss, insbesondere, da so auch im Bundeshaushalt die Maastricht-Abgrenzungskriterien für die Defizitberech- 24482 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 (A) (C) (B) (D) nung nachvollzogen werden. Die Kriterien sehen näm- lich ausdrücklich vor, dass inflationsbedingte Verände- rungen des aufgenommenen Kapitals bereits als entstandene Zinsbelastungen anzusehen sind. Ähnlich der Zuordnung von Nullcouponanleihen – Zerobonds – ist nämlich der am Ende der Laufzeit fällige Aufwand haushälterisch den Jahren zuzuordnen, in dem er ent- standen ist. Fraglich ist, warum die Bundesregierung erst jetzt erkennt, dass für die inflationsindizierten Anleihen Aufwendungen anfallen, die bislang noch nicht abge- grenzt wurden. Prinzipiell lehnen wir als FDP-Fraktion Sonderver- mögen ab. Nach unserer Auffassung widersprechen Son- dervermögen den Grundsätzen der Wahrheit und Klar- heit bei der Haushaltsführung. Wozu diese Sondervermögen führen, haben wir ja am Beispiel des Erblastentilgungsfonds und des Finanzmarktstabilisie- rungsfonds gesehen. Abschließend stellt die FDP-Fraktion fest: Erstens. Wir lehnen inflationsindizierte Wertpapiere als Wettgeschäfte ab und sprechen uns gegen die Bege- bung neuer inflationsindizierter Wertpapiere des Bundes aus. Zweitens. Wir sind für eine transparente Regelung der Zuordnung von Kosten zu den einzelnen Haushaltsjah- ren. Ich will Ihnen gerne zugestehen, dass im konkreten Fall keine andere Lösung kameralistisch möglich ist. Folglich können wir dem Gesetz nicht zustimmen und wir werden uns enthalten. Roland Claus (DIE LINKE): In der Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung heißt es, ich zitiere: „Der Bund hat im Frühjahr 2006 erstmalig eine inflationsindexierte 10-jährige Bundesanleihe begeben …“ – hier müsste es „ausgegeben“ heißen, meine Damen und Herren – „… und ist damit der Entwicklung an den internationalen Kapitalmärkten gefolgt, in denen infla- tionsindexierte Wertpapiere seit längerem ein etabliertes Instrument sind“. Nun ist in der jüngeren Vergangenheit durch einige an den internationalen Finanzmärkten etablierte Instrumente die größte Finanz- und Wirtschaftskrise seit der großen Depression hervorgerufen worden. Die vom Bund aus- gegebenen Anleihen gehören ausdrücklich nicht dazu, doch will und muss ich hier dennoch betonen, dass es für nichts anderes als für politische Ignoranz spricht, wenn ein dem Gemeinwesen und – in diesem Falle besonders zu betonen – dem Steuerzahler verpflichteter Politiker den Produkten der internationalen Finanzmärkte hinter- herrennt, nur weil diese angeblich etabliert sind. Was da- bei passieren kann, zeigen uns die Bankenrettungs- schirme, die Sie derzeit zulasten der Allgemeinheit spannen. Die inflationsindexierte Anleihe ist nichts an- deres als ein Wettspiel der Anleger auf die Inflationsent- wicklung. Je höher diese ausfällt, desto mehr Geld ver- dienen diese; und zwar verdienen die Anleger: Steuergeld. Mir fällt es schwer, darin keine Umvertei- lung des gesellschaftlichen Reichtums zu erkennen. Aber darin sind Sie ja erfahren. Mit dem Schlusszahlungsfinanzierungsgesetz wollen Sie nun drei Jahre nach Erstausgabe der inflationsinde- xierten Bundeswertpapiere die Grundlage für die Errich- tung eines Sondervermögens schaffen. Auch das ist typisch für Ihre Art zu regieren: erst machen, ohne nachzuden- ken, und dann gucken, was geschieht, und die Kosten dem Steuerzahler aufbürden. Um Sie nicht durchweg zu kritisieren: Von einem technokratischen Standpunkt aus betrachtet, kann es durchaus für sinnvoll erachtet wer- den, dass der Bund für absehbare Schlusszahlungen für bereits laufende inflationsindexierte Bundeswertpapiere Vorsorge betreibt. Durch den Aufbau des Sondervermö- gens kann die Inflation, die während der Laufzeit eines inflationsindexierten Bundeswertpapiers stattfindet, pe- riodengenau berücksichtigt werden und durch die Infla- tion verursachte Zinsausgaben der indexierten Bundes- wertpapiere können periodengerecht zugeordnet werden. Ein solches technokratisches Verständnis macht sich die Linke nicht zu eigen. Deshalb lehne ich im Interesse der Menschen, auf deren Geld gewettet wird, die Schaf- fung weiterer Sondervermögen, die neben dem Bundes- haushalt bestehen sollen, ab. Es ist aus unserer Sicht nicht die Aufgabe des Staates, Wettangebote an Käufer mit hohen Zinserwartungen zu etablieren, um in Ihrer Diktion zu bleiben. Inflationsindexierte Bundeswertpa- piere sind nach Ansicht der Linken kein notwendiges und sinnvolles Finanzierungsinstrument des Bundes. Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Schlussfinanzierungsgesetz regelt die Form der Be- gleichung inflationsindexierter Schulden. Gezielt wurde erstmals im Jahr 2006 das Instrument inflationsindexierter Kreditaufnahme am Kapitalmarkt gewählt, um als Schuldner bei niedriger Inflation nur niedrige Zinszahlungen leisten zu müssen. Sowohl Gläu- biger als auch Schuldner können nämlich vom Konstrukt dieses Finanzierungsinstruments profitieren: Der Anle- ger hat die Sicherheit, dass seine Forderungen nicht von der Inflation aufgefressen werden, der Schuldner, hier der Bund, senkt seine Finanzierungskosten. Soweit die Theorie. In der Praxis müssen wir nun feststellen, dass dieses Finanzierungsinstrument mit steigender Inflation deut- lich teurer zu werden droht als die bis dahin klassische Kreditaufnahme mit Festverzinsung. Die Große Koali- tion hat allzu leichtfertig den Versuch einer zehnjährigen inflationsindexierten Anleihe im Jahr 2006 um eine wei- tere fünfjährige Anleihe noch im letzten Jahr ergänzt. Angesichts der sehr ungewissen Entwicklung der Teue- rungsraten wäre es notwendig gewesen, die weitere Neu- emission inflationsindexierter Papiere kritisch zu über- prüfen. Das heute zu beschließende Schlussfinanzierungsge- setz bügelt eine andere offensichtliche Schwäche der in- flationsindexierten Anleihen aus. Bislang erfolgte die Zahlung sämtlicher auflaufender Verpflichtungen an die Gläubiger erst zum Ende der Laufzeit. Es wurden also Zahlungsverpflichtungen unübersichtlich in die Zukunft verlagert. Zur Vermeidung solcher zukünftigen hohen Einmalzahlungen durch die Schlusszahlungen soll ein Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24483 (A) (C) (B) (D) Sondervermögen errichtet werden, welchem ab sofort schon während der Laufzeit des Papiers die entspre- chend jeweils zu erwartenden Schlusszahlungen zuge- führt werden. Das Schlussfinanzierungsgesetz konkret ist daher also trotz aller generellen Skepsis am Instrument der infla- tionsindexierten Wertpapiere zu begrüßen, da hierdurch Klarheit und Wahrheit zu eingegangenen Verpflichtungen entsteht. Damit werden zukünftige Kosten jeweils aktuell „gebucht“ und verhindert, dass ungedeckte Schecks auf die Zukunft ausgestellt werden. Das Schlussfinanzierungsgesetz ist damit eine seltene und in der Großen Koalition aussterbende Art: nämlich der Erhalt von Klarheit und Wahrheit im immer konfuse- ren, intransparenteren und unehrlicheren Zahlenwerk. Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Rechtsverhältnisse bei Schuld- verschreibungen aus Gesamtemissionen und zur verbesserten Durchsetzbarkeit von Ansprü- chen von Anlegern aus Falschberatung (Tages- ordnungspunkt 36) Marco Wanderwitz (CDU/CSU): 2008 fand eine zweifelhafte Ehrung statt. Zum Wort des Jahres wurde von der Gesellschaft für deutsche Sprache das uns auch heute anhaltend beschäftigende Wort Finanzkrise gekürt. Leider ist es eben nicht nur ein Wort, sondern beschreibt unsere derzeitige Wirtschaftssituation, die auch so schnell nicht in Vergessenheit geraten wird. Viele Bürger leiden unter der Krise, bedauerlicherweise auch auf- grund fehlerhafter Finanzberatungen. Die damit verbun- dene skeptische Einschätzung des Wertpapierhandels ist für uns Politiker Herausforderung für eine sinnvoll ver- tiefende und zugleich behutsame rechtliche Neuregelung zu sorgen, die wieder Vertrauen schafft; denn für die Volkswirtschaft ist der Wertpapierhandel essenziell. Dies ist Ziel des Gesetzes: den gesetzlichen Rahmen des Wertpapierhandels zu verbessern. Durch die Modernisierung des Schuldverschreibungs- rechts soll der Anlegerschutz beim Erwerb von Schuld- verschreibungen und anderen Anlagen gestärkt werden. Rechtshistorisch betrachtet enthält das Gesetz eine Neufassung des Schuldverschreibungsgesetzes von 1899. Das alte Schuldverschreibungsgesetz schränkt die Befugnisse der Gläubiger aus heutiger Sicht zu stark ein und ist verfahrensrechtlich veraltet. Hervorzuheben von den vorgeschlagenen neuen Re- gelungen sind die grundsätzlichen Änderungen der Bera- tungs- und Dokumentationspflicht für ein ausgewogene- res Kräfteverhältnis der Vertragspartner. Sie sollen dem verbesserten Ausgleich einer gestörten Vertragsparität, wie sie nicht zu Unrecht oft im Verhältnis zwischen klei- nem Anleger und großer Bank gesehen werden, dienen. Doch ich möchte betonen, dass nicht alle jetzt betrof- fenen Anleger falsch beraten worden sind. Es gab auch diejenigen, die nur die möglicherweise zu erwartenden Gewinne im Blick hatten und bewusst die Augen vor den aufgezeigten Risiken verschlossen haben und nun in die Klage der tatsächlich Getäuschten mit einstimmen. Hier müssen wir differenzieren – in der rückwärtigen Sicht und auch künftig. Mittels Beratungs- und Dokumenta- tionspflicht soll sich künftig im Nachhinein feststellen lassen, ob die Beratung fehlerhaft war oder ob man es mit den Risiken anlegerseitig bewusst nicht ganz so genau ge- nommen hat. In Zukunft soll die Verpflichtung bestehen, den Inhalt jeder Anlageberatung zu protokollieren. Dem Anleger wird ein zivilrechtlicher Herausgabeanspruch hinsichtlich der Aufzeichnungen des beratenden Unter- nehmens eingeräumt. Wichtig bei dem Protokoll ist dabei die allgemeine Verständlichkeit, wozu insbesondere die Ausgangswünsche des Kunden sowie die vom Berater er- teilten Empfehlungen und die hierfür maßgeblichen Gründe gehören. Sinn und Zweck dieser Dokumentations- pflicht ist – was eigentlich immer selbstverständlich sein sollte – die Veranlassung zur Einhaltung höchster Sorg- faltspflichten der Anlageberatung und somit die Förde- rung der Qualität der Beratung. Im Streitfall kann das Beratungsprotokoll dann von jeder Seite herangezogen werden, zur Entlastung oder auch zu Belastung. Geht aus dem Protokoll ein Bera- tungsfehler hervor, hat der Anleger das erforderliche Be- weismittel in Händen. Dem Anleger wird es damit künf- tig erleichtert, Schadensersatzansprüche durchzusetzen, indem die Anforderungen an die Dokumentation der Be- ratung erhöht werden und dem Anleger ein einklagbarer Anspruch auf Aushändigung der Dokumentation einge- räumt wird. Selbstverständlich ebenso möglich ist damit die Exkulpation des Beraters. Eine weitere Regelung ist die Abschaffung der kurzen Sonderverjährungsfrist wegen Falschberatung bei Wert- papieranlagen, die an die regelmäßige Verjährungsfrist des Bürgerlichen Gesetzbuches angepasst wird. Scha- densersatzansprüche wegen Falschberatung verjähren da- mit nicht mehr binnen drei Jahren nach Vertragsschluss. Die Dreijahresfrist beginnt erst zu laufen, wenn der An- leger von dem Schaden Kenntnis hat. Unabhängig von der Kenntnis des Anlegers vom Schaden verjähren die Ansprüche jedoch spätestens binnen zehn Jahren, und das ist aus Gründen der Rechtssicherheit auch unent- behrlich. Des Weiteren wird das Verfahren der Gläubigerab- stimmung grundlegend neu geregelt und an das moderne und bewährte Recht der Hauptversammlung bei der Ak- tiengesellschaft angelehnt. Zudem enthält der Gesetzent- wurf Vorschriften, wer stimmberechtigt ist, und führt die Möglichkeit eines gemeinsamen Vertreters der Gläubi- ger ein. Die Verfahrensregelungen zur Einberufung, Frist und Bekanntmachung von Gläubigerversammlungen werden modernisiert, die Anfechtung von Gläubigerbe- schlüssen zugelassen sowie die Möglichkeit einer virtu- ellen Gläubigerversammlung eingeführt. Mit der Neufassung des Schuldverschreibungsgeset- zes erfolgt eine Anpassung an international übliche An- 24484 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 (A) (C) (B) (D) forderungen. Das Gesetz schafft eine Rechtsgrundlage für Umschuldungsklauseln, sogenannte Collective Action Clauses, die den Gläubigern Handlungsspielräume zu bestimmten Änderungen der Anleihebedingungen ver- mitteln. Erforderlich kann das während der Laufzeit ei- ner Anleihe aus verschiedenen Gründen sein, beispiels- weise in der Krise oder Insolvenz des Schuldners. Die Regeln des Gesetzes entsprechen insoweit den interna- tional üblichen Klauselinhalten. Die bisherige Anwen- dungsbeschränkung des Gesetzes auf Emittenten mit Sitz im Inland fällt weg. Zur Verbesserung der Verständlichkeit von Anleihe- bedingungen wird eine spezialgesetzliche Regelung zur Transparenz eingeführt. Wir haben uns hier einiges vorgenommen und wün- schen, dass nicht zuletzt dadurch der Wertpapierhandel wieder ein Stück Vertrauen zurückgewinnen kann, dass wir die Parteien ähnlich stark ausstatten können, ohne aber die Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen aus dem Auge zu verlieren. Ich freue mich auf die parlamentari- schen Beratungen des Regierungsentwurfes. Klaus Uwe Benneter (SPD): Schade, dass wir so einen wichtigen Gesetzentwurf nur in dieser Form disku- tieren. Hinter dem sperrigen Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung der Rechtsverhältnisse bei Schuldver- schreibungen aus Gesamtemissionen und zur verbesser- ten Durchsetzbarkeit von Ansprüchen bei Falschbera- tung“ verbirgt sich ganz konkrete Politik für die Menschen. Die Finanzkrise trifft nicht nur Banken und Unternehmen, sie trifft auch Tausende von Anlegern: Viele haben Geld verloren, weil sie sich über das Risiko ihrer Wertpapiere nicht im Klaren waren. Vielfach wur- den sie von den Banken schlecht beraten und ungewollt zum Kauf gedrängt, weil üppige Provisionen für die Be- rater gelockt haben. Immer wieder wurden Schutzvor- schriften nicht eingehalten und die wichtigen Informa- tionen in schicken Hochglanzprospekten verschleiert oder gleich komplett weggelassen. So etwas soll es in Zukunft nicht mehr geben: Wir wollen starke Anleger, die wissen, für welches Anlageprodukt sie sich entschei- den und die eine Chance haben, später ihre Rechte durchzusetzen. Dazu enthält der Gesetzentwurf wesent- liche Verbesserungen. Was haben wir vor: Wir wollen Transparenz bei der Anlageberatung auf eine völlig neue Grundlage stellen. Ein Bankberatungsgespräch ist deshalb in Zukunft um- fassend in einem regelmäßig schriftlichen Protokoll zu dokumentieren. Kein Bankberater kann dann mehr be- haupten, er habe über alle Risiken des Anlagegeschäftes aufgeklärt und außerdem sei eigentlich der Kunde schuld, weil er sich nicht deutlich genug ausgedrückt habe. Bis jetzt müssen die Banken nur ganz grobe Auf- zeichnungen von den Beratungsgesprächen machen. Dort steht dann zum Beispiel nur, ob überhaupt eine Be- ratung stattgefunden hat. Was dort aber konkret bespro- chen wurde, was der Kunde eigentlich wollte und der Bankberater daraufhin empfohlen hat, taucht dort nicht auf. Damit ist jetzt Schluss. In Zukunft gilt: Alles ist zu protokollieren: was der Kunde will, was der Bankberater daraufhin empfiehlt und warum. Telefonieren beide, kann der Anleger von der Bank verlangen, dass das Tele- fongespräch aufgezeichnet wird. Vorher muss er nichts unterschreiben. Was erreichen wir damit: Erstens. Der Kunde kann sich das Protokoll zu Hause noch einmal in Ruhe durchlesen, nicht nur zur Kontrolle, sondern auch zum Vergleich. Mit seinem individuellen Angebot hat er die Möglichkeit, zur Konkurrenz zu ge- hen, und das nicht mit einem Stapel schicker, aber nichtssagender Hochglanzprospekte. Was heute in jedem Mediamarkt bei jeder kleinen Musikanlage selbstver- ständlich ist, gilt nun endlich auch in der Anlagebera- tung. Zweitens. Die Bankberater müssen ab jetzt sehr sorg- fältig arbeiten. Mit dem Gesetzentwurf soll die Qualität der Beratung merklich besser werden. Nach einer Studie des Verbraucherschutzministeriums von Ende 2008 ge- hen in Deutschland den Anlegern jedes Jahr ungefähr 30 Milliarden Euro durch falsche Beratung verloren. Eine ungeheure Zahl. Natürlich ist die Anlageberatung in Deutschland nicht per se schlecht. Der Berater kann ja wirklich gut ausgebildet sein. Dennoch schwatzt er den Anlegern ein windiges Zertifikat auf, nur um seine vor- gegebenen Verkaufsquoten zu erfüllen und die in Aus- sicht stehenden Provisionen einstreichen zu können. Jetzt schaffen wir die Möglichkeiten, solche Falschbera- tungen auch nachzuweisen. Das wird dafür sorgen, zur Sicherheit lieber noch einmal beim Kunden nachzufra- gen und die eigenen Empfehlungen doppelt zu überprü- fen. Drittens. Wir erleichtern den Betroffenen die Mög- lichkeit, mit einer Klage zu obsiegen. Eine Schadenser- satzklage gegen die Bank wegen Falschberatung ist si- cher das letzte Mittel, die Ultima Ratio. Einmal vor Gericht haben die Geschädigten dann aber schlechte Karten. Wie kann ich beweisen, dass vor Jahren der Be- rater schlecht beraten hat? Ich war bei vielen Geschädig- ten der pleitegegangenen deutschen Tochter von Lehman Brothers in Deutschland. 50 000 von ihnen wurden üble Zertifikate aufgeschwatzt. Dass der Wert der Papiere auch auf null sinken kann, dass das ganze angelegte Geld weg sein könnte, wurde geflissentlich verschwie- gen. In Musterprozessen wollen die geschädigten Anle- ger nun die Banken verklagen, die diese Papiere in Deutschland verkauft haben. Schon mehrmals wurden solche Klagen aber aus Mangel an Beweisen abgewie- sen. Damit haben viele Kleinanleger ihre private Alters- vorsorge, ihre Alterssicherung verloren. Immerhin: Kürzlich hat als erstes Gericht das Landge- richt Frankfurt am Main die Frankfurter Sparkasse zu Schadensersatz wegen Falschberatung verurteilt. Ob aber andere Gerichte genauso entscheiden, steht in den Ster- nen. Mit der Neuregelung ist jetzt die Bank im Obligo: Ist das Protokoll lückenhaft oder unschlüssig, muss die Bank beweisen, dass ordnungsgemäß beraten wurde. Hat sich der Kunde zum Beratungsgespräch kein Protokoll Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24485 (A) (C) (B) (D) aushändigen lassen, kann er die Bank auch auf Heraus- gabe dieses Protokolls verklagen. Wir wollen auch das Verjährungsrecht bei Falschberatung ändern. Im norma- len Bürgerlichen Recht knüpft der Beginn der Verjäh- rung an zwei Bedingungen an: Anspruchsentstehung und Kenntnis. Wer einen Anspruch geltend machen will, muss wissen, dass er einen Schaden hat. Das ist eigent- lich selbstverständlich und nach dem BGB auch so gere- gelt. Nicht so bei Wertpapieren nach dem Wertpapierhan- delsgesetz: Drei Jahre nach Vertragsschluss mit der Bank ist der Anspruch auf Schadensersatz verjährt, egal was der Anleger schon weiß, Schrottpapiere im Depot hin oder her. Das wird jetzt geändert. Die Dreijahresfrist be- ginnt in Zukunft erst dann, wenn der Anleger von sei- nem Schaden erfahren hat, unabhängig davon spätestens in zehn Jahren. Ein Sonderrecht für die Banken gibt es nicht mehr. Eine echte Verbesserung. Politik wird künf- tig den Schaden, den falsche und schlechte Anlagebera- tung durch maßloses Profitstreben und ungezügelte Gier angerichtet haben, nicht völlig verhindern können. Aber mit dem Gesetzentwurf ziehen wir die notwendigen Konsequenzen für die Zukunft. Was die Vergangenheit angeht, müssen wir den durch Lehman-Papiere geschä- digten Kleinanlegern versuchen zu helfen. Nicht nur die Banken brauchen Bad Banks. Mechthild Dyckmans (FDP): Die Tageszeitungen kennen zurzeit fast nur ein Thema: die Wirtschaftskrise, eine Krise, die sich aus der Finanzmarktkrise heraus ent- wickelt hat. In diesem Zusammenhang wird auch der Verbraucherschutz zu Recht immer wieder auf die Ta- gesordnung gesetzt. Jedem sind die Berichte bekannt, nach denen Bankberater einem Kunden, der nach einer sicheren Anlage gefragt hat, ein Zertifikat der Invest- mentbank Lehman Brothers empfohlen hat. Die Invest- mentbank Lehman Brothers ist mittlerweile Geschichte. Zurück bleiben die Verbraucherinnen und Verbraucher, die Zertifikate dieser Bank erworben hatten. In vielen Fällen stellt sich die Frage: Haben die Bankberater zu sehr auf eigene Provisionen geschielt, mehr als auf das Wohl ihrer Kunden? Hat vielleicht auch so mancher Kunde das Risiko, welches mit einer solchen Anlage- form verbunden ist, nicht wahrhaben wollen mit Blick auf eine Rendite, die höher ist als auf dem klassischen Sparbuch? Vor diesem Hintergrund ist der Gesetzentwurf zu er- klären, der dem Deutschen Bundestag heute in erster Lesung vorliegt. Der Titel „Gesetz zur Neuregelung der Rechtsverhältnisse bei Schuldverschreibungen aus Ge- samtemissionen und zur verbesserten Durchsetzbarkeit von Ansprüchen von Anlegern aus Falschberatung“ führt dabei leicht in die Irre. Nicht, dass die Neuregelung der Rechtsverhältnisse bei Schuldverschreibungen nicht wichtig wäre, der Schwerpunkt liegt jedoch eindeutig auf dem zweiten Teil, der Anlageberatung, auf den ich hier näher eingehen möchte. Liberale Verbraucherpolitik geht von dem mündigen Bürger aus. Verbraucherpolitik ist dabei Wirtschaftspoli- tik für den Konsumenten. Liberale Verbraucherpolitik setzt auf eine Stärkung des Menschen im Markt und nicht auf Schutz vor dem Markt. Moderne Verbraucher wollen nicht vom Staat bevormundet werden, sondern bessere Information, mehr Wissen über die Märkte und effektive Verbraucherrechte. Das Leitbild der FDP-Bun- destagsfraktion ist dabei die Befähigung des Verbrau- chers zu eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Entscheidungen. Aus diesem Selbstverständnis heraus hat die FDP-Bundestagsfraktion am 20. April 2009 auch eine viel beachtete Diskussionsveranstaltung unter dem Titel „Wie kommt das Vertrauen der Verbraucher zu- rück? – Konsequenzen aus der Finanzmarktkrise“ abge- halten. Die Anlageberatung war dabei auch ein ganz wichtiges Thema. Das Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfes, eine hohe Qualität der Anlageberatung sicherzustellen, ist zu begrüßen. Dies soll durch mehr Verständlichkeit und Transparenz geschehen. Anleger sollen im Falle einer fehlerhaften Beratung ihre Ansprüche leichter durchset- zen können. Im Blick behalten müssen wir jedoch auch die dadurch entstehenden Bürokratiekosten. Allein die Protokollierung wird Kosten in Höhe von 50 Millionen Euro jährlich hervorrufen. Und es steht zu erwarten, dass sich auch der Kontrollaufwand der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht erhöhen wird. Frau Minis- terin Aigner hat darüber hinaus in zahlreichen Presse- erklärungen Anfang des Jahres weitergehende Regelun- gen angekündigt, sodass sich die Frage stellt, wie sich diese Ankündigungen zum vorliegenden Gesetzentwurf verhalten. Im Mittelpunkt der Vorschläge zum Anlegerschutz im Rahmen dieses Gesetzentwurfes steht, wie oben darge- legt, der Schutz des Verbrauchers, also des Privatkun- den. Die Neuregelungen, auf die im Weiteren noch näher einzugehen sein wird, haben jedoch einen Anwendungs- bereich, der alle Kunden einer Bank betrifft. Dies wären auch Versicherungen oder andere große Unternehmen. Ein Schutzbedürfnis dieser Gruppen ist nicht wirklich zu erkennen. Das Wertpapierhandelsgesetz kennt schon eine Differenzierung in geeignete Gegenparteien, profes- sionelle Kunden und Privatkunden. Schutzbedürftig scheinen nur die Privatkunden zu sein. Alternativ könnte auch überlegt werden, auf den Begriff des Verbrauchers im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) abzustellen. Um unnötige Bürokratie und Kosten zu vermeiden, sollte der Anwendungsbereich dementsprechend eingeschränkt werden. Die generelle Aufzeichnungspflicht, die alle Wertpa- pierdienstleistungen betrifft, wird durch den Gesetzent- wurf für den Bereich der Anlageberatung konkretisiert. Es wird ein Protokoll über das Beratungsgespräch ver- langt, das eine Kontrolle des Gesprächshergangs ermög- licht. Diese Protokollierung des Gesprächshergangs halte ich für einen guten Ansatz, da dann deutlich wird, mit welchen Erwartungen der Kunde die Bank betreten und mit welchem Produkt er sie verlassen hat. Die bishe- rige Protokollierung im Rahmen des Wertpapierhandels- bogens wird zu Recht vielfach als unzureichend empfun- den. Inwieweit noch eine weitere Konkretisierung des Inhalts eines solchen Protokolls zu erfolgen hat, wird mit Sicherheit auch Gegenstand des weiteren Gesetzgebungs- 24486 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 (A) (C) (B) (D) verfahrens werden. Der Bundesrat schlägt in seiner Stel- lungnahme zudem eine Beweislastumkehr vor, sollte das Protokoll nicht vollständig sein oder nicht rechtzeitig ausgehändigt werden. Bedenken begegnet jedoch die geplante Einführung einer Telefonaufzeichnung im Rahmen von telefoni- schen Beratungen. Anders als in einem schriftlichen Pro- tokoll werden bei der Aufzeichnung eines Gespräches auch sensible Information von dem Kunden preisgege- ben, sei es über familiäre Verhältnisse, sei es über Rat- schläge eines Anwaltes oder Steuerberaters. Es ent- stünde eine gigantische Datensammlung, die sicher auch wieder Begehren bei staatlichen Institutionen auslösen wird. Darüber hinaus sind auch hier die Kosten nicht zu unterschätzen, die sich für die deutsche Kreditwirtschaft laut Bankenverband leicht auf 600 Millionen Euro reine Anschaffungskosten belaufen würden. Die Verjährung für Schadenersatzansprüche wegen fehlerhafter Anlageberatung soll an die allgemeinen Ver- jährungsregeln angepasst werden. Von einer wirklichen Vereinheitlichung kapitalmarktrechtlicher Verjährungs- vorschriften sind wir jedoch nach wie vor weit entfernt. Insgesamt besteht also für meine Fraktion noch er- heblicher Beratungsbedarf. Ohne eine Sachverständi- genanhörung werden wir wohl auch bei diesem Thema nicht auskommen. Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Das Kind ist in den Brunnen gefallen und die Bundesregierung legt ein – wei- teres – feuchtes Handtuch zur Rettung bereit. Was ich damit sagen will: Das hier debattierte Reformwerk im Bereich des Wertpapier- und Kapitalmarktrechts kommt zeitlich zu spät. Dass das Recht der Schuldverschrei- bungen seit seiner Einführung im Zuge der großen zi- vilrechtlichen Kodifikation Ende des 19. Jahrhunderts infolge der rasanten Marktentwicklung und der fanta- siereichen Entwicklung und staatlichen Zulassung im- mer neuer sogenannter Finanzprodukte aus Sicht der Fi- nanz- und Rechtspraxis anpassungsbedürftig geworden war, ist bekannt. Dass diese – zu welchem Zeitpunkt auch immer – womöglich andere sachliche Schwer- punkte gesetzt hätten als die Linke, ist dabei so erkenn- bar wie nebensächlich. Das staatliche Versagen im Bereich des Finanzmarkts, mithin die willfährige Zulassungspraxis bezüglich im- mer subtilerer Finanzprodukte und das tätige Mitwirken am Handel damit waren und sind mit Blick auf das ideo- logische und gebetsmühlenartige Festhalten am System selbst – im falschen Jargon – „systemisch“. Dass der Schutz der Anleger dabei ins Hintertreffen geraten ist, während gleichzeitig die gesamte soziale Gemeinschaft infolge des Schleifens der Sozialsysteme zwangsweise zum Anlegen angehalten wurde und infolgedessen viele von der Krise betroffen wurden, ist die blanke Realität. Um eine Vorstellung von der Ernsthaftigkeit der An- strengungen der Bundesregierung im Umgang mit ge- prellten Anlegern und deren schützenswerten Interessen in Zeiten vor der aktuellen Krise zu geben, sei mir noch der Hinweis auf die Antwort der Bundesregierung vom März 2007 auf die von mir eingereichte Kleine Anfrage zur „Situation der Anlegerinnen und Anleger in so ge- nannte islamische Holdings“ auf Drucksache 16/4836 erlaubt. In ihren Antworten bezeugt die Bundesregierung über weite Strecken Unkenntnis und verweist bei der Frage nach Hilfestellung für Geschädigte auf Gewaltenteilung und die Zuständigkeit von Zivilgerichten. Deren Ent- scheidungen sind aber bekanntlich an Gesetze gebunden, die zu initiieren nicht zuletzt der Bundesregierung zu- kommt. Der Euphemismus in der Richtung „besser spät als nie“ sollte angesichts dessen im Halse stecken blei- ben. Was bringt die Regelung denn sachlich? Zum Teilbe- reich des Schuldverschreibungsgesetzes lässt sich fest- halten, dass mit dem Entwurf ein weiterer Stein in das Gesamtgebäude einer Insolvenz- und Sanierungsrechts- reform gefügt wird. Die Reform bringt vor allem eine Stärkung des kollektiven Aspekts. Wie sich das im Ver- hältnis unterschiedlicher Inhabergruppen – insbeson- dere zwischen institutionellen und individuellen Inha- bern – auswirkt, wird kritisch zu beobachten sein. Im Bereich der größeren Schnittmengen, des Anleger- schutzes, stellt der Entwurf das vernünftigerweise nicht hintergehbare und längst erforderliche Minimum an an- leger- bzw. verbraucherschützender Transparenz- und Dokumentationspflicht her. Zudem werden der Materie die Verjährungsregeln des BGB zugrunde gelegt. Bis- lang sollte die Frist schon bei Abschluss des Vertrages nach erfolgtem Beratungsgespräch mit dem am Verkauf interessierten Produktvermittler zu laufen beginnen. Nunmehr soll der Zeitpunkt der Kenntniserlangung durch den Anleger von etwa im Beratungsgespräch ver- schwiegenen Risiken etc. maßgeblicher Anknüpfungs- punkt für die Haftung wegen verkaufsorientierter Falschberatung sein. Die hierfür erforderliche Strei- chung des § 37 a des Wertpapierhandelsgesetzes ist übrigens eine Forderung, die die Linke bereits in ihrem Beschlussantrag „Verbesserung des Verbraucherschutzes beim Erwerb von Kapitalanlagen“ auf Drucksache 16/11185 vom Dezember 2008 unter Punkt 4 vorge- bracht hatte. Der vorliegende Gesetzentwurf bleibt nach alledem mutlos hinter den Möglichkeiten zurück, die wir bereits im erwähnten Antrag vorgeschlagen haben. Weder die unabhängige und fachliche Finanzberatung findet hier Niederschlag noch die über das dortige Vorschlagspro- gramm hinausreichende Überlegung einer Marktbereini- gung durch das Hinwirken auf ein konzertiertes Verbot von bestimmten Finanzprodukten in mindestens europäi- scher, besser globaler Kooperation. Es besteht also er- heblicher Nachbesserungsbedarf am sinkenden Schiff. Lieber wäre mir allerdings ein neues Schiff. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf macht es sich die Bundesregierung zur Aufgabe, das Recht der Schuldver- schreibungen zu modernisieren und gewisse Rechte der Anlegerinnen und Anleger bei erfolgter Falschberatung zu stärken. Beide Zielvorgaben begrüßen wir ausdrück- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24487 (A) (C) (B) (D) lich. Aus grüner Perspektive sind insbesondere jene Re- gelungen des Gesetzentwurfes von Bedeutung, die der Verbesserung des Anlegerschutzes im Privatkundenseg- ment dienen. Meine Ausführungen werden sich daher in Bezug auf das Schuldverschreibungsrecht auf solche As- pekte beschränken, die im Zusammenhang mit dem An- lageprodukt Zertifikat stehen. Was den Schuldverschreibungsteil anbelangt, so möchte ich zunächst eine allgemeine Bemerkung voranstellen. Die Grünen begrüßen eine Modernisierung des Schuld- verschreibungsrechts. Ein ursprünglich aus dem Jahre 1899 stammendes Gesetz ist dringend an die Entwick- lungen des 21. Jahrhunderts anzupassen. Gleichwohl sollte sich diese Modernisierung ausschließlich daran orientieren, die Vorschriften sachgerechter und prakti- kabler zu gestalten. Die Bundesregierung führt in der Gesetzesbegründung an, man sei sich der Dominanz des angloamerikanischen Rechts bei der Vertragsgestaltung von Anleihen bewusst. Darauf folgt der Hinweis, dass insbesondere die Inhalts- kontrolle der allgemeinen Geschäftsbedingungen nach §§ 305 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuches als Hemm- schuh gesehen würden. Am Ende entschließt sich die Bundesregierung nicht dazu, darauf hinzuwirken, dass die §§ 305 ff. BGB zum Schutze der Verbraucherinnen und Verbraucher auf Anleihebedingungen für anwendbar erklärt werden. Ich warne an dieser Stelle ausdrücklich davor, den Wettbewerb der Rechtsordnungen dergestalt zu interpre- tieren, man müsse das deutsche Recht für Schuldver- schreibungen nur ausreichend emittentenfreundlich aus- gestalten, um seine internationale Akzeptanz zu erhöhen. Das geht zulasten eines gerechten Interessenausgleichs, hält Privatanleger davon ab, Kapital zu investieren und widerspricht zudem grünen Vorstellungen eines ange- messenen Anlegerschutzniveaus. Was die Regelungen im Konkreten betrifft, so ist ins- besondere der nachträglich eingefügte § 3 Schuldver- schreibungsgesetz hervorzuheben, der das Leistungsver- sprechen einer Anleihe transparent machen soll. In der Gesetzesbegründung wird explizit erwähnt, das diene auch der Transparenz bei Anlagezertifikaten, die ja ihrer rechtlichen Konstruktion nach auch Anleihen bezie- hungsweise Schuldverschreibungen sind, was viele Bür- gerinnen und Bürger im Zusammenhang mit der Pleite von Lehman Brothers leidvoll erfahren mussten. Zunächst ist es begrüßenswert, dass die Bundesregie- rung die Missstände bei Zertifikaten nicht länger voll- ständig ignoriert, sondern nach und nach Ideen aufgreift, die wir Grüne bereits in einem Antrag im Mai 2007 for- muliert haben. Die Leistungsversprechen bei Zertifi- katen sind größtenteils intransparent und die Anleihe- bedingungen so schwammig und voller allgemeiner Rechtsbegriffe, dass Emittenten regelmäßig Anpassun- gen zu eigenen Gunsten vornehmen, die sie durch die Anleihebedingungen gedeckt sehen. Gerichtsurteile, die hier willkürlichen Gestaltungen einen Riegel vorschie- ben, sind mir nicht bekannt. Es muss also etwas passie- ren. Gleichwohl scheint mir der eingeschlagene Weg der Bundesregierung eher ein Akt von Symbolwirkung. Man lehnt die Inhaltskontrolle nach §§ 305 ff. BGB ab, führt aber zur Besänftigung ein spezielles Transparenzgebot ein. Das tut auch nicht weh, zumal man in der Begrün- dung selbst zugibt, dass in der Regel ohnehin angloame- rikanisches Vertragsrecht gewählt und dieses Transpa- renzgebot daher keine Rolle spielen wird. Gegenteilig weisen erste Expertenmeinungen darauf hin, dass § 3 Schuldverschreibungsgesetz so unklar formuliert ist, dass die geschaffene Rechtsunsicherheit sogar bisher nach deutschem Recht vorgehende Emittenten ins anglo- amerikanische Vertragsrecht drängen wird. Denn was unter einem „bezüglich der jeweiligen Schuldverschrei- bung sachkundigen Anleger“ zu verstehen ist, bleibt schleierhaft. Heißt das, gewöhnlichen Anlegerinnen und Anlegern kann am Bankschalter nur noch ein Indexzerti- fikat angeboten werden, weil andere Konstruktionen in den Prospektbedingungen zu unverständlich sind? Und wer ist der maßgebliche Adressat, wenn, wie durchaus üblich, der Emittent die Zertifikate zuvor an die Ver- triebsbank unter Abschlag verkauft? Die Vertriebsbank dürfte wohl regelmäßig „sachkundig“ im Sinne des Ge- setzes sein. Hier sollte im Zuge der parlamentarischen Beratungen dringend nachgebessert und präzisiert wer- den. Letztlich wird die Bundesregierung auch nicht um- hinkommen, sich dem Zertifikatemarkt nochmals in ei- ner gesonderten Gesetzesinitiative umfassend zu wid- men. Die Komplexität der Produkte, die fehlende Nachvollziehbarkeit eines fairen Wertes, versteckte Ge- bühren und die Monopolstellung, wenn Emittenten zu- gleich den Vertrieb und das Market Making steuern, ma- chen eine maßgeschneiderte Regulierung unumgänglich. Lassen Sie mich nun zu dem Teil des Gesetzes kom- men, der einer verbesserten Durchsetzbarkeit von An- sprüchen der Anlegerinnen und Anleger aus Falschbera- tung dienen soll. Hier nimmt die Bundesregierung in Angriff, was längst überfällig war und systematisch in eine Umsetzung der Finanzmarktrichtlinie MiFID An- fang 2007 gehört hätte. Damals verweigerte sich die Bundesregierung aber einer anlegerfreundlichen Weiter- entwicklung der Anlageberatung. Als Begründung folgte der formelle Verweis, man habe sich im Koalitionsver- trag auf eine 1:1-Umsetzung von Richtlinien verpflich- tet. Nun, nachdem viele Bürgerinnen und Bürger in der Finanzmarktkrise systematisch schlecht beraten wur- den, rudert die Bundesregierung zurück und fügt hek- tisch in einem sachfremden Gesetz einige Punkte zur Verbesserung des Anlegerschutzes ein. Das ist ein bitte- res Versäumnis, das die Anlegerinnen und Anleger aus- baden durften. Was die Vorschläge zur besseren Durchsetzbarkeit von Ansprüchen aus Falschberatung im Einzelnen anbe- langt, so begrüßen wir die Maßnahmen im Großen und Ganzen. Wie sollten wir auch nicht, schließlich decken sich die hier vorgeschlagenen Regelungen im Wesentli- chen mit Forderungen, die wir Grüne bereits in einem Entschließungsantrag zu besagter Finanzmarktrichtlinie MiFID im März 2007 eingebracht haben. 24488 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 (A) (C) (B) (D) Die Streichung der kurzen Verjährungsfrist in § 37 a WpHG ist überfällig. Die Anlegerinnen und Anleger können häufig erst nach langer Zeit feststellen, ob eine Anlageempfehlung oder -beratung falsch war und daraus ein Schaden resultierte oder ob die Werteinbuße ihrer Anlage lediglich auf Marktgegebenheiten zurückzufüh- ren ist, auf deren Unwägbarkeiten im Rahmen der Bera- tung hingewiesen wurde. Mit der Streichung der Spe- zialnorm § 37 a WpHG wird der Rückgriff auf die Verjährungsregelungen des Allgemeinen Teils des BGB eröffnet. § 37 a WpHG wurde 1998 eingeführt, weil die damals 30 Jahre betragende Regelverjährungsfrist des Bürgerli- chen Gesetzbuches für die beratenden Wertpapierunter- nehmen als unangemessenes Risiko erachtet wurde. Seit der Schuldrechtsmodernisierung 2001 ist dieses Haupt- motiv jedoch entfallen, da die Regelverjährung auf drei Jahre verkürzt wurde. Die Norm des § 37 a WpHG hat ihre Daseinsberechtigung damit verloren. Es schadet eher dem Ansehen des Finanzplatzes Deutschland, wenn berechtigten Ansprüchen von Anlegerinnen und Anle- gern kategorisch mit der Verjährungseinrede begegnet wird. Im Übrigen sollte auch erneut geprüft werden, ob nicht die weiteren kapitalmarktrechtlichen Verjährungsfristen ebenfalls anzupassen sind. Wir begrüßen die hierzu vom Bundesrat in seiner Stellungnahme gemachten Vor- schläge etwa zu Normen des Investmentgesetzes oder des Börsengesetzes. Ob die Einführung erweiterter Dokumentationspflich- ten in der Anlageberatung tatsächlich eine bessere Durchsetzbarkeit etwaiger Ansprüche bei Falschbera- tung bedingt, erscheint uns fragwürdig. An dieser Stelle wird viel auf die konkrete Ausgestaltung des Protokolls ankommen. Denn Protokolle können auch umgekehrt eine wunderbare Absicherung der Berater gegen Haf- tung darstellen und so eine gut gemeinte Intention ins Gegenteil verkehren. Hier werden wir im weiteren parla- mentarischen Beratungsverlauf darauf achten, dass ein sinnvoller Weg zwischen Standardisierung auf Checklis- tenniveau und zu viel Interpretationsspielraum durch in- dividuelle Ausgestaltung gefunden wird. Wir können es uns nicht leisten, ein wirkungsloses Instrument zu schaf- fen, das dann auch noch gigantische Bürokratie mit sich bringt. Eines lässt sich aber zu den angedachten Regelungen zur Dokumentation bereits jetzt sagen: Der vorgesehene Sanktionsmechanismus, sofern die Dokumentation nicht, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig angefertigt wird, ist absolut verfehlt. Denn ein ins Ermessen der Auf- sichtsbehörde gestelltes Bußgeld nützt dem Anleger für seine Durchsetzbarkeit von Ansprüchen vor Gericht herzlich wenig. Vielmehr muss zumindest in diesen Fäl- len der formellen Mängel des Beratungsprotokolls die Beweislast zugunsten der Verbraucherinnen und Ver- braucher erleichtert werden. Wir werden uns im parlamentarischen Verfahren da- für starkmachen, grundsätzlich eine Beweislasterleichte- rung zugunsten der Anlegerinnen und Anleger einzufüh- ren. Bisher scheitern diese nämlich regelmäßig bereits bei der substanziierten Darlegung der Pflichtverletzung des Bankberaters. Die Finanzdienstleister legen schlicht- weg das Protokoll vor, in welchem regelmäßig pauschal angekreuzt wurde, dass etwa über Risiken aufgeklärt wurde. Wir haben unsere Zweifel, dass an diesem Zu- stand durch ein neues, besseres Protokoll etwas geändert würde. Darüber hinaus sehen wir darin auch keine unan- gemessene Benachteiligung der Finanzbranche. Wenn die Dienstleistung oder das Produkt tatsächlich zum An- leger passt, kann der Finanzdienstleister das anhand sei- ner Expertise und umfangreichen Dokumentation pro- blemlos darstellen. Abschließend sei daran erinnert, dass die Bundesre- gierung es versäumt, die strukturellen Probleme bei der Anlageberatung effektiv anzugehen. Denn der Ansatz ei- ner gesetzgeberischen Tätigkeit sollte stärker darin be- stehen, Falschberatung bei der Wurzel zu packen, also präventiv zu vermeiden, und nicht nur die Kompensa- tionsmöglichkeiten zu verbessern, wenn der Anleger be- reits geschädigt ist, das Kind also im Brunnen liegt. Dazu aber hätte man sich der unbequemen Diskussion um eine Abschaffung oder zumindest Eindämmung der provisionsbasierten Finanzdienstleistungen stellen müs- sen, wovor die Bundesregierung sich jedoch offenkundig drückt. Langfristig wird an dieser Debatte aber kein Weg vorbeiführen. Wir Grüne werden jedenfalls vehement für eine neue Kultur der Anlageberatung streiten. Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz: Wie schon der Name des Gesetzes zeigt, verfolgt die Bundesregierung mit dem Entwurf zwei Ziele. Erstens wird das alte Schuldver- schreibungsgesetz aus dem Jahr 1899 modernisiert. So sind international übliche Umschuldungsklauseln künf- tig in Deutschland eindeutig möglich. In der Krise des Schuldners können Gläubiger schnell und ohne unnöti- gen organisatorischen Aufwand auf die Anleihebedin- gungen durch Mehrheitsentscheidungen einwirken. Deutsches Recht wird damit wettbewerbsfähiger. Zweitens stärken wir den Anlegerschutz. Mit der In- ternationalisierung der Märkte haben sich die als Schuld- verschreibungen begebenen Produkte weiterentwickelt und sind teilweise sehr komplex geworden. Die Finanz- marktkrise hat gezeigt, dass viele Anleger die Risiken der von ihnen erworbenen Produkte nicht verstanden ha- ben und – wenn man ehrlich ist – oft auch gar nicht ver- stehen konnten. Das darf nicht sein. Versprochene Leis- tungen müssen eindeutig, klar und nachvollziehbar sein. Der Regierungsentwurf sorgt hier für mehr Nachvoll- ziehbarkeit und Transparenz. Damit helfen wir Anle- gern, mögliche Risiken aus einer Schuldverschreibung zu erkennen, und verbessern letztlich die Produktquali- tät. Hier sind die Entwicklungen noch nicht abgeschlos- sen. Die Bundesregierung ist weiterhin bestrebt, dass in- ternational, zumindest aber auf Ebene der Europäischen Union einheitliche Standards geschaffen werden. Zur Stärkung des Anlegerschutzes wird ferner die Durchsetzung von Ansprüchen aus Falschberatung ver- bessert. Banken werden künftig verpflichtet, den Inhalt und Ablauf jeder Anlageberatung zu protokollieren und dem Kunden eine Ausfertigung des Protokolls auszuhän- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 24489 (A) (C) (B) (D) digen. Dies schafft Klarheit für den Fall späterer Kon- flikte zwischen Kunden und Berater. Wenn der Berater Angaben und Wünsche des Kunden sowie erteilte Emp- fehlungen und die für seine Empfehlung maßgeblichen Gründe protokollieren muss und wenn er dieses Proto- koll dem Kunden – als Beweismittel für einen etwaigen späteren Prozess – aushändigen muss, dann wird diese Verpflichtung ihn zu höherer Sorgfalt bei der Beratung veranlassen. Das Gesetz wird damit nicht nur die Quali- tät der Finanzprodukte, sondern auch die Qualität der Beratung verbessern. Schließlich wird die Verjährungsfrist bei Schadens- ersatzansprüchen aus Falschberatung an die allgemeine zivilrechtliche Verjährung angepasst. Die bestehende kurze Sonderverjährungsfrist hat anlässlich der Abschaf- fung der allgemeinen 30-jährigen Verjährungsfrist ihre Berechtigung verloren. Schadensersatzansprüche verjäh- ren damit nicht mehr drei Jahre nach Vertragsschluss, sondern drei Jahre nach Kenntnis des Anlegers von sei- nem Schaden, spätestens in zehn Jahren. Auf diesem Weg helfen wir geschädigten Anlegern, ihre berechtigten Ansprüche durchzusetzen. Seitens einiger Banken wurde deutliche Kritik an der Beratungsdokumentation laut. Sie beklagen eine Belas- tung durch Bürokratie und Kosten. Ich halte diese Kritik nicht für gerechtfertigt, auch wenn man sicherlich über Nachbesserungen im Detail nachdenken kann. Die Fi- nanzkrise hat gezeigt, dass es Defizite bei der Beratung gibt und Anleger deshalb Produkte gekauft haben, über deren Risiken sie nicht hinreichend informiert wurden. Hier besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Die Beratungsdokumentation ist ein geeignetes und verhält- nismäßiges Mittel. Aus meiner Sicht liegt die Regelung letztlich auch im Interesse der Banken selbst, weil so das Vertrauen der Anleger in die Qualität der Anlagebera- tung wieder gestärkt werden kann. Auch wenn Sie eine Vielzahl anderer Gesetze zu beraten haben und die Zeit hierfür langsam knapp wird: Dieses Gesetz sollte noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden, damit wir als Gesetzgeber zeigen, dass uns in Reaktion auf die Finanzkrise auch Regelungen zugunsten der Anleger wichtig sind. Dieses Gesetz sollte dabei – darauf hat auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme hingewie- sen – nur ein erster Schritt sein. Weitere Regelungen zur Verbesserung des Anlegerschutzes sollten dann in der nächsten Legislaturperiode folgen. Anlage 11 Amtliche Mitteilungen Der Abgeordnete Detlef Parr hat mitgeteilt, dass er seine Unterschrift auf dem Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes auf Drucksache 16/11330 zurückzieht. Die Abgeordneten Gesine Multhaupt und Detlef Parr haben mitgeteilt, dass sie ihre Unterschriften auf dem Antrag Wirkungsvolle Hilfen in Konfliktsituationen während der Schwangerschaft ausbauen – Volle Teil- habe für Menschen mit Behinderung sicherstellen auf Drucksache 16/11342 zurückziehen. Die Abgeordnete Sylvia Kotting-Uhl hat mitgeteilt, dass sie ihre Unterschrift auf dem Entwurf eines … Ge- setzes zur Änderung des Gesetzes zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten auf Drucksache 16/11347 zurückzieht. Der Abgeordnete Dr. Karl Addicks hat mitgeteilt, dass er seine Unterschrift auf dem Entwurf eines … Ge- setzes zur Änderung des Schwangerschaftskonflikt- gesetzes auf Drucksache 16/12664 zurückzieht. Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Auswärtiger Ausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die deutsche Perso- nalpräsenz in internationalen Organisationen – Drucksache 16/10963 – Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – Unterrichtung durch den Nationalen Normenkontrollrat Jahresbericht 2008 des Nationalen Normenkontrollra- tes Bürokratieabbau – Jetzt Entscheidungen treffen – Drucksachen 16/10285 Nr. 15, 16/10039 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über das Ministertreffen der Welthandelsorganisation in Genf vom 21. bis 30. Juli 2008 (Doha-Runde) – Drucksachen 16/10285 Nr. 23, 16/10171 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung 2008 zur Anwendung des Standardkosten-Modells und zum Stand des Bürokra- tieabbaus – Drucksachen 16/11963 Nr. 1.1, 16/11486 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung und Zukunftsperspektiven der maritimen Wirtschaft in Deutschland – Drucksache 16/11835 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik für konventionelle Rüstungsgüter im Jahre 2007 (Rüs- tungsexportbericht 2007) – Drucksache 16/11583 – Ausschuss für Gesundheit – Zwischenbericht der Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin Verbesserung der Versorgung Schwerstkranker und Sterbender in Deutschland durch Palliativmedizin und Hospizarbeit – Drucksache 15/5858 – 24490 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 222. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 (A) (C) (B) (D) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung – Unterrichtung durch die Bundesregierung Verkehrsinvestitionsbericht 2008 – Drucksachen 16/12357 Nr. 1.1, 16/11850 – Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zum Veränderungsbedarf des bestehenden Rechtsrahmens für Anwendungen der Nanotechnologie – Drucksache 16/6337 – Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unions- dokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- tung abgesehen hat. Ratsdokument 15908/08 Drucksache 16/11517 Nr. A.11 Ratsdokument 15910/08 Drucksache 16/11517 Nr. A.12 Ratsdokument 15920/08 Drucksache 16/11517 Nr. A.13 Ratsdokument 15923/08 Drucksache 16/11517 Nr. A.14 Ratsdokument 15927/1/08 REV 1 Drucksache 16/11517 Nr. A.15 Ratsdokument 15939/08 Drucksache 16/11517 Nr. A.16 Ratsdokument 15944/1/08 REV 1 Drucksache 16/11517 Nr. A.17 Ratsdokument 16053/08 Drucksache 16/12188 Nr. A.12 Ratsdokument 5972/09 Drucksache 16/12778 Nr. A.15 EuB-EP 1869; P6_TA-PROV(2009)0038 Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Rechtsausschuss Drucksache 16/11965 Nr. A.4 Ratsdokument 5146/09 Drucksache 16/12511 Nr. A.2 Ratsdokument 6996/09 Finanzausschuss Drucksache 16/11965 Nr. A.7 Ratsdokument 16960/08 Drucksache 16/12369 Nr. A.7 Ratsdokument 5985/09 Drucksache 16/12369 Nr. A.8 Ratsdokument 5991/09 Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Drucksache 16/2555 Nr. 2.92 Ratsdokument 11510/06 Drucksache 16/11517 Nr. A.7 Ratsdokument 15906/1/08 REV 1 Drucksache 16/11517 Nr. A.8 Ratsdokument 15905/08 Drucksache 16/11517 Nr. A.9 Ratsdokument 15907/08 Drucksache 16/11517 Nr. A.10 sellschaft mbH, Amsterdamer Str. 19 Drucksache 16/12188 Nr. A.19 Ratsdokument 6158/09 Ausschuss für Gesundheit Drucksache 16/11517 Nr. A.30 Ratsdokument 16521/08 Drucksache 16/11721 Nr. A.22 Ratsdokument 16545/08 Drucksache 16/11819 Nr. A.14 Ratsdokument 17479/08 Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Drucksache 16/3573 Nr. 1.12 EuB-EP 1408 Drucksache 16/10286 Nr. A.73 Ratsdokument 11010/08 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Drucksache 16/11965 Nr. A.14 Ratsdokument 5112/09 Drucksache 16/12188 Nr. A.32 Ratsdokument 5996/09 nd 91, 1 2, 0, T 22 222. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 14. Mai 2009 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7 Anlage 8 Anlage 9 Anlage 10 Anlage 11
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1622200000

Die Sitzung ist eröffnet.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es gibt für die heutige Plenarsitzung eine interfraktio-
nelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um
die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu er-
weitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:

Kompetenzstreit der Bundesregierung bei der
Sicherung des Schiffsverkehrs vor Somalia

(siehe 221. Sitzung)


ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer

(Münster)

FDP

Anti-Rezessionsprogramm auflegen

– Drucksache 16/10867 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales

Rede
Ausschuss für Gesundheit

ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren

(Ergänzung zu TOP 38)


a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Angelika Brunkhorst, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Energieforschung neu ausrichten – Deutsch-
land, Energieland der Zukunft

– Drucksache 16/10329 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reak
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
tzung

, den 14. Mai 2009

.01 Uhr

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Nachteile für den Forschungsstandort
Deutschland aufheben – Für ein innovations-
freundliches Steuersystem

– Drucksache 16/12474 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gero
Storjohann, Volkmar Uwe Vogel, Dr. Andreas
Scheuer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Heidi Wright, Klaas
Hübner, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD

Punkte-Systematik des Verkehrszentralregis-
ters in Flensburg einfacher und verständlicher
gestalten

text
– Drucksache 16/12993 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Michaela Noll, Antje Blumenthal, Maria
Eichhorn, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Edelgard Bulmahn,
Petra Ernstberger, Iris Gleicke, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der SPD

Die Situation von Frauenhäusern verbessern

– Drucksache 16/12992 –
isungsvorschlag:
ss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

sschuss
usschuss
torsicherheit

Überwe
Ausschu
Innenau
Rechtsa

Ausschuss für Arbeit und Soziales






(A) (C)



(B) (D)


Präsident Dr. Norbert Lammert
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Katrin Göring-Eckardt, Bettina
Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Erinnerungsprojekt „Zug der Erinnerung“
unterstützen
– Drucksache 16/12991 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien

ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache

(Ergänzung zu TOP 39)


Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Landrechte stärken – „land grabbing“ in Ent-
wicklungsländern verhindern
– Drucksachen 16/12735, 16/13023 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wolf Bauer
Dr. Sascha Raabe
Dr. Karl Addicks
Dr. Norman Paech
Thilo Hoppe

ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Herbert Schui,
Dr. Barbara Höll, Ulla Lötzer, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE

Sozialisierung der Verluste verhindern – Si-
cherungsfonds für privaten Finanzsektor
schaffen
– Drucksachen 16/8888, 16/10610 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Hans-Ulrich Krüger
Dr. Axel Troost

ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder,
Ulrich Maurer, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Verbesserung des Verbraucherschutzes beim
Erwerb von Kapitalanlagen
– Drucksachen 16/11185, 16/12354 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ortwin Runde
Dr. Barbara Höll
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Der Tagesordnung 17 wird abgesetzt.

Nach den Ohne-Debatte-Punkten sollen jetzt die Ta-
gesordnungspunkte 20 und 22 aufgerufen werden. Der
Tagesordnungspunkt 24 wird nach dem Tagesordnungs-
punkt 19 aufgerufen und der Tagesordnungspunkt 18
nach dem Tagesordnungspunkt 21. Außerdem rücken
die Tagesordnungspunkte 26, 28, 30 und 32 jeweils um
einen Platz vor.

Schließlich mache ich auf zwei nachträgliche Aus-
schussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:

Der in der 205. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-

(11. Ausschuss)


Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Begrenzung der
Haftung von ehrenamtlich tätigen Vereinsvor-
ständen

– Drucksache 16/10120 –
überwiesen:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien

Der in der 217. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-
lich dem Haushaltsausschuss (8. Ausschuss) zur Mitbe-
ratung und gemäß § 96 GO überwiesen werden.

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Vierten Buches Sozialgesetz-
buch und anderer Gesetze

– Drucksache 16/12596 –
überwiesen:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich
der Fall. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Vereinbarte Debatte

60 Jahre Grundgesetz für die Bundesrepublik
Deutschland

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache drei Stunden vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist auch das so vereinbart.






(A) (C)



(B) (D)


Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Kollegen Volker Kauder für die CDU/CSU-
Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1622200100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ein neues geschichtliches Standardwerk be-
schreibt in diesen Tagen 60 Jahre Bundesrepublik
Deutschland als eine geglückte Demokratie. Wer hätte
nach unserer Geschichte, nach der Schoah, nach der
furchtbaren, verbrecherischen Diktatur des Dritten Rei-
ches, nach dem von Deutschland verursachten Zweiten
Weltkrieg, der ganz Europa in Schutt und Asche gelegt
hat – mit Millionen Toten –, jemals daran gedacht, dass
wir wieder geachtetes Mitglied der Völkergemeinschaft
und des europäischen Integrationsprozesses werden wür-
den?

Und die Deutschen selbst? Nach Jahrzehnten von
Selbstzweifeln – sagt uns die Meinungsforschung – bli-
cken sie zufrieden auf die vergangenen 60 Jahre. Ja, sie
sind stolz auf das Erreichte. Sie nehmen für sich zu
Recht in Anspruch, dass sie, die Bürgerinnen und Bür-
ger, den entscheidenden Anteil daran hatten. Und sie for-
mulieren völlig unverkrampft: Wir Deutsche sind stolz
auf unser Vaterland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Aber ein abschließendes Urteil über eine glückliche
Entwicklung der vergangenen 60 Jahre, der ersten
60 Jahre der Bundesrepublik Deutschland, war erst mög-
lich mit der deutschen Einheit. Mit der deutschen Ein-
heit wurde die Teilung unseres Vaterlandes überwunden,
und der Prozess der europäischen Einigung machte ei-
nen gewaltigen Schritt voran. Für uns waren Einheit in
Freiheit und gemeinsames Europa immer zwei Seiten ein
und derselben Medaille. Dass dies heute erreicht ist,
macht uns froh und glücklich.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Einen beachtlichen Anteil an dieser erfolgreichen
Entwicklung der ersten 60 Jahre hatte unser Grundge-
setz. Die 65 Männer und Frauen des Parlamentarischen
Rates unter Führung von Konrad Adenauer, 32 davon
aus der Union, hatten alle ihre eigene persönliche Erfah-
rung aus der Weimarer Republik und mit der Diktatur
des Dritten Reiches. Sie haben etwas erlebt, was wir
uns gar nicht vorstellen können: Sie haben erlebt, wie
sich in dieser Diktatur Menschen über Menschen erho-
ben haben. Sie haben erlebt, wie in dieser Diktatur
menschliches Leben zu unwertem Leben verurteilt und
ermordet wurde. Ja, zusammenfassend kann man sagen:
Sie haben erlebt, wie in dieser Diktatur die Menschen-
würde mit Füßen getreten wurde.

Deshalb war es aus dieser Erfahrung heraus nur kon-
sequent, dass vom Parlamentarischen Rat als Eingangs-
statement, als Leitsatz für die neue Verfassung geschrie-
ben wurde: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Das war die Erfahrung aus dieser furchtbaren Zeit.

Aber zur gleichen Zeit war im Parlamentarischen Rat
ebenso präsent, dass die Verfassung die Menschenwürde
nicht schafft, nicht neu erfindet, sondern dass die Men-
schenwürde vor der Verfassung, vor jedem menschli-
chen Recht steht. Deshalb wurde in der Präambel des
Grundgesetzes folgerichtig formuliert, in Verantwor-
tung vor Gott werde das Folgende als Verfassung nieder-
gelegt.

Zur gleichen Zeit kam eine weitere Erfahrung hinzu,
die wir uns auch in unserer politischen Arbeit immer
wieder vor Augen führen sollten – bei allem, was nun
geregelt und gemacht wird –, nämlich die Erfahrung
– wie Dietrich Bonhoeffer einmal schön formuliert hat –,
hier auf dieser Welt würden nur die vorletzten, nicht die
letzten Dinge geregelt. Aus dieser Erkenntnis heraus
konnte auch die Kraft zur Beschränkung formuliert wer-
den.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, neben die-
sem zentralen Wert, neben dieser zentralen Aussage zur
Menschenwürde, sind die ersten 19 bzw. 20 Artikel des
Grundgesetzes jedoch von einem weiteren zentralen
Wert geprägt, der ebenfalls aus der Erfahrung unserer
Geschichte begründet ist, dem der Freiheit. In wesentli-
chen Artikeln des Grundgesetzes wurde die Freiheit des
Einzelnen formuliert – die Religionsfreiheit, die Ver-
sammlungsfreiheit, die Koalitionsfreiheit –, und resultie-
rend aus Menschenwürde und Freiheit wurde dann in
Art. 2 der Schutz des Lebens formuliert. Dies alles ergibt
ein Wertesystem, das von einem Menschenbild des mün-
digen und selbstständigen Bürgers ausgeht.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie der Abg. Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Menschenwürde und Schutz des Lebens gehören un-
trennbar zusammen. Deswegen bin ich froh, dass wir
gestern hier im Deutschen Bundestag eine bemerkens-
werte Entscheidung zum Schutz des Lebens bei den
Spätabtreibungen getroffen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Die Freiheit des Einzelnen ist immer begrenzt – dies
geht klar aus dem System des Grundgesetzes hervor; so
steht es nämlich in einigen Artikeln – durch die Freiheit
des anderen, durch die Würde des anderen. Insofern zielt
der Freiheitsbegriff des Grundgesetzes auf verantwortete
Freiheit. Er verlangt immer wieder aufs Neue, die Frei-
heit zu verteidigen sowie sich zu wehren und da zu wi-
dersprechen, wo Freiheit in Gefahr ist. Aber es ist gerade
nicht durch den Freiheitsbegriff des Grundgesetzes ge-
deckt, Polizisten mit Steinen zu bewerfen und Autos
anzuzünden. Das entspricht nicht dem Begriff verant-
wortungsbewusster Freiheit, wie er im Grundgesetz for-
muliert ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Volker Kauder
Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates waren
sich aber auch der Gefährdungen der Verfassung be-
wusst. Auch die Weimarer Republik hat Bürgerrechte,
hat Freiheiten formuliert, aber es konnte durch die Ver-
fassung und den Verfassungsvollzug nicht verhindert
werden, dass diese Freiheit von den Feinden der Verfas-
sung und von den Feinden der Freiheit missbraucht
wurde. Deshalb wurde im Grundgesetz ein ausgefeiltes,
wesentlich robusteres System gegenseitiger Kontrollen
und Machtbegrenzungen formuliert.

Entscheidend aber ist die Bestimmung im Grundge-
setz, dass Parteien zwar an der Willensbildung in unserer
Demokratie mitwirken, dass aber Parteien verboten wer-
den können, wenn sie unsere demokratische Rechtsord-
nung verbiegen oder abschaffen wollen. All das wird un-
ter dem Begriff der wehrhaften Demokratie
zusammengefasst. Unsere Demokratie ist nicht wehrlos
gegen ihre Feinde, sondern ist eine wehrhafte Demokra-
tie. Ich sage deshalb auch ganz klar: Für mich ist die
NPD eine verfassungswidrige Partei, die unser System
überwinden bzw. abschaffen will.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber


(Zurufe von der LINKEN: Aber?)


die oberste Tugend ist die Klugheit. Das Bundesverfas-
sungsgericht hat uns klar vorgeschrieben, wann und un-
ter welchen Voraussetzungen ein Verbotsantrag zum Er-
folg führen kann. Ich kann nur sagen: Ich fordere die
Landesregierungen und die Bundesregierung auf, inten-
siv zu prüfen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind.
Wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, dann sind wir so-
fort dafür, einen Verbotsantrag zu stellen und zum Erfolg
zu führen. Aber ein zweites Mal einen Verbotsantrag zu
stellen und wiederum keinen Erfolg zu haben, würde die
wehrhafte Demokratie nicht stärken. Die Voraussetzun-
gen müssen erfüllt sein, um zum Erfolg zu kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe
davon gesprochen, dass die Verfassung das robuste Sys-
tem einer repräsentativen Demokratie geschaffen hat,
um Macht zu kontrollieren und Macht auszubalancieren.
Ein Beweis dafür ist auch die Schaffung des Bundes-
verfassungsgerichts. Nicht die Legislative, nicht die
Exekutive entscheiden abschließend über das, was ver-
fassungsgemäß ist oder nicht, sondern das Bundesver-
fassungsgericht. Die hohe Akzeptanz der Verfassung
hängt auch damit zusammen, dass unser Grundgesetz
Bürgerrechte und Abwehrrechte gegenüber dem Staat,
aber auch Teilhaberechte gegenüber dem Staat als di-
rekte Rechtsansprüche formuliert hat, die letztlich vor
dem Bundesverfassungsgericht einklagbar sind.

Die hohe Akzeptanz des Bundesverfassungsgerichts
mit seinen Entscheidungen in den letzten 60 Jahren be-
ruht ganz maßgeblich auf seiner beispielhaften Recht-
sprechung zu unseren Grundrechten,

(Beifall der Abg. Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD])


einer konkreten Ausformulierung des Rechtsanspruchs
des Bürgers gegenüber Eingriffsmöglichkeiten des Staa-
tes. Ich wünsche mir, dass diese hohe Akzeptanz des
Bundesverfassungsgerichts, die es sich durch seine
Rechtsprechung erworben hat, auch in Zukunft erhalten
bleibt. Sie bleibt aber nur durch die Rechtsprechung und
weniger durch viele Interviews und Einmischung in ta-
gesaktuelle Politik erhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ CSU]: Etwas genauer bitte!)


Das Grundgesetz appelliert mit seinen Grundrechten
und vor allem mit seinen Freiheitsrechten aber auch an
den Gesetzgeber, die Freiheit des Einzelnen zu achten
und zu schützen. Deshalb müssen wir uns, die wir Ge-
setze machen, immer dessen bewusst sein, dass eine Ab-
wägung zwischen staatlicher Regulierung, staatlicher
Gängelung und Bewahrung der Freiheitsrechte erforder-
lich ist. Nirgendwo wird dieses Problem so eklatant und
deutlich wie bei einer zentralen Aufgabe des demokrati-
schen Rechtsstaats, nämlich Sicherheit für seine Bürge-
rinnen und Bürger zu schaffen.

Die Bundesrepublik Deutschland ist als Sozialstaat,
als Rechtsstaat ausgestaltet. Die sozialen Rechte sind
von elementarer, existenzieller Bedeutung. Aber diese
ganzen Rechte sind dann nicht lebbar, wenn der Staat
nicht die Sicherheit für seine Bürgerinnen und Bürger
gewährleistet. Da bringen neue Herausforderungen neue
Fragen. Nicht umsonst machen wir es uns hier im Deut-
schen Bundestag so schwer, darüber zu entscheiden, wo
der Staat intensiv hinschauen und hinhören muss, um
Unheil und Terrorismus abzuwenden, und wo er freiheit-
liche Bürgerrechte nicht verletzen darf. Dies ist nicht
pauschal in einer einzigen Sentenz zu klären, sondern je-
des Mal, in jedem Einzelfall muss im Lichte dieser Ab-
wägung darum gerungen werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Freiheit zu
sichern, geschieht nicht mehr ausschließlich in unserem
Land, in Deutschland. Die Freiheit ist von Außen gefähr-
det, nicht mehr im Sinne des Kalten Krieges, als wir in
erster Linie Landesverteidigung ausgeübt haben, son-
dern, wie der damalige Verteidigungsminister Peter
Struck gesagt hat, auch am Hindukusch. Deshalb ist im
Grundgesetz folgerichtig – unter Annahme dieser neuen
Herausforderung – formuliert, unter welchen Bedingun-
gen die Bundeswehr eingesetzt werden kann, um Frei-
heit für unser Land und die Menschen dieses Landes zu
erreichen. Auch da ist wieder deutlich geworden, dass
der Verfassungsgeber der Neuzeit ganz konsequent das
fortgeschrieben hat, was bei den Gründungsvätern und
Gründungsmüttern angelegt war, nämlich den Vorbehalt
des Parlaments. Wir haben im Grundgesetz einen star-
ken Parlamentarismus angelegt, stärker als in vielen an-
deren Ländern Europas. Das mag bei der Umsetzung
manchmal etwas hinderlich und beschwerlich sein. Aber
es zeigt eine ausbalancierte Kontrolle und Begrenzung
von Macht. Darüber hinaus macht es deutlich, was das
Grundgesetz in dieser repräsentativen Demokratie ver-






(A) (C)



(B) (D)


Volker Kauder
langt, nämlich ein hohes Maß an Transparenz. Was hier
im Deutschen Bundestag beraten, diskutiert und ent-
schieden wird, ist aufgrund der Medien, die über unsere
Arbeit berichten, transparent.

Das Grundgesetz hat aber auch deshalb eine so er-
folgreiche Geschichte, weil es puristisch ist. Wer das
Grundgesetz liest, ist elektrisiert von den wie in Stein
gemeißelten Sätzen: „Männer und Frauen sind gleichbe-
rechtigt.“ „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
„Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleis-
tet.“ – Diese klare Sprache ist für jeden nachvollziehbar
und verständlich.

Nur in sehr wenigen Fällen hat das Grundgesetz un-
bestimmte Zielaufträge formuliert. Das Grundgesetz hat
sich ganz bewusst aus tagesaktuellen Zielbestimmungen
herausgehalten. In der Verfassungsgeschichte wurde
häufig die Frage gestellt: Was hätte es in der Zeit des
schwierigen Wiederaufbaus, der Trümmerfrauen in West
und Ost, bedeutet, wenn wir Staatsziele über das hinaus,
was 1949 im Grundgesetz festgeschrieben wurde, be-
schlossen hätten? Indem das Grundgesetz dies nicht ge-
tan hat, hat es einen Beitrag geleistet zu dem, was der
Verfassungsrechtler Konrad Hesse einmal formuliert hat:
In einer Demokratie, die sich auch durch Meinungsstreit
auszeichnet und in der der Wettbewerb um die besseren
Ideen zum Parlamentarismus gehört, muss eine Verfas-
sung, muss ein Grundgesetz Voraussetzungen für Einheit
schaffen. Dies hat das Grundgesetz mit seinen puristi-
schen Formulierungen getan. Deswegen sind wir sicher
gut beraten, wenn wir diesen Purismus im Grundgesetz
auch für die Zukunft bewahren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Grundgesetz hat, ganz im Kontext der parlamen-
tarischen Demokratie, einen offenen politischen Prozess,
einen Wettbewerb um die besseren Ideen ermöglicht,
den es mit seinen Wertentscheidungen aber prägt.

Ein Beispiel, das gerade in der aktuellen Diskussion
von großer Bedeutung ist: Das Grundgesetz formuliert
keine Wirtschaftsverfassung, keine Wirtschaftsordnung.
Es gibt aber hierzu einige wesentliche, existenzielle
Aussagen in diesem Grundgesetz. Da ist zum einen die
Aussage des Grundgesetzes, dass die Bundesrepublik
ein sozialer Staat ist. Daraus entsteht die Verpflichtung,
für sozialen Ausgleich in unserer Gesellschaft zu sorgen
und für diejenigen da zu sein, die es schwerer haben und,
zumindest zeitweise, ihr Leben nicht aus eigener Kraft
gestalten können. Zu den existenziellen Aussagen gehö-
ren zum anderen aber auch jene zu Erbrecht, Eigentum
und Berufsfreiheit. Aus diesen Eckpfeilern ergibt sich
für uns heute fast folgerichtig das Modell der sozialen
Marktwirtschaft, das in dieser Verfassung zwar nicht
festgeschrieben, aber doch angelegt ist.

Es gab damals einen heftigen Streit um die soziale
Marktwirtschaft, und es waren nicht nur Sozialdemokra-
ten, die an mehr staatliche Ordnung dachten.


(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Gott sei Dank!)

– Ich hoffe, Sie sind auch heute nicht die Einzigen. –
Vielmehr wurde auch in unserer Union um eine Antwort
auf die Frage gerungen, ob die freiheitlich-soziale
Marktwirtschaft das richtige Modell ist oder nicht. Aber
mit Ludwig Erhard hatte die Union einen Vertreter, der
auf den richtigen Kurs geführt hat.

Bei allen aktuellen Problemen ist eines deutlich: Die
soziale Marktwirtschaft hat unserem Land zu Wohlstand
verholfen, und sie wird uns auch wieder aus dieser Krise
herausführen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Im Grundgesetz wurde eine dritte elementare Festle-
gung getroffen. Es wurde in einer Zeit erarbeitet, als
Deutschland geteilt war und von der Einheit noch mei-
lenweit entfernt schien. Dieses Grundgesetz hat sich an
alle Deutschen gerichtet, und es hat vor allem die deut-
sche Politik mit dem Auftrag versehen, die Wiederver-
einigung immer als Ziel zu haben.

Wir haben das Ziel der Wiedervereinigung nie aufge-
geben. Wir haben immer daran festgehalten, dass es nur
eine deutsche Staatsbürgerschaft gibt – nicht eine
westdeutsche und eine ostdeutsche. Dies war unsere
Umsetzung des Wiedervereinigungsgebots. Weil wir an
der einen deutschen Staatsbürgerschaft festgehalten ha-
ben – dies haben alle Kanzler der Union getan –, konn-
ten die Menschen aus der Botschaft in Prag und aus Un-
garn als Deutsche ohne Probleme nach Deutschland
einreisen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir wurden von manchen als Gestrige bezeichnet,
weil wir aufgrund unserer Überzeugung mit Hartnäckig-
keit an der einen deutschen Staatsbürgerschaft festgehal-
ten haben. Aber Wiedervereinigungsgebot und das Fest-
halten an der deutschen Staatsbürgerschaft hätten nicht
zum Ziel geführt, wenn nicht die Menschen in Ost-
deutschland selber diese Entwicklung erfolgreich herbei-
geführt hätten.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Oskar Lafontaine [DIE LINKE])


Das Grundgesetz mit seinen klaren Aussagen und wir
mit unserer Position mögen die Menschen in Ost-
deutschland ermutigt haben. Aber der Mut, auf die
Straße zu gehen und ein persönliches Risiko einzugehen
– 1989 zum zweiten Mal nach dem 17. Juni 1953 –, nö-
tigt mir unglaublichen Respekt und Dankbarkeit ab.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich komme noch einmal auf meine Eingangssätze zu-
rück. Ausschließlich wegen des Ereignisses, das sich in
diesem Jahr zum neunzehnten Mal jährt, können wir von
60 Jahren geglückter Demokratie und glücklicher ge-
schichtlicher Entwicklung in unserem Land sprechen.
Gerade deshalb haben die Menschen in den neuen Bun-






(A) (C)



(B) (D)


Volker Kauder
desländern auf dem Gebiet der ehemaligen DDR einen
so unschätzbar großen Anteil an unserer gemeinsamen
Erfolgsgeschichte.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Ich höre heute wie damals die Rufe auf der Straße:
„Wir sind das Volk!“ Mit diesem Ruf „Wir sind das
Volk!“ haben die Menschen in der ehemaligen DDR das
ausformuliert und gesagt, was in unserer Verfassung
steht, nämlich dass alle Gewalt vom Volke ausgeht.
Sehr bald – das muss man sich heute immer wieder vor
Augen führen, wenn man über bestimmte Entwicklun-
gen spricht – wurde aus dem Ruf „Wir sind das Volk!“
der Ruf „Wir sind ein Volk!“. Mancher wollte das da-
mals nicht hören. Mancher wollte die deutsche Einheit
so nicht verwirklicht sehen. Mancher von denen, die hier
sitzen, hatte keine Emotionen und kein Herz für das, was
die Menschen damals in ihren Rufen ausgedrückt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Diejenigen, die ich meine, sollten jetzt lieber ruhig sein,
um mich nicht noch mehr herauszufordern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wie bitte? Nein!)


Umso dankbarer sind wir dafür, dass damals die rich-
tigen Weichen gestellt und die richtigen Entscheidungen
getroffen wurden. Umso dankbarer sind wir für das, was
Helmut Kohl in dieser Zeit geleistet hat. Er ist deshalb
zu Recht der Kanzler der Einheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Grund-
gesetz, die Verfassung unseres Landes, ist, so schreibt
das Bundesverfassungsgericht in zwei denkwürdigen
Entscheidungen, weltanschaulich neutral, aber es ist
nicht werteneutral. Deshalb ist unsere Verfassung gera-
dezu dazu prädestiniert, in unserem Land Integration zu
ermöglichen. Sie ist weltanschaulich neutral und kultu-
rell offen, aber nicht werteneutral.

Mit dieser Aussage stellte das Bundesverfassungsge-
richt fest, dass das Grundgesetz für unsere Gesellschaft
einen Wertekanon festlegt, an den sich jeder zu halten
hat. Das wird auch an einer weiteren bemerkenswerten
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts deutlich.
Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich schon sehr
früh formuliert: Die Grundrechte als zentrale Wertent-
scheidungen gelten nicht nur im Verhältnis des Bürgers
zum Staat, sondern sie entfalten auch eine Drittwirkung
in unser gesamtes gesellschaftliches Leben, vor allem
natürlich dort, wo sich Starke gegen Schwächere durch-
setzen könnten. Die Drittwirkungsfunktion der Grund-
rechte hat selbst in das liberale Bürgerliche Gesetzbuch
Eingang gefunden. Es ist für uns selbstverständlich ge-
worden, dass Grundrechte nicht nur im staatlichen Be-
reich eine Rolle spielen, sondern dass diese Wertent-
scheidungen auch unser gesamtes gesellschaftliches und
privates Leben prägen.
Weil das so ist, gelten die Wertentscheidungen des
Grundgesetzes für jeden, der in diesem Land leben will.
Wenn wir wollen, dass die Wertentscheidungen des
Grundgesetzes auch in Zukunft Bestand haben und – um
noch einmal meinen Verfassungslehrer Konrad Hesse zu
zitieren – zur Bildung von Einheit in unserer Gesell-
schaft beitragen, dann dürfen wir nicht zulassen, dass es
in unserem Land Parallelgesellschaften und grundwerte-
freie Zonen gibt, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diesem Verfassungsgebot ist natürlich auch die Inte-
grationspolitik unterworfen. Ich bin dafür dankbar, dass
sich Menschen, die in diesem Land leben und hier
zusätzlich zu ihrer alten Heimat im Herzen eine neue
Heimat gefunden haben, nach genauer Prüfung bereit er-
klären, als Abschluss eines gelungenen Integrationspro-
zesses die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen.
Frau Bundeskanzlerin, für den Einbürgerungsakt, der
in dieser Woche stattgefunden hat und durch den die
Würde dessen, was hier geschieht, in besonderer Weise
betont wurde, bin ich dankbar.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Heute sitzen einige Bürgerinnen und Bürger, die in
den vergangenen Tagen Deutsche geworden sind, auf der
Tribüne. Ich sage Ihnen: Sie alle, jede und jeder von Ih-
nen, sind herzlich willkommen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, ja! Das sagen ausgerechnet Sie!)


Wir freuen uns, dass Sie in unserem Land leben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE])


Meine sehr verehrten Damen und Herren, 60 Jahre
Bundesrepublik Deutschland, 60 Jahre einer Erfolgsge-
schichte, 60 Jahre, auf die die Deutschen zum ersten Mal
in ihrer Geschichte mit Recht stolz sind und mit denen
sie zufrieden sind. Wir alle haben in diesen 60 Jahren
miteinander etwas erreicht: eine moderne, geachtete De-
mokratie, Voraussetzungen für den Wohlstand, auch jetzt
in schwieriger Zeit. Wir alle haben dies erreicht, die Bür-
gerinnen und Bürger mit ihrem Einsatz, der Deutsche
Bundestag und die Regierungen mit ihrer Arbeit.

Es ist nicht immer einfach in einer repräsentativen
Demokratie. Wir haben da nicht die Möglichkeit, uns
vor Entscheidungen zu drücken und zu sagen, das soll
eben mal das Volk entscheiden. Damals hat man sich mit
klarer Mehrheit aus SPD-Vertretern, aus CDU/CSU und
FDP für diese repräsentative Demokratie entschieden,
weil der Impetus des Grundgesetzes heißt, Einheit zu
schaffen. Auch dies ist eine Besonderheit unseres Sys-
tems: immer darum zu ringen und sich zu bemühen, in
wichtigen, zentralen Fragen unserer Gesellschaft – wie
gestern im Deutschen Bundestag beim Lebensschutz –
nicht bloß mit Ja oder Nein zu stimmen, sondern Kom-






(A) (C)



(B) (D)


Volker Kauder
promisse zu finden. Diese Kompromisse zu finden, ist
Wesenselement der repräsentativen Demokratie, die wir
uns deshalb auch so erhalten sollten, weil sie erfolgreich
war.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Diese 60 Jahre Grundgesetz, 60 Jahre Demokratie
sind für uns kein Anlass, einfach zufrieden zurückzubli-
cken und uns auszuruhen, sondern sie sind für uns An-
sporn weiterzumachen. Aber lassen Sie es mich etwas
leicht pathetisch formulieren: Sie sind für uns auch
Kraftquelle aus den gemachten Erfahrungen, dass wir
mit den Grundlagen, die das Grundgesetz geschaffen
hat, auch schwierige Aufgaben mit Mut und Zuversicht
bewältigen können. Genau dies ist jetzt in der konkreten
Situation von uns auch gefordert, liebe Kolleginnen und
Kollegen.

Wir haben in 60 Jahren etwas errungen, was wir uns
für die Zukunft bewahren müssen und sollten: Einigkeit
und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der SPD und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1622200200

Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Wolfgang

Gerhardt für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP):
Rede ID: ID1622200300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Auf die Frage nach der entscheidenden
Bedeutung des Grundgesetzes hat Theodor Heuss ein-
mal geantwortet, dass sie für ihn in der Versöhnung der
deutschen politischen Eliten mit den parlamentarischen
Systemen des Westens liege. Ganz ähnlich hat sich im
Übrigen nach meiner Erinnerung auch Carlo Schmid
eingelassen – so, als wäre das ein Schlusskapitel in dem
Buch des großen Historikers Heinrich August Winkler
„Der lange Weg nach Westen“.

Theodor Heuss hat das aus tiefer Erfahrung aus der
Weimarer Republik und ihrem Scheitern gesagt, in der
eine Gesellschaft weder willens noch in der Lage war,
eine Reichsverfassung zu verteidigen, und schließlich
diesem totalitären Angebot unterlag, das Ralf
Dahrendorf so prägnant beschrieben hat: auf der Seite
der Nazis mit Bindung und Führung und auf der Seite
der Stalinisten – so drückte er sich aus – mit Bindung
und Hoffnung. Die Gesellschaft hat das totalitäre Poten-
zial überhaupt nicht erkannt und ist am Ende trotz einer
freiheitlichen Verfassung gescheitert.

Das, was mit dem Grundgesetz nach dem einmaligen
deutschen Abweichen vom Pfad jeglicher Zivilisation
versucht worden ist, war im Kern der Versuch einer not-
wendigen neuen Selbstvergewisserung, die man doku-
mentieren musste und mit der man erneut um Anerken-
nung in der Welt nachgesucht hat, dieses Mal endlich
zivil und human und nicht totalitär und imperial. Das ist
im Kern die Bedeutung dieses Werkes.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das war eine gute Lösung. Das Grundgesetz ist die beste
Visitenkarte nach innen und nach außen. Es gibt keine
bessere.

Das Grundgesetz gibt uns die nötige – der Kollege
Kauder hat das gesagt – kraftspendende Identität,
wenn wir sie annehmen wollen. Es erwartet den Bürger
und nicht den bequemen Untertan. Im Grundgesetz sind
die unveräußerlichen Rechte niedergelegt, die wir seit
Immanuel Kant unter dem Begriff der Menschenwürde
kennen. Es hat eine freiheitliche Gesellschaft grundge-
legt, die Joachim Fest als eine Gesellschaft beschreibt,
die sich auf Voraussetzungen gründen muss, die manch-
mal gegen die menschliche Natur sind, wenn sie frei
bleiben will. Das Grundgesetz – das gilt für jede Verfas-
sung – muss auch Mechanismen enthalten, die eine Ge-
sellschaft zügeln. Dass eine Mehrheit nicht alles darf
und alles kann, gehört zu den Voraussetzungen, die im
Grundgesetz normiert sind.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb weiß das Grundgesetz bei allen Freiheits-
rechten auch, dass mit Freiheit sorgfältig umgegangen
werden muss. Sie kann nicht zügellos genutzt werden,
und das muss eine Gesellschaft begreifen. In diesen
Punkten liegt, so schreibt der leider schon verstorbene
Joachim Fest, das eigentümliche Pathos einer freiheitli-
chen Ordnung.

Das Grundgesetz hat ein Gespür dafür, dass Demo-
kratie zerbrechlich ist und dass Toleranz nicht mit
Gleichgültigkeit verwechselt werden darf.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es sichert nach den Katastrophen in unserer Geschichte
eine Art zivilisatorischer Bestände und sagt uns: Ihr
dürft sie nicht dem Amüsierbetrieb freigeben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist eine wichtige Aufforderung, die sich an alle poli-
tischen Gruppierungen richtet.

Das Grundgesetz hat sich ohne jeden Zweifel be-
währt. Es hat sich durchgesetzt, und zwar auch – auch
das sage ich an dieser Stelle – durch die kluge und über-
zeugende Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
richts, das der Parlamentarische Rat zu Recht an die
Spitze der dritten Gewalt gesetzt hat.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der CDU/ CSU und der SPD)


Wir sollten immer sehen, dass neben dem Grundgesetz
die dritte Gewalt in Gestalt des Bundesverfassungsge-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Wolfgang Gerhardt
richts in der politischen Geschichte unseres Landes
Maßstäbe gesetzt hat.

Das Grundgesetz hat nahezu vorausschauend für all
das, was sich später ereignet hat, eine kluge Grundlage
gegeben: Es hat uns eine Verfassung für die notwendige
Integration in Europa gegeben; es hat uns eine Verfas-
sung für die Zusammenarbeit im Transatlantischen
Bündnis, für den Eintritt in die NATO, gegeben; es hat
uns eine Verfassung für die Verträge mit den ost- und
mittelosteuropäischen Nachbarn der Bundesrepublik
Deutschland gegeben, und es war auch gegen den Ver-
such der Überdehnung der Freiheit im Namen der Frei-
heit gewappnet, die in einem bestimmten Abschnitt un-
ser Land heimgesucht hat; wir wissen alle, wovon ich
spreche.

Das Grundgesetz war weitsichtig und hat den Weg
zur Wiedervereinigung Deutschlands immer offen ge-
halten. Der Brief Walter Scheels zum Moskauer Vertrag,
der diese Option nach langen Verhandlungen, auch mit
Egon Bahr, ausdrücklich zum Gegenstand des Vertrags-
werks machte, hat gezeigt, dass das nicht nur ein Lippen-
bekenntnis war.

Das Grundgesetz war immer eine Einladung an
18 Millionen Deutsche. Es war immer eine ausgestreckte
Hand. Diese 18 Millionen können stolz darauf sein, dass
sie durch eigene Aktivität die Mauer vom Osten aus ein-
gedrückt haben, um diese ausgestreckte Hand zu ergrei-
fen. Schon deshalb sage ich: Das Grundgesetz ist nie-
mandem übergestülpt worden. Es war eine Hoffnung für
Millionen in der Geschichte unseres Landes.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Als der bedeutende Historiker Fritz Stern in der
Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deut-
schen Buchhandels bekam und sich in einer Dankesrede
äußerte, hat er einen ganz einfachen Satz gesagt. Er be-
richtete von Schwierigkeiten aus seiner persönlichen
Biografie, aufgrund derer er sich mit Deutschland erst
spät versöhnt hatte. Er sagte ganz einfach: Ein bisschen
mehr Freude über das Erreichte täte uns gut. – Mehr ist
dazu gar nicht zu sagen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt Verfassungen, die mehr soziale Grundrechte
niedergelegt haben, manche im besten Willen, manche
aber auch in bewusster Verachtung der bürgerlichen
Freiheitsrechte. Die Verfassungen, die im besten Willen
soziale Grundrechte niedergelegt haben, sind irgend-
wann in schwierige Situationen gekommen, weil Staaten
– bei allem guten Willen – nie mehr für die Menschen
tun können, als die Menschen für sich selbst tun könnten
und sollten.

Manche Staaten haben versucht, soziale Grundrechte
in einer Art und Weise zu verwirklichen, durch die per-
sönliche Freiheitsrechte nahezu zerstört und erdrückt
wurden. Deshalb sage ich an dieser Stelle: Es ist und
bleibt Unrecht – und es muss auch so genannt werden
dürfen –, wenn man sich im Namen von Gerechtigkeit
und Solidarität derart zum Herren über das Schicksal
von Menschen macht, wie es das politische System der
DDR getan hat.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es tut fast körperlich weh, wenn man hört, mit wel-
chen Argumenten in der letzten Zeit die Grenzen zwi-
schen Freiheit und Unfreiheit in der Bundesrepublik
Deutschland durch Diskussionsteilnehmer verwischt
worden sind. Es mag der jeweiligen politischen Bewer-
tung überlassen bleiben, zu entscheiden, ob an dem ei-
nen oder anderen Punkt im Lauf der Geschichte Ergän-
zungen des Grundgesetzes notwendig bleiben und ob sie
notwendig waren. Allerdings gilt es, ein Erfordernis an
alle Wünsche des Hinzufügens zu stellen: Sie sollten
sich am Maßstab der Schlichtheit und Klarheit des
Grundgesetzes orientieren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb scheint mir das durchaus diskussionswürdige
Vorhaben der Schuldenbremse jedenfalls stilistisch noch
kein Gesamtkunstwerk zu sein, das sich nahtlos einpas-
sen wird.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mit Renaissance und Humanismus haben sich in
einem Teil der Welt freiheitliche Lebensweisen und frei-
heitliche Verfassungen durchgesetzt. Aber moderne
Setzungen, so sagt Udo Di Fabio, der Bundesverfas-
sungsrichter, sind auch gefährdet. Es ist wahr: Unser
Menschen- und Weltbild ist kulturell und religiös wo-
möglich voraussetzungsreicher, als wir rationalen Men-
schen es uns selbst immer versichern. Es gibt alte
Gegengewichte zum Neuen – das stellen wir fest –, die
wir in ihrer Heftigkeit nach dem Zusammenbruch der al-
ten bipolaren Weltordnung so gar nicht erwartet hatten.
Sie sind aber da. Es gibt Menschen, die mit solch einer
Gewissheit ihre Positionen vertreten, dass diejenigen,
die ihnen die Wahrheit sagen wollen, so sagt ein altes
chinesisches Sprichwort, ein schnelles Pferd brauchen.

Die freie Entfaltung von Menschen braucht einen
Staat, der Frieden und Sicherheit, Meinungsfreiheit und
Versammlungsfreiheit, all diese unersetzlichen Voraus-
setzungen für menschliches Zusammenleben sichern
muss. Sicherheit und soziale Sicherheit sind die Voraus-
setzungen für Teilhabe an der Freiheit. Unser Grundge-
setz macht uns gegen Feinde der Freiheit nicht wehrlos.
Vertretern einer konfrontativen Weltsicht müssen wir
noch längst nicht die Bühne überlassen, in welchen Kos-
tümen sie auch daherkommen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Wolfgang Gerhardt
Eines gilt aber: Ein Rechtsstaat wird niemals in der
Auseinandersetzung mit seinen Gegnern seine eigene
ethische Überlegenheit aufs Spiel setzen dürfen. Das
war der Fehler, den die Führungsmacht Vereinigte Staa-
ten von Nordamerika im politischen Programm des Wes-
tens gemacht hat und der ihrem Ansehen weltweit ge-
schadet hat. Wir haben ein massives Interesse, dass der
44. amerikanische Präsident die Chance ergreift, dieses
Programm zu ändern, weil wir als Westen nicht eine Art
politische Geografie sein wollen, sondern der Welt eine
Art politisches Programm anbieten und beispielgebend
sein wollen.


(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es gibt keinen besseren Satz als den, den die Harvard
Law School ihren Graduierten in die Diplome schreibt:
„to think of law as wise restraint that makes man free.“
Es geht um die Selbstdisziplinierung – nicht mehr und
nicht weniger – freiheitlicher Gesellschaften.

Unser weltanschaulich neutraler Staat – Herr Kollege
Kauder hat das angesprochen – schützt sich selbst vor
Überhöhung durch eine Religion und schützt die Reli-
gionen im wohlverstandenen Interesse durch eigene
Überhöhung vor Übernahme des Staates. Er ist in seiner
weltanschaulichen Neutralität niemals Gegner von reli-
giösen Bekenntnissen. Er ist auf viele religiöse Aktivitä-
ten – nehmen wir die Kirchen – in der Gesellschaft ange-
wiesen. Er hat aber das legitime Recht, die Authentizität
religiöser Bekenntnisse auf ihre Übereinstimmung mit
Menschenrechten zu hinterfragen, an die er auch selbst
gebunden ist.


(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich sage das deshalb, weil man in unserer Gesell-
schaft manchmal eine irritierende Unsicherheit spürt,
wie man damit umgeht. Es ist für uns völlig klar, dass
niemand hinter einem religiösen Bekenntnis mit An-
spruch auf eine Authentizität die Verletzung von Men-
schenrechten verstecken kann.


(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Es muss klar sein, dass Menschenrechte nicht umgangen
werden dürfen.

Der frühere Limburger Bischof Franz Kamphaus hat
das mit Blick auf die eigene Kirchengeschichte selbstkri-
tisch festgestellt: Wir sollten nicht überheblich sein.
Auch die katholische Kirche habe im Grunde bis zum
Zweiten Vatikanischen Konzil gebraucht, bis sie das be-
griffen hätte, so sagt er. Deshalb müssten wir etwas Ge-
duld mit anderen haben. Er hat einen Satz geprägt, der
fantastisch genau die Sachlage beschreibt: Religionen
sollen Gott verehren, aber sie sollen nicht selbst Gott
spielen. – Mehr ist dazu überhaupt nicht zu sagen.


(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn eine Gesellschaft sich selbst nicht mag, dann
kann sie niemanden integrieren. Deshalb sind ein norma-
les Selbstbewusstsein und ein Stolzsein auf das, was in
der Bundesrepublik Deutschland erreicht worden ist,
richtig. Wir müssen immer wissen, wie viel Verbindlich-
keiten wir uns leisten können, zu verlieren, und wie viel
Gemeinsamkeiten wir immer neu schaffen müssen. Des-
halb ist die Verfassung auf eine reife Mentalität der Ge-
sellschaft angewiesen. Wenn die Verfassung nur ge-
schrieben wäre und wir uns nicht danach richten würden,
bekämen wir Probleme.

Ich komme zum Schluss. In einer Zeit, in der mehr als
eine Generation den Nationalsozialismus gar nicht mehr
erlebt hat und die den Stalinismus nur aus Geschichtsbü-
chern kennt, müssen wir immer wieder an die nächste
Generation weitergeben, wo die Kernpunkte, der Kom-
pass einer freiheitlichen Gesellschaft liegen. Manche
machen Europa zu einer nebensächlichen Angelegen-
heit. Sie wissen gar nicht mehr, warum diese europäi-
sche Politik entstanden ist. Für viele ist sie zu kompli-
ziert. Das ist verständlich. Die ältere Generation hat zwei
Hyperinflationen erlebt. Der Abschied von der D-Mark
war schon eine gewaltige Anstrengung, die niemand un-
terschätzen sollte.

Kritik und Einwände sollten eines berücksichtigen
– ich sage das mit Blick auf die Wahl, die vor uns steht,
ohne parteipolitisch zu werden –: In keinem Abschnitt
der deutschen Geschichte hat es eine solche Leistung des
Poolens von Souveränität, des Verzichtens auf nationale
Souveränität in manchen Bereichen gegeben, um nicht
wieder einen Rückfall in alte imperative Politiken, in
Politik gegeneinander, zu bekommen. Wir haben jetzt
60 Jahre des Friedens, eine unglaublich lange Periode,
wie sie in den letzten zwei Jahrhunderten kaum eine Ge-
neration in Deutschland erlebt hat. Selbst wenn Europa
nicht mehr gebracht hätte als das, müsste man sagen:
Schon das hätte gereicht.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Zusammenarbeit in Europa ist nicht mehr eine
reine Option, sie ist eine unmittelbare und zwingende
Notwendigkeit, es gibt zu ihr keine Alternative. Wir soll-
ten jedenfalls dabeibleiben, mit Kooperation und Inte-
gration als Charakterzüge unserer Verfassung und auch
als Charakterzüge der deutschen Außenpolitik.

Das Grundgesetz bleibt, was es war und ist: ein Kom-
pass für die Zukunft einer freiheitlichen Gesellschaft. Es
liegt an uns, diesen Kompass zu nutzen. Wir, die Freien
Demokraten, wollen das tun.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Anhaltender Beifall bei der FDP – Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1622200400

Die Kollegin Dr. Däubler-Gmelin ist nächste Redne-

rin für die SPD.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD):
Rede ID: ID1622200500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

alle sind uns, glaube ich, bewusst, dass die heutige De-
batte keine unserer normalen, tagespolitischen Debatten
ist. Das haben schon die Reden meiner Vorredner ge-
zeigt. Ich möchte hinzufügen, dass der Rückblick auf
60 Jahre Grundgesetz und auf 60 Jahre Bundesrepublik
Deutschland – was ja eine lange Zeit ist – für unsere
Kinder und Enkel einen Blick in die Geschichte bedeu-
tet, für die Angehörigen meiner Generation aber einen
Blick auf unser ganzes Leben. Das beeinflusst natürlich
das, was wir heraussuchen und hier herausstellen, so
auch meine Rede.

Ich bin im Gründungsjahr der Bundesrepublik
Deutschland in die Schule gekommen. Ich erinnere mich
noch genau an das sehnlichst erwartete Carepaket, dem
ich eine Schiefertafel und eine Tafel Schokolade – was
mir immer in Erinnerung bleiben wird – verdanke, und
auch an die Schulspeisung. Und ich habe noch gut in Er-
innerung, wie das damals war, wenn eine ausgebombte
Mutter mit vier Kindern in die Wohnung anderer Leute
eingewiesen wurde, und was es bedeutete, die Kinder
sattzumachen, wenn der Vater nicht da war, gefallen
oder, wie meiner, in Gefangenschaft war.

Seit dieser Zeit – lassen Sie mich das sagen – habe ich
unglaublichen Respekt vor der Leistung der Genera-
tion meiner Mutter. Die Frauen haben ja nicht nur als
Trümmerfrauen gearbeitet, sie haben auch die Familie
zusammengehalten und damit die Grundlage für den
Wiederaufbau, übrigens in ganz Deutschland, gelegt.


(Beifall im ganzen Hause)


In der Schule haben wir dann vieles über die Eckpfei-
ler der neuen Gesellschaftsordnung, des neuen Staates
gelernt. Wir haben gelernt – der Kollege Kauder hat es
ausgeführt –, was Demokratie ist, was Rechtsstaatlich-
keit ist, warum Menschenrechte so wichtig sind und wa-
rum es so wichtig ist, dass alle staatliche Gewalt, ohne
Lücke, an sie gebunden ist.

Ich hatte, in Tübingen aufgewachsen, das Glück, rela-
tiv frühzeitig Persönlichkeiten kennenzulernen, die na-
türlich unser Denken und unser Leben geprägt haben. Da
war Carlo Schmid, der so viele Beiträge zu unserem
Grundgesetz geleistet hat, und da war Theodor Heuss,
der nie müde wurde, es zu leben und es zu erläutern, und
der durch seine Sprache – auch er sprach Schwäbisch
mit deutschem Akzent –


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


zusätzlich Identifikation geschaffen hat.

In jener Zeit traf man aber nicht nur solche Persön-
lichkeiten, man traf auch viele, die in der neuen Zeit
noch nicht angekommen waren. Das will ich an einem
Beispiel deutlich machen: Ich habe mich schon immer
dafür interessiert, was das Auswärtige Amt so tut.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist auch gut so!)


Als ich anfing, zu studieren, ging ich deshalb in eine
Vorlesung, in der ein damals schon ältlicher Vortragen-
der Legationsrat Erster Klasse die Tätigkeiten und die
Berufsmöglichkeiten im Auswärtigen Amt vorstellte.
Selbstverständlich habe ich hinterher gefragt, wie das ei-
gentlich mit den Chancen für Frauen sei, und bekam die
Antwort: Frauen nehmen wir nicht, sie gehören da nicht
hin. Werden Sie lieber Erzieherin!


(Heiterkeit im ganzen Hause – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das ist wie heute!)


Da war sie wieder: die alte Rolle. Sie können sich vor-
stellen, wie „gut“ mir das gefallen hat, übrigens nicht
nur, weil ich fand, dass der Mann in der neuen Zeit noch
nicht angekommen war, sondern schlichtweg auch des-
halb, weil mich auch diese Missachtung der Erziehungs-
leistung unheimlich geärgert hat.


(Beifall im ganzen Hause)


Geärgert hat mich auch, dass die Auseinandersetzung
um die Gleichberechtigung von Männern und
Frauen, die ja wirklich erkämpft werden musste – auch
im Parlamentarischen Rat – und bitter erkämpft wurde,
ganz offensichtlich völlig an ihm vorbeigegangen war.
Elisabeth Selber und ihre Mitstreiterinnen wollten eben
nicht mehr die alte, unverbindliche Formulierung der
Weimarer Reichsverfassung, und sie setzten sich damit
schließlich durch, obwohl sie nur vier Frauen waren,
weil eben die Frauen aus der Generation meiner Mutter
damals trotz ihrer Belastung gesagt haben: „Das wollen
wir jetzt endlich einmal wissen, und gleiche Rechte wol-
len wir haben“, und das mit massenhaften Postkarten-
aktionen auch durchsetzten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mich persönlich hat das natürlich eher angespornt;
das ist völlig richtig. Ich glaube, hier ist das Wort, das
Wolfgang Gerhardt mit völligem Recht gesagt hat:
„Freude über das Erreichte“, wirklich angebracht. Wir
können sehen, dass Frauen heute weitgehend den Platz
haben, der ihnen zukommt, auch wenn dort noch eine
Menge zu tun ist.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Bei uns ist das so!)


Die Gewöhnung an die Werte und Maßstäbe des
Grundgesetzes hat insgesamt aber schon noch ein biss-
chen länger gedauert. Ende der 60er-Jahre war ich zur
Ausbildung beim Oberlandesgericht, und ich musste
dort natürlich Revisionsfälle bearbeiten. Dafür zog ich
die Maßstäbe und Grundwerte des Grundgesetzes heran.
Was hörte ich von meinem Ausbilder? – Mir wurde ge-
sagt: Lassen wir doch dieses neumodische Zeug, wir hal-
ten uns lieber an das bewährte BGB.

Wenn man sich anschaut, wie die Gerichtsurteile in
den 50er- und 60er-Jahren manchmal aussahen, dann
geht einem heute der Hut hoch. Ich will nur an Folgen-
des erinnern:

Da passte Eltern der Umgang ihrer Tochter mit einem
Jungen nicht; sie bestraften die Tochter mit Essensent-
zug; sie banden sie ans Bett und an einen Stuhl fest; sie






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Herta Däubler-Gmelin
schnitten ihr die Haare so unregelmäßig kurz, dass es sie
entstellte. Und zu alledem sagte der BGH: Das sei vom
elterlichen Züchtigungsrecht umfasst. Warum war das
so? Das Gericht sagte: Mit 16 Jahren sei man der Strafe
der Eltern unterworfen, und wenn man entgegen dem
Willen der Eltern mit einem Jungen Kontakt pflegen
wolle, dann sei man sittlich verdorben.

Dieses Züchtigungsrecht gibt es heute nicht mehr,
sondern heute gibt es die elterliche Verantwortung. Die
Stellung der Kinder hat sich grundlegend verändert, und
ich denke, wir sollten das auch durch Kinderrechte im
Grundgesetz dokumentieren.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich auch an den schrecklichen
§ 175 StGB erinnern, der damals für verfassungsgemäß
gehalten wurde. Dieser Paragraf war eine Quelle von
Ungerechtigkeit, von Diskriminierung, von menschli-
chem Leid und von ständiger Erpressbarkeit. Gott sei
Dank haben wir auch den abgeschafft. Auch deswegen
können wir Freude über das Erreichte empfinden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)


Schauen Sie sich auch einmal an, in wie vielen Ge-
richtsprozessen gerade in den 50er-Jahren Nazitäter ge-
schont und Opfer zum zweiten Male diskriminiert wur-
den. Auch das gehört in die Kette der Erinnerung, die
wir bewahren müssen, um Gefahren zu erkennen, die
jetzt nicht drohen, die aber auch nie wieder drohen dür-
fen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den skandalö-
sen Umgang mit den Mördern von Dietrich Bonhoeffer.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der FDP)


Eindrucksvolle Persönlichkeiten wie Richard Schmid
oder auch der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer
hatten es schwer. Die Rebellion in diesem Bereich be-
gann eigentlich erst so richtig, als es das Kammergericht
Berlin Mitte der 60er-Jahre übertrieben hatte und auch
noch Freislers Volksgerichtshof den Charakter eines de-
mokratischen, rechtsstaatlichen, unabhängigen Gerichtes
zubilligen wollte. Das war dann wirklich zu viel. Damals
kam es zur Kritik durch die Öffentlichkeit und auch zu
den Demonstrationen.

Allerdings wissen wir auch, dass der Bundesgerichts-
hof bis ins Jahr 1995 brauchte, um das „folgenschwere
Versagen“, wie er es nannte, der bundesdeutschen Straf-
justiz bei der Auseinandersetzung mit der NS-Justiz zu
kritisieren. Dann allerdings hat er das mit klaren und ein-
drucksvollen Worten getan, wenn auch möglicherweise
von manchem Leser der bittere Unterton bemerkt wird,
dass er das aus Anlass der Verurteilung eines DDR-Rich-
ters getan hat.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Ja!)


Das war korrekt, aber die Entscheidung zur Nazi-Justiz
war spektakulär und bemerkenswert.

Liebe Kollegen, heute wissen wir alle, dass das
Grundgesetz anerkannt ist, wir teilen die Einschätzung
Gustav Heinemanns, dass das Inkrafttreten des Grundge-
setzes eine Sternstunde der Geschichte oder auch, wie
andere es nennen, ein Glücksfall war. Dies wurde aber
nicht immer so gesehen: Was Ernst Friedländer am
19. Mai 1949 in der Zeit geschrieben hat, macht deut-
lich, unter welch unglaublich beißender Kritik das
Grundgesetz 1949 in Kraft gesetzt wurde. Er zitierte
nicht nur die Kritik von „Grundgesetz gleich Schundge-
setz“, vom Parlamentarischen Rat als einer Versamm-
lung von Langweilern, das Grundgesetz sei langatmig,
und der Mann auf der Straße habe andere Sorgen, son-
dern auch von Kautschukbegriffen – von wegen
Schlichtheit und Klarheit –, und es wurde der Vorwurf
erhoben, das Grundgesetz sei „keine Kreation schöpferi-
scher Fantasie“. Die Verfassungsexperten seien sowieso
nicht die Repräsentanten der Bevölkerung gewesen.

In der Sache selber hat man auch die Unabänderlich-
keit der Grundsatzentscheidung für die Menschen-
rechte und den Staatscharakter kritisiert, weil die
Mehrheit ganz bewusst nicht daran rütteln können
sollte. Friedländers Folgerung war: „Papier ist gedul-
dig“, aber auch: Geben wir dem Grundgesetz und denen,
die es anwenden müssen, eine Chance zur Bewährung!

Diese Bewährung hat bis heute stattgefunden, auch
wenn viele das am Anfang noch nicht erkannt haben.
Das gilt für das Grundgesetz, aber auch für die Bewäh-
rung durch die Ausfüllenden und Handelnden.

Zehn Jahre später – ich habe die Festveranstaltung
1959 vor Augen – gab es immer noch große Zweifel.
Damals hat Bundeskanzler Adenauer es geradezu ent-
schuldigt, dass es Mängel gebe, und so das Grundgesetz
verteidigt. Ich will Ihnen zusätzlich ein Zitat des damali-
gen Festredners Jahrreiß nicht vorenthalten. Er stellte
fest, der Parlamentarische Rat sei „von seinem eigentli-
chen Auftrag abgewichen“. Er habe sich nämlich davon
„gelöst, ein bloßes Organisationsstatut zu schaffen“, und
„wie in einem Rausch“ sei er „darüber hinausgegangen,
um sich dann doch vor der größeren, der weiteren Auf-
gabe des Vollverfassungsgebens als zu schwach zu er-
weisen“.

Das ist ein bisschen kompliziert ausgedrückt, aber
eindeutig ein Verriss.


(Heiterkeit – Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Richtig!)


Was hat sich bis 1969 geändert, dem Jahr, ab dem
dann das Grundgesetz als Sternstunde und Glücksfall be-
zeichnet wurde? Ich glaube, dass wir nicht vergessen
dürfen, dass in den 60er-Jahren ein erheblicher und
signifikanter Aufbruch stattgefunden hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Herta Däubler-Gmelin
Das mag manchem heute nicht passen. Mancher mag die
Verirrungen und Verbrechen sehen wollen, die einige be-
gangen haben. Mancher mag nur sehen, was es an Illu-
sionen oder Fehleinschätzungen gegeben hat. Richtig ist
aber, dass in den 60er-Jahren durch eine neue, in Demo-
kratie und Rechtsstaatlichkeit erzogene Generation ein
Aufbruch angestoßen wurde, dass es einen Aufbruch in
der Gesellschaftsordnung gegeben hat und dass man die
Maßstäbe des Grundgesetzes sehr viel ernster nahm.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mich, die ich damals auch demonstrierte, hat damals
Gustav Heinemann unglaublich beeindruckt, mit einem
Bild, das er damals gezeichnet hat. Es war die Zeit der
Osterunruhen 1968. Sie erinnern sich sicherlich: Martin
Luther King war umgebracht worden, und auf Dutschke
war geschossen worden. Es gab gewalttätige Krawalle
und Zerstörungen in Berlin, die selbstverständlich heftig
kritisiert wurden, zum Teil auch sehr einseitig. Gustav
Heinemann hat gegenüber denjenigen, die kritisiert ha-
ben, ein Bild geprägt, das aber gleichzeitig auch an die
Demonstrierenden gerichtet war. Er hat gesagt, wer in
allgemeinen Vorwürfen „mit dem Zeigefinger auf den
oder die vermeintlich verantwortlichen Anstifter oder
auch politisch Verantwortlichen“ zeige, der solle beden-
ken, dass „dabei drei Finger seiner Hand auf ihn selber“
zeigten. Ich glaube, besser kann man nicht ausdrücken,
was im neuen Grundgesetz mit Demokratie gemeint war.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Dazu gehört immer die Verantwortlichkeit der Han-
delnden. Dazu gehört aber genauso die Verantwortlich-
keit derjenigen, die mitgestalten sollen, die wählen. Die
Bürgerinnen und Bürger dürfen nicht nur zuschauen und
hinterher maulen, sondern müssen sich engagieren und
einbringen. Nicht umsonst hat Gustav Heinemann im-
mer davon gesprochen, dass unser „Grundgesetz ein gro-
ßes Angebot“ für Meinungsfreiheit sowie unterschiedli-
che Auffassungen und Religionen – das wurde hier
schon dargelegt; das ist völlig richtig – darstellt. Er hat
auch darauf hingewiesen, dass der einzelne Bürger und
die einzelne Bürgerin Instrumente in der Hand haben,
die sie befähigen, eigene Rechte durch Demonstrationen
und Partizipation in Parteien, aber auch durch Petitionen
und auf juristisch-gerichtlichem Weg durchzusetzen.

Über die segensreiche Rolle des Bundesverfassungs-
gerichts ist heute schon gesprochen worden. Wenn man
das fortführt, Herr Gerhardt, und schaut, wie viele gute
Ideen und Maßstäbe des Grundgesetzes durch Verfas-
sungsbeschwerden der Bürger entstanden sind und in un-
sere Lebenswirklichkeit eingebracht wurden, dann zeigt
dies die unglaublich wichtige Bedeutung des Instru-
ments der Verfassungsbeschwerde. Beispiele hierfür rei-
chen von der Stellung der Frau über die Stellung der
Kinder bis in die jüngste Zeit, in der es um Fragen be-
treffend den Persönlichkeitsschutz und den Datenschutz
geht.

(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Das dokumentiert aber auch: Im Grundgesetz wird poli-
tische Macht als Vollmacht, wie wir Juristen das aus-
drücken, verstanden, und zwar als inhaltlich und zeitlich
gebundene Macht. Das Grundgesetz meint eben nicht
politische Macht, die Bürgerinnen und Bürger gegenüber
„denen da oben“ ohnmächtig werden lässt, mit dem
Empfinden: Wir können sowieso nichts machen. Das ist,
glaube ich, eine ganz wichtige Feststellung, die wir in
Zukunft besonders berücksichtigen müssen. Neben der
Partizipation ist es die Machtbegrenzung, die als Ele-
ment unserer Verfassung und damit unserer Gesell-
schaftsordnung für die Weiterentwicklung unserer Ge-
sellschaft und unserer Rechtsordnung ganz besonders
wichtig ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Lassen Sie mich mit Blick auf das, was von Herrn
Gerhardt schon angesprochen wurde und mir unter ei-
nem etwas anderen Blickwinkel besonders wichtig zu
sein scheint, schließen. Eine der wirklich genialen
Grundentscheidungen von 1949 war – diese Entschei-
dung hat sich nicht nur bewährt, sondern muss auch
Maßstäbe für die Zukunft setzen; es war eine großartige
Leistung –, die Gesellschaftsordnung und die Politik,
aber auch die Rechtsordnung der neuen Bundesrepublik
Deutschland in die der zivilisierten Völkergemeinschaft
einzuordnen. Das war in der Tat eine richtig gute, eine
unglaublich wichtige Grundentscheidung; dazu gehört
auch das Verbot des völkerrechtswidrigen Angriffskrie-
ges; ich hoffe, dass Deutschland helfen kann, die Anti-
aggressionskonvention im Rahmen des Internationalen
Strafgerichtshofs durchzusetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Wichtig ist die Entscheidung, dass internationales
Recht auch unser Recht ist und dass internationales
Recht und internationale Gerichtsbarkeit sowohl in Eu-
ropa als auch beim Internationalen Strafgerichtshof nicht
nur für andere, sondern auch für uns gelten. Internationa-
les Recht darf nie nur Recht für andere sein, genauso we-
nig wie die internationale Gerichtsbarkeit. Für diesen
Gedanken müssen wir bei Freunden werben; denn erst
mit einer solchen Einordnung, einer wertegebundenen
Macht, der Einhaltung der Menschenrechte und vor allen
Dingen mit der Förderung von Partizipation lässt sich
eine menschenwürdige Gesellschaft erreichen. Etwas
weniger vollmundig ausgedrückt: So können wir einer
menschenwürdigen Gesellschaft einen Schritt näher-
kommen, die wir auch auf globaler Ebene wollen. Da
müssen wir hin. Da wollen wir hin.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)


Ernst Bloch, dessen Vorlesungen ich in Tübingen be-
suchen konnte und der lange in der damaligen DDR ge-
wirkt hat, bevor er gehen musste, hat einmal gesagt: Er-
innerung taugt eigentlich nur, wenn wir uns gleichzeitig






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Herta Däubler-Gmelin
daran erinnern, was noch zu tun ist. – Ich glaube, das ist
völlig richtig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie werden es mir nachsehen, dass ich mit sehr viel kür-
zeren, aber das Gleiche ausdrückende Wort von Herbert
Wehner ende, der meinte, nein, er hat es eigentlich ge-
knurrt: „Nicht nur Gedenken, sondern Gedanken“ sind
auch gefragt.

Herzlichen Dank.


(Beifall im ganzen Hause)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1622200600

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,

möchte ich eine Parlamentarierdelegation aus Gabun
unter Vorsitz des Vizepräsidenten Daniel Ona Ondo
auf unserer Ehrentribüne begrüßen, die sich auf Einla-
dung der deutsch-afrikanischen Parlamentariergruppe
hier in der Bundesrepublik aufhält.


(Beifall)


Wir freuen uns über Ihren Besuch, und wir freuen uns
ganz besonders, dass Sie an dieser Debatte im Deutschen
Bundestag heute teilnehmen. Herzlich willkommen!

Das Wort hat nun der Kollege Oskar Lafontaine für
die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])



Oskar Lafontaine (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1622200700

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutsch-
land wurde 1949 vom Parlamentarischen Rat zur Grund-
lage des gesellschaftlichen und politischen Lebens in
Westdeutschland gemacht. Nach der untergegangenen
Weimarer Republik und der Nazibarbarei hat es in sei-
nem Geltungsbereich Frieden, Freiheit, Rechtsstaatlich-
keit, Sozialstaat und parlamentarische Demokratie be-
gründet. In Ostdeutschland ist das Vorhaben, nach dem
Zweiten Weltkrieg eine sozialistische Demokratie zu er-
richten, gescheitert, weil, so der mittlerweile verstorbene
Politiker der PDS Michael Benjamin – ich erwähne ihn
bewusst wegen seines Namens –, die DDR keine Demo-
kratie und kein Rechtsstaat war und die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer keine Mitbestimmung hatten. An
dem 60. Geburtstag des Grundgesetzes ist die Versu-
chung groß, mit Stolz auf das Erreichte zurückzublicken
und es dabei zu belassen. Da wir aber das Grundgesetz
als ständige Aufgabe begreifen, Frieden, Freiheit,
Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaat und Demokratie zu ver-
wirklichen, wollen wir heute einen kritischen Blick auf
die Gegenwart werfen und unsere Hoffnung für die Zu-
kunft formulieren.

Es fällt auf, dass es Demokratien gibt, die keine ge-
schriebene Verfassung kennen. Das bekannteste Beispiel
ist Großbritannien. Dort gibt es folglich auch keinen
Verfassungsschutz, und das Wort „Verfassungsfeind“ ist
dort ebenso wenig Bestandteil der politischen Alltags-
sprache wie in den Vereinigten Staaten. Offensichtlich
haben die angelsächsischen Länder eine andere Verfas-
sungstradition. Dazu gehört auch das Hinterfragen der
eigenen Verfassung. So schrieb 1913 in den USA der
renommierte Historiker Charles Beard ein aufsehenerre-
gendes Buch. Darin kam er zu dem Ergebnis, dass die
amerikanische Verfassung die ökonomischen Interes-
sen derer widerspiegelt, die sie geschrieben hatten. Ob
es einen Verfassungstext gibt oder nicht, in jedem Falle
braucht eine Gesellschaft eine allgemein anerkannte
Wertorientierung, die das Fundament des täglichen Le-
bens ist. Diese Wertorientierung ist auch Grundlage der
jeweiligen Verfassung der Staaten der Welt. Wie aber ist
es zu erklären, dass Beard zu dem Schluss kommt, die
Verfassung der Vereinigten Staaten spiegele die persönli-
chen ökonomischen Interessen ihrer Schöpfer wider?
Eine Antwort finden wir bereits bei Goethe, ebenso wie
bei Marx und Engels. In seinem Faust sagt Goethe:

Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigner Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln.

Marx und Engels schreiben in der Deutschen Ideologie:

Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in je-
der Epoche die herrschenden Gedanken, das heißt,
die Klasse, welche die herrschende materielle
Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herr-
schende geistige Macht.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Unsere Sprache formt unsere Wahrnehmung. Wie
schwer es ist, der überlieferten Begriffswelt zu entkom-
men, beschrieben Adorno und Horkheimer in der Dia-
lektik der Aufklärung. Ich zitiere:

Es gehört zum heillosen Zustand, dass auch der ehr-
lichste Reformer, der in abgegriffener Sprache die
Neuerung empfiehlt, durch Übernahme des einge-
schliffenen Kategorieapparates und der dahinter
stehenden schlechten Philosophie die Macht des
Bestehenden verstärkt, die er brechen möchte.

In unsere Zeit übersetzt heißt das: Der Reformer des
Finanzmarktes verstärkt die Macht der Spekulanten,
wenn er sich ihrer abgegriffenen Sprache und ihrer Be-
griffe bedient.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Das Problem aller Verfassungstexte ist, dass die dort
verwandten Begriffe nicht definiert sind. Ich nehme bei-
spielhaft aus Zeitgründen den Begriff des Eigentums in
seinem Spannungsverhältnis zu Freiheit und Demokra-
tie. Was ist eigentlich Eigentum? Im Grundgesetz finden
wir auf diese Frage keine konkrete Antwort. Aber in
§ 950 des Bürgerlichen Gesetzbuches steht:

Wer durch Verarbeitung oder Umbildung eines oder
mehrerer Stoffe eine neue bewegliche Sache her-
stellt, erwirbt das Eigentum an der neuen Sache …


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Oskar Lafontaine
Würden wir diese Bestimmungen ernst nehmen, dann
müssten wir unsere Wirtschaftsordnung vom Grunde her
neu gestalten.


(Beifall bei der LINKEN)


Niemand hat so wie der Aufklärer Rousseau die Be-
deutung des Eigentums für die bürgerliche Gesellschaft
hervorgehoben:

Derjenige, der als Erster ein Stück Erde mit einem
Zaun umgab und es als Eigentum bezeichnete und
Leute fand, die ihm das glaubten, war der Begrün-
der der bürgerlichen Ordnung. Er hat unzählige
Kriege und den Tod von Millionen Menschen auf
dem Gewissen. Er hat gegen elementares Men-
schenrecht verstoßen: Der Boden gehört nieman-
dem, die Früchte allen.


(Beifall bei der LINKEN)


Rousseau hat keinen Zweifel daran gelassen, wie dem
abzuhelfen sei:

Die Menschenrechte müssen ergänzt werden durch
einschränkende Bestimmungen über das Eigentum;
sonst sind sie nur für die Reichen da, für die Schie-
ber und Börsenwucherer.

Klingt dieser Satz nicht erstaunlich aktuell?


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Nun gibt es im Geltungsbereich unseres Grundgeset-
zes Eingriffe in das Eigentum. Ich denke an Steuern,
Enteignungen zum Zwecke des Ausbaus der Infrastruk-
tur oder auch an Subventionen. Aber warum wird die
Vermögensverteilung immer ungerechter? Ist es des-
halb, weil das Eigentum in unserer Gesellschaft in vielen
Fällen nicht dem zugesprochen wird, dem es von Rechts
wegen eigentlich zustünde?

Die dem § 950 des Bürgerlichen Gesetzbuches zu-
grunde liegende Auffassung vom Eigentum ist keines-
wegs neu. Schon Wilhelm von Humboldt schrieb:

Nun aber hält der Mensch das nie so sehr für sein,
was er besitzt, als was er tut, und der Arbeiter, wel-
cher einen Garten bestellt, ist vielleicht in einem
wahreren Sinne Eigentümer als der müßige Schwel-
ger, der ihn genießt.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Abraham Lincoln sagte schon 1847:

Die meisten schönen Dinge sind durch Arbeit ent-
standen, woraus von Rechts wegen folgen sollte,
dass diese Dinge jenen gehören, die sie hergestellt
haben. Aber es hat sich zu allen Zeiten so ergeben,
dass die einen gearbeitet haben, und die anderen,
ohne zu arbeiten, genossen den größten Teil der
Früchte. Das ist falsch und sollte nicht fortgesetzt
werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

In allen Gesellschaften wurde die ungleiche Eigen-
tumsverteilung zum Problem, insbesondere wenn sie
von jüdisch-christlichen Ideen geprägt waren. Vor Gott
sind alle Menschen gleich, und das muss sich auf das
Zusammenleben der Menschen auswirken. Darum – so
können wir schon im Alten Testament nachlesen – er-
fand Israel das Sabbatjahr. Nach einer Anzahl von Jah-
ren mussten in Israel den Schuldnern die Schulden erlas-
sen werden, und die Verteilung des Ackerlandes wurde
neu verlost, um wieder Gleichstand herzustellen. Danach
konnte der Wettbewerb der Menschen von Neuem be-
ginnen. Aber nach einigen Jahren erhielt der Verarmte
zurück, was er an den Reichen verloren hatte. Dieses
Beispiel zeigt, dass es einen tiefen Grund gibt, die Werte
Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit als Einheit auf-
zufassen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Solange unsere Wirtschaftsordnung systemimmanent zu
wachsender Ungleichheit führt, wird es Freiheit und
Brüderlichkeit nicht geben und letztendlich auch keinen
Frieden.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Das Privateigentum gilt in bürgerlichen Gesellschaf-
ten als Garant einer freien Gesellschaft und persönlicher
Freiheit. Nur das Privateigentum führe zu wirtschaftli-
chem Fortschritt, wecke die Eigeninitiative, stärke die
Selbstverantwortung und gewährleiste die persönliche
Entfaltung. Doch nach wie vor hat diese Art von Selbst-
verantwortung einen Schönheitsfehler: Sie gilt nur für
wenige und wird der Mehrheit nicht zugebilligt.

In einer Gesellschaft, in der die übergroße Mehrheit
kein Vermögen und keine Produktionsmittel besitzt, las-
sen sich die Privilegien einer besitzenden Minderheit
durch das Argument, sie wirkten persönlichkeitsbildend
und garantierten die Freiheit, nicht als gesellschaftlich
nützlich legitimieren.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


In der frühen liberalen Gesellschaftstheorie ergab
diese Eigentumsauffassung noch einen Sinn. Das pri-
vate, weder durch obrigkeitsstaatliche noch durch tradi-
tionelle oder religiöse Vorschriften beschränkte Eigen-
tum war ein Instrument des wirtschaftlichen Fortschritts,
ein Ferment der Auflösung der feudalen Ordnung und
der Herstellung der staatsbürgerlichen politischen Frei-
heit. Für die Väter des Liberalismus war das Privateigen-
tum wegen dieser für die ganze Gesellschaft nützlichen
Konsequenz legitim. Aber heute sind derartige Legiti-
mationskriterien fragwürdig und von der Geschichte
außer Kraft gesetzt worden. Wäre das wirtschaftliche
Privateigentum auch dann der Garant einer freien Per-
sönlichkeit in einer freien Gesellschaft, wenn es nicht
breit gestreut ist, dann hätte es das nationalsozialistische
Deutschland nicht gegeben.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])







(A) (C)



(B) (D)


Oskar Lafontaine
Ein Teil der deutschen Großindustriellen verhalf Hitler
zur Macht, um seine aus dem Privateigentum an Produk-
tionsmitteln herrührenden Privilegien durch den Nazi-
staat abzusichern. In Deutschland bildete also das un-
gleich verteilte Privateigentum zu jener Zeit auch die
Grundlage für die Zerstörung der gesellschaftlichen
Freiheit.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Ähnliches ließ und lässt sich weltweit in vielen Militär-
diktaturen beobachten.

In der liberalen Gesellschaftstheorie legitimierte sich
das wirtschaftliche Privateigentum nur durch den von
ihm erzeugten gesellschaftlichen Nutzen. Heute kann
diese liberale Gesellschaftstheorie auch dazu herangezo-
gen werden, die Neuverteilung des Eigentums am Ver-
mögen und am Produktivvermögen zu begründen. So
wie die Neuverteilung des Eigentums ein Ferment der
Auflösung der feudalen Ordnung und der Herstellung
der bürgerlichen Freiheit war, so ist heute die gerechtere
Verteilung des Vermögens und des Produktivvermögens
das Ferment zur Auflösung des Absolutismus in der
Wirtschaft und zur Herstellung einer demokratischen
Gesellschaft.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Die Beteiligung der Belegschaften an ihren Betrieben
eröffnet den Weg zu einer freieren und einer demokrati-
scheren Gesellschaft. Wie kein anderer hat dies der lei-
der viel zu früh verstorbene Liberale Karl-Hermann
Flach formuliert – ich zitiere –:

Heute sehen wir noch viel klarer, dass Privateigen-
tum an Produktionsmitteln und Marktfreiheit zu ei-
ner immer größeren Ungleichheit führen, welche
die Freiheit der großen Zahl gegenüber der Freiheit
kleinerer Gruppen unerträglich einschränkt. Die
Vermögenskonzentration in den westlichen Indus-
triestaaten führt selbst bei wachsendem Lebensstan-
dard und steigender sozialer Sicherung der lohn-
abhängigen Massen zu einer Disparität, welche der
Begründung der Besitzverhältnisse mit dem Begriff
der persönlichen Freiheit jede Grundlage entzieht.

So äußerte sich ein führender Liberaler vor drei Jahr-
zehnten.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Ich zitiere weiter:

Das Problem des Kapitalismus besteht nicht darin,
dass Unternehmen Gewinne erwirtschaften, son-
dern darin, dass die ständig notwendige Reinvesti-
tion des größten Teiles der Gewinne nicht nur
moderne Produktionsanlagen und Arbeitsplätze
schafft, sondern eine ständige Vermögensvermeh-
rung in der Hand der Vorbesitzer der Produktions-
mittel.

So Karl-Hermann Flach.
Nun wird es spannend: Daher laste der Kapitalismus
als vermeintlich logische Folge des Liberalismus auf
ihm wie eine Hypothek. Die Befreiung des Liberalismus
aus seiner Klassengebundenheit und damit vom Kapita-
lismus – „Befreiung vom Kapitalismus“ ist vielleicht
eine bessere Formulierung als „Überwindung des Kapi-
talismus“ – sei daher die Voraussetzung seiner Zukunft.

Im Finanzkapitalismus heutiger Prägung wird der
größte Teil der Gewinne nicht mehr in moderne Produk-
tionsanlagen reinvestiert; vielmehr wird er im weltwei-
ten Spielkasino verzockt, mit verheerenden Folgen für
die Menschen, vor allem für die Hungernden und die
Kranken dieser Welt. Der Finanzkapitalismus enteignet
die Beschäftigten nicht nur dadurch, dass er ihnen den
Zuwachs des Produktivvermögens vorenthält; er ver-
schärft Jahr für Jahr die ohnehin bestehende soziale Un-
gleichheit und Ungerechtigkeit durch fallende Löhne,
Renten und soziale Leistungen bei gleichzeitigen speku-
lationsbedingten Preissteigerungen.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, Art. 14 des Grundgesetzes
muss neu und zeitgemäß interpretiert werden. Während
die in Abs. 2 geforderte Verpflichtung, der Gebrauch des
Eigentums solle auch dem Wohle der Allgemeinheit die-
nen, in einer Gesellschaftsordnung mit einer anderen
Verteilung des Vermögens und des Eigentums an Pro-
duktionsmitteln ebenso seine Gültigkeit behält, ist der
Abs. 3 neu zu interpretieren. Wenn eine Enteignung nur
zum Wohle der Allgemeinheit zulässig ist, dann ist die in
unserem Wirtschaftsalltag Praxis gewordene ständige
Enteignung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
die zum Nachteil der Allgemeinheit führt, schlicht
grundgesetzwidrig.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Warum ist die ständige Enteignung der Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer zum Nachteil der Allgemein-
heit? Die Antwort liegt auf der Hand: Weil die Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer das höhere Haftungsrisiko
tragen – sie haften mit ihrem eigenen Arbeitsplatz, also
mit ihrer gesamten Existenz –, würden sie verantwortli-
cher mit dem Firmenkapital umgehen als Anteilseigner,
die es in der Vergangenheit oft leichtfertig verzockt ha-
ben. Beispiele gibt es wahrlich genug.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Eine durch die Beteiligung der Belegschaften an den
Unternehmen geprägte Wirtschaftsordnung dient auch
der Erhaltung unserer Umwelt. Echte solidarische ge-
sellschaftliche Verantwortlichkeit kann der Mensch bei
seiner Arbeit nur entwickeln, wenn er im Arbeitsprozess
nicht entmündigt wird. Produktive Arbeit ist Umfor-
mung der Natur zu Gebrauchsgütern. Wer im Arbeits-
prozess von jeglicher Verantwortlichkeit enteignet wor-
den ist, der wird auch gegenüber dem Gegenstand seiner
Arbeit, der Natur, nicht die notwendige Verantwortung
empfinden. Daher müssten diejenigen, die für einen ver-
antwortlichen Umgang des Menschen mit der Natur plä-
dieren, dafür eintreten, dass solidarische Verantwortlich-






(A) (C)



(B) (D)


Oskar Lafontaine
keit im Arbeitsprozess entstehen kann. Es würde nicht
viel nützen, wenn es hin und wieder gelänge, ein Atom-
kraftwerk stillzulegen oder eine Chemiefabrik zu schlie-
ßen, der Mensch in anderen Gebieten aber genauso un-
verantwortlich weiterproduzierte, genauso ausbeuterisch
mit der Natur umginge wie bisher.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Aus dem bisher Gesagten folgt: Das Grundgesetz der
Bundesrepublik Deutschland verpflichtet uns zu einer
anderen, zu einer neuen Wirtschaftsordnung. Es ver-
pflichtet uns, mehr Freiheit und mehr Demokratie zu wa-
gen.


(Anhaltender Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Jörg van Essen [FDP]: Mein Gott, was für ein Niveau!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1622200800

Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast,

Bündnis 90/Die Grünen.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622200900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 60 Jahre

Grundgesetz und damit auch 60 Jahre Freiheit und De-
mokratie in Deutschland – das ist beides keine Selbstver-
ständlichkeit. Als Grüne kann ich sagen: Ich bin stolz
auf diese Verfassung. Manche sagen, sie seien stolz auf
ihr Land. Ich sage: Wir sind stolz auf diese Verfassung.
Ich weiß, weltweit werden wir darum beneidet. Wir ha-
ben eine Verfassung, die Gewaltenteilung, die demokra-
tische Prozesse regelt, und wir haben Grundrechte. Im
Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich das Land diese Ver-
fassung wirklich angeeignet und in die Realität umge-
setzt.

Ich sehe heute vor allem zwei Gründe dafür, dass un-
ser Grundgesetz eine solche Erfolgsgeschichte ist. Der
erste Grund ist, dass dieses Grundgesetz Deutschland
seine Würde wiedergegeben hat,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP])


weil es die Menschenwürde ganz konsequent an den
Anfang und damit quasi in den Mittelpunkt gesetzt hat.
Unser Grundgesetz ist deshalb eine Verfassung, die
wirklich vom Menschen her denkt und nicht aus dem
Blickwinkel des Staates:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu
achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staat-
lichen Gewalt.

Das ist sozusagen die Botschaft des Humanismus. Der
Entwurf aus Herrenchiemsee hatte es auf eine etwas an-
dere Formel gebracht. Da hieß es:

Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der
Mensch um des Staates willen.
Das ist sozusagen das Versprechen: Nie wieder
Auschwitz! – So fängt unser Grundgesetz an.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der zweite Grund für die Erfolgsgeschichte des
Grundgesetzes ist sicherlich die Tatsache, dass unser
Grundgesetz in Theorie und Praxis eine lernende Ver-
fassung ist. Es wurde immer wieder versucht, dafür zu
sorgen, dass die Verfassung mit der gesellschaftlichen
Entwicklung Schritt hält. Denken Sie an die Rechte der
Frauen und den Schutz der natürlichen Lebensgrundla-
gen oder auch an die Entwicklung bei den Möglichkeiten
demokratischer Meinungsäußerung bis hin zur Ausbil-
dung einer Protestkultur in diesem Land. Zu all dem
haben wir, in der Verfassung verankert, gesagt: Ja, das
gehört zu uns. Das ist normale moderne Verfassungs-
wirklichkeit.

Damit ist aber eines klar: Das sollte hier und heute
nicht eine Feierstunde sein, in der man einfach in Zufrie-
denheit zurückschaut. Herta Däubler-Gmelin hat ja be-
reits gesagt, dass es nicht nur um das Erinnern geht, son-
dern auch darum, in der Zukunft tätig zu werden. Die
Verfassung muss auch heute die Kraft der Erneuerung
aufbringen, weil eine Verfassung so etwas wie ein
Gesellschaftsvertrag ist, ein Grundkonsens, der aus-
drückt: Nach diesen Regeln, mit diesen Werten, in dieser
Ausgestaltung wollen wir miteinander leben, unseren
Alltag gestalten; das sind die Rechte, die wir haben.
„60 Jahre Grundgesetz“ ist ein guter Anlass für den Ge-
setzgeber, sich zu fragen, ob die Versprechen, die Zusa-
gen des Grundgesetzes den Fragestellungen und Sorgen
der Gegenwart gerecht werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das Grundgesetz ist nicht nur Ausdruck dessen, was
gestern gemeinsamer Wert war und auch heute noch ist,
sondern auch dessen, wie wir in Zukunft leben wollen,
wie Freiheit und Gerechtigkeit morgen aussehen. Es ist
zu fragen, ob das, was 1949 im Grundgesetz theoretisch
formuliert wurde, was wir nach und nach in der Praxis,
zum Teil hart umkämpft – auch dank der Rechtspre-
chung des Bundesverfassungsgerichts, die uns über
manche Hürden geholfen hat –, realisiert haben, hin-
sichtlich Würde, Freiheit und Gleichheit hinreichend
verwirklicht wird. Die Freiheit des Grundgesetzes – das
wissen wir – ist nicht die Freiheit von selbstsüchtigen
Ichlingen, sondern Menschenwürde, Freiheit und
Gleichheit gelten immer für alle. Es ist die Freiheit zur
gesellschaftlichen Teilhabe, zur Selbstverwirklichung
für alle.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Schauen wir uns einmal an, in welcher Verfassung un-
ser Land heute ist. Wir stehen am Beginn des 21. Jahr-
hunderts. Wir erleben technologische und gesellschaftli-
che Veränderungen, eine globale Wirtschaft, einen glo-
balen Wettbewerb, Dinge, die sich die Mütter und Väter
unseres Grundgesetzes nicht einmal im Ansatz vorstel-
len konnten. All diese Veränderungen berühren die Frei-






(A) (C)



(B) (D)


Renate Künast
heit, die Gleichheit, die Demokratie, die Gesellschaft. Es
wundert uns nicht, wenn gerade in diesen Tagen viele sa-
gen: Diese Gesellschaft ist blockiert. Die Versprechen
des Grundgesetzes werden nicht eingehalten.

Ich möchte an einigen Punkten aufzeigen, wo wir in
unserer Verfassung aufgrund der Entwicklungen der
letzten Jahrzehnte im 21. Jahrhundert eine Mangelsitua-
tion haben.

Ich beginne mit dem Begriff der Freiheit. Die Freiheit
des Grundgesetzes wird heute von zwei Seiten bedroht:
erstens durch einen falsch verstandenen Freiheitsbegriff
und zweitens durch die Entwicklung des Präventions-
staates in der Sicherheitspolitik. Der Begriff der Freiheit
war immer hart umkämpft, von 1848 über 1918, 1949
bis 1989, jetzt vielleicht wieder. In den letzten Jahrzehn-
ten drohte die Freiheit in erster Linie eine Freiheit der
Wirtschaft zu werden – eine Freiheit der Wirtschaft von
Verpflichtungen für das Gemeinwohl. Da hebe ich mah-
nend die Hand und sage: An der Stelle müssen wir auf-
passen, dass unser Grundgesetz die Freiheit heute so ge-
währleistet, wie es 1949 versprochen wurde.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es droht eine Freiheit der Wirtschaft von Verpflich-
tungen für das Gemeinwohl, obwohl in Art. 14 des
Grundgesetzes anderes gesagt wird. Der Profit wird ein-
behalten. Die sozialen und ökologischen Folgen werden
externalisiert; die Schulden werden auf die Zukunft ver-
lagert. Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise
ist so verursacht worden. Nach diesem Prinzip löst sie
ihre Probleme. Aber das entspricht nicht dem Freiheits-
begriff des Grundgesetzes. Freiheit ist die Freiheit für
alle, zur vollen Teilhabe, sich entwickeln zu können und
auch in Zukunft über die Grundlagen des Lebens ent-
scheiden zu können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wie sieht es aus für ein Kind, das in diesem Jahr ge-
boren wurde? Es hat qua Geburt Schulden in Höhe von
mehr als 19 000 Euro. Wie viel sind das eigentlich mit
Zinsen, wenn das Kind 18 Jahre alt ist? Das Kind wächst
auf mit uns, die wir über unsere Verhältnisse gelebt ha-
ben, die wir die natürlichen Lebensgrundlagen, wie es in
der Verfassung heißt, nicht hinreichend geschützt haben.
Es wächst auf mit Klimawandel, Hunger und weltweiter
Ressourcenknappheit. Welche Freiheit hat dieses Kind
als Erwachsener, wenn dieser in vielleicht 25 Jahren im
Deutschen Bundestag sitzt, um Politik zu machen? Wel-
che Entscheidungsspielräume hat er dann noch, seine
Zukunft und die der anderen Bürger zu organisieren?

Ich glaube, dass unsere Wirtschaftsweise nicht durch
den Freiheitsbegriff des Grundgesetzes gedeckt ist. Wir
müssen darauf achten, dass wir in der Verfassungsreali-
tät dem Postulat der Verfassung entsprechen, und zwar
bei jedem Gesetzentwurf, den wir in Zukunft hier vorlie-
gen haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vielleicht ist der Gesetzentwurf zu den Bad Banks der
nächste Anlass dazu.

Unsere Freiheit wird aber nicht nur durch den wirt-
schaftlich verengten Freiheitsbegriff bedroht. Der An-
griff auf die Twin Towers in New York war zweifellos
ein Angriff auf unsere Art zu leben, auf unsere Werte.
Aber im Kampf gegen den Terror hat der Staat den, wie
ich meine, verfassungswidrigen und gefährlichen Weg
zum Präventions- und Überwachungsstaat einge-
schlagen. Indem ihm jedes Mittel recht scheint, vertei-
digt der Staat jetzt nicht etwa die Rechte seiner Bürger,
sondern bedroht ihre Freiheit im Kern. Es gibt in diesem
Land eine unzulässige Verschiebung der Gewichte zwi-
schen Sicherheit und Freiheit zulasten der Freiheit. Das
müssen wir ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. h. c. Gerd Andres [SPD])


Man könnte auch sagen: Der Gesetzgeber testet die Ver-
fassung aus, obwohl er an sie gebunden ist. Das ist eine
Art ziviler Ungehorsam von oben. Das aktuellste Bei-
spiel dafür ist das neue BKA-Gesetz. Dieses Gesetz, zu
dem wir jetzt wieder das Bundesverfassungsgericht an-
gerufen haben, bringt Risse in die Freiheit. Alle Bürger
werden verdächtig, auch derjenige, der einen kennt, der
verdächtig sein könnte, weil er wiederum einen solchen
kennt. Das ist die Umkehrung der Idee, dass der Staat für
die Bürger da sei. Auch in diesem Sinne müssen wir die
Freiheit, wie sie 1949 im Grundgesetz festgeschrieben
worden ist, verteidigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir uns jetzt aus Anlass von 60 Jahren Grund-
gesetz Gedanken über die Gefahren für das Grundgesetz
in der Realität machen, stellen wir fest, dass in drei Be-
reichen Veränderungsbedarf besteht. Einen Bereich habe
ich schon angesprochen: Diese Gesellschaft muss sich
den Begriff der Freiheit zurückerobern. Die Freiheit, die
ich meine, ist die Freiheit, die in der Französischen Re-
volution mit ihrem Leitspruch „Freiheit, Gleichheit, Brü-
derlichkeit“ ihren Ausgangspunkt genommen hat.

Die Freiheit, die ich meine, ist die, die in der friedli-
chen Revolution 1989 mit dem Ruf „Wir sind das Volk!“
aufblitzte und durch die das Volk wieder mehr entschei-
det, statt dass die globale Wirtschaft Freiheit vorgibt,
Zwänge schafft, Entscheidungsmöglichkeiten des Volkes
reduziert und ihre Kosten und Lasten der Allgemeinheit
aufbürdet.

Das ist aber nicht alles. Des Weiteren müssen wir in
dieser Gesellschaft neu überlegen: Wofür sind wir ei-
gentlich im Kern verantwortlich? Seit Bestehen des
Grundgesetzes 1949 hat die gesellschaftliche Entwick-
lung eine Pluralisierung von Lebensstilen erlebt. Was da-
mals mit dem Begriff des Sozialstaats und mit Art. 6,
„Schutz von Ehe und Familie“, geschützt wurde, exis-
tiert heute nicht mehr in der Form wie 1949. Ich kann
hier nicht in 15 Minuten alle Bereiche des Sozialstaats
ansprechen. Man könnte im Zusammenhang mit Solida-
rität und Verantwortung über die sozialen Sicherungs-
systeme, den Umgang mit alten und kranken Menschen






(A) (C)



(B) (D)


Renate Künast
und Pflege oder den Umgang mit der demografischen
Entwicklung im 21. Jahrhundert reden.

Ich will mich aber im Folgenden darauf konzentrie-
ren, was in Zukunft im Zentrum des staatlichen Schutzes
stehen sollte, und auf die Kinder schauen. Wir müssen
erkennen: Das Grundgesetz hinkt an dieser Stelle der ge-
sellschaftlichen Entwicklung hinterher.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Christel RiemannHanewinckel [SPD])


An anderen Stellen, beispielsweise beim Schutz der na-
türlichen Lebensgrundlagen und beim Tierschutz, wurde
das Grundgesetz aktualisiert. Eine solche Aktualisierung
muss auch im Bereich „Familie und Kinder“ stattfinden.

Die Familie, wie man sie sich im Jahr 1949 vorge-
stellt hat, existiert in dieser Form nicht mehr. Im
21. Jahrhundert gibt es alle möglichen Formen von Fa-
milie. Es gibt Familien mit Trauschein und ohne Trau-
schein, es gibt Patchworkfamilien. Es gibt homo- und
heterosexuelle Eltern; es gibt biologische und soziale El-
ternschaft. Die Frauen nehmen sich ihr Recht auf
Gleichstellung. Drei von zehn Kindern in diesem Land
werden von alleinerziehenden Müttern oder Vätern und
von Eltern ohne Trauschein erzogen. Die Antwort darauf
darf nicht sein, dass man im Grundgesetz weiter an Leit-
bildern vergangener Zeiten festhält.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


60 Jahre Grundgesetz und Gleichheitsanspruch – und
doch erfahren Kinder in dieser Gesellschaft immer mehr
eine Blockade. Der Grund liegt nicht nur in der Fokus-
sierung auf die Familie im engeren Sinne, sondern auch
in den mangelhaften Bildungschancen. 83 Prozent der
Studierenden in Deutschland – in einer der führenden In-
dustrienationen mit einer Verfassung, die stark auf Ge-
rechtigkeit und Freiheit abzielt – stammen aus höheren
Schichten. 8 Prozent der Kinder verlassen die Schule
ohne Abschluss. Knapp ein Viertel der 15-Jährigen ist
auf Grundschulniveau. Das ist eine blockierte Gesell-
schaft. So haben sich die Mütter und Väter des Grundge-
setzes das nicht vorgestellt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Auch angesichts von Vernachlässigung, Gewalt und
Missbrauch, denen manche Kinder ausgesetzt sind, muss
die Antwort des Grundgesetzes lauten: Die Sorge gilt
den Kindern und nicht dem Trauschein. Statt Art. 6 in
seiner jetzigen Form zu belassen, müssen Kinder endlich
zum Subjekt der Verfassung werden; sie dürfen nicht
weiter Objekt in der Beziehung zu ihren Eltern bleiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir brauchen das eigenständige Recht der Kinder auf
eine gesunde und gewaltfreie Entwicklung, auf Förde-
rung und Bildung sowie auf eine gesunde Umwelt.

Mein letzter Aspekt behandelt das Thema Demokra-
tie. Ja, wir haben die Demokratie in diesem Land ganz
wunderbar aufgebaut: mit Checks and Balances, mit Ge-
waltenteilung und mit Gerichten, die man anrufen kann.
Aber im 21. Jahrhundert sehen wir, dass Demokratie Dy-
namik entwickeln kann. Damit meine ich nicht nur den
Ruf „Wir sind das Volk!“. Wir konnten von 1968 bis
jetzt erleben, wie stark sich Bürgerinnen und Bürger en-
gagieren wollen. Mittlerweile ist es sogar so, dass jeder
internationale Regierungsgipfel einen Gegengipfel aus-
löst. Auch das ist eine Möglichkeit zur Meinungsäuße-
rung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Heute ist die Erweiterung der Instrumente politischer
Willensbildung fällig. Das Angebot kann nicht nur sein,
sich auf einen langen Weg durch die Parteien zu machen.
Demokratie heißt auch nicht, turnusgemäß alle vier
Jahre zur Wahlurne zu schreiten. Ich meine, dass wir
zwei Verbesserungen brauchen: Wir brauchen in der
Verfassung vorgesehene Volksinitiativen, Volksbegehren
und Volksentscheide sowie das aktive Wahlrecht ab
16 Jahre.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Bundeskanzlerin, es ist schön, wenn Sie Migran-
tinnen und Migranten ihre Einbürgerungsurkunden über-
reichen, obwohl dies rechtlich gesehen ein irrelevanter
Akt ist, weil die Einbürgerung Ländersache ist. Besser
wäre es aber, wenn in dieser Gesellschaft nicht mehr auf-
grund ethnischer Herkunft oder Religion ausgegrenzt
würde – das ist nämlich Gift für unsere Kultur –, wenn
wir also dafür sorgen würden, dass sich Migrantinnen
und Migranten hier einbringen können, zum Beispiel in-
dem wir ein kommunales Wahlrecht für sie einführen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1622201000

Frau Kollegin, Sie denken bitte an die Redezeit.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622201100

Ich habe drei Bereiche genannt, die in der Verfassung

an das 21. Jahrhundert angepasst werden müssen. Ich
möchte Ihnen aber eines sagen: Diese Aufgabe betrifft
nicht nur uns selbst. Wir haben auch eine Vorbildfunk-
tion für Europa. Europa ist als Friedensprojekt gestartet
und wurde als Wirtschaftsprojekt weitergeführt. Nun
muss es endlich ein soziales und ökologisches Europa
werden. Unsere Verfassung kann die Standards dafür set-
zen. Sie kann begeistern und zeigen, wie man eine mo-
derne Verfassung schreibt, in der sich alle entwickeln
und ihre Lebensgrundlage halten können. Das ist unser
Auftrag.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1622201200

Dr. Peter Ramsauer ist der nächste Redner für die

CDU/CSU-Fraktion.






(A) (C)



(B) (D)


Präsident Dr. Norbert Lammert

(Beifall bei der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind Sie jetzt für das Grundgesetz?)



Dr. Peter Ramsauer (CSU):
Rede ID: ID1622201300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! 60 Jahre
Grundgesetz, das ist für uns alle ein Grund zur Freude.
Der Deutsche Bundestag hat – man kann sagen: partei-
und fraktionsübergreifend – Grund zu dieser Freude. Wir
sollten diesen Tag in Einigkeit und Dankbarkeit bege-
hen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir alle stehen mit unserer politischen Arbeit und mit
unserer Politik insgesamt auf einem stabilen Fundament,
das unser Land und unseren Staat 60 Jahre sicher getra-
gen hat. Noch nie zuvor in der deutschen Geschichte
konnten die Menschen unseres Landes eine so lange Pe-
riode der Stabilität und des Friedens genießen, wie sie
unserer und der Generation unserer Eltern zuteil gewor-
den ist. Die Männer und Frauen, die 1948 im Parlamen-
tarischen Rat in Bonn mit ihrer Arbeit an einer Verfas-
sung für einen damals noch nicht einmal in Umrissen
erkennbaren neuen deutschen Staat begannen, hätten
sich in ihren kühnsten Visionen gewiss nicht träumen
lassen, welch ein Werk von Dauer und politischer Nach-
haltigkeit sie schaffen würden.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist
für das deutsche Volk zu einem Dokument des Glücks
geworden. Auch wenn es in den sechs Jahrzehnten sei-
ner Gültigkeit mancherlei Ergänzungen und Veränderun-
gen erfahren hat, blieben sein Kern und seine Substanz
immer unangetastet. Ich glaube, wir alle sind gut bera-
ten, mit demokratischer Leidenschaft dafür zu sorgen,
dass dies auch in Zukunft so bleibt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Fraktion erteilt allen Überlegungen, die dahin ge-
hen, mit diffusen Begründungen grundsätzliche Verän-
derungen am Grundgesetz vorzunehmen und es sozusa-
gen mit überflüssigen Zutaten zu befrachten, klipp und
klar eine Absage. Nicht die Quantität, sondern die Quali-
tät zeichnet unsere Verfassung aus.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das Grundgesetz zog die Lehren aus den Schwächen
der Weimarer Republik und stellte ein starkes und glaub-
würdiges Kontrastprogramm zu jenen zwölf Jahren deut-
scher Geschichte und deutscher Politik dar, die aufgrund
der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, des Krie-
ges und des Massenmordes an den Juden in Deutschland
und in Europa im bittersten Sinne des Wortes Jahre des
Unheils waren. Franz Josef Strauß hat die Wurzeln allen
Übels dieser teuflischen Jahre im verhängnisvollen Ab-
fall vom christlichen Sittengesetz und dessen Normen
gesehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der Aufbau eines neuen und demokratischen deutschen
Staates, der mit unserem Grundgesetz seinen Anfang ge-
nommen hat, fand in einer Haltung und Gesinnung statt,
die politisches Handeln anderen als nur menschlichen
Maßstäben verantwortlich weiß.

Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und
den Menschen, …

So beginnt die Präambel unseres Grundgesetzes. Damit
wird eine Orientierung jenseits von politischem Angebot
und politischer Nachfrage markiert, die wir alle brau-
chen und uns allen guttut.

Die Präambel der bayerischen Verfassung ist von ei-
nem Sozialdemokraten, dem unvergessenen Wilhelm
Hoegner, im gleichen Geiste geschrieben worden:

Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats-
und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewis-
sen und ohne Achtung vor der Würde des Men-
schen die Überlebenden des zweiten Weltkrieges
geführt hat, in dem festen Entschlusse, den kom-
menden deutschen Geschlechtern die Segnungen
des Friedens, der Menschlichkeit und des Rechtes
dauernd zu sichern…

Ich glaube, man kann den Irrwegen, auf die sich die
deutsche Politik in den zwölf Jahren zwischen 1933 und
1945 begeben hat, keine feierlichere und beschwören-
dere Absage erteilen als die von Hoegner verfasste.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das Grundgesetz hat der Politik klare Handlungsauf-
träge gegeben. Einen Auftrag, vielleicht den wichtigsten,
haben wir erfüllt: die Einheit unseres Vaterlandes zu
erreichen. Der Appell, der hierzu in der ursprünglichen
Präambel stand, wurde durch den Einigungsvertrag vom
3. Oktober 1990 hinfällig. Er wurde nicht hinfällig, weil
etwa das Grundgesetz, wie Sie, Herr Müntefering, neu-
lich meinten, den Menschen in der ehemaligen DDR
übergestülpt worden wäre. Herr Müntefering, nichts
wurde übergestülpt. Vielmehr hat die letzte, frei ge-
wählte Volkskammer der DDR den Beitritt zur Bundes-
republik Deutschland und damit die Übernahme des
Grundgesetzes für das ganze Deutschland in Freiheit be-
schlossen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ihr Parteifreund Richard Schröder hat Ihnen zu Recht
entgegengehalten, dass den Menschen in der DDR dieser
Beitritt damals gar nicht schnell genug gehen konnte.

Hände weg vom Namen der Bundesrepublik Deutsch-
land und von einem überflüssigen Herumbasteln an un-
serem Grundgesetz!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Selbstverständlich bedeutet dies nicht, dass Ergänzungen
und Veränderungen nicht dort vorgenommen werden
können oder auch müssen, wo dies zwingend erforder-
lich ist. Die Ergebnisse der Föderalismuskommission II
sind ein Beispiel dafür. Auch hier sollte es mehr auf die
Substanz als auf die Länge des zu ergänzenden Textes
ankommen.


(Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Peter Ramsauer
Natürlich darf ich einen persönlichen, gewissermaßen
heimatlichen Bezug zum Anlass und Thema der heuti-
gen Debatte nicht vergessen. Zu meinem Wahlkreis
– Traunstein und das Berchtesgadener Land – gehört be-
kanntlich der Chiemsee. Auf einer Insel im Chiemsee
wurde Verfassungsgeschichte geschrieben. Liebe Frau
Kollegin Künast, es freut und erstaunt mich, dass ausge-
rechnet Sie auf den Geist von Herrenchiemsee hingewie-
sen haben.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe zwei Staatsexamen! Da kommt man nicht drum herum!)


Auf Einladung der auch damals schon CSU-geführten
Bayerischen Staatsregierung trat im Alten Schloss auf
der Herreninsel ein Ausschuss von Bevollmächtigten der
damals bestehenden elf deutschen Länder in den westli-
chen Besatzungszonen und des Magistrats von Berlin
zusammen. Dieser Verfassungskonvent tagte vom
10. bis zum 23. August 1948. Er erstellte einen Bericht,
der auch den Entwurf eines Grundgesetzes enthielt, der
Grundlage der Arbeit des Parlamentarischen Rates
wurde. So gesehen hat das Grundgesetz der Bundesrepu-
blik Deutschland durchaus auch bayerische Wurzeln.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Eine Verfassung lebt vom Geist, von dem sie erfüllt
ist, und wird lebendig durch die Politik, die auf ihrer
Grundlage gemacht wird. Hier hat meine Partei in sechs
Jahrzehnten des Bestehens des Grundgesetzes ihre poli-
tische Pflicht für das ganze Deutschland erfüllt. Wir ha-
ben – auch im Wechselspiel zwischen Regierungsverant-
wortung und Opposition – Verantwortung getragen,
haben nicht nach Bequemlichkeit, sondern nach der
Richtigkeit des zu beschreitenden Weges gefragt, in al-
len wichtigen, weichenstellenden Fragen unseres Lan-
des.

Die politische Kompetenz einer Partei, die Richtigkeit
ihres Kompasses und ihr Mut erweisen sich nicht nur in
der Regierung, sondern natürlich auch in der Opposition.
Die von Franz Josef Strauß durchgesetzte Klage des
Freistaates Bayern zum Grundlagenvertrag zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und der DDR im
Jahr 1973 war – das müssen wir auch und gerade am
heutigen Tag im Rückblick sagen – ein deutschlandpoli-
tischer Meilenstein.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das Verfassungsgericht schob damals allen offenen
und schleichenden Bestrebungen zur Anerkennung einer
deutschen Zweistaatlichkeit oder einer eigenen DDR-
Staatsbürgerschaft entschlossen einen Riegel vor. Meine
Partei hat sich mit dieser Klage gegen den damaligen
Zeitgeist gestellt. Sie hat den zum Sturm gewordenen
Gegenwind der öffentlichen Meinung nicht gefürchtet.
Sie hat es ausgehalten, dass die damalige Bundesregie-
rung die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts in
dieser Frage regelrecht als Anschlag auf die Entspan-
nungspolitik bezeichnete. Wir haben uns davon nicht be-
irren lassen. Durch die Verfassungsklage meiner Partei
wurde die deutsche Frage und damit das Tor zur deut-
schen Einheit offengehalten.

(Beifall bei der CDU/CSU)


60 Jahre Grundgesetz unseres Landes – dieses Jubi-
läum fällt in eine wirtschaftlich äußerst schwierige Zeit.
Jammern hilft uns aber nicht weiter. Vielleicht hilft ein
Blick zurück in jene Zeit, in der das Grundgesetz ent-
stand und das politische Leben wieder begann. Halten
wir uns die damalige Lage und die Lebensumstände der
Menschen vor Augen – die Not und das Elend, den
Trümmerhaufen, den Deutschland damals darstellte –, so
können wir nur den Mut und die Tapferkeit sowie den
Fleiß und den Willen unserer Eltern und Großeltern be-
wundern, anzupacken, aufzubauen und die Dinge zum
Besseren zu wenden. Aus dieser Haltung, fernab von Re-
signation und Wehleidigkeit, gilt es auch heute zu ler-
nen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Florian Toncar [FDP])


An dieser Stelle ist es angebracht – eine solche Be-
merkung habe ich in dieser Debatte noch nicht gehört –,
Dank zu sagen, Respekt zu zollen und Anerkennung zu
leisten für die großartige Integrationsleistung und Auf-
bauarbeit, die Heimatvertriebene und Flüchtlinge in den
Nachkriegsjahrzehnten geleistet haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ohne diese großartige Aufbauleistung wäre Deutschland
heute nicht das, was es ist. Ohne die Charta der Hei-
matvertriebenen aus dem Jahre 1950, diesen Verzicht
auf Rache und Vergeltung, was eine großartige, friedens-
stiftende Leistung war und womit ein Zeichen gesetzt
wurde, wäre auch Deutschland nicht das, was es heute
ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Probleme sind groß, aber auch unsere Chancen
sind groß. Besinnen wir uns auf unsere Stärken. Geben
wir ihnen im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft
Raum und Entfaltungsmöglichkeiten. Nur mit der be-
währten Ordnung dieser sozialen Marktwirtschaft wer-
den wir die gegenwärtige Wirtschaftskrise überwinden.
Es sind falsche Propheten, die den Menschen jetzt Kon-
zepte der Staats- und Zwangswirtschaft – ob sie nun So-
zialismus oder Kommunismus heißen – als Ausweg ein-
reden möchten; denn all diese Konzepte sind krachend
gescheitert.

Ich glaube, ein lebendiger und selbstbewusster
Patriotismus, wie er anderen Ländern der Welt immer
schon ganz selbstverständlich zu eigen war, steht auch
uns Deutschen, steht auch unserem Volk zu.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Gerade in diesen Krisenmonaten muss gelten: Wir ste-
hen zusammen. Wir wollen unserem Land, unseren Bür-
gerinnen und Bürgern dienen. Linke Klassenkampfrhe-
torik ist von gestern. Die Bereitschaft zur Verantwortung
für das Große und Ganze ist das Gebot der Stunde.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Peter Ramsauer
Wir Deutschen stehen zu unserem Land. Umfragen
aus den letzten Tagen unterstreichen das. Wir Deutsche
vertrauen auf unsere Leistungsbereitschaft, wir ver-
trauen auf unser Pflichtbewusstsein, und wir vertrauen
auf unsere Weltoffenheit. Ich finde, das alles sind exzel-
lente Grundlagen, um die gegenwärtige Krise zu über-
winden.

Das gemeinsame Vaterland verbindet zu gemeinsa-
mer Anstrengung. Ich bin überzeugt: Das Grundgesetz
hat unserem Patriotismus ein verlässliches und solides
Fundament gegeben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1622201400

Das Wort hat jetzt der Kollege Florian Toncar von der

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Florian Toncar (FDP):
Rede ID: ID1622201500

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Die Geschichte unseres Grundgesetzes ist eine
einzigartige Erfolgsgeschichte. Es gibt keine einzige his-
torisch bedeutsame Frage in der Geschichte der Bundes-
republik, in der es nicht seine Rolle gespielt hätte. Es ist
aus einer historischen Katastrophe heraus entstanden
und wurde von Menschen erarbeitet, die von dem, was
sie erlebt hatten, gezeichnet waren. Auch die Nach-
kriegsgeneration, die die schlimmste Zeit in unserer Ge-
schichte nicht mehr selbst erlebt hat, war immerhin noch
stark geprägt durch die Bewältigung der Folgen von
Krieg und Diktatur.

Die Menschen in Ostdeutschland haben erst 1989/90
ihre Freiheit erkämpft, sodass die meisten von ihnen
noch sehr unmittelbar wissen, wie es ist, in einem Un-
rechtsstaat zu leben. Doch wenn in diesem Jahr der
17. Deutsche Bundestag gewählt wird, wird es in ganz
Deutschland keinen einzigen Erstwähler mehr geben,
der sich noch selbst an die deutsche Teilung wird erin-
nern können. Unsere Gesellschaft wird immer stärker
geprägt werden von Menschen, die das Glück und das
Privileg hatten, in Frieden in einem geeinten Europa und
in einer freiheitlichen Demokratie groß zu werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


So stellt sich an diesem 60. Jahrestag die Frage, wie
es mit dem großartigen Erbe des Grundgesetzes weiter-
geht. Ich bin davon überzeugt, dass die jungen Deut-
schen die Werte unserer Verfassung tief verinnerlicht ha-
ben. Meine Generation ist in ihrer großen Mehrheit
tolerant, verantwortungsbewusst und skeptisch gegen-
über Extremen aller Art.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Sie ist stolz auf ihr Land, ohne sich dabei über andere zu
erheben. Ihr fehlt allerdings das Erlebnis der existenziel-
len Bedrohung ihrer Freiheit. Freiheit und Demokratie
erscheinen ihr selbstverständlich. Werner Finck sagte
einmal:

Es geht uns mit der Freiheit wie mit der Gesund-
heit: Erst wenn man sie nicht mehr hat, weiß man,
was man an ihr hatte.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Diese Gefahr der Gewöhnung rechtzeitig zu erken-
nen und diesen Ausspruch zu widerlegen, müssen unser
Ziel und unsere Aufgabe in den nächsten Jahren sein.

Garantiert uns das Grundgesetz, dass die Erfolgsge-
schichte der Bundesrepublik weitergeht? Das kann es
nicht, und das war auch nicht die Absicht seiner Väter
und Mütter. Der Staatsrechtler Rudolf Smend hat den
Sinn und Zweck des Grundgesetzes als Integration be-
zeichnet und damit einen Prozess ständiger Erneue-
rung, dauernden Neu-erlebt-Werdens gemeint. So ist
das Grundgesetz nicht statisch, sondern lebend. Der
Kern seiner Werte, wie zum Beispiel die Menschen-
würde, der überragende Wert des einzelnen Menschen,
ist zeitlos. Aber er ist in die Zukunft offen. Er kann für
zukünftige, heute noch gar nicht bekannte Herausforde-
rungen Antworten bieten.

Gegenwart und Zukunft stellen uns schon heute vor
schwierige Entscheidungen. Es geht zum Beispiel um
die Möglichkeiten der modernen Medizin und Fragen
des Schutzes der Privatsphäre angesichts ganz neuer
technischer Möglichkeiten. Es ist ohne großen Aufwand
möglich, eine DNA-Analyse jedes Menschen zu erstel-
len und auszuwerten. Solche Entscheidungen können
mit dem Grundgesetz bewältigt werden. Sie sind nicht
leicht. Sie werden sicherlich auch in Zukunft nicht leich-
ter. Aber das, was eine Verfassung leisten kann, um sie
zu beantworten, liefert das Grundgesetz. Eine Restver-
antwortung der Gesellschaft, die Wertungen des Grund-
gesetzes, die Menschenwürde immer wieder neu zu defi-
nieren und auszubuchstabieren, bleibt. Das kann uns
keine Verfassung dieser Welt abnehmen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Deswegen möchte ich bezüglich aller Debatten über
die Frage, ob wir eine neue Verfassung brauchen, sa-
gen: Ich kann nicht erkennen, dass wir das, was vor uns
liegt, mithilfe des Grundgesetzes nicht bewältigen kön-
nen. Diejenigen, die laufend neue Vorschläge machen,
was noch hineingeschrieben werden könnte oder mögli-
cherweise fehlt, müssen sich die Frage stellen lassen, ob
man die Autorität des Grundgesetzes nicht eher dadurch
beschädigt, dass man ständig den Eindruck erweckt, es
sei unvollständig, lückenhaft und verbesserungsbedürf-
tig. Das ist nicht so, und das sollte man auch nicht stän-
dig so darstellen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ich will aber auch auf Entwicklungen eingehen, von
denen ich glaube, dass wir in Zukunft auf sie achten und
vorsichtig sein müssen. Ich meine damit zum einen un-






(A) (C)



(B) (D)


Florian Toncar
seren Umgang mit den Grundrechten und zum anderen
die Frage der Lebendigkeit unserer Demokratie. Die
Grundrechte sind der Teil des Grundgesetzes, der un-
sere Bürgerinnen und Bürger selber in ihrem Alltag un-
mittelbar betrifft. Sie stellen den Menschen in den Mit-
telpunkt und verpflichten den Staat, den Menschen zu
dienen.

Aber wie wird im politischen Alltag mit den Grund-
rechten umgegangen? Ich habe das Gefühl, dass Grund-
rechte oder zumindest das Bundesverfassungsgericht,
das sie anwendet, zunehmend als lästiges Hindernis
empfunden werden. Ich möchte fragen, ob es sich eine
freiheitliche Gesellschaft eigentlich erlauben kann, dau-
ernd und immer wieder das Bundesverfassungsgericht
zu strapazieren, um eigentlich elementare Grundent-
scheidungen unserer Verfassung durchzusetzen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


So lange es so ist, dass in Parlamenten Mehrheiten
immer wieder bereit sind, Grundrechte, oft aufgrund von
Extremsituationen, unverhältnismäßig einzuschränken,
so lange – das muss man sagen – ist das Immunsystem
unserer Gesellschaft gestört. Diese Kontrolle kann nicht
auf Dauer von einem Gericht wahrgenommen werden.


(Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP])


Entlarvend ist im Übrigen die Formulierung, die in
unserer politischen Alltagssprache sehr oft auftaucht:
Das Parlament müsse Vorgaben des Bundesverfassungs-
gerichts umsetzen. Das wird bei dem BKA-Gesetz, beim
Lauschangriff und bei vielem anderen gesagt. Das Bun-
desverfassungsgericht macht uns überhaupt keine Vor-
gabe. Es definiert lediglich rote Linien, die wir nicht
überschreiten dürfen. Wenn wir immer so tun, als ob die
rote Linie – die letzte Möglichkeit, die das Verfassungs-
gericht lässt – eine Vorgabe des Gerichts sei, dann gehen
wir immer wieder an die Grenzen unserer Verfassung,
strapazieren sie und verschieben so die Achse unserer
Grundrechte nach außen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ich möchte auch noch auf den Zustand unserer
Demokratie eingehen. Es gibt zum Glück heute in
Deutschland nur noch sehr wenige Unverbesserliche, die
sich prinzipiell gegen die Idee der Demokratie wenden.
Für diese brauchen wir das Konzept der wehrhaften De-
mokratie. Aber auch an einem Feiertag wie heute soll
nicht verschwiegen werden, dass unsere Demokratie leb-
hafter sein könnte und dass die Lebendigkeit unserer De-
mokratie aus der Mitte der Gesellschaft bedroht ist, weil
es Ermüdungs- und Gewöhnungserscheinungen gibt.

Man kann das im Rahmen einer solchen Rede nicht
abschließend analysieren, aber ich möchte einfach einige
Fragen aufwerfen: Ist es einem Bürger heute eigentlich
noch möglich, einen für eine Maßnahme politisch Ver-
antwortlichen auszumachen? Haben wir nicht weiterhin
ein großes Durcheinander an Zuständigkeiten von
Europa über Bund und Länder bis hin zu den Kommu-
nen, das Verantwortung systematisch verschleiert und es
jeder Ebene ermöglicht, den Schwarzen Peter bei einer
anderen Ebene abzuladen, und schlussendlich den Bür-
ger ratlos zurücklässt?


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Gehen wir eigentlich immer fair mit unseren Kom-
munen um, die an immer umfangreichere Regeln ge-
bunden werden, dabei immer größere Finanzierungspro-
bleme haben und schlussendlich über den goldenen
Zügel von Zuschüssen gesteuert und alimentiert werden?
Ich glaube, dass man sich nicht wundern muss, dass es in
vielen Kommunen immer schwerer wird, Menschen zu
finden, die sich für kommunales politisches Engagement
begeistern.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Teilhabe findet jedenfalls nicht ausschließlich auf parla-
mentarischen Abenden statt, sondern beginnt in unseren
Kommunen.

Ich vermisse auch eine Debatte über die Rolle und das
Selbstverständnis dieses Parlaments. Wer sollte sie ei-
gentlich anführen, wenn nicht die Abgeordneten des
Bundestages selbst? Womöglich wird sie auch deshalb
vermieden, weil wir uns mit dem zu erwartenden Ergeb-
nis nicht zufriedengeben können. Ich meine, dass der
Bundestag seinen Einfluss gegenüber der Exekutive
dringend stärken müsste. Ich habe nichts gegen Ministe-
rialbeamte. Die meisten von ihnen machen gute Arbeit.
Aber wenn ein Ministerialbeamter Gesetzgeber sein
möchte, dann möge er sich für eine Wahl bewerben, wie
wir das alle auch tun müssen; er muss sich mit seinen
Argumenten stellen und dann wählen und bestätigen las-
sen. Aber Gesetzgeber ohne vorherige Wahlen kann man
nicht sein.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Wir sehen, dass EU-Rechtsakte im Ministerrat der EU
von Beamten ausgehandelt werden und dass der Bun-
desrat in der Praxis weitgehend eine Beamtenveranstal-
tung ist und dass die Ministerialbürokratie leider auch
auf unsere Parlamentsarbeit einen erheblichen Einfluss
ausübt,


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Leider wahr! – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr guter Hinweis!)


wobei das Vorbereiten von Sprechzetteln für Abgeord-
nete in der Regierungskoalition noch eine möglicher-
weise harmlose Peinlichkeit darstellt. Nicht mehr harm-
los wird es dann, wenn Anträge, die im Parlament eine
Mehrheit hätten, durch das Veto eines Ministeriums ge-
stoppt werden. Ein Parlament, das so mit sich umsprin-
gen lässt, setzt sein Ansehen und seine Autorität aufs
Spiel. Ich vermisse auch in diesem Hause hierfür das nö-
tige Problembewusstsein.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Florian Toncar
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Das Grund-
gesetz stellt den Menschen in den Mittelpunkt. Es stellt
in unserer Demokratie das Parlament als die direkte Ver-
tretung dieser Menschen in den Mittelpunkt. Meine Ge-
neration hat das Glück, diese Errungenschaft zu erben.
Damit fängt unsere Verantwortung aber erst an. Ich freue
mich auf die Zukunft.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1622201600

Das Wort hat der Kollege Franz Müntefering von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Franz Müntefering (SPD):
Rede ID: ID1622201700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im

Mai 1949, als das Grundgesetz entstand, war zum Feiern
niemand zumute in Deutschland. Das Land lag in Trüm-
mern, es gab Not, es gab Elend, Witwen und Waisen,
Vertriebene.

Da entstand das Grundgesetz. Das Grundgesetz war
ein Fanal, es war eine Botschaft. Die Tage waren domi-
niert von den Sorgen des Alltags. Aber wir haben Schritt
für Schritt begriffen: Wir haben hier ein robustes Grund-
gesetz für die Verfasstheit unseres Staates. In diesem
Grundgesetz standen und stehen Werte, die unverzicht-
bar sind für ein menschliches Miteinander. Diese Werte
gelten auch heute. Die Frage ist: Werden wir dem ge-
recht in unserer Zeit? Denn Werte müssen mit dem, was
die Zeit von uns verlangt, immer wieder abgeglichen
werden. Das Gerüst unseres Grundgesetzes, was die
Verfasstheit des Staates angeht, steht. Die Frage ist aber:
Werden wir dem gerecht, was diese Werte uns abverlan-
gen?

Etwas, was mir an der Rede des Kollegen Toncar gut
gefallen hat, war der Hinweis – so habe ich ihn verstan-
den –, dass unsere permanente Debatte darüber, was im
Grundgesetz verändert, korrigiert oder erweitert werden
müsste, nicht dazu führen darf, dass wir in die Gefahr
kommen, das Grundgesetz gleich um eine Gebrauchs-
anweisung zu erweitern. Bei all dem, was wir machen,
müssen wir immer die Frage stellen: Ist das nötig, ist das
unabdingbar? Das Grundgesetz muss mehr sein – und et-
was anders – als das, was in Gebrauchsanweisungen üb-
licherweise steht.


(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn man in Deutschland keine grundwertefreien
Zonen haben will, sollte man von dem Gedanken ablas-
sen, Leitkulturen neben das Grundgesetz zu stellen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Alle Menschen, die in Deutschland leben, sind dem
Grundgesetz verpflichtet. Wer sich an das hält, was an
Werten im Grundgesetz steht, wird dem gerecht, was wir
in dieser Gesellschaft von unserem Miteinander erwar-
ten. Deshalb muss man nichts daneben oder gar darüber
stellen, sondern versuchen, dem Grundgesetz gerecht zu
werden.

Vier Jahre nach Ende von Nazideutschland schrieben
die Väter und Mütter des Grundgesetzes in die Präam-
bel, dass sie es beschließen, „von dem Willen beseelt, als
gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem
Frieden der Welt zu dienen“. Das war ein Zeichen von
Demut, von „Wir haben verstanden und wollen es besser
machen“.

Das eigentlich Entscheidende war aber, dass 1952 mit
der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und
1957 mit den Römischen Verträgen die europäischen
Länder auf uns zukamen, Deutschland eingeladen haben.
Ich habe das, ich weiß, erst sehr spät begriffen – und
viele von uns hatten es damals noch nicht begriffen –,
dass uns Frankreich und Italien, die Niederlande – durch
die wir dreimal mit Stiefeln gezogen waren –, Belgien
und Luxemburg damals, Mitte der 50er-Jahre, die Hand
gegeben haben, als sie gesagt haben: Lasst uns Europa
machen!

Das muss für uns alle ein Ansporn sein, Ländern, die
heute den Kontakt suchen zu uns, zur Demokratie, zu
Europa überhaupt, nicht zu sagen: Ihr seid noch weit jen-
seits von Demokratie! Auch Deutschland hatte damals
keine große demokratische Tradition. Man hat uns eine
Chance gegeben. Nun müssen wir mit unserer Demokra-
tie dazu beitragen, anderen Völkern in Europa und da-
rüber hinaus die Chance zu geben, in die Demokratie hi-
neinzuwachsen. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Art. 1 – „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ –
ist angesprochen worden. Als Johannes Rau Bundesprä-
sident wurde, hat er gesagt: Da steht „Die Würde des
Menschen ist unantastbar“, da steht nicht „Die Würde
des deutschen Menschen ist unantastbar“. Das gab da-
mals eine größere Diskussion. Aber das ist der Kern des-
sen, was im Grundgesetz steht: „Die Würde des Men-
schen ist unantastbar.“


(Beifall bei der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Das heißt: Alle Menschen, die in diesem Lande wohnen,
welche Hautfarbe sie haben, welchen Namen sie haben,
welche Religion sie haben – oder auch nicht haben –, ge-
hören im Sinne unseres Grundgesetzes dazu, gleichwer-
tig, unveränderlich. Das ist die Aussage dieses Grundge-
setzes und die Voraussetzung dafür, dass wir die
Probleme der Integration in den nächsten Jahren in
Deutschland lösen können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Franz Müntefering
In den Art. 10 und 13 des Grundgesetzes steht etwas
über das Briefgeheimnis und die Unverletzlichkeit der
Wohnung. Damals kannte man noch nicht die neuen
Kommunikationstechnologien, die es heute gibt. Ich bin
mir aber sicher: Wenn Carlo Schmid, Theodor Heuss,
Konrad Adenauer und die anderen das, was wir heute
haben, gekannt hätten, dann hätten sie einen kurzen, prä-
zisen Satz auch dazu gefunden, der deutlich gemacht
hätte: Die Arroganz der totalen Kontrolle kann die Sache
nicht sein. Wir müssen dafür sorgen, dass die Privat-
sphäre und die Daten des Einzelnen geschützt sind, zum
Beispiel auch dann, wenn es um die Interessen der Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer geht. – Es kann
nicht sein, dass das so läuft, wie das im Augenblick in
Deutschland der Fall ist.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


„Eigentum verpflichtet“ – Art. 14 Abs. 2 –: Schöner
kann man es nicht sagen. Das gilt nicht nur für die Pro-
duktionsmittel, sondern auch für das Geld; das ist über-
haupt keine Frage. Darüber werden wir hier noch man-
ches Mal zu diskutieren haben. Ich sage hier aber ganz
klar: Wer im Jahre 2009 25 Prozent Gewinn auf sein
Eigenkapital fordert, während Hunderttausende in
Deutschland Angst um ihren Arbeitsplatz und ihr Ge-
spartes haben, der geht mit dem Eigentum nicht vertrau-
enswürdig und nicht vertrauensbildend um, sondern der
zerstört das Vertrauen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Art. 14 Abs. 1 soll nicht vergessen sein. Danach
wird Eigentum gewährleistet. Ich meine hier das geistige
Eigentum. Die totale Digitalisierung bringt Gefahren
für die Kunst und für die Kultur in diesem Land mit sich.
Wir kennen die Debatte, und wir sind gut beraten, sie
nicht einfach beiseitezuschieben.

Die Freiheit der Kultur ist die Voraussetzung für die
Kultur der Freiheit. Dass es Vermögen mit der Erwar-
tung eines jährlichen Gewinns von 25 Prozent gibt, wäh-
rend es gleichzeitig für normal erklärt wird, dass Kultur-
güter und Kunst – geistiges Eigentum – geklaut werden
dürfen, ist nicht normal und nicht im Sinne unseres
Grundgesetzes. Hier müssen wir ansetzen, und dagegen
müssen wir etwas tun.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In den Art. 1 bis 16 stehen die Grundrechte. Es geht
unter anderem um die Freiheit des Einzelnen, die Rechte
und die Pflichten des Individuums, die individuellen Le-
bensentwürfe, in die Staat und Gesellschaft sich nicht
einzumischen haben, die Freiheit, in der die soziale Ge-
rechtigkeit gesucht wird und die in Solidarität mündet,
um die Freiheit als dem ersten Wert.

1969, als Willy Brandt Kanzler wurde, hat er davon
gesprochen, dass wir mehr Demokratie wagen müssen.
Herta Däubler-Gmelin hat beschrieben, wie es in den
60er-Jahren gewesen ist. Beim Blick zurück tun wir im
Westen manchmal so, als ob das alles schön, gut, offen,
liberal und tolerant gewesen sei. Es gab aber eine ganze
Menge aufzuarbeiten. Ich schaue dabei keine Fraktion
besonders an, aber das ist die Wahrheit, die Erfahrung
meiner Generation.

Ich hatte noch Lehrer – 1946 bin ich in die Schule ge-
kommen –, von denen in der Geschichte keiner weiter
als bis zum Kaiserreich kam, weil sie alle ihre eigenen
Befangenheiten hatten. Wir haben Mitte der 60er-Jahre
damit angefangen, die Eltern und die anderen zu fragen,
wie das eigentlich war und was geworden ist. Deshalb ist
mit „mehr Demokratie wagen“ viel aufgebrochen wor-
den. Man könnte vieles aufzählen; ich lasse das beiseite.
Es war aber eine wichtige Entscheidung.

Dieser Willy Brandt hat, als er als Parteivorsitzender
meiner Partei ging, gesagt: Wenn ihr mich fragt, was das
Wichtigste ist, dann sage ich euch: neben dem Frieden
die Freiheit.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wie immer wir das alles wenden und wie immer wir die
soziale Gerechtigkeit und die Solidarität beschreiben
und definieren: Es fängt bei der Freiheit des Einzelnen
an, die ihre Grenze an der Freiheit des anderen findet.
Das ist die Grundbedingung für alles, was in dieser Ge-
sellschaft geschieht.

Weil das so ist, sind Bildung und Erziehung so un-
endlich wichtig. Wenn wir wollen, dass die Menschen,
die hier aufwachsen, die Kinder, Demokratinnen und
Demokraten werden und nach dem Grundgesetz leben
können und wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass
sie Bescheid wissen und nicht für dumm verkauft wer-
den. Es war die große Idee auch der Arbeiterbewegung,
dafür zu sorgen, dass die Menschen Informationen ha-
ben und Bescheid wissen. Deshalb ist Bildung keine ab-
geleitete ökonomische Größe, sondern ein Grundrecht
und Menschenrecht, das wir in dieser Gesellschaft um-
setzen müssen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)


Das führt mich zu den Art. 20 und 21. Wir sind ein
demokratischer und sozialer Bundesstaat. Wir haben das
gelernt mit dem Bundesstaat und dem Föderalismus, der
seine großen Vorteile, aber auch seine Schwierigkeiten
hat. Ich glaube, dass wir auf der langen Strecke nicht da-
rum herumgekommen, uns darüber Gedanken zu ma-
chen, wie wir die Aufgaben von Bildung und Integra-
tion und die Kombination von beidem – das ist eine
dringende Aufgabe für die nächsten ein bis zwei Jahr-
zehnte – lösen können, wenn wir uns in der Politik in
unterschiedliche Zuständigkeiten verlieren.

Alle Menschen, die in diesem Lande leben, haben das
Recht, als Individuum im Ganzen wahrgenommen und
geachtet zu werden, und sie haben das Recht, dass wir
uns nicht auf unsere Zuständigkeiten berufen und sagen,
dass eine andere Ebene zuständig ist. Denen ist es ziem-






(A) (C)



(B) (D)


Franz Müntefering
lich egal, ob die Bundeskanzlerin, der Ministerpräsident
oder der Oberbürgermeister es bezahlen. Sie wollen an-
ständige Kitas, Krippen und hochqualifizierte Schulen.
Das müssen wir miteinander hinbekommen und nötigen-
falls auch intensiver darüber sprechen, als wir es bisher
tun.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir dürfen nicht an dem Gefühl der Menschen vor-
beigehen. Es gibt keine Versammlungen, in denen wir
nicht auf diese Zusammenhänge und die Schwierigkei-
ten, um die es dabei geht, angesprochen werden. Wir
dürfen die Kommunen bei dieser Aufgabe nicht alleine
lassen, sondern wir müssen darüber sprechen, was wir
tun können, damit wir eine Bildungs- und Integrations-
politik aus einem Guss bekommen. Es wird unweiger-
lich um das Miteinander von Europa, Bund, Ländern und
Gemeinden gehen.


(Beifall bei der SPD – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Noch mal eine Föderalismusreform heißt das!)


Art. 146 ist schon angesprochen worden:

Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Ein-
heit und Freiheit Deutschlands für das gesamte
deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem
Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von
dem deutschen Volke in freier Entscheidung be-
schlossen worden ist.

Nun ist die Frage, ob das eine banale Aussage für
Feierstunden oder ein Abgesang auf Nie und Nimmer ist
oder ob es die Möglichkeit zum Handeln eröffnet. Mehr
will ich nicht sagen. Ich bin überzeugt, dass wir in
Deutschland gut beraten sind, wenn wir die Debatte über
den demokratischen und sozialen Bundesstaat nicht nach
dem Motto „Nun ist alles geklärt, und nun machen wir es
so“ führen, sondern immer wieder prüfen, ob die Werte,
die in diesem Grundgesetz enthalten sind, mit den Zielen
und Regeln der praktischen Politik, in denen wir zur-
zeit stehen, übereinstimmen. Deswegen muss es erlaubt
sein, darüber zu sprechen, wie sich das zueinander ver-
hält, wie wir den Menschen erklären können, was dieses
Grundgesetz für uns bedeutet, und wie wir gemeinsam
aus dieser Situation heraus Politik für die Zukunft be-
stimmen wollen.


(Beifall bei der SPD)


Ich will einige letzte Sätze zu etwas sagen, was uns
auch Gedanken machen muss. Demokratie braucht in-
formierte Menschen. Die Frage ist: Wie ist das mit der
Information in unserer Gesellschaft? Was passiert hier
eigentlich? Die Vielfalt, die wir haben, hat ihren
Charme. Aber sie hat auch ihre Risiken.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Bei meinen Besuchen in den Lokalredaktionen der Zei-
tungen wird Jahr für Jahr gestöhnt – das kennen Sie
auch –: wieder 3 Prozent weniger. Wie sieht es mit Kon-
takten und Informationen aus? Was läuft an informatio-
nellen Zusammenhängen in unserem Land? Ich habe
keine Antwort darauf, aber das Problem ist da.

Ein Staat, der nicht dafür sorgt, dass die Menschen – ob
Heranwachsende oder andere – Zugang zu verlässlichen
und belastbaren Informationen haben, wird Demokra-
tie nicht organisieren können. Vielleicht müssen wir
das Ganze umkehren. Vielleicht müssen uns die Jünge-
ren – die Menschen in Ihrem Alter, Herr Toncar – sagen,
wie das in der Zukunft gehen könnte, wie man Men-
schen in den Städten und Gemeinden mit neuen Techni-
ken an Demokratie beteiligt, sie rechtzeitig informiert
und ihnen Möglichkeiten gibt, an der Meinungs- und
Entscheidungsbildung in den Städten und Gemeinden,
an der Politik insgesamt teilzuhaben.

Meine Generation hat Lesen gelernt, nicht den Um-
gang mit der neuen Technik. Das gilt zumindest für
mich. Aber wir müssen begreifen, dass sich das, was
1949 noch gang und gäbe war, fundamental verändert
hat. Damals hat man noch wirklich gelesen. Man hat
noch Bücher und Zeitungen miteinander gelesen, sodass
man daraus eine gemeinsame Debatte entwickeln
konnte. Wer erlebt das denn bei uns noch? Wenn man
heutzutage jemanden trifft, dann sagt er beispielsweise,
dass er gestern um 21.45 Uhr etwas gelesen, gesehen
und gehört hat. Wo, weiß er nicht mehr. Damit ist das
Gespräch zu Ende. Wir haben so wenige gemeinsame
Dinge, die etwas mit unserer Demokratie vor Ort zu tun
haben und über die wir gemeinsam sprechen können.

Wenn wir das Grundgesetz in seinem Anspruch ernst
nehmen, den Menschen die Chance zu geben und ein
Angebot zu sein, wie es Gustav Heinemann gesagt hat,
Bescheid zu wissen und dazu beizutragen, dass Demo-
kratie gelingt, dann müssen wir uns Gedanken darüber
machen, was in den Bereichen der Information und der
Informationstechnik in diesem Land stattfindet und wie
das in Zukunft in dieser Gesellschaft buchstabiert wer-
den soll. Das ist nicht fertig. Das war es auch damals
nicht. Trotzdem sind die Gedanken, die sich damit ver-
binden, wichtig.

Demokratie braucht Partei im Sinne von Partei-
nahme. Es gibt in Deutschland ganz viele Menschen, die
ehrenamtlich in Vereinen, Verbänden und Organisatio-
nen mithelfen, dass Demokratie gelingt. Demokratie
braucht aber auch Parteien – Art. 21 des Grundgesetzes –,
die bei der politischen Willensbildung des Volkes mit-
wirken. Sie dürfen sich nicht mit Exekutive, Legislative
und Rechtsprechung verwechseln. Es gibt keine Staats-
parteien. Aber die Parteien sind bei der Meinungsbil-
dung insgesamt wichtig. Die Art und Weise, wie wir zu-
lassen, dass in diesem Land abfällig zwar weniger über
Demokratie, aber über Staat, Politik und Parteien insge-
samt gesprochen wird,


(Dr. Peter Struck [SPD]: Ja!)


hat ihre Grenze. Ich empfehle uns sehr, mit ein bisschen
mehr Selbstbewusstsein an die Sache heranzugehen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Franz Müntefering
Es kann sein, dass wir Fehler machen – ja, das ist ganz
sicher der Fall –, aber das Engagement ist das Entschei-
dende. Demokratie wird nur gelingen können, wenn wir
hinreichend viele Menschen haben, die bereit sind, sich
zu engagieren und mitzuhelfen, Dinge zu verändern.
Wenn ich nach einer Wahl abends höre, wie irgendje-
mand vor laufender Kamera einen anderen voller Mitleid
fragt, warum er nicht habe zur Wahl gehen und abstim-
men können, dann frage ich mich: Was ist eigentlich in
den Köpfen los? Was können wir dafür tun, dass wieder
klarer wird, dass Parteinahme und Parteien in dieser Ge-
sellschaft und Demokratie unverzichtbar sind? Das geht
vor allem dadurch, dass wir denjenigen Mut machen, die
mitmachen. Deshalb sage ich stellvertretend für alle an-
deren, die ich meine: Denjenigen, die sich in Sozialver-
bänden, Sportvereinen und kommunalpolitischen Insti-
tutionen mit großem zeitlichen Aufwand und manchmal
auch mit eigenem Geld engagieren und viele Stunden in
Kleinigkeiten investieren, über die Golfspieler und Ten-
nisspieler gar nicht reden mögen, weil sie etwas anderes
zu tun haben, muss man sagen: Jawohl, ihr seid ein gro-
ßer Teil dieser Demokratie. Das sind nicht nur wir, son-
dern das seid auch ihr. Wir sagen euch von hier aus ein
herzliches Dankeschön.

In diesem Sinne alles Gute und vielen Dank für die
Aufmerksamkeit.


(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1622201800

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gregor Gysi von

der Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1622201900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über die

Verabschiedung des Grundgesetzes und die Gründung
der Bundesrepublik Deutschland kann man nicht spre-
chen, wenn man nicht wenigstens ein oder zwei Sätze zu
der vorangegangenen Zeit sagt. Die Gründung eines
neuen Staates wäre nicht erforderlich gewesen, wenn die
deutsche Gesellschaft, wenn das deutsche Volk das
Naziregime verhindert hätte. Aber dieses Regime hat
von 1933 bis 1945 existiert. Nicht nur seine Methoden
waren in einer bis dahin nie gekannten Art und Weise
verbrecherisch. Vielmehr hatte dieses Regime aus-
schließlich verbrecherische Ziele, keine anderen. Inso-
fern sage ich: Der 8. Mai 1945 war – das müssen endlich
alle begreifen – ein Tag der Befreiung, egal wie es da-
mals aussah. Es konnte nur ein Tag der Befreiung sein.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dann war Deutschland besetzt, zuerst von vier Sie-
germächten. Es stellte sich die Frage, was jetzt gesche-
hen sollte. Ich glaube, dass die deutschen Politiker in Ost
und West nicht die Geduld der Österreicherinnen und
Österreicher hatten; denn auch Österreich war von vier
Mächten besetzt, aber Österreich ist ein Land geblieben.
Von Konrad Adenauer stammt der Satz: Lieber das halbe
Deutschland ganz als das ganze halb. – Die im Osten
dachten genauso. Ich glaube, die vier Mächte hätten gar
nichts machen können, wenn wir alle gesagt hätten:
Nein, wir gründen nur einen Staat zusammen. – Wie hät-
ten sie das verhindern sollen? Aber wir hatten diese Ge-
duld nicht.


(Zuruf von der CDU/CSU: Es ist nicht zu fassen!)


Was wäre eigentlich daran so schlimm gewesen, wenn
wir diesen Weg zusammen gegangen wären? Gut, wir
wären nicht in der NATO oder im Warschauer Vertrag
gewesen, so wie Österreich. Na und?, kann ich nur sa-
gen. Ich sehe darin keine Katastrophe. Wir hätten auf die
Art und Weise die Spaltung verhindern können. Sie dür-
fen übrigens nicht vergessen, dass zuerst die Bundesre-
publik Deutschland ohne den Osten gegründet worden
ist und erst danach die DDR. Nachdem die vier Mächte
das alles mitgetragen und mitorganisiert hatten, da wa-
ren sie sich einig, den Kalten Krieg hier zwischen bei-
den deutschen Staaten auszutragen. Machen wir uns
nichts vor: Wäre es zu einem dritten Weltkrieg gekom-
men, existierte Deutschland heute nicht mehr. Das war
zwischen ihnen verabredet. Es gab Politiker, auch wie-
der in Ost und West, die das erkannten und zu verhin-
dern versuchten. Das ist gelungen.

Wenn wir darüber reden, dann müssen wir auch sa-
gen, dass die Besetzung Ostdeutschlands durch die
Sowjetunion doch ein Zufall war. Stellen Sie sich einmal
vor, die sowjetischen Truppen wären anders vorgedrun-
gen und nach Bayern einmarschiert. Dann wäre aus Bay-
ern eine Art DDR geworden. Herr Ramsauer würde
heute die Kompliziertheit seiner Biografie erklären, und
wir alle würden leicht arrogant zuhören. Das ist die
Wahrheit.


(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)


Ich will damit sagen: Das, was ich nicht mag, ist, wenn
jemand, der nur in der Bundesrepublik Deutschland ge-
lebt hat, einer ehemaligen Bürgerin oder einem ehemali-
gen Bürger der DDR erklärt, wie er in der DDR gelebt
hätte, wenn er dort gelebt hätte. Er kann es eigentlich
nicht wissen und sollte einen gewissen Grad an Beschei-
denheit diesbezüglich an den Tag legen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP])


Das Grundgesetz ist zweifellos eine hervorragende
Verfassung. Es erstaunt mich, wie tief zwei Sätze aus
dem Grundgesetz im Denken und Fühlen der Menschen
verankert sind. In fast jedem zweiten Brief, den ich be-
komme, wird entweder der eine oder der andere Satz
zitiert. Der eine Satz lautet „Die Würde des Menschen
ist unantastbar“, und der zweite Satz lautet „Eigentum
verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der
Allgemeinheit dienen.“ Immer wieder kommen diese
Sätze vor. Das kriegt keiner mehr aus dem Kopf. Selbst
wenn jemand heimlich darüber nachdenken würde, diese
Sätze zu streichen – dafür wird es, glaube ich, in






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gregor Gysi
Deutschland niemals eine Zweidrittelmehrheit geben,
sodass das ausgeschlossen und auch gar nicht gestattet
ist.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Heute sind der zweite und der erste Satz nach wie vor
von großer Bedeutung. Beide Sätze beschreiben doch
keinen Istzustand. Nie kann eine Gesellschaft behaupten,
das sei verwirklicht. Aber es muss ein Ringen darum ge-
ben, und in den letzten Jahren gab es mir zu wenig Rin-
gen darum, die Würde des Menschen wirklich für
unantastbar zu erklären und die soziale Eigentumsver-
pflichtung herauszuarbeiten. Das Gegenteil haben wir
in der Krise erlebt.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Das Grundgesetz unterstreicht die politischen und demo-
kratischen Grundrechte sehr deutlich, die sozialen
Rechte werden weniger betont. Dazu ist hier schon eini-
ges gesagt worden.

Aber wir müssen in der Geschichte weitergehen. Die
Mauer fiel friedlich, die deutsche Einheit kam friedlich
zustande. Das ist ein großes Verdienst und ein großes
Glück in unserer Geschichte, woran wir früher über-
haupt nicht geglaubt hatten. Trotzdem sage ich: Seitdem
gibt es einen ungeheuren Fortschritt für die ostdeutsche
Bevölkerung; denn sie lebt in Freiheit und Demokra-
tie, was sie vorher nicht kannte. Es war eine Zäsur in der
Geschichte, aber die Einheit erfolgte leider durch Bei-
tritt, nicht durch eine neue Verfassung und nicht durch
Vereinigung. Es gab zwei Mängel, die sich bis heute aus-
wirken. Es gab vielleicht noch mehr, aber ich nenne
zwei, die mir wichtig sind. Eine Ursache, warum wir ge-
sellschaftlich immer noch gespalten sind, sehe ich darin,
dass die ostdeutschen Eliten in Kultur, Wissenschaft und
anderen Bereichen nicht am Einigungsprozess beteiligt,
sondern abgewickelt wurden. Die zweite Ursache sehe
ich darin, dass das westdeutsche System eins zu eins auf
den Osten übertragen wurde und Erfahrungen, die dort
existierten, nicht berücksichtigt wurden.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


So nahmen viele Westdeutsche die Einheit zwar erfreut
zur Kenntnis, aber sie konstatieren, dass es seit der Ein-
heit auch im Westen wirtschaftlich und sozial bergab
geht. Viele glauben, schuld daran sei der Osten, der Mil-
liarden erhalte, ohne dass sich die wirtschaftliche Lage
dort und im Westen verbessere. Obendrein seien die Ost-
deutschen zum Teil auch noch unzufrieden und wählten
komisch. Letzteres passiert zunehmend auch im Westen,
sodass wir uns diesbezüglich schon vereinigen.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN)


Aber die gegenwärtige Krise beweist, dass die Thesen
zur Wirtschafts- und Soziallage falsch sind. Der
Sozialabbau im Westen und auch im Osten erfolgt doch
nicht wegen des Ostens, sondern überall wegen der gi-
gantischen Umverteilung von unten nach oben. Genau
diese Umverteilung muss gestoppt und umgekehrt wer-
den.


(Beifall bei der LINKEN)


Nach 19 Jahren sind die Renten im Osten im Durch-
schnitt noch um 15 Prozent niedriger als im Westen; das
ist ein Problem. Die Löhne im Osten sind durchschnitt-
lich ein Drittel niedriger als im Westen, und zwar bei
gleicher Arbeit und längerer Arbeitszeit. Der Niedrig-
lohnsektor umfasst 41 Prozent im Osten und 19 Prozent
im Westen. Die Arbeitslosigkeit im Osten ist doppelt so
hoch.

Das größte kulturelle Defizit liegt in der häufigen
Missachtung ostdeutscher Biografien. Geradezu sym-
bolisch und massiv kommt dies in der Ausstellung
„60 Jahre Bundesrepublik Deutschland“ zum Ausdruck:
Die Geschichte der DDR wird nicht als Teil der deut-
schen Geschichte begriffen. Es gibt kein Bild, keine
Plastik von einem Maler oder Bildhauer der DDR, nicht
von John Heartfield, nicht von Wolfgang Mattheuer,
nicht von Fritz Cremer, nicht von Otto Niemeyer-
Holstein, nicht von Jo Jastram, nicht von Bernhard oder
Johannes Heisig, nicht von Hartwig Ebersbach, nicht
von Willi Sitte, nicht von Werner Tübke, nicht von
Albert Ebert, nicht von Wieland Förster, nicht von Arno
Mohr. Das ist nach 60 Jahren Grundgesetz, nach 60 Jah-
ren Bundesrepublik Deutschland nicht vertretbar.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt mal die Frauenliste!)


– Ja, das war genauso einseitig.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Rolf Stöckel [SPD])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1622202000

Herr Gysi, kommen Sie bitte zum Schluss.


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1622202100

Ich bin sofort fertig.

Lassen Sie mich noch eines sagen: Meine Generation
hatte Schwierigkeiten mit dem eigenen Land. Das lag an
der Geschichte vor 1945, mit der umzugehen so kompli-
ziert war. Ich habe zur Fußball-Weltmeisterschaft eine
neue junge Generation kennengelernt, auf die ich meine
Hoffnung setze.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1622202200

Herr Gysi, bitte!


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1622202300

Ich glaube, diese Generation will keine Nation mehr

unter sich haben und auch keine über sich. Sie erfüllt da-
mit einen Traum Brechts. Ich glaube, dass diese junge
Generation die Teilung unserer Gesellschaft überwindet.
Sie wird deutsch, aber auch europäisch und vor allem
weltbürgerlich sein.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1622202400

Das Wort hat die Kollegin Katrin Göring-Eckardt von

Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Ja, Herr Gysi, auch ich glaube daran, dass diese junge
Generation in Einheit leben und die Teilung überwinden
möchte. Ich glaube allerdings auch, dass Sie und die
Linke etwas dafür tut und tun will, dass es möglichst
nicht geschieht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN: Eine Unterstellung!)


Als es nach der friedlichen Revolution um einen ge-
meinsamen Verfassungsentwurf ging, hatten die Men-
schen vermutlich andere Fragen, Sorgen und Pläne, und
das wird wohl auch heute so sein. Wolfgang Ullmann
und andere dürfen hier trotzdem nicht unerwähnt bleiben
im Hinblick auf ihr Bemühen, über eine gemeinsame
Verfassung zu diskutieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es ging darum, das, was auf den Transparenten stand, in
Verfassungswirklichkeit umzuwandeln. Da standen wü-
tende Parolen wie „Stasi in die Produktion“. Da stand
aber auch „Keine Gewalt“. Da wurde der Hoffnung mit
den Worten „Gorbi, hilf uns!“ Ausdruck verliehen. Au-
ßerdem stand da „Wir sind das Volk“ und „Alle Macht
geht vom Volk aus“.

Mehr als alles andere war es dieser urdemokratische
und friedlich vorgetragene Anspruch, der den SED-Staat
am Ende zusammenbrechen ließ. Es lohnt sich heute, zu
fragen, wie es um Freiheit und Demokratie bestellt ist.
Es reicht nicht, stolz auf die Glanzpunkte von 60 Jahren
zu zeigen. Demokratie ist nämlich kein Zustand; sie ist
ein Prozess, in dem Mitsprache und Beteiligung immer
wieder gelernt und vor allen Dingen möglich gemacht
werden müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben Demokratie lernen müssen und wissen, wie
gefährdet sie immer wieder ist.

Wir brauchen Streit. Streiten gehört zum Wesenskern
in der Demokratie. Zum Glück werden Meinungen nicht
verfügt wie in der DDR, sondern auf den Prüfstand ge-
stellt. Sie müssen Gegenargumente aushalten. Unser de-
mokratisches Zusammenleben braucht Streit. Was wir
aber nicht brauchen, das ist eine Politik, die sich auf
Wut, auf Ressentiments oder populistische Anbiederun-
gen aufbaut, wenn auf Stimmungen gesurft wird.

Was soll denn die Debatte um den Unrechtsstaat
DDR? Dabei geht es nicht um das, was trotzdem statt-
fand, ein Leben, das sich immer wieder normal anfühlte,
nicht nur im Persönlichen übrigens. Ich hatte auch eine
ganz begeisterte Lehrerin, die kein Bonze war. Da waren
Erfinder, da waren Tüftler, da waren Fußballmannschaf-
ten und Musiker. Aber alles und jedes konnte sofort auf-
hören, wenn es nicht systemkonform war oder schien,
wenn eine Person in Ungnade fiel oder wenn ein
Schiedsrichter gegen die Mannschaft pfiff, die nach
Meinung des Staatsapparates zu gewinnen hatte.

Nein, es ist Unrecht, wenn Grenzen dicht sind, wenn
Justiz einer Parteidoktrin folgt und Zigtausende in Ge-
fängnissen psychisch und physisch gequält werden,
wenn eine Gesellschaft vom Kindergarten bis zum Alter
ideologisch durchherrscht und militarisiert wird und
wenn in ihr Altenheime heruntergekommene Massenein-
richtungen sind,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


in der es nur eine Meinung geben darf und Abweichung
bestraft wird. Wie wollen eigentlich Herr Ramelow und
andere Geschichtsklitterer das denen erklären, die im Ju-
gendwerkhof saßen oder aus der Hochschule flogen,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


denen damit gedroht wurde, ihnen ihre Kinder wegzu-
nehmen, wenn sie nicht mit der Stasi kooperierten, oder
auch den Eltern von Mauertoten? Ich halte es für zy-
nisch, wenn die DDR im Rückblick zu einer kleinen
Idylle gemacht wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, nicht umsonst
standen zentrale Werte unserer Demokratie auch für den
Aufbruch 1989 – Meinungsfreiheit, Versammlungsfrei-
heit, Pressefreiheit, Selbstbestimmung –, und wohl jedes
zweite Transparent in dem wunderbaren Herbst 1989 be-
zog sich auf diese friedlichen Werte, für die die Men-
schen einstanden, obwohl sie sich nicht sicher sein konn-
ten, dass sie nicht dafür im Knast landen würden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Die waren mutig!)


Grundrechte sind vor allem Freiheitsrechte. Es geht
um Freiheit, sich zu entfalten, mitzureden, aktiv das ei-
gene Leben zu gestalten. Genau über diese Freiheit müs-
sen wir auch heute reden. Dabei geht es nicht nur darum,
von Steuerlasten frei zu sein. Freiheit braucht Vorausset-
zungen, soziale, kulturelle, wirtschaftliche und auch
ökologische Voraussetzungen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Dazu passt es auch nicht – ich sage das bewusst auch
als Bürgerin der Ex-DDR, in der jeder Lebensbereich
durchleuchtet wurde –, dass wir Menschenwürde und
Persönlichkeitsrechte heute zur Disposition gestellt se-
hen, zum Beispiel in der Wirtschaft. Es kann doch nicht
sein, dass wir es als normal erachten, dass Verkäuferin-
nen quasi per se unter Verdacht gestellt und durchsucht
oder von Sicherheitskräften betatscht werden, wenn sie
den Laden verlassen.






(A) (C)



(B) (D)


Katrin Göring-Eckardt

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es kann nicht sein, dass Unternehmen unter dem Deck-
mäntelchen der Prävention Krankenakten führen und
dann Mitarbeiter unter Druck setzen. Wir sind ein freies
Land. Dafür müssen wir kämpfen, auch in diesem Be-
reich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zum Abschluss, liebe Kolleginnen und Kollegen:
Mein Sohn hat gerade seine Abiturklausur über die Ge-
schichte der Demokratie geschrieben. Er ist ganz hinge-
rissen von dieser Frage, ebenso seine ganze Klasse,
wenn sie davon erzählen, wie großartig sie es finden, ei-
gentlich ein bisschen in der Vorstellung, wie es wohl ge-
wesen wäre, wenn sie selbst dabei gewesen wären. Das
liegt nur ein ganz kleines bisschen an elterlicher Erzie-
hung; das liegt vor allen Dingen an einer wunderbaren
Geschichtslehrerin, die erklärt, begeistert, übt und
kämpft. Es ist katastrophal, dass die Auseinandersetzung
mit der eigenen Geschichte und der Geschichte der De-
mokratie wie mit der Diktatur in unseren Schulen immer
wieder hinten herunterfällt. Das müssen wir ändern,
denn dort ist die Wiege der Demokratie für die Zukunft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Diejenigen, die dafür 1989 auf die Straße gegangen sind,
haben allen Grund, heute nicht damit zu hadern, dass die
Demokratie nicht das Paradies ist. Sie ist aber das Beste,
was uns passieren konnte.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1622202500

Das Wort hat der Kollege Arnold Vaatz von der CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Arnold Vaatz (CDU):
Rede ID: ID1622202600

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Dass das Grundgesetz der Bundesrepublik
Deutschland die deutsche Wiedervereinigung als poli-
tisches Ziel aufrechterhalten hat und damit dazu bei-
getragen hat, zu verhindern, dass eine eigene DDR-
Staatsbürgerschaft anerkannt wurde, war eine der
Grundvoraussetzungen für die deutsche Wiedervereini-
gung. Dafür bin ich ganz besonders dankbar.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Diese Tatsache bewirkte aber noch mehr: Sie hat
nicht nur den Flüchtlingen, die damals die Botschaften
besetzt hatten, Mut gegeben und es ihnen ermöglicht,
ungeschädigt in den Westen zu gelangen, sondern sie
diente auch all denjenigen, die sich damals entschlossen
hatten, in der DDR zu bleiben, als letzte Zuflucht und
gab ihnen Hoffnung. Das muss, wie ich glaube, noch
hinzugefügt werden.

Gleichwohl muss gesagt werden: Die Tatsache, dass
das Grundgesetz die deutsche Wiedervereinigung als po-
litisches Ziel beibehalten hat, ist nicht allein hinreichend
dafür gewesen, dass das Grundgesetz der Bundesrepu-
blik Deutschland dann zu unserer gemeinsamen deut-
schen Verfassung geworden ist, sondern dazu trug auch
der überragende Erfolg bei, den die auf dem Fundament
des Grundgesetzes gewachsene Bundesrepublik Deutsch-
land nach dem Krieg hatte.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dieser Erfolg hat die Menschen in Ostdeutschland und
darüber hinaus die Menschen im gesamten damaligen
sowjetischen Einflussbereich nicht eine Sekunde lang
zögern lassen bei der Antwort auf die Frage, welcher
Gesellschaftsaufbau die optimalen Entfaltungschancen
für alle bietet und welchen man im eigenen Land anwen-
den soll. Insofern hat das Grundgesetz der Bundesrepu-
blik Deutschland auch den Weg für die Einheit Europas
bereitet.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Man muss außerdem sagen: Das lag nicht allein am
Grundgesetz, sondern auch an den Personen, die damals
daran gearbeitet haben, dass der Geist des Grundgeset-
zes in der damaligen Situation umgesetzt wurde. Da bin
ich Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher ganz be-
sonders dankbar, dass sie damals für die Einheit gearbei-
tet haben und sich nicht wie andere, die das zum Teil
noch heute tun, gegen die Einheit gestellt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Peter Ramsauer hat schon den Slogan aufgegriffen,
der uns gelegentlich entgegengehalten wird, nämlich
dass das Grundgesetz den Menschen in Ostdeutschland
übergestülpt worden sei. Ich möchte die Kritik an die-
sem Slogan gerne noch etwas verstärken. Hinzuzufügen
wäre etwa, dass diese Aussage eigentlich Ausdruck un-
geheurer Arroganz ist, nämlich einer Arroganz gegen-
über der freien Entscheidung der Menschen in Ost-
deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Man versucht, diese Menschen nachträglich für unmün-
dig zu erklären nach dem Motto: Sie wussten ja nicht,
was sie taten. Aber genau das stimmt nicht. Sie wussten
genau, was sie taten, und sie würden es heute wieder so
tun. Man kann nur dann auf die Idee kommen, ihnen ein
entsprechendes Unwissen zu unterstellen, wenn man un-
berücksichtigt lässt, was für ein Albtraum es für die Ost-
deutschen gewesen wäre, wenn sie diese geschichtliche
Stunde, die ihnen plötzlich die nicht mehr für möglich
gehaltene deutsche Wiedervereinigung eröffnete, ver-
stolpert hätten. Genau dies wollten sie unter allen Um-
ständen vermeiden. Deshalb sind sie kein Risiko einge-






(A) (C)



(B) (D)


Arnold Vaatz
gangen. Und, meine Damen und Herren, das war richtig
so.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Um ein Stück weit zu illustrieren, wie gefährlich die
Lage damals war, möchte ich einiges in Erinnerung ru-
fen. Ich will zwar unter gar keinen Umständen alle Mit-
glieder der Sozialdemokratischen Partei in einen Topf
werfen – viele von ihnen haben Enormes für die deut-
sche Wiedervereinigung und auch für das Wachhalten
des Gedankens daran getan; dazu zähle ich Willy Brandt,
Henning Voscherau und andere –, aber doch daran erin-
nern, welche Auffassung Oskar Lafontaine damals ver-
treten hat. Oskar Lafontaine hat im Dezember 1989 ge-
sagt, man müsse den Zugriff der Übersiedler aus dem
Osten auf die Solidarsysteme im Westen einschränken.
Das war seine Auffassung. Auch Herr Schröder hat ge-
sagt: Wir müssen verhindern, dass sich die DDR-Bürger
über Gebühr an den Leistungen bedienen, für die die
Westdeutschen Beiträge gezahlt haben.


(Zurufe von der CDU/CSU: Ungeheuerlich! – Was sagt Herr Gysi dazu?)


Das war die damalige Situation. Dies hat Herr Schröder
noch am 27. Januar 1990 gesagt. Daran erkennen Sie,
wie dringend es für uns gewesen ist, in dieser Frage
klare Verhältnisse zu schaffen. Ich bin dankbar dafür,
dass es gelungen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Wissen Sie, dass die Demokratie auch zur Wahrheit verpflichtet?)


– Selbstverständlich, Herr Lafontaine, habe ich davon et-
was gehört. Zur Wahrheit hätte aber auch gehört, dass
Sie heute an dieser Stelle zu Ihren damaligen Reden kor-
rekt Stellung genommen hätten. Das haben Sie nicht ge-
tan.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Ja, das wäre an der Zeit! Ein bisschen Selbstbeschäftigung!)


Als ich hier Ihre eigentumsphilosophische Vorlesung
verfolgt habe, habe ich bedauert, dass Sie in Ihrem Saar-
land nicht die Möglichkeit hatten, die Umsetzung Ihrer
Ideen in Ostdeutschland persönlich mitzumachen und
mitzuerleben. Sie wären ein hervorragender Leiter der
staatlichen Plankommission des Bezirks Karl-Marx-
Stadt geworden, Herr Lafontaine.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, derzeit diskutieren wir
über die Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat war oder
nicht. Der Ministerpräsident des Landes Mecklenburg-
Vorpommern sagt, er wolle durch diese Diskussion die
DDR gegen den Vorwurf verteidigen, es hätte in diesem
Staat auch nicht das geringste bisschen Gute gegeben.
Diesen Vorwurf erhebt niemand. Ich kenne überhaupt
niemanden, der sagt, in der DDR habe es nicht das ge-
ringste bisschen Gute gegeben.


(Zuruf von der FDP: So ist es!)


Diese Frage ist auch nicht relevant in Bezug darauf,
ob man die DDR als Unrechtsstaat qualifiziert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Denn wer die DDR als Unrechtsstaat bezeichnet, der be-
streitet nicht, dass es in dieser DDR absolut vernünftige
Vorschriften gegeben hat. Die Straßenverkehrsordnung,
vielleicht abgesehen von der Tempo-100-Regelung, war
eine vernünftige Regelung.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)


Das Gleiche gilt für das Zivilrecht. Der frühere Minister-
präsident de Maizière hat allen Grund, immer wieder
darauf hinzuweisen, was passiert wäre, wenn man alle
Verwaltungsakte aufgehoben hätte. Dann wären nämlich
alle Ehen in der damaligen DDR geschieden gewesen.
Also Unsinn! Das heißt, es bestand überhaupt kein uni-
verseller Korrekturbedarf für alle Entscheidungen der
DDR. Auch das besagt der Begriff Unrechtsstaat nicht.
Der Begriff Unrechtsstaat besagt etwas anderes. Er be-
sagt, dass diejenigen, die sich in der DDR das Recht zur
Gesetzgebung angemaßt haben, dieses Recht nicht hat-
ten, weil sie dazu nicht durch freie Wahlen legitimiert
waren.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb war die DDR selbstverständlich ein Un-
rechtsstaat. Dieser Unrechtsstaat ging weit über die
bloße Tatsache der Nichtlegitimation der Volkskammer
hinaus. Denn er hat zusätzlich auch noch dafür gesorgt,
dass es keine Gewaltenteilung, keine unabhängige Ge-
richtsbarkeit und insbesondere keine Verfassungsge-
richtsbarkeit gab,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


mit der die Bürger die eigentlich in der damaligen DDR-
Verfassung festgeschriebenen Grundrechte gegen den
Staat hätten einklagen können. Diese Tatsachen qualifi-
zieren die DDR als einen Unrechtstaat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich hatte gehofft, dass man sich dieser Tatsache ge-
rade in der jetzigen Diskussion etwas stärker bewusst
wird. In der damaligen DDR haben wir selbstverständ-
lich im Fernsehen gesehen, wie man gleichzeitig mit
dem Bestehen des Repressionsregimes in der DDR im
Westen mit der Bundesrepublik Deutschland umgegan-
gen ist. In den 70er-Jahren wurde die Bundesrepublik
Deutschland als ein Polizeistaat, als alles mögliche Ne-
gative bezeichnet, unter anderem auch von Herrschaften,
die hier mit im Raum sitzen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hier dürfen Sie sich direkter ausdrücken! Wir sind hier nicht in der DDR!)







(A) (C)



(B) (D)


Arnold Vaatz
Der Beweis dafür, dass die Bundesrepublik Deutschland
kein Polizeistaat war, ist, dass man ihn einen Polizeistaat
nennen durfte.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)


Dass die DDR ein Polizeistaat war, beweist die Tatsache,
dass die Polizei kam, wenn man diesen Staat so nannte.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das alles ist zum Glück vorbei.

Meine Redezeit ist leider abgelaufen. Das tut mir au-
ßerordentlich leid; denn ich habe noch eine ganze Menge
mehr vorbereitet. Vielleicht kann ich das beim nächsten
Mal sagen.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Beim 70.!)


Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1622202700

Als letzte Rednerin in dieser Aussprache hat die Kol-

legin Christel Riemann-Hanewinckel von der SPD-Frak-
tion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Christel Hanewinckel (SPD):
Rede ID: ID1622202800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen im
Plenarsaal des Deutschen Bundestages! Ich möchte
meine Rede in dieser Debatte mit einer persönlichen Ge-
schichte beginnen. Ich habe mir 1962 eine Ausgabe der
Verfassung der Deutschen Demokratischen Repu-
blik gekauft. Warum, weiß ich nicht mehr. Damals war
ich 15 Jahre alt. In dieser Verfassung, die ich bei der
Vorbereitung auf diese Rede wiedergefunden habe, habe
ich damals verschiedene Artikel und Punkte angestri-
chen. Im Rückblick auf das, was ich in den vergangenen
19 Jahren im Deutschen Bundestag erlebt habe, finde ich
das, was ich angestrichen habe, besonders interessant
und in dieser Debatte erwähnenswert.

Es gab in der DDR-Verfassung von 1949, die in Tei-
len an die Weimarer Verfassung von 1919 angelehnt war,
den Abschnitt „Rechte des Bürgers“, und zwar in einem
Kapitel mit der Überschrift „Inhalt und Grenzen der
Staatsgewalt“. Ich habe mir damals den Art. 9 angestri-
chen, der besagte, dass alle Bürger das Recht haben, „in-
nerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze
ihre Meinung frei und öffentlich zu äußern“. Bereits für
mich als 15-Jährige war relativ schnell klar, dass das
1962 nicht mit der Realität übereinstimmte.

Auf der gleichen Seite befand sich Art. 10, den ich
doppelt unterstrichen habe. Darin hieß es: „Jeder Bürger
ist berechtigt, auszuwandern.“ Das war 1962, ein Jahr
nach dem Mauerbau. Meine Schwester hatte dieses
Recht 1955 für sich in Anspruch genommen und war in
die Bundesrepublik zu ihrem Liebsten ausgewandert.
Das hatte zur Folge, dass sie nicht mehr in die DDR zu
Besuch kommen durfte und dass auch wir nach 1961
nicht mehr die Möglichkeit hatten, mitzuerleben, wie es
der Familie meiner Schwester ging.

1968 legte die DDR eine neue Verfassung vor, über
die in einer Volksabstimmung entschieden werden sollte.
Das war die einzige Volksabstimmung, die zu DDR-Zei-
ten stattfand. Damals war ich 21 Jahre alt und als Buch-
händlerin im Volksbuchhandel beschäftigt. Im Vorfeld
dieser Abstimmung sollte innerhalb eines jeden sozialis-
tischen Kollektives – das betraf auch den Volksbuchhan-
del – unterschrieben werden, dass bei der Volksabstim-
mung jeder und jede von uns natürlich mit Ja stimmt.
Das habe ich abgelehnt mit dem Verweis darauf, dass
nach der Verfassung der DDR, die ja noch galt – das
wurde dann übrigens auch in die neue Verfassung über-
nommen –, freie, geheime und allgemeine Wahlen
durchgeführt werden müssen. Indem ich die Unterschrift
verweigert habe, habe ich nicht nur das Ansehen des
Kollektivs geschädigt – das war für die anderen sehr
schlimm –, sondern mein Verhalten hatte auch für mich
persönlich Konsequenzen. Mir wurde nach vielen Dis-
kussionen und zähem Ringen mein Arbeitsplatz im
Volksbuchhandel gekündigt. Das bedeutete faktisch Be-
rufsverbot; denn es gab fast nur Volksbuchhandlungen
und kaum noch private Buchhandlungen. Ich war zwei
Jahre arbeitslos – und das in einem Staat, der mit seinen
Gesetzen garantierte, dass jeder Mann und jede Frau ein
Recht auf Arbeit und Beschäftigung hat.

Auch die 1968 geänderte Verfassung beinhaltete Ver-
sammlungs-, Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit.
Außerdem galten die Unverletzbarkeit der Wohnung und
das Post- und Fernmeldegeheimnis. Doch genau diese
Rechte der Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem
Staat hebelten die SED und die Staatssicherheit Artikel
für Artikel aus. Diese Verfassung hatte keinerlei Verfas-
sungswirklichkeit.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Genau!)


In den Stasiakten ist nachzulesen, wie eng die Zusam-
menarbeit zwischen der Staatsanwaltschaft, den Rich-
tern, den SED- und CDU-Funktionären und der Staats-
sicherheit war. Sie arbeiteten Hand in Hand gegen die
Bürgerinnen und Bürger. Rechtsstaatlichkeit konnte we-
der erlebt noch eingeklagt werden. Denn eine Trennung
von Justiz und Staatsapparat, also eine Gewaltenteilung,
gab es nicht. Das oberste Gericht der DDR war der
Volkskammer bzw. – wenn die Volkskammer nicht tagte –
dem Staatsrat verantwortlich.

Das sind Erfahrungen, die ich zu DDR-Zeiten mit vie-
len anderen teilte. Wir wollten Veränderungen in diesem
Land bewirken. Wir wollten mitgestalten. Wir wollten
dazu beitragen, dass in der DDR Demokratie nicht nur
auf dem Papier stand, sondern auch erlebbar, fühlbar
wurde. Wir waren nämlich davon überzeugt, dass Demo-
kratie die Grundlage dafür ist, dass Menschen sich frei
entfalten können.

Wir hatten also ähnliche Beweggründe, als wir uns in
den 80er-Jahren in der DDR in den unterschiedlichsten
Gruppen engagierten. Die Rufe nach demokratischer
Teilhabe und Mitgestaltung sowie danach, die in der






(A) (C)



(B) (D)


Christel Riemann-Hanewinckel
Verfassung niedergeschriebenen Rechte durch den Staat
zu garantieren, wurden immer lauter. Immer mehr Men-
schen, vor allem junge, fanden sich in Friedens- und
Umweltgruppen zusammen. Die Folgen davon waren
vermehrte Repressalien.

Ein Beispiel. Obwohl in Art. 28 der Verfassung von
1968, also in der veränderten Verfassung, das Recht auf
Versammlung und auf Nutzung von Versammlungsge-
bäuden und -plätzen festgeschrieben war, wurde es von
staatlicher Seite nicht gewährt. Im Klartext bedeutete
dies das Verbot jeglicher Art von Versammlungen, aber
auch von Demonstrationen, obwohl die Formulierung
des entsprechenden Artikels anders lautete. Denn Ver-
sammlungen außerhalb der Parteien der Nationalen
Front und der sozialistischen Massenorganisationen wa-
ren nicht möglich.

Die Evangelische Kirche bot Raum für Friedens- und
Umweltgruppen und für die Mitarbeit am Konziliaren
Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der
Schöpfung. Das waren damals drängende Themen. Wie
ich aus Nachrichtensendungen wusste, waren das auch
drängende Themen in der Bundesrepublik Deutschland.
Die Aktion „Schwerter zu Pflugscharen“ breitete sich in
den 80er-Jahren aus.

Viele junge Menschen haben massiv unter den Ein-
griffen des Staates gelitten. Sie wurden zum Teil von der
Schule verwiesen. Sie bekamen keine Berufsausbildung
bzw. nicht die Berufsausbildung, die sie wollten. Sie
wurden inhaftiert oder – so hieß das damals – von der
Stasi zugeführt.

Wer nach 1990 einmal die Möglichkeit hatte, sich den
Geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau von innen an-
zusehen, dem wurde ganz schnell deutlich, was viele
junge Männer und Frauen und Minderjährige erleiden
mussten, ohne dass es zuvor ein Verfahren gegeben hatte.
Was die Volksbildungsministerin Margot Honecker die-
sen jungen Menschen angetan hat – viele leiden noch
heute unter den Folgen –, wurde nie gesühnt, weil dies
rechtsstaatlich sehr problematisch ist. An dieser Stelle
wird für mich besonders deutlich, dass die DDR ein Un-
rechtsstaat war.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diejenigen, die den Mut hatten, etwas anderes zu den-
ken und das, was sie anders gedacht haben, laut zu sa-
gen, gerieten mehr und mehr unter Druck. Die Verfas-
sung bot ihnen keinen Schutz, obwohl in ihr noch so
etwas Ähnliches wie Grundrechte formuliert waren. Im
Gegenteil: Auf die dort niedergeschriebenen Rechte zu
verweisen, führte oft zu strafrechtlicher Verfolgung.

Es gab zum Beispiel den Straftatbestand der Zusam-
menrottung, der dann erfüllt war, wenn man sich mit
Gleichgesinnten getroffen hat, oder den Straftatbestand
der ungesetzlichen Verbindungsaufnahme, der dann vor-
lag, wenn Bürger der DDR es wagten, sich mit Gleichge-
sinnten in der Bundesrepublik Deutschland kurzzu-
schließen, sich zu informieren und sich vielleicht sogar
im Osten Berlins zu treffen.
Meine Damen und Herren, das Engagement vieler
Menschen brachte das System der DDR im Herbst 1989
zum Einsturz. In der Folge wurden Vorschläge für eine
gemeinsame deutsche Verfassung erarbeitet. Das
Grundgesetz wurde von seinen Müttern und Vätern im
Jahre 1949 nämlich als vorläufig betrachtet und sollte
bis zur deutschen Einheit Bestand haben. In Art. 146 des
Grundgesetzes kommt das bis heute sehr gut zum Aus-
druck.

Statt eines Verfassungsrates arbeitete von 1991 bis
1994 lediglich eine Gemeinsame Verfassungskommis-
sion von Bundestag und Bundesrat. Ich bedaure das
noch heute – so geht es vielen –, weil das eine gute
Chance gewesen wäre, unsere Erfahrungen mit einzu-
bringen und nicht nur die Grundrechte und die Freihei-
ten, die wir haben, in ganz Deutschland bekannt zu ma-
chen, sondern auch deutlich zu machen, dass dies die
einzig mögliche Grundlage eines demokratischen Staats-
gebildes ist.


(Jan Mücke [FDP]: Aber das hat es damals doch gegeben!)


– Nein, das hat es nicht gegeben. Das hat es deshalb
nicht gegeben, weil die Verfassungskommission exklu-
siv tagte. Was es gegeben hat, lieber Herr Kollege – hier
stimme ich Ihnen zu, das war auch richtig und gut so und
hat bewiesen, wie viele Männer und Frauen in der Lage
gewesen wären, sehr konstruktiv mitzuarbeiten –, waren
Tausende von Zuschriften zu Art. 3 des Grundgesetzes,
als es darum ging, dass niemand wegen einer Behinde-
rung diskriminiert werden darf.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Ja, genau!)


Diese Formulierung war in der Verfassungskommis-
sion sehr umstritten.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Ja!)


Die Kolleginnen und Kollegen von der Union wollten
sie nicht in das Grundgesetz aufnehmen. Ihre Begrün-
dung lautete: Wenn wir Menschen mit Behinderung er-
wähnen, welche anderen Personengruppen müssen wir
dann noch alles aufzählen? – Es wurde also das Argu-
ment angeführt, dass eine gewisse Beliebigkeit einsetze.
Ich bin sehr froh, dass die Behindertenverbände und
viele Einzelpersonen dafür gekämpft haben und eine
Mehrheit der Gemeinsamen Verfassungskommission da-
mals dafür votiert hat, diesen Zusatz in Art. 3 des Grund-
gesetzes aufzunehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


– Ja, da kann man auch heute noch klatschen, erst recht,
weil durch die Konvention der Vereinten Nationen über
die Rechte der Menschen mit Behinderungen deutlich
geworden ist, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Es
muss ein Grundrecht sein, vor Diskriminierung ge-
schützt zu werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Andere Diskriminierungverbote wurden allerdings
nicht ins Grundgesetz aufgenommen. Natürlich können
wir jetzt sagen: Es ist prima, dass uns die europäische
Gesetzgebung eingeholt hat. – Vielleicht ist es tatsäch-






(A) (C)



(B) (D)


Christel Riemann-Hanewinckel
lich etwas tröstlich, dass das eine oder andere, was wir
nicht in unsere Verfassung aufnehmen konnten, nun von
anderer Seite beigesteuert wird.

Für die Gruppen in den östlichen Bundesländern, die
damals Vorschläge erarbeitet und sich sehr intensiv mit
der Frage „Welchen Inhalt sollte eine gemeinsame deut-
sche Verfassung haben?“ beschäftigt haben, war es sehr
enttäuschend, dass auf ihre Zuarbeit und Mitarbeit weit-
gehend verzichtet wurde.

Eine entscheidende Festschreibung der Mütter und
Väter des Grundgesetzes von 1949 haben wir noch im-
mer nicht erfüllt. Ich zitiere Art. 146:

Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Ein-
heit und Freiheit Deutschlands für das gesamte
deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem
Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von
dem deutschen Volke in freier Entscheidung be-
schlossen worden ist.

Das können wir jederzeit nachholen. Denn das heißt
nichts anderes, als dass wir einen Volksentscheid durch-
führen und unserer Verfassung, dem Grundgesetz, in
veränderter Form zustimmen; darauf komme ich noch
zurück.

Meine Damen und Herren, ich gratuliere dem Grund-
gesetz zum 60. Geburtstag. Ich habe mittlerweile
19 Jahre mit dem Grundgesetz erlebt und bin darüber
sehr froh. Ich danke den Männern und vor allen Dingen
den Frauen, die damals an seiner Erarbeitung beteiligt
waren, für ihr Engagement und ihren Mut, nach den
furchtbaren Erfahrungen mit der Nazidiktatur die Prinzi-
pien der Menschenwürde, der Freiheit, der Gleichbe-
rechtigung und der Gleichheit in den Mittelpunkt zu stel-
len.

Ich beglückwünsche die Bundesrepublik Deutschland
dazu, dass sie sich auf der Basis dieses Grundgesetzes,
dieses Regelwerkes organisieren konnte. Unsere Erfah-
rungen in der DDR waren genau umgekehrt: Der Staat
hat sich konstituiert, nach seinem Bedarf bzw. seiner In-
terpretation eine Verfassung geschrieben und in der
SED-Diktatur die Rechte ausgehöhlt. Auch das machte
den Unrechtsstaat aus.

Glückwünsche zum 60. Geburtstag sind heutzutage
Wünsche an die jungen Alten. Ich kann das so locker sa-
gen; denn ich habe das selbst vor zwei Jahren hinter
mich gebracht.


(Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Mit Erfolg!)


– Vielen Dank. – Auch das Grundgesetz gehört dazu. Es
hat die 60 Jahre mit Erfolg hinter sich gebracht und kann
durchaus zu den jungen Alten gezählt werden. Sie wis-
sen, dass mit 60 Jahren noch vieles offen ist: Verände-
rungen und Entwicklungen sind möglich und auch
nötig. Das gilt genauso für das Grundgesetz. Eine Ver-
fassung kann und muss immer wieder überarbeitet und
gestaltet werden. Unsere Gesellschaft stellt sich immer
wieder neuen Anforderungen; das muss sich auch im
Grundgesetz widerspiegeln. Deshalb ist noch einiges zu
tun. Ich möchte ein paar Anliegen nennen.
Erstens. In Art. 20 Abs. 2 steht: „Alle Staatsgewalt
geht vom Volke aus.“ Das bedeutet für uns als Parlamen-
tarierinnen und Parlamentarier, dass wir unsere Aufga-
ben im Auftrag der Bürgerinnen und Bürger dieses
Landes erfüllen. Das heißt für mich und für die Sozial-
demokratische Partei, dass auch dem Volke eine Beteili-
gung zu ermöglichen ist. Volksinitiativen, Volksbegeh-
ren und Volksentscheide gehören deshalb in das
Grundgesetz. Bisher gab es dafür in diesem Haus keine
Mehrheiten. Die zweite Volkspartei will diese Art der
Beteiligung auf Bundesebene nicht. Das haben wir 1994,
aber auch in der Folge, als wir entsprechende Anträge
eingebracht haben, sehr deutlich gehört. Lieber Koali-
tionspartner CDU/CSU, welche Befürchtungen haben
Sie eigentlich im Hinblick auf die unmittelbare Bürger-
beteiligung? Die Antwort auf diese Frage sind Sie dem
Parlament, aber auch dem deutschen Volk bis heute
schuldig geblieben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/ CSU]: Das ist doch klar geregelt! Sie sollten den nächsten Satz auch noch vorlesen!)


– Das entwertet das, was ich gefordert habe, überhaupt
nicht.

Zweitens. Noch immer werden Kinder in Deutschland
nach Art. 6 über die Rechtsbeziehung ihrer Eltern defi-
niert. Noch immer gibt es in Deutschland den Status des
nichtehelichen Kindes. Das bedeutet, dass ungefähr
45 Prozent der Kinder, die im Osten geboren werden,
dieses Etikett angeklebt wird. Noch immer werden Men-
schen, die in Lebenspartnerschaften Verantwortung für-
einander übernehmen, nicht vom Grundgesetz geachtet.
Es gab entsprechende Vorschläge, die vor 15 Jahren lei-
der auch keine Mehrheit erhalten haben.

Kinderrechte gehören jetzt unbedingt ins Grundge-
setz.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Sie müssen Richtschnur des politischen Handelns von
Bund, Ländern und Kommunen sein. Eine Aufnahme
der Kinderrechte ins Grundgesetz würde bedeuten, dass
Deutschland endlich die 1992 erklärten Vorbehalte
gegenüber der UN-Kinderrechtskonvention zurückneh-
men könnte.


(Beifall bei der SPD)


Drittens. Das Grundgesetz enthält am Ende, nach
Art. 146, einen Auszug aus der Weimarer Verfassung,
die 1919, vor 90 Jahren, beschlossen wurde. Das bedeu-
tet, dass diese Artikel, die praktisch als Anhang im
Grundgesetz stehen, auch 90 Jahre alt sind. Diese Arti-
kel beschreiben das Verhältnis des Staates zur Kirche.
Als Mitglied der evangelischen Kirche und Theologin
hatte ich 1994 die Hoffnung, dass die Gemeinsame Ver-
fassungskommission eine neue Vereinbarung dazu vorle-
gen würde. Leider wurde eine solche Vereinbarung we-
der von weiten Teilen der Verfassungskommission noch
von den beiden großen Kirchen gewünscht. Damals hät-






(A) (C)



(B) (D)


Christel Riemann-Hanewinckel
ten wir zumindest eines tun können bzw. aus meiner
Sicht tun müssen: Wir hätten wenigstens Begriffe wie
„Reich“ und „Heer“ durch Begriffe ersetzen müssen, die
unserer Realität entsprechen.

Das Verhältnis des Staates zu den Kirchen muss für
das 21. Jahrhundert in unserer Verfassung neu geregelt
und gestaltet werden.

Viertens. Kommunales Wahlrecht für Migrantin-
nen und Migranten aus Nicht-EU-Ländern. Wenn In-
tegration gelingen soll – und sie muss gelingen –, dann
ist dieses Wahlrecht für die betroffenen Männer und
Frauen ein entscheidender Punkt.

60 Jahre lang hat sich das Grundgesetz bewährt. Es
hat Veränderungen erfahren. Die Menschen aus dem Os-
ten Deutschlands erleben seit 19 Jahren den Schutz
durch Grundrechte. Deshalb kann ich sagen: Das Grund-
gesetz ist auch für uns zum Glücksfall geworden. Ich be-
danke mich bei all denen herzlich, die 40 Jahre lang, bis
vor 20 Jahren, intensiv dafür gearbeitet haben, dass wir
die Chance bekommen haben, daran teilzuhaben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1622202900

Ich schließe die Aussprache.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 sowie Zusatz-
punkt 2 auf:

16 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele,
Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP

Wachstumsprogramm zur Überwindung der
Rezession

– Drucksache 16/12887 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer

(Münster)

FDP

Anti-Rezessionsprogramm auflegen

– Drucksache 16/10867 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt
es Widerspruch? – Das ist nicht der Fall.

Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich Ihnen
noch mitteilen, dass die für 13.30 Uhr angekündigte
Pause nicht stattfinden wird, sondern die Beratungen
durchgehend fortgesetzt werden.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Rainer Brüderle von der
FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1622203000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesen

Stunden wird das Ergebnis der Steuerschätzung vorge-
tragen. Das ist eine Bankrotterklärung für die Bundesre-
gierung und auch eine persönliche Niederlage für Herrn
Steinbrück. Minister Steinbrück wird von der Financial
Times Deutschland als „diplomatische Neutronen-
bombe“ bezeichnet; auf jeden Fall ist er der größte
Schuldenmacher in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland. Die kleinste Recheneinheit bei den Schul-
denlöchern ist mittlerweile die Milliarde; man könnte
auch sagen: ein Peer. Das Ergebnis der Steuerschätzung
beweist: Mit Steuererhöhungen bringt man öffentliche
Haushalte nicht in Ordnung. Man braucht Wachstum und
Ausgabendisziplin, um sie in Ordnung zu bringen.


(Beifall bei der FDP)


Drei Jahre lang hat die FDP-Fraktion gefordert: Sorgt
für die mageren Jahre vor! Drei Jahre lang haben Sie uns
verhöhnt und unsere liberalen Sparbücher ins Lächer-
liche gezogen. Sie haben den Bundeshaushalt von
260 Milliarden Euro auf 300 Milliarden Euro aufge-
bläht. Jetzt müssen die Bürger Ihre Rundum-sorglos-
Politik teuer bezahlen. Deutschland braucht nach Aus-
kunft der Konjunkturforscher bis 2013, um wieder das
Wohlstandsniveau von 2008 zu erreichen. Das ist das Er-
gebnis Ihrer Politik. Schwarz-Rot hat den Aufschwung
nicht genutzt, um Deutschland besser aufzustellen und
auf erkennbar schwierige Zeiten vorzubereiten. Ihr Re-
gierungsmotto war: Investieren, Sanieren und Reformie-
ren. Das Erbe, das Sie hinterlassen, ist: Blamieren, Dilet-
tieren und Ruinieren.

Das klassische Konjunkturmuster in Deutschland
war: Getrieben vom Export springt die Wirtschaft an;
lässt die Exportnachfrage nach, springen die Investitio-
nen an und dann der private Konsum. Dieser Mechanis-
mus funktioniert in Deutschland schon länger nicht
mehr. Die strukturelle Schwäche ist die Binnenkonjunk-
tur. Der Sachverständigenrat hat immer wieder darauf
hingewiesen. Für die schwache Binnenkonjunktur tragen
die letzten Bundesregierungen – Grün-Rot und Schwarz-
Rot – die Verantwortung. Das geht von den kleinen Ge-
meinheiten wie der Praxisgebühr bis zu den großen
Hammerschlägen wie der Mehrwertsteuererhöhung.


(Beifall bei der FDP)


Die Konsequenz ist: Die Unternehmen haben sich im
letzten Jahrzehnt noch stärker den Auslandsmärkten zu-
gewandt. Die Exportquote betrug ein Drittel; heute
liegt sie bei rund 50 Prozent. Das hat mit unserer Pro-
duktionspalette zu tun, aber vor allen Dingen mit der
Schwäche des Binnenmarktes. Die Exportquote ist aber






(A) (C)



(B) (D)


Rainer Brüderle
unnatürlich hoch. Daran trägt die Bundesregierung, Rot-
Grün wie Schwarz-Rot, eine entscheidende Mitschuld.

Stellen Sie sich einen Moment vor, die 75 Milliarden
Euro, die Sie mit der Mehrwertsteuererhöhung bei den
Bürgern abkassiert haben, wären heute noch in den Hän-
den der Bürger! Der Abschwung wäre dann halb so
schlimm. Dies wären Kräfte, um die Binnenkonjunktur
zu aktivieren.


(Beifall bei der FDP)


Ich möchte mit einer Mär aufräumen, die insbeson-
dere die Sozialdemokraten verbreiten: Die USA werden
von der Rezession viel härter getroffen als Deutschland. –
Das ist falsch. Deutschland hat ein Minus von 6 Prozent,
die Vereinigten Staaten haben ein Minus von 3 Prozent.
Uns trifft es doppelt so hart wie die Vereinigten Staaten.
Das hat seine Ursache in der Schwäche dessen, was in
Deutschland entwickelt wurde.

Wir haben schon im November letzten Jahres ein An-
tirezessionsprogramm vorgeschlagen; wir haben es
heute wieder auf der Tagesordnung. Das haben Sie nicht
zur Kenntnis genommen; Sie haben es ignoriert. Statt-
dessen haben Sie im Hinblick auf die Wahl in Hessen ein
schuldenfinanziertes Ausgabenprogramm auf den Weg
gebracht. Herausgekommen ist Murks: Abwrackprämie
mit einem Volumen von 6 Milliarden Euro, Strohfeuer-
effekt, Vorzieheffekt, Mitnahmeeffekte.

Aber das Vorziehen der Steuerentlastungen bei den
Kassenbeiträgen war angeblich nicht möglich. Wir ha-
ben vorgeschlagen, sie auf den 1. Januar 2009 vorzuzie-
hen. Das wäre eine Entlastung in Höhe von 9 Milliarden
Euro gewesen. Von den Mitteln der Konjunkturpakete
werden Fußbodenheizungen für Eisbärengehege und Ra-
dargeräte zum Abschröpfen der Autofahrer angeschafft.
Das sind Sickerverluste und prozyklische Elemente.


(Ute Berg [SPD]: In welchem Land leben Sie eigentlich?)


Besonders dreist finde ich es, dass Herr Steinbrück
jetzt vor der Inflation warnt. Seine Schuldenpolitik ist
der größte Inflationstreiber in Deutschland.


(Beifall bei der FDP)


Da legt einer selbst den Brand, um anschließend Feuer-
wehr zu spielen. Absurder geht es nicht mehr.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Haben Sie außer den Sprüchen etwas Inhaltliches?)


Der Finanzminister profitiert von den inflationären Ent-
wicklungen. Die Zeche zahlen andere: Rentner, Gering-
verdiener und Sparer. Sie werden kalt enteignet.

Die Vorboten der inflationären Entwicklung sind un-
übersehbar. Das ist ein Ritt auf der Rasierklinge.


(Lachen des Abg. Dr. Wolfgang StrengmannKuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir wissen: Wenn das Geld schlecht wird, dann kann al-
les ins Rutschen kommen. Das beste Konjunkturpro-
gramm, das Deutschland passieren könnte, wäre eine an-
dere, eine bessere Regierung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1622203100

Das Wort hat der Kollege Laurenz Meyer von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Laurenz Meyer (CDU):
Rede ID: ID1622203200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-

nächst einmal möchte ich mich bei der FDP dafür bedan-
ken, dass sie das Thema Wachstum auf die Tagesord-
nung gebracht hat.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hätte die Große Koalition auch mal tun können!)


Gleichzeitig möchte ich mich bei ihr bedanken, weil ich
hoffe, dass möglichst viele – Herr Brüderle, das muss ich
in allem Ernst sagen – am Fernseher und hier im Saal zu-
gehört haben.


(Jan Mücke [FDP]: Das hoffen wir auch!)


Schon durch den Titel Ihres Antrages wird deutlich,
dass Sie in einer völligen Fehleinschätzung dessen le-
ben, worum es hier geht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Sie schreiben: „Wachstumsprogramm zur Überwindung
der Rezession“. Das ist keine Rezession. Weil es keine
normale Rezession ist, Herr Brüderle, helfen Ihre plat-
ten, einfachen Antworten, die Sie vor dieser Krise gege-
ben haben und die Sie heute geben, nicht weiter. Das ist
leider Gottes wahr.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir haben es in Deutschland mit einer höchstkompli-
zierten Situation zu tun. Deswegen helfen keine einfa-
chen Antworten. Die Antworten werden kompliziert sein
müssen. In dieser Situation erleben wir in Teilen unserer
Wirtschaft abbruchkantenartige Entwicklungen, wäh-
rend es in anderen Teilen kaum Auswirkungen gibt. Das
ist eine höchst diffuse Lage.

In dieser Situation geben Sie hier sozusagen die Stan-
dardantworten. Ich habe Ihnen das schon einmal gesagt:
Ich habe den Eindruck – hier leider wieder –, dass Sie
eine Reihe von richtigen Komponenten und Antworten,
die Sie in Ihrem Antrag erwähnen und die ich auch mit-
tragen würde, vom Computer per Zufallsgenerator stän-
dig durcheinandermischen lassen, sodass es nach einem
neuen Text aussieht. Dieser wird dann hier als Antrag






(A) (C)



(B) (D)


Laurenz Meyer (Hamm)

eingebracht. Das geht so nicht. Das ist nicht verantwor-
tungsbewusst;


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


das muss ich Ihnen wirklich sagen. Ich bin zwar in vie-
len Punkten nahe bei Ihnen. Aber in dieser Form geht es
wirklich nicht.

Seit Herbst letzten Jahres brennt es in Deutschland.
Wir haben am Anfang nur gelöscht. In einem ersten
Schritt haben wir, angefangen von der Erklärung der
Bundeskanzlerin zur Absicherung der Sparer bis hin
zum Finanzmarktstabilisierungsgesetz, gelöscht und an-
schließend die Schäden analysiert. Dann haben wir über
das kommunale Investitionsprogramm und Anreize für
Investitionen bis hin zu Regelungen zur degressiven Ab-
schreibung sowie zu Steuern und Abgaben einen zweiten
Schritt getan.

Der britische Botschafter hat letztlich in einem Ge-
spräch – ich will ihn hier nicht über Gebühr zitieren;
aber das ist ein für mich ganz wichtiger Punkt – zum
Ausdruck gebracht, dass es zu seinem Bedauern das, was
wir soziale Marktwirtschaft nennen, und damit Instru-
mente wie die Kurzarbeit in dem System der sozialen
Absicherung in Großbritannien in dieser Form nicht
gibt.

Ich will an dieser Stelle für unsere Fraktion ganz be-
wusst sagen: Angesichts all der Unternehmerbeschimp-
fung, die wir in den letzten Monaten gehört haben, ist es
im Zusammenhang mit der Kurzarbeit und dem verant-
wortungsvollen Umgang der Unternehmer mit den Ar-
beitnehmern in den Betrieben, besonders in den mittel-
ständischen Betrieben, an der Zeit, für das Miteinander
ein herzliches Dankeschön zu sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Hier haben in den vergangenen Monaten viele sehr
große Verantwortung gezeigt, sonst sähen unsere Ar-
beitslosenzahlen angesichts der drastischen Einbrüche
ganz anders aus.

Ich kann mich an ein Gespräch aus der vorletzten Wo-
che mit einem Unternehmer eines Zuliefererbetriebes
aus der Lkw-Branche erinnern. Er musste einen Auftrags-
einbruch von 90 Prozent verkraften. Trotzdem sagte der
Mann: Wir versuchen, mit Kurzarbeit über die Runden
zu kommen. Wir werden durchstarten, wenn es wieder
losgeht. – Diese Haltung stelle ich in vielen Firmen fest.
Davor habe ich Hochachtung. Diese Menschen haben
unser System nach vorne gebracht und etwas für die Ar-
beitnehmer und das Land getan. Das bezeichne ich als
gesunden Patriotismus und Heimatliebe. Diese Men-
schen identifizieren sich mit ihren Leuten vor Ort und
mit der Region. Deshalb an dieser Stelle ein ganz herzli-
ches Dankeschön.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Derzeit geht es um die Frage der Funktionsfähigkeit
der Finanzmärkte, Stichwort Bad Bank. Dahinter steckt
die Sorge um die notwendige Finanzierung mittelständi-
scher Unternehmen.

Eines ist mir in letzter Zeit – schon zu Beginn der
Krise, aktuell und auch heute Morgen in der Debatte –
immer wieder aufgefallen: Bei einer Analyse der Lage
stellen wir fest, dass es nicht darum geht, ob wir mehr
Staat brauchen. Wir brauchen mehr und klarere Rah-
menbedingungen, zum Beispiel für die Finanzwirt-
schaft. Wo ist denn das Versagen am größten gewesen?
Das war doch eher bei den staatlichen Bankinstituten der
Fall. Ich weiß überhaupt nicht, wie man auf die Idee
kommen kann, einer Verstaatlichung dieser Systeme das
Wort zu reden. Das ist doch absoluter Unsinn. Diejeni-
gen, die das fordern, haben offensichtlich nicht richtig
hingesehen. Zwei Drittel unserer Probleme sind bei
staatlichen Banken aufgetreten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das liegt nicht an zu viel Privatwirtschaft, sondern an zu
viel Staat und zu wenig Wettbewerb in diesem Land, an
einer falschen Ausgangssituation und an falschen Ge-
schäftsmodellen, die diese Leute verfolgt haben.


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Dann verstehe ich gar nicht, warum Sie die FDP kritisiert haben! Das ich doch eine Unterstützung der FDP!)


Wir brauchen klarere Rahmenbedingungen; das ist
ein typisches Merkmal der sozialen Marktwirtschaft.
Wir brauchen mehr langfristiges Denken, sowohl in den
Unternehmen wie auch beim Staat. Viele Probleme, mit
denen wir uns jetzt beschäftigen, sind auf zu kurzfristi-
ges Denken und Lenkungsmechanismen, die Anlass zu
kurzfristigem Handeln geben, zurückzuführen. Das fängt
bei den Managergehältern an, geht über die Quartalsab-
schlüsse und endet bei den Investitionen des Staates in
Bereichen wie Bildung und Familie. Langfristig führt
das auch zu Fragen hinsichtlich der Höhe der Steuern
und Abgaben.

Hier geht es nicht einfach um die Frage einer Absen-
kung der Prozentzahlen und noch nicht einmal um die
Frage, in welchen konkreten Schritten wir den Verlauf
der Steuerkurve korrigieren. Es geht darum, endlich
deutlich zu machen, dass dieses Land gerade in der
Situation, in der wir uns befinden, die Motivation aller
Leistungsträger braucht. Die normalen Arbeitnehmer
– die Durchschnittsverdiener, die Handwerker, die Fach-
arbeiter – müssen im Mittelpunkt unseres Handelns ste-
hen. Das muss die Botschaft sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir brauchen diese Leute, um den Karren aus dem
Dreck zu ziehen.

Deshalb sage ich – auch an meine Partei gewandt –:
Es ist richtig, dass wir diese Diskussion führen. Wir
müssen diese Diskussion vor der Wahl, bevor ein Wahl-
programm verabschiedet wird, führen, damit die Men-
schen vor der Wahl Klarheit bekommen, dass wir in der
nächsten Legislaturperiode den normalen Arbeitnehmer
in den Mittelpunkt unserer Betrachtungen stellen.






(A) (C)



(B) (D)


Laurenz Meyer (Hamm)

Wir brauchen langfristiges Denken. Forschung und
Entwicklung sind das Thema. Bei der steuerlichen An-
rechnung von Verlusten in Existenzgründungs- oder
Wachstumsbetrieben, Heinz Riesenhuber, sind wir mit
unserem Koalitionspartner leider nicht weitergekom-
men. Da sind Sperren in den Köpfen. Ich wundere mich
wirklich, wie jemand, der bereit ist, der Deutschen Post
jeden Monat 40 Millionen Euro Mehrwertsteuer zu
schenken, bei Kleinigkeiten, die den Unternehmen wirk-
lich helfen würden, dann, wenn es um die Zukunft des
Landes geht, alles blockieren kann, was sinnvoll und
notwendig ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Investitionsbremsen müssen gelockert werden im
Bereich Energie, im Bereich Verkehr – bei Straße,
Schiene und Flughäfen –, aber auch im Bereich Breit-
bandnetze. Das ist langfristiges Denken.

Herr Brüderle, in Ihrem Antrag taucht wieder auf,
dass Sie Veränderungen im Arbeitsrecht, Stichwort Kün-
digungsschutz, wollen. Ich frage Sie – darüber sollten
Sie einmal nachdenken – ganz konkret: Wollen Sie wirk-
lich in so einer Situation zusätzlich Millionen Menschen
in diesem Lande in Angst und Schrecken versetzen? Da
machen wir nicht mit. Das ist nicht unsere Politik. Wir
wollen nicht Angst verbreiten, sondern wollen die Leute
motivieren und sie in eine bessere Zukunft mitnehmen.
Wir wollen Startchancen schaffen. Das ist, glaube ich,
der richtige Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ein klares Bekenntnis zum Industriestandort Deutsch-
land gehört gerade in der jetzigen Situation dazu.

Zusammenfassend will ich sagen: Wichtig ist jetzt,
nicht die alten Antworten zu geben, sondern Mut zu zei-
gen, Verantwortung zu zeigen und klare Ziele nach dem
Denken zu äußern. Wenn wir es schaffen, alle Kräfte zu
mobilisieren, dann werden wir durchstarten können. Ich
bin sicher, dass wir am Ende des Prozesses zwar in einer
veränderten Situation sind; aber es muss keine schlech-
tere sein, wenn wir es richtig machen und die Verantwor-
tung und den Mut zeigen, der jetzt nötig ist.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1622203300

Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1622203400

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Wenn man den Antrag der FDP
liest, kann man den Eindruck gewinnen, dass es keine
Finanzkrise gibt und die Märkte auch ohne staatliche
Eingriffe funktionieren. Dabei liegen die neoliberalen
Glaubenssätze längst auf dem Müllhaufen der Ge-
schichte.
Die heutige Steuerschätzung geht allein für dieses
Jahr von einem Steuerausfall von 45 Milliarden Euro
aus. Der Finanzminister, der im Jahre 2011 eine
schwarze Null schreiben wollte, muss sich so hoch ver-
schulden, wie es in der Geschichte der Bundesrepublik
noch nie der Fall war. Dennoch fordert die FDP verbis-
sen eine Politik der Steuersenkung. Das ist nicht nur
weltfremd, das ist auch volksverdummend.


(Beifall bei der LINKEN – Heinz-Peter Haustein [FDP]: Nein, diese Politik ist richtig!)


Diese Weltfremdheit ist kein Privileg der FDP. Auch
die Kanzlerin hält trotz der katastrophalen Steuerschät-
zung an ihrem Vorhaben fest, die Einkommensteuersätze
zu senken. In die letzte Bundestagswahl ist die Opposi-
tionsführerin Merkel mit der Ankündigung gegangen,
die Mehrwertsteuer um 2 Prozentpunkte zu erhöhen.
Kaum war die Oppositionsführerin Kanzlerin, wurde ge-
meinsam mit der SPD der größte Wahlbetrug


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Der hat in der DDR bei Kommunalwahlen stattgefunden, wo Sie noch Verantwortung hatten!)


in der Geschichte der Bundesrepublik auf den Weg ge-
bracht: Aus 2 Prozentpunkten Mehrwertsteuererhöhung
wurden 3 Prozentpunkte.

Wessen Steuersätze will die Kanzlerin senken, und
wer soll das bezahlen? Das ist die Frage. In den letzten
zehn Jahren war es immer so, dass die Steuersenkungen
für die Reichen von den Geringverdienern, Rentnern,
Alleinerziehenden und Arbeitslosen bezahlt wurden.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Völliger Unfug!)


Die Wählerinnen und Wähler sollten diese dreiste Um-
verteilung bei der nächsten Bundestagswahl stoppen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir, die Linke, wollen Geringverdiener, Arbeitslose,
Alleinerziehende, Familien und Rentner entlasten, und
wir sagen auch ehrlich, wie wir das finanzieren wollen,
nämlich mit einer höheren Besteuerung derjenigen, die
in den letzten zehn Jahren schwindelerregende Gewinne
auf Kosten der Allgemeinheit angehäuft haben.


(Beifall bei der LINKEN – Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Wie kann man nur so lange so einen Quatsch erzählen?)


Im FDP-Antrag wird die Unternehmensteuerreform
angegriffen, durch die schon jetzt eine jährliche Entlas-
tung der Unternehmen von ungefähr 10 Milliarden Euro
erreicht wird. Die FDP möchte die Unternehmen noch
weiter entlasten, doch sie sagt nicht, wer für diese Steu-
erausfälle aufkommen soll. Das ist keine seriöse Steuer-
und Haushaltspolitik.


(Beifall bei der LINKEN – Heinz-Peter Haustein [FDP]: Ihr versteht es nicht!)


Sie wollen in Ihrem Antrag, dass sich die Bundes-
regierung dafür einsetzt, dass sich die Marktkräfte frei
entfalten können und dass sich der Staat zurückzieht.
Wenn der Staat das getan hätte, dann wären die Märkte






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gesine Lötzsch
schon jetzt komplett zusammengebrochen, und dann
gäbe es heute auch keine Commerzbank und damit zum
Beispiel auch keine Spenden an die FDP mehr.


(Rita Pawelski [CDU/CSU]: So ein Quatsch! – Jan Mücke [FDP]: Absurde Geschichten!)


Eine Forderung in dem FDP-Antrag möchte ich zitie-
ren:

Die Bundesregierung wird aufgefordert, weitere
Maßnahmen einzuleiten, die den Geldkreislauf wie-
derbeleben mit dem Ziel, die Kreditversorgung der
Wirtschaft zu sichern.

Was denn nun? Wollen Sie nun, dass der Staat ein-
greift und Banken mit Steuergeldern rettet, oder wollen
Sie plötzlich keinen freien Markt mehr, der sich ohne
Staat selbst reguliert?


(Jan Mücke [FDP]: Wir geben Ihnen noch einmal eine Lesehilfe!)


Es ist völlig unklar, was Sie eigentlich wollen.

Die Bundesregierung gibt allerdings vor, den Ban-
kensektor strenger regulieren zu wollen. Gegenwärtig
erleben die Menschen aber nur, dass die Regierung Mil-
liarden Euro in marode Banken steckt und nur eine
kleine Gruppe von Politikern und Bankmanagern über
die Vergabe von Milliarden entscheidet, ohne dass sie
vom Bundestag wirksam kontrolliert werden können.
Das ist ein Zustand, den wir nicht länger hinnehmen
können.

Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz bringt es auf den
Punkt – ich zitiere –:

… wird das Geld wahllos den Bankern hinterherge-
worfen, und die zahlen sich dafür Milliarden an
Boni und Dividenden aus. Wir Steuerzahler werden
praktisch ausgeraubt, um die Verluste einiger sehr
wohlhabender Leute zu verringern. Das muss sich
dringend ändern.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Recht hat er! – Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/ CSU]: Sie haben eben noch gegen Steuerentlastungen gesprochen!)


Der Bundesfinanzminister verbirgt sich mit den
Banklobbyisten hinter einer Mauer des Schweigens. Die
Informationen, die wir als Abgeordnete bekommen, sind
häufig komplett wertlos, und es werden Begriffe ver-
wendet, die wie Nebelbomben wirken.

Welche Wirkung soll zum Beispiel der Begriff „toxi-
sche Papiere“ auf die Bürger haben? Vorsicht, bitte nicht
öffnen, Lebensgefahr? Ich will genau wissen, welche
schlechten Kredite der Finanzminister aufkauft, für die
er gute Staatsanleihen ausgeben will, und ich will auch
genau wissen, wie aus diesen toxischen Krediten in
10 oder 20 Jahren durch Geisterhand wieder jungfräuli-
che Kredite werden. Das ist Voodoo-Ökonomie; um ein-
mal den Sprachgebrauch von Herrn Steinbrück zu benut-
zen.
Machen wir es doch einmal praktisch und nehmen wir
an, ein Autohaus habe auf Kredit 100 Geländewagen des
Typs Hummer H 2 gekauft. Dieser Geländewagen mit
einem durchschnittlichen Benzinverbrauch von 22 Li-
tern auf 100 Kilometer ist in der Krise unverkäuflich.
Glauben Sie wirklich, dass der Autohändler diese Sprit-
fresser in den nächsten 20 Jahren verkaufen kann? Diese
Vorstellung ist doch abenteuerlich und hat mit Ökono-
mie überhaupt nichts zu tun. Dieser Kredit ist und bleibt
tot.

Oder betrachten Sie eine Bank, die 100 Häuser in den
USA finanziert hat. Es handelt sich um Holzhäuser mit
Einfachverglasung, ohne Wärmedämmung und mit einer
Klimaanlage in jedem Zimmer. Glauben Sie wirklich,
dass man diese Häuser in 10 oder 20 Jahren mit Gewinn
verkaufen kann?

Ihr toxisches Gerede hat nur einen Zweck: Sie wollen
den Wählerinnen und Wählern Glauben machen, dass
nicht sie, sondern die Aktionäre die Zeche zahlen sollen.
Nein, es muss Schluss sein mit den unkontrollierten Mil-
liarden für die Banken.


(Beifall bei der LINKEN)


Eine Verstaatlichung der privaten Banken nach dem
schwedischen Modell, wie sie die Linke fordert, hat mit
Sozialismus übrigens nur sehr wenig zu tun, sondern ist
reine Marktwirtschaft. Wer das Geld gibt, der hat das Sa-
gen. Jetzt ist es aber so: Der Steuerzahler gibt das Geld,
hat aber gar nichts zu sagen. Diese Regierung hat das
Einmaleins der Marktwirtschaft noch immer nicht ver-
standen.


(Beifall bei der LINKEN)


Natürlich darf bei den FDP-Forderungen auch die
Flexibilisierung des Arbeitsrechts nicht fehlen. Sie mei-
nen damit natürlich den Abbau des Kündigungsschut-
zes. Sprechen Sie es doch ehrlich aus und schreiben Sie
es auch so auf, wie Sie es meinen! Herr Brüderle, sagen
Sie mir doch bitte, welche Unternehmen, welche Banken
jetzt in den Konkurs gehen, weil das Arbeitsrecht nicht
flexibel war? Diese Unternehmen gibt es nicht; Sie kön-
nen kein einziges nennen. Ich kann Ihnen aber genügend
Unternehmen nennen, die pleitegegangen sind, weil sie
von Heuschrecken überfallen wurden. Dazu steht kein
Wort in Ihrem Antrag.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Sie haben einen ganzen Staat pleite gemacht!)


Das wundert mich nicht, kann man doch von der FDP,
dem parlamentarischen Arm der Heuschrecken, nichts
anderes erwarten. Die FDP lebt weiter in ihrer Sharehol-
der-Value- und Boni-Welt.

Wir als Linke kennen die harte Wirklichkeit und die
Probleme der Menschen.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Ja, weil Sie sie ausgelöst haben!)


Deshalb sind wir für einen gesetzlichen Mindestlohn.
Denn wir sehen, dass viele Menschen in diesem Land
nicht von ihrem Lohn leben können.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gesine Lötzsch
Wir sind für eine Börsenumsatzsteuer, weil wir sehen,
wie die gierigen Finanzchaoten unsere Gesellschaft zer-
stören.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir sind für mehr öffentliche Investitionen, weil wir se-
hen, dass diese Regierung in den letzten Jahren die öf-
fentliche Infrastruktur – insbesondere die Sanierung von
Schulen, Hochschulen und Krankenhäusern – sträflich
vernachlässigt hat.


(Beifall bei der LINKEN)


Zum Schluss habe ich eine Frage an die SPD, Herrn
Müntefering und Herrn Steinmeier. Sie schließen eine
Koalition mit der FDP nicht aus. Deshalb frage ich Sie,
wie Sie in einer Koalition mit der Haifisch-FDP, wie sie
überall auf den Wahlplakaten zu sehen ist, Ihr Wahlpro-
gramm durchsetzen wollen.


(Heinz-Peter Haustein [FDP]: Das fragen wir uns auch!)


Am besten plakatieren Sie: Haifischfutter würde SPD
wählen!


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1622203500

Das Wort hat die Kollegin Ute Berg von der SPD-

Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Ute Berg (SPD):
Rede ID: ID1622203600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu

Ihrer Frage, Frau Lötzsch: Wir werden die FDP positiv
beeinflussen. Das fällt uns sicherlich nicht schwer, Herr
Brüderle.


(Heiterkeit bei der FDP)


Nachdem uns gerade Frau Lötzsch das Einmaleins
der Marktwirtschaft erklärt hat, komme ich auf Ihren
Antrag zurück, Herr Brüderle. Die FDP hat, wie ich
finde, einen glasklaren Schaufensterantrag vorgelegt.
Damit meine ich, dass Ihre Absichten leicht zu durch-
schauen sind: Sie brauchen noch Munition für den Wahl-
kampf. Bisher haben Sie nichts zur Bewältigung der
Krise beigetragen. Außerdem haben Sie ein Sammel-
surium von Einzelpunkten vorgelegt, das den Anspruch
jeglicher Seriosität vermissen lässt.


(Heinz-Peter Haustein [FDP]: Das sehen wir anders!)


Ganz oben auf dem Forderungskatalog steht wieder
die altbekannte Forderung nach niedrigeren Steuern.


(Heinz-Peter Haustein [FDP]: Das ist gut so!)


Ich kann es nicht mehr hören. Dabei müsste es sich in-
zwischen auch bis zu Ihnen herumgesprochen haben,
dass jetzt aus einer großen Steuerreform nichts wird,
weil es dafür absolut keinen Spielraum gibt. Die aktuel-
len Zahlen der amtlichen Steuerschätzung liegen noch
nicht vor; aber Peer Steinbrück hat bereits festgestellt,
dass sich die Steuerausfälle für die nächsten vier Jahre
auf ungefähr 350 Milliarden Euro belaufen werden. Wer
in dieser Lage Steuersenkungen fordert, hat offenbar
den Schuss noch nicht gehört.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Hinzu kommen – das ist bereits absehbar – die stei-
genden Ausgaben bei den Sozialversicherungen und die
Ausfälle durch den Bankenrettungsfonds. Klaus
Zimmermann, der Präsident des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung, hat mit seiner Einschätzung un-
sere Position bestätigt:

Der Ruf nach Steuersenkungen ist auf absehbare
Zukunft unverantwortlicher Populismus.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben daher andere Konzepte zur Krisenbewäl-
tigung entwickelt. Wie Sie wissen, steuern wir mit drei
Maßnahmenpaketen aktiv gegen die Krise an. Erstens
haben wir einen Rettungsschirm über die Banken ge-
spannt, um die Geldversorgung aufrechtzuerhalten. Ich
weiß, dass es dabei noch ein wenig hakt. Wir sind gerade
dabei, nachzujustieren. Des Weiteren haben wir die
Spareinlagen der Bürgerinnen und Bürger gerettet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Frau Lötzsch sollte auch zur Kenntnis nehmen, dass wir
nicht nur die Höherverdienenden, sondern auch die nor-
malen Bürgerinnen und Bürger im Blick haben.

Zweitens haben wir bereits im November 2008 das
erste Konjunkturpaket in Höhe von 30 Milliarden Euro
und drittens zu Beginn dieses Jahres das zweite Paket
beschlossen. Damit unterstützen wir Unternehmen wie
auch die Beschäftigten in einem Umfang von
50 Milliarden Euro. Das ist mit 80 Milliarden Euro ins-
gesamt das größte Konjunkturpaket in der Geschichte
der Bundesrepublik. Damit – das wiederhole ich aus-
drücklich – sichern wir Arbeitsplätze. Die FDP hat uns
die ganze Zeit bei allen Maßnahmen beschimpft und da-
gegengestimmt, aber nichts Eigenes entwickelt.

Wir setzen bewusst auf einen Maßnahmenmix. Ich
konzentriere mich auf vier Punkte: Wir setzen Impulse
für Investitionen und stärken gleichzeitig die Binnen-
nachfrage durch Entlastungen der Bürgerinnen und Bür-
ger von Steuern und Abgaben. Wie gesagt, mehr geht
nicht. Wir helfen mit dem Wirtschaftsfonds kleinen und
großen Unternehmen und sichern damit die Arbeits-
plätze vieler Beschäftigter. Wir stützen mit der Ab-
wrackprämie die von der Krise besonders betroffene Au-
tomobilbranche. In der gestrigen Anhörung ist noch
einmal deutlich geworden, dass wir hier offensichtlich
sehr erfolgreich sind. Wir treiben zudem den Breit-
bandausbau in Deutschland massiv voran.

Damit nenne ich nur einige Maßnahmen, die wir be-
schlossen haben. Insgesamt handelt es sich um einen
ausgewogenen Mix aus kurzfristig und mittelfristig wir-
kenden Maßnahmen, die bereits ihre Wirkung entfalten.
Das zeigt nach wie vor die, wie ich finde, erstaunlich sta-
bile Binnennachfrage in Deutschland.






(A) (C)



(B) (D)


Ute Berg
Zum Glück – dank der Politik aus der rot-grünen Re-
gierungszeit – sind wir in die jetzige Krise relativ stark
hineingegangen. Hinter uns liegt eine Zeit des Abbaus
der Arbeitslosigkeit um etwa 2 Millionen Menschen. Es
wurde damit mehr Beschäftigung aufgebaut, als nun be-
droht ist. Das befriedigt nicht, ist aber ein Trost. Wenn
wir nicht so gut regiert hätten, hätte es noch viel bedroh-
licher ausgesehen.

Auf zwei Punkte unserer Konjunkturmaßnahmen
möchte ich noch detaillierter eingehen, da Sie diese zwar
in Ihrem Antrag erwähnen, dabei aber vergessen, was
wir bereits beschlossen haben. Ich meine erstens Investi-
tionen in Bildung und Infrastruktur und zweitens Entlas-
tungen der Bürgerinnen und Bürger von Steuern und Ab-
gaben. Sie scheinen wirklich vergessen zu haben, was
wir hier getan haben. Beides sind wichtige und richtige
Stellschrauben, um in einer Situation, in der die Export-
märkte wegbrechen, die Binnenkonjunktur zu stützen.

Punkt 1, Impulse für mehr Investitionen. Mit unse-
rem kommunalen Investitionsprogramm finanzieren wir
zu zwei Dritteln Investitionen in den Bildungsbereich
und zu einem Drittel Investitionen in die Modernisierung
der Infrastruktur. Wir haben zusätzlich Mittel für den
Ausbau und die Erneuerung der Bundesverkehrswege,
aber auch im Bereich der IuK-Technik bereitgestellt. Wir
haben zudem die Mittel für die Förderprogramme der
Kreditanstalt für Wiederaufbau aufgestockt, um weitere
Investitionen anzustoßen, insbesondere für die energeti-
sche Gebäudesanierung. Alles in allem summieren sich
die Ausgaben für Investitionen auf 25 Milliarden Euro in
den kommenden zwei Jahren. Mit einer deutlichen Ver-
einfachung des Vergaberechts haben wir außerdem si-
chergestellt, dass öffentliche Aufträge schnell und unbü-
rokratisch – auch und gerade kleinen und mittleren
Unternehmen – erteilt werden können. Im Moment den-
ken wir darüber nach, in diesem Bereich ein wenig nach-
zujustieren und weitere Erleichterungen für KMUs vo-
ranzubringen.

Punkt 2, Entlastung von Steuern und Abgaben.
Durch unsere bereits beschlossenen Maßnahmen entlas-
ten wir die Bürgerinnen und Bürger. Dabei haben wir be-
sonders einkommensschwächere Haushalte im Blick, da
hier das zusätzliche Geld direkt in den Konsum geht.
Das beginnt mit der Absenkung des Eingangssteuersat-
zes auf 14 Prozent und der Anhebung des Grundfreibe-
trags auf 8 004 Euro. Das geht weiter mit dem Kinderbo-
nus in Höhe von 100 Euro, den die Familienkassen
bereits ausgezahlt haben, sowie der Erhöhung des Kin-
derregelsatzes beim Arbeitslosengeld II und der Sozial-
hilfe ab dem 1. Juli 2009. Nicht zuletzt haben wir bereits
die Sozialabgaben gesenkt.

Alles in allem entlasten wir die privaten Haushalte
mit Augenmaß um insgesamt rund 30 Milliarden Euro.
Herr Fuchs, das heißt, eine Familie mit zwei Kindern hat
in diesem Jahr netto 679 Euro und im Jahr 2010
614 Euro mehr in der Tasche. Hinzu kommen die bes-
sere Absetzbarkeit von Handwerkerrechnungen und ver-
besserte Abschreibungsmöglichkeiten für Unterneh-
men. Das alles sind Maßnahmen, die auch den Konsum
und die Investitionstätigkeit anregen.
Es geht aktuell aber auch darum, die Grundlage für
den nächsten Aufschwung zu legen. Von zentraler Be-
deutung sind dabei erstens gut qualifizierte Fachkräfte
und zweitens die Bereitschaft und die Fähigkeit zu Inno-
vationen. Wie Sie alle wissen, haben wir die Bezugs-
dauer des Kurzarbeitergeldes von 12 auf 18 Monate ver-
längert und die Bedingungen unter anderem durch
Qualifizierungsangebote attraktiver gestaltet. Wir sehen
an der starken Annahme dieses Angebots, dass Unter-
nehmen offensichtlich ihre Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer wirklich halten und sie nicht in die Arbeits-
losigkeit entlassen wollen.

In einem zweiten Schritt werden wir – das hat Olaf
Scholz schon mit BDA und DGB vereinbart – die Be-
zugsdauer des Arbeitslosengeldes auf 24 Monate verlän-
gern und die Arbeitgeber ab dem siebten Monat Kurzar-
beit vollständig von den Sozialabgaben entlasten. Wir
wollen die Unternehmen dabei unterstützen, gemeinsam
mit ihren Beschäftigten durch die Krise zu gehen, damit
sie dann, wenn diese Krise vorbei ist, mit qualifizierten
Fachkräften wieder durchstarten können.

Damit tun wir wirklich etwas, um Arbeitsplätze zu si-
chern, und handeln nicht wie Sie, meine Herren von der
FDP – ich sehe, im Moment sind nur noch Herren da –,


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Nur keine Diskriminierung!)


die Sie mit Ihrer Forderung nach einem flexibleren Ar-
beitsrecht verschleiern, was Sie wirklich wollen. Was
das nämlich im Klartext heißt, sehen wir in Ihrem Wahl-
programm: Kündigungsschutz nur für Betriebe mit mehr
als 20 Beschäftigten und erst nach zwei Jahren Beschäf-
tigungsdauer. Gleichzeitig wollen Sie die betriebliche
Mitbestimmung deutlich einschränken und am liebsten
ganz abschaffen. Das ist eine Politik gegen Beschäftigte
und auch gegen Unternehmen. Gerade in der Wirt-
schaftskrise zeigt sich nämlich, dass Unternehmen und
Beschäftigte eine Schicksalsgemeinschaft bilden, die ge-
meinsam an einem Strang zieht. Ich gehe davon aus,
dass auch Sie in Ihren Wahlkreisen unterwegs sind und
hören, dass sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer in diesen
Zeiten sehr einig sind und gemeinsam Konzepte umset-
zen, die wir entwickelt haben, um die Unternehmen zu
stärken und die Beschäftigten in den Unternehmen zu
halten.

Genauso wichtig für die Zukunft unserer Wirtschaft
sind Investitionen in Forschung und Entwicklung. In
diesem Bereich wird in Krisenzeiten leider häufig ge-
spart, und zwar auf Kosten der Innovationsfähigkeit der
Betriebe und des Standortes Deutschland insgesamt. Ich
habe mir in der vorletzten Woche ein positives Gegen-
beispiel angeschaut. Die Firma Phoenix Contact, ein
mittelständischer Betrieb aus meiner Region, steuert be-
wusst in der Krise dagegen und verstärkt trotz Kurzar-
beit in der Produktion ihre Anstrengungen im Bereich
Forschung deutlich; denn, so einer der Geschäftsführer,
die Firma möchte nach der Krise in der Poleposition
sein. Um generell Firmen Anreize zu geben, ähnlich wie
Phoenix Contact zu agieren, haben wir die Mittel für das
Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand um insge-
samt 900 Millionen Euro erhöht und damit den Etat für






(A) (C)



(B) (D)


Ute Berg
Forschungsförderung im innovativen Mittelstand fast
verdoppelt.


(Beifall bei der SPD)


Die Regierungsfraktionen haben in der aktuellen
Krise zügig und entschlossen gehandelt und Verantwor-
tung für unser Land übernommen. Das wird auch in den
kommenden Wochen das Prinzip unseres Handelns sein,
wenn es nämlich darum geht, die nach wie vor bestehen-
den Probleme unseres Bankensystems durch die Einrich-
tung von Bad Banks in den Griff zu bekommen und die
Kreditversorgung der Wirtschaft zu sichern.

In diesem Punkt möchte ich allerdings Herrn Meyer
ausdrücklich widersprechen. Es ist mitnichten so, dass
der Staat zu großen Teilen der Versager war. Natürlich
haben auch staatliche Banken ihren Teil dazu beigetra-
gen,


(Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Zwei Drittel ist mehr als die Hälfte!)


dass das Bankensystem in Misskredit geraden ist.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wer hat denn den ganzen Mist beschlossen? Das waren Sie doch! Wer hat denn in den letzten elf Jahren den Finanzminister gestellt?)


Aber dass die Krise von lupenreinen Privatbanken in den
USA ausging, das können Sie, Herr Meyer, wirklich
nicht unter den Tisch kehren.


(Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Und von staatlichen Wohnungsbaufinanzierern in den USA!)


Insofern halte ich die Diskussion, die Sie hier führen, für
falsch. Ich glaube, dass der Staat verstärkt regulierend
eingreifen muss,


(Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Regulierend ja!)


wobei man natürlich auch nicht auf dem „Staatsauge“
blind sein darf. Es hat hier aber in allererster Linie ein
Marktversagen und kein Staatsversagen gegeben.


(Beifall bei der SPD)


Die Politik ist in diesen Wochen gefordert, pragmati-
sche Lösungen für außerordentlich schwierige Probleme
zu finden. Anträge wie der Ihre sind im Moment alles
andere als hilfreich.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1622203700

Das Wort hat nun Thea Dückert für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622203800

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Lieber Herr Brüderle, ich muss Ihnen schon
eingangs Folgendes sagen: Ich finde, Sie haben hier ei-
nen akrobatischen intellektuellen Akt zur Aufführung
gebracht. Ich hoffe, Sie haben sich dabei nicht verletzt.
Es ist schon erstaunlich, dass Sie die gerade veröffent-
lichten Steuerschätzungen – die vorgelegten Zahlen sind
dramatisch, was Steuerausfälle angeht – als Hinweis da-
rauf interpretieren, dass weitere Steuersenkungen not-
wendig sind. Das muss Ihnen schon einmal jemand
nachmachen. Das zeigt, mit welcher Ignoranz Sie mit
dieser Krise umgehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dazu noch eines – Sie propagieren Steuersenkungen
schon seit langem; Sie haben sie vor und nach der Krise
propagiert; Sie wiederholen sich ständig –: Ich kenne
keine Regierung – an vielen Regierungen war die FDP
jahrelang beteiligt –, der es gelungen ist, mit Steuersen-
kungen einen wirtschaftlichen Aufschwung auf den Weg
zu bringen. Sie haben in keiner einzigen Regierung Steu-
ersenkungen durchgesetzt.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Keine Ahnung von nichts auf hohem Niveau! Denken Sie mal an 1986/88, Frau Kollegin! Da waren Sie wahrscheinlich noch nicht im Bundestag!)


Obwohl Sie verschiedenen Landesregierungen angehö-
ren, ist es im Bundesrat noch zu keiner Initiative gekom-
men, die Steuern zu senken. Ich kann nur feststellen:
Das, dem Sie hier seit Jahrzehnten das Wort reden, ist
Wahlbetrug.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sie wollen über Konjunktur und Rezession, wie Sie
sagen, reden. Ich denke, wir sollten hier über die Krise
reden und darüber, wie wir aus dieser Krise herauskom-
men. Schon die von Ihnen verwendete Begrifflichkeit ist
doch eine Verharmlosung. Wir erleben die weltweit
größte Krise. Es geht um die Frage, welche Antworten
wir als Politikerinnen und Politiker haben. Das ist der
Punkt.

Ich muss schon sagen: Ich wundere mich sehr, dass
Sie sich vor dem Hintergrund dieser weltweiten Krise
hierhin stellen und behaupten, dass sie etwas mit der
Steuerpolitik in diesem Land zu tun habe. Auch die FDP
müsste endlich erkannt haben, dass die Finanzkrise als
systemische Krise, die die Wirtschaftskrise ausgelöst
hat, überhaupt nichts mit Steuerpolitik zu tun hat, aber
ganz viel mit einem wirklich völlig unbegrenzten, unre-
gulierten Neoliberalismus, der sich auf den Finanzmärk-
ten durchgesetzt hat. Charakteristisch für ihn ist die
Abwesenheit von Regelungen. Der Zustand der Regel-
losigkeit im Bereich Finanzmarkt hat uns eine Krise ein-
gebrockt, die mit Steuerpolitik nichts zu tun hat und die
man mit einer anderen Steuerpolitik nicht bewältigen
kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Haben Sie sieben Jahre lang keine Regeln geschaffen?)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Thea Dückert
Vielleicht reden Sie den Zustand deswegen klein, weil
Ihre Ideologien dieser Entwicklung den Boden bereitet
haben.

Die entscheidende Frage ist: Wie kommen wir aus
den Krisen, mit denen wir es zu tun haben – Finanzkrise,
Wirtschaftskrise, Klimakrise –, heraus? Vor kurzem hat
die Hannover-Messe stattgefunden. Auf ihr waren viele
Maschinenbauer und mittelständische und kleine Unter-
nehmen vertreten. Sie haben eines sehr deutlich ge-
macht: Sie haben in ihren Bereichen eine Chance, wenn
sie sich auf die ökologische Modernisierung konzen-
trieren. Das war in Hannover Thema; das ging durch
sämtliche Tageszeitungen.

Gleichzeitig gibt es international – ich sprach von ei-
ner weltweiten Krise – Antworten auf die Krise. China
investiert 200 Milliarden Dollar in die ökologische Er-
neuerung, in den Klimaschutz, in die ökologische Mo-
dernisierung.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Vor allem in Kernkraftwerke! – Dr. Michael Fuchs [CDU/ CSU]: Sie bauen 17 zurzeit!)


Die USA investieren in den nächsten zehn Jahren
150 Milliarden Dollar in genau diesen Bereich, also in
erneuerbare Energien, in die ökologische Modernisie-
rung. Südkorea hat 80 Prozent der Mittel seines Kon-
junkturpakets genau in diese Bereiche investiert.

Herr Meyer sagte eben, wir sollten hier für Deutsch-
land Mut entfalten und nicht immer die alten Antworten
geben. – Ja, Herr Meyer, das meine ich auch. Allerdings
sollten Sie vor dem Hintergrund dessen, was ich hier ge-
rade dargestellt habe, genau dies einmal Ihrer Frau
Kanzlerin mitteilen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Merkel hat in der letzten Woche noch einmal darauf
hingewiesen, mit ihr gebe es keine Klimabeschlüsse, die
Arbeitsplätze in Gefahr bringen.

Meine Damen und Herren, Entschuldigung, ich
glaube, Sie haben wirklich nicht begriffen, dass umge-
kehrt ein Schuh daraus wird. Die Lösung ergibt sich
durch Klimaschutz, durch Investitionen in ökologische
Modernisierung, und zwar in allen industriellen Berei-
chen: Maschinenbau, Chemie, Hightech. Solche Investi-
tionen sind notwendig und werden Arbeitsplätze brin-
gen. Hier ist bei Ihnen Fehlanzeige.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Anders als Sie hat es beispielsweise die Wirtschafts-
woche in der letzten Woche auf den Punkt gebracht. Sie
titelt „Grün aus der Krise“ und schreibt, dass die deut-
sche Industrie mit neuen Ideen eine Million neue Jobs
schaffen kann.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Die haben nicht die Grünen gemeint! – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit den Grünen aus der Krise!)


Damit ist Folgendes gemeint: Wir haben eine ökonomi-
sche Krise und eine ökologische Krise. Es führt kein
Weg daran vorbei, beide Krisen in einem, mit ein und
demselben Ansatz zu lösen. Die ökonomische Krise er-
fordert Investitionen; wir müssen unsere Wirtschaft in
Gang bringen. Die ökologische Krise erfordert Klima-
schutzmaßnahmen. Beides ist machbar.

Jeder einzelne Euro, den wir hier in Deutschland für
Investitionen in die Hand nehmen, muss in den Bereich
der ökologischen Modernisierung fließen. Darin liegt die
Chance, meine Damen und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dazu zählen die Bereiche Bildung und erneuerbare En-
ergien,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Die gehören auch dazu!)


Biolandwirtschaft, Gesundheit und Pflege. Sie bieten
Möglichkeiten zur Schaffung von Arbeitsplätzen; aber
wir brauchen sie auch für unsere Gesellschaft, um in die
Zukunft gehen zu können. Das ist eine Palette von Mög-
lichkeiten – wir werden sie Ihnen auch noch einmal
überreichen –, wie man mit breit angelegten Ansätzen
zur ökologischen Modernisierung eine Million Arbeits-
plätze in Deutschland schaffen kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Röttgen hat in der letzten Woche gesagt, mit
Sparen könne man die Konjunktur nicht ankurbeln. Er
wollte damit ein Argument für die Notwendigkeit von
Steuersenkungen liefern. – Es tut mir wirklich leid; ich
schätze Herrn Röttgen und insbesondere seine Argumen-
tationen sehr, aber hier hat er definitiv einen völlig fal-
schen Gegensatz aufgebaut. Es geht nicht darum, nicht
zu investieren, sondern darum, jeden Euro richtig zu in-
vestieren, also nachhaltig für die Zukunft. Es geht nicht
darum, dass wir sparen sollten und deswegen die Steuern
nicht senken sollten – selbstverständlich müssen wir
auch sparen –; vielmehr geht es darum, dass wir jetzt
Konjunkturprogramme aufgelegt haben, die für Steuer-
senkungen keinen Raum mehr lassen. Eine Debatte
hierüber müssen wir in diesem Hause führen.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Steuerschätzung,
vor dem Hintergrund der historisch größten Verschul-
dung Deutschlands ist es wirklich ein vorbereiteter
Wahlbetrug – das gilt auch für Frau Merkel –, in dieser
Situation Steuersenkungen anzukündigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist vorbereiteter Wahlbetrug in doppelter Hinsicht:
Erstens werden Sie die Steuern nicht senken können.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Doch! Zum 1. Januar 2010 sowieso schon!)


– Sie sagen „doch“. Prima! – Dann kommt der zweite
Wahlbetrug zum Tragen: Sie werden es nur tun können,
indem Sie in der Zukunft in Deutschland Sozialabbau
betreiben, den Sie hier nicht thematisieren. Das ist wirk-
lich unredlich, meine Damen und Herren!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/ Dr. Thea Dückert CSU]: Das ist so falsch wie unredlich, was Sie sagen!)





(A) (C)


(B) (D)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1622203900

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.


Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622204000

Ich komme zum Ende.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Gott sei Dank! – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist auch gut so!)


– Ich glaube gerne, dass Sie das nicht hören wollen.

Zum Ende möchte ich Sie auf Folgendes verweisen:
Es ist richtig, zu investieren, aber stoppen Sie nicht, wie
Ihre Regierung das gerade tut, Investitionen in Berei-
che, wo wir sie brauchen wie beispielsweise im Bil-
dungsbereich – Herr Steinbrück hat ja den Bildungspakt
gerade auf Eis gelegt, indem er einen Haushaltsvorbehalt
geltend gemacht hat –, und geben Sie das Geld nicht an
der falschen Stelle aus wie zum Beispiel für die Ab-
wrackprämie.

Bei der gestrigen Anhörung im Ausschuss ist noch
einmal ganz deutlich geworden, dass diese Abwrackprä-
mie, für die Sie jetzt noch mehr Geld bereitstellen – Geld
ist also offenbar da –, ökologische Kollateralschäden mit
sich bringt.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Sie sind der Kollateralschaden! – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Sie haben nicht zugehört!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1622204100

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.


Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622204200

Ich komme zum Schluss. – Außerdem wird durch die

Abwrackprämie Nachfrage vorgezogen und einem orga-
nisierten Betrug mit Altwagen Vorschub geleistet. Es
gäbe an dieser Stelle noch viel zu diskutieren – das sagen
die Fachleute, nicht wir.

Ich fordere Sie auf, meine Damen und Herren: Hören
Sie auf mit falschen Versprechungen und schaffen Sie
mit uns zusammen 1 Million neue Arbeitsplätze über
eine ökologische Modernisierung.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1622204300

Das Wort hat nun Kollege Hermann Otto Solms für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1622204400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

will in aller Kürze nur noch einmal auf den Kern dieses
Antrages hinweisen. Die Situation ist: Wir haben eine
Rekordrezession. Die Bundesregierung ist nicht allein
daran schuld, aber sie ist auch nicht unschuldig. Sie hat
in dieser Legislaturperiode die höchste Steuererhöhung
durchgeführt, die wir je erlebt haben.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: So ist es!)


Über diese höhere Steuerbelastung wollte sie die öffent-
lichen Haushalte sanieren. Das hat sie nicht geschafft.
Sie hat für die schlechten Jahre nicht vorgesorgt, die ja
zu erwarten waren. Deswegen fehlt ihr jetzt das Geld.

Darüber hinaus hat sie mit diesen hohen Belastungen
auch noch eine Binnenrezession herbeigeführt. Das ist ja
die Folge von höheren Belastungen.


(Beifall bei der FDP – Klaus Barthel [SPD]: Die Binnenwirtschaft ist nicht das Problem, sondern der Export!)


Sie können doch keinem erzählen – auch der Parteitag
der Grünen kann das keinem weismachen –, dass man
mit höheren Steuern und höheren Belastungen die Wirt-
schaft beleben kann. Nein, all dieses dämpft die wirt-
schaftliche Entwicklung und schwächt das Einkommen
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die dann we-
niger ausgeben können. Das führt im Endeffekt auch zu
geringeren Sozialabgaben und Steuereinnahmen.

Hinzu kommt, dass die Bundesregierung jetzt zwar
einen Rekordstand bei den Schulden erreicht, aber zu-
gleich beinahe schon höhnisch behauptet, jetzt bleibe
kein Geld mehr für die Entlastung der Bürger. Es ist
doch grotesk, dass sie für diese blöde Abwrackprämie
plötzlich 6 Milliarden Euro in die Hand nimmt,


(Ute Berg [SPD]: Wieso 6 Milliarden?)


aber den Bürgern keine Entlastung gönnt. Wo sind wir
denn hier?


(Beifall bei der FDP)


Die Bürger sind der Souverän dieses Staates. Sie stehen
im Mittelpunkt, und nicht die Autos.


(Klaus Barthel [SPD]: Wer kriegt denn die Abwrackprämie? Doch wohl die Bürger!)


Die Abwrackprämie ist im Übrigen ein Schuss in den
Ofen, weil überwiegend Importautos verkauft worden
sind;


(Klaus Barthel [SPD]: Falsch! – Ute Berg [SPD]: Dummes Zeug! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir sind doch Europäer, Herr Solms!)


die kleinen Reparaturwerkstätten haben nichts mehr zu
tun, die Gebrauchtwagenhändler gehen pleite, und nach
Auslaufen der Abwrackprämie wird es einen Nachfrage-
einbruch geben. Das wissen Sie genauso gut wie ich.
Das sagen auch die Experten.


(Ute Berg [SPD]: Sie hätten einmal zur Anhörung kommen sollen, Herr Solms!)


Ich will jetzt einmal die Vergangenheit hinter uns las-
sen. Die Frage ist nun: Wie kommen wir aus der Rezes-
sion heraus, und was kann der Staat dazu tun, dass wir
sie überwinden? Man muss sich immer wieder in Erinne-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Hermann Otto Solms
rung rufen, dass 10 Prozent des Sozialproduktes im
staatlichen Sektor erwirtschaftet werden, 90 Prozent
aber im privaten Sektor. Also muss ich mich doch in
erster Linie darauf konzentrieren, Impulse für Wachs-
tum, für Investitionen und für Beschäftigung im privaten
Sektor zu geben, damit sich dieser positiv entwickelt.
Die beiden Konjunkturprogramme konzentrieren ihre
Ausgaben aber allein auf den staatlichen Sektor, und
auch hier nur auf einen Teil, nämlich im Wesentlichen
die Bauwirtschaft. Das hilft einigen Baufirmen und eini-
gen Kommunen – zugegeben –, aber es nutzt der wirt-
schaftlichen Entwicklung so gut wie nichts, sondern
führt in erster Linie nur zur Erhöhung der Schuldenlast.

Die Steuerentlastungen, die Sie auf den Weg ge-
bracht haben, waren richtig. Diese haben wir unterstützt.
Sie kommen nur zu spät. Die Möglichkeit, Krankenver-
sicherungsbeiträge von der Steuer abzuziehen, besteht
erst ab 2010. Wir hätten diese Regelung aber schon in
diesem Jahr gebraucht. Sie hätten sie zum 1. Januar die-
ses Jahres in Kraft setzen sollen. Sie wurden übrigens
dazu genötigt, diese Möglichkeit zu schaffen, weil das
Bundesverfassungsgericht das gefordert hat. Aus eige-
nem Antrieb hätten Sie es gar nicht getan.


(Beifall bei der FDP)


Es wird jetzt darauf ankommen, zu entlasten, damit mehr
investiert, mehr Arbeitsbereitschaft ausgelöst wird und
damit die Bürger, die Arbeitnehmer mehr Netto vom
Brutto behalten, damit sie sich wieder langlebige Ge-
brauchsgüter, etwa ein Auto, aus eigenem Einkommen
leisten können, in ihr Haus investieren können, auch bei-
spielsweise energiesparende Investitionen in den Ge-
bäude- bzw. Wohnbestand tätigen können. Das ist doch
die Voraussetzung dafür. Der gute Wille ist ja zu begrü-
ßen, aber erst einmal müssen Sie den Bürgerinnen und
Bürgern die Möglichkeit dafür schaffen.

Frau Dückert, ich wundere mich wirklich über Ihr Ge-
dächtnis. Erinnern Sie sich, dass Sie selbst als Grüne
eine Steuerreform mitverantwortet haben. Sie haben al-
len Grund, Herrn Brüderle zu danken und ihn nicht zu
beschimpfen;


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich renne doch nicht herum und verspreche andauernd Steuersenkungen!)


denn er hat damals dafür gesorgt, dass Rheinland-Pfalz
im Bundesrat dieser Steuerreform über die Hürde gehol-
fen hat.


(Zurufe von der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen)


– Nein, das lag nicht an uns.


(Klaus Barthel [SPD]: Im Bundesrat waren Sie dagegen und die Grünen dafür!)


– Das haben wir natürlich gemeinsam miteinander be-
sprochen, wie wir das immer tun. Die Steuerreform,
Frau Dückert, die Sie zu verantworten haben, hat selbst-
verständlich positive Wirkungen erzeugt.

(Klaus Barthel [SPD]: Warum waren Sie dann dagegen? Lesen Sie Ihre Reden nach! – Weitere Zurufe von der SPD und dem Bündnis 90/ Die Grünen)


Warum hat es hinterher einen Wirtschaftsaufschwung
gegeben? Es ist doch einfach dumm, sich davon zu dis-
tanzieren. Das war doch mit Ihre Leistung. In den 80er-
Jahren war das genauso. 1986, 1988 und 1990 haben wir
eine Steuerreform in drei Etappen durchgeführt, die dazu
beigetragen hat, dass wir 1989 eine erheblich höhere Be-
schäftigung und einen beinahe ausgeglichenen Haushalt
gehabt haben. Sonst hätten wir uns die deutsche Einheit
noch weniger leisten können. Wir sind ja froh, dass wir
uns in diesem Zustand befanden.


(Beifall bei der FDP)


Genau das brauchen wir auch jetzt. Wenn wir aus der
Rezession heraus wollen, müssen wir die Bürger, die
Wirtschaftssubjekte, die kleinen Unternehmen, die
Selbstständigen und die Arbeitnehmer entlasten, damit
ihnen mehr Geld bleibt, um dies auszugeben, damit der
90-Prozent-Sektor, die private Wirtschaft, wieder Fahrt
aufnimmt und das Wachstum finanziert werden kann.
Das ist übrigens die Basis der Staatseinnahmen. Sie wer-
den die Staatseinnahmen nur dann nachhaltig stabilisie-
ren, wenn Sie einen viel höheren Beschäftigungsgrad er-
reichen. Dieser Aussage kann eigentlich niemand
widersprechen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP – Ute Berg [SPD]: Das stimmt! Aber nicht durch weniger Steuern!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1622204500

Das Wort hat der Kollege Michael Fuchs für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Michael Fuchs (CDU):
Rede ID: ID1622204600

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Lötzsch, et-
was für Ihr Poesiealbum – schreiben Sie es mit, damit
Sie es endlich begreifen –:


(Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Durch die Wälder geht ein Rauschen!)


Hören Sie bitte mit der Umverteilungsarie auf, die Sie
uns hier immer wieder vorsingen.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Umverteilt haben Sie!)


Es ist totaler Unsinn. Das obere Drittel der Haushalte in
Deutschland zahlt 62 Prozent der Einkommensteuer.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Uns kommen die Tränen!)


Das untere Drittel der Einkommensteuerzahler zahlt
5 Prozent der Einkommensteuer und bezieht 60 Prozent
sämtlicher Alimentierungen, sämtlicher Transfers.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Michael Fuchs

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Aber die meiste Steuer kommt aus der Mehrwertsteuer!)


Das zeigt doch wahrlich, dass wir ein Sozialstaat sind,
dass die Gelder bereits in erheblichem Maße umgeleitet
werden.

Darüber hinaus zeigt dies, dass wir aufpassen müssen,
dass diejenigen, die das erwirtschaften, auch noch Lust
dazu haben. Wenn wir denen permanent das Geld weg-
nehmen, dann dürfen wir uns nicht wundern, dass ir-
gendwann demotivierende Faktoren hineinkommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der LINKEN)


Deswegen ist es unsere gemeinsame Aufgabe, dafür
zu sorgen, dass wir für diejenigen, die morgens früh auf-
stehen, die arbeiten gehen, die richtig schaffen, die Poli-
zeibeamten, Krankenschwestern, die Nachtdienst ma-
chen, ein motivierendes Steuersystem schaffen. Das tun
wir nicht, indem wir permanent den Mittelstand in der
Progression schlechterstellen. Genau das wollen Sie.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Die haben Sie gerade belastet mit der Steuerreform!)


Liebe Kollegen von der FDP, wir freuen uns ja über
Debatten zum Mittelstand. Ich kann auch verstehen, dass
Sie als Opposition Forderungen aufstellen, für deren
Umsetzung Sie nicht geradestehen müssen. Wir müssen
aber in diesem Haushalt dafür geradestehen.

Lieber Kollege Brüderle, wir befinden uns in einer
Krise, wie es sie noch nie zuvor gab. Machen wir uns
nichts vor: Es ist eine Weltkrise. Zum ersten Mal bricht
überall die Wirtschaft zusammen. Das hat es noch nie
gegeben. Es gab bislang regionale Krisen, beispielsweise
1997/1998 die Finanzkrise in Asien. Wir haben sektorale
Wirtschaftskrisen erlebt, zum Beispiel die IT-Blase
2000/2001. Auch in anderen Bereichen gab es Krisen,
beispielsweise im Immobilienbereich. Aber nie gab es
eine Krise, bei der die Wirtschaft weltweit flächende-
ckend buchstäblich zusammengebrochen ist. Der Kol-
lege Meyer spricht immer von Abbruchkanten, und er
hat recht damit.

Unser Export ist zurzeit das zentrale Problem. Dieser
ist besonders schwierig anzukurbeln, weil wir nichts da-
für tun können, dass die Wirtschaft in anderen Ländern
wieder läuft. Das wäre eigentlich das Wichtigste für uns.
Im Moment läuft es nirgends gut, egal ob Sie zum Bei-
spiel nach Russland oder nach China schauen. Ich habe
mit dem Außenhandel in meinem früheren Leben viel zu
tun gehabt. Aufgrund der mir vorliegenden Zahlen kann
ich Ihnen berichten, dass wir im Außenhandel wirklich
Probleme haben. Einem großen Hamburger Exportunter-
nehmen mit Wirtschaftsbeziehungen zu China wurden in
der letzten Woche 30 Aufträge in China gecancelt. Dabei
nimmt China keine Rücksicht auf bestehende Verträge.
Sie haben gesagt: Wenn ihr in Zukunft mit uns zusam-
menarbeiten wollt, dann müsst ihr das akzeptieren. – So
läuft das momentan. Das sind Abläufe, die die Bundesre-
gierung aber nicht in der Hand hat. Sie sind der Welt-
krise geschuldet, und das sollten wir alle, auch Sie, zur
Kenntnis nehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir haben eine Reihe von sinnvollen Maßnahmen er-
griffen. Eine Maßnahme war, das „Schmiermittel“ der
Wirtschaft, den Geldkreislauf, wieder in Ordnung zu
bringen. Das ist gelungen. Wir haben erreicht, dass im
Bankenbereich endlich wieder ein gewisses Maß an Ver-
trauen herrscht. Ich bin sehr dankbar dafür, dass uns das
in Zusammenarbeit mit dem ganzen Haus gelungen ist.
Dass wir damals innerhalb einer Woche das berühmte
Finanzierungspaket mit über 500 Milliarden Euro ge-
schnürt haben, war wahrlich nicht einfach, aber dringend
notwendig. Ohne dieses Paket wäre der Geldkreislauf
nicht wieder in Gang gekommen.

Der Kollege Meyer hat allerdings völlig recht, wenn
er darauf hinweist, dass es – das sollte nicht vergessen
werden, und das muss auch beim Thema Bad Bank be-
achtet werden – im Wesentlichen die staatlichen Banken
sind, die die größten Probleme haben. Die anderen Ban-
ken bekommen ihre Probleme in den Griff. Die Deut-
sche Bank hat eine Bilanzsumme von 1 Billion Euro und
22 Milliarden Euro Toxic Assets. Die HSH hat eine Bi-
lanzsumme von 200 Milliarden Euro und toxische Pa-
piere in einer Größenordnung von 135 Milliarden Euro.
Dieses Unverhältnis ist ein Beispiel dafür, wie schlecht
in Landesbanken gewirtschaftet wird. Deswegen ist es
zwingend notwendig, dass wir im Zusammenhang mit
den Bad Assets dafür sorgen, dass die Landesbanken ein
Zukunftskonzept auf den Tisch legen, bevor wir ihnen
helfen. Jetzt besteht die einmalige Chance, da etwas zu
ändern.

Auch im steuerlichen Bereich, Herr Kollege Brüderle,
haben wir eine Reihe von Maßnahmen ergriffen. Wir ha-
ben begonnen, die Progression abzubauen. Für 2009
und 2010 haben wir steuerliche Maßnahmen – zum Teil
zugegebenermaßen auf Geheiß des Bundesverfassungs-
gerichts – in einer Größenordnung von insgesamt circa
18 Milliarden Euro ergriffen. Das ist nicht wenig. Das
sind fast drei Mehrwertsteuerpunkte, die wir den Bürge-
rinnen und Bürgern wieder zurückgeben. Aber das ist
richtig und in dieser Krise dringend notwendig.

Auch bei den Lohnzusatzkosten haben wir einiges
getan. Von Rot-Grün haben wir fast 42 Prozent Lohnzu-
satzkosten geerbt. Zum 1. Juli dieses Jahres werden sie
bei 38,65 Prozent liegen. Das heißt, wir haben die Lohn-
zusatzkosten um rund 3,5 Prozentpunkte gesenkt. Das
hat in den letzten Jahren eine Entlastung von circa
25 Milliarden Euro mit sich gebracht. Auch das müssen
Sie bitte zur Kenntnis nehmen.

Ich weiß, dass wir noch einige weitere Punkte ange-
hen müssen. Ich hoffe, dass wir mit den Kolleginnen und
Kollegen der SPD-Fraktion noch Lösungen für die
schwierigen Probleme bei der Unternehmensteuerre-
form finden werden und da Regelungen schaffen kön-
nen. Wir müssen die Zinsschranke verändern. Sie er-
weist sich in einer solchen Krisensituation als besonders
kritisch. Ebenso erweist sich als kritisch, dass wir di-
verse andere Punkte nicht geregelt haben, jedenfalls






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Michael Fuchs
nicht in dem Umfang, in dem dies erforderlich wäre.
Zum Beispiel muss alles, was mit der Gewerbesteuer zu
tun hat, noch einmal überprüft werden. Es kann nicht
sein, dass wir hier zu einer Substanzbesteuerung kom-
men.

Auch der Verlustvortrag bei der Übernahme von Un-
ternehmen ist noch einmal auf den Prüfstand zu stellen.
Ich mache auch gleich einen Gegenfinanzierungsvor-
schlag – das müssen wir gemeinsam angehen, liebe Kol-
legin Berg –: Die Kollegen, auch Herr Steinmeier, haben
versprochen, dass das Postmonopol bei der Mehrwert-
steuer aufgegeben wird. Da sind 500 Millionen Euro zu-
sätzliche Einnahmen zu erwarten, und die wollen wir ha-
ben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das müssen wir jetzt gemeinsam auf den Weg brin-
gen. Damit können wir die gröbsten Fehler, die wir bei
der Unternehmensteuerreform gemacht haben, reparie-
ren. Lassen Sie uns das gemeinsam angehen!


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1622204700

Das Wort hat nun Kollege Reinhard Schultz für die

SPD-Fraktion.


Reinhard Schultz (SPD):
Rede ID: ID1622204800

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Es ist schon einigermaßen merkwürdig, dass
in den letzten Wochen und Monaten immer wieder die-
selbe Leier in unterschiedlicher Form zur besten Sende-
zeit vorgetragen wird. In diesem Fall wird von der FDP
in der Kernzeit ein Wachstumsprogramm gefordert, das
in seinen wesentlichen Bestandteilen schon längst exis-
tiert. Das ist ein wenig Markenpiraterie, die Sie da be-
treiben.

Da ich es aber mit Ihnen gut meine und Sie nachher
noch einen Parteitag haben, habe ich einmal nachge-
schaut, was sonst noch auf Sie zutreffen würde. In die-
sem Zusammenhang habe ich ein Lied von Hildegard
Knef entdeckt mit dem Titel „Lieber Leierkastenmann“.
Darin gibt es sozusagen eine richtige FDP-Strophe, die
ganz gut zu dem Redebeitrag von Herrn Solms passt, der
das zweigesichtige Verhalten der FDP bei der Steuer-
reform im Bundesrat und hier, das angeblich abgespro-
chen war, erwähnt hat. In dem Lied heißt es:

Lieber Leierkastenmann,
fang noch mal von vorne an,
von dem schönen Spree-Athen,
wo sojar die Blinden sehn.
Wo der Mann uff eenem Bein
abends packt de Krücken ein;
plötzlich kann er wieder loofen,
denn des Abends ist er uff’n Kien,
denn da jeht der Junge schwoofen,
dafür stammt er schließlich aus Berlin.

Das ist ein Lied, das zur FDP passt: Tagsüber spielt
sie den Blinden und den Lahmen, und abends geht sie
aufs Parkett. Bei Ihnen ist alles grundsätzlich möglich,
wie es gerade in Ihre Vermarktung passt. Das ist be-
zeichnend. Ich finde Ihr Verhalten nicht unsympathisch,
aber es ist leider nicht besonders ehrlich.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man sich die
von Ihnen immer wieder vorgetragene Kernforderung
nach einer großen Steuerreform genauer anschaut, dann
erkennt man, dass sich in den nächsten vier Jahren über
den Daumen gepeilt eine zusätzliche Belastung für die
öffentlichen Haushalte durch Einnahmeausfälle in
Höhe von 152 Milliarden Euro ergibt. Dieser Betrag
kommt zu den 320 Milliarden Euro Einnahmeausfälle
hinzu, die von der Steuerschätzung vorhergesagt wer-
den. Diese Relation muss man sich einmal vor Augen
führen.

Im gleichen Moment schwingen Sie sich aber auf – das
passt ziemlich gut zu dem Blinden, der plötzlich wieder
sehen kann –, eine rigide Schuldenbremse zu fordern.
Das ist ausgesprochen witzig. Im ersten Satz erheben Sie
Forderungen in Bezug auf eine Steuerreform, die Ein-
nahmeausfälle in Höhe von 152 Milliarden Euro be-
wirkt. Im zweiten Satz fordern Sie eine rigide Schulden-
bremse. Der Ausweg kann nur darin liegen, dass
öffentliche Aufgaben sowohl in den Bereichen Bildung
und Betreuung als auch in den Bereichen Wirtschaftsför-
derung und Infrastrukturausbau eingeschränkt werden.
Dieser Widerspruch ist so offensichtlich, dass Sie sich
schon wegen fehlender intellektueller Redlichkeit bei
der Öffentlichkeit für diesen Antrag entschuldigen müss-
ten.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Heinz-Peter Haustein [FDP]: Entschuldigt ihr euch doch für die Mehrwertsteuererhöhung!)


Viele Punkte, die Sie in Ihrem Antrag ansprechen,
sind nachvollziehbar. Deswegen haben wir sie auch
schon umgesetzt. Sie fordern, dass Investitionen in den
Ausbau der öffentlichen Infrastruktur vorgezogen wer-
den sollen. Das haben wir gemacht. Es ist der wesentli-
che Bestandteil unserer Konjunkturprogramme. Das gilt
für die Investitionen sowohl auf Bundesebene als auch
auf kommunaler Ebene. Sie fordern, den Bürgern mehr
Möglichkeiten zu geben, mehr zu investieren und zu
konsumieren. Das haben wir gemacht, indem Handwer-
kerrechnungen besser von der Steuer abgesetzt werden
können und indem wir in unsere Programme gewaltige
Abgaben- und Steuersenkungen aufgenommen haben,
die ihre Wirkungen entfalten werden.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Seit wann ist die Mehrwertsteuererhöhung eine Abgabensenkung?)


Deswegen ist Ihre Analyse, die in Ihrem Antrag steht
und auch in dem Vortrag von Herrn Brüderle vorkam,
dass es eine Binnenwirtschaftskrise gibt, geradezu al-
bern. Denn das Einzige, das im Augenblick einigerma-
ßen funktioniert, ist die Binnenwirtschaft.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wo denn?)


Die Bürger sind nach wie vor in Kauflaune. Der Einzel-
handel weist ein Umsatzplus auf. In allen Bereichen der






(A) (C)



(B) (D)


Reinhard Schultz (Everswinkel)

Binnenwirtschaft geht es eher bergauf. Problematisch ist
allein der Bereich, der von der Außenwirtschaft, also
vom Export, abhängig ist. Wie Herr Fuchs richtig be-
schrieben hat, haben wir nur wenige Möglichkeiten, da-
rauf einen direkten Einfluss zu nehmen, es sei denn
durch internationale Absprachen. Deswegen hat die
Bundesregierung, insbesondere Peer Steinbrück, dafür
gesorgt, dass im europäischen und im weltweiten Kon-
zert alle Industrienationen auf der gleichen Klaviatur
spielen, was die Strategien zur Bekämpfung dieser Krise
angeht.

Natürlich besteht immer noch das Problem, dass der
auslösende Faktor, die Finanzkrise, immer noch nicht
bewältigt ist. Ich gehe nicht so weit zu sagen, dass der
Interbankenverkehr schon wieder grenzenlos funktio-
niert. Den Studien, die die KfW gestern veröffentlich
hat, ist zu entnehmen, dass entgegen den Verlautbarun-
gen von vor zwei, drei Wochen mittlerweile auch die
KfW der Meinung ist, dass es bei Mittelstandsfinanzie-
rungen allmählich wirklich eng wird.

Wir müssen die Banken zwingen, sich von ihren fau-
len Papieren zu trennen und ihre Bilanzen im Rahmen
einer längerfristigen Abschreibungsstrategie zu bereini-
gen; in der Zwischenzeit müssen sie natürlich genug Ei-
genkapital haben, um Kredite ausreichen zu können. Das
werden wir auch tun, und zwar auf eine Art und Weise,
die den Steuerzahler nicht belastet; das kann ich für die
SPD ganz deutlich sagen.


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das ist bestimmt ein schöner Traum!)


Es wird ein Risikomanagement durchgeführt, bei
dem der Staat zunächst einmal für eine bestimmte Phase
als Bürge eintritt. Die Restrisiken müssen aber von den
Alteigentümern der Banken selbst getragen werden. Für
den Fall, dass dann immer noch Geld fehlt, muss im Ge-
setz ein Mechanismus verankert werden, der sicherstellt,
dass diese Risiken in Form einer Umlage auf den gesam-
ten Finanzsektor abgewälzt werden. Es kann nicht sein,
dass sich die Institute, die ein Fehlverhalten an den Tag
gelegt haben, letztlich zulasten des Steuerzahlers sanie-
ren. Das ist eine klare programmatische Aussage, auch
im Hinblick auf die weiteren Diskussionen über die Ge-
setzgebung zur Gründung einer Konsolidierungsbank.

Hier ist vorgetragen worden, dass das Problem im öf-
fentlichen Bankensektor bestehe. Das ist nicht ganz ehr-
lich, lieber Herr Meyer. Natürlich gibt es in der überwie-
genden Zahl der Landesbanken erhebliche Probleme. Sie
sind zum Teil darin begründet, dass sich die Träger der
Landesbanken, insbesondere die Landesregierungen,
noch vor wenigen Wochen geweigert haben, überhaupt
über Fusionen, neue Geschäftsmodelle und Ähnliches
nachzudenken; damit hätte man ihnen nämlich ihr Spiel-
zeug aus der Hand genommen. Das gilt für die nord-
rhein-westfälische Landesregierung genauso wie für alle
anderen.


(Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Ja, genau! – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Ja! Das habe ich doch gerade gesagt!)

Auch die politische Verantwortung ist, was die Farben
angeht, ziemlich einseitig verteilt. Die Heldenstücke, die
sich Hamburg und Schleswig-Holstein geleistet haben,
haben dazu geführt, dass ein von mir sehr geschätzter
früherer Unternehmenschef, der für kurze Zeit Wirt-
schaftsminister in Schleswig-Holstein war, aus Verzwei-
felung über die Inkompetenz seiner CDU-Kollegen in
der Landesregierung den Bettel hingeworfen hat. Daran
wird deutlich, wie dilettantisch auf dieser Ebene mit dem
Thema Landesbanken umgegangen wird.

Das eigentliche Problem – Stichwort: Lehman
Brothers – betrifft im Wesentlichen den privaten Sektor.
Auch die HRE ist keine öffentliche Bank; inzwischen ist
sie es vielleicht, aber sie war es nicht, als die Probleme
entstanden sind. Selbst die IKB – das wissen auch Sie –
war lediglich das Anhängsel eines öffentlichen Kon-
struktes. Sie ist uns seinerzeit sozusagen angedient wor-
den, und zwar zur Vermeidung eines Zusammenbruchs.
Vom Bund wurde erwartet, dass die KfW die damals
notleidende IKB übernimmt. Dass dann mit krimineller
Energie bestimmte Entwicklungen vorangetrieben wur-
den, deren Folgen wir jetzt mit bergmännischen Metho-
den sozusagen zutage fördern müssen, ist ein anderes
Problem und in hohem Maße ärgerlich.


(Beifall bei der SPD – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wer hatte denn die Aufsicht über die IKB, Herr Schultz?)


Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben
ein sehr breit angelegtes Programm erarbeitet, um die
Wirtschaft flottzumachen. Da die FDP heute mehr frei-
händige Vergaben gefordert hat, sage ich Ihnen: Das hat
mit Wettbewerb nichts zu tun – darum geht es in einem
anderen Kapitel –, begünstigt eher die Unter-dem-Tisch-
Vergabe und ist ein Riesenproblem. Dennoch haben wir
uns trotz der grundsätzlichen Reform des Vergaberechts,
die wir beschlossen haben, bereit erklärt, die Schwellen
für freihändige Vergaben und beschränkte Ausschrei-
bungen anzuheben. Das ist bereits geschehen. Das, was
Sie heute fordern, ist also schon längst Gesetz.

Zur Breitbandstrategie. Die Bundesregierung hat eine
Breitbandstrategie, die sie den Regionen wie Sauerbier
anbietet. Das Problem ist, dass manche Unternehmen
dieses Angebot nicht annehmen wollen. In der Region,
aus der ich komme, gibt es führende Unternehmen, sogar
Hightechunternehmen, die sich immer noch fragen:
Brauchen wir das eigentlich? – Vielleicht scheuen sie die
damit verbundenen Kosten. Hier ist auf jeden Fall noch
eine Menge Entwicklungsarbeit erforderlich. Die Bun-
desregierung steht allerdings an der Spitze dieser Bewe-
gung.

Jetzt komme ich zur Beschleunigung des Netzaus-
baus, die Sie gefordert haben. Ich muss Ihnen sagen: Wir
haben gerade erst das EnLAG beschlossen, mit dem der
Netzausbau beschleunigt wird. Es ist wirklich sehr inte-
ressant, dass Sie heute etwas fordern, was bereits in der
letzten Sitzungswoche beschlossen worden ist.

Nun komme ich zum wunderschönen Thema Ab-
wrackprämie; man kann sich lange darüber unterhalten.
Gestern gab es eine Anhörung. Es waren interessante






(A) (C)



(B) (D)


Reinhard Schultz (Everswinkel)

Figuren der Zeitgeschichte vertreten. Diejenigen, die et-
was von der Abwrackprämie haben – ich nenne stellver-
tretend die Vertreter der Automobilindustrie, des Kfz-
Gewerbes und der IG Metall –, finden die Abwrackprä-
mie super, weil sie Arbeitsplätze rettet und diese Bran-
che durch die Krise bringt. Die selbsternannten Säulen-
heiligen, die Deutsche Umwelthilfe, der BUND und
andere – auf anderen Gebieten sehr geschätzt –, behaup-
ten in fast tibetanischer Gebetsmühlenartigkeit – „tibeta-
nisch“ habe ich nicht gesagt, sonst gibt es wieder Pro-
bleme mit den China-Politikern –, das sei nicht das
Richtige, man hätte, wenn überhaupt, für den richtigen
ökologischen Impetus sorgen müssen.

Tatsache ist, dass im Wesentlichen Klein- und Mittel-
klassewagen mithilfe der Umweltprämie gekauft wur-
den. Diese sind moderner als die mindestens neun Jahre
alten Wagen, die abgewrackt wurden. Damit trägt die
Prämie garantiert zur Minderung des CO2-Ausstoßes
bei.

Ein großer Gewinner ist hier das Unternehmen Opel,
dem man erheblich helfen konnte, die Durststrecke zu
überwinden. Auch der Verkauf von Kleinwagen der
Marke VW wurde gesteigert. Die neuen Zulassungszah-
len zeigen, dass weit über 50 Prozent der Autos, die mit-
hilfe der Umweltprämie gekauft wurden, von Unterneh-
men stammen, die wesentliche Teile der Wertschöpfung
in Deutschland erzielen; ein anderer Teil der Wagen
kommt aus Europa, nur ein ganz kleiner Teil aus Asien.

Lassen Sie sich nicht irre machen! Es handelt sich
hier um ein Gewinnerthema, für diejenigen, die sich ein
Auto kaufen konnten, für die Arbeitnehmer, die diese
Autos gebaut haben, aber auch für uns, weil es uns fast
nichts kostet. Die Maßnahme ist nämlich fast aufkom-
mensneutral; fast 20 Prozent des Verkaufspreises be-
kommen wir über die Mehrwertsteuer wieder.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was ist nächstes Jahr?)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1622204900

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.


Reinhard Schultz (SPD):
Rede ID: ID1622205000

Ich denke, diese Anträge sind der zweite Versuch ei-

ner Abreibung von einer ansonsten geschätzten kleine-
ren Oppositionspartei.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1622205100

Das Wort hat nun Kollege Georg Nüßlein für die

CDU/CSU-Fraktion.


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1622205200

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ei-

gentlich wollte ich hier im Sinne einer Captatio benevo-
lentiae die Gemeinsamkeiten herausarbeiten, die es mit
den Kolleginnen und Kollegen von der FDP hinsichtlich
der Zielsetzungen unstrittig gibt. Arbeitsplatzsicherung
und die Herstellung finanzwirtschaftlicher Stabilität sind
sicherlich gemeinsame Ziele. Es gibt eine weitere Ge-
meinsamkeit: Wir müssen uns sicher nicht ausgerechnet
von der Linken das Einmaleins der Marktwirtschaft er-
klären lassen, ausgerechnet von der Partei, die in einem
großen Feldversuch schon einmal gezeigt hat, wie man
eine Volkswirtschaft ruiniert.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Ich will meine Ausführungen zu den Gemeinsamkei-
ten trotzdem nicht wie vorgesehen ausbauen; denn es hat
mich schon geärgert, was die Kolleginnen und Kollegen
von der FDP heute hier vorgetragen haben. Man kann
doch nicht so tun, als gebe es hier eine binnenmarktbe-
gründete Rezession, an der ausgerechnet diese Bundes-
regierung schuld ist. Man muss doch sehen, dass wir uns
in einer tiefgreifenden Vertrauenskrise befinden, in der
auch die Politik Verantwortung trägt, aber nicht dafür,
dass sie ausgebrochen ist, sondern dafür, Wege zu fin-
den, aus der Krise herauszukommen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist ja fast wie beim Bahn-Vorstand! Der weiß auch von nichts!)


Es ist schon ein Unding –, was hier alles behauptet
worden ist –, dass die FDP ein Versagen der Regierung
konstruiert. Die Äußerungen gipfelten darin – das ist
verantwortungslos –, ausgerechnet bei uns in der Bun-
desrepublik Deutschland Inflationsängste zu schüren,
obwohl wir alle wissen, wie sensibel unsere Bürgerinnen
und Bürger auf dieses Thema reagieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jan Mücke [FDP]: Verantwortungslos ist, wer Schulden macht! – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Warten Sie mal ab, bis Sie die Bürgschaften bedienen müssen!)


Ich glaube, die FDP muss an dieser Stelle üben, Ver-
antwortung zu übernehmen; denn ich gehe davon aus,
dass sie in naher Zukunft gemeinsam mit uns regieren
will. Insbesondere die schwierigen Operationen, die uns
beim Thema Bad Banks bevorstehen, bieten einige Mög-
lichkeiten, Verantwortung zu übernehmen. Bisher waren
Sie beim Thema Stabilisierung des Vertrauens in den Fi-
nanzbereich nicht sehr hilfreich. Im Gegenteil: Ich erin-
nere mich an die letzte Rede des Kollegen Solms zum
Thema HRE-Bank, in der er so getan hat, als sei es eine
ernsthafte Alternative, die HRE-Bank in die Insolvenz
zu schicken. Auch das ist unverantwortlich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Ich erwarte – das sage ich auch im Hinblick auf eine
denkbare Koalition –, dass Sie jetzt wieder verantwor-
tungsvoll mit diesen Fragen umgehen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist die verkürzte Sicht eines CSU-Mandatsträgers!)


Bei den Bad Banks geht es darum, dem Finanzsektor
wieder Gestaltungsspielraum zu geben, und zwar ohne
den Steuerzahler über Gebühr in eine Haftungssituation






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Georg Nüßlein
zu drängen. Das ist schwierig, wahrscheinlich die öko-
nomische Quadratur des Kreises – das gebe ich zu –,
aber wir müssen ernsthaft etwas tun; denn sonst kommt
insbesondere der Mittelstand tatsächlich in eine Kredit-
klemme. Dem Mittelstand hilft es nicht, wenn wir über
die Definition der Kreditklemme diskutieren: Haben wir
eine flächendeckende Kreditklemme, oder haben wir sie
nicht? Für denjenigen, der momentan vor der Aufgabe
steht, sein Unternehmen finanzieren zu müssen, gibt es
eine Kreditklemme. Der steckt in der Klemme. Wir müs-
sen unseren Beitrag dazu leisten, dass er, wenn er krisen-
bedingt in dieser Klemme steckt, aus dieser Situation
wieder herauskommt. Wir tun einiges, zum Beispiel im
Bereich der KfW. Auch da geht es jetzt um die Details
der Umsetzung. Es geht um die Frage, wie wir sicher-
stellen können, dass das Instrument, das wir geschaffen
haben, in der Praxis umgesetzt werden kann und uns vo-
ranbringt.

Ich breche eine Lanze für den Mittelstand, weil ich
glaube, dass der unternehmerische Mittelstand eine
wichtige Säule im Rahmen der Krisenbewältigung ist.
Wir stellen fest, dass es in diesem Bereich ein hohes
Maß an Stabilität gibt. Ich stelle fest, dass insbesondere
diejenigen, die nicht sehr stark export- oder automobil-
wirtschaftlich orientiert sind, momentan in der Lage
sind, Deutschland wirtschaftspolitisch zu stabilisieren.
Deshalb verdient insbesondere der unternehmerische
Mittelstand unsere Unterstützung. Das, was wir in den
Bereichen Investitionen, Innovationsförderung und
Bürgschaften tun, tendiert in diese Richtung.

Mir geht es auch darum, dass wir in dieser Situation
die Mittelschicht, die Bezieher unterer und mittlerer Ein-
kommen, die täglich arbeiten, die als Handwerker oder
Facharbeiter ihren Beitrag dazu leisten, dass wirtschaft-
lich nicht alles zusammenbricht, nicht vergessen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Der Spruch stammt aber von uns!)


Wir haben hier eine relativ kontrovers geführte Debatte
über die Frage erlebt, ob wir in der Lage sind, diese
Gruppe zu entlasten. Meine Damen und Herren, dies ist
aber erst die zweite Frage. Der erste Punkt, den man he-
rausstellen muss, ist: Wir haben die Pflicht, sie jetzt zu
entlasten. Die OECD ist zu dem Schluss gekommen,
dass die Durchschnittsverdiener nur in zwei anderen
Ländern, nämlich in Belgien und Ungarn, steuerlich stär-
ker belastet werden als in der Bundesrepublik Deutsch-
land. Daran erkennt man den Handlungsbedarf doch
ganz deutlich. Den kann man doch nicht leugnen. Also
ist es richtig, an dieser Stelle anzusetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wer regiert denn, Herr Kollege?)


– Wenn Sie fragen, wer regiert, dann haben Sie meinen
Vorrednern von der Koalition nicht zugehört, die viel-
fach deutlich gemacht haben, dass wir in diesem Bereich
auf einem guten Weg sind


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wann denn?)

und etliche Schritte zur Entlastung – 30 Milliarden Euro –
schon unternommen haben. Diesen Weg müssen wir
fortsetzen und gleichzeitig auf unsere Haushalte achten.

Ich möchte einen weiteren Aspekt ansprechen, der in
dieser Krise ganz entscheidend ist: die Kurzarbeit. Ich
glaube, dass viele noch nicht eingesehen haben, wie
wichtig und zentral dieses Instrument in dieser Krisen-
situation ist. Dieses Instrument wird uns nach dem
Durchschreiten dieses Tales, nachdem wir die Brücke
der Kurzarbeit genutzt haben, in eine positive wettbe-
werbliche Situation versetzen und dazu führen, dass wir
vorankommen. Durch Kurzarbeit können wir das Know-
how sichern und auf den Mitarbeitern, die wir nicht in
die Arbeitslosigkeit geschickt haben, aufbauen. So kön-
nen wir gestärkt aus dieser gefährlichen Krisensituation
kommen.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass die
Politik Vertrauen wieder zurückgewinnt; das fordere ich
ein. Wir müssen Handlungsfähigkeit und Verantwor-
tungsbewusstsein zeigen. Deshalb eignet sich die Krise
nicht, aber auch gar nicht für Wahlkampfgetöse.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1622205300

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/12887 und 16/10867 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 16/12887 soll federführend
beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie beraten
werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 38 a bis 38 e sowie
Zusatzpunkte 3 a bis 3 e auf:

38 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur
Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften

– Drucksache 16/12587 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die In-
ternetversteigerung in der Zwangsvollstreckung

– Drucksache 16/12811 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleich-
terung elektronischer Anmeldungen zum Ver-
einsregister und anderer vereinsrechtlicher
Änderungen

– Drucksache 16/12813 –






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Sportausschuss

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-
regelung der zivilrechtlichen Vorschriften des
Heimgesetzes nach der Föderalismusreform

– Drucksache 16/12882 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Europol-Gesetzes, des Europol-Aus-
legungsprotokollgesetzes und des Gesetzes zu
dem Protokoll vom 27. November 2003 zur
Änderung des Europol-Übereinkommens und
zur Änderung des Europol-Gesetzes

– Drucksache 16/12924 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 3 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Angelika Brunkhorst, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Energieforschung neu ausrichten – Deutsch-
land, Energieland der Zukunft

– Drucksache 16/10329 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Nachteile für den Forschungsstandort Deutsch-
land aufheben – Für ein innovationsfreundli-
ches Steuersystem

– Drucksache 16/12474 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gero
Storjohann, Volkmar Uwe Vogel, Dr. Andreas
Scheuer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Heidi Wright, Klaas
Hübner, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD

Punkte-Systematik des Verkehrszentralregis-
ters in Flensburg einfacher und verständlicher
gestalten
– Drucksache 16/12993 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Michaela Noll, Antje Blumenthal, Maria
Eichhorn, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Edelgard Bulmahn,
Petra Ernstberger, Iris Gleicke, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der SPD
Die Situation von Frauenhäusern verbessern
– Drucksache 16/12992 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Katrin Göring-Eckardt, Bettina
Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erinnerungsprojekt „Zug der Erinnerung“
unterstützen
– Drucksache 16/12991 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 16/12991, Zu-
satzpunkt 3 e, soll zusätzlich an den Ausschuss für Tou-
rismus überwiesen werden. Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 39 a bis 39 o sowie
Zusatzpunkt 4 auf. Es handelt sich um die Beschlussfas-
sung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgese-
hen ist.

Tagesordnungspunkt 39 a:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bre-
men), Alexander Bonde, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung der Strafprozessordnung
– Drucksache 16/7134 –






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 16/12534 –

Berichterstattung:

(VillingenSchwenningen)

Dr. Matthias Miersch
Christoph Strässer
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
Jerzy Montag

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/12534, den Gesetzent-
wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/7134 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Grü-
nen und der Linken abgelehnt. Damit entfällt nach unse-
rer Geschäftsordnung die weitere Beratung.

Tagesordnungspunkt 39 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 9. Juli
2008 zwischen der Bundesrepublik Deutsch-
land und den Vereinigten Mexikanischen Staa-
ten zur Vermeidung der Doppelbesteuerung
und der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der
Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
– Drucksache 16/12589 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 16/12908 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding (Heidelberg)


Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/12908, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12589 an-
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den
Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP bei Enthaltung
der Linken und der Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 39 c:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 16. Sep-
tember 2004 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Polen über die
Vermarkung und Instandhaltung der gemein-
samen Grenze auf den Festlandabschnitten so-
wie den Grenzgewässern und die Einsetzung
einer Ständigen Deutsch-Polnischen Grenz-
kommission
– Drucksache 16/12590 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


– Drucksache 16/12913 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Günter Baumann
Wolfgang Gunkel
Christian Ahrendt
Ulla Jelpke
Wolfgang Wieland

Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/12913, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12590 an-
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 39 d:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften
Gesetzes zur Änderung des Bundeszentral-
registergesetzes

– Drucksache 16/12427 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 16/13028 –

Berichterstattung:

(VillingenSchwenningen)

Dr. Carl-Christian Dressel
Jörg van Essen
Sevim Dağdelen
Jerzy Montag

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/13028, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12427 an-
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit
den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen ge-
gen die Stimmen der Linken angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit dem gleichen Stimmverhältnis wie zuvor an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 39 e:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Vertrag vom 12. November 2008 zwi-
schen der Bundesrepublik Deutschland und
der Republik Bulgarien über die Zusammen-
arbeit bei der Bekämpfung des grenzüber-
schreitenden Missbrauchs bei Leistungen und
Beiträgen zur sozialen Sicherheit durch






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Erwerbstätigkeit und von nicht angemeldeter
Erwerbstätigkeit sowie bei illegaler grenz-
überschreitender Leiharbeit

– Drucksache 16/12588 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 16/13017 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Manfred Kolbe

Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/13017, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12588 an-
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD
und FDP bei Enthaltung der Grünen und der Linken an-
genommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit dem gleichen Stimmverhältnis wie in zwei-
ter Lesung angenommen.

Tagesordnungspunkt 39 f:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Internationalen Über-
einkommen vom 20. Dezember 2006 zum
Schutz aller Personen vor dem Verschwinden-
lassen

– Drucksache 16/12592 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 16/13029 –

Berichterstattung:

(VillingenSchwenningen)

Christoph Strässer
Jörg van Essen
Sevim Dağdelen
Jerzy Montag

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/13029, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12592 an-
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstim-
mig angenommen.

Tagesordnungspunkt 39 g:

Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung
des Treibhausgas-Emissionshandelsgesetzes

– Drucksache 16/12853 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit (16. Ausschuss)


– Drucksache 16/13022 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung (Konstanz)

Frank Schwabe
Michael Kauch
Eva Bulling-Schröter
Hans-Josef Fell

Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/13022, den Gesetzentwurf der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/12853 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und
Grünen bei Enthaltung von FDP und Linken angenom-
men.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit dem
gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.

Tagesordnungspunkt 39 h:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl,
Cornelia Behm, Hans-Josef Fell, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Mit Bioraffinerien in Deutschland die Bio-
masse effizienter nutzen und zusätzliche Res-
sourcen erschließen

– Drucksachen 16/5529, 16/11220 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth
Marko Mühlstein
Angelika Brunkhorst
Hans-Kurt Hill
Sylvia Kotting-Uhl

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/11220, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5529 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD
und FDP gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung
der Linken angenommen.

Tagesordnungspunkt 39 i:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ältestenrates zu dem Antrag der Abge-
ordneten Winfried Hermann, Bärbel Höhn,






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Vorbildfunktion der Politik für Klimaschutz
ernst nehmen – Für eine nachhaltige Senkung
verkehrsbedingter CO2-Emissionen des Deut-
schen Bundestages

– Drucksachen 16/9009, 16/12800 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Norbert Lammert

Der Ältestenrat empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/12800, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9009 für er-
ledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 39 j:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss)


– zu der Verordnung der Bundesregierung

Vierundachtzigste Verordnung zur Ände-
rung der Außenwirtschaftsverordnung

– zu der Verordnung der Bundesregierung

Einhundertachtundfünfzigste Verordnung
zur Änderung der Einfuhrliste
– Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz –

– Drucksachen 16/12195, 16/12357 Nr. 2.1,
16/12196, 16/12357 Nr. 2.2, 16/12819 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz

Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verord-
nungen der Bundesregierung zur Änderung der Außen-
wirtschaftsverordnung auf Drucksache 16/12195 und
zur Änderung der Einfuhrliste – Anlage zum Außenwirt-
schaftsgesetz – auf Drucksache 16/12196 nicht zu ver-
langen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 39 k:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung

Vorschlag für eine Verordnung des Europäi-
schen Parlaments und des Rates zur Schaffung
eines europäischen Schienennetzes für einen

(inkl. 17324/08 ADD 1 bis 17324/08 ADD 6)

bis ADD 5 in Französisch)
KOM(2008) 852 endg.; Ratsdok. 17324/08

– Drucksachen 16/11721 Nr. A.27, 16/12842 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Winfried Hermann
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-
tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD, FDP und Linken gegen die Stim-
men der Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkte 39 l bis 39 o. Wir kommen zu
den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 39 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 561 zu Petitionen

– Drucksache 16/12870 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 561 ist mit den Stim-
men des Hauses bei Enthaltung der Linken angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 39 m:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 562 zu Petitionen

– Drucksache 16/12871 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 562 ist einstimmig ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 39 n:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 563 zu Petitionen

– Drucksache 16/12872 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 563 ist gegen die Stim-
men der Grünen und mit den Stimmen der übrigen Frak-
tionen angenommen.

Tagesordnungspunkt 39 o:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 564 zu Petitionen

– Drucksache 16/12873 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 564 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen.

Zusatzpunkt 4:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)







(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Landrechte stärken – „land grabbing“ in Ent-
wicklungsländern verhindern

– Drucksachen 16/12735, 16/13023 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wolf Bauer
Dr. Sascha Raabe
Dr. Karl Addicks
Dr. Norman Paech
Thilo Hoppe

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/13023, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12735 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und
SPD gegen die Stimmen der Grünen und der Linken bei
Stimmenthaltung der FDP angenommen.

Nun kommen wir wieder zu Beratungen. Ich rufe den
Tagesordnungspunkt 20 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Andreas
Scheuer, Dirk Fischer (Hamburg), Dr. Klaus W.
Lippold, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Rita Schwarzelühr-
Sutter, Klaas Hübner, Sören Bartol, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Mobilität zukunftsfähig machen – Elektro-
mobilität fördern

– zu dem Antrag der Abgeordneten Michael
Kauch, Horst Meierhofer, Horst Friedrich

(Bayreuth), weiterer Abgeordneter und der

Fraktion der FDP

Elektromobilität – Für einen bezahlbaren
und klimaverträglichen Individualverkehr

– zu dem Antrag der Abgeordneten Michael
Kauch, Horst Meierhofer, Horst Friedrich

(Bayreuth), weiterer Abgeordneter und der

Fraktion der FDP

Elektromobilität durch Änderung von im-
missionsschutz– und verkehrsrechtlichen
Regelungen fördern

– zu dem Antrag der Abgeordneten Winfried
Hermann, Hans-Josef Fell, Dr. Anton Hofreiter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Umfassende Förderstrategie für Elektromo-
bilität mit grünem Strom entwickeln
– Drucksachen 16/12693, 16/10877, 16/12097,
16/11915, 16/12977 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Rita Schwarzelühr-Sutter
Winfried Hermann

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Bundes-
regierung dem Parlamentarischen Staatssekretär Ulrich
Kasparick das Wort.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Ingo Schmitt [Berlin] [CDU/CSU])


U
Ulrich Kasparick (SPD):
Rede ID: ID1622205400


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist
nicht klug, einen Rohstoff, der in absehbarer Zeit so
wertvoll wie Gold sein wird, einfach im Motor zu ver-
brennen. Deshalb brauchen wir eine strategische Neu-
ausrichtung des gesamten Mobilitätssektors.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir müssen weg vom Öl und hin zu einer Elektrifizie-
rung, die sich aus erneuerbaren Energien speist.

Im Jahre 2004 hat die Bundesregierung die Strategie
„Weg vom Öl“ beschlossen. Wir haben in den letzten Ta-
gen und Wochen mit großen Schritten, mit einem großen
Nationalen Innovationsprogramm, an dem vier Bundes-
ministerien beteiligt sind, begonnen, das konkret umzu-
setzen. Am 25. April dieses Jahres hat der Haushaltsaus-
schuss des Deutschen Bundestages 500 Millionen Euro
bewilligt, damit vier Bundesministerien in einer konzer-
tierten Aktion der angeschlagenen Automobilindustrie
helfen können, ein Ziel zu erreichen, von dem wir uns
für die deutsche Wirtschaft einen großen Schub verspre-
chen: Wir wollen, dass Deutschland der Leitmarkt für
Elektromobilität in Europa wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Unser Ziel ist es, dass bis spätestens 2020 1 Million
Einheiten auf den Straßen ist. Das ist die für den Mas-
senmarkt interessante Schwelle, die es den Herstellern
erlaubt, mit eigenen Mitteln die Produktion so fortzufüh-
ren, dass die Marktkräfte genügend Wind in den neuen
Sektor bringen.

Was die vier Häuser seit der Bewilligung der Mittel
durch den Haushaltsausschuss erleben, übertrifft alle Er-
wartungen. Sowohl im Umweltministerium als auch im
Wirtschaftsministerium als auch im Forschungsministe-
rium als auch bei uns im Verkehrsministerium geht eine
wahre Antragsflut ein. Die Menschen wollen die neue
Mobilität. Sie wissen, dass Erdöl als Rohstoff für Mobi-
lität keine Zukunft hat. Allein bei uns im Verkehrsminis-
terium bewerben sich weit über 130 Regionen darum,






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Ulrich Kasparick
Modellregion für Elektromobilität in Deutschland zu
werden. Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Mi-
nisterium arbeiten unter Hochdruck daran, die Anträge
zu beurteilen und zu bescheiden. Wir hoffen, dass wir
Ende des Monats damit durch sind, damit wir Klarheit
bekommen, mit welchen Regionen wir anfangen kön-
nen.

Es zeichnet sich sowohl bei den Energieversorgungs-
unternehmen als auch bei den Stadtwerken, in den Kom-
munen, bei den Automobilherstellern und bei den
Dienstleistern eine Aufbruchstimmung sondergleichen
ab. Beispielsweise tun sich Energieversorger mit dem
ADAC zusammen, um das Thema auch mental nach
vorne zu bringen. Die deutsche und die französische
Seite verständigen sich darüber, wie etwa die Standards
für Stromabnehmer und Steckdosen aussehen sollen.
Man sieht: Da ist ein Wettbewerb im Gange, der von Tag
zu Tag an Schärfe zunimmt.

Wir wollen vonseiten der Bundesregierung unseren
Beitrag dazu leisten, dass Deutschland der Leitmarkt
wird. Wir wollen die Entwicklung ganz vorne nicht nur
mitvollziehen, sondern wir wollen sie bestimmen.

Zunächst einmal gilt ein großer Dank dem Parlament.
Sie haben uns mit diesem 500-Millionen-Euro-Pro-
gramm in die Lage versetzt, gemeinsam mit der Indus-
trie jetzt große Schritte nach vorne zu gehen. Wenn man
das zu den Mitteln für die zweite Technologie addiert,
die wir als Ergänzung verstehen, dann verfügen wir in
Deutschland jetzt über ein Innovationsprogramm, das
mit weit über 2 Milliarden Euro gefördert wird. Sie wis-
sen, dass das Nationale Innovationsprogramm Wasser-
stoff- und Brennstoffzellentechnologie mit 500 Millio-
nen Euro dotiert ist. Die Industrie gibt 500 Millionen
Euro dazu. Für die Elektromobilität werden jetzt eben-
falls 500 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, und die
Industrie ist in ähnlicher Größenordnung engagiert.

Wenn Sie sich anschauen, was zurzeit in den For-
schungsabteilungen der großen Automobilkonzerne pas-
siert, dann sehen Sie, dass es eine große Bewegung hin
zur Elektromobilität gibt. Dadurch werden wir in die
Lage versetzt, ein nationales Programm zu starten, mit
dem wir den Vergleich mit dem, was in den Vereinigten
Staaten und Japan geschieht, in keiner Weise zu scheuen
brauchen.

Ich danke also dem Parlament. In absehbarer Zeit
werden wir darüber zu diskutieren haben, wie wir die
Mittel verstetigen können; denn wir kommen nicht mit
einem Jahr hin. Alle Hersteller werden im nächsten bzw.
übernächsten Jahr Elektrofahrzeuge einführen. Wir wol-
len in den Modellregionen gemeinsam mit den Energie-
versorgungsunternehmen die komplette Wertschöp-
fungskette bzw. den gesamten Technologiemix von der
Batterieherstellung über die Ladestationen und die Rege-
lungs- und Steuerungstechnik bis hin zum Recycling ab-
bilden, um, ausgehend von den Ballungsräumen,
Deutschland mit hohem Tempo auf einen neuen Pfad der
Mobilität zu bringen.

Das ist gut für den Klimaschutz, und dadurch werden
die Beschäftigung und der Innovationsstandort Deutsch-
land gesichert. Wir glauben, dass wir die Krise in einer
unserer wichtigsten Branchen, nämlich der Automobil-
industrie, die wir im Moment erleben, nutzen müssen,
um durch komplexe Innovationen wirklich nach vorne
zu kommen. Damit machen wir die Wirtschaft in
Deutschland zukunftsfähig und tun gleichzeitig etwas
für den Klimaschutz.

Ich darf mich bei den Koalitionsfraktionen dafür be-
danken, dass sie diesen Weg durch ihren Antrag maß-
geblich mit unterstützen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1622205500

Das Wort hat nun Kollege Horst Friedrich für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Horst Friedrich (FDP):
Rede ID: ID1622205600

Herr Präsident! Herr Staatssekretär! Liebe Kollegin-

nen und Kollegen! Ich glaube, es gibt nur wenige The-
men im Verkehrs- und im Umweltbereich, bei denen
man in der Grundausrichtung einer Meinung ist. Dass
wir neue Antriebsformen brauchen, ist unstrittig.

Nach unseren Erkenntnissen gibt es im Wesentlichen
drei Pfade, die es auszuloten gilt:

Bei dem ersten Pfad wird parallel gedacht. Es geht um
die Verbesserung der Effizienz der jetzigen Antriebsfor-
men und um die Ergänzung durch biogene Treibstoffe.

Der zweite Pfad ist, die Nutzung von Wasserstoff ent-
weder als reines Antriebsmittel oder als Antriebsmittel
für Brennstoffzellen zu verbessern.

Der dritte Pfad ist das, was wir im Übrigen schon fünf
Monate vor der Regierung vorgeschlagen haben, näm-
lich der Ausbau des Bereichs E-Mobility.

He
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1622205700
Man
lehnt zunächst einmal Anträge pauschal ab, die kein
Geld kosten, wenn man die wesentlichen Forderungen
umsetzt, weil sie von der falschen Seite gestellt werden.
Danach legt man ein Programm auf, einen nationalen
Plan, mit dem in dieser Legislaturperiode wahrschein-
lich nichts mehr bewegt werden wird, und sagt: Ich bin
dankbar, dass es mehr Geld kostet.

Die fünf wesentlichen Forderungen der FDP, mit de-
nen wir unseren Antrag vom November letzten Jahres
ergänzt haben, sind nämlich geeignet, die Rahmenbedin-
gungen zu schaffen, die man dem Nutzer, nämlich dem
Bürger, bieten muss. Dazu ist es nicht erforderlich, viel
Geld in die Hand zu nehmen.


(Beifall bei der FDP)


Was verlangt die FDP?






(A) (C)



(B) (D)


Horst Friedrich (Bayreuth)

Wir sagen erstens, dass wir eine geeignete Anpassung
der Verordnung zur Kennzeichnung von emissionsarmen
Fahrzeugen brauchen. Das heißt, in der 35. Bundes-Im-
missionsschutzverordnung muss geregelt werden, dass
Elektrofahrzeuge in eine besondere Schadstoffgruppe
eingestuft werden können. Das kostet kein Geld, man
muss es nur tun.

Zweitens. Auf dieser Grundlage und in Anpassung
der Vorgaben in der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ord-
nung ist sicherzustellen, dass mit entsprechenden Plaket-
ten gekennzeichnete Fahrzeuge von Fahrverboten in
städtischen Umweltzonen befreit werden. Auch das kos-
tet kein Geld. Man muss es nur wollen.

Drittens sollte durch eine geeignete Anpassung der
Straßenverkehrs-Ordnung ermöglicht werden, dass die
Kommunen Vorrang-Parkplätze ausweisen und entspre-
chende Parkzonen einrichten, in denen die Batterien
während des Parkens wieder aufgeladen werden können,
wenn es nicht über das Antriebsaggregat funktioniert.
Auch das kostet im Wesentlichen kein Geld. Man muss
es nur wollen.

Viertens sollten konkrete Regulierungsschritte unter-
nommen werden, damit Hinweisschilder für Stromlade-
stellen einheitlich gestaltet und entsprechend normiert
werden können, damit jeder weiß, wo er eine Ladesta-
tion für seine Batterie findet. Auch das kostet im We-
sentlichen kein Geld. Man muss es nur machen.

Als letzter Punkt sollte durch eine geeignete Anpas-
sung der Fahrzeug-Zulassungsverordnung die Einfüh-
rung von Wechselkennzeichen ermöglicht werden, damit
ein Fahrzeughalter, der ein Elektrofahrzeug als Zweit-
fahrzeug nutzt, dasselbe Kennzeichen für beide Fahr-
zeuge verwenden kann; denn das eine ist besser für den
innerstädtischen Bereich geeignet und das andere für die
große Strecke.

Das alles lehnen Sie ab, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von der CDU/CSU und der SPD, vermutlich weil
der Antrag, wie gesagt, von der falschen Seite kommt,
nämlich von der bösen Opposition.


(Beifall bei der FDP)


Sie müssen uns erklären, warum Sie einen großen Natio-
nalen Entwicklungsplan Elektromobilität mit einer er-
heblichen Forschungsförderung vorsehen. Die wesentli-
chen Fakten sind schon erforscht. Jetzt kommt es darauf
an, die Akzeptanz beim Bürger zu erhöhen.

Die Erfahrung mit den anderen Antriebsaggregaten
hat gezeigt, dass eine Substitution der herkömmlichen
Brennstoffantriebe nur dann erreicht werden kann, wenn
dem Nutzer ein genauso einfaches Handling angeboten
wird wie jetzt und die notwendige Infrastruktur geschaf-
fen wird. Dazu braucht man kein staatliches Geld, son-
dern klare rechtliche Regeln, die auch der Industrie zu-
verlässig aufzeigen, in welche Richtung die Entwicklung
geht.

Sie machen aber dauernd das Gegenteil. Kaum hatte
sich für biogene Treibstoffe ein Markt gebildet, haben
Sie die Steuertatbestände geändert, mit dem Ergebnis,
dass im Lkw-Bereich der komplette Markt weggebro-
chen ist. Das ist Ihre Politik.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie vertreten das Ziel, dass Deutschland der Leitmarkt
für Elektromobilität wird. Dagegen hat niemand etwas
einzuwenden. In Deutschland hat die Automobilindus-
trie schon 1992 die Hybridtechnologie gekannt. Doch
damals war sie nicht marktkonform, und es hat an den
notwendigen Begleitumständen gefehlt.


(Ute Kumpf [SPD]: Das war doch zu teuer!)


– Sicherlich war es zu teuer, aber das lag daran, dass es
an den notwendigen Rahmenbedingungen fehlte. Ich
habe meine erste Probefahrt mit einem Elektrofahrzeug
1991 in Bonn unternommen. Es war ein BMW 316 mit
einer Batterie von Asea Brown Boveri. Das Problem war
damals, dass die Batterie so teuer war, dass sie sich
kaum jemand leisten konnte. Die Produktion hätte in Se-
rie gehen müssen. Das haben Sie bisher immer krampf-
haft verhindert, und das wird auch jetzt wieder passieren.

Sie haben einen Masterplan „Güterverkehr und Lo-
gistik“ vorgelegt. Ergebnisse gibt es eigentlich nicht. Sie
haben ein nationales Flughafenkonzept. Das Ergebnis ist
eher eine große Katastrophe.


(Jan Mücke [FDP]: Ja!)


Nun setzen Sie noch einen nationalen Entwicklungsplan
für Elektromobilität oben drauf. Wenn das Ergebnis das-
selbe sein wird wie bei den anderen Plänen, dann kann
man Ihnen nur raten:


(Jan Mücke [FDP]: Finger weg davon!)


Lassen Sie es endlich bleiben! Schließen Sie sich unse-
rem Antrag an! Wir waren erstens schneller. Zweitens ist
er besser, und drittens kostet er kaum Geld.


(Beifall bei der FDP)


Vor dem Hintergrund bitte ich Sie: Fassen Sie sich ein
Herz und schließen Sie sich unseren Forderungen an!
Denn sonst müssten Sie der gesamten Community erklä-
ren, warum Sie unsere Anträge, die in sich schlüssig
sind, ablehnen und auf Ihren neuen Plan setzen, der viel-
leicht irgendwann im Jahr 2012 greift.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1622205800

Das Wort hat nun Kollege Andreas Scheuer für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Andreas Scheuer (CSU):
Rede ID: ID1622205900

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Ich verstehe die Aufregung des Kollegen Friedrich nicht.


(Ute Kumpf [SPD]: Er will doch nur beachtet werden! – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Sie haben mich noch nicht aufgeregt erlebt!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Andreas Scheuer
Wir haben im Ausschuss sehr freundschaftlich und kol-
legial über dieses Antragspaket diskutiert, auch vonsei-
ten der Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen und von eurer Seite, der FDP. Ich bin froh, dass
du, lieber Kollege Friedrich, nicht erzählt hast, dass du
schon um das Jahr 1900 eine Probefahrt im Lohner-Por-
sche gemacht hast.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Da war ich noch nicht auf der Welt!)


– Davon gehe ich aus. – Wir haben im Ausschuss das
Ministerium gebeten, auch die guten Vorschläge der Op-
position, die wir in einem grundlegenderen Antrag der
Koalition zusammengefasst haben, mit in die Elektro-
mobilitätsstrategie aufzunehmen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist euer Problem! Ihr gebt es immer ab!)


Herr Staatssekretär, Sie haben dazu Stellung genom-
men und Einzelpunkte genannt. Unsere Positionen lie-
gen doch gar nicht weit auseinander, meine Damen und
Herren von der Opposition. Die Koalition hat grundle-
gender argumentiert und gesagt: Bevor wir zu den Ein-
zelschritten kommen können, müssen wir zuerst eine
grundsätzliche Strategie festlegen, ein Marktanreizpro-
gramm auflegen und Haushaltsmittel verstetigen. Sage
und schreibe 500 Millionen Euro aus dem Konjunktur-
paket sind für diesen Forschungsbereich vorgesehen und
dienen dazu, die Vision von Elektromobilität Wirklich-
keit werden zu lassen. Wir müssen aber genau definie-
ren, was wir machen, und die Einzelmaßnahmen abstim-
men.

Ich nähere mich in meiner Position der FDP-Fraktion
sehr stark an, wenn ich sage: Die Förderung von Wech-
selkennzeichen muss natürlich in ein Marktanreizpro-
gramm und eine Elektromobilitätsstrategie eingebunden
werden. Jedes Elektromobil als Zweitwagen könnte mit
einem Wechselkennzeichen ausgestattet sein. Das nor-
male Fahrzeug wird für lange Strecken genutzt, während
das kleine Elektromobil für den Stadtverkehr gedacht ist.
Man tauscht dann die Kennzeichen je nach Bedarf aus.
Die guten Ergebnisse aus Österreich zeigen uns, dass ein
Wechselkennzeichen eine gute Alternative ist.

Mit Einzelmaßnahmen – Parkplätzen, Ladestationen
und anderen infrastrukturellen Vorkehrungen – müssen
wir zu einer Strategie kommen. Genau das ist der Punkt.
Wir brauchen eine Elektromobilitätsstrategie für den
Alltag der Bürgerinnen und Bürger. Erstens muss sich
die Anschaffung eines Elektroautos lohnen. Zweitens
muss eine entsprechende Infrastruktur vorgehalten wer-
den. Schauen wir uns beispielsweise das Konzept der
Firma Better Place an. Wenn man mit dem Elektroauto-
mobil zum Einkaufen fährt, sind ein paar Parkplätze für
das Parken solcher Autos vorgesehen. Dort kann man
das Auto, wenn man zuvor einen Vertrag mit einem An-
bieter abgeschlossen hat, mit einem entsprechend ko-
dierten Stecker an eine Steckdose anschließen. Wenn das
Auto wieder vollständig aufgeladen ist, wird man wäh-
rend des Einkaufens via SMS benachrichtigt. Eine solch
hochinnovative Infrastruktur brauchen wir, Herr Staats-
sekretär, damit Deutschland nicht nur in Europa, sondern
weltweit zum Leitmarkt für Elektromobilität wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir müssen von den fossilen Energieträgern unab-
hängiger werden. Natürlich müssen wir uns – dazu wird
mein Kollege Vogel sicherlich noch einiges sagen – ver-
stärkt Gedanken über die Effizienz des Verbrennungsmo-
tors machen. Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundes-
tag haben beispielsweise schon den BMW E-Mini
getestet. Die Rückmeldungen lauten in der Regel: Der
geht aber ab! – Das Image, dass ein Elektroauto in seiner
Dynamik beschränkt ist, wird also durch den Feldver-
such und das eigene Erleben widerlegt. Man sieht: Diese
Technologie funktioniert. Wir müssen dafür sorgen, dass
auch die Bevölkerung zu dieser Einsicht gelangt und im
Alltag Elektroautos nutzt.

Nehmen wir Opel als Beispiel. Das Unternehmen Ma-
gna will sich Gedanken machen, ob es als Investor bei
Opel einsteigt. Das Unternehmen ist ein hocheffizienter
Zulieferer und Entwickler von Teilen für Elektroautos,
aber auch von ganzen Elektrofahrzeugen. Das kann eine
Chance für die deutsche Automobilindustrie sein, mit
solchen Produkten zum Leitmarkt in Europa und welt-
weit zu werden.

Herr Staatssekretär, ich melde Passau, meinen Wahl-
kreis, hiermit als Modellregion an. Ihnen werden sicher-
lich noch viele Modellregionen gemeldet werden. Ich
biete mich ganz selbstlos an, in der Studentenstadt Pas-
sau die Elektromobilitätsvision umzusetzen und diese
Stadt zu einer Modellregion zu machen. Wichtig ist, dass
erstens die Infrastruktur stimmt, dass zweitens die Batte-
rietechnologie weiterentwickelt wird, dass drittens die
Speicherqualität verbessert wird und dass viertens die
Auflademöglichkeiten so flexibel gestaltet werden, dass
ein Pendler sagen kann: Für mich ist ein Vertrag pas-
send, wenn der Anbieter es mir erlaubt, mein Auto mit
Nachtstrom aufzuladen. – Das heißt, er fährt früh mor-
gens mit dem Elektromobil aus seiner Garage zum
Arbeitsplatz und anschließend wieder zurück. Dann
stöpselt er in der Garage ein und lädt die Batterie über
Nacht wieder auf. Er lädt also nur zu Hause auf. Wenn
wir diese Bedingungen für die Bürgerinnen und Bürgern
schaffen, dann werden sich die Haushaltsmittel und die
Mittel aus dem Konjunkturpaket in Höhe von 500 Mil-
lionen Euro bezahlt machen; denn wir werden in eine
neue Generation der Automobiltechnik investieren, auch
wenn das Elektroautomobil schon lange erfunden ist,
Herr Kollege Friedrich. Jetzt in der Krise besteht die
Chance, dass wir unsere Automobilhersteller mit staatli-
cher Förderung dazu bewegen, dass sie die Vision der
Elektromobilität in die Realität umsetzen, die Chance
am Schopfe packen und die Produkte anbieten, die für
Otto Normalverbraucher interessant sind.

Schauen Sie sich die Diskussionen in den Fachzeit-
schriften an, zum Beispiel in der Wirtschaftswoche.


(Ute Kumpf [SPD]: Das ist eine Fachzeitschrift?)


Im Dossier Auto beschäftigt sich ein mehrseitiger Bei-
trag mit Elektromobilität und alternativen Antriebstech-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Andreas Scheuer
niken. Auch die Medien müssen mithelfen. Es bringt uns
nichts, wenn wir im Verkehrsausschuss und im For-
schungsausschuss Visionen diskutieren, aber der Bürger
diese Chance nicht ergreift und keines dieser Fahrzeuge
kauft. Wenn die Medien die Visionen der Automobilher-
steller und der Politik in der Öffentlichkeit bekannt ma-
chen und die Alltagstauglichkeit aufzeigen, dann wird
die Diskussion eine ganz neue Qualität erhalten. Ich
freue mich darauf.

Die Diskussionen im Fachausschuss über Elektromo-
bilität und alternative Antriebstechniken sind mit dem
heutigen Tag nicht beendet, sondern wir bleiben dran.
Herr Staatssekretär, ich freue mich darauf, dass wir in
der neuen Legislaturperiode einen Bericht des Verkehrs-
ministeriums bekommen, der den Stand der Diskussion
wiedergibt. Wenn wir das Tal der Tränen, die Wirt-
schaftskrise,


(Ute Kumpf [SPD]: Das ist nur eine Badewanne!)


durchschritten haben, dann muss uns die Bundesregie-
rung am Jahresende darstellen, was sie in den nächsten
Jahren plant. Auf diese Diskussion freue ich mich.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1622206000

Das Wort hat nun Kollegin Dorothée Menzner für die

Fraktion Die Linke.


Dorothee Menzner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1622206100

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Gäste! Elektroautos sind eine feine Sa-
che. Für gewisse Bereiche und für gewisse Einsatzge-
biete sind sie durchaus zu begrüßen, zum Beispiel im
innerstädtischen Verkehr. Sie sind leise, sie erzeugen
keinen Feinstaub und keine Abgase. Aber zu glauben,
sie könnten unsere grundlegenden Mobilitätsprobleme
lösen, ist doch ein bisschen kurzsichtig. Wir haben da-
rüber neulich schon einmal diskutiert. Der WWF ist
nicht die einzige Institution, die sagt, dass das keine
kurzfristige Lösungsstrategie ist. Das ist eben schon an-
gesprochen worden. So weit ist die Entwicklung noch
nicht. Bei der Klimabilanz und Umweltfreundlichkeit
von Elektroautos kommt es entscheidend darauf an, wie
der Strom erzeugt wird, mit dem sie gespeist werden.
Man kann natürlich wie die FDP in ihrem Antrag den
Standpunkt vertreten, die AKWs länger laufen zu lassen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wo steht das im Antrag?)


Ich sage ganz deutlich: Für uns ist das keine Lösung.

Man sollte sich aber auch überlegen, ob die fossile
Stromerzeugung die Lösung ist. Jeder, der sich Greven-
broich, die „Hauptstadt der Energie“, und Umgebung
mit den im Bau oder schon in Betrieb befindlichen Koh-
lekraftwerken einmal angeschaut hat, wird ins Grübeln
kommen. Wir wissen, dass wir bis heute noch nicht ge-
nug Strom auf ökologische und nachhaltige Weise bzw.
aus erneuerbaren Energien erzeugen. Aber auch Fragen,
die das Last- und Lademanagement, die Stromnetze und
die notwendige Infrastruktur betreffen, sind zu prüfen.
Daher begrüßen wir, dass 5 Millionen Euro für For-
schung und Entwicklung im Konjunkturpaket II dafür
bereitgestellt werden. Die Strategie „Weg vom Öl“ kann
aber nicht heißen, dass wir uns von der Abhängigkeit
von den Ölmultis geradewegs in die Abhängigkeit von
den Stromkonzernen begeben. Die Autos, die wir bisher
fahren, werden sicherlich nicht die sein, die wir als Basis
für Elektromobilität verwenden können. Es ist zu kurz
gedacht, einen Elektromotor in einen Golf einzubauen.
Es müssen andere Fahrzeuge sein. Auch unser Mobili-
tätsverhalten muss sich verändern.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Beispielsweise sagte letzte Woche ein Bürger aus
meinem Wahlkreis zu mir: Ich wollte mein Auto ver-
schrotten und die Abwrackprämie dafür kassieren, dass
ich mir ein Elektroauto anschaffe; ich fahre nämlich nur
kurze Wege und habe Solarenergiezellen auf dem
Dach. – Das funktionierte aber nicht, weil das ge-
wünschte Elektroauto drei Räder hat und die Abwrack-
prämie hingegen nur bei Kauf eines vierrädrigen Autos
ausgezahlt wird. Wenn wir fraktionsübergreifend die
Auffassung vertreten, dass Elektromobilität gefördert
werden muss, dann sollten wir an dieser Stelle genauer
hinschauen und etwas verändern.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte für meine Fraktion ganz deutlich sagen:
Die Linke steht für eine Verkehrspolitik, die darauf aus-
gerichtet ist, umweltschonender und ressourcensparen-
der zu wirtschaften, als wir es es viele Jahrzehnte lang
getan haben. Diese Verkehrspolitik muss bedarfsgerecht
und sozial gerecht sein. Wir stehen nicht für Konzepte,
die vorsehen – daher rührt unsere Kritik an den Wechsel-
kennzeichen –, Menschen mit einem guten Einkommen
eine umweltfreundliche Mobilität zu ermöglichen, also
Menschen, die sich, um ein ökologisch reines Gewissen
zu haben, als Zweit- oder Drittwagen ein Elektromobil
beschaffen wollen. Wir möchten, dass Menschen unab-
hängig von ihrem Einkommen, unabhängig von ihrer
ökonomischen Lage einen möglichst barrierefreien Zu-
gang zu gutem Verkehr haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Um von dem immensen Verbrauch fossiler Rohstoffe
wegzukommen, müssen der öffentliche Personennahver-
kehr und -fernverkehr weiter ausgebaut und attraktiver
gemacht werden. Auch die Vernetzung mit dem Fahrrad-
verkehr muss hinzukommen. Um auf diesem Gebiet vo-
ranzukommen, kann der Ausbau der Elektromobilität ein
kleiner Schritt sein. Dafür sind wir sehr aufgeschlossen.
Wir sehen allerdings in ihr nicht die Möglichkeit, mit der
wir einfach umsteuern und alles grundlegend verändern
können. Wir glauben, es werden falsche Hoffnungen ge-
weckt.

Ich danke.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1622206200

Das Wort hat nun Kollege Winfried Hermann für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622206300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die heutige Debatte zeigt: Es hat sich im Be-
reich der Mobilität viel bewegt: Man schaue sich nur an,
welche Zukunftsvisionen und Projekte die Autokonzerne
inzwischen anbieten. Es ist noch nicht lange her, dass
Personen, die dafür eingetreten sind, etwas für die Elek-
tromobilität zu tun, mit Sätzen wie „Das geht doch
nicht“ oder „Elektroautos taugen allenfalls als Boxautos
auf der Kirmes“ abgespeist wurden. Inzwischen gibt es
keinen großen Autokonzern, der sich nicht mit Mobilität
beschäftigt und neue Konzepte zu Hybridfahrzeugen und
E-Mobilität entwickelt. Das ist, wie wir finden, gut so.
Ich störe mich überhaupt nicht daran, dass jetzt alle
Fraktionen sagen: Das ist etwas ganz Wichtiges; das
wollen wir unterstützen und fördern.

Einige wichtige Gründe für die Förderung der Elek-
tromobilität sind bereits genannt worden. Aus unserer
Sicht ist bedeutsam – ich sage es noch einmal –: Elektro-
mobilität hilft uns, weg vom Öl zu kommen. Auch der
Klimaschutz ist ein zentrales Ziel der Mobilitätspolitik.
Ich füge hinzu: Auch weil wir wissen, dass es einen glo-
balen Trend zur „Mobilisierung“, vor allem zur Automo-
bilisierung, gibt – es ist zu befürchten, dass es global in
wenigen Jahrzehnten doppelt so viele Autos wie heute
gibt, also statt 1 Milliarde 2 Milliarden –, ist es zwin-
gend, dass wir Autos auf den Markt bringen, die tatsäch-
lich umwelt- und klimafreundlich sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das müssen wir fördern.

Richtig ist: Nur das Elektroauto zu fördern und sonst
keinerlei Mobilitätspolitik zu betreiben, das wäre die fal-
sche Strategie. Wir teilen die Überzeugung: Wir
brauchen ein Gesamtkonzept. Wir haben einen Antrag
eingebracht, der auf eine umfassende Förderung der
Elektromobilität abzielt. Dabei geht es nicht nur um das
Elektroauto, sondern auch um den Elektroscooter. Wir
denken schon weiter – wir haben schon den nächsten
Antrag eingebracht –: Auch die Bahnen müssen „elektri-
scher“ werden; auch Dieselfahrzeuge kann man durch
Stromfahrzeuge ersetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn überhaupt, dann sollte man, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Regierungskoalition, schon eine
konsistente Strategie entwickeln. Es macht wirklich
Sinn, Forschung und Entwicklung im Bereich der Batte-
rietechnik zu fördern. Hier kann und muss die Politik et-
was tun. Wir müssen dafür sorgen, dass nicht das gleiche
Problem wie bei den Handys entsteht. Wir haben ja be-
klagt, dass jedes Handy mit eigenem Ladegerät und
eigenem Stecker herausgebracht wurde. Das darf im
Automobilsektor nicht passieren. Wir brauchen eine ein-
heitliche und praktische Technologie. Das können wir
politisch unterstützen.
Es ist allerdings ziemlich unklug, für einen Zeitraum
von drei Jahren 500 Millionen Euro für Forschung und
Entwicklung auszugeben und gleichzeitig mit der Ab-
wrackprämie 5 Milliarden Euro für Fahrzeuge ohne je-
den Klimaschutz rauszudonnern. Das ist inkonsistent.
Das ist verspieltes Geld.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Wir wollen es anders machen. Wir wollen mit einem
Marktanreizprogramm gerade die Schwierigkeiten der ers-
ten Jahre überwinden. Heute wissen wir, dass der E-Mini
von BMW einfach zu teuer ist. Er ist mindestens
5 000 Euro teurer als ein normaler Mini.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist aber ein tolles Auto! – Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Loben Sie doch auch einmal!)


Das Gleiche gilt für alle anderen Fahrzeuge. Für die
Übergangszeit brauchen wir also Fördermittel indivi-
dueller Art. Wir sagen: Ab 2010 soll es eine Prämie von
5 000 Euro, die jährlich um 20 Prozent abgeschmolzen
werden soll, geben. Es handelt sich also nicht um eine
Subvention auf Dauer, sondern nur um eine Förderung
während der Markteinführung.

Wir wissen aus der Vergangenheit, dass zahlreiche
gute Technologien daran gescheitert sind, dass sie am
Anfang zu teuer waren. Die Konzerne sind aufgrund
dessen wieder ausgestiegen. Ich erinnere zum Beispiel
an den Audi A2 und an den 3-Liter-Lupo, mit denen ge-
nau das passiert ist. Diesen Fehler müssen wir bei der
Elektromobilität vermeiden. Wir müssen Anreize schaf-
fen. Das Ziel der Bundesregierung – 1 Million Elektro-
fahrzeuge – ist zu niedrig gesteckt. Man kann heute sa-
gen, dass eine Anzahl von 2 Millionen bis zum Jahre
2020 gut erreichbar ist. Ich finde nämlich: Zu einer Stra-
tegie gehört auch ein ambitioniertes Ziel.

Welche Chancen und Möglichkeiten gibt es noch?
Wir versprechen uns von der E-Mobilität, dass ein Um-
denken in Bezug auf die Nutzung von Autos stattfindet.
Wir erhoffen uns eine andere Qualität von Autos, näm-
lich Autos, die weniger Ressourcen verbrauchen und für
eine geringere Geschwindigkeit ausgelegt sind, Autos
für die Stadt, die die Lebensqualität erhöhen, weil sie
leise sind und nicht so viel Fläche brauchen. Das alles
wollen wir unterstützen.

Wir wollen das, wie die FDP, mit ordnungsrechtlichen
Hilfen, Vorteilen beim Parken und bei der Nutzung von
Fahrbahnspuren erreichen. Auf diese vielfältige Art wol-
len wir zur Nutzung und zum Kauf anreizen. All dies
sind Chancen und Möglichkeiten, die Mobilität insge-
samt nachhaltiger zu gestalten. E-Mobilität ist also ein
wichtiger Baustein für eine bessere und nachhaltige Mo-
bilitätspolitik.

Wo liegen die Risiken? Diese möchte ich nicht ver-
schweigen. Es wäre ein Irrweg, wenn wir zukünftig mit
Elektroautos fahren würden, die mit Atomstrom oder mit
Strom aus Kohlekraft gespeist sind. Man sieht dann zwar
nichts aus dem Auspuff herauskommen und hört auch
nichts, aber der Dreck und der Lärm entstehen an ande-






(A) (C)



(B) (D)


Winfried Hermann
rer Stelle. Elektromobilität bedeutet die zwingende För-
derung und Nutzung erneuerbarer Energien. Jegliche
gebrauchte Energie muss aus erneuerbaren Energien er-
zeugt werden. Das ist unser Ansatz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Es bleiben noch einige Fragen offen, die ich leider
nicht alle ausführen kann. Die Speichertechnik muss
verbessert werden, und das Problem der Anschlüsse
muss gelöst werden; das haben wir schon besprochen.
All dies, eingebettet in eine Gesamtstrategie der nach-
haltigen Mobilität, ergibt Sinn. Deswegen wollen wir es
fördern und unterstützen. In diesem Sinne sind Elektro-
autos tatsächlich grüne Autos.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Das kann man aber auch in Schwarz bestellen! – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ich hätte gern Rot! – Jan Mücke [FDP]: Ich nehme Rosa!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1622206400

Das Wort hat nun die Kollegin Schwarzelühr-Sutter

für die SPD-Fraktion.


Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD):
Rede ID: ID1622206500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich bin froh, dass wir uns einig sind, dass
Elektromobilität nicht mehr nur eine Vision oder ein
Ausweg aus einer Struktur- und Wirtschaftskrise ist, son-
dern dass wir wirklich auf dem Weg sind, sie in unseren
Alltag zu integrieren. Wir haben gute – ich sage sogar:
beste – Autos in Deutschland. Ich bin davon überzeugt,
dass wir im Jahre 2020 eines der besten Elektroautos an-
bieten können.

Lieber Kollege Friedrich, im Jahre 1991 sind Sie be-
reits mit einem Elektroauto gefahren. Da ihr so lange an
der Regierung wart, frage ich mich wirklich, warum es
so lange gedauert hat und wir erst heute ein Elektroauto
auf dem Markt haben.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ihr seid viel länger dran, leider, und das ist das Problem! Ihr macht auch nichts!)


Ich bin froh, dass die Bundesregierung jetzt 500 Millio-
nen Euro zur Verfügung stellt und auch schon vorher im
Rahmen des Nationalen Innovationsprogramms Wasser-
stoff- und Brennstoffzellentechnologie 500 Millionen
Euro zur Verfügung gestellt hat. Es ist wichtig, dass For-
schung und Innovation in Gang kommen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ihr seid schon elf Jahre an der Regierung, und nichts ist passiert!)


Die bloße Kennzeichnung von Elektroautos, die sowieso
eine grüne Plakette bekommen, löst keine Innovationen
aus. Wir aber brauchen Innovationen. Schon heute um-
fasst der Markt von Produkten und Dienstleistungen im
Zusammenhang mit nachhaltiger Mobilität weltweit
180 Milliarden Euro, ganz abgesehen von den Arbeits-
plätzen, die in diesem Bereich schon existieren bzw.
noch geschaffen werden. Auch vor dem Hintergrund der
Debatte um CO2-Emissionen bieten Elektrofahrzeuge
eine große Chance, da sie helfen, die Emissionen von
CO2 sowie die Lärm- und Schadstoffemissionen in Me-
tropolen zu reduzieren. Es gibt ja heutzutage ein Akzep-
tanzproblem von Verkehr aufgrund der Lärmbelästi-
gung.

Ein Nullemissionsfahrzeug, das wir anstreben, ist nur
möglich, wenn es durch erneuerbare Energien angetrie-
ben wird. Die FDP dagegen stellt die Versorgungssicher-
heit in den Vordergrund und versucht, nicht nur die Tür
für längere Laufzeiten von AKWs, sondern gleich für
den Neubau von AKWs aufzustoßen. Das ist nicht der
Weg, den wir gehen wollen. Wir wollen ein Nullemis-
sionsfahrzeug. Das geht nur auf Basis erneuerbarer
Energien.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dass endlich Bewegung in den Bereich Elektrofahr-
zeuge gekommen ist, liegt daran, dass die Industrie bei
der Entwicklung der Batterietechnik Fortschritte erzielt
hat. So rasant wie in den letzten zwei, drei Jahren ging es
schon lange nicht mehr voran. Es ist auch ein Vorteil,
dass hier zwei Branchen zusammenkommen, nämlich
die Automobilindustrie und die Energieversorgungswirt-
schaft. Zwischen beiden sind noch Fragen zu klären. Ich
nenne die Stichworte Schnittstellen und Standardisierun-
gen. Es gibt auch unterschiedliche Modelle. Ein Modell
wäre zum Beispiel, dass man nicht ein komplettes Elek-
trofahrzeug mit Batterie kauft, sondern nur das Fahrzeug
kauft und die Batterie mietet. All das sind mögliche Ge-
schäftsmodelle. Diese Geschäftsmodelle sind zugleich
Zukunftsmodelle und eröffnen einen riesigen Markt.

Ein französischer Hersteller möchte schon 2012 Elek-
trofahrzeuge zu einem Preis von 12 000 bis 14 000 Euro
anbieten. Ich bin überzeugt, dass unsere Industrie da mit-
hält und insbesondere für den Stadtverkehr Elektrofahr-
zeuge zur Verfügung stellt. Ich bin gestern zum ersten
Mal mit dem E-Mini hier in Berlin gefahren. Das ist tat-
sächlich ein tolles Fahrgefühl. Man gleitet förmlich mit
einem solchen Fahrzeug durch den Verkehr. Es ist leise
und verhält sich beim Gasgeben nicht wie ein Auto-
skooter, sondern wie ein schnelles, spritziges Auto.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das Fahrzeug gibt nicht Gas! Es gibt Strom!)


Ich bin überzeugt, wenn das Fahrzeugkonzept noch wei-
terentwickelt wird und ausgereift ist – im Moment sind
die Batterien sehr groß; es gibt keinen Platz, um zum
Beispiel einen Kinderwagen mitzunehmen –, bietet es
eine gute Möglichkeit, um in Städten mobil zu sein. Das
wäre ein Baustein für nachhaltige Mobilität in den Städ-
ten. Gerade die Verknüpfung zwischen ÖPNV, entspre-
chenden Elektrofahrzeugen und Fahrrädern bietet die
Chance, bis zum Jahr 2020 zu emissionsfreiem Verkehr
in den Städten zu kommen.

Heute schon erbringen zum Beispiel einige Kurier-
dienste in Hamburg ihre Dienstleistungen mit Elektro-






(A) (C)



(B) (D)


Rita Schwarzelühr-Sutter
fahrzeugen. Das zeigt, diese Fahrzeuge sind im Kom-
men. Es gibt hier einen riesigen Markt. Auch angesichts
der Nachfrage bei den Pilotprojekten in den Modell-
regionen kann ich nur sagen: Endlich haben wir den
Durchbruch geschafft. Endlich wird auch das Elektro-
fahrzeug von seinem Image her als zukünftiger Ersatz
für das Auto in der Stadt akzeptiert.

Die genannten Kriterien – Unabhängigkeit vom Öl,
keine Feinstaub-, SOx- und CO2-Emissionen, effiziente
Energienutzung, Nutzung von erneuerbaren Energien –
machen dieses Konzept eigentlich zur Nummer eins. Wir
wollen, dass unsere deutsche Automobilindustrie mit ei-
nem solchen Konzept im Wettbewerb auf dem weltwei-
ten Markt der Elektromobilität besteht und vielleicht
auch in diesem Bereich zur Nummer eins wird.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1622206600

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt

erteile ich Kollegen Volkmar Vogel von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Volkmar Uwe Vogel (CDU):
Rede ID: ID1622206700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

heutige Debatte und auch die Debatte im Ausschuss ha-
ben gezeigt, dass wir uns im Grunde genommen über die
Sinnhaftigkeit der Elektromobilität einig sind. Elektro-
mobilität ist eine gute Sache.

Ich möchte den Fokus auf einen anderen Aspekt len-
ken, nämlich Mobilität. Mobilität ist ein hohes Gut. Den
Mobilitätsstandard, den wir in unserem Land erreicht ha-
ben, müssen wir halten und weiter ausbauen. Dieser He-
rausforderung müssen wir uns in den nächsten Jahren
stellen, nämlich auf Dauer und nachhaltig Mobilität in
unserem Land zu sichern, die ökologisch, aber gleichzei-
tig für jeden Bürger bezahlbar und attraktiv ist.


(Beifall des Abg. Dr. Andreas Scheuer [CDU/ CSU])


Aufgabe der Politik ist es, den Bedürfnissen der Men-
schen nach Mobilität im Privaten und natürlich auch im
Geschäftlichen Rechnung zu tragen. Beweglichkeit ist
ein Stück Freiheit, ist Ungebundenheit und auch Flexibi-
lität. Mobilität bedeutet für uns wirtschaftliche Entwick-
lung, Wachstum und Wohlstand. Als Ostdeutscher weiß
ich, wovon ich rede. Ich habe die DDR live und grau in
grau erlebt. Nicht nur, dass wir in Richtung Westen und
Süden plötzlich vor Mauer und Stacheldraht standen, es
gehörte damals auch zum System des SED-Unrechtstaa-
tes, dafür zu sorgen, dass die individuelle Mobilität der
Menschen eingeschränkt war. Schlechte Straßen und
Wartezeiten von mehr als 15 Jahren auf den eigenen Pkw
sind dafür beredte Beispiele. Der dadurch entstandene
wirtschaftliche Schaden wurde von den Machthabern
billigend in Kauf gekommen.
Das wollen wir nicht. Es ist unsere Verantwortung,
dafür zu sorgen, die Probleme, vor denen wir stehen, in
den nächsten Jahren zu lösen. Diese Probleme kann man
in zwei Punkten zusammenfassen: Endlichkeit der fossi-
len Ressourcen sowie Kohlendioxid und Schadstoffe,
die das Klima verändern. Deshalb müssen wir jetzt in
Deutschland die Weichen richtig stellen. Elektromobili-
tät ist ein wichtiger Baustein. Wir dürfen die individuelle
Mobilität nicht einschränken und müssen den Bedürfnis-
sen der Wirtschaft Rechnung tragen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der vorliegende Antrag der Regierungskoalition ist
ein gutes Instrument. Wir werden schnellstmöglich dafür
sorgen, dass elektrische bzw. elektrisch unterstützte An-
triebe zur Marktreife kommen und dass Deutschland
– meine Vorredner haben es bereits betont – Leitmarkt
für die Elektromobilität und für alternative Antriebe
wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Klar ist – das merken wir gerade in der Krise, in der die
Automobilwirtschaft steckt –: Dies sichert die Zukunfts-
und Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie und Tau-
sende von Arbeitsplätzen. Richtig gemacht müssen Öko-
logie und Ökonomie kein Gegensatz sein. Ziel ist es, bis
2020 circa 1 Million Elektrofahrzeuge auf Deutschlands
Straßen zu haben, allerdings – darüber müssen wir uns
im Klaren sein – vorrangig in Ballungszentren.

Auch wenn wir uns an einem automobilen Wende-
punkt befinden, müssen wir uns darüber Gedanken ma-
chen, wie wir den Übergang in die mobile Zukunft ohne
fossile Brennstoffe gestalten. Wir müssen der Realität
ins Auge schauen: Die herkömmlichen Verbrennungs-
motoren, die wir zurzeit haben, können nicht von heute
auf morgen im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Ver-
kehr gezogen werden. Wir werden sie noch viele Jahre
brauchen. Sie werden noch viele Jahre Dienst tun, viel-
leicht weniger in den Ballungsgebieten, aber vor allem
in den ländlichen Siedlungsstrukturen, in den Gegenden,
wo die Infrastruktur weitläufiger ist. Wir dürfen sie für
diese Übergangszeit nicht verteufeln, sondern wir müs-
sen auch hier Anstrengungen unternehmen, um sie noch
effizienter zu machen und ihre Potenziale noch weiter
auszureizen. Dann können sie für diese Übergangszeit
ökologisch und wirtschaftlich attraktiv bleiben.

Mit dem vorliegenden Antrag der Regierungskoali-
tion gehen wir die richtigen Schritte. Wir unterstützen
die Entwicklung, sorgen für Planungssicherheit und set-
zen ein klares Zeichen an die Bürger und die Wirtschaft,
dass Elektromobilität eine Zukunft hat.

Als Ingenieur gebe ich allerdings zu bedenken – das
ist heute auch von anderen Rednern schon angedeutet
worden –, dass der Satz von der Erhaltung der Energie
gilt; denn das ist ein Naturgesetz: Wenn ich irgendwo et-
was herausholen will, dann muss ich vorher etwas hinzu-
fügen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Richtig!)







(A) (C)



(B) (D)


Volkmar Uwe Vogel
Neben der Elektromobilität brauchen wir deshalb be-
zahlbare, nachhaltige und effektive Speichersysteme für
Elektroenergie – das ist sehr richtig –, und wir müssen
dafür Sorge tragen, dass wir die Primärenergie, die wir
zum Einsatz bringen – dabei weise ich insbesondere auf
die erneuerbaren Energien hin, bei denen wir auf einem
guten Weg sind –, in einer Art und Weise produzieren,
dass sie für jeden von uns bezahlbar ist. Denn eines ist
klar: Mobilität für alle, die wir wollen, muss auch für
alle bezahlbar bleiben.

Ich bitte um Unterstützung unseres Antrages, weil er
aus meiner Sicht einen ganzheitlichen Ansatz verfolgt,
im Gegensatz zu den anderen vorliegenden Anträgen,
die sich nur auf Teilaspekte beziehen, wenn auch viele
richtige Hinweise von den anderen Fraktionen gekom-
men sind. Ich bin der Meinung, dass wir hier auf einem
guten Weg sind, dass wir aber darauf achten müssen, die
Entwicklung nicht nur in einer einzigen Richtung voran-
zutreiben; wir müssen vielmehr den gesamten Markt
weiter beobachten. Es wird noch viele Entwicklungen
und Ideen geben, über die wir zu gegebener Zeit zu dis-
kutieren und zu entscheiden haben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1622206800

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf
Drucksache 16/12977. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des An-
trags der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf
Drucksache 16/12693 mit dem Titel „Mobilität zu-
kunftsfähig machen – Elektromobilität fördern“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die
Stimmen der Grünen bei Stimmenthaltung von FDP und
Linken angenommen.

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/10877 mit dem Titel „Elek-
tromobilität – Für einen bezahlbaren und klimaverträg-
lichen Individualverkehr“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die
Stimmen der FDP mit den restlichen Stimmen des Hau-
ses angenommen.

Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/12097 mit dem Ti-
tel „Elektromobilität durch Änderung von immissions-
schutz- und verkehrsrechtlichen Regelungen fördern“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und
Linken gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der
Grünen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11915 mit
dem Titel „Umfassende Förderstrategie für Elektromobi-
lität mit grünem Strom entwickeln“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
der Grünen bei Enthaltung von FDP und Linken ange-
nommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
des Conterganstiftungsgesetzes

– Drucksache 16/12413 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

(13. Ausschuss)


– Drucksache 16/13025 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Blumenthal
Marlene Rupprecht (Tuchenbach)

Ina Lenke
Jörn Wunderlich
Ekin Deligöz

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 16/13026 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Ole Schröder
Petra Hinz (Essen)

Otto Fricke
Roland Claus
Anna Lührmann

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem An-
trag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Klaus
Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE

Soforthilfe zur Teilhabe-Ermöglichung für
Conterganbetroffene

– Drucksachen 16/11639, 16/13025 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Blumenthal
Marlene Rupprecht (Tuchenbach)

Ina Lenke
Jörn Wunderlich
Ekin Deligöz

Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD liegen ein Änderungsantrag der Fraktion
Die Linke sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion
der FDP vor.






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Ilse Falk für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ilse Falk (CDU):
Rede ID: ID1622206900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit

nunmehr etwa anderthalb Jahren beschäftigen wir uns im
Deutschen Bundestag intensiv mit der Lebenssituation
contergangeschädigter Menschen. Ausgelöst unter ande-
rem durch den bewegenden Spielfilm anlässlich des
50. Jahrestages der Markteinführung des Schlafmittels
Contergan wurde unsere Aufmerksamkeit auf das
Schicksal der Betroffenen gelenkt. Hinzu kamen viele
Briefe, Interviews und Reportagen, in denen uns vor Au-
gen geführt wurde, wie schwer das tägliche Leben der
contergangeschädigten Menschen ist und zunehmend
wird. Verursacht durch die jahrzehntelange Fehlbelas-
tung von Wirbelsäule, Gelenken, Muskulatur und Zäh-
nen, treten bei allen Betroffenen Spät- und Folgeschäden
auf, die ihre Lebensqualität stark beeinträchtigen.

Ich muss zugeben: Diese Monate waren auch für
mich eine große Herausforderung. Das persönliche Ken-
nenlernen vieler Betroffener hat mich beeindruckt und
bewegt. Ich habe große Achtung vor allen, die ihr
Schicksal angenommen haben und denen auch mit einer
solchen Bürde ein lebenswertes, glückliches Leben ge-
lingt. Ich kann aber auch die nicht überhören, denen das
nicht gelingt und die mit ihrem Schicksal hadern und uns
als Vertreter und Vertreterinnen zumindest verbal heftig
angreifen. Der immer wieder gestellten Frage nach
Schuld und Verantwortung müssen wir uns stellen; wir
müssen versuchen, sie mit Herz und Verstand zu beant-
worten.

Weil wir Politiker – das gilt auch für den Verursacher,
die Firma Grünenthal – uns diese Antwort nicht leicht
machen, können wir heute einen guten Gesetzentwurf
vorlegen und verabschieden, der die Betroffenen einen
großen Schritt weiterbringt auf dem Weg, der sicher
noch nicht zu Ende ist.

In zahlreichen Gesprächen mit unterschiedlich orga-
nisierten Betroffenen und in zwei großen Expertenanhö-
rungen des Familienausschusses haben wir miteinander
diskutiert, was der Gesetzgeber tun kann, um die Le-
benssituation der Conterganopfer zu verbessern. Wir ha-
ben einiges auf den Weg gebracht. In einem ersten
Schritt haben wir die Conterganrenten zum 1. Juli 2008
verdoppelt. Zweitens haben wir diese Conterganrenten
gegenüber anderen Leistungen des Sozialgesetzbuches
anrechnungsfrei gestellt. Wir haben drittens Parkerleich-
terungen eingeführt. Viertens hat auf unsere Bitte hin das
Bundesgesundheitsministerium in Gesprächsrunden mit
den Spitzenverbänden der Krankenkassen für die Ver-
besserung der Versorgung der contergangeschädigten
Menschen geworben. Es ist vereinbart worden, beste-
hende Verordnungsmöglichkeiten und Ausnahmetatbe-
stände auszuschöpfen und Genehmigungen zügig und
unbürokratisch zu erteilen. Ich hoffe sehr, dass diese
Vereinbarung bald überall bekannt ist und dass es hier
wirklich Fortschritte gibt; denn ich weiß, dass die
Schwierigkeiten bei der Verordnung von Leistungen
durch die Ärzte und bei der Genehmigung durch die
Kassen für sehr viele ein großes Ärgernis sind.

Heute wollen wir mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf weitere Verbesserungen auf den Weg bringen. Die
Novellierung des Conterganstiftungsgesetzes hat einen
wichtigen Schwerpunkt, der wesentlich mitveranlasst
wurde, weil sich die Firma Grünenthal – obwohl recht-
lich dazu nicht verpflichtet – bereit erklärt hat, weitere
50 Millionen Euro für die Verbesserung der Situation der
Contergangeschädigten als Zustiftung in die bestehende
Conterganstiftung zur Verfügung zu stellen. Der Bund
stellt aus dem noch vorhandenen Stiftungskapital eben-
falls 50 Millionen Euro zur Verfügung, sodass aus einem
sich aufzehrenden Stiftungsstock 25 Jahre lang eine jähr-
liche Sonderzahlung an die Betroffenen geleistet werden
kann. Mithilfe dieser Sonderzahlung sollen sie beson-
dere Bedarfe decken und sich Wünsche erfüllen können,
für die kein anderer aufkommt.

Die Regelungen dieses Gesetzentwurfes wurden in ei-
nem engen Austausch mit den Betroffenen getroffen.
Wir haben viele Wünsche und Anregungen aufgenom-
men, unsere ursprünglichen Überlegungen korrigiert und
nach der Expertenanhörung in der vergangenen Woche
noch weitere Änderungen berücksichtigt. So schlagen
wir vor, die Ausschlussfrist für die Beantragung von
Leistungen nicht nur für anderthalb Jahre, sondern voll-
ständig aufzuheben. Außerdem soll ab diesem Jahr zu
den monatlichen Conterganrenten eine jährliche Sonder-
zahlung geleistet werden, deren Höhe vom Grad der
Schädigung abhängig ist. Die am schwersten Geschädig-
ten erhalten dann 4 200 Euro; dies ist allerdings abhän-
gig davon, wie viele Neuanträge nach Öffnung der Aus-
schlussfrist bewilligt werden.

Was die jährlichen Sonderzahlungen betrifft, war uns
die nachhaltige Verbesserung der Lebenssituation der
Betroffenen sehr wichtig, die durch einen gestreckten
Auszahlungszeitraum, gespeist aus Zins und Zinseszins,
viel besser erreicht wird als durch eine Einmalzahlung.
Um dem Wunsch der Betroffenen nach einer Erhöhung
der Zahlung entgegenzukommen, werden wir die Zah-
lung für 2010 nach der ersten Sonderzahlung im Spät-
herbst 2009 auf Januar 2010 vorziehen. Innerhalb kür-
zester Zeit wird somit eine größere Summe zur Deckung
von Sonderbedarfen zur Verfügung stehen, für die
schwer geschädigten Opfer immerhin circa 8 400 Euro.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Der ursprünglich ins Auge gefasste Auszahlungszeit-
raum für die jährlichen Sonderzahlungen wurde um zehn
Jahre verkürzt, von 35 auf nunmehr 25 Jahre. Konkret
bedeutet dies höhere Einmalzahlungen. Diese Regelung
ist ein Kompromiss zwischen einer Einmalzahlung und
Zahlungen über einen sehr lang gestreckten Zeitraum.

Künftig werden die Conterganrenten automatisch dy-
namisiert, und zwar in Anpassung an die gesetzliche
Rente. Künftig sollen mit den Erträgen des restlichen






(A) (C)



(B) (D)


Ilse Falk
Stiftungskapitals nur noch Projekte gefördert werden,
die den Conterganopfern zugutekommen. Dafür ändern
wir den Stiftungszweck. Die Ausgaben im Zusammen-
hang mit Personal- und Sachkosten, die bislang nur zur
Hälfte aus dem Bundeshaushalt gedeckt werden, werden
künftig vollständig aus dem Bundeshaushalt gedeckt und
belasten nicht länger das Stiftungsvermögen, sodass die-
ses Geld den Betroffenen ungeschmälert zugutekommt.

Wir haben noch weitere Änderungen vorgesehen.
Dazu wird die Kollegin Blumenthal ausführlicher Stel-
lung nehmen, insbesondere zur Änderung der Stiftungs-
struktur.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, dass wir
zusammen viel erreicht haben. Ganz besonders danke
ich den beiden Berichterstatterinnen der Regierungsko-
alition, Antje Blumenthal und Marlene Rupprecht, die
mit viel Herzblut und großem Einsatz sehr erfolgreich
verhandelt haben, sowie den Verantwortlichen im Fa-
milienministerium, die uns zur Seite gestanden haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich freue mich sehr, dass die Kolleginnen und Kolle-
gen der anderen Fraktionen dieser Gesetzesänderung
ihre Zustimmung geben wollen. Die Grünen wollen sich
offensichtlich enthalten; bei ihnen hat es nicht ganz zur
Zustimmung gereicht. Allerdings glaube ich, dass es ein
Zeichen des guten Willens ist, dass wir alle den Weg,
den wir zum Wohl und zur Verbesserung der Situation
der Contergangeschädigten eingeschlagen haben, mittra-
gen. Ich denke, so werden wir vorankommen und bei
weiteren Maßnahmen möglicherweise Ähnliches errei-
chen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1622207000

Das Wort hat nun Kollegin Ina Lenke für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1622207100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst

möchte auch ich mich dafür bedanken, dass Opposition
und Regierung bei diesem schwierigen Thema sehr sach-
lich zusammengearbeitet haben. Bei allem Streit, den
wir manches Mal haben, sollte auch einmal gesagt wer-
den: Wir können, wenn wir wollen, und dann klappt es
auch.

Die Firma Grünenthal hat in die Conterganstiftung
eine Zustiftung in Höhe von 50 Millionen Euro einge-
bracht; darauf hat Frau Falk schon hingewiesen. Es ist
wirklich gut, dass dieses Geld verwendet werden kann,
um neben der Rente auch jährliche Sonderzahlungen für
den besonderen Bedarf an contergangeschädigte Perso-
nen auszuschütten.
Letzten Montag haben wir zum vorliegenden Gesetz-
entwurf eine Anhörung durchgeführt, aus der sich für die
FDP-Bundestagsfraktion zusätzlicher Änderungsbedarf
ergeben hat. Nach dieser Anhörung haben wir gemein-
sam einige Vorschläge gemacht. Auch wenn der FDP-
Bundestagsfraktion noch etwas fehlt, wird sie den ge-
planten Änderungen des Conterganstiftungsgesetzes ihre
Zustimmung geben.

Im Mittelpunkt der Änderungsanträge der Großen
Koalition steht die Abschaffung der sogenannten Aus-
schlussfrist. Diese Forderung haben wir schon immer er-
hoben. Ich erinnere an das Gesetz über die Contergan-
stiftung für behinderte Menschen, das eine Frist
– 31. Dezember 1983 – enthielt. Bis zu diesem Zeitpunkt
konnten sich contergangeschädigte Menschen melden;
danach wurden sie nicht mehr einbezogen. Die damalige
Frist war überhaupt nicht zu halten; das haben wir auch
in der Anhörung gehört. Es gibt Betroffene, die diese
Frist ohne Schuld versäumt haben, zum Beispiel Eltern,
die sich schämten, einen solchen Antrag zu stellen, oder
denen die Conterganschädigung ihres Kindes damals
nicht bekannt war, weil die Schädigung nicht an den
Gliedmaßen sichtbar war, sondern im Körper aufgetreten
ist.

Ich finde es sehr gut, dass diese Frist mittlerweile
auch von der Koalition als falsch angesehen wird. Wir
sind der Auffassung – das ist einer unserer Kritikpunkte –,
dass diese Frist zu kurz ist. Sie soll wegfallen.

Der Gesetzentwurf, über den heute abzustimmen ist,
geht in die richtige Richtung. Am 22. Januar dieses Jah-
res haben wir über einen Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU, SPD und FDP abstimmen können. Wir ha-
ben das gemeinsam gemacht, um eine angemessene und
zukunftsorientierte Unterstützung der betroffenen Men-
schen sicherzustellen. Schon damals hatten wir Sie gebe-
ten, unsere Forderungen im Gesetzentwurf zu berück-
sichtigen. Hierbei ging es um folgende Forderungen:
Erstens wollten wir, dass sich die neu einzuführende Dy-
namisierung der Conterganrenten am Dynamisierungs-
faktor der Altersrente orientiert; das wurde berücksich-
tigt. Zweitens wollten wir, dass auf den früheren
Fristausschluss verzichtet wird. Beide Forderungen wur-
den im Gesetzentwurf berücksichtigt. Deshalb können
wir diesem Antrag zustimmen.

Der vorliegende Gesetzentwurf weist noch Defizite
auf. Deshalb haben wir einen Entschließungsantrag ge-
stellt, in dem wir Sie um Zustimmung zu folgenden
Punkten bitten:

Erstens. Es muss sichergestellt werden, dass die Con-
terganrenten – es handelt sich dabei um Entschädigungs-
renten, nicht um normale Renten, für die man in die
Rentenkasse einzahlt – nicht unter das Vorjahresniveau
fallen, wenn es dazu kommen sollte – in der letzten
Plenarwoche haben wir darüber diskutiert –, dass die Al-
tersrenten sinken. Eine solche Regelung ist bei den Con-
terganrenten nicht getroffen worden. Ich glaube zwar,
dass wir hier einer Meinung sind; aber dieser Punkt fin-
det sich nicht im Gesetzentwurf wieder.






(A) (C)



(B) (D)


Ina Lenke
Zweitens. Wir sind der Meinung, dass die Contergan-
renten, auch wenn sie sich an den Altersrenten orientie-
ren, circa alle fünf Jahre überprüft werden sollten. In der
Expertenanhörung haben wir gehört, dass der Hilfebe-
darf bei den betroffenen Menschen steigt, wenn sie – das
wissen wir auch von uns selbst – älter werden. Deshalb
ist es wichtig, die Renten, die in den nächsten 25 Jahren
gezahlt werden sollen, alle fünf Jahre zu überprüfen.


(Beifall bei der FDP)


Eine Anmerkung zum Antrag der Linken: Die FDP
lehnt den Antrag der Linken ab, der unter anderem eine
sofortige weitere Erhöhung der Conterganrenten vor-
sieht. Man muss dazu wissen, dass die Conterganrenten
zum 1. Juli 2008 um 100 Prozent angehoben wurden.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Trotzdem ist es die niedrigste Rente in Europa!)


Das war eine gute Erhöhung, die den Contergangeschä-
digten auch in den nächsten Jahren zugutekommt; Frau
Falk hat es schon gesagt.

Ich habe noch einen kurzen Satz zur Besetzung der
zwei Geschäftsführerpositionen zu sagen: Wir haben
vorgeschlagen, dass bei gleicher Eignung und Qualifika-
tion für diese Position Contergangeschädigte ausgewählt
werden. Das ist meines Erachtens nicht nur eine Frage
der Gerechtigkeit, sondern von grundsätzlicher Bedeu-
tung.

Deshalb legt die FDP Ihnen einen Entschließungs-
antrag vor. Ich bitte Sie, im Interesse der Betroffenen un-
serem Entschließungsantrag zuzustimmen.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1622207200

Nächste Rednerin ist die Kollegin Marlene

Rupprecht, SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)



Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1622207300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich begrüße
auch die Besucherinnen und Besucher, die selbst betrof-
fen sind. Wir haben – Frau Falk hat es gesagt – andert-
halb Jahre miteinander verhandelt. Wir haben versucht,
uns an eine Forderung zu halten, die oft an Politiker ge-
stellt wird – „Suchet der Stadt Bestes“, so steht es in der
Bibel –: Wir haben versucht, die Anliegen der Menschen
ernst zu nehmen, sie in Gesetzgebung umzusetzen und
geeignete Maßnahmen zu ergreifen.

Frau Falk, ich möchte das, was Sie gesagt haben, auf-
greifen: Dafür, dass wir das so hinbekommen haben, ge-
bührt Ihnen, Frau Humme, Frau Blumenthal, den Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeitern im Ministerium, aber
auch den Fraktionen, die dieses Thema nicht für partei-
politisches Gerangel genutzt haben, sondern in den An-
hörungen ganz ernsthaft nachgefragt haben, was nicht
immer der Fall ist, Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Trotzdem war es schwierig, dieses Gesetz, das aus
dem Jahr 1972 stammt, zu ändern. Damals wurde dieses
Gesetz im guten Glauben verabschiedet. Ich will keine
Boshaftigkeit oder Gemeinheit unterstellen; ich glaube
vielmehr, dass man von dem damaligen Kenntnisstand
ausging und glaubte, mit dem Gesetz etwas Gutes zu tun,
soweit das vor dem Hintergrund der gesetzlichen Grund-
lagen bezüglich Entschädigungs-, Opfer- und Regress-
fragen überhaupt möglich war. Ich glaube, es war drin-
gend erforderlich, dass wir dieses Gesetz auf den
Prüfstand gestellt haben. Ich spreche in diesem Zusam-
menhang immer von drei Schritten.

Wir haben die Rente im letzten Jahr verdoppelt. Na-
türlich gab es Anfragen, warum wir sie nicht versechs-
facht haben; schließlich gebe es in anderen Staaten mehr
Rente als bei uns. Ich denke, Vergleiche mit anderen
Staaten hinken immer dann, wenn man deren Sozialsys-
teme und deren Sozialleistungen nicht in Betracht zieht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Ina Lenke [FDP])


Wir haben in der Bundesrepublik ein sehr ausdiffe-
renziertes, für die Anspruchsberechtigten oftmals fast
nicht durchschaubares System der Sozialleistungen. Die
Leistungen sind in zwölf Sozialgesetzbüchern geregelt.
Eigentlich stellt das Sozialrecht alle Leistungen zur Ver-
fügung. Das heißt, man hat einen Anspruch auf Leistun-
gen gemäß den Sozialgesetzbüchern, und zwar unabhän-
gig davon, wie hoch die Conterganrente – so haben wir
sie jetzt genannt; ich denke, es ist eingängiger, wenn
man von monatlich eingehenden Conterganrenten
spricht – ist. Ich will nur einige dieser Sozialleistungen
nennen: Krankenversicherung, Rentenversicherung, Ar-
beitslosengeld I, Arbeitslosengeld II, Pflegeversiche-
rung, Sozialhilfe, Recht auf Rehabilitation. Manchmal
gibt es Schwierigkeiten, weil ein Sachbearbeiter vor Ort,
dem ein Antrag eines Betroffenen vorgelegt wird, nicht
weiß, dass die Conterganrente nicht auf Sozialleistungen
angerechnet werden darf. Aufgrund der Tatsache, dass
die Conterganrente in Deutschland nicht auf Sozialleis-
tungen angerechnet wird, können wir die Situation in
Deutschland nicht mit der in anderen Staaten verglei-
chen, wo mit den Renten, die gezahlt werden, alle Be-
dürfnisse abgedeckt werden müssen.

Ich würde allerdings nicht sagen, dass es damit jetzt
ein für allemal gut ist. In einem zweiten Schritt haben
wir einen Antrag verabschiedet. Ich habe mir noch ein-
mal angeschaut, welchen Auftrag wir damit erteilt ha-
ben. Vieles davon haben wir inzwischen auf den Weg
gebracht. Ein wichtiger Aspekt sind die Forschungsauf-
gaben: Was sind Folge- und Spätschäden einer Conter-
ganschädigung, und wie müssen sie behandelt werden?
Wenn die Forschungsergebnisse vorliegen, müssen wir
die Betroffenen ansprechen – so viel Transparenz müs-
sen wir herstellen; das habe ich mit dem Ministerium ge-
klärt – und ihnen die Ergebnisse der Forschung vorstel-
len. In zwei bis drei Jahren, je nachdem, wann das
Ergebnis vorliegt, wollen wir das Ganze noch einmal
überprüfen und das Gesetz, das wir heute verabschieden,
eventuell nachjustieren. Zum jetzigen Zeitpunkt Dinge






(A) (C)



(B) (D)


Marlene Rupprecht (Tuchenbach)

zu fordern, von denen wir gar nicht wissen, ob sie pass-
genau, ob sie zielgenau sind, halte ich nicht für richtig.

Wie gesagt: Wir nehmen die Betroffenen ernst; das
war 1972 so überhaupt nicht vorgesehen. Das entspricht
auch dem Leitspruch der EU zum Jahr der Behinderten:
„Nichts über uns ohne uns“. Wir haben gesagt: Im Stif-
tungsrat muss ein Drittel der Sitze von Betroffenen be-
legt sein. Diese werden durch Urwahl ermittelt. Das
heißt, alle werden angeschrieben und können Vorschläge
machen. Aus den Vorschlägen können sie die Menschen
wählen, von denen sie annehmen, dass sie geeignet sind,
ihre Interessen zu vertreten. Wir wollten bewusst nicht
die Verbandsebene als alleinige Ebene für Ansprechpart-
ner; denn man weiß, dass es bei zwei Verbänden fünf
Meinungen gibt. Wir wollten die Betroffenen, die nicht
organisiert sind, hinzuziehen.

Es war ebenfalls ein ganz wichtiges Anliegen,
dass wir die Ausschlussfrist geöffnet haben. Frau
Blumenthal, wir können wirklich sagen: Wir hatten am
Anfang überhaupt keine Vorstellung, ob es machbar ist
und was auf uns zukommt. Zahlen und Fakten lagen uns
nicht vor. Wir haben nachforschen lassen; wir haben un-
tersuchen lassen. Es ist, so wie es aussieht, überschaubar.
Wir haben im ersten Entwurf die Tür ein bisschen geöff-
net. Jetzt fällt die Ausschlussfrist völlig weg. Das heißt,
die Frist läuft nicht am 31. Dezember 2010 aus, sondern
Anträge können in den nächsten Jahren weiterhin ge-
stellt werden, wenn Menschen entdecken, dass sie be-
troffen sind. Das wurde aufgrund der Anhörungen ein-
deutig und klar.

Wir haben über die jährlichen Einmalzahlungen de-
battiert. Sollen wir vorneweg eine dicke Tranche geben
und dann jährliche Einmalzahlungen? Das kann man na-
türlich machen. Ich hätte gern vorgesehen: dicke Tran-
chen und dann der Rest. Aber wenn Sie rechnen, sehen
Sie, dass bei einer Kapitalisierung – diese nehmen wir
vor; Stiftungen müssen solide angelegt sein – in der Stif-
tung jährlich nicht mehr viel übrig bleibt. Ich denke, es
ist besser, wenn die Menschen im nächsten Jahrzehnt
ganz sicher jedes Jahr im ersten Quartal eine Zahlung er-
halten. Das halte ich für richtig.

Damit das Geld, das in der Stiftung ist, den Conter-
gangeschädigten wirklich zugute kommt, haben wir zu-
gesichert, dass die Verwaltungskosten aus dem Bundes-
haushalt gezahlt werden. Auch das ist ein Fortschritt.

Ich denke, viele Elemente haben den Gesetzentwurf
geprägt. Wir wollen all den Menschen, die sich noch
nicht gemeldet haben und jetzt Anträge stellen, mög-
lichst zügig helfen. Daher wollen wir, dass die Kommis-
sion, die das behandelt, aufgestockt werden kann. Dies
war bisher begrenzt und ist jetzt möglich. Das heißt, die
Kommission der Fachleute, der Fachärzte, die die An-
träge beurteilen, kann nach Inkrafttreten des Gesetzes
aufgestockt werden.

Unser Problem wird nicht darin bestehen, dass durch
das Gesetz etwas gehemmt wird. Das Hauptproblem
wird vielmehr darin liegen, ob wir genügend Fachleute
haben. Wir wissen inzwischen aufgrund der Behandlung
der Betroffenen, dass die Ärzte, die sich in das Thema
hineingearbeitet haben, genau wie wir ins Alter kommen
und aus dem Beruf ausscheiden. Wir müssen – das war
in unserem Antrag enthalten, den wir im Herbst vorge-
legt haben – dafür sorgen, dass wir genügend Ärzte be-
kommen, die sich in die Thematik hineinarbeiten,
solange die anderen praktizieren und ihr Wissen weiter-
geben können.

Es nützt nichts, wenn wir hier etwas Gutes machen
und die Umsetzung im täglichen Leben fehlt. Damit
Menschen wissen, zu wem sie gehen können, damit die
weiterempfohlen werden, sind Information und Bera-
tung ein ganz zentraler Punkt in der Stiftung, die neu
konzipiert wird. Frau Blumenthal wird sie nachher noch
vorstellen. Diese Beratung und Information an einer
Stelle zu gewährleisten, bedeutet ein völliges Umden-
ken. Das heißt, die Menschen können dort anrufen, wer-
den informiert und erfahren eventuell auch, welche
Ärzte geeignet sind, um sie zu behandeln.

Vieles von dem, was wir en passant gemacht haben,
zum Beispiel die Erleichterungen beim Parken, haben
wir auf Zuruf gemacht, nachdem die EU-Verordnung
kam. Wir haben diese Erleichterungen mit aufgenom-
men, weil wir hierfür sofort eine Lösung finden und
nicht erst auf einen Antrag warten wollten. Das haben
wir ziemlich schnell und zügig umgesetzt.

Wir haben eine Petition im Bundestag, was die Mit-
nahme eines Behindertenbegleithundes in Verkehrsmit-
teln angeht. Das heißt, die Mitnahme eines Behinderten-
begleithundes soll kostenfrei sein. Die Begleitung durch
einen Blindenführhund ist kostenfrei. Bei den Behinder-
ten ist das nicht der Fall. Wir haben gesagt – ich denke,
dass man das so formulieren darf, ohne dass es abfällig
wirkt –: Wir machen ein Gleichstellungsgesetz für die
Hunde,


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


sodass die Blindenführhunde mit den Behindertenbe-
gleithunden gleichgestellt werden und diese als Beglei-
tung genauso kostenlos fahren dürfen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das mag für den einen oder anderen eine Nebensächlich-
keit sein. Aber für denjenigen, der auf den Hund ange-
wiesen und knapp bei Kasse ist, ist das eine wichtige
Entscheidung.

Deshalb sage ich: Wenn die Regierung das, was wir
noch am Rande ausgehandelt haben, Information der Be-
troffenen, Weitergabe der Informationen, Einladung der
Betroffenen, damit sie alle auf dem gleichen Sachstand
sind, Weitergabe der Forschungsergebnisse, umsetzt,
dann wird diese Transparenz dazu führen, dass auch in
den neuen Parlamenten immer rechtzeitig gegengesteu-
ert wird, falls Entwicklungen eintreten, mit denen wir
jetzt nicht rechnen.

Dieses Thema werden und müssen wir auch in den
nächsten Jahren begleiten. Ich hoffe, dass wir uns alle im
Haus wieder so einig sind, dass es kein parteipolitisches






(A) (C)



(B) (D)


Marlene Rupprecht (Tuchenbach)

Gezänk gibt. Vielmehr müssen wir alle schauen: Wie
können wir am besten eine Lösung finden und dabei
auch über den Tellerrand nach Europa schauen? Auch
das steht in unserem Papier. In diesem Sinne hoffe ich
auf Ihre Zustimmung.

Danke.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1622207400

Nächster Redner ist der Kollege Ilja Seifert, Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1622207500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Frau Rupprecht, Sie haben
es immer noch nicht begriffen. Es geht eben nicht da-
rum, dass wir irgendetwas für die Behinderten tun, son-
dern es geht darum, dass man sie selber etwas tun lässt.

Ihr Dank am Anfang Ihrer Rede war ziemlich dane-
ben. Sie haben nicht den Kolleginnen und Kollegen hier
und erst recht nicht den Beamten im Ministerium zu dan-
ken, die irgendetwas für die Contergangeschädigten tun.
Vielmehr haben Sie denjenigen zu danken, die uns ge-
zwungen haben, endlich etwas zu tun, die nicht müde
werden, uns zu zeigen, wo es langgeht. Nicht wir müs-
sen die anderen informieren, wie ihr Leben ist, sondern
wir müssen uns von ihnen informieren lassen, wie ihr
Leben aussieht, damit wir wissen, was wir zu tun haben.


(Ina Lenke [FDP]: Das haben wir doch!)


So wird ein Schuh daraus.


(Beifall bei der LINKEN – Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Herr Seifert, das war nicht notwendig!)


Wir feiern in diesen Tagen den 60. Jahrestag des
Grundgesetzes. In Art. 1 steht – das ist das Allerwich-
tigste; das sollten wir nie vergessen –, dass die Würde je-
des Menschen unantastbar ist. Das ist verteidigungs- und
schützenswert. Aber als Contergan in den Handel kam,
galt das Grundgesetz schon, auch das Würde-Konzept.
Damals hat ein jämmerliches Gezerre stattgefunden. Das
war ein Versagen auf allen Seiten: Die Firma hat versagt,
die Pharmaindustrie insgesamt hat versagt, die Justiz hat
versagt, die Politik hat versagt. Es gibt noch nicht einmal
eine Entschuldigung. Damals ist ein Vertrag geschlossen
worden, der sittenwidrig ist. Wir müssen jetzt retten, was
zu retten ist.

Wir werden dem Gesetzentwurf selbstverständlich
zustimmen, auch wenn es nur kleine Verbesserungen für
die Betroffenen gibt. Es wäre lächerlich, wenn wir das
nicht täten. Aber wenn wir das Würde-Konzept und das
Konzept der Teilhabe-Orientierung der UNO-Konven-
tion wirklich ernst nähmen, dann, liebe Frau Rupprecht
und liebe andere Kolleginnen und Kollegen, würden wir
ganz andere Dinge entscheiden, und zwar schon heute.
Ich habe kein Verständnis dafür, dass jetzt, wenn die
Ausschlussfrist aufgehoben wird, nicht rückwirkend ge-
zahlt wird. Wieso denn nicht? Die Menschen haben ihre
Probleme seit 50 Jahren, nicht erst seit dem Tag der An-
tragstellung. Wenn Betroffene seit 1983 keine Möglich-
keit hatten, Anträge zu stellen, gibt es keinen Grund,
nicht rückwirkend zu zahlen. Das kostet natürlich etwas;
aber entweder wir reden von Würde, oder wir reden von
Geld; beides passt nicht zusammen.

Der nächste Punkt. Sie sind jetzt freundlicherweise
bereit, ein Drittel der Plätze in den Stiftungsgremien für
die Betroffenen zu reservieren. Was heißt denn „Nichts
über uns ohne uns“? Es heißt, die Betroffenen müssten
mindestens die Hälfte der Sitze, also das Sagen in der
Stiftung haben. Das wäre Selbstbestimmung.

Die Betroffenen können Fehler machen, natürlich. Sie
haben selbstverständlich das gleiche Recht wie jeder an-
dere, Fehler zu machen. Wenigstens würden sie ihre ei-
genen Fehler machen, anstatt dass Beamte – die sich
möglicherweise noch selber kontrollieren sollen – in der
Stiftung das Sagen haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Menschenbild, das Ihrer Konzeption zugrunde
liegt, ist immer noch das der Fürsorge – etwas für andere
zu machen – und nicht das der Selbstbestimmung.


(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Ich spreche Ihnen ab, dass Sie mein Menschenbild kennen, Herr Seifert!)


– Ich spreche jetzt nicht von Ihnen persönlich, Frau
Rupprecht, ich rede jetzt von dem Konzept, das dem Ge-
setzentwurf der Koalition zugrunde liegt.

Lassen Sie Revue passieren, was die Betroffenen ge-
sagt haben. Sie haben gesagt: Lasst uns wenigstens sel-
ber entscheiden, ob wir einen Einmalbetrag oder ob wir
das Geld über 25 Jahre oder wie viele Jahre auch immer
ausgezahlt bekommen möchten. Nicht einmal das konn-
ten Sie.

Wir machen mit unserem Änderungsantrag – dem Sie
nachher zustimmen können – den Vorschlag, Betroffe-
nen die Summe wenigstens kapitalisieren zu lassen, ähn-
lich wie das mit der monatlichen Conterganrente mög-
lich ist. Das wäre kein Problem, die Voraussetzungen
wären schon vorhanden. Doch das soll, wie ich gestern
im Ausschuss erfahren habe, nicht gehen, weil die Firma
Grünenthal die 50 Millionen Euro nicht als Spende, son-
dern als Zustiftung gibt.

Seit anderthalb Jahren bekommt die Firma Grünenthal
jede Woche kostenlos Werbung, weil immer gesagt wird:
Die sind großzügig und geben noch mal 50 Millionen
Euro. Dass Grünenthal davon jede Menge absetzen
kann, davon wird nicht geredet, auch nicht davon, dass
das Geld seit anderthalb Jahren aussteht. Dass jetzt aus-
gerechnet die Verursacher dieser Behinderungen auch
noch darüber bestimmen können, wie das Geld ausgege-
ben wird, das sie angeblich den Conterganopfern zur
Verfügung stellen, finde ich mehr als pervers.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Ilja Seifert
Lassen Sie uns Selbstbestimmung ernst nehmen! Las-
sen Sie die Betroffenen entscheiden, und Sie werden se-
hen: Sie werden gut entscheiden.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1622207600

Nächster Redner ist der Kollege Markus Kurth,

Bündnis 90/Die Grünen.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622207700

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und

Herren! Lieber Ilja Seifert, die Kolleginnen und Kolle-
gen der Großen Koalition kann man sicherlich in vielem
kritisieren; aber eines kann man ihnen im Zusammen-
hang mit diesem Gesetzgebungsverfahren nicht vorwer-
fen: dass sie den Austausch, das Gespräch, den Kontakt
mit den Contergangeschädigten nicht gesucht hätten.
Das muss man zur Ehrenrettung einmal sagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Die Kolleginnen und Kollegen sind den Wünschen
oder dem Rat der Contergangeschädigten natürlich nicht
in allen Punkten gefolgt. Ich werde nachher einige
Punkte nennen, die wir anders sehen, als es nun im Ge-
setzentwurf vorgesehen ist; das ist ja der Grund, warum
wir uns enthalten. Aber dass es diesen Austausch gege-
ben hat, sollte man, finde ich, nicht in Abrede stellen.

Der vorliegende Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Conterganstiftungsgesetzes weist zweifel-
los eine ganze Reihe von Verbesserungen auf, etwa dass
die Ausschlussfrist gestrichen worden ist und dass der
Stiftungszweck geändert worden ist: dass das Stiftungs-
vermögen jetzt ausschließlich den Contergangeschädig-
ten zugutekommt. Auch die Dynamisierung ist im
Grundsatz sinnvoll, ebenso die Regelung für die Urwahl
der Vertreter der Contergangeschädigten im Stiftungsrat.
Ich finde, das muss man ganz klar auf der Habenseite
verbuchen, und das sollte man auch nicht kleinreden.

Allerdings denke ich, dass Sie trotz der Schritte in die
richtige Richtung an verschiedenen Stellen leider etwas
halbherzig handeln. Ich will das einmal an zwei Beispie-
len herausstellen.

Zum einen geht es um die Dynamisierung. Es handelt
sich bei der Conterganrente nicht um eine Rente, die mit
der gesetzlichen Rente vergleichbar ist, sondern um eine
Entschädigungszahlung, die aufgrund der Haftungsnach-
folge der Bundesrepublik Deutschland entstanden ist.
Ich denke, da es sich um eine Entschädigungszahlung
handelt, sollte man bei der Dynamisierung nicht der ge-
setzlichen Rente folgen. Die Anpassung der gesetzlichen
Rente ist zum Beispiel politisch durch den Nachhaltig-
keitsfaktor, das Verhältnis von Beitragszahlenden zu
Rentnern, und den Riester-Faktor für den Aufbau der
privaten Ergänzungsversorgung beeinflusst. All dies
sind Dinge, die innerhalb des Systems der gesetzlichen
Rentenversicherung zu bewerten sind, systematisch aber
nichts mit einer Entschädigungszahlung zu tun haben.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Als zweiten Punkt möchte ich die sogenannte Aus-
schlussfrist exemplarisch herausgreifen. Es geht um den
Fall, dass sich jetzt nachträglich Personen melden, die
festgestellt haben, dass etwa ihre inneren Organe Schä-
digungen durch Contergan erlitten haben, von denen sie
bislang nichts wussten. Es gab durchaus einige Geschä-
digte, die schon in der Vergangenheit Leistungen bean-
tragt hatten, aber mit Verweis auf die Ausschlussfrist
keine Leistungen bekommen haben. Diese können sich
jetzt wieder melden. Das ist gut so. Aber warum erhalten
sie die entsprechende Entschädigung nur ab dem Zeit-
punkt der Antragstellung und nicht wenigstens ab dem
Zeitpunkt der Erstantragstellung, als sie damals nicht be-
rechtigt waren? Ich kann nicht nachvollziehen, warum
Sie an dieser Stelle so kleinlich sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich denke auch, dass die Haftungsnachfolge eine
wirklich wichtige Sache für die Contergangeschädigten
ist. Die Gesamtsumme ist überschaubar. Ich will den
Vergleich mit der Bankenkrise jetzt nicht überstrapazie-
ren, aber dort geht der Staat voll ins Risiko, und er haftet
mit ungleich höheren Summen. Ich finde, an dieser
Stelle sollte man eindeutig für die Menschen handeln,
die sich ihre Situation nun wahrlich nicht selbst ausge-
sucht haben.

Lassen Sie mich abschließend noch sagen: Ich finde,
die Spätfolgen müssten bei einer Neubegutachtung und
einer anderen Festsetzung der Entschädigungssumme ei-
gentlich auch berücksichtigt werden. Frau Rupprecht,
Sie haben die Forschung angesprochen. Ich setze meine
Hoffnung darauf, dass wir hier zu einem anderen Bewer-
tungsmaßstab kommen werden, wenn die Ergebnisse in
der nächsten Legislaturperiode vorliegen werden.

Ich halte diesen Weg auch für systematisch sinnvoller,
als alle fünf Jahre erneut zu schauen, Frau Lenke, wie
der Unterstützungsbedarf aussieht. Es handelt sich ja
nicht um eine Sozialleistung im klassischen Sinne. Frau
Rupprecht, insofern sollte man das auch nicht mit den
anderen Sozialleistungen in unserem System verglei-
chen. Man muss sich immer klarmachen: Das ist eine
Entschädigung.


(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Tue ich auch nicht! Sie sind additiv!)


Ich finde, diese Entschädigung muss man ins Verhältnis
zu dem entstandenen Schaden setzen, sodass wir syste-
matisch sauber und auch transparent weiterhin im Sinne
der Betroffenen arbeiten.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1622207800

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin

Antje Blumenthal, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD])







(A) (C)



(B) (D)


Antje Blumenthal (CDU):
Rede ID: ID1622207900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Auch ich freue mich, dass
wir heute hier den Gesetzentwurf verabschieden können.
Ich bin stolz auf das Erreichte, und ich möchte mich dem
Dank, der hier schon ausgesprochen worden ist, an-
schließen.

Im besonderen Maße möchte ich aber natürlich
Marlene Rupprecht danken; denn was wir beide mit-
einander ausgehandelt haben, das durch Frau Humme
und Frau Falk mit Erfolg weitergetragen wurde, ist, so
denke ich, nicht ganz selbstverständlich. Gerade in Zei-
ten eines beginnenden Wahlkampfes zeigt das ja auch,
dass es möglich ist, sich zu verständigen und eine wich-
tige Sache einvernehmlich auf den Weg zu bringen und
vor allen Dingen auch abzuschließen. Ich denke, das ist
sehr wichtig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Herr Dr. Seifert, damit Sie auch beruhigt sind, möchte
ich auch den Betroffenen, den Verbänden und den Orga-
nisationen für die guten Anregungen bzw. die Kritik, die
sie an uns weitergegeben haben, danken.

Uns erreichen immer noch täglich Zuschriften, in de-
nen uns die verschiedenen Nöte und Bedarfe geschildert
werden. Deshalb bin ich froh, dass wir bei der Anhörung
am 4. Mai noch einmal die Möglichkeit hatten, uns mit
den Betroffenen und den Sachverständigen auszutau-
schen und weitere Impulse zu erhalten. Die Ergänzungen
zu unserem Gesetzentwurf haben Frau Falk und Frau
Rupprecht bereits erläutert und begründet.

Wir hatten eine diskussionsreiche Zeit, die jetzt ein
Ergebnis hervorbringt, das zeigt: Wir haben die Pro-
bleme der Conterganopfer ernst genommen, uns damit
auseinandergesetzt und Änderungen an dem vorliegen-
den Gesetzentwurf vorgenommen.

Um den Betroffenen zu signalisieren, dass wir die Ge-
spräche und den Austausch nicht abreißen lassen wollen,
haben wir beschlossen, den Stiftungsrat mit zwei conter-
gangeschädigten Vertreterinnen oder Vertretern zu beset-
zen. Dadurch können sie direkt ihre Belange kommuni-
zieren und an notwendigen Verbesserungen mitarbeiten.

Die Betroffenen können sich selbst oder eine Kandi-
datin bzw. einen Kandidaten für den Stiftungsrat vor-
schlagen und per Urwahl bestimmen, wer dann ihre Inte-
ressen vertreten wird. Ich bin gespannt, wie die
Betroffenen dieses neue Verfahren nutzen werden.

Auch im Stiftungsvorstand wird eine leistungsberech-
tigte Person vertreten sein. Forderungen nach einer pari-
tätischen oder vollständigen Besetzung des Stiftungs-
rates mit Betroffenen sind sicherlich vonseiten der
Betroffenen nachvollziehbar, aber ich denke, eine wei-
tere Beteiligung von Ministeriumsvertretern im Stif-
tungsrat bindet die Politik direkt in die Beratungen ein
und entlässt sie somit nicht aus ihrer Pflicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Der Stiftungsrat fungiert als Kontroll- und Aufsichts-
organ und entscheidet über grundsätzliche Fragen, die
der Vorstand dann auszuführen hat. Die Stiftung kann so
effizienter und wirkungsvoller arbeiten. Ich darf aber
auch hierbei auf die in der Anhörung vertretene Auffas-
sung zweier Sachverständiger hinweisen. Beide haben
die Nachteile verdeutlicht, die eine vollständige Vertre-
tung von Betroffenen – das heißt eine Selbstverwaltung –
beinhaltet.

Der Stiftungsexperte gab zu bedenken, dass bei dieser
Lösung von staatlicher Seite den Betroffenen alles selbst
überlassen würde und so der Staat – das heißt die Politik –
die Verantwortung abwälzen könnte. Außerdem wies er
darauf hin, dass die Selbstverwaltung dem Stiftungsge-
danken fremd ist.

Weiter sehe ich es als eine Bereicherung an, dass Wis-
senschaftler im Stiftungsrat vertreten sein werden. Mit
ihrem Fachwissen können sie zum Beispiel helfen, auf
gesundheitliche Probleme der contergangeschädigten
Menschen zu reagieren und bei der Entwicklung von
Hilfen zu beraten. Besonders für den Forschungsauftrag,
der noch in diesem Jahr auf den Weg gebracht wird, ist
ihr Wissen sehr hilfreich.

Aber auch bei der Gestaltung des Forschungsauftrags
werden die Betroffenen einbezogen. In der Anhörung hat
der Bundesverband Contergangeschädigter e. V. von ei-
ner Arbeitsgruppe berichtet, die sich aus Vertretern der
Landesverbände zusammengefunden hat und die Be-
dürfnisse und Erwartungen der Betroffenen zusammen-
tragen wird. Die Ergebnisse werden zusammen mit dem
Familienministerium ausgewertet und in den For-
schungsauftrag integriert.

Schon in der Anhörung im letzten Jahr wurde über
den Begriff der sogenannten monatlichen Leistungen
diskutiert, wie er im ursprünglichen Gesetzentwurf zu
finden ist. Die meisten Betroffenen haben den bisherigen
Begriff Rente kritisiert. Die Abgrenzung gegenüber
Leistungen nach anderen Gesetzen war nicht deutlich
genug und bereitete oft genug Probleme bei der Beantra-
gung von weiteren Hilfsmitteln durch die fehlerhafte
Anrechnung dieser Leistungen.

Wir hatten deshalb in unserem Gesetzentwurf zu-
nächst den Begriff „monatliche finanzielle Unterstüt-
zung“ vorgeschlagen. Die Betroffenen – das hat die An-
hörung gezeigt – wünschen sich jedoch eine deutlichere
Begriffsbestimmung, die klarstellt, dass sie Leistungen
nach dem Conterganstiftungsgesetz erhalten und dass
diese Leistungen anrechnungsfrei sind. Deshalb haben
wir jetzt den Begriff Conterganrente gewählt und die
Anrechungsfreiheit noch einmal herausgestellt.

Meine und die von meinen Vorrednern und Vorredne-
rinnen aufgeführten Beispiele zeigen, dass wir in kurzer
Zeit – das heißt seit unserer letzten Anhörung – eine
Menge geschafft haben. Wir haben den Betroffenen zu-
gehört und ihre Kritik und Änderungswünsche in unsere
Beratungen einbezogen. Trotzdem haben einige das Ge-
fühl, wir würden den Gesetzentwurf zu schnell verab-
schieden. Wenn wir aber eine Ausschüttung der Grünen-
thal-Gelder noch in diesem Jahr wollen, dann müssen






(A) (C)



(B) (D)


Antje Blumenthal
wir den Gesetzentwurf noch in dieser Legislaturperiode
verabschieden.

Ein weiterer sehr entscheidender Punkt ist: Die leis-
tungsberechtigten Conterganopfer nehmen durch die
zügige Verabschiedung des Gesetzentwurfs an der Ren-
tenerhöhung, die zum 1. Juli 2009 erfolgen wird, auto-
matisch teil; denn wir haben festgeschrieben, dass die
Conterganrenten an die gesetzlichen Renten angepasst
werden. Dadurch steigen die Conterganrenten ebenfalls
zum 1. Juli. Deshalb müssen wir den Gesetzentwurf
heute verabschieden.

Diese Entwicklung hat bei den Debatten und der Dis-
kussion über unseren Antrag vor einem Jahr niemand für
möglich gehalten. Aber wir haben es geschafft. Ich
möchte den Betroffenen versichern, dass wir mit der
heutigen Verabschiedung des Gesetzentwurfes das
Thema „Contergan“ nicht abschließen. Uns ist bewusst,
dass die contergangeschädigten Menschen weiter unsere
Hilfe benötigen und wir, die Politik, weiter unserer Ver-
antwortung nachkommen werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1622208000

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Con-
terganstiftungsgesetzes. Der Ausschuss für Familie, Se-
nioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 1 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/13025, den
Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der
SPD auf Drucksache 16/12413 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der
Fraktion Die Linke vor, über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck-
sache 16/13030? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen von
SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen und der Linken abgelehnt.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Linken, SPD, CDU/CSU und FDP bei Ent-
haltung der Grünen und einer Gegenstimme bei Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in der Schlussabstimmung mit dem glei-
chen Stimmenverhältnis wie in der zweiten Beratung an-
genommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs-
antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/13031.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU bei
Gegenstimmen der FDP-Fraktion und des Bündnis-
ses 90/Die Grünen und Enthaltung der Linken abgelehnt.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Soforthilfe zur Teilhabe-Ermögli-
chung für Conterganbetroffene“. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/13025, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/11639 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstim-
men der Fraktion Die Linke und Enthaltung von Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf:

a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Diana Golze, Klaus Ernst, Karin Binder, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Ursachen und Folgen von Armut bei Kindern
und Jugendlichen

– Drucksachen 16/7582, 16/9810 –

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Miriam
Gruß, Sibylle Laurischk, Ina Lenke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Existenz von Kindern sichern – Familien
stärken

– zu dem Antrag der Abgeordneten Ekin
Deligöz, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Kein Kind zurücklassen – Programm gegen
Kinderarmut auf den Weg bringen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Ekin
Deligöz, Irmingard Schewe-Gerigk, Markus
Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Bessere Unterstützung für Alleinerziehende

– Drucksachen 16/9433, 16/9028, 16/10257,
16/12201 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ingrid Fischbach
Wolfgang Spanier
Miriam Gruß
Diana Golze
Ekin Deligöz

Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke zur Großen Anfrage vor.






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Diana Golze, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1622208100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Letzten Sommer habe ich in Brandenburg
eine Gruppe von Kindern begrüßt, die das erste Mal in
ihrem Leben in einem Ferienlager waren. Finanziert
wurde der Aufenthalt aus Spendengeldern. Ich konnte in
die glücklichen Gesichter der Kinder sehen. Sie kamen
aus Familien, deren knappe Haushaltskasse einen Urlaub
nicht zulässt. Es waren Kinder, zu deren Alltag Suppen-
küchen, Tafeln und Kleiderkammern gehören, weil der
ALG-II-Regelsatz für eine gesunde Ernährung und für
Kinderkleidung nicht reicht.

Von all diesen Dingen scheint die Bundesregierung
aber nicht viel zu wissen oder wissen zu wollen; denn
die häufigste Antwort auf unsere Fragen in der Großen
Anfrage lautet: Dazu liegen der Bundesregierung keine
Erkenntnisse vor.


(Zuruf von der LINKEN: Eine unwissende Regierung!)


Schlimmer noch, ich glaube, Sie hatten nie vor, die Zu-
stände ändern zu wollen. Im Koalitionsvertrag findet
man das Wort „Kinderarmut“ sage und schreibe ein Mal.
Auf Seite 118 heißt es: „Wir wollen materielle Kinderar-
mut reduzieren …“ Immerhin! Das Abschlusszeugnis
für die Regierungsarbeit fällt aus Sicht meiner Fraktion
aber denkbar schlecht aus. Die schwarz-rote Untätigkeit
hat dramatische Auswirkungen auf das Leben und die
Zukunft von mindestens 2,5 Millionen Kindern und Ju-
gendlichen, die der Bundesregierung und der Bundes-
familienministerin in Sonntagsreden zwar immer wieder
einfallen, danach allerdings schnell wieder vergessen
sind.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Vorspann der Antwort der Bundesregierung auf
unsere Große Anfrage zum Thema Kinderarmut heißt es:

Armut und soziale Ausgrenzung von Familien und
Kindern sind aus Sicht der Bundesregierung bedeu-
tende Probleme, die insbesondere für den Zusam-
menhalt und die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft
von großer Relevanz sind.

Das liest sich zunächst wunderbar. Diese Bundesregie-
rung hat aber eine Politik verfestigt, die eine ganze Be-
völkerungsgruppe außen vor lässt. Den letzten traurigen
Beweis dieser Ausgrenzungspolitik hat die Große Koali-
tion mit dem Schulbedarfspaket geliefert. Diese Unter-
stützung für Schülerinnen und Schüler sollte anfangs nur
bis zur 10. Klasse ausgezahlt werden. Die Erweiterung
auf die Abiturstufe ist letztlich auch auf unseren Druck
hin erfolgt.

(Lachen der Abg. Ingrid Fischbach [CDU/ CSU])


Auch wenn es der Union nicht passt: Sie waren schließ-
lich diejenigen, die im Vorfeld Kinder im Hartz-IV-Be-
zug nicht beim Abitur unterstützen wollten.


(Zuruf von der LINKEN: Genauso ist es!)


Die Bundesregierung verharmlost das Ausmaß der
Kinderarmut, leugnet ihren permanenten Anstieg und
agiert mit Zahlen, die schlicht und ergreifend falsch sind.
Wenn die Familienministerin schon ein Kompetenzzen-
trum für familienbezogene Leistungen einrichtet, dann
sollte sie auch auf diesen Sachverstand vertrauen; denn
genau dieses Kompetenzzentrum widerlegt die Zahlen
der Bundesregierung, die in der Antwort auf unsere
Große Anfrage genannt werden. Nichts sehen, nichts hö-
ren, nichts sagen – das ist der Umgang der Bundesregie-
rung mit der Kinderarmut in Deutschland. Wenn man ein
Problem nicht wahrnehmen will, dann will man es auch
nicht lösen.

Was haben Sie denn wirklich getan? Noch immer gibt
es keine eigenständigen Kinderregelsätze. Warum auch?
Wer Kindern keine eigenständigen Rechte im Grundge-
setz zugestehen will, der will auch ihren eigenständigen
Bedarf nicht absichern. Sie haben das Kindergeld um
sage und schreibe 10 Euro erhöht. Dies gleicht aber nicht
einmal annähernd den Wertverlust der letzten Jahre aus.
Zudem erreicht diese Erhöhung die armen Kinder über-
haupt nicht; denn das Kindergeld wird auf Hartz IV an-
gerechnet. Unser Antrag, wenigstens diese Erhöhung
von der Anrechnung auszunehmen, wurde vom ganzen
übrigen Haus abgelehnt. Obendrein haben Sie den An-
spruch auf Kindergeld um zwei Jahre gekürzt. Volljähri-
gen ALG-II-Beziehenden unter 25 haben Sie dann auch
noch das Recht auf eine eigene Wohnung genommen.
Aus dem Konjunkturpaket bekommt eine ganze Schul-
klasse Neunjähriger zusammen so viel Förderung wie
ein neun Jahre altes Auto. Das sind Ihre Prioritäten.

Dieser Bundesregierung kann ich kurz vor Ende die-
ser Legislaturperiode nur ein Armutszeugnis ausstellen.
Sie ist ein Armutsrisiko für Familien mit Kindern.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich bin mir sicher, dass Sie alle unsere Forderungen, die
Sie in unserem Entschließungsantrag finden, wie immer
mit Populismus, Wünsch-dir-was-Listen und Ähnlichem
abtun werden. Aber mit unseren Forderungen nach einer
spürbaren Erhöhung und Verbesserung des Kinderzu-
schlags, einem bedarfsbezogenen Kinderregelsatz im
Arbeitslosengeld II, der Einführung eines Mindestlohnes
und der deutlichen Beschleunigung des Ausbaus von Ta-
gesbetreuungsplätzen für alle Kinder stehen wir in dieser
Gesellschaft nicht allein. Gewerkschaften, Kinderrechts-
verbände und andere stehen an unserer Seite.

Ich sage: Vielen Dank für die Aufmerksamkeit beim
Zuhören, aber nicht für die Arbeit gegen Kinderarmut.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1622208200

Ich gebe das Wort der Kollegin Ingrid Fischbach,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ingrid Fischbach (CDU):
Rede ID: ID1622208300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Golze, Ihre Rede gerade hat deutlich gemacht, dass
Sie nicht verstanden haben, wo unsere Ansätze sind, um
Kinderarmut zu bekämpfen.

Kinderarmut hat etwas mit Familienarmut zu tun. Das
ist in Ihrer Rede überhaupt nicht vorgekommen. Kinder-
armut hat etwas mit der finanziellen, emotionalen und
kulturellen Situation von Familien zu tun. Nur wenn wir
das erkennen, haben wir die Möglichkeit, Kinder aus der
Armutsfalle – da ist Ihre Sorge berechtigt – herauszuho-
len. Aber davon haben Sie überhaupt nicht gesprochen.


(Diana Golze [DIE LINKE]: Weil Sie vom Mindestlohn nichts hören wollen!)


Das zeigt mir, dass Sie in dem Wünsch-dir-was-Pro-
gramm, das Sie angekündigt haben, verharren.

Worin drückt sich aus, dass Sie, die Linken, als
Wünsch-dir-was-Trupp gesehen werden? Sie stellen
zwar ständig Forderungen – sie sind an der einen oder
anderen Stelle vielleicht gar nicht verkehrt –, bleiben
aber immer die Antwort schuldig, wie das Ganze finan-
ziert werden soll. Eine Milliardenforderung nach der an-
deren aufzustellen, das können wir auch. Wir wollen
aber für eine Politik eintreten, die umgesetzt werden
kann – –


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Vermögensteuer! Spitzensteuersatz! Börsenumsatzsteuer!)


– Sie können eine Zwischenfrage stellen; dann gehe ich
auf Sie ein. So lasse ich mich nicht darauf ein.

Ich rate Ihnen: Gehen Sie doch einmal die wirklichen
Ursachen an. Dann können wir gemeinsam etwas dage-
gen tun, dass Kinder in die Armutsfalle geraten. Wir sind
uns einig: Das wollen wir nicht. Wir wollen den Kin-
dern, die in die Armutsfalle geraten sind, heraushelfen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dafür werden wir etwas tun, und dafür haben wir etwas
getan.

Wir, Union und auch Koalition, sind uns darüber ei-
nig, dass Kinderarmut Familienarmut ist, dass diese Ar-
mut aber nicht unbedingt materielle Armut ist, sondern
auch emotionale oder kulturelle, also Bildungsarmut
sein kann. Dreh- und Angelpunkt ist die Bildung. Darauf
wird meine Kollegin Noll gleich noch eingehen. Ich
werde mich mit dem Bereich der materiellen Armut be-
schäftigen. Angesichts der Kürze der Redezeit werde ich
mich auf eine spezielle Gruppe konzentrieren, die von
Armut stark betroffen ist.

Für die finanzielle Absicherung von Kindern ist unse-
rer Meinung nach die finanzielle Absicherung der Fami-
lien wichtig. Nur wenn es den Familien gut geht, wenn
alle in einer Bedarfsgemeinschaft Lebenden eine ausrei-
chende Absicherung haben, dann haben auch die Kinder
diese Absicherung und sind nicht von Kinderarmut be-
droht. Deshalb geht Kinderarmut hauptsächlich auf die
Armut der Eltern zurück. Deren Armut müssen wir be-
kämpfen.

In diesem Zusammenhang ist das Stichwort Arbeits-
losigkeit zu erwähnen: Die Senkung der Arbeitslosigkeit
ist unser Hauptanliegen. Ich will jetzt keine Belege für
das bringen, was unsere Regierungskoalition auf den
Weg gebracht hat.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn mit dem Mindestlohn? Dazu können Sie doch auch etwas sagen!)


Man kann allerdings eines sagen: Bis zum Eintreten der
von niemandem vorhergesagten Wirtschaftskrise haben
wir die Arbeitslosigkeit so deutlich gesenkt wie noch
nie.


(Widerspruch des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])


Das heißt, 1,5 Millionen Menschen sind aus der Arbeits-
losigkeit herausgekommen, Herr Wunderlich. Fakten
und Zahlen müssen auch Sie anerkennen. Es kam zu ei-
nem Plus von 1,4 Millionen sozialversicherungspflichti-
gen Arbeitsplätzen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der beste Weg, Kinderarmut zu bekämpfen, ist also,
Eltern in Arbeit zu bringen, es ihnen zu ermöglichen,
selber für ihren Unterhalt Sorge zu tragen. Dafür zu sor-
gen, das ist unsere Reaktion auf Kinderarmut. Den ersten
Schritt auf diesem Weg sind wir gegangen. Ich gebe zu:
Durch die Wirtschaftskrise haben wir jetzt Probleme.
Aber auch diese Probleme werden wir angehen und lö-
sen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Von Kinderarmut besonders betroffen sind Familien
mit Migrationshintergrund, Mehrkinderfamilien und vor
allem die Alleinerziehenden. Frau Golze, es wäre schön,
wenn Sie zuhörten; sonst wissen Sie gleich wieder nicht,
was die Regierung getan hat, um mit diesem Problem
fertig zu werden. Wir haben einiges getan, um die Situa-
tion der Alleinerziehenden zu verbessern. Wir haben
dem Kinderzuschlag, der unter Rot-Grün eingeführt
worden ist, vom Ansinnen her zugestimmt. Bei seiner
Einführung haben wir gesagt: Der Kinderzuschlag ist zu
kompliziert; zu wenige kommen in den Genuss dieses
Zuschlags. Herr Spanier, aufgrund der Evaluierungs-
ergebnisse haben wir bei der Reform des Kinderzuschla-
ges die Alleinerziehenden in den Fokus gerückt. Wir ha-
ben dafür gesorgt, dass mehr Alleinerziehende in den
Genuss des Kinderzuschlags kommen.

Wenn Sie sich die Zahlen ansehen, erkennen Sie, dass
sie für sich sprechen – was hier gesagt wird, ist keine Er-
findung von Frau Fischbach, die es gern schönreden
möchte –: Die Familienkassen berichten, dass die Zahl
derjenigen, die den Kinderzuschlag beantragt haben und
deren Anträge bewilligt worden sind, im Dezember 2008






(A) (C)



(B) (D)


Ingrid Fischbach
bei rund 31,9 Prozent lag; vorher waren es 21 Prozent.
Es ist also ein Anstieg zu erkennen. Der zweite Beleg ist,
dass auch die Zahl der Kinder, deren Eltern Leistungen
nach dem SGB II beziehen, im Vergleich zum Vorjahr
um 6,8 Prozent gesunken ist. Dies geht aus den Zahlen
der Bundesagentur für Arbeit hervor.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1622208400

Frau Kollegin Fischbach, die Kollegin Golze möchte

gern eine Zwischenfrage stellen.


Ingrid Fischbach (CDU):
Rede ID: ID1622208500

Die Kollegin Golze hat bereits im Ausschuss sehr

viele Zwischenfragen gestellt und hat gerade erst gere-
det. Ich würde daher meine Rede gern fortsetzen.

132 000 Kinder weniger sind im Leistungsbezug des
SGB II verzeichnet. Diese Zahl spricht für sich.

Erwerbslosigkeit der Eltern und ein geringes Einkom-
men sind Hauptursachen für Armut. Deshalb werden wir
die gute Familienpolitik, die unter Schwarz-Rot einge-
leitet wurde, fortführen. Ich könnte jetzt noch die Erhö-
hung des Kindergeldes und die Einführung des Eltern-
gelds nennen. Am Pult blinkt es allerdings schon
unaufhörlich. Deshalb möchte ich an dieser Stelle alle
bitten, sich mit den Ursachen und der Bekämpfung der
Ursachen zu beschäftigen und gemeinsam dafür zu sor-
gen, dass in unserem Land kein Kind von Armut bedroht
ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1622208600

Zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin

Golze das Wort.


Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1622208700

Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Frau Fischbach,

Sie haben gerade anerkannt, dass ich eine sehr fleißige
Mitarbeiterin im Ausschuss bin. Ich möchte dennoch
gern auch meine Rechte im Plenum nutzen.

Ich wollte Ihnen eine Frage stellen und Ihnen damit
die Möglichkeit geben, mir etwas zu erklären. Ich werde
Ihnen meine Meinung nun aber im Voraus mitteilen: Sie
haben das Instrument des Kinderzuschlags als das be-
deutende Mittel im Rahmen der Armutsbekämpfung
bei Alleinerziehenden gepriesen. Ist Ihnen denn be-
kannt – das wollte ich Sie fragen; ich glaube aber, es ist
Ihnen nicht bekannt –, dass der Kinderzuschlag zwar
von mehr Menschen in Anspruch genommen wird, er
aber nicht dazu führt, Armut zu verhindern?

Es wird sogar ganz bewusst mit verdeckter Armut ge-
arbeitet. Warum? Weil es jetzt folgendes Wahlrecht gibt:
Entweder die Eltern beantragen Hartz-IV-Leistungen,
oder sie nehmen den Kinderzuschlag in Anspruch. Viele
nehmen lieber den Kinderzuschlag in Anspruch, als sich
den Repressalien der Argen auszusetzen. Das bedeutet
aber nicht, dass sie am Ende auch nur einen Cent mehr in
der Tasche haben. Viele haben mit dem Kinderzuschlag
sogar weniger, als wenn sie Hartz IV-Leistungen bezie-
hen würden. Das ist keine Armutsbekämpfung.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1622208800

Frau Kollegin Fischbach, bitte schön.


Ingrid Fischbach (CDU):
Rede ID: ID1622208900

Frau Golze, ich bin keine Mitarbeiterin im Ausschuss,

sondern eine Abgeordnete. Sie sind auch eine Abgeord-
nete.


(Zuruf der Abg. Diana Golze [DIE LINKE])


– Ja, aber eben nicht als Mitarbeiterin.

Ich bin erstaunt darüber – dies zeigt, dass es richtig
war, die Frage abzulehnen –, dass Sie sich hier hinstellen
und die Einführung des Wahlrechts, also die Wahlmög-
lichkeiten für Alleinerziehende, kritisieren. Sie kritisie-
ren, dass man sich zwischen dem Kinderzuschlag und
dem ALG II entscheiden kann.

Wenn ich mich richtig erinnere – meine Gehirnzellen
funktionieren noch ganz gut –, war es Ihre Fraktion, die
sich in der Anhörung sehr deutlich dafür ausgesprochen
und die Frage gestellt hat, wieso es beim Kinderzuschlag
bisher keine Wahlmöglichkeit gibt. Herr Wunderlich hat
dies angeprangert und gesagt: Wir müssen die Wahlmög-
lichkeit sicherstellen. – Jetzt führen wir sie ein, und Sie
sagen, dass die Armen genau das nicht wollen. Sie soll-
ten erst einmal Ihre Gedanken sortieren und sich überle-
gen, was Sie wollen. Das wäre sinnvoller, als ständig
hin- und herzuspringen.

Wir können belegen, dass ein Großteil der bewilligten
Anträge von Alleinerziehenden gestellt wurde, die vom
Kinderzuschlag Gebrauch machen. Das ist gut, und das
ist richtig. Dass es allein ausreicht, habe ich nicht gesagt.
Hätten Sie vorhin zugehört, hätten Sie verstanden, dass
dies nur ein Aspekt ist.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der LINKEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1622209000

Für die FDP-Fraktion gebe ich der Kollegin Ina

Lenke das Wort.


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1622209100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 2,5 Mil-

lionen arme Kinder leben in Deutschland. Frau
Fischbach sagte bereits, dass Kinder aus Zuwandererfa-
milien und Kinder von Alleinerziehenden ganz beson-
ders betroffen sind.

Jedes sechste Kind lebt in Armut. Das bestimmt na-
türlich auch den Tagesablauf dieser Kinder. Wenn ich
von Armut spreche, denke ich nicht nur an das Geld, das
fehlt, sondern – wir wissen alle, dass es das gibt – auch
an die gesellschaftliche Verwahrlosung. Sie drückt sich
zum Beispiel in zu wenig Aufmerksamkeit und zu wenig
Zuwendung für die Kinder aus.






(A) (C)



(B) (D)


Ina Lenke
Dass sich Armut wie ein roter Faden durch das Leben
vieler Kinder zieht, beweisen auch die Ergebnisse der
World-Vision-Kinderstudie. Es ist wirklich nicht zu fas-
sen, dass im Vergleich zu wenig Kinder aus sozial be-
nachteiligten Gruppen Gymnasien besuchen, dass
19 Prozent dieser Kinder eine Förderschule besuchen.
Wenn das wirklich stimmt, stimmt irgendetwas nicht in
unserem Staat. Ich verstehe zum Beispiel nicht, wie es
möglich ist, dass jemand neun oder zehn Jahre in die
Schule geht, aber noch nicht einmal einen Hauptschulab-
schluss bekommt. Das ist zwar jetzt nicht unser Thema,
aber hier muss uns wirklich mehr einfallen, als das heute
nur zu beklagen.

Selbst die Quote derjenigen Kinder, die regelmäßige
Freizeitaktivitäten außerhalb des Elternhauses und au-
ßerhalb der Schule unternehmen – das ist für Kinder
ganz wichtig, um Neues aufzunehmen bzw. kennenzu-
lernen –, beträgt bei benachteiligten Kindern nur 47 Pro-
zent, im Durchschnitt aber 73 Prozent.

Auch der Bundesverband der Kinder- und Jugend-
ärzte warnt vor den Folgen von Kinderarmut. Die Stu-
dien zeigen: Neben den erhöhten Gesundheitsrisiken als
Folge von Fehlernährung und Bewegungsmangel besteht
auch eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für psychosomati-
sche und psychische Erkrankungen für diese Kinder.

Liebe Kollegen und Kolleginnen, nicht die Kinder
sind arm, sondern die Familien, in die sie hineingeboren
wurden. Von daher ist es auch Aufgabe der Politik, die
wir hier in Berlin machen, den Zyklus aus vererbter Ar-
mut und manchmal auch aus Perspektivlosigkeit zu
durchbrechen. Es ist ja auch keine Chancengerechtigkeit
gegeben, wenn der soziale Status der Eltern über den
Bildungsweg von Kindern entscheidet. Hierdurch wird
nämlich das Leben bis weit in das Erwachsenenalter hi-
nein geprägt.

Die FDP hat Vorschläge unterbreitet. Dem ersten Vor-
schlag können Sie, auch wenn er von der Opposition
kommt, sicherlich zustimmen. Wir sind uns ja einig: Bil-
dung, Bildung, Bildung, das ist die soziale Antwort auf
diese drängende Frage des 21. Jahrhunderts. Kinder
brauchen, weil sie im Elternhaus manchmal nicht ausrei-
chend Bildung erhalten, qualitativ hochwertige Kinder-
tagesstätten, damit sie so früh wie möglich gefördert und
gebildet werden.

Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, finde ich es
empörend, dass die Große Koalition 2013 ein Betreu-
ungsgeld einführen will,


(Caren Marks [SPD]: Niemals!)


und zwar für Eltern von Kleinkindern als Alternative
zum Besuch einer Krippe. Das ist der falsche Weg.
Wenn Sie, Frau Marks, jetzt sagen, Sie wollen es nicht,
dann kann ich Ihnen nur entgegnen: Es steht schwarz auf
weiß geschrieben.


(Christel Humme [SPD]: Da steht: „zum Beispiel“!)


Sie können nicht sagen, Sie hätten damit nichts zu tun.
Sie haben das gemeinsam mit der CDU/CSU beschlos-
sen. Sie sind mitverantwortlich. Sie haben das unter-
schrieben.


(Beifall bei der FDP – Caren Marks [SPD]: Manchmal lohnt es sich, das Gesetz zu lesen, Frau Lenke!)


Zweitens. In Deutschland werden im OECD-Ver-
gleich verhältnismäßig hohe Finanzhilfen an Familien
gezahlt. Aber kommt das Geld auch da an, wo es ge-
braucht wird? Wir als FDP-Fraktion fordern seit fast vier
Jahren, seit Beginn dieser Legislaturperiode, alle 150 fa-
milienbezogenen Leistungen auf ihre Wirksamkeit und
Zielgenauigkeit zu überprüfen. Die Bundesregierung
denkt einfach nicht daran. Der Staatssekretär hat es ab-
gelehnt. Er hat gesagt, wir könnten ja den entsprechen-
den Aktenberg an Gutachten und Informationen lesen.
Was soll das denn? Es gibt ein Ministerium mit vielen
Mitarbeitern, aber uns liegt bis heute keine Analyse vor.
Die einmalige Zahlung von 100 Euro pro Kind im Zuge
des Konjunkturpakets ist schließlich der größte Witz.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Drittens. Familien mit Kindern gehören steuerlich
entlastet. Durch Ihre Steuererhöhungen ziehen Sie den
Familien aber jährlich 1 400 Euro aus den Taschen. Statt
jetzt aber zum Beispiel die Mehrwertsteuer bei Windeln
von 19 Prozent auf 7 Prozent zu senken, haben Sie es in
dieser Legislaturperiode nur geschafft, die entspre-
chende Mehrwertsteuer für Skiliftumsätze zu senken.
Man darf gar nicht darüber nachdenken. Nach wie vor
müssen die Eltern für Windeln 19 Prozent Mehrwert-
steuer zahlen. Das ist wirklich ein Witz; das muss man
auch in der Öffentlichkeit einmal sagen.


(Beifall bei der FDP und der LINKEN)


Ich komme zum Schluss, weil ich leider schon über
die Zeit geredet habe. Wir wollen den Schwerpunkt auf
frühkindliche Bildung legen. Ich glaube, das ebnet Al-
leinerziehenden auch einen Weg aus der Arbeitslosig-
keit. Handeln statt reden, das muss die Devise sein. Die
FDP hat in ihrem Antrag deutlich gemacht, was wir für
richtig halten.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1622209200

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege

Wolfgang Spanier.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Markus Grübel [CDU/CSU])



Wolfgang Spanier (SPD):
Rede ID: ID1622209300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Und wenn es denn ge-
wünscht wird: liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im
Ausschuss!


(Heiterkeit – Beifall der Abg. Kerstin Griese [SPD])







(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Spanier
Wir debattieren heute über die Große Anfrage und einige
Anträge. Wir sprechen nicht über konkrete Entscheidun-
gen oder eine konkrete Maßnahme.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die Anträge sind sehr konkret!)


Deswegen bietet diese Debatte noch einmal eine Gele-
genheit, grundsätzlich etwas zu dem Thema zu sagen.

Frau Golze, bei Ihrer Rede musste ich mein ansonsten
überbordendes ostwestfälisches Temperament zügeln.
Diese Rede beinhaltete eine Reihe manchmal bösartiger
Unterstellungen und polemischer Zuspitzungen.


(Widerspruch bei der LINKEN)


– Ich sage es in aller Ruhe. Ich schätze Sie als Mitarbei-
terin im Ausschuss, bei allen Unterschieden und Diffe-
renzen.


(Heiterkeit)


Aber wenn Sie Ihre Rede später noch einmal nachlesen,
werden Sie das, was ich gerade gesagt habe, bestätigen
können.

Ich bin froh, dass wir heute nicht über Statistiken
streiten – das machen wir sonst ganz gerne, wenn es um
dieses Thema geht –, sondern dass es heute um die Sa-
che geht. Es ist schon angesprochen worden, wer in ers-
ter Linie vom Armutsrisiko betroffen ist: Frauen, Allein-
erziehende und Kinder. Deswegen ist die Feststellung,
dass Armut weiblich und jung ist, voll zutreffend.

Wir sind uns auch einig über die Ursachen: Arbeitslo-
sigkeit, vor allen Dingen wenn sie langanhaltend ist, die
Situation als Alleinerziehende und auch Ereignisse im
Leben wie schwere Krankheiten, die einen aus der Bahn
werfen können.

Wenn wir über die Vermeidung und Bekämpfung von
Armut und – diese Ergänzung ist wichtig – sozialer Aus-
grenzung sprechen, dann müssen wir natürlich bei den
Ursachen ansetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir müssen sehen, welche Möglichkeiten und Grenzen
dieses Parlament hat. Nicht nur die Arbeitslosigkeit, son-
dern auch die rasante Entwicklung im Niedriglohnsektor
hat sicherlich dazu beigetragen, dass mehr Menschen
vom Armutsrisiko betroffen sind. Deswegen ist die
Frage des Mindestlohns an dieser Stelle eine ganz ent-
scheidende.


(Beifall bei der SPD – Zuruf der Abg. Diana Golze [DIE LINKE])


– Ich will nicht nur loben, sondern an der einen oder an-
deren Stelle durchaus auch selbstkritische Bemerkungen
machen. – Auch das rasante Anwachsen der Zahl prekä-
rer Beschäftigungsverhältnisse ist eine Ursache. Hier
müssen ebenfalls Korrekturen vorgenommen werden.

Wenn es um die finanziellen Leistungen geht, dann
sind die vorgelagerten sozialen Leistungen von ganz be-
sonderer Bedeutung. Wir haben das Kindergeld erhöht.
Natürlich kann man darüber diskutieren, ob es nicht
noch mehr sein sollte. Wir haben den Kinderzuschlag
verbessert. Das ist ein Fortschritt.


(Ina Lenke [FDP]: Aber Sie haben keine Analyse gemacht!)


Aber wir haben den Kinderzuschlag nicht – deswegen
stehen in unseren Wahlprogrammen auch entsprechende
Formulierungen – so verbessern können, wie wir Fach-
politikerinnen und Fachpolitiker uns das gewünscht ha-
ben; das sei eingeräumt. Außerdem haben wir das Wohn-
geld deutlich angehoben. Das heißt, wir haben bei den
vorgelagerten sozialen Leistungen eine ganze Menge ge-
tan.

Nicht erreicht worden ist allerdings etwas, was die
Bundesfamilienministerin, die nicht anwesend sein
kann, eigentlich zugesagt hatte, nämlich eine Prüfung
der Effektivität aller Familienleistungen durchzuführen
und eine Bilanz zu erstellen. Ich hoffe, dass der nächste
Bundestag doch noch einmal an das Thema Ehegatten-
splitting herangeht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Diana Golze [DIE LINKE])


Wir sollten das Splitting nicht abschaffen, weil wir damit
auch Familien treffen würden. Aber die Lösung, die wir
jetzt haben, ist auf Dauer einfach nicht haltbar. Sie birgt
so viele Widersprüche, dass wir uns dieses Themas noch
einmal annehmen müssen. Dann hätten wir auch mehr
finanzielle Möglichkeiten, Leistungen, die Kindern und
Familien direkt zukommen, zu verbessern.

Zu den Regelsätzen. Wir unterscheiden bei den Kin-
dern drei Gruppen. Für die 6- bis 13-Jährigen haben wir
die Regelsätze kräftig angehoben. Auch das Schulbe-
darfspaket sollte man in diesem Zusammenhang nicht
kleinreden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Es stellt einen ganz entscheidenden Fortschritt dar, weil
bei der Ermittlung der Regelsätze Bildung nicht die
Rolle gespielt hat, die ihr eigentlich zukommt. Die Re-
gelsätze sollten vom nächsten Bundestag noch einmal
überprüft und überdacht werden. Den Grundgedanken,
dabei bedarfsorientiert vorzugehen, halte ich persönlich
grundsätzlich für richtig. Man kann die Verbrauchsstich-
probe auch so gestalten, dass eben nicht der alleinste-
hende Erwachsene der Maßstab ist, sondern Familien
mit Kindern. Das ist jetzt geschehen.

An dieser Stelle will ich noch anmerken: Das Bundes-
sozialgericht – demnächst möglicherweise auch das
Bundesverfassungsgericht – hat sich gegen die Ablei-
tung gewandt und ausdrücklich keine Aussage zur Höhe
gemacht.


(Diana Golze [DIE LINKE]: Eigenständige Berechnung!)


Das ist eine Aufgabe für den nächsten Bundestag.






(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Spanier

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer regiert denn? Sie sagen immer „der nächste Bundestag“!)


– Wissen Sie, Herr Kollege, ich habe vier Jahre Erfah-
rung in der Opposition, sieben Jahre Erfahrung in der
herzlichen Koalition mit Ihnen und jetzt vier Jahre Er-
fahrung in der ganz besonders herzlichen Koalition mit
der Union. Sie als Fachpolitiker wissen selbst, dass in ei-
ner Koalition manches nicht durchsetzbar ist. Dieses
Spielchen sollten wir uns ersparen, Herr Kurth.

Es geht aber nicht nur um die materielle Bekämpfung
von Armut. Es geht auch – da gebe ich Frau Lenke abso-
lut recht – um Bildung. Bildung ist tatsächlich der
Schlüssel, um Armut zu vermeiden und die Chance zu
bekommen, sich langfristig aus dieser Lage zu befreien.
Wir stellen bildlich gesehen Leitern auf, die es den Be-
troffenen ermöglichen, herauszuklettern. Wenn jemand
herunterrutschen sollte, dann bekommt er eine weitere
Chance; denn wir helfen ihm noch einmal auf die Leiter.
Das halte ich für ganz entscheidend. Auch an dieser
Stelle haben wir Fortschritte gemacht.

Frühkindliche Förderung ist ein ganz entscheidendes
Moment. Wir haben es geschafft, das Angebot an Be-
treuungsplätzen für die unter 3-Jährigen mit finanzieller
Beteiligung des Bundes deutlich auszubauen. Das ist an-
gesichts der Zuständigkeiten nicht selbstverständlich.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Dass wir den Rechtsanspruch auf Betreuung durchge-
setzt haben, ist ein ganz entscheidender Fortschritt. Das
wird zwar nicht von heute auf morgen, aber auf mittlere
Sicht eine spürbare Verbesserung bringen.

Wir haben auch die Chance, auf dem Gebiet der Inte-
gration voranzukommen. Darüber haben wir in der ge-
sellschaftspolitischen Debatte erst sehr spät eine Ver-
ständigung erzielt. Auch da müssen wir entscheidende
Schritte vorankommen.


(Ina Lenke [FDP]: Aber nicht beim Betreuungsgeld!)


– Dieses kleine Zugeständnis mussten wir machen, um
das große Ziel zu erreichen. Wie meine Kolleginnen und
Kollegen bin auch ich absolut sicher, dass dieser Unsinn
nicht Realität wird. Das sage ich ganz offen.


(Beifall bei der SPD – Caren Marks [SPD]: Singhammer ist beim nächsten Mal nicht mehr im Bundestag!)


Ich will zum Schluss – ich glaube, das ist wichtig –
noch einige grundsätzliche Anmerkungen machen. Ein-
kommen, Bildung und Gesundheit – über die Gesundheit
habe ich noch kein Wort verloren; man kann in neun Mi-
nuten nicht alles ansprechen – sind die zentralen Dimen-
sionen, die Armut beeinflussen. Es ist ganz entschei-
dend, dass wir nicht eine dieser Dimensionen
herausgreifen und glauben, mit Fortschritten in diesem
Bereich das schwierige Problem der Armut lösen zu
können. Wir dürfen diese drei Dimensionen auch nicht
gegeneinander ausspielen. Manchmal gab es solche An-
sätze: hier die materiellen Leistungen oder dort mehr
Geld in Infrastruktur. Das sollten wir auf jeden Fall ver-
meiden.

Wir brauchen in der Tat ein umfassendes Konzept, in
dem alle Dimensionen berücksichtigt werden. Ich ge-
höre zu denen, die immer misstrauisch werden, wenn
von großen und umfassenden Konzepten die Rede ist.
Von der Sache her ist das hier aber nötig. Wir Sozialde-
mokraten nennen das „Nationaler Aktionsplan“. Ich
denke – das konnte ich in allen Anträgen und auch im
Entschließungsantrag erkennen –, dass der Bundestag
über alle Unterschiede und Fraktionsgrenzen hinweg in
diese Richtung geht. Deswegen hoffe ich, dass nach der
Bundestagswahl das neu zusammengesetzte Parlament
im Jahr 2010, also im Europäischen Jahr zur Bekämp-
fung von Armut und sozialer Ausgrenzung, diese umfas-
sende Strategie entwickelt. Das halte ich für sehr wich-
tig, damit alle Dimensionen – Einkommen, Bildung und
Gesundheit – berücksichtigt werden.


(Beifall bei der SPD)


Nur dann haben wir die Chance, möglichst allen Kin-
dern gleiche Lebenschancen zu geben; darum geht es.
Selbst ökonomisch ist das richtig; denn wir brauchen je-
des Kind.


(Ina Lenke [FDP]: So ist es!)


Ich füge hinzu – jeder hat ja seine eigene Biografie –:
Ganz besonders brauchen wir die benachteiligten Kin-
der.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1622209400

Ich gebe das Wort der Kollegin Ekin Deligöz, Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622209500

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kol-

lege Spanier, Sie haben wirklich schöne Worte gefunden.
Wir reden heute aber leider nicht über Ihre Wünsche,
sondern wir diskutieren über die Antwort der Bundes-
regierung auf die Große Anfrage zur Kinderarmut. Bei
diesem Thema ist die Bilanz nicht so schön, wie Ihre
Worte waren. Die Bilanz ist eigentlich sehr schlecht.
Denn in der Antwort der Bundesregierung wird deutlich,
dass es in Deutschland Kinderarmut gibt, dass Kinder
benachteiligt sind und dass sich die Kinderarmut verfes-
tigt. Das ist die Bilanz, über die wir reden und die wir
ernst nehmen müssen.

Anstatt nach Lösungen zu suchen, Antworten zu ge-
ben und Ideen, wie es weitergehen kann, zu entwickeln,
verwenden Sie Ihre Energie darauf, die Lage zu beschö-
nigen und die Zahlen schönzureden; um das festzustel-
len, braucht man nur die Antworten der Bundesregie-
rung auf die Große Anfrage zu lesen. Das kann es nicht
sein. So dürfen Sie mit diesem Thema nicht umgehen;
hier haben die Kolleginnen und Kollegen von der Linken
wirklich recht.






(A) (C)



(B) (D)


Ekin Deligöz

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Wolfgang Spanier [SPD]: Wir sind das Parlament! – Caren Marks [SPD]: Du musst zum Staatssekretär gucken! Das ist die Regierung!)


Es ist an der Zeit, Klartext zu reden. Jedes sechste
Kind in Deutschland lebt in Armut; das ist eine Katastro-
phe. Armut hat in Deutschland viele Gesichter. Armut
liegt nicht nur dann vor, wenn man wenig Geld hat. Es
geht auch um die Teilhabe, den Bildungshunger und da-
rum, ob ein Kind mit knurrendem Magen im Unterricht
sitzen muss und ob es ein paar neue Sandalen bekommen
kann. Das sind die Fragen, die die Eltern von Kindern,
die von Armut betroffen sind, beschäftigen. Diese Fra-
gen sind ganz akut.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir brauchen ein Umdenken. Ihr Klein-Klein bringt
uns nicht weiter. Übrigens hat auch das im Bundesfami-
lienministerium eingerichtete Kompetenzzentrum darauf
hingewiesen, dass ein Umdenken bzw. ein Systemum-
schwung notwendig ist, weil das jetzige Familienfinan-
zierungssystem ehelastig und steuerlastig ist. Es ist nicht
transfer-, sondern steuerlastig. Wenn wir für Gerechtig-
keit sorgen wollen, müssen wir diese Steuerlastigkeit
überwinden. Wir müssen unseren Blick weg von der De-
finition der Ehe und hin zur Finanzierung des Lebens mit
Kindern richten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Caren Marks [SPD]: Du musst nicht uns überzeugen! Die andere Richtung!)


Die Grünen schlagen vor, eine Kindergrundsicherung
einzuführen. Dazu haben wir einen Parteitagsbeschluss
gefasst. Wir wollen, dass für jedes Kind 330 Euro pro
Monat zur Verfügung gestellt werden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist das Gießkannenprinzip!)


Das ist unser Vorschlag, um das Zusammenleben mit
Kindern zu finanzieren und die Armut zu bekämpfen.
Wir brauchen allerdings nicht nur eine umfangreiche
Unterstützung, sondern auch die notwendige Infrastruk-
tur.

Jetzt komme ich auf Ihre Lösungsvorschläge zu spre-
chen. Sie sagen, es gebe den Rechtsanspruch auf Kinder-
betreuung und den Kinderzuschlag. Sie sind wirklich
nicht besonders ambitioniert. Der Rechtsanspruch auf
Kinderbetreuung, den Sie festgeschrieben haben, gilt
erst irgendwann, erst ab dem Jahre 2013.


(Caren Marks [SPD]: Irgendwann? Wir haben schon bald 2010!)


Bis dahin – auch das kommt in Ihren Antworten auf die
Große Anfrage sehr gut zum Ausdruck – passiert nichts.

Was unternehmen Sie dagegen, dass wir auf einen Er-
ziehermangel zusteuern? Was unternehmen Sie dagegen,
dass sich die Kommunen in einer sehr schwierigen fi-
nanziellen Situation befinden? Was unternehmen Sie in
Anbetracht der Tatsache, dass die Kommunen ihre Auf-
gabe ernst nehmen, und zwar nicht erst im Jahre 2013,
sondern schon heute? Nichts. In Ihren Antworten heißt
es nur: Dieses Problem kennen wir nicht. – Das ist be-
schämend.


(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Der Ausbau läuft doch jetzt an, Frau Deligöz!)


Um die Kinderarmut zu bekämpfen, brauchen wir
eine Existenzsicherung für Kinder. Außerdem benötigen
wir die erforderliche Infrastruktur. Das muss Hand in
Hand gehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Ja! Das läuft jetzt an! Das hat aber nicht etwa Rot-Grün geschafft, sondern das haben wir geschafft!)


Wir brauchen nicht leere Versprechen, nicht schöne
Worte und Wunschträume; das können wir uns nicht
leisten; das ist zu wenig. Wir müssen handeln.

Frau Fischbach, als Sie sagten, die Große Koalition
habe sehr viel für Familien getan, habe ich mich gefragt:
Was haben Sie denn für Familien getan? Mehrwertsteuer-
erhöhung und Abwrackprämie, ist das Ihre Familienpoli-
tik?


(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Quatsch! – Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Frau Deligöz, das ist für Sie ein zu niedriges Niveau!)


Das kann es doch wohl nicht sein.

Wir brauchen Politiker, die Mut zum Handeln haben
und nicht immer das, was da ist, schönreden. Denn
Schönreden heißt: weggucken und ignorieren. Genau
das können wir uns nicht leisten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1622209600

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin

Michaela Noll, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Michaela Tadjadod (CDU):
Rede ID: ID1622209700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Kollegin Golze, ich wende mich zu-
nächst einmal Ihnen zu, weil Sie die erste Rednerin zu
diesem Thema waren. Wenn Sie eben Frau Fischbach
und Herrn Spanier aufmerksam zugehört haben und
nicht, wie jetzt gerade, geschrieben haben,


(Zuruf von der LINKEN: Multitaskingfähig!)


dann müssen Sie zugeben, dass die Bilanz, die die Bun-
desregierung vorgelegt hat, eine wirklich gute ist. Ich
werde gleich noch zu den einzelnen Punkten kommen.

Was ich ein bisschen schade finde, weil ich Kollegin
Deligöz aus der Arbeit in der Kinderkommission auch
sehr schätze, ist Folgendes: Einig sind wir darin, dass
Kinderarmut viele Gesichter hat und dass die materielle






(A) (C)



(B) (D)


Michaela Noll
Armut die ist, die letztlich für uns alle am sichtbarsten
ist. Aber ich habe immer dann ein Problem, wenn wir
Kinderarmut allein auf finanzielle Armut reduzieren.
Das reicht meiner Meinung nach nicht aus.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN: Das tun wir gar nicht!)


– Moment! Die ganze Diskussion lief im Moment in die
Richtung. Das finde ich sehr schade.

Frau Fischbach und Herr Spanier haben genau darge-
legt, was wir erreicht haben: Wir haben eine Kindergeld-
erhöhung durchgesetzt, wir haben die Regelung zum
Kinderzuschlag erweitert, ich nenne weiter das Wohn-
geld und das Elterngeld. Wir haben also wirklich Leis-
tungen für Familien auf den Weg gebracht und damit die
Einkommensarmut von Eltern reduziert. Denn wir haben
festgestellt: Kinderarmut ist Elternarmut.

Wenn wir uns die Fakten ansehen – das ist ja auch in
der Antwort deutlich geworden – und den Vergleich zu
anderen europäischen Ländern ziehen, dann erkennen
wir: Wir stehen nicht schlecht da. Wir haben in Deutsch-
land mit das niedrigste Armutsrisiko von Kindern, und
wir liegen weit unter dem EU-Durchschnitt. Das sind
Fakten.


(Diana Golze [DIE LINKE]: Auf die Zahlen der Bundesregierung reingefallen!)


Trotzdem möchte ich über Kinderarmut sprechen.
Denn Kinderarmut ist für mich nicht nur eine reine Geld-
frage. Es geht um Chancen. Deswegen definiere ich Ar-
mut von Kindern etwas anders. Wann ist ein Kind arm? –
Für mich ist ein Kind dann arm, wenn es einsam auf-
wächst – wir sprechen von sozialer Armut –, für mich ist
ein Kind arm, wenn es vernachlässigt und überfordert
wird – davon hatten wir im letzten Jahr viele traurige
Fälle –, und es ist arm, wenn es zu Hause keine Anre-
gung bekommt. Da müssen wir dringend handeln.

Ich möchte auch mit einem Vorurteil aufräumen: Es
gibt wirklich viele Familien, die ein begrenztes Budget
haben, aber sie geben ihr Bestes und ihren Kindern die
beste Förderung, die möglich ist. Die Kinder kommen
gut klar und werden entsprechend großgezogen. Die
Kinder fühlen sich wohl, weil sich die Eltern kümmern.

Wir sollten über soziale Armut sprechen. Es gibt viel
zu viele Kinder, die darunter leiden. Sie leiden nicht un-
ter Geldmangel, sie leiden unter zu wenig Zuwendung
und Aufmerksamkeit, und das ist nicht unbedingt eine
Frage des Geldes.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wie können wir diesen Mangel tatsächlich beheben?
Wie können wir es schaffen, dass sich diese Eltern wie-
der mehr kümmern? Wie können wir es schaffen, dass
bei ihnen die Gleichgültigkeit gegenüber ihren eigenen
Kindern abgebaut wird?

Es wird immer wieder gesagt – das haben wir uns bei
der Arche in Berlin selber angeschaut –:

(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Herr Wunderlich kann etwas zur Arche sagen!)


Die Eltern haben oftmals die Fähigkeit verloren, ihren
Alltag zu bewältigen. Viele Kinder gehen morgens ohne
Frühstück los; viele Kinder werden nicht betreut. Aber
sie müssen einmal sehen, welche Ausstattung die Kinder
haben: ein Handy haben sie. Einen Fernseher haben sie;
stundenlang werden sie davor „geparkt“, und wenig
Wissenssendungen werden eingeschaltet. Wir müssen
also mehr zum Abbau von Erziehungsarmut tun.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Freizeit kostet sonst viel Geld! Fernsehen ist das Billigste! – Ina Lenke [FDP]: Das stimmt nicht!)


– Nein, das ist nicht das Billigste. – Ich möchte einfach
wieder, dass wir dazu übergehen, dass Eltern ihre Vor-
bildfunktion tatsächlich wahrnehmen. Denn wenn ihnen
der Antrieb fehlt, wenn sie nicht zu motivieren sind, ist
die Gefahr groß, dass die emotionale Armut und die
mangelnde Bildung weitervererbt werden. Unsere Auf-
gabe ist es, sie mit frühen Hilfen zu unterstützen. Mit
dem KiföG haben wir die richtigen Weichen gestellt, um
Kindern zu helfen.

Ich wäre gern noch auf einzelne Gruppen, wie Kinder
von Alleinerziehenden, Kinder von Kinderreichen, ein-
gegangen. Ich kann aber nur noch einen Appell starten. –
Hier sitzen auch viele Mitglieder der Kinderkommis-
sion. Wir hatten „MoKi“ zu einer Anhörung dort. Ihr
könnt euch daran erinnern: „MoKi“ ist ein Präventions-
projekt bei mir im Wahlkreis, das den Deutschen Präven-
tionspreis bekommen hat. Das hat gezeigt, was möglich
ist, wie man mit wirklich wenig finanziellen Mitteln
Kindern Chancen geben kann. Wir alle waren davon an-
getan – überparteilich, kann ich sagen –, und ich fände es
schön, wenn man diese Form der Vernetzung, diese insti-
tutionenübergreifende Zusammenarbeit ausbaute. So be-
käme jedes Kind eine Chance. Es ist nicht nur eine Frage
des Geldbeutels.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1622209800

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs-
antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/13001.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs-
antrag ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke ab-
gelehnt.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf
Drucksache 16/12201. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9433
mit dem Titel „Existenz von Kindern sichern – Familien
stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Fraktion Die Linke,






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/
CSU bei Gegenstimmen der FDP angenommen.

Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/9028 mit dem Titel „Kein Kind zurück-
lassen – Programm gegen Kinderarmut auf den Weg
bringen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Ge-
genstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthal-
tung der Fraktion Die Linke und der FDP angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/10257 mit
dem Titel „Bessere Unterstützung für Alleinerziehende“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist ebenfalls mit den Stimmen der Koalition bei
Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthal-
tung der Fraktion Die Linke und der FDP angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 b so-
wie die Zusatzpunkte 5 und 6 auf:

24 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Einlagensicherungs- und
Anlegerentschädigungsgesetzes und anderer
Gesetze

– Drucksachen 16/12255, 16/12599 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksachen 16/13024, 16/13038 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus-Peter Flosbach
Jörg-Otto Spiller
Frank Schäffler

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Frank Schäffler,
Hans-Michael Goldmann, Dr. Hermann Otto
Solms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP

Reform der Anlegerentschädigung in Deutsch-
land

– Drucksachen 16/11458, 16/13024, 16/13038 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus-Peter Flosbach
Jörg-Otto Spiller
Frank Schäffler

ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Herbert Schui,
Dr. Barbara Höll, Ulla Lötzer, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE
Sozialisierung der Verluste verhindern – Si-
cherungsfonds für privaten Finanzsektor
schaffen

– Drucksachen 16/8888, 16/10610 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Hans-Ulrich Krüger
Dr. Axel Troost

ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder,
Ulrich Maurer, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Verbesserung des Verbraucherschutzes beim
Erwerb von Kapitalanlagen

– Drucksachen 16/11185, 16/12354 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ortwin Runde
Dr. Barbara Höll

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jörg-Otto Spiller, dem ich an dieser Stelle sehr herzlich
zu seinem heutigen Geburtstag gratuliere.


(Beifall)



Jörg-Otto Spiller (SPD):
Rede ID: ID1622209900

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! An den Finanzmärkten kehrt allmählich wieder
mehr Ruhe ein. Die Nervosität lässt ein Stück weit nach,
allerdings weniger bei den Profis als beim breiten Publi-
kum. Dass die Bevölkerung in Deutschland beim Um-
gang mit dieser Finanzkrise so viel Besonnenheit zeigt
– eigentlich sogar von Anfang an gezeigt hat –, liegt zu
einem guten Teil daran, dass wir in Deutschland seit lan-
gem ein sehr gutes System der Einlagensicherung bei
Banken und Sparkassen haben.

Der Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden wol-
len, wird in diesem Bereich noch einige Verbesserungen
bringen. Aber wir haben schon heute – das will ich kurz
darlegen – ein richtig gutes System der Einlagensiche-
rung. Die Kunden von Sparkassen, aber auch die Kun-
den von Genossenschaftsbanken, also von Volks- und
Raiffeisenbanken, sind ohne Einschränkung dadurch ge-
schützt, dass es innerhalb dieser Institutsgruppen einen
Haftungsverbund gibt. Jede Sparkasse kann sich darauf
verlassen, dass im Notfall, falls sie in Schwierigkeiten
sein sollte, die übrigen Sparkassen zu ihr stehen. Das ist
eine sehr solide Grundlage. Bei den Genossenschafts-
banken funktioniert der Haftungsverbund ganz ähnlich.


(Frank Schäffler [FDP]: Darum geht es in dem Gesetz aber gar nicht!)


Die Banken, die dem privaten Sektor zuzurechnen
sind, gehören ganz überwiegend dem Einlagensiche-
rungsfonds des Bundesverbandes deutscher Banken an.
Dort sind alle Einlagen von Nichtbanken, also nicht nur






(A) (C)



(B) (D)


Jörg-Otto Spiller
von Privatpersonen, sondern auch von Unternehmen und
Gebietskörperschaften, im Individualfall bis zur Höhe
von 30 Prozent des haftenden Eigenkapitals der Bank
abgesichert. Das ist eine starke Absicherung.

In dem extremen Fall, dass mehrere große Banken in
Schwierigkeiten geraten, wäre natürlich – das ist immer
so bei Sicherungseinrichtungen – die Frage zu stellen:
Reichen die Mittel aus? Deswegen war es, denke ich,
eine kluge Entscheidung, dass die Bundeskanzlerin und
der Bundesfinanzminister im Herbst vorigen Jahres ge-
sagt haben: Es gibt eine Patronatserklärung. Für den
Fall, dass eine Einlagensicherung überfordert sein sollte,
steht der Staat den Einlegern schützend bei.

Das bisherige System von Anlegerschutz und Einla-
gensicherung – das muss man freimütig anerkennen –
hatte an einer Stelle Lücken. Das betrifft die Entschä-
digungseinrichtung für den Bereich von Wertpapierhan-
delsunternehmen. Es hat einen spektakulären Fall gegeben,
der sehr deutlich gemacht hat, wie viele Unzulänglich-
keiten in dem bisherigen System der Absicherung beste-
hen. Das Einlagensicherungs- und Anlegerentschädi-
gungsgesetz wurde Anfang 1998 verabschiedet. Damals
war nicht erkennbar, dass es eine Reihe von Schwierig-
keiten geben könnte. Zum Glück muss man sagen: Es ist
erst durch diesen einen spektakulären Fall – Stichwort
„Phoenix“ – virulent geworden.

Was wir jetzt in dem Gesetzentwurf vorsehen, ist die
Umsetzung einer EU-Richtlinie im Bereich der Einla-
gensicherung; das betrifft Einlagen bei Banken und
Sparkassen. Wir gehen über das, was bisher schon ge-
setzlich vorgeschrieben ist, ein Stück hinaus. Für die
meisten Kunden von Banken in Deutschland wird sich
dadurch faktisch nichts ändern, weil das System bisher
schon voll ausreichend war.

Der Fortschritt beim Lückenschluss im Bereich der
Entschädigungseinrichtung für Wertpapierhandelsunter-
nehmen besteht meiner Ansicht nach nicht in erster Linie
darin – obwohl das auch wichtig ist –, dass die Regelung
von Beiträgen aus diesem Geschäftsbereich sehr viel
deutlicher und klarer wird als zuvor. Der eigentliche
Knackpunkt scheint mir zu sein, dass eindeutig vorge-
schrieben wird, dass sich auch solche Unternehmen, die
dem Wertpapierhandelssektor zuzurechnen sind und die-
ser Entschädigungseinrichtung angehören, Prüfungen
gefallen lassen müssen, nicht nur durch die BaFin, son-
dern auch im Auftrage der Entschädigungseinrichtung.
Dort muss rechtzeitig der Finger in die Wunde gelegt
werden, wenn es zu Mängeln kommt. Dort wird intensi-
ver, als es bisher geschehen ist, geprüft.

Ich bin sehr zuversichtlich, dass diese Regelung, die
wir jetzt verabschieden wollen, großen Anklang finden
wird. Wie gesagt: Die Anhebung der Garantiesumme auf
50 000 Euro pro Kunde bedeutet für die meisten Kunden
einer Sparkasse, einer Genossenschaftsbank oder einer
privaten Bank, die dem Einlagensicherungssystem des
Bundesverbandes deutscher Banken angehört, faktisch
keine Änderung. Das war schon vorher so.

Das Ganze macht jedoch noch einmal deutlich, dass
sich der eine oder andere hat verlocken lassen, wenn er
nächtens vor seinem PC gesessen und geschaut hat, ob
es für Tagesgeld vielleicht irgendwo anders auf der Welt
ein bisschen mehr Zinsen gibt. Es gibt da eine schöne In-
sel im Nordatlantik, bekannt durch heißes Wasser. Wenn
für Tagesgeld Zinssätze angeboten werden, wie sie eigent-
lich nur für eine zehnjährige Anlage zu erzielen sind,
sollte man auch die Unterzeile zur Kenntnis nehmen: Zu-
ständig ist der Einlagensicherungsfonds in Reykjavik. –
Das haben manche offenbar nicht so ernst genommen.
Ich glaube, es wäre ein gutes Ergebnis dieser Debatte,
wenn sich das Bewusstsein ausbreitete, dass es sich
lohnt, seine Ersparnisse dort anzulegen, wo es ein gutes
System der Einlagensicherung gibt, beispielsweise in der
Bundesrepublik Deutschland.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1622210000

Nächster Redner ist der Kollege Frank Schäffler,

FDP-Fraktion.


Frank Schäffler (FDP):
Rede ID: ID1622210100

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Herr Spiller, ich finde, Sie haben am eigentli-
chen Thema vorbeigeredet.


(Beifall des Abg. Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Bei diesem Gesetz liegen Anspruch und Wirklichkeit
weit auseinander. Es ist unbestritten, dass die Einlagensi-
cherung im Bankenbereich in Deutschland weit über das
hinausgeht, was Sie hier aufgrund europäischer Vorga-
ben ins Gesetz schreiben. In einem anderen Bereich, bei
der Anlegerentschädigung – ich erinnere an das, was im
Fall Phoenix geschehen ist –, werden Sie die Probleme
mit diesem Gesetz sogar noch verschärfen. Das ist das
eigentlich Erschreckende: Im Kern haben Sie aus dem
Fall Phoenix nichts gelernt.

Sie müssen sich grundsätzlich mit der Frage ausei-
nandersetzen: Was machen wir im Falle Phoenix? Sie
haben seit der Insolvenz im Jahre 2005 vier Jahre Zeit
gehabt, den Fall Phoenix zu lösen und rechtliche Ände-
rungen vorzunehmen. Sie haben aber seitdem nichts ge-
macht. Was Sie jetzt ins Gesetz schreiben, hat überhaupt
nichts mit einer Problemlösung zu tun. Sie müssen sich
darüber klar werden, dass der Staat an dieser Stelle un-
endlich versagt hat. Die 30 000 geschädigten Anleger
warten mindestens seit 2005 auf eine Entschädigung. Es
ist so klar wie Kloßbrühe, dass der Staat hier mithaften
muss.

Im Jahr 2002 hat das Bundesverwaltungsgericht Phoe-
nix höchstrichterlich gezwungen, seine Konten zu tren-
nen. Phoenix hatte das gesamte Geld der Anleger auf ein
Konto gepackt. Dadurch wurde ein Schneeballsystem in
Gang gesetzt. Die BaFin hat bis zum Insolvenzfall 2005
dieses höchstrichterliche Urteil nicht umgesetzt. Am
Ende sollen jetzt rund 600 Kapitalanlagegesellschaften
und Vermögensverwalter für dieses Missmanagement
der Bankenaufsicht aufkommen. Ich halte es für recht
und billig, dass die Vertreter dieser Gesellschaften auf
die Straße gehen und sagen: Das kann doch wohl so






(A) (C)



(B) (D)


Frank Schäffler
nicht sein; hier muss auch der Staat seiner Verantwor-
tung gerecht werden.


(Beifall bei der FDP)


Ich will mit einem Zitat aus dem Jahre 2007 belegen,
dass die Bundesregierung in diesem Bereich bisher nur
auf Zeit gespielt hat. Frau Hendricks, die damalige
Staatssekretärin, hatte gegenüber dem Finanzausschuss
erklärt:

Die Bundesregierung unterstützt die EdW

– die Entschädigungseinrichtung der Wertpapierhandels-
unternehmen –

bei ihren Bemühungen um eine rechtzeitige und
umfassende Entschädigung der Anleger im Fall
Phoenix.

Diese Aussage stammt vom April 2007. Nach zwei Jah-
ren ist man gerade einmal so weit, dass von
30 000 geschädigten Anlegern 312 entschädigt werden
sollen. Ausgezahlt worden ist die Entschädigung übri-
gens noch nicht. Da muss man schon fragen, ob Sie Ihrer
Verantwortung für den Finanzplatz Deutschland gerecht
werden.

Es treibt das Ganze auf die Spitze, wenn die Finanz-
behörden der Länder die Anleger jetzt auch noch auffor-
dern, die Scheingewinne, die sie in der betreffenden Zeit
erwirtschaftet haben – erwirtschaftet haben sollen, muss
man sagen; faktisch sind die Gewinne ja nicht realisiert
worden –, zu versteuern. Es ist notwendig, dass der Bun-
desfinanzminister hier endlich seiner Verantwortung ge-
recht wird.


(Beifall bei der FDP)


Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf haben Sie die
Anlegerentschädigungsrichtlinie in Deutschland nicht
umgesetzt und keine Anlegerentschädigungseinrichtung
geschaffen, die nachhaltig ist. Das will ich Ihnen mit
Zahlen belegen: Die EdW – Entschädigungseinrichtung
der Wertpapierhandelsunternehmen – hat laufende Ein-
nahmen von 3 Millionen Euro, bei Verwaltungskosten
von 2,4 Millionen Euro. Nun soll die EdW einen Ent-
schädigungsfall in der Größenordnung von 200 Millio-
nen Euro bewältigen. Wie viele Jahrhunderte soll die
Entschädigung der 30 000 Anleger dauern?

Sie reden immer von Anlegerschutz. Sie sollten end-
lich handeln und vor allem dieses konkrete Problem lö-
sen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1622210200

Ich gebe das Wort dem Kollegen Klaus-Peter

Flosbach, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Klaus-Peter Flosbach (CDU):
Rede ID: ID1622210300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das Wort „Vertrauen“ ist wohl der Begriff, der in den
letzten beiden Jahren am häufigsten gebraucht wurde.
Vor allen Dingen ging es um fehlendes Vertrauen der
Banken untereinander und fehlendes Vertrauen zwischen
Bürger und Bank.

Im Herbst letzten Jahres konnten wir auf Bildern aus
England sehen, wie die Leute in Schlangen vor den Ban-
ken standen und ihr Geld abheben wollten. Die Bundes-
kanzlerin und der Bundesfinanzminister haben damals
eine Erklärung abgegeben, dass die deutschen Einlagen
sicher sind. Wir haben über die Einlagensicherung, die ja
ein aktuelles Thema ist, mehrere Debatten geführt. Der
Finanzwissenschaftler Professor Gerke hat bei diesen
Gesprächen deutlich gemacht, dass das Krisenmanage-
ment der Bundesregierung gerade in diesem Fall beson-
ders hohe Anerkennung verdient. Dem möchte ich mich
gerne anschließen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Für das Protokoll: Orkanartiger Beifall in den Nachmittagsstunden im Plenum!)


Bei dem vorliegenden Gesetzentwurf geht es um die
Neuordnung der Einlagensicherung in Deutschland. Was
sind Einlagen? Einlagen sind Guthaben, Festgelder,
Spareinlagen bei Banken. Diese sind bisher bis zu einer
Summe von 20 000 Euro gesichert. Diese Summe wer-
den wir jetzt mit der Umsetzung einer europäischen
Richtlinie auf 50 000 Euro für jeden Kunden anpassen.
Wir haben darüber hinaus die Absicht, diesen Betrag bis
Ende nächsten Jahres auf 100 000 Euro zu erhöhen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist die Aufgabe
des Deutschen Bundestages, denjenigen, die ihr Geld si-
cher anlegen wollen, deutlich zu machen, dass es auch
gesichert ist. Ein wichtiger Punkt ist auch, dass nicht nur
Privateinlagen gesichert sind, sondern auch die Einlagen
kleiner und mittlerer Unternehmen. Mit dieser Position
hat sich Deutschland auch in Europa durchsetzen kön-
nen. Ich denke, damit haben wir für unseren Mittelstand,
für die kleinen und mittleren Betriebe in unserem Lande
etwas Gutes getan.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das sieht auch unser Koalitionspartner so! – Gegenruf der Abg. Iris Gleicke [SPD]: Natürlich!)


Das zweite große Thema, um das es in diesem Ge-
setzentwurf geht, ist die Entschädigung von Anlegern.
Wir haben in Deutschland, wie Herr Kollege Spiller ge-
sagt hat, ein hervorragendes Sicherungssystem. Sie ken-
nen die drei Säulen: Raiffeisenbanken, Sparkassen und
andere öffentlich-rechtliche Banken, private Banken.
Bei den Raiffeisen- und Volksbanken und bei den Spar-
kassen gibt es eine eigene Institutssicherung. Bei den an-
deren Banken gibt es einen Einlagensicherungsfonds,
durch den mit bis zu 30 Prozent des Eigenkapitals der
betroffenen Bank für jeden einzelnen Kunden gehaftet
wird.

Im Zusammenhang mit der Einlagensicherung von
Wertpapierhandelsunternehmen begleitet uns aber natür-
lich auch der Fall Phoenix. Hier sind 30 000 Anleger, die
jeweils im Durchschnitt 20 000 Euro angelegt haben, be-






(A) (C)



(B) (D)


Klaus-Peter Flosbach
troffen. Insgesamt wird ein Schaden von voraussichtlich
200 Millionen Euro entstehen. Herr Schäffler, ich
stimme Ihnen zu: Hier haben die Wirtschaftsprüfer, die
Banken, die Aufsichtsräte und die Aufsichtsbehörde in
der Tat versagt.

Es hat genügend Vorschläge dafür gegeben, die Neu-
ordnung der Anlegerentschädigung in Deutschland in
dieser Phase von der Neuordnung der Einlagensicherung
zu trennen. In den Fachgesprächen und Anhörungen hat
sich aber ergeben, dass wir das nicht voneinander tren-
nen dürfen, sondern jetzt Regelungen dafür finden müs-
sen, die Einlagensicherung und die Anlegerentschädi-
gung in Deutschland deutlich zu verbessern.


(Beifall des Abg. Olav Gutting [CDU/CSU])


Die Frage war, ob wir auf Regelungen seitens der Eu-
ropäischen Union warten sollen. Dort wird dieses Thema
natürlich nach wie vor diskutiert. Es gibt Konsultations-
prozesse, und es wird bald auch wieder eine neue Vor-
lage geben. Seit 1998 sind neben dem Phoenix-Fall
– Phoenix war das größte Unternehmen in der Einlagen-
sicherung – etwa 19 weitere Schäden aufgetreten.

Das Wichtigste bei diesem Gesetzentwurf ist meines
Erachtens, dass wir jetzt Vorgaben für die Prüfung eines
jeden einzelnen Unternehmens machen und dass wir auf
die Erfahrung und die Kenntnis der Bundesbank zurück-
greifen können. Die Bundesbank wird in Zukunft jedes
einzelne Unternehmen prüfen. Meines Erachtens ist der
Hinweis der Bundesbank, dass sie die großen und sys-
temrelevanten Unternehmen mit hohen Erträge, aber
möglicherweise auch großen Schadenspotenzialen prü-
fen will, besonders wichtig. Sie will die kleinen Unter-
nehmen nicht mit Bürokratie und Kosten, die höher sind
als deren Erträgen, überziehen. Ich denke, das ist sehr
wichtig.

Ein weiterer Punkt, der in diesem Gesetzentwurf ei-
nen großen Raum einnimmt, ist, dass in Zukunft risiko-
orientierte Beiträge gezahlt werden und dass auch eine
Regelung für Sonderbeiträge gefunden worden ist.

Wir müssen daran denken: Jedes einzelne Mitglieds-
unternehmen bei der EdW, der Entschädigungseinrich-
tung der Wertpapierhandelsunternehmen, muss wissen,
was auf das einzelne Unternehmen zukommt. Von den
790 Mitgliedsunternehmen sind 600 Kleinstbetriebe.
Dies sind zum Beispiel Vermögensverwalter und Port-
folioverwalter und keine großen KAGs, also Kapital-
anlagegesellschaften. Gerade für die Kleinen ist es wich-
tig, zu wissen, was auf sie zukommt.


(Frank Schäffler [FDP]: Aber nicht mit dem Gesetzentwurf!)


Ein wichtiges Thema in diesem Gesetzentwurf – das
hat uns alle bewegt – ist die Struktur der Mitgliedsunter-
nehmen; Herr Schäffler, Sie haben auf das Thema hinge-
wiesen. Wenn von 790 Unternehmen 600 kleine Unter-
nehmen sind, dann stellt sich die Frage, ob es richtig sein
kann, dass diese 600 kleinen Unternehmen für die gro-
ßen Schäden der wenigen großen Unternehmen haften
müssen. Es ist insbesondere wichtig, zu wissen, dass
diese kleinen Unternehmen normalerweise im Rahmen
einer Vermögensschadenhaftpflicht- oder einer Vertrau-
ensschadenhaftpflichtversicherung haften können; denn
diese würde genügen, um mögliche Schäden abzude-
cken. Ich glaube, dieses Thema wird uns auch in Zukunft
bewegen. Wir müssen aber natürlich auch die europäi-
sche Ebene betrachten. Die Struktur der Entschädigungs-
einrichtungen ist auch in den anderen Ländern nicht an-
ders als in Deutschland. Ich glaube, wir gehen einen
Schritt nach vorne, wenn für die kleinen Unternehmen
eine Versicherungslösung angeboten wird, sodass sie nur
geringe Beiträge in diese Entschädigungseinrichtung
einzahlen müssen.

Die Frage ist natürlich, ob die Diskussion über die
Einlagensicherung und die Entschädigung in Deutsch-
land mit diesem Gesetzentwurf zu Ende ist. Ich sage
deutlich, nein. Das Thema Phoenix wird uns selbstver-
ständlich weiterhin begleiten. Dabei geht es aber natür-
lich auch um die Belastbarkeit einer Entschädigungs-
einrichtung: Wenn pro Jahr Beiträge in Höhe von
3 Millionen Euro gezahlt werden, mit denen ein Schaden
von 200 Millionen Euro gedeckt werden soll, dann ist
das ein krasses Missverhältnis. Ich denke, auch in den
Fachgesprächen hat sich gezeigt, dass die Entschädi-
gungseinrichtung nicht jederzeit für solche Großereig-
nisse haften kann – das gilt auch für andere Risiken, die
wir derzeit erleben –, sondern dass dieser Fall getrennt
betrachtet werden muss und dass eine Entschädigungs-
einrichtung in erster Linie für kleine und mittlere Unter-
nehmen vorgesehen ist, dass also Kapital zur Verfügung
gestellt wird, wenn kleine und mittlere Unternehmen in
die Insolvenz gehen.

Ich möchte ein Fazit zu dem Gesetzentwurf ziehen.
Ich denke, dass ein solches Gesetz in der jetzigen Phase
sehr wichtig ist; denn es geht um die Sicherheit von An-
lagen in Deutschland. Die Bundesbürger wollen wissen,
was mit ihrem Geld passiert, wenn sie es auf die Bank
bringen. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass als
sicher geltende Einlagen wie Termineinlagen, Spareinla-
gen und Sparbriefe tatsächlich ausreichend gesichert
sind.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Aber dort, wo es große Risiken gibt, müssen wir in Zu-
kunft auch auf Prävention setzen. Es muss geprüft wer-
den, wo mögliche Risiken liegen. Das ist im Gesetzent-
wurf vorgesehen. Darin liegt seine Stärke.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Letztendlich hängt der Finanzplatz Deutschland da-
von ab, dass die Anleger Vertrauen in ihn haben. Es
kommt vor allem auf ein funktionierendes Finanz- und
Bankensystem an. Ich glaube, mit dem Gesetzentwurf
sind wir diesem Ziel ein Stück nähergekommen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1622210400

Der Kollege Dr. Axel Troost, Fraktion Die Linke, hat

seine Rede zu Protokoll gegeben.1)

Deswegen rufe ich den Kollegen Dr. Gerhard Schick,
Bündnis 90/Die Grünen, auf.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es gibt zwei Möglichkeiten, diesen Gesetzentwurf zu
betrachten. Die eine ist, sich zu fragen, ob das, was darin
formuliert ist, gut ist. Ein Blick in den Gesetzentwurf
zeigt, dass die Umsetzung einer EU-Richtlinie vorgese-
hen ist, wozu wir verpflichtet sind, und dass einige tech-
nische Fragen richtig gelöst werden. Es wird eine
Kreditaufnahmeregelung geschaffen; die Überwa-
chungspflichten werden verbessert. Insofern könnten wir
meinen, es sei alles wunderbar.

Es gibt aber noch eine andere Perspektive, die, glaube
ich, wichtiger ist. Dabei geht es um die Frage, ob es mit
dem Gesetzentwurf gelingt, auf Fehler, die in der Reali-
tät zu erkennen sind, richtig zu reagieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


An dieser Stelle kommen wir leider zu einem ganz
anderen Fazit. In dem Themenbereich der Anlegerent-
schädigung bzw. der Einlagensicherung, um den es heute
geht, hatten wir es mit drei großen Problemfällen zu tun.
Einer ist schon angesprochen worden: Das ist der Fall
Phoenix, der ziemlich lamentabel ist. Vier Jahre danach
ist zwar ein Gutachten in Auftrag gegeben und ein Ge-
setzentwurf auf den Weg gebracht worden, aber die zen-
tralen Probleme, die im Zusammenhang mit dem Fall
Phoenix offengelegt wurden, der Zehntausende betroffen
hat, sind nicht gelöst worden. Denn nach wie vor ist eine
Entschädigungseinrichtung für viel zu viele unterschied-
liche Unternehmen zuständig, und die Überforderung
der EdW, die bei Phoenix zutage kam, würde sich bei ei-
nem vergleichbaren Fall in der Zukunft erneut zeigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir müssen also konstatieren, dass es der Politik
nicht gelungen ist, vier Jahre nach dem Entschädigungs-
fall Phoenix eine wirkliche Antwort auf diese Problema-
tik zu geben. Das Gutachten hat einige sinnvolle Vor-
schläge enthalten. Wie aber einer der Gutachter in seiner
Stellungnahme ganz nüchtern festgestellt hat, wurden
zentrale Empfehlungen zur Strukturänderung nicht im
Gesetzentwurf aufgenommen. Warum lassen wir denn
ein Gutachten erstellen, wenn wir die zentralen Vor-
schläge nicht aufgreifen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)


Der zweite Fall ist der Fall Lehman Brothers. Als die
große amerikanische Bank Lehman Brothers pleiteging,
mussten wir mit ansehen, dass auch ihre kleine deutsche

1) Anlage 3
Tochter pleiteging. Kaum war das der Fall, zeigte sich,
dass die Einlagensicherungseinrichtung der deutschen
Banken nicht in der Lage war, das zu stemmen. Die
deutsche Tochter von Lehman Brothers war kein riesiges
Institut. Aber bereits in dieser Situation war eine Sonder-
lösung über eine Anleihe im Rahmen des Finanzmarkt-
stabilisierungsfonds nötig, um das aufzufangen. Das ist
in Deutschland nicht groß diskutiert worden, aber es
zeigt, dass das System auch in diesem Fall nicht das ge-
leistet hat, was wir versprochen haben. Ich meine, darauf
müsste man reagieren. Das ist aber bei diesem Gesetz-
entwurf nicht der Fall.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das dritte Beispiel ist Kaupthing. Herr Spiller, Sie ha-
ben so schön gesagt, die Leute hätten das Kleinge-
druckte lesen müssen. Das ist richtig. Man muss schon
wissen, dass man es mit Reykjavik zu tun hat. Es stellt
sich aber die Frage, warum Betroffene in anderen Län-
dern nach 14 Tagen oder 3 Wochen eine Entschädigung
aus der Einlagensicherung bekommen, während das in
Deutschland nach Monaten noch nicht geschehen ist; es
gibt ein ewiges Hin und Her zwischen den Behörden. Ich
meine, die Bürger in einem modernen Europa mit einem
Binnenmarkt, der für die Verbraucherinnen und Verbrau-
cher geschaffen worden ist, sollten sich darauf verlassen
können, dass die amtlichen Institutionen von verschiede-
nen befreundeten Ländern so zusammenarbeiten, dass
der Bürger nicht nachher der Dumme ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Auch dieses Problem wird in dem vorliegenden Gesetz-
entwurf nicht gelöst.

Sie haben aus den drei großen Problemfällen der letz-
ten vier Jahre nichts gelernt. Wenn ich einen Schluss-
strich ziehe und mir vorstelle, dass das die Blaupause da-
für ist, wie die Politik auf andere große Probleme, die in
der letzten Zeit zutage getreten sind, reagieren wird,
dann komme ich zu dem Ergebnis: Wir haben Besseres
zu tun und dürfen uns nicht mit der Umsetzung einer
EU-Richtlinie zufriedengeben. Wir sollten die aufgetre-
tenen Probleme wirklich lösen, sodass die Systeme in
Zukunft besser sind. Wir sind mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf nicht zufrieden und lehnen ihn daher ab.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1622210500

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Einlagensicherungs- und Anlegerentschä-
digungsgesetzes und anderer Gesetze. Der Finanzaus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksachen 16/13024 und 16/13038,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Druck-
sachen 16/12255 und 16/12599 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposi-
tion angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in dritter Beratung ebenfalls mit den Stim-
men der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition an-
genommen.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der
Fraktion der FDP mit dem Titel „Reform der Anleger-
entschädigung in Deutschland“. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/13024, den Antrag der Fraktion der FDP
auf Drucksache 16/11458 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen von FDP und
Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Sozialisierung der
Verluste verhindern – Sicherungsfonds für privaten Fi-
nanzsektor schaffen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/10610, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/8888
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke mit dem Rest der Stimmen des Hauses ange-
nommen.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Verbesserung des
Verbraucherschutzes beim Erwerb von Kapitalanlagen“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/12354, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/11185 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung
von Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der
Linken angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Krista Sager, Priska Hinz (Herborn),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Problem der ungenutzten Studienplätze in zu-
lassungsbeschränkten Studiengängen umge-
hend lösen – Staatsvertrag jetzt vereinbaren

– Drucksache 16/12476 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
Kollegin Krista Sager, Bündnis 90/Die Grünen.


Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622210600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass die

Vorstellung, die völlige Deregulierung, das freie Spiel
aller Kräfte, könne zum Erfolg führen, nicht nur im Hin-
blick auf die Finanzmärkte ein Irrglaube ist, sondern of-
fensichtlich auch nicht die Zauberformel ist, um gesamt-
staatliche Ziele im Hochschulbereich zu erreichen, wird
offenkundig, wenn wir uns anschauen, wie Studienbe-
werberinnen und -bewerber unter dem Bewerbungs- und
Zulassungschaos, das wir schon seit langem in Deutsch-
land erleben, leiden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was ist denn der Ausgangspunkt bei den gesamt-
staatlichen Zielen? Alle sind sich einig: Wir wollen und
müssen die Studierendenquote in Deutschland dringend
erhöhen. Alle wissen: Das Zeitfenster, bis der demogra-
fische Wandel die Hochschulen erreicht, ist denkbar
klein. Alle sind sich einig: Angesichts der steigenden
Zahl von Studierenden und Studienbewerbern und der
doppelten Abiturientenjahrgänge wollen wir allen Stu-
dienplätze zur Verfügung stellen. Alle sagen: Dafür müs-
sen Länder und Bund gemeinsam das nötige Geld in die
Hand nehmen.

Was passiert jetzt? Wie ist die Situation, vor der wir
stehen? Studienwillige verzweifeln reihenweise ange-
sichts des Bewerbungs- und Zulassungschaos, weil auf
der einen Seite zulassungsbeschränkte Studienplätze frei
bleiben und auf der anderen Seite junge Menschen
schlichtweg nicht mit Studienplätzen versorgt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Damit werden die gesamtstaatlichen Ziele, die wir uns
gesetzt haben, unterminiert. Allein in Baden-Württem-
berg blieben im letzten Wintersemester 2 487 NC-Stu-
dienplätze unbesetzt. Das sind 12,4 Prozent. Das ist
nicht nur ein hochschulpolitischer Skandal, sondern das
ist auch Politikversagen und Verantwortungsverweige-
rung in der Politik.

Diejenigen, die geglaubt haben, man müsse nur die
ZVS abschaffen und dann werde alles gut, haben zwar
auf der Zeitgeistwelle gesurft, stehen jetzt aber als naive,
blauäugige Irrläufer da. Das hat offensichtlich nicht
funktioniert. Ich bin absolut für die Hochschulautono-
mie. Ich habe die Hochschulautonomie immer befördert,
wo ich es konnte. Aber die Hochschulautonomie reicht
nur so weit wie die Handlungsspielräume und der Ein-
fluss der Hochschule. Die einzelne Hochschule ist nicht
dafür verantwortlich, dass wir bei der Studierendenquote






(A) (C)



(B) (D)


Krista Sager
in Deutschland gerade einmal dort stehen, wo wir 2003
schon angekommen waren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was muss also passieren? Es muss Schluss damit
sein, dass die Politik die Hochschulautonomie benutzt,
um sich in deren Windschatten aus der Verantwortung zu
stehlen. Wird denn jetzt alles gut, nachdem es nach end-
losen Diskussionen eine Verständigung über ein Eck-
punktepapier zur Umsetzung eines dialogorientierten
Serviceverfahrens gibt? Nein, es ist noch lange nicht al-
les gut. Warum? Bis dieses Verfahren möglicherweise
überhaupt in Gang kommt, werden noch mindestens
zwei Jahre vergehen. Bis dahin wird den Studierwilligen
in Deutschland weiter weiße Salbe in Form einer freiwil-
ligen Internetbörse verpasst.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist keine Lösung. Es bleibt weiter unklar, ob sich die
Länder und auch die Hochschulen tatsächlich an diesem
Verfahren beteiligen werden.

Was ist also nötig? Wir brauchen Verbindlichkeit, und
wir brauchen Klarheit. Deswegen muss es eine verbind-
liche Verständigung über ein Verfahren geben, das ge-
währleistet, dass alle zulassungsbeschränkten Studien-
plätze transparent, gerecht und effizient vergeben
werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dazu sollte der Bund einen Vorschlag machen. Dann
sollte es darüber einen Staatsvertrag geben, nicht weil
wir Staatsverträge schön finden, sondern weil wir nicht
wollen, dass einzelne Länder abweichende Regelungen
treffen. Die Länder müssen in die Pflicht genommen
werden und ihrerseits die Hochschulen im Rahmen ihrer
Ziel- und Leistungsvereinbarungen zu der Teilnahme an
diesem Verfahren verpflichten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es geht nicht, dass einzelne Hochschulen durch beson-
ders hohe lokale Numeri clausi Plätze frei halten, ob-
wohl Studierwillige unversorgt bleiben. Der Bund muss
dafür sorgen, dass es dann, wenn auf diese Art und
Weise Studienplätze in zulassungsbeschränkten Studien-
gängen frei gehalten werden, Studierende unversorgt
bleiben und man sich die Studierenden vom Halse hält,
zur Rückzahlung von Mitteln aus dem Hochschulpakt
kommt und nicht noch Geld dafür kassiert wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In diesem Sinne: Stimmen Sie unserem Antrag zu!
Wir brauchen wirklich Klarheit und Verbindlichkeit.
Hochschulautonomie ist zwar gut, aber politische Ver-
antwortungslosigkeit ist schlecht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1622210700

Nächste Rednerin ist die Kollegin Monika Grütters,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Monika Grütters (CDU):
Rede ID: ID1622210800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr

verehrte Kollegin Sager, ich habe den Eindruck, Sie sur-
fen hier ein wenig auf der Oppositionswelle. Was wir
hier machen, ist bezeichnend. Wir haben dieses Thema
ausführlich im Ausschuss besprochen. Danach haben Sie
sich diesen Antrag – als hätten Sie nicht zugehört – aus-
gedacht, und jetzt zwingen Sie uns, im Plenum darüber
zu reden. Das sind Oppositionsrituale – ja, geschenkt;
aber bitte mit etwas mehr Substanz.


(Beifall des Abg. Peter Rzepka [CDU/CSU] – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben Sie denn für ein Demokratieverständnis? – Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie müssen nicht reden!)


– Vielleicht wollen auch die Grünen hören, was andere
ihnen zu ihrem Antrag zu sagen haben. Herr Gehring,
der diesen Antrag verfasst hat, ist auf einer Podiumsdis-
kussion; deshalb sitzen Sie stellvertretend hier. Tut mir
leid für Sie.

Wir alle sind uns einig – wir können das gerne hier
immer wieder mal sagen –: Die Situation der Studieren-
den mag in vielerlei Hinsicht unbefriedigend sein. Was
mich stört, ist, dass Sie so tun, als wäre das der vorherr-
schende Eindruck, den deutsche Hochschulen machen.
Das ist zumindest unzutreffend.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Patrick Meinhardt [FDP])


Wir reden also zum wiederholten Mal über das Detail
Hochschulzulassung. Wir sind uns einig: Schöner wäre
es, alle Studierenden bekämen genügend Studienplätze.
Die dafür zuständigen Länder – ich betone: die Länder;
wir sind Abgeordnete des Bundestages; man muss das
immer wieder mal sagen – geben leider immer noch
nicht genug Geld für Bildung und Wissenschaft aus.

Es wäre auch schön, wenn alle Studierenden den Stu-
dienplatz, den sie haben wollen, an dem jeweiligen Ort
bekämen. Das ist – auch das wissen wir; dafür bräuchten
wir die heutige Debatte nicht – ein Problem in Deutsch-
land. Man hat immer wieder versucht, es zu lösen. Ich
verweise auf die Praxis der „Kinderlandverschickung“
der ZVS.

Wir sind jetzt auf einem anderen Weg. Auf diesem
Weg, der immer wieder mit Holprigkeiten verbunden ist,
hat der Bund mehr als einmal und stets entgegen seiner
eigentlichen Nichtzuständigkeit moderierend und übri-
gens auch finanzierend eingegriffen. Bei der Feinsteue-
rung der Hochschulzulassung soll der Bund nun nach
Ihrer Meinung nicht nur – ähnlich wie beim Hochschul-
pakt – moderierend und mit Geld tätig werden, sondern
er soll auch die Hochschulen zwingen, etwas zu machen,
was sie bisher freiwillig getan haben. Diese absurde Lo-
gik müssen sie mir einmal erklären: Warum haben Sie so
wenig Vertrauen in die Hochschulen, dass Ihnen deren






(C)



(B) (D)


Monika Grütters
freiwillige Bekundung, ein solches Verfahren durchzu-
führen, nicht ausreicht? Sie wollen vielmehr, dass wir,
der Bund, die Hochschulen zwingen, dass wir also über
die Länderzuständigkeit hinweggehen. Das machen wir
nicht mit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es ist zwar schön, dass Sie, die Grünen, auf diese
Weise indirekt das Instrument des Hochschulpaktes an-
erkennen – das hat sich in Ihren früheren Reden ganz an-
ders angehört;


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unterfinanziert ist er noch immer!)


mittlerweile sehen Sie ein, dass eine bundesunmittelbare
finanzielle und moderierende Mitwirkung, geregelt in ei-
nem Staatsvertrag, sinnvoll ist –; aber Ihr Vorschlag hat
nicht den Charakter einer Notlösung, sondern bedeutet
einen unmittelbaren Zugriff auf die Hochschulen.

Was mich neben dem permanenten Ignorieren der Zu-
ständigkeiten von Bund und Ländern ebenfalls irritiert,
ist die Tatsache, dass die Grünen ihren Antrag erst nach
dem Gespräch formuliert haben, das wir im Bildungs-
ausschuss mit der Präsidentin der Hochschulrektoren-
konferenz – Sie waren dabei, Frau Sager – geführt ha-
ben. Nach diesem Gespräch müssten auch Sie den
Sachstand genau kennen. Es mag sein, dass Sie ihn im-
mer noch nicht für befriedigend halten, vor allen Dingen
für die Studierenden; aber mit dem in Ihrem Antrag ge-
forderten Staatsvertrag ist diesem Sachverhalt nicht bei-
zukommen. Sie wissen ganz genau: Das Hauptproblem
ist die Softwareentwicklung. Sie wird weder durch eine
solche Debatte noch durch einen Staatsvertrag beschleu-
nigt. Das dürften Sie wissen.

Angesichts des zwischenzeitlich erreichten Sachstan-
des bei der Etablierung eines – Frau Sager, ich zitiere
nicht Sie, sondern Sie haben die Hochschulrektorenkon-
ferenz zitiert – transparenten, unbürokratischen, nutzer-
freundlichen und effizienten Hochschulzulassungsver-
fahrens besteht jedenfalls auf der rechtlichen Ebene kein
Regulierungsbedarf, so wie Sie ihn beschreiben. Das Pro-
blem bei der Zulassung in örtlich zulassungsbeschränkten
Studiengängen ist kein Problem des Zulassungsrechts,
sondern der Anwendung des Zulassungsrechts, ganz
konkret: der Gestaltung des Verfahrensablaufs. Ände-
rungen im Zulassungsrecht können hier deshalb nichts
bewirken. Erforderlich ist jetzt, dass das angestrebte dia-
logorientierte Verfahren sobald wie möglich technisch
realisiert wird.

Auch der von Ihnen, verehrte Kollegin, geforderten
In-die-Pflicht-Nahme der Hochschulen bedarf es nicht,
da die Unis und Fachhochschulen am 21. April – das
war, kurz nachdem Sie Ihren Antrag formuliert hatten;
aber man hätte ihn noch ändern können – im Rahmen
der HRK-Mitgliederversammlung fast einstimmig er-
klärt haben, das dialogorientierte Verfahren nutzen zu
wollen und sich in der Übergangszeit – das haben Sie in
dieser Debatte unterschlagen – an den zur Verbesserung
der Zulassungssituation verabredeten Maßnahmen zu be-
teiligen, nämlich einheitliche Fristen und eine Studien-
platzbörse einzuführen. Sie wissen, dass das beschlossen
wurde. Sie wissen, dass es ab diesem Wintersemester,
also in wenigen Monaten – schneller geht es gar nicht –,
eine einheitliche Bewerbungsfrist geben wird. Bewer-
bungsschluss ist der 15. Juli. Ende August werden die
Zulassungsbescheide versendet. Danach wird es eine
Börse geben, sodass sich Studierwillige, die noch keinen
Studienplatz erhalten haben, unmittelbar an den jeweili-
gen Hochschulen auf freie Plätze bewerben können.
Auch das ist eine einstimmige Erklärung aller Universi-
täten.


(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Aber nicht zu spät!)


Sie haben den Antrag ein bisschen früher formuliert und
dann keine Lust gehabt, ihn der tatsächlichen Regelung
anzupassen.


(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Sag ich doch!)


Das KMK-Plenum hat außerdem beschlossen, dass
auf die Länder eingewirkt werden soll, damit sie die
Bundesanschubfinanzierung später fortführen. Das ist
auch nötig, weil die Länder zuständig sind. Insgesamt
sind damit Verfahren etabliert worden, bei denen De-
zentralität und unterstützender Service der ZVS ineinan-
dergreifen. Die Vergabe von Studienplätzen wird über-
sichtlich und zuverlässig koordiniert.

Frau Sager, Sie haben eben gesagt, Sie seien eine Ver-
fechterin der Hochschulautonomie. Auf diese Weise
wird die Autonomie gewahrt. Anders ist es bei Ihrem
Vorschlag eines Durchgriffszwangs. Zu Ihrer Forderung,
die Fortschreibung des Hochschulpaktes entsprechend
zu nutzen, darf ich Sie daran erinnern, dass wie in der
laufenden Programmphase des Hochschulpakts 2020
und auch bei der Ausgestaltung der zweiten Programm-
phase durch den neuen Hochschulvertrag bereits sicher-
stellt ist, dass die Bundesmittel an die Zahl der tatsäch-
lich zusätzlich aufgenommenen Studienanfänger gekoppelt
sind und dass das – so sagen wir immer – spitz abgerech-
net wird. Es gibt auch Sonderregelungen für die neuen
Länder, die dazu dienen, die Studienanfängerkapazitäten
tatsächlich aufrechtzuerhalten und nicht abzubauen.

Den Forderungen von Bündnis 90/Die Grünen wird
demnach bereits im Vereinbarungsentwurf für die
nächste Programmphase des Hochschulpakts 2020
Rechnung getragen. Da wir darüber im Ausschuss aus-
führlich gesprochen haben, müssten Sie es besser wis-
sen, als es Ihr Antrag vermuten lässt.


(Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU], zum BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gewandt: Ziehen Sie ihn doch zurück! Das wäre doch ein Angebot!)


Abschließend möchte ich sagen: Der Bund ist ganz si-
cher nicht für die Lösung von Zulassungsproblemen zu-
ständig. Der Meinung der CDU/CSU nach sollten nicht
die Länder, sondern die Universitäten zuständig sein, da
wir Hochschulautonomie nicht nur behaupten, sondern
auch praktizieren.


(Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Jawohl!)


(A)







(A) (C)



(B) (D)


Monika Grütters
Das ist auch beim Thema Studienplatzvergabe der Fall.
Tatsächlich gibt es einen Studierendenüberhang, und
Studienplätze bleiben viel zu lange frei. Diese Plätze
bleiben aber nicht dauerhaft frei, sondern werden erst
sehr spät nachbesetzt; das erkennen wir an. Deshalb hat
sich Ministerin Schavan mit der Hochschulrektorenkon-
ferenz und der KMK zusammengesetzt. Genau deshalb
hat sie, die nicht zuständig ist, die Moderation an diesem
Punkt übernommen. Erfolgreich haben sie ein gemeinsa-
mes Vorgehen beschlossen, das ab Juli greift.

Ich bin sicher, dass sich die Lage an den Universitäten
sehr bald entspannen wird. Ich hoffe, dass Sie bei der
nächsten Bildungsausschusssitzung ein bisschen besser
zuhören. Dann könnten wir uns solche Anträge und die
Debatte darüber beinahe sparen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür haben Sie aber lange gesprochen!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622210900

Für die FDP spricht der Kollege Patrick Meinhardt.


(Beifall bei der FDP)



Patrick Meinhardt (FDP):
Rede ID: ID1622211000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Mit dem uns heute zur Beratung vorlie-
genden Antrag zeigen die Grünen einmal mehr, welch
Geistes Kind sie sind. Sie glauben ganz offensichtlich,
durch Regulierung und Staatsbürokratie zum besten Er-
gebnis zu kommen.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann schauen Sie sich die Ergebnisse doch jetzt mal an!)


Frau Sager, es wird Sie nicht verwundern, dass wir
Liberale dem ein anderes Modell entgegenhalten. Nicht
mehr bundeseinheitliche Regelungen, die Universitäten
und Studenten eigener Kompetenzen und eigener Wahl-
freiheiten berauben, sind der Schlüssel zum Erfolg, son-
dern Freiheit, Eigenverantwortlichkeit und Wahlmög-
lichkeiten.


(Beifall bei der FDP)


Worüber reden wir eigentlich konkret? Es ist erst we-
nige Wochen her – es war am 25. März –, dass den Mit-
gliedern aller Fraktionen, auch den Mitgliedern der
Grünen, im Bildungsausschuss das neue Modell zur Re-
gelung des Hochschulzugangs vorgestellt wurde. Alle
anwesenden Sachverständigen von der Hochschulrekto-
renkonferenz bis hin zur KMK waren zuversichtlich,
dass das neue Instrumentarium die derzeitigen Probleme
löst.

Das vorgestellte Verfahren scheint tatsächlich in der
Lage zu sein, alle Interessen zu vereinen. Verantwor-
tungsvoller Umgang mit Kapazitäten und finanziellen
Mitteln wird mit freier Wahlmöglichkeit und mit Wett-
bewerb verbunden. Das ist ein sinnvoller Ansatz. Dieses
innovative Konzept hat drei Komponenten:
Erstens. In einem ersten Schritt bewerben sich Stu-
denten um ein Studienfach ihrer Wahl an einer oder
mehreren Hochschulen. Dies betont die Eigenverant-
wortlichkeit, und das ist auch gut so.

In einem zweiten Schritt findet, sobald ein Platz ge-
funden ist und sich der Studierende immatrikuliert hat,
ein Abgleich im System statt. In einer Nachrückphase
werden für die unberücksichtigt gebliebenen Bewerbe-
rinnen und Bewerber die jeweils optimale Zulassungs-
möglichkeit nach ihren eigenen Prioritäten ermittelt und
wiederum freie Plätze unterbreitet. Im zweiten Schritt
werden also alle Interessen berücksichtigt.

Dritter Schritt. Für diejenigen, die dann noch immer
nicht zum Zuge gekommen sind, bietet ein abschließen-
des Clearingverfahren die Chance, nicht besetzte Stu-
dienplätze zu besetzen. Dieser dritte Schritt gewährleis-
tet eine optimale Auslastung.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, natürlich ge-
fällt staatsgläubigen Fraktionen eine solche untergesetz-
liche, pragmatische Lösung nur wenig.


(Zuruf des Abg. René Röspel [SPD])


Deren Bauchgefühl verlangt nach zentral gesteuerten
Strukturen und Planverfahren. Die im Jahre 1972 ins Le-
ben gerufene ZVS war eine solche Planbehörde, ganz
nach dem Geschmack der Grünen. Hier durften Beamte
noch über das Studienschicksal von jungen Menschen
entscheiden. Nicht umsonst hatte das ZVS-Verfahren
auch den Namen „Studentenlandverschickung“. Von Bü-
rokraten geliebt, von Studenten zutiefst gehasst – so stel-
len wir uns eine studentennahe Bildungspolitik nicht
vor!


(Beifall bei der FDP)


Nun wollen die Grünen Wahlmöglichkeiten zuguns-
ten von Bequemlichkeit und Fremdbestimmung auf-
geben. Wettbewerb und Hochschulautonomie sollen
Staatsdirigismus und Planwirtschaft weichen – und dies
ohne jedwede Notwendigkeit.


(Lachen des Abg. René Röspel [SPD])


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, stellen wir uns doch
einmal wirklich die Frage, welches Menschenbild hinter
solch einer Staatsgläubigkeit steht.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Etwas kleiner!)


Trauen wir es jungen Menschen, angehenden Akademi-
kern, nicht zu, eigenverantwortlich nach ihren eigenen
Bedürfnissen, also selbstbestimmt, einen Studienplatz zu
finden? Wir Liberale trauen das unseren Abiturientinnen
und Abiturienten durchaus zu.


(Beifall bei der FDP – René Röspel [SPD]: Da muss er selber lachen!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622211100

Herr Kollege, die Kollegin Sager würde Ihnen gerne

eine Zwischenfrage stellen.






(A) (C)



(B) (D)


Patrick Meinhardt (FDP):
Rede ID: ID1622211200

Gerne, Frau Kollegin Sager.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622211300

Bitte schön.


Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622211400

Herr Kollege Meinhardt, halten Sie es für einen Er-

folg, dass im letzten Wintersemester allein in Baden-
Württemberg 2 487 NC-Studienplätze, also zugangsbe-
schränkte Studienplätze – das entspricht 12,4 Prozent al-
ler Studienplätze –, unbesetzt geblieben sind?


Patrick Meinhardt (FDP):
Rede ID: ID1622211500

Frau Sager, Sie wissen ganz genau, dass bei einem

Verfahren, das in Baden-Württemberg zu solchen Ergeb-
nissen geführt hat, wie Sie sie beschrieben haben, eine
Nachjustierung notwendig ist.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh!)


Deswegen führen wir ja diese Debatte, Frau Sager. Wir
haben genau deswegen im Bildungsausschuss darüber
beraten, damit wir eine bessere Variante hinbekommen.
Es stimmt, dass in Baden-Württemberg Studienplätze
freigeblieben sind. Ich stelle aber die von Ihnen ge-
nannte Zahl infrage. Mir ist diese Zahl nämlich nicht zu-
gänglich. Ich gebe allerdings zu, dass es letztendlich un-
besetzt gebliebene Studienplätze gegeben hat. Aber es
ist doch logisch, dass so etwas passiert ist und passieren
wird, wenn der Zugang zu den Universitäten von diesen
geregelt wird. Ich möchte – es ist meine feste Überzeu-
gung, dass das der richtige bildungspolitische Weg ist –,
dass sich Studenten ihre Universitäten aussuchen können
und Universitäten ihre Studenten.


(René Röspel [SPD]: Wer will das denn nicht?)


Der vorliegende Antrag der Grünen lässt sich knapp
zusammenfassen: Probleme werden dort erzeugt, wo
vorher keine waren, und dafür Lösungen feilgeboten,
welche das Potenzial besitzen, ernste Verwerfungen her-
beizuführen. Sie werden sehen, dass sich das vermeintli-
che Problem ohne politischen Interventionismus, ohne
Hyperaktivität und Firlefanz fast von alleine durch die
betroffenen Akteure bewältigen lässt.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr habt nichts dazugelernt!)


Es gibt Situationen, in denen die Politik gehalten ist,
die Beine still und den Ball flach zu halten. Genau dies
ist solch ein Fall. Deswegen können wir diesen Antrag
nur ablehnen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: War nicht ganz falsch!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622211600

Swen Schulz spricht jetzt für die Fraktion der SPD.


(Beifall bei der SPD)


Swen Schulz (SPD):
Rede ID: ID1622211700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege
Meinhardt, so kommen wir, glaube ich, nicht zusammen.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt! – Patrick Meinhardt [FDP]: Ich will auch nicht mit Ihnen zusammenkommen!)


Bei der Vergabe von Studienplätzen herrscht leider – da
haben die Grünen vollkommen recht – schon seit langem
ein Durcheinander und ein ziemlich heftiges Hickhack
darüber, wie dieses Problem gelöst werden kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich will jetzt darauf verzichten, die Schuldfrage zu er-
örtern. Das führt nicht weiter. Aber eines ist klar, und
darüber sollten wir uns hier alle einig sein: So wie es ist,
darf und kann es nicht bleiben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wie ist die Situation? Die Hochschulen haben die
Freiheit, nach eigenen Kriterien Studierende zuzulassen.
Der Abiturnotendurchschnitt ist nicht mehr das einzige
Kriterium, wie es früher der Fall war, sondern es sind
auch andere Kriterien anwendbar. So können gewichtete
Schulnoten, Bewerbungsgespräche und Vorqualifikatio-
nen einbezogen werden. Das hat Vorteile. Ich bin nach
wie vor der Überzeugung, dass der simple Abiturnoten-
durchschnitt den Menschen, ihren Fähigkeiten und ihren
Leistungen nicht gerecht wird und diese nicht vernünftig
abbildet.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Doch das Fehlen jeder Steuerung bei der Studien-
platzvergabe, Herr Meinhardt, resultiert in der Praxis im
blanken Chaos. Die Bewerberinnen und Bewerber müs-
sen sich mühsam Informationen darüber beschaffen,
welche Unterlagen sie bei den einzelnen Hochschulen
einzureichen haben und welche Kriterien diese über-
haupt anwenden. Sie bewerben sich an mehreren Hoch-
schulen, weil sie nicht sicher sein können, dass sie an der
von ihnen bevorzugten Hochschule tatsächlich genom-
men werden. Da die Hochschulen unterschiedliche Zeit-
abläufe und Fristen haben – wie es jedenfalls bisher der
Fall war –, wissen die Bewerberinnen und Bewerber
nicht, ob sie die Zusage einer Hochschule annehmen sol-
len, wenn sie noch auf den Bescheid der von ihnen
bevorzugen Hochschule warten. Die Hochschulen wie-
derum können sich nicht sicher sein, ob die Bewerberin-
nen und Bewerber, denen sie eine Zusage geben, tatsäch-
lich das Studium bei ihnen aufnehmen; denn es gibt ja
Leute, die durchaus mehr als eine Zusage erhalten.

Im Resultat bleiben zwischen 10 und 20 Prozent der
Studienplätze unbesetzt. Das muss man sich einmal auf
der Zunge zergehen lassen. Während wir uns mit gro-
ßem Aufwand, viel Engagement und einer Menge finan-
zieller Mittel im Rahmen des Hochschulpaktes daran be-
teiligen, das Angebot an Studienplätzen auszubauen,
bleiben viele Studienplätze unbesetzt, obwohl Leute
dringend auf eine Zusage warten. So können wir mit den






(A) (C)



(B) (D)


Swen Schulz (Spandau)

Menschen nicht umgehen, und so können wir mit der
Zukunft des Landes nicht umgehen. Das muss geändert
werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Früher wurde auf die ZVS geschimpft. Es war die
Rede von Bürokratie und Zentralismus. Heute sind es
andere Begriffe, die im Zusammenhang mit der Studien-
platzvergabe fallen: Pokerspiel, Lotterie, Basar. Diese
Art der Studienplatzvergabe kann angesichts der Tatsa-
che, dass wir einem Fachkräftemangel entgegensehen,
nicht unsere Lösung sein.

Bündnis 90/Die Grünen beantragen nun, dass ganz
schnell etwas gemacht wird, dass ein Staatsvertrag von
Bund und Ländern geschlossen wird und ein neues Ver-
fahren schon zum Sommersemester 2010 in Kraft tritt.
Das wäre natürlich toll;


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir stellen immer tolle Anträge!)


aber es ist unrealistisch. Eine Oppositionsfraktion weist
auf ein bestehendes Problem hin, will es sofort ändern
und hofft auf den Beifall der Bürgerinnen und Bürger;
doch ich fürchte, das ist Augenwischerei. Ich glaube, Sie
wissen ganz genau, dass es so schnell leider nicht geht.
Lassen Sie uns das lieber seriös betrachten.

Nach dem ganzen Theater, das es bei der Suche nach
der richtigen Lösung gegeben hat, ist nun endlich mit
Ländern, Hochschulen und unter Einbeziehung einer
umgestalteten ZVS der Weg gefunden worden, dass zum
Wintersemester 2011/2012 ein sogenanntes dialogorien-
tiertes Serviceverfahren eingeführt wird.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist noch zwei Jahre hin!)


Dieses Verfahren soll dazu dienen, dass Bürokratie abge-
baut wird; es soll transparent und übersichtlich sein, und
alle Beteiligten sollen schnell Klarheit bekommen.


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das sind Vorschläge!)


Leider geht es kaum schneller, weil allein für die Ent-
wicklung der dafür nötigen Software vom Fraunhofer-
Institut schon anderthalb Jahre angesetzt werden. Schon
damit wären wir über der von Ihnen gesetzten Ziel-
marke. Zeit brauchen auch die Entwicklungsphase, die
Prüfung, der Probelauf. Eine vernünftige Einführung des
Verfahrens ist wichtig; denn schließlich soll es gut funk-
tionieren. Ich bin, ehrlich gesagt, froh, wenn es tatsäch-
lich – wie geplant – zum Wintersemester 2011/2012
klappt.

Dieser eingeschlagene Weg macht trotzdem Hoff-
nung, zumal in der Zeit, bis das neue Verfahren greift,
eine Übergangsregelung existieren wird. Die Bewerbe-
rinnen und Bewerber werden nicht hängen gelassen. Für
diese Übergangszeit wird eine Zwischenlösung realisiert
mit einer bundeseinheitlichen Bewerbungsfrist und mit
einer Studienplatzbörse im Internet für noch offene An-
gebote. Der Bund ist mit dabei und übernimmt Verant-
wortung. Das ist auch richtig so. Er trägt auch finanzielle
Lasten: bis zu 15 Millionen Euro. Der Haushaltsaus-
schuss des Deutschen Bundestages hat erst in der letzten
Woche die Mittel für die Entwicklung des Softwaresys-
tems freigegeben.

Wir von der SPD haben dabei – das war uns wichtig –
Bedingungen durchgesetzt. Erstens. Das Bewerbungs-
verfahren muss für diejenigen, die sich um Studienplätze
bemühen, gebührenfrei sein. Wir wollen nicht, dass die
Leute für ihre Bewerbung auch noch Geld zahlen müs-
sen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zweitens. Das angesprochene Übergangsverfahren
muss vernünftig laufen. Die Selbstverpflichtung der
Hochschulrektorenkonferenz muss eingehalten werden.
92 Prozent der Hochschulleitungen haben erklärt, dass
sie sich beteiligen werden.


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Ein Anfang!)


Diese Quote muss mindestens gehalten werden. Wir
werden nicht akzeptieren, dass wir mit großem Aufwand
ein neues System etablieren, die Hochschulen sich aber
hintenrum vom Acker machen.

Ich sage dazu: 92 Prozent der Hochschulen – das ist
gut. Aber es sind nicht 100 Prozent. 8 Prozent fehlen.
Dem Vernehmen nach soll bei der Abstimmung auf der
Mitgliederversammlung der Hochschulrektorenkonfe-
renz unter den 8 Prozent auch eine der großen Universi-
täten gewesen sein.


(Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hamburg!)


Wir werden das genau im Auge behalten. Aus unserer
Sicht ist das ein Hinweis darauf, dass wir eigentlich eine
bundeseinheitliche gesetzliche Regelung benötigen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die jetzige Vereinbarung ist ein guter Weg – zweifels-
ohne. Aber besser wäre ein Bundeszulassungsgesetz, auf
das sich alle dauerhaft verlassen können und bei dem
keiner mehr ausbüxen kann.


(Monika Grütters [CDU/CSU]: Haben Sie schon einmal mit Ihren Länderchefs gesprochen?)


Letztlich muss es uns darum gehen, liebe Frau
Grütters, die Hochschulen für alle zugänglich zu ma-
chen, die willens und in der Lage sind, zu studieren.
Dazu müssen soziale Hindernisse wie etwa Studienge-
bühren aus dem Weg geräumt werden. Es ist völlig uner-
träglich, dass auf der einen Seite der Bund das BAföG
verbessert, um den Studierenden über soziale Hürden
hinwegzuhelfen, und auf der anderen Seite einige Bun-
desländer durch Studiengebühren neue soziale Hürden
aufstellen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Cornelia Hirsch [DIE LINKE] – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das ist unglaublich!)







(A) (C)



(B) (D)


Swen Schulz (Spandau)

Wir brauchen Studienplätze in ausreichender Zahl, damit
die Zulassungsbeschränkungen einmal komplett wegfal-
len. Das muss unser Ziel sein. Dazu benötigen wir ein
vernünftiges Verfahren für die Vergabe von Studienplät-
zen.

Wir wollen nicht, dass der Geldbeutel, der bessere
Anwalt oder vielleicht einfach nur das Glück darüber
entscheiden, ob jemand studieren kann. Wir wollen, dass
alle Menschen den gleichen Zugang zu Bildung haben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622211800

Die Kollegin Cornelia Hirsch spricht jetzt für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Cornelia Hirsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1622211900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Kollegin Sager, in der Problembeschreibung be-
steht auch vonseiten der Linken durchaus Einigkeit. Das
betrifft sowohl die aktuelle Situation an den Hochschu-
len mit dem Bewerbungschaos und mit den Tausenden
unbesetzten Studienplätzen wie auch die bisherige Reak-
tion der Bundesregierung, die zum einen komplett unzu-
reichend ist und zum anderen viel zu spät erfolgte. An
dieser Stelle besteht kein Dissens. Es wird den Interes-
sen der Studienbewerber bestimmt nicht gerecht, wenn
man nach monatelangen Debatten, die einfach nichts be-
wirkt haben, eine Internettauschbörse auf freiwilliger
Basis anbietet. Das kann nun wirklich nicht die Lösung
für das Problem sein.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Was allerdings die Grünen in ihrem Antrag als Lö-
sung vorschlagen, nämlich einen Staatsvertrag abzu-
schließen, halten wir vonseiten der Linken auch nicht für
den praktikabelsten und erfolgversprechendsten Weg.
Wenn wir uns anschauen, welche Lösungen sich aus ei-
ner Diskussion über einen Staatsvertrag ergeben haben,
dann müssen wir sagen, dass es auf die Schnelle keine
wirklich umfassenden und verbindlichen Regelungen
geben wird, auf die man sich verlassen kann. Das ist aus
unserer Sicht nicht der richtige Weg. Vor allen Dingen
wird bei der Lösung des Staatsvertrages komplett über-
sehen, dass der Bund eigentlich viel mehr Möglichkeiten
hätte, im Hinblick auf die Hochschulzulassung tätig zu
werden.

Erinnern wir uns: Im Rahmen der Föderalismus-
reform I wurde in bildungspolitischer Hinsicht sehr gro-
ßer Unfug betrieben. Zumindest wurde festgehalten,
dass die Kompetenzen für die Hochschulzulassung und
die Hochschulabschlüsse beim Bund verbleiben. Das
wäre ein möglicher Ansatzpunkt.

Traurig und zu kritisieren ist aber, dass seit dieser
Entscheidung vonseiten der Bundesregierung auf diesem
Gebiet überhaupt nichts getan wurde. An genau dieser
Stelle müsste man aber ansetzen. Deshalb sagt die Linke
– Kollege Schulz, hier sind wir uns einig –: Es wäre
schön, wenn die SPD eine Initiative auf den Weg brin-
gen würde. Dann wären wir gleich mit dabei.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das habe ich befürchtet!)


Wir brauchen keinen Staatsvertrag, sondern ein Bundes-
gesetz für die Hochschulzulassung. Hier muss etwas ge-
tan werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Mit einem Bundesgesetz könnte man nicht nur das
Zulassungschaos und die Situation, dass viele Studien-
plätze unbesetzt sind, beenden, sondern man könnte
auch viel mehr festschreiben, als es im Rahmen eines
Staatsvertrages jemals möglich wäre. In einem Bundes-
gesetz könnte man zum Beispiel – anders als nur unver-
bindlich an die Länder zu appellieren – die Öffnung der
Hochschulen für Menschen aus dem Bereich der berufli-
chen Bildung regeln. Man könnte für Menschen aus dem
Bereich der beruflichen Bildung den Rechtsanspruch auf
Zugang zur Hochschule schaffen.

Das gilt auch für das Problem der Gebühren. Man
könnte dafür sorgen, dass der Zugang zur Hochschule
bundesweit gebührenfrei ist, damit die Campusmaut Stu-
dieninteressierten ohne Geld nicht den Weg an die Hoch-
schule versperrt.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat das Bundesverfassungsgericht aber leider anders entschieden!)


Sehr geehrte Damen und Herren von der Bundes-
regierung, wenn Sie es schaffen würden, die Mittel für
den Hochschulpakt deutlich aufzustocken, anstatt sie,
wie gerade geschehen, unter Haushaltsvorbehalt zu stel-
len und die Studierenden und Studieninteressierten im
Unklaren zu lassen, dann hätten Sie große Schritte in die
Richtung, in die wir eigentlich gehen müssen, gemacht.
Es sollte unser gemeinsamer Anspruch sein, allen Stu-
dieninteressierten einen Studienplatz zu garantieren. Bis-
her ist vonseiten der Bundesregierung aber leider so gut
wie gar nichts getan worden.

Besten Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622212000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/12476 an den Ausschuss für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung vorgeschla-
gen. – Sie sind damit einverstanden. Dann ist so be-
schlossen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Zugewinnausgleichs- und
Vormundschaftsrechts

– Drucksache 16/10798 –






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 16/13027 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Christine Lambrecht
Joachim Stünker
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Jörn Wunderlich
Jerzy Montag

Es ist verabredet, eine Dreiviertelstunde zu debattie-
ren. – Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
so beschlossen.

Als erstem Redner gebe ich das Wort dem Kollegen
Parlamentarischen Staatssekretär Alfred Hartenbach.

A
Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1622212100


Verehrte Frau Präsidentin! Meine Herren im Präsi-
dium! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Wir bera-
ten heute eine gute und zeitgemäße Änderung des Fami-
lienrechts. Der Gesetzentwurf lässt das Grundprinzip des
Zugewinnausgleichs – darum geht es – unberührt. Die
Einfachheit und Klarheit des Ausgleichsmodus, der für
die Praxis elementar wichtig ist, bleibt erhalten. Der Ge-
setzentwurf sieht allerdings Neuerungen vor, die die
Schwachstellen des geltenden Zugewinnausgleichs be-
seitigen. Dadurch sorgt der Gesetzentwurf für mehr Ge-
rechtigkeit, vor allem nach einer Scheidung.

Die meisten Ehepartner leben im gesetzlichen Güter-
stand. In diesem Güterstand wird der sogenannte Zuge-
winn bei Ende der Ehe ausgeglichen. Das bedeutet, bei
einer Scheidung kann der Ehegatte, dessen Vermögen
während der Ehe einen geringeren Zuwachs erfahren hat
als das des anderen Ehegatten, von diesem einen Aus-
gleich in Geld verlangen. Ziel des Zugewinnausgleichs
ist es, dass beide Eheleute an dem während der Ehe Er-
worbenen gerecht, also grundsätzlich zu gleichen Teilen,
beteiligt werden.

Diese gleichberechtigte Teilhabe der Ehegatten kann
nach geltendem Recht dann nicht vollständig zum Tra-
gen kommen, wenn ein Ehepartner bei der Eheschlie-
ßung mehr Schulden als Vermögen hat. Hier schafft der
Gesetzentwurf Abhilfe. Nach der Neuregelung wird
auch das sogenannte negative Anfangsvermögen berück-
sichtigt und bei der Berechnung des späteren Aus-
gleichsanspruchs in die Bilanz der Ehe eingestellt.


(Beifall bei der SPD)


Dadurch wird auch der zur Schuldentilgung verwandte
Vermögenszuwachs ausgeglichen und der Grundge-
danke des Zugewinnausgleichs konsequent zu Ende ge-
dacht. Das gilt übrigens demnächst auch für die Ehen,
bei denen ein Ehegatte oder beide Schulden in Form ei-
nes Darlehens für die Finanzierung der Studiengebühren
mit in die Ehe bringen. Ich erinnere einmal daran.

Für den ausgleichsberechtigten Ehegatten macht es
keinen Unterschied, ob das während der Ehe erworbene
Vermögen zur Schuldentilgung oder zum Erwerb von
Aktien eingesetzt wird. Allerdings wird der Aus-
gleichsanspruch grundsätzlich auf das vorhandene Ver-
mögen beschränkt. Das bedeutet, grundsätzlich muss
sich kein Ehegatte zusätzlich verschulden, um die Aus-
gleichsforderungen des anderen zu bedienen. Eine Aus-
nahme von diesem Grundsatz gilt allerdings für den Ehe-
gatten, der sein Vermögen zur Schädigung des anderen
Ehegatten verschwendet oder verschenkt hat.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Das wollten wir ja auch so. – Er muss notfalls einen
Kredit aufnehmen.

Künftig werden auch Vermögensverschiebungen zu-
lasten des ausgleichsberechtigten Ehegatten effektiv ver-
hindert.


(Beifall bei der SPD)


Der Gesetzentwurf sieht hierfür folgende Neuerungen
vor: Für die Berechnung der konkreten Höhe der Aus-
gleichsforderung soll künftig bereits der Zeitpunkt der
Zustellung des Scheidungsantrags maßgeblich sein. Bis-
her war dafür erst der spätere Zeitpunkt der Rechtskraft
der Scheidung maßgeblich. In der Zwischenzeit bestand
in der Praxis die Gefahr, dass der ausgleichspflichtige
Ehegatte Vermögen beiseiteschaffte.

Darüber hinaus wird der ausgleichsberechtigte Ehe-
gatte vor Vermögensverschiebungen mit Schädigungsab-
sicht in der Phase zwischen Trennung und Rechtshän-
gigkeit des Scheidungsantrags geschützt. Dies gelingt
durch den zusätzlichen Auskunftsanspruch über das Ver-
mögen zum Zeitpunkt der Trennung. Dadurch ist es dem
ausgleichsberechtigten Ehegatten nunmehr möglich,
Vermögensminderungen zwischen der Trennung und
dem Stichtag für das Endvermögen aufzudecken. Die
damit verknüpfte neue Beweislastregel führt dazu, dass
sich der Ausgleichsschuldner dazu erklären muss, wa-
rum es zu einer Vermögensminderung zwischen Tren-
nung und Stichtag gekommen ist. Das ist auch gerecht.
Denn er, der Ausgleichsschuldner, hat den besseren Ein-
blick in seine Vermögensbewegungen und kann einen
unverschuldeten Vermögensverlust darlegen, während
der andere Ehegatte diese Möglichkeiten eben nicht hat.


(Beifall des Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD])


Schließlich wird es für beide Ehegatten einfacher, die
Zugewinngemeinschaft ohne Auflösung der Ehe zu be-
enden. Der ausgleichsberechtigte Ehegatte soll künftig
seinen Anspruch auf vorzeitigen Zugewinnausgleich un-
mittelbar geltend machen und seinen Geldanspruch im
vorläufigen Rechtsschutz durch Arrest auch direkt si-
chern können. Damit kann der Ehepartner, dem Schaden
droht, mithilfe des Gerichts verhindern, dass der andere
sein Vermögen ganz oder in Teilen beiseiteschafft.

Der Entwurf führt ergänzend die Pflicht ein, bei einer
Auskunft auch Belege über das Vermögen vorzulegen.
Die Reform schafft also ausreichend Schutzvorschriften,
damit der Ausgleichsanspruch eines Ehegatten nicht
durch schädigendes Verhalten des anderen Ehegatten
vereitelt oder geschmälert wird.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach
Ein weiteres wichtiges Anliegen betrifft die Rechtsbe-
reinigung. Die aus dem Jahr 1944 – notabene! – stam-
mende Hausratsverordnung wird der Vergangenheit an-
gehören.


(Beifall des Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD])


Die notwendigen materiell-rechtlichen Regelungen wer-
den in das Bürgerliche Gesetzbuch integriert und zu-
gleich modernisiert.

Der Gesetzentwurf sieht eine weitere wichtige Neue-
rung vor, die allerdings nicht den Zugewinnausgleich be-
trifft, sondern die Verfügung eines Vormunds oder
Betreuers über das Guthaben auf einem Giro- oder Kon-
tokorrentkonto. Bisher musste der Betreuer, der am auto-
matisierten Giroverkehr teilnahm, alles, was über
3 000 Euro ging, genehmigen lassen. Künftig kann er
genehmigungsfrei darüber verfügen. Die Schutzvor-
schriften des Vormundschaftsrechts sind auch ohne die
bisherige Genehmigungspflicht ausreichend, um das
Vermögen von Mündeln und Betreuten vor ungerechtfer-
tigten Abflüssen zu bewahren.

Der Gesetzentwurf sorgt damit vor allem für einen ge-
rechten und effektiven Zugewinnausgleich. Die Reform
soll zum 1. September 2009 in Kraft treten und gleich-
zeitig mit der Reform des Familienverfahrensrechts und
der Reform des Versorgungsausgleichs anwendbares
Recht sein.

Dies ist der vierte Gesetzentwurf zum Familienrecht,
den wir hier behandeln.


(Klaus Uwe Benneter [SPD]: In dieser Legislaturperiode!)


– Ja, in dieser Legislaturperiode. – Ich möchte mich sehr
herzlich bei Ihnen allen bedanken; denn wir haben fast
immer in großer Einmütigkeit gearbeitet. Ich denke, das
wird auch bei der heutigen Abstimmung zum Ausdruck
kommen. Das ist ein gutes Zeichen dafür, dass wir in der
Rechtspolitik wirklich etwas vorangebracht haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


– Ich lobe euch gleich noch viel mehr. Passt mal auf.

Hinzu kommt Folgendes: Heute Morgen hat sich ein
junger Kollege etwas herablassend über Ministerialbe-
amte ausgelassen. Ich denke, diese vier Gesetzentwürfe
zum Familienrecht haben zwei Dinge gezeigt:

Erstens. Ministerialbeamte können sehr gut und ver-
nünftig mitarbeiten.


(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Zuarbeiten!)


– Mitarbeiten! Gut, mein lieber Uwe: Zuarbeiten. – Des-
wegen gilt mein Dank meinen Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeitern im Bundesjustizministerium.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zweitens. Sie alle haben hervorragend mitgearbeitet.
Ich möchte Sie ermuntern, vor allen Dingen Sie, meine
Damen, die Sie einen zweiten Beruf neben dem des Bun-
destagsabgeordneten ausüben – Frau Präsidentin, das
darf ich jetzt noch sagen, oder? –:


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622212200

Vertreter der Bundesregierung dürfen so lange reden,

wie sie wollen. Die Zeit wird später abgezogen.

A
Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1622212300


Sie haben bewiesen, dass das Gerede, Abgeordnete
sollen nur einen Beruf haben, nicht in Ordnung ist.
Durch Ihre fachliche Qualifikation, die Sie, vor allen
Dingen Sie, Frau Granold und Frau Lambrecht, in diese
Debatten eingebracht haben, haben Sie bewiesen, dass es
gut ist, wenn weiterhin eine Verzahnung zwischen Abge-
ordneten und Beruf besteht.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das war nicht gut! Die Redezeit ist schon beendet!)


Kämpfen Sie auch in der nächsten Legislaturperiode da-
für, dass das so bleibt. Ich werde Ihnen dabei freundlich
zuschauen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Job einer Abgeordneten dauert 16 Stunden am Tag!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622212400

Weil die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

ihre Rede zu Protokoll gibt,1) hat jetzt der Kollege Jörn
Wunderlich für die Fraktion Die Linke das Wort.


Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1622212500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der Parlamentarische Staatssekretär Hartenbach hat die
wesentlichen neuen Bestandteile dieses Gesetzentwurfs
zum Familienrecht zutreffend dargelegt. Er hat auch ge-
sagt, dass dies inzwischen das vierte Gesetz in dieser Le-
gislaturperiode ist, mit dem die zum Teil unangenehmen
Nebenfolgen einer Scheidung neu geregelt werden und
versucht wird, die bestehenden Ungerechtigkeiten zu
minimieren. Ich möchte hier nicht nach dem Motto agie-
ren: Es ist schon alles gesagt worden, aber noch nicht
von jedem. Ich könnte im Grunde nur Gesagtes wieder-
holen.

Ich freue mich über die erfolgreichen, sachlichen Be-
richterstattergespräche, auch über das erweiterte Bericht-
erstattergespräch, in dem letztlich die Anträge der Op-
position, egal von welcher Fraktion sie kamen, in den
Gesetzentwurf einflossen. Daher können wir diesem
Gesetzentwurf mit gutem Gewissen zustimmen und fest-
stellen, dass eine deutliche Verbesserung auf den Gebie-
ten des Zugewinnausgleichs und des Vormundschafts-
rechts erreicht worden ist. Hinsichtlich der Konten

1) Anlage 4






(A) (C)



(B) (D)


Jörn Wunderlich
passen wir das Recht ja nur an die tatsächlichen Gege-
benheiten an.

Jetzt habe ich noch knapp vier Minuten Redezeit.
Luftgitarre möchte ich nicht spielen. Ich schenke die
restliche Zeit dem Parlament.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN und der FDP – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber schade! Die Luftgitarre hätte ich mir gern angeguckt!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622212600

Jetzt hat die Kollegin Ute Granold das Wort für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ute Granold (CDU):
Rede ID: ID1622212700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich denke schon, dass wir einige Punkte dieses wichti-
gen Gesetzentwurfs hier erwähnen sollten. Es geht um
ein Thema, das viele Menschen berührt.

Ich danke dem Herrn Staatssekretär ausdrücklich für
die gute Zusammenarbeit, für die Zuarbeit des Justiz-
ministeriums. Ich danke auch dafür, dass Sie erwähnt ha-
ben, dass hier Praktiker am Werk waren. Wenn ein
Gesetz geändert wird, nachdem Praktiker ihren Sachver-
stand eingebracht haben, dann ist das eine gute Sache.
Ich finde, das muss man nicht unbedingt schlechtreden.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Dafür macht man eine Anhörung!)


Herr Staatssekretär – Sie haben es bereits gesagt –,
wir haben in dieser Legislaturperiode vier große Baustel-
len im Familienrecht bearbeitet. Die ersten drei waren
das Unterhaltsrecht, die Strukturreform des Versor-
gungsausgleichs und das Familienverfahrensgesetz. Das
Unterhaltsrecht ist seit dem 1. Januar 2008 in Kraft. Die
beiden anderen Gesetze werden ebenso wie das jetzt zu
behandelnde eheliche Güterrecht, sofern das Haus das
heute beschließt, zum 1. September 2009 in Kraft treten.

Das eheliche Güterrecht ist eine Folgesache im Rah-
men einer Scheidung, die nicht zu vernachlässigen ist,
aber auch ein Rechtsgebiet, in dem sehr viel getrickst
wird. Deshalb haben wir uns berufen gesehen, einige
Korrekturen vorzunehmen, um Ungerechtigkeiten und
Vermögensverschiebungen in Zukunft zu verhindern.
Das ist nicht gänzlich möglich, aber zu einem großen
Teil.

Die Mehrzahl der Eheleute in Deutschland lebt im
Güterstand der Zugewinngemeinschaft. Bei der Schei-
dung wird der Zugewinn ausgeglichen. Das, was die
Eheleute während der Ehezeit erwirtschaftet haben, wird
hälftig geteilt. Hier gilt das sogenannte Stichtagsprinzip.
Die Berechnung ist sehr stark schematisiert, weil der
Güterstand klar und leicht handhabbar getrennt werden
soll. Das hat sich in der Vergangenheit grundsätzlich be-
währt.
Wir wollen mit der jetzigen Reform wesentliche Fehl-
entwicklungen und Ungerechtigkeiten korrigieren. Es
geht zum einen – das wurde schon angesprochen – um
Schulden, die in die Ehe eingebracht werden. Diese wer-
den in Zukunft berücksichtigt. Denn auch der Abbau von
Schulden ist ein wirtschaftlicher Vorteil, ein Vermögens-
zuwachs, an dem der andere Ehepartner teilhaben sollte.
Es geht auch um Vermögensverschiebungen, die in der
Vergangenheit nur schwer von demjenigen, der Ansprü-
che geltend macht, bewiesen werden konnten. Wir ver-
suchen mit diesem Gesetzentwurf, diese Beweisproble-
matik zu beseitigen.

Der Entwurf wurde den Verbänden, den Bundeslän-
dern und den Fachkreisen im November 2008 vorgelegt.
Diese Praxis der Einbindung des außerparlamentari-
schen Bereichs hat sich beim Unterhaltsrecht und beim
Familienverfahrensrecht bewährt. Deshalb wurde auch
hier darauf zurückgegriffen.

Die erste Lesung des Gesetzentwurfes fand im No-
vember 2008 statt. Im Februar 2009 wurde ein soge-
nanntes erweitertes Berichterstattergespräch durchge-
führt. Diese Gespräche haben sich in der Vergangenheit
als sehr praxisorientiert und intensiv dargestellt. Es war
auch hier sehr fruchtbar. Das Ergebnis des Berichterstat-
tergesprächs hat die Koalition dazu veranlasst, einige
wesentliche Änderungen gegenüber dem Regierungsent-
wurf vorzunehmen. Es freut uns insbesondere, dass die
dann folgenden Berichterstattergespräche mit der Oppo-
sition dazu geführt haben, dass wir in diesem Haus heute
– ebenso wie bei anderen Reformen im Familienrecht –
hoffentlich einen einstimmigen Beschluss herbeiführen
können. An dieser Stelle herzlichen Dank dafür!

Im Regierungsentwurf bereits festgelegt und auch in
der Empfehlung des Rechtsausschusses vom Mittwoch
bestätigt ist das sogenannte negative Anfangsvermögen.
Das heißt, wenn ein Ehepartner heute mit Schulden in
die Ehe geht und während der Ehe die Schulden abbaut
und gar noch Vermögen dazu erwirtschaftet, muss das
dem anderen Ehepartner zugute kommen. Das war bis-
lang nicht der Fall. Bislang wurde der Ehepartner bei der
Berechnung des Zugewinns auf null gestellt. Es gab bis-
her kein negatives Anfangsvermögen. Das ist, denke ich,
gut; denn es schafft ein Stück weit Gerechtigkeit.

Eine weitere Regelung ist der Schutz vor Vermögens-
manipulationen. Zukünftig wird sowohl für die Berech-
nung des Zugewinns als auch für die Höhe der Aus-
gleichsforderung der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit des
Scheidungsantrages maßgeblich sein. Damit rentiert es
sich nicht mehr, Vermögensverschiebungen zum Nach-
teil des Ausgleichsberechtigten in der Zeit zwischen der
Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags und der Fällig-
keit der Forderung selbst, also mit Rechtskraft der Schei-
dung, vorzunehmen.

Ich nenne ein Beispiel. Der Mann reicht die Schei-
dung ein – dieses Beispiel kann natürlich auch für eine
Frau gelten – und hat nach der Berechnung einen Zuge-
winn in Höhe von 20 000 Euro. In dem Zeitraum zwi-
schen der Einreichung der Scheidungsschrift und der
Rechtskraft der Scheidung vergehen in der Regel meh-
rere Monate. In dieser Zeit fährt er mit seiner Freundin






(A) (C)



(B) (D)


Ute Granold
in den Urlaub. Das kostet 8 000 Euro. Dann verliert er
noch 12 000 Euro an der Börse. Er hat dann mit Beendi-
gung der Ehe 0 Euro. Das heißt, der Ausgleichsanspruch
der Ehefrau – die Hälfte von 20 000 Euro, sprich
10 000 Euro – steht auf dem Papier, kann aber nicht rea-
lisiert werden. Das kann nicht sein. Deshalb sagen wir:
Für die Berechnung des Ausgleichsforderungsanspru-
ches ist der Zeitpunkt des Scheidungsantrages maßgeb-
lich. Das ist gut so.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben auch festgelegt, dass die Möglichkeit be-
stehen muss, drohenden Vermögensverschiebungen recht-
zeitig Einhalt zu gebieten, indem ein vorzeitiger Anspruch
auf Ausgleich in Form einer sogenannten Leistungsklage
besteht. Bislang war das nur mit einer Gestaltungsklage
möglich. Das war eine Klage auf Beendigung der Zuge-
winngemeinschaft. Heute kann man direkt auf Leistung
klagen. Der Anspruch kann bei einer drohenden illoya-
len Vermögensverschiebung bereits durch Arrest vorläu-
fig gesichert werden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
Ich denke, das haben wir richtig auf den Weg gebracht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Der Ehepartner hat – auch das ist neu – einen Aus-
kunftsanspruch und einen Beleganspruch über die Höhe
des Anfangsvermögens, also das Vermögen, das jeder
Ehepartner hat, wenn er heiratet. Dies ist im Unterhalts-
recht ähnlich.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1622212800
Die Hausratsver-
ordnung aus dem Jahre 1944 wird aufgehoben; die we-
sentlichen Vorschriften werden in das BGB übernom-
men. Hier haben wir auch die Stellungnahmen des
Bundesrates – da gab es einige Korrekturen – berück-
sichtigt. Das Gleiche gilt für die Änderung des Vor-
mundschaftsrechts. Hier geht es darum, dass bei der
Verwaltung von Girokonten durch Betreuer Vereinfa-
chungen im Rechtsverkehr durchgeführt werden.

Wichtig ist auch das Vorsorgeregister, das wir in der
letzten Legislaturperiode auf den Weg gebracht haben.
In diesem Register sind die Vorsorgevollmachten regis-
triert. Nun soll es auch möglich sein, dass Betreuungs-
verfügungen – hier gibt es eine Reihe von Verfügungen –
in das Register aufgenommen werden. Es ist gut, dass
das nun festgelegt wird.

Nach dem von mir schon eingangs erwähnten Be-
richterstattergespräch gab es Ergänzungen, die uns sehr
wichtig sind. Zum einen soll an der bisherigen Kap-
pungsgrenze festgehalten werden. Hier sah der Regie-
rungsentwurf vor, die Ausgleichsforderung auf die
Hälfte des Vermögens des Ehepartners zu begrenzen.
Wir sagen nun, dass das ganze Vermögen für den Aus-
gleichsanspruch haftet. Allerdings muss der Ausgleichs-
verpflichtete nicht ein Darlehen aufnehmen, um die Aus-
gleichsforderung erfüllen zu können. Eine Ausnahme:
Wenn der Pflichtige illoyale Vermögensverschiebungen
vornimmt, dann muss er sich auch gefallen lassen, dass
er die Ausgleichsforderung notfalls mit einem Darlehen
finanzieren muss. Dies fördert den Schutz des Berechtig-
ten.
Das Wichtigste ist die Neuregelung – sie kommt aus
der Praxis –, dass ein Anspruch auf Auskunft über den
Bestand des Vermögens künftig bereits mit der Trennung
der Ehegatten besteht. Das heißt also, dass zum Zeit-
punkt der Trennung Auskunft über den Bestand des Ver-
mögens zu erteilen ist. Dieser Auskunftsanspruch ist mit
der Verpflichtung unterlegt, den Vermögensbestand zu
belegen. Auch das ist eine Regelung, die dem Unter-
haltsrecht entspricht. Damit kann Missbrauch weitestge-
hend verhindert werden.

Natürlich gibt es auch den Fall, dass ein Ehepartner
den Ausstieg aus der Ehe vorbereitet, während der an-
dere Ehepartner noch denkt, alles sei okay. Wenn dann
alles soweit organisiert ist – das Vermögen ist weg-
geschafft, die Konten sind geplündert –, dann sagt dieser
Ehepartner: Jetzt gehe ich aus der Ehe heraus und gebe
Auskunft. In solch einem Fall ist das, was wir jetzt auf
den Weg bringen, nicht ausreichend. Der Gesetzgeber
kann aber auch nicht alles regeln.

Die lange Zeit zwischen Trennung und Scheidungsan-
trag von immerhin einem Jahr – das Zerrüttungsprinzip
besagt, dass man ein Jahr in Trennung leben muss, bevor
die Scheidung eingereicht werden kann – kann nun ge-
nutzt werden, um stichtagsbezogen und -gerecht Aus-
kunft zu verlangen.

Wenn jemand zum Stichtag der Trennung die Aus-
kunft erteilt, er besitze 50 000 Euro, und später, wenn es
zur Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags kommt,
sagt, er besitze 10 000 Euro, dann muss derjenige, der
eine Vermögensminderung darlegt, beweisen, wie es zu
dieser Vermögensminderung kam. Wenn ihm dies nicht
gelingt – es also eine illoyale Vermögensminderung war –,
dann wird er gestellt, als hätte er zum Zeitpunkt der
Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags das Geld noch
besessen. Wenn die Vermögensminderung nicht illoyal
ist, wird anders gerechnet.

Ein Beispiel: Mit der Trennung kauft jemand seiner
Freundin einen Porsche. Dadurch wird das Vermögen
um – ich habe keine Ahnung, was ein Porsche kostet –
70 000 Euro gemindert.


(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Wie viel? Das Dreifache!)


– Weiß ich nicht. Es handelt sich um einen gebrauchten
Porsche, okay? – Das Geld ist dann weg, wenn der
Scheidungsantrag anhängig ist. Wenn er allerdings zwi-
schen Trennung und Rechtshängigkeit des Scheidungs-
antrages durch eine riskante Geldanlage einen Teil sei-
nes Vermögens verliert, dann handelt es sich nach der
derzeitigen Rechtsprechung um keine illoyale Vermö-
gensverschiebung. Demzufolge ist sie dem Ausgleichs-
verpflichteten nicht anzurechnen.

Zusammenfassend möchte ich sagen: Mit diesem Ge-
setz können wir nicht alle illoyalen Vermögensverschie-
bungen und Beweisschwierigkeiten beseitigen. Wir den-
ken aber doch, dass wir Wesentliches ändern konnten
und ein effektives Instrumentarium geschaffen haben,
um nach Beendigung der Ehe einen fairen und interes-
sengerechten Zugewinnausgleich zu gewährleisten.






(A) (C)



(B) (D)


Ute Granold
Ich möchte dem BMJ und den Kolleginnen und Kol-
legen aus den anderen Fraktionen für die konstruktive
Zusammenarbeit bei diesem Gesetzentwurf danken. Ich
würde mich freuen, wenn das Gesetz heute in diesem
Hause einstimmig verabschiedet werden könnte.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622212900

Irmingard Schewe-Gerigk hat jetzt das Wort für

Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die heutige Reform ist überfällig. Die Zahl der Schei-
dungen ist hoch, und nicht immer geht es bei der Tren-
nung fair und transparent zu. Die Leidtragenden sind
überwiegend die Frauen.

„Scheiden soll weniger weh tun“, titelte heute die
tageszeitung. Zumindest finanziell, kann man da nur sa-
gen; denn bisher gab es viele Schlupflöcher, um Vermö-
gen beiseitezuschaffen. Außerdem gab es eine große Un-
gerechtigkeit: Brachte ein Partner hohe Schulden mit in
die Ehe, musste er bei der Scheidung nicht unbedingt ei-
nen entsprechenden Ausgleich zahlen, und das, obwohl
der andere Partner – meist muss man sagen: die Partne-
rin – durch Geld oder Familienarbeit an der Rückzah-
lung der Schulden mitgewirkt hatte. So konnte zum Bei-
spiel der Aufbau einer Selbstständigkeit als
gemeinsamer Lebensgrundlage zum einseitigen Vorteil
werden. Wenn man gleiche Teilhabe am Vermögenszu-
wachs will, muss man aber berücksichtigen, wo der
Startpunkt lag.

Wir haben schon unter Rot-Grün, Herr Staatssekretär,
mit den Vorarbeiten für notwendige Korrekturen begon-
nen. Die Große Koalition hat dieses Vorhaben fortge-
führt. Der Gesetzentwurf, den das Bundesjustizministe-
rium vorgelegt hatte, ging in die richtige Richtung, ließ
aber noch Luft für Verbesserungen. Was sich verbessern
lässt, haben wir in der ersten Debatte im Plenum be-
nannt.

Nach intensiven Berichterstattergesprächen und nach
Gesprächen mit den Sachverständigen – denen ich an
dieser Stelle ebenfalls danken möchte – haben wir uns
beraten. Das Ergebnis, das heute vorgelegt wird, zeigt:
Es hat sich gelohnt, um die bestmögliche Lösung zu rin-
gen. Eine solch offene und konstruktive Zusammen-
arbeit aller Beteiligten würde man sich auch bei anderen
Themen manchmal wünschen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)


Die Reform kommt den finanziell meist schwächerge-
stellten Frauen zugute. Viele Frauen wissen bis heute
weder, was der Ehemann verdient, noch, wie hoch der
Kontostand ist. Die alten Geschlechterrollen sind eben
immer noch sehr lebendig. Dies macht die heutige Re-
form umso notwendiger.

Ansatzpunkte – das wurde gesagt – sind ein besserer
Schutz vor Vermögensmanipulation und die Einbezie-
hung von Anfangsschulden in den Zugewinnausgleich.
Im vorliegenden Gesamtpaket sind mehrere Instrumente
vorgesehen, um im Rahmen des Möglichen vor einer
Aushöhlung des Zugewinnausgleichs zu schützen. Die
Möglichkeiten, bei drohender illoyaler Vermögensverfü-
gung eine vorzeitige Ausgleichszahlung durchzusetzen
und zu sichern, werden verbessert. Die Auskunftsan-
sprüche zur Klärung des Vermögensbestands werden er-
heblich erweitert. Nun können auch Belege wie Konto-
auszüge verlangt werden. Die rückblickende Startbilanz
wird einfacher, Mauscheleien zwischen Trennung und
Scheidung können leichter aufgedeckt werden, und wun-
dersamer Vermögensschwund nach der Trennung – ge-
rade wurde das Beispiel mit dem Porsche genannt –
muss erklärt werden. Die Umkehrung der Beweislast ist
eine gute Lösung, die eine weitere Vorverlegung des
Stichtages für die Abrechnung entbehrlich macht. Durch
die Berücksichtigung getilgter Anfangsschulden wird
der Zugewinnausgleich gerechter.

Für mich war es wichtig, dass die sogenannte Kap-
pungsgrenze für den Ausgleichsanspruch auf null gesetzt
wurde. Ursprünglich war vorgesehen, dass nicht mehr
als die Hälfte des verbleibenden Vermögens für die Aus-
gleichszahlung eingesetzt werden muss. Das war nicht
einzusehen. Nun kann ein Ausgleichsanspruch bis zum
Wert des gesamten restlichen Vermögens realisiert wer-
den. Lediglich neue Schulden muss niemand aufnehmen.

Ich hätte es befürwortet, wenn auch für die aus-
gleichsberechtigte Person eine Billigkeitsklausel einge-
baut worden wäre. Meines Erachtens hätte sich eine eng
formulierte Lösung für etwas mehr Einzelfallgerechtig-
keit finden lassen – der Herr Staatssekretär nickt –, ohne
den bewährten Mechanismus des Zugewinnausgleichs
aufzuweichen. Schließlich gibt es schon eine Billigkeits-
klausel, und zwar für die ausgleichsverpflichtete Person.
Aber dieser Punkt war nicht entscheidend.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mehr Transparenz
und Verwirklichung gleicher Teilhabe, diese Ziele haben
wir erreicht. Die ersten Rückmeldungen aus der Fach-
welt sind sehr positiv. Ich unterstütze allerdings die For-
derung des Deutschen Juristinnenbundes, den gesetzli-
chen Güterstand insgesamt zu ändern. Ich denke, die EU
wird uns demnächst dazu auffordern. Trotzdem ist heute
ein guter Tag, insbesondere für die Frauen. Deshalb
stimme ich dem Gesetzentwurf aus voller Überzeugung
zu.

Ich habe noch etwas Zeit und würde in dieser gerne
darauf eingehen, dass der Herr Staatssekretär mit seiner
letzten Äußerung diejenigen gelobt hat, die neben ihrem
Bundestagsmandat noch einen zweiten Beruf, als An-
wältin, haben. Herr Staatssekretär Hartenbach, ich stelle
mir manches Mal die Frage, wie das gehen kann. Ich übe
mein Mandat als Vollzeitberuf aus. Viele meiner Arbeits-
tage haben 16 Stunden. Ich wüsste nicht, wie ich einen
zweiten Beruf damit in Einklang bringen könnte. Diese






(A) (C)



(B) (D)


Irmingard Schewe-Gerigk
Debatte sollten wir zu einem späteren Zeitpunkt einmal
führen.

Ich danke allen, die an diesem guten Gesetzentwurf
mitgewirkt haben, und sage den Koalitionsfraktionen zu,
dass wir ihn voll unterstützen werden.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622213000

Helga Lopez hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.


Helga Lopez (SPD):
Rede ID: ID1622213100

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Frau Schewe-Gerigk hat eben über die Zahl der Ehe-
scheidungen gesprochen. Laut Statistischem Bundesamt
– ich habe heute einmal nachgesehen – waren das in
2007 rund 187 000, das heißt, in Deutschland wird der-
zeit jede dritte Ehe geschieden.

Die Mehrzahl der Ehepaare lebt nach wie vor im ge-
setzlichen Güterstand, also im Güterstand der Zuge-
winngemeinschaft. Hier sei mir eine persönliche Bemer-
kung gestattet, die ich auch gestern im Ausschuss schon
gemacht habe: Die Zugewinngemeinschaft ist fair bei
Beendigung der Ehe, insbesondere deswegen, weil dann
das in der Ehe zusätzlich erworbene Vermögen fair ge-
teilt wird. Während der Ehe hängt der wirtschaftlich
schwächere Partner aber doch sehr – ich sage es einmal
so – am Tropf des wirtschaftlich stärkeren Partners. Das
liegt daran, dass der gesetzliche Güterstand vereinfacht
ausgedrückt im Grunde genommen eine Gütertrennung
während der Ehe bei Ausgleich des Mehrvermögens am
Ende der Ehe ist.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


Ich persönlich würde mir wünschen, dass in der
17. Legislaturperiode nach dieser wirklich guten Re-
form, durch die der gesetzliche Güterstand deutlich ver-
bessert und deutlich fairer gemacht wird, vielleicht noch
einmal darüber nachgedacht wird, ob nicht auch eine Re-
gelung gefunden werden kann, durch die die Fairness
während der Ehe erhöht wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Als Stichwort – aber auch nur als Stichwort – sei hier der
Güterstand der Errungenschaftsgemeinschaft genannt,
den es ja in vielen anderen europäischen Ländern gibt.

Zurück zum Thema, zum gesetzlichen Güterstand der
Zugewinngemeinschaft. Bei Beendigung der Zugewinn-
gemeinschaft – wir haben das hier jetzt schon mehrfach
gehört – erhält jeder Partner die Hälfte des zusätzlich in
der Ehe erworbenen Vermögens. An diesem Grundsatz
halten wir fest; denn durch ihn wird für einen fairen und
praxistauglichen Ausgleich gesorgt. In der Praxis zeigen
sich aber Gerechtigkeitslücken. Diese werden wir mit
dieser Reform bestmöglich schließen.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU])


Eine Gerechtigkeitslücke ist, dass bei der Berechnung
des Zugewinns Schulden vor der Ehe bislang unberück-
sichtigt geblieben sind. Das ist hier auch schon ausgiebig
erläutert worden. Wir werden sie künftig berücksichti-
gen. Das ist in der Tat gerechter.

Einen besonderen Schwerpunkt legen wir darauf
– auch das wurde ausreichend erläutert –, den schwäche-
ren Partner künftig deutlich besser vor sogenannten il-
loyalen Vermögensverschiebungen zu schützen. Das ge-
lingt uns mit der Fixierung eines festen Zeitpunktes für
die Auskunftspflicht, mit dem der Zeitraum deutlich ver-
kürzt wird, die der stärkere Partner heute noch für diese
illoyalen Transaktionen zur Verfügung hat, mit einer
deutlich verstärkten Auskunftspflicht und mit einer Be-
legpflicht.

Es ist hier auch schon gesagt worden – ich glaube,
von der Kollegin Schewe-Gerigk –, dass nicht etwa die
vermögenden Ehepaare im Besonderen davon profitie-
ren, sondern gerade die vielen Ehepaare, die nicht so viel
Vermögen haben. Denn gerade dort tut es besonders
weh, wenn zwischen der Trennung und der Scheidung
noch mal eben 10 000 Euro beiseitegeschafft werden.
Wie gesagt, wir haben gute Regelungen gefunden, um
hier zu deutlich besseren Ergebnissen zu kommen.

Auch ich will noch einmal den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern des BMJ wie auch den Sachverständigen
im Namen meiner Fraktion herzlich für die erneut exzel-
lente Zuarbeit und Mitarbeit danken. Ganz herzlichen
Dank!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Frau Granold hat schon darauf hingewiesen, dass im
Zuge der Beratungen über viele Teilbereiche intensiv mit
den Sachverständigen diskutiert worden ist. Ich erinnere
mich noch an ein Thema, das wir neben der Härtefall-
klausel auch sehr intensiv erörtert haben, nämlich die
Anrechnung von eheneutralem Erwerb. Die Berichter-
statterinnen und Berichterstatter sind mit den Sachver-
ständigen aber eindeutig zu dem Ergebnis gekommen,
dass wir besser keine Korrekturen vornehmen, weil wir
per se keine Besserstellung und auch keine größere Pra-
xisnähe bei der Bearbeitung hinbekommen.

Über die Aufhebung der Hausratsverordnung und die
Änderungen im Vormundschaftsrecht ist bereits ausgie-
big informiert worden. Ich persönlich freue mich, dass
die Reform des Zugewinn- und Vormundschaftsrechts
zusammen mit der FGG-Reform am 1. September dieses
Jahres in Kraft treten kann. Als Familien- und Frauen-
politikerin freue ich mich ganz besonders, dass auch
diese Reform eine große Bedeutung für die Gleichstel-
lung von Männern und Frauen hat.


(Beifall der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Zwar profitieren noch deutlich mehr Frauen von den
Verbesserungen, aber die Zahl der Männer, die in der
Ehe ganz, teilweise oder zeitweise in die wirtschaftlich






(A) (C)



(B) (D)


Helga Lopez
schwächere Position kommen – etwa während der El-
ternzeit – wächst ständig.

Die Reform trägt maßgeblich dazu bei, dass Partner,
die wegen Kindererziehung, Pflege von Angehörigen
oder Arbeitslosigkeit ganz oder zeitweise in der wirt-
schaftlich schwächeren Position sind, am Ende der Ehe
nicht auch noch ohne wirkliche Hürden über den Tisch
gezogen werden.

Abschließend nochmals ganz herzlichen Dank für die
guten Beratungen innerhalb der Fraktionen.

Die taz titelte „Scheiden soll weniger weh tun“. Eine
Trennung ist fürwahr ein schmerzlicher Vorgang. Damit
hat die taz meines Erachtens ganz recht. Mit dieser Re-
form wird der Vorgang vielen künftig ein bisschen weni-
ger weh tun. Das ist gut so.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622213200

Damit schließe ich die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Zugewinnausgleichs- und Vormundschaftsrechts. Der
Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/13027, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/10798 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzei-
chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der
Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig ange-
nommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen wollen, mögen sich bitte erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetz-
entwurf in dritter Beratung einstimmig angenommen.


(Beifall des Parl. Staatssekretärs Alfred Hartenbach)


Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 23 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick
Döring, Horst Friedrich (Bayreuth), Hans-
Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP

Arbeitsplätze im Transportgewerbe sichern –
Mauterhöhung bis Ende 2009 aussetzen
– Drucksache 16/12731 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss

Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sind zu
Protokoll gegeben. Es handelt sich um die Reden der
Kolleginnen und Kollegen Wilhelm Josef Sebastian,
Uwe Beckmeyer, Jan Mücke, Lutz Heilmann und
Dr. Anton Hofreiter.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/12731 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein-
verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

Lintner, Eckart von Klaeden, Klaus Brähmig,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Lothar Mark, Gert
Weisskirchen (Wiesloch), Niels Annen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Eine starke Partnerschaft – Europa und
Lateinamerika/Karibik

– Drucksachen 16/9072, 16/9466 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Niels Annen
Marina Schuster
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller (Köln)


Hierzu ist vorgesehen, eine halbe Stunde zu debattie-
ren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.

Ich gebe als Erstem das Wort dem Kollegen Lothar
Mark für die SPD-Fraktion.


Lothar Mark (SPD):
Rede ID: ID1622213300

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Der Antrag, über den wir heute diskutieren, ist
über ein Jahr alt. Er bezog sich ursprünglich auf das Gip-
feltreffen am 16./17. Mai 2008 in Lima. Wir hatten da-
mals als Themen Armut und soziale Kohäsion sowie die
Förderung einer nachhaltigen Entwicklung in den Berei-
chen Umwelt- und Klimaschutz und im Energiesektor.
Das Ziel war, insgesamt eine stärkere Intensivierung der
Beziehungen zwischen Lateinamerika und der Europäi-
schen Union herbeizuführen. Quasi am Jahrestag dieses
Gipfeltreffens findet nun das Ministertreffen der EU-
Rio-Gruppe in Prag am 13./14. Mai statt. Bei diesem
Treffen wurde gestern der Beschluss gefasst, dass die
Europäische Union und Lateinamerika im Bereich der
erneuerbaren Energien noch intensiver zusammenarbei-
ten und sich gegenseitig fördern sollen. Des Weiteren
wurde der Beschluss gefasst, dass diese beiden Blöcke
die Weltklimakonferenz im Dezember in Kopenhagen
Hand in Hand vorbereiten wollen.

Es gibt ein unendlich breites Feld der Zusammenar-
beit zwischen Lateinamerika und der Europäischen
Union. Die Europäische Union hat einige Aufträge zu

1) Anlage 5






(A) (C)



(B) (D)


Lothar Mark
erledigen, die bisher nicht zu Ende geführt wurden.
Unter anderem verhandeln wir seit vielen Jahren mit
Mercosur, dem Wirtschaftsblock aus Brasilien, Argenti-
nien, Uruguay, Paraguay und neuerdings Venezuela, so-
wie der Andengemeinschaft und den zentralamerikani-
schen Ländern über ein Assoziierungsabkommen bzw.
Abkommen im Handelsbereich. Wir kommen im Grunde
genommen nicht so voran, wie es für beide Seiten von
Vorteil wäre. Ich persönlich bedauere das sehr, weil für
die europäische und insbesondere für die deutsche Wirt-
schaft, aber auch für die lateinamerikanische Wirtschaft
wesentlich mehr erreichbar wäre, als derzeit auf bilatera-
ler Ebene möglich ist.

Ich weise besonders darauf hin, dass die Europäische
Union es in der Phase, in der die Vereinigten Staaten La-
teinamerika nicht so intensiv als Partner ansahen, ver-
säumt hat, in die Lücke hineinzustoßen. Nun hat Präsi-
dent Barack Obama erklärt, dass er mit Zentralamerika
und Südamerika wieder intensiver zusammenarbeiten
wird. Es wird für uns insgesamt schwieriger werden, in
die entsprechenden Bereiche vorzudringen. In den der-
zeit laufenden Verhandlungen über Freihandelsabkom-
men mit Ländern der Andengemeinschaft hat die Euro-
päische Union zudem meines Erachtens den Fauxpas
begangen, mit der Andengemeinschaft nicht mehr en
bloc, sondern nur noch mit Kolumbien, Peru und
Ecuador zu verhandeln. Bolivien hat sich separiert, weil
es mit der Agenda nicht einverstanden ist. Ich denke,
dass es falsch war, dass die Europäische Union, die im-
mer mit Wirtschaftsblöcken und politischen Blöcken
insgesamt verhandeln und deren Integration fördern
wollte, dieses Prinzip verlassen hat. Es wird gesagt, dass,
wenn diese Einzelverhandlungen über ein Wirtschafts-
und Handelsabkommen zu einem Ergebnis kommen,
dieses dann später in einem umfassenden Assoziierungs-
abkommen zusammengeführt werden soll, das von allen
beteiligten Ländern mitgetragen wird. Ich denke, das
wird ein Trugschluss sein. Die Europäische Union als
Block wird mit der Andengemeinschaft auf diesem
Wege nicht weiterkommen.

Die Verhandlungen mit Zentralamerika laufen gut.
Die Verhandlungen mit Mercosur sind auf dem Stand
des letzten und vorletzten Jahres geblieben. Es gibt keine
allzu großen Fortschritte, wenngleich diese dringend
notwendig wären.

Es gäbe zu Lateinamerika und den bilateralen Bezie-
hungen unendlich viel zu sagen,


(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


sowohl zu Brasilien als auch zu Venezuela, zu Bolivien,
zu Kolumbien und zu Kuba. Ich will ein Wort zu Kuba
sagen – ich tue das nicht, um etwa Kuba besonders her-
vorzuheben –: Es ist ermutigend, dass der neue amerika-
nische Präsident zumindest einige Erleichterungen
gegenüber Kuba veranlasst hat. Jetzt können die Exil-
kubaner wieder öfter nach Kuba reisen, und sie dürfen
mehr Geld nach Kuba überweisen. Ich glaube, es wäre
ungemein wichtig – das haben alle übrigen lateinameri-
kanischen Länder auf dem OAS-Gipfel im April in Tri-
nidad und Tobago gefordert –, dass das US-Embargo ge-
gen Kuba aufgehoben wird.

Ich muss meine kurze Rede beenden. Ich bedanke
mich für Ihre Aufmerksamkeit und darf an dieser Stelle
sagen: Das wird aller Wahrscheinlichkeit nach meine
letzte Rede zu Lateinamerika im Deutschen Bundestag
gewesen sein, weil ich nicht wieder kandidieren werde.

Danke.


(Beifall im ganzen Hause – Walter Kolbow [SPD]: Das ist ein wirklicher Verlust! – Klaus Barthel [SPD]: Darf man dann jetzt überhaupt Beifall klatschen?)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622213400

Herr Mark, herzlichen Dank. Der Respekt des ganzen

Hauses für Ihre Arbeit hier im Parlament soll Ihnen ge-
wiss sein.

Als nächste Rednerin rufe ich, weil Marina Schuster
von der FDP-Fraktion ihre Rede zu Protokoll gegeben
hat,1) wegen des Wechsels zwischen Regierung und Op-
position jetzt die Kollegin Monika Knoche für die Frak-
tion Die Linke auf.


(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So schnell kann es gehen!)



Monika Knoche (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1622213500

Frau Präsidentin! Ich bitte um Entschuldigung. Ich

bin hierhergerannt und habe kaum noch Luft. – Herr
Lothar Mark, ich bedauere sehr, dass Sie nicht noch ein-
mal den Weg ins Parlament gewählt haben; denn Sie sind
– das darf ich auch für die anderen Fraktionen sagen – ein
ausgezeichneter Vertreter nicht nur der deutschen Inte-
ressen in Lateinamerika, sondern auch der latein-
amerikanischen Interessen in Deutschland.


(Beifall bei der LINKEN, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


An dem Bericht und der Beschlussempfehlung, die
wir heute diskutieren, ist mir aufgefallen, dass be-
stimmte, ganz wichtige Länder gar nicht genannt sind.
Dazu möchte ich Venezuela, Bolivien, Ecuador und viel-
leicht auch Paraguay zählen, Länder, in denen sich durch
demokratische Wahlen und verfassungsgebende Pro-
zesse, an denen die Bevölkerung teilgenommen hat, her-
vorragende Entwicklungen vollzogen haben. In einer
beispielhaften Weise sind neue Regierungen an die
Macht gekommen, die sich zum Ziel gesetzt haben – ich
nenne das Beispiel Bolivien –, endlich die Rechte der in-
digenen Bevölkerung zu wahren, zu sichern und auszu-
bauen und dieser Bevölkerung die Macht in der Regie-
rung zu geben.


(Beifall bei der LINKEN)


Mein Gespräch, das ich gerade mit dem boliviani-
schen Botschafter geführt habe, hat mir gezeigt, wie
wichtig es ist, dass wir darauf achten, dass diese Länder

1) Anlage 6






(A) (C)



(B) (D)


Monika Knoche
ihre eigenen Entwicklungspotenziale nutzen können und
nicht durch Freihandelsabkommen, von denen das letzte
ohnehin gescheitert ist, daran gehindert werden, eigene
Produktlinien zu entwickeln, die es ihnen ermöglichen,
eine unabhängige Wirtschaft aufzubauen. In diesem Zu-
sammenhang möchte ich erwähnen, dass das internatio-
nale Verbot, Kokapflanzen anzubauen, diesem Land
ganz schweren Schaden zufügt. Sonst könnte das Land
eine Nutzpflanze entwickeln, die ihm zu wirtschaftlicher
Prosperität verhelfen würde. Über eine solche Verände-
rung der Politik muss Deutschland dringend nachden-
ken, gerade auch im Hinblick auf Europa.

Ich kann diesem Antrag überhaupt nicht folgen. Man
setzt auf bilaterale Verträge und erkennt die neue wirt-
schaftliche Realität nicht an. Gewollt wird eben keine
marktradikale, keine neoliberale Ordnung; vielmehr will
man eine Gesellschaft aufbauen, die über das, was wir
als soziale Marktwirtschaft kennen, hinausgeht. Das ist
eine Demokratie, die es zu unterstützen gilt. Deshalb
wundert es mich sehr, dass Sie die Länder in Lateiname-
rika, die diesen demokratischen Weg gehen, hier mit kei-
nem Wort erwähnen.

Ganz wichtig ist mir auch das Thema Klimawandel;
Sie haben es angesprochen. In Ecuador gibt es ein sehr
unterstützenswertes Projekt, den Regenwald nicht aus-
zubeuten und die Ölvorkommen nicht zu nutzen. Die
europäische Seite sollte es unterstützen. Wir sollten un-
ser Know-how dafür zur Verfügung stellen, dass diese
Länder nicht den falschen Weg gehen, die Ressourcen
auszubeuten. Die neue Regierung dort orientiert sich am
Ziel einer nachhaltigen Wirtschaft. Wir müssen sie drin-
gend unterstützen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte auch auf die neue Agentur IRENA hin-
weisen. Sie fördert solche Maßnahmen. Diese Agentur
ist von unserem Abgeordnetenkollegen Hermann Scheer
maßgeblich mit ins Leben gerufen worden. Die Unter-
stützung dieser Agentur ist eine wichtige Hilfe, die wir
im Rahmen von Kooperation, von Entwicklungszusam-
menarbeit geben können.

Eines zum Schluss – die Zeit rast –: Angesichts der
katastrophalen Entwicklungen im Bereich der Bekämp-
fung der Drogenkriminalität in Mexiko sind Deutschland
und andere europäische Länder als die Konsumenten der
illegalisierten Drogen dringend aufgefordert, einmal
gründlich darüber nachzudenken, wie viel Elend, Leid,
Gewalt und Tod der Krieg gegen Drogen in Lateiname-
rika gebracht hat.

Ich vertrete hier die Auffassung: Wir müssen im
nächsten Deutschen Bundestag dringend eine Enquete-
Kommission zur Drogenpolitik mit Blick auf das Pro-
blem der Prohibition einrichten. Dieses Netz von Ge-
walt, Korruption und Menschenrechtsverletzungen, das
sich im Zuge des sogenannten Krieges gegen Drogen
– ich verweise auf den „Plan Columbia“ in Kolumbien –
entwickelt, ist mit einer Politik der Menschenrechte und
der Achtung der indigenen Bevölkerung nicht mehr in
Einklang zu bringen.
Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622213600

Jetzt hat der Kollege Erich Fritz das Wort für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Erich G. Fritz (CDU):
Rede ID: ID1622213700

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Lieber Lothar Mark, es macht immer
Freude, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die wissen,
worüber sie sprechen. Deshalb herzlichen Dank für die
Zusammenarbeit in Sachen Lateinamerika! Es ist schade
für den Deutschen Bundestag, dass du als Abgeordneter
nicht weitermachen wirst.

Man kann unterschiedliche Vorstellungen zu den Ent-
wicklungen in Lateinamerika haben. Das alles mit den
Worten „demokratische und eigenständige Entwicklung“
darzustellen, scheint mir doch etwas einäugig zu sein.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ja!)


Das, was durch die Bilder von Oppositionellen aus
Venezuela zum Ausdruck kommt – man hat dort sozusa-
gen mit der Pistole am Kopf gewählt –, ist meinem Ver-
ständnis von Demokratie genau entgegengesetzt.


(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Das ist das Vorbild von Lafontaine!)


Das ist nicht das, was wir uns wünschen. Die Neigung,
diese Art von Caudillotum in Lateinamerika wieder hof-
fähig zu machen, ist sicher nicht gut für die Zukunft die-
ses Kontinents.


(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Wir bedauern ausdrücklich, dass alle Anstrengungen
zur Integration in Lateinamerika – sowohl in Zentral-
amerika als auch in den Anden als auch in Mercosur –
stecken geblieben sind. Warum sind sie stecken geblie-
ben? Weil sich die Erkenntnis, dass es ein Vorteil für alle
ist, wenn man selbst ein wenig zurücksteckt, für die an-
deren mitdenkt und Nachteile in Kauf nimmt, nicht
durchgesetzt hat. Wir, die Europäische Union, sind für
diese Länder durchaus ein Vorbild, was Integration an-
geht.


(Lothar Mark [SPD]: Ja!)


Man will aber nicht wahrhaben, was es heißt, dass
man von seinen Souveränitätsrechten ein Stück abrücken
muss, dass man auch einmal akzeptieren muss, etwas
hinzugeben, um dem anderen zu helfen. Wie lange hat es
in Mercosur gedauert, bis es zum ersten Mal einen wirk-
lich mickrig ausgestatteten Fonds gab, mit dem kleine-
ren Ländern geholfen werden sollte? Das ist ein Anfang.
Man hat jetzt so etwas wie eine parlamentarische Ver-
sammlung gegründet. Das ist der richtige Ansatz.

Wenn Sie sich aber anschauen, was jetzt während der
Krise in Argentinien geschieht, dann erkennen Sie, dass
es nur zulasten der Nachbarländer, insbesondere der klei-






(A) (C)



(B) (D)


Erich G. Fritz
nen Nachbarländer, geht. Die Schikanen innerhalb einer
Region – etwa zwischen Argentinien und Paraguay –
führen beispielsweise zur Verhinderung des Exports von
Agrarprodukten wie Rindfleisch nach Chile. Paraguay
ist auf diese Exporte aber angewiesen und hat keine an-
dere Möglichkeit, als sie über das Nachbarland zu trans-
portieren.

Dies zeigt, dass das Verständnis davon, dass man den
Wohlstand über eine supranationale Integration gemein-
sam fördern kann, nicht ausgeprägt ist. Immer dann,
wenn es in einer Krise schwierig wird, fällt man leicht in
eine Haltung zurück, die in Lateinamerika dazu geführt
hat, dass Gewalt die Politik bestimmt. Zehn Jahre nach
dem ersten EU-LAK-Gipfel ist es deshalb Auftrag der
europäischen Politik, dafür zu sorgen, dass es nicht zu
Brüchen in den Beziehungen zu diesen Ländern kommt.
Dies muss unabhängig davon geschehen, wo diese ein-
zelnen Länder im Augenblick stehen.

Im Hinblick auf die jetzigen Prozesse – Lothar Mark
hat sie einzeln dargestellt; ich muss sie nicht wiederho-
len – müssen wir alles dafür tun, zur Schaffung mög-
lichst gemeinschaftlicher Initiativen beizutragen und den
Bruch, den es in den Beziehungen zu den Andenstaaten
gegeben hat, zu kitten. Wir müssen die Basis so gestal-
ten, dass die anderen Länder sich schnell wieder an-
schließen. Die Europäer haben in diesen Prozessen
wahrlich viele Angebote zugunsten dieser Länder ge-
macht. Wir überziehen Lateinamerika nicht mit einer
Ideologie und bestimmten Konsensvorstellungen, wie
das andere tun. Wir sind Partner, und als solche werden
wir auch wahrgenommen.

Die Ausrichtung und der Wunsch, dass wir strategi-
scher Partner der Region und auch der großen Länder
– diese wollen natürlich immer besondere Beziehungen
haben – sein sollen, zeigen die enge Verbundenheit im
Denken und in den Werten. Der Glaube, dass die Euro-
päer eine ehrlichere Beziehung zu Lateinamerika als an-
dere Länder auf dieser Welt zu pflegen bereit sind, stellt
für uns eine Chance dar. Sie kann aber nur dann genutzt
werden, wenn auch in Lateinamerika ein Umdenken
stattfindet.

Ich weiß, dass es in unseren Partnerländern viele
Menschen gibt, die daran arbeiten und daran glauben,
dass es nur auf diese Weise geht. Ansonsten würde wie-
derum der Effekt einsetzen, dass man nur den eigenen
Vorteil – auch wenn es sich für den Nachbarn nachteilig
auswirkt – sieht; nach der Argentinienkrise war dies
deutlich zu sehen. In der jetzigen Krise hat weder in
Asien noch in Nordamerika noch in Europa und noch
nicht einmal in Afrika der Protektionismus Einzug ge-
halten. In Lateinamerika dagegen ist das der Fall. Das
sollte uns zu denken geben, da es unmittelbare Folgen
für diejenigen hat, die von der Ausfuhr von Agrarpro-
dukten abhängig sind; an dieser Stelle möchte ich noch
einmal Paraguay nennen.

Das kann uns nicht gleichgültig sein. Deshalb glaube
ich – unabhängig davon, über welchen Antrag wir ge-
rade reden –, dass jetzt eine Welle von Beeinträchtigun-
gen über diese Länder hinwegrollen wird. Die Krise ist
jetzt auch in Lateinamerika angekommen. Wir wissen,
dass wir um die Rohstoffe dieser Regionen einen Wett-
bewerber haben – ich meine China –, dass Indien zuneh-
mend Interesse entfaltet, dass es aber nicht der größte
Wunsch Lateinamerikas ist, solche Beziehungen zu den
asiatischen Ländern zu pflegen. Gerade sich entwi-
ckelnde Länder wie Mexiko und Brasilien sehen China
als Konkurrenten an. Sie sehen das Land nicht nur als
wichtigen Investor, auf den man sich in vielen Bereichen
verlassen kann – das ist ganz unbestritten –, sondern
auch als Wettbewerber. Sie konkurrieren in dem gleichen
industriellen Segment mit diesen beiden großen Län-
dern.

Lassen Sie mich abschließend noch einen Satz zu den
Energiebeziehungen sagen. Wir haben nicht die inten-
sivsten Beziehungen zu den Ölländern und den Gaslän-
dern Lateinamerikas. Was sich dort abzeichnet, ist ein
Beispiel für den inneren Zustand dieser Länder, nämlich
die Unfähigkeit und mangelnde Bereitschaft, Wege zu
finden, die außerhalb der eigenen Vorstellungen liegen,
um dafür sorgen zu können, dass ihre Rohstoffeinkom-
mensbasis erhalten bleibt. Wir erleben jetzt in Venezuela
wie in Mexiko – beides wichtige Länder aufgrund ihrer
Vorräte –, dass die Produktionsraten von Jahr zu Jahr
sinken und dass die Investitionen weit hinter dem zu-
rückbleiben, was notwendig wäre, um auf Dauer die Ba-
sis für diese Volkswirtschaften zu sichern.

Schließlich sollte man sich auch anschauen, wie die
Ölgewinne in Venezuela verteilt werden. Dem Verfah-
ren, dass ein kleiner Anteil im Staatshaushalt landet und
ein großer Anteil zur freien Verfügung des Präsidenten
steht, der darüber nicht rechenschaftspflichtig ist, schon
gar nicht gegenüber dem Parlament, können doch auch
Sie, Frau Knoche, nicht zustimmen.


(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Das ist das Vorbild von Lafontaine!)


Das kann doch kein Vorbild sein für die Art von Partner,
mit denen wir in Lateinamerika zusammenarbeiten wol-
len.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Als Partner kommen vielmehr diejenigen infrage, die
sich bereit erklären, die Idee des freiheitlichen Staates
hochzuhalten. Mit diesen Staaten wollen wir zusammen-
arbeiten; diese Zusammenarbeit muss sich für sie dann
auch deutlich vorteilhaft auswirken.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622213800

Die Kollegin Ute Koczy hat jetzt das Wort für Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622213900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auch ich möchte für die Grünen unser Bedauern aus-
sprechen, dass Herr Mark uns verlässt. Auch ich habe
ihn im Rahmen der südamerikanischen Partnerschafts-
gruppen kennen- und schätzen gelernt. Ich bedauere es
sehr, nicht mehr weiter mit ihm hier im Bundestag disku-






(A) (C)



(B) (D)


Ute Koczy
tieren zu können. Ich wünsche ihm natürlich viel Glück
und viel Erfolg auch außerhalb der Politik.

Meine Damen und Herren, die letzte große Debatte zu
Lateinamerika hier im Haus liegt schon ein Jahr zurück.
Seitdem ist eine ganze Menge in Bewegung geraten. Vor
einem Jahr – wir erinnern uns – verhalfen die hohen
Rohstoffpreise den lateinamerikanischen Staaten zu
neuer Handlungsfähigkeit und großem Selbstbewusst-
sein. Ein Jahr später sind die Rohstoffpreise gefallen,
und alle Länder sind in den Sog der weltweiten Rezes-
sion geraten.

Wer hätte aber vor einem Jahr gedacht, dass ein neuer
US-Präsident den Beginn einer neuen Kuba-Politik ein-
läuten würde oder – auch das ist neu – dass Präsident
Chávez gerne ein Freund des US-Präsidenten sein
möchte? Wir wissen natürlich: Diese Entwicklungen
sind nicht der strategischen Partnerschaft zwischen der
EU und Lateinamerika zu verdanken. Schade eigentlich,
denn die EU steht weiterhin nur am Spielfeldrand. Sie
schaut nur zu, wie sich die Beziehungen zwischen La-
teinamerika und Asien bzw. den USA entwickeln. Ich
befürchte, die EU wird auch später noch am Spielfeld-
rand stehen und sich wundern, wenn sich die Beziehun-
gen zwischen Washington und den Staaten der Region
verändert haben. Dann wird sich die EU fragen, warum
man all das verpasst hat.


(Lothar Mark [SPD]: Leider hast du recht! – Zuruf des Abg. Erich G. Fritz [CDU/CSU])


– Diese Zustimmung überrascht mich jetzt. Aber der
Kollege hat, wie ich meine, auch recht.

Eigentlich wollte die EU ja die regionale Integration
stärken und biregionale Assoziierungsabkommen ab-
schließen, also Abkommen, bei denen es nicht nur um
Freihandel, sondern auch um politischen Dialog, Ent-
wicklungszusammenarbeit und Menschenrechte gehen
sollte.


(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das ist auch das Ziel!)


Man wollte zeigen, dass die EU anders reagiert als die
USA. Doch wir mussten registrieren: Die guten Vorsätze
sind schnell über Bord gegangen. Kolumbien und Peru
konnten sich nicht mit Bolivien und Ecuador einigen;
das wurde schon gesagt. Man gab dann dem dringenden
Wunsch Kolumbiens nach und einigte sich darauf, die
Handelsfragen bilateral zu behandeln, und zwar nur die
Handelsfragen. Das heißt, es fehlt ein ganz gewaltiger
Bestandteil, den die EU eigentlich auch in die Abkom-
men integriert sehen wollte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das bedauert niemand mehr als wir!)


Da fragen wir jetzt: Wo ist denn die europäische Stra-
tegie gegenüber Lateinamerika? Der US-Kongress hat
wegen der desaströsen Menschenrechtslage in Kolum-
bien ein Freihandelsabkommen mit diesem Land blo-
ckiert. Aber wir Europäer verhandeln weiter über ein
Abkommen, das keinen Bezug zu Menschenrechtsstan-
dards hat, ja noch nicht einmal eine Demokratieklausel
enthält. Entspricht das dem viel beschworenen Werte-
fundament der EU? So darf es doch nicht weitergehen.
Hier hat Frau Merkel falsch verhandelt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube nicht, dass wir Kolumbien einen Vertrag
an die Hand geben, mit dem die Regierung dann nach
dem Motto hausieren gehen kann: Schaut mal her, wenn
selbst die Europäer mit uns einen Freihandelsvertrag ab-
schließen, kann es doch mit den Menschenrechten bei
uns nicht so schlimm bestellt sein.

Es wurde schon darauf hingewiesen: Gestern haben
sich in Prag die EU-Außenministerinnen und -minister
mit ihren Kolleginnen und Kollegen aus Lateinamerika
und der Karibik getroffen. Sie haben beraten, welche ge-
meinsamen Antworten sie geben. Es klingt gut, wenn
man sich dabei auf erneuerbare Energien konzentriert.
Aber die Verpflichtungen sind vage; es gibt nur ein un-
verbindliches Dokument. Man merkt ganz deutlich, dass
die Außenminister nicht begriffen haben, dass es jetzt ei-
nen Stopp bei den fossilen Energieträgern und eine Stor-
nierung der Atomverträge mit Brasilien geben muss.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Monika Knoche [DIE LINKE])


Es gibt Bausteine in der Region; Kollegin Knoche hat
darauf hingewiesen. Die von den Grünen angeregte und
vom Parlament gemeinsam unterstützte ITT-Initiative ist
ein positiver Vorschlag. Schade, dass wir es versäumt
haben, auf EU-Ebene solche hervorragenden Beispiele
zu unterstützen und zu forcieren.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622214000

Niels Annen hat das Wort für die SPD-Fraktion.


Niels Annen (SPD):
Rede ID: ID1622214100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich freue mich darüber, dass bezüglich der Einschätzung
dieses wichtigen Kontinents in dieser Debatte viele über-
einstimmende Punkte festzuhalten sind. Deswegen habe
ich mein Manuskript an meinem Platz gelassen. Statt der
ursprünglich geplanten Rede möchte ich – nachdem wir
heute in diesem Parlament schon eine wichtige Debatte
zum Thema „60 Jahre Grundgesetz“ hatten – auch in Be-
zug auf Lateinamerika etwas zur Frage der Demokratie
sagen.

Kollege Fritz, sosehr ich Ihnen zustimme, dass es die
eine oder andere Entwicklung gibt, die uns besorgt stim-
men muss – Venezuela ist ein Beispiel, aber auch andere
Länder, die in der Debatte genannt worden sind –, bin
ich doch der Meinung, dass wir die großartige Leistung
Lateinamerikas in den letzten Jahrzehnten hervorheben
sollten. Denn dieser Kontinent, der in weiten Teilen be-
herrscht war von Militärdiktaturen, hat es geschafft, die
Epoche der Diktaturen nachhaltig hinter sich zu lassen,






(A) (C)



(B) (D)


Niels Annen
auch wenn nach wie vor unglaubliche soziale Gegen-
sätze existieren, soziale Spannungen, Unterschiede zwi-
schen Arm und Reich – bis hin zu anderen Problemen,
die uns Sorgen bereiten und die wir miteinander bespre-
chen müssen: nämlich Korruption, Drogenhandel, auf
den Sie hingewiesen haben, die Zersetzung ganzer Ge-
sellschaften durch den „narcotráfico“.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


An dieser Stelle sollte auch darauf hingewiesen wer-
den, dass auf einige der aufgrund der Finanzkrise und
der Fehlentwicklungen an den internationalen Märkten
bestehenden Probleme, über die wir in Deutschland zur-
zeit mit großer Intensität diskutieren, in einigen Ländern
Lateinamerikas in gewisser Weise in Form einer – man
muss es fast so nennen – revolutionären politischen Ent-
wicklung bereits reagiert worden ist. Viele Regierungen
in wichtigen lateinamerikanischen Ländern sind abge-
wählt worden. Traditionelle Partner, auch der Sozialde-
mokratie und der Christdemokratie, sind als politische
Parteien, als Bewegung quasi von der Bildfläche ver-
schwunden. Deswegen sollten wir in dieser Zeit, in der
wir über grundlegende Konsequenzen aus den Fehlent-
wicklungen auf den internationalen Märkten reden, un-
seren Blick auch einmal nach Lateinamerika wenden
und schauen, welche Reaktionen es dort bei der Zivilge-
sellschaft und der Politik gegeben hat.

Wir sind uns in diesem Hause nicht immer einig hin-
sichtlich der Entwicklungen in Lateinamerika. Es ist
schwierig, in einer relativ kurzen Debatte das Bild eines
gesamten Kontinents zu entwerfen. Lateinamerika ist
sehr vielfältig, und es gibt diverse und zum Teil auch wi-
dersprüchliche Entwicklungen. Aber eines ist, glaube
ich, klar: Die Menschen in Lateinamerika haben die de-
mokratischen Freiheiten nicht nur zu schätzen gelernt,
sondern sie haben sich auch, zum Teil unter großen per-
sönlichen Risiken und zu einem hohen Preis, dafür ein-
gesetzt, dass ihre Länder weiterhin demokratisch regiert
werden. Auf der anderen Seite haben die Menschen
deutlich gemacht, dass sie nicht mehr bereit sind, die Art
und Weise zu akzeptieren, in der die internationale Ge-
meinschaft ihnen in den letzten Jahrzehnten über Instru-
mente des Internationalen Währungsfonds oder auch der
Weltbank ohne Sensibilität für die sozialen Probleme in
vielen Bereichen eine bestimmte Politik aufgezwungen
hat.

Bei allen Schwierigkeiten – Frau Knoche hat in einer
positiven Konnotation über Venezuela geredet; Herr
Fritz hat dies in einer etwas kritischeren Art und Weise
getan – bin ich der Überzeugung, dass wir mit diesen
Regierungen und mit diesen Bewegungen im Gespräch
bleiben müssen. Die europäische Lateinamerika-Politik
muss sich sehr genau anschauen, was in Trinidad pas-
siert ist. Wir müssen die Signale der neuen amerikani-
schen Administration ernst nehmen. Wir dürfen ihr aber
nicht hinterherlaufen, sondern müssen mit einer eigen-
ständigen und selbstbewussten Politik der lateinamerika-
nisch-europäischen Partnerschaft einen neuen Impuls
verleihen. Das sollten wir alle gemeinsam unterstützen.

Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesem Antrag und
hoffe gleichzeitig, dass dieses Parlament und auch der
neu gewählte Bundestag in der Lage sein werden, mehr
als eine halbe Stunde am Abend über dieses Thema zu
diskutieren, und dass dann alle heute Anwesenden wie-
der dabei sind.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622214200

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An-
trag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD mit dem
Titel „Eine starke Partnerschaft – Europa und Latein-
amerika/Karibik“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9466, den An-
trag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD auf Druck-
sache 16/9072 anzunehmen. Wer stimmt für die Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch die
Koalition und bei Ablehnung durch die Oppositionsfrak-
tionen angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 c auf:

25 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Kultur und Medien

(22. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-
Joachim Otto (Frankfurt), Christoph Waitz,
Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP

Klare Rahmenbedingungen für den dualen
Rundfunk im multimedialen Zeitalter

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar
Bisky, Dr. Petra Sitte, Cornelia Hirsch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Öffentlich-rechtlicher Rundfunk im Digital-
zeitalter

– zu dem Antrag der Abgeordneten Grietje
Bettin, Volker Beck (Köln), Ekin Deligöz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Besondere Rolle des öffentlich-rechtlichen
Rundfunks nach EU-Kompromiss sicher-
stellen

– Drucksachen 16/5959, 16/6773, 16/5424, 16/
7343 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Jörg Tauss
Christoph Waitz
Dr. Lukrezia Jochimsen
Grietje Bettin

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Kultur und Medien






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

(22. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Elke Reinke, Dr. Lothar Bisky, Klaus Ernst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Neuregelung der GEZ-Befreiungstatbestände –
Neuverhandlung des Rundfunkgebühren-
staatsvertrages

– Drucksachen 16/5140, 16/7345 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Jörg Tauss
Christoph Waitz
Dr. Lukrezia Jochimsen
Grietje Bettin

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Kultur und Medien

(22. Ausschuss)


– zu der Unterrichtung durch den Beauftragten
der Bundesregierung für Kultur und Medien

Medien- und Kommunikationsbericht der
Bundesregierung 2008

– zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne-
ten Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Christoph
Waitz, Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP zu der Unterrichtung
durch den Beauftragten der Bundesregierung
für Kultur und Medien

Medien- und Kommunikationsbericht der
Bundesregierung 2008

– Drucksachen 16/11570, 16/12135, 16/12909 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Monika Griefahn
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)

Dr. Lukrezia Jochimsen
Grietje Staffelt

Hier ist interfraktionell vorgeschlagen, die Reden zu
Protokoll zu geben. – Damit sind Sie einverstanden. Es
handelt sich um die Reden der folgenden Kolleginnen
und Kollegen: Reinhard Grindel, Marco Wanderwitz,
Monika Griefahn, Hans-Joachim Otto, Lothar Bisky und
Grietje Staffelt.1)

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf
Drucksache 16/7343. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5959
mit dem Titel „Klare Rahmenbedingungen für den dua-
len Rundfunk im multimedialen Zeitalter“. Wer stimmt
für die Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Gegen-
stimmen der FDP-Fraktion und Zustimmung im übrigen
Haus angenommen.

1) Anlage 7
Unter Buchstabe b der Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/6773 mit dem
Titel „Öffentlich-rechtlicher Rundfunk im Digitalzeit-
alter“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist bei Ablehnung der Fraktion Die Linke und bei
Zustimmung der übrigen Fraktionen angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7343
die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/5424 mit dem Titel „Beson-
dere Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nach
EU-Kompromiss sicherstellen“. Wer stimmt für die Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch
CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen von
Bündnis 90/Die Grünen und bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 25 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Neuregelung der GEZ-
Befreiungstatbestände – Neuverhandlung des Rundfunk-
gebührenstaatsvertrages“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7345, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5140
abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist bei Zustimmung durch CDU/CSU, SPD und
FDP gegen die Stimmen der Linken und bei Enthaltung
von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 25 c. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Kultur und Medien auf Druck-
sache 16/12909. Der Ausschuss empfiehlt unter Buch-
stabe a seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis des
Medien- und Kommunikationsberichts der Bundesregie-
rung 2008 auf Drucksache 16/11570 eine Entschließung
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist bei Zustimmung von CDU/CSU
und SPD gegen die Stimmen der Fraktionen Bündnis 90/
Die Grünen und Die Linke bei Enthaltung der FDP ange-
nommen.

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Entschließungs-
antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/12135
zu der eben genannten Unterrichtung. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung
durch CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die
Linke angenommen. Die FDP hat dagegen gestimmt.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 28 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Achten
Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebe-
nengesetzes

– Drucksache 16/12593 –






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


– Drucksache 16/13015 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Werner Kammer
Gerold Reichenbach
Christian Ahrendt
Ulla Jelpke
Silke Stokar von Neuforn

Hier haben folgende Kolleginnen und Kollegen ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Jochen-Konrad Fromme,
Maik Reichel, Christian Ahrendt, Ulla Jelpke und Silke
Stokar von Neuforn.


Jochen-Konrad Fromme (CDU):
Rede ID: ID1622214300

Mit dem 8. Änderungsgesetz zum Bundesvertriebenen-

gesetz unterstreichen wir heute am Tag der Debatte um
60 Jahre Grundgesetz die Kontinuität der Verantwortung
Deutschlands für die deutschen Minderheiten und die
Spätaussiedler. Das Bundesvertriebenengesetz bedarf im
nunmehr 57. Jahr seines Bestehens einiger Änderungen,
die der Rechtsklarheit und einer Vereinfachung dienen.
Das wichtige Ziel dabei ist es, das Verfahren zur Ausstel-
lung einer Spätaussiedler- oder Angehörigenbescheini-
gung erheblich zu beschleunigen. Dies ist eine gute Neu-
regelung, denn hierzu werden nach den Vorschlägen des
Bundesinnenministers die Fristen bei der Überprüfung
von Ausschlussgründen verkürzt, und das Verfahren wird
künftig anstatt zwei bis drei Monate regelmäßig nur noch
zwei bis drei Wochen betragen. Damit kann eine Beschei-
nigung als Spätaussiedler oder Angehöriger zügig nach
der Einreise ausgestellt werden.

Mit diesem Gesetz wird zudem die rückwirkende Auf-
hebung von Spätaussiedler- und Angehörigenbescheini-
gungen parallel zur Rücknahme von Einbürgerungen im
Staatsangehörigkeitsgesetz geregelt. Die Rücknahme ei-
ner Bescheinigung wird auf den Zeitraum von fünf Jahren
beschränkt und der Schutz der Ehegatten und Abkömm-
linge des Spätaussiedlers berücksichtigt. Weiterhin wird
die Befristung der vertriebenenrechtlichen Altbescheide
von EU-Bürgern aufgehoben. Kein Betroffener soll auf-
grund einer Befristung veranlasst werden, vorzeitig aus-
zureisen.

Ein weiterer wesentlicher Punkt des Gesetzes ist
schließlich eine effektive Gestaltung der Verwaltungspra-
xis: Das Bundesverwaltungsamt, das bereits jetzt die zen-
trale Behörde im Verfahren zur Aufnahme von Spätaus-
siedlern ist, wird zukünftig ebenfalls für die Erteilung von
Bescheinigungen in Altfällen zuständig. Die Bundeslän-
der werden insofern von parallelen Verwaltungsstruktu-
ren entlastet. Weitaus wichtiger als die Verfahrensbe-
schleunigungen ist aber das politische Bekenntnis
unserer dauerhaften und historischen Verantwortung ge-
genüber den Deutschstämmigen, die in diesem Gesetz
seinen Ausdruck findet.

Denn das Bundesvertriebenengesetz bestätigt im
Grundsatz den bestehenden rechtlichen Rahmen auch für
eine künftige Aufnahme deutscher Spätaussiedler in die
Bundesrepublik Deutschland: Die Tür für die deutschen
Spätaussiedler ist und bleibt offen. Art. 116 des Grundge-
setzes und dessen Ausführungsbestimmungen gelten fort.
Dabei ist es von außerordentlicher Bedeutung, dass wir
uns auch künftig zu einem allgemeinen Kriegsfolgen-
schicksal für die Deutschen aus den Nachfolgestaaten der
Sowjetunion bekennen. Denn eine vollständige Rehabili-
tation dieser Schicksalsgruppe hat bis heute nicht stattge-
funden.

Über drei Millionen deutsche Spätaussiedler sind seit
der Wende in Europa zu uns in die Bundesrepublik
Deutschland eingereist. Die allermeisten von ihnen sind
sehr gut integriert und stellen eine erhebliche Bereiche-
rung unserer insgesamt älter werdenden Gesellschaft dar.
Die jüngste Studie „Ungenutzte Potentiale. Zur Lage der
Integration in Deutschland“ des Berlin-Instituts für Be-
völkerung und Entwicklung hat eindrucksvoll belegt, dass
die Gruppe der Spätaussiedler – im Gegensatz zu den tür-
kischstämmigen Migranten – besonders gut abgeschnit-
ten hat.

Eine deutliche Diskrepanz dazu ergibt sich in der öf-
fentlichen Wahrnehmung, vor allem durch die mediale
Aufbereitung von Straftaten, die die Gruppe dann insge-
samt in ein schlechtes Licht rücken. Dabei belegen solide
Statistiken und Untersuchungen anderes. So hat die
Hamburger Polizeibehörde schon vor einiger Zeit eine
Untersuchung veröffentlicht, die nachweist, dass Spät-
aussiedler keine höhere Kriminalitätsneigung haben als
einheimische Deutsche; häufig ist sogar das Gegenteil
der Fall. Ähnliche Untersuchungen und Ergebnisse gibt
es auch aus anderen Bundesländern. Das alles kann na-
türlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es einen klei-
neren Teil innerhalb der Gruppe gibt, bei dem die Inte-
gration in unsere Gesellschaft bis heute noch nicht gut
funktioniert hat.

Dort, wo Integrationsprobleme bestehen, sind vor al-
lem männliche Jugendliche und junge Erwachsene be-
troffen, die erst in den vergangenen Jahren und häufig ge-
gen ihren Willen zu uns nach Deutschland gekommen
sind. Dort, wo zu geringe Sprachkenntnisse den Weg in
den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt versperren, da ist
auch der Weg in die Gesellschaft versperrt und da treten
fast schon zwangsläufig Probleme zutage.

Ich will offen ansprechen, dass sich in manchen Ge-
meinden, wo wie etwa im niedersächsischen Cloppen-
burg jeder fünfte Einwohner aus einer Spätaussiedlerfa-
milie stammt, eine Parallelgesellschaft gebildet hat. Laut
einer dort tätigen Sozialpädagogin funktioniere das Zu-
sammenleben zwischen Einheimischen und Aussiedlern
nur deshalb, weil sich die Spätaussiedler in einer eigenen
Welt eingerichtet haben. Die deutsche Gesellschaft, der
deutsche Staat dürfen auf gar keinen Fall in dieselbe
Gleichgültigkeit verfallen, wie es in Cloppenburg bereits
der Fall ist. Hier ist die Politik gefordert! Denn nur die
Politik, so das Fazit der besagten Sozialpädagogin,
könne die Parallelgesellschaft von „Russland-Deutschen
und Deutschland-Deutschen“ noch aufbrechen.

Wie sich auch am Beispiel Cloppenburg zeigt, sind und
bleiben die deutschen Sprachkenntnisse das Fundament
für eine erfolgreiche Integration. Den Weg, den die Bun-
desregierung mit dem Nationalen Integrationsplan einge-


(A) (C)



(B) (D)


Jochen-Konrad Fromme
schlagen hat, weist in die richtige Richtung: Die „Aus-
länderpolitik“ soll endlich professionalisiert werden,
wobei die Integrations- und Sprachkurse ein zentrales
Element sind. Die Spätaussiedler haben über Jahrzehnte
in ihren Herkunftsgebieten dafür gelitten, dass sie sich als
Deutsche verstanden und versucht haben, als Deutsche
zu leben. Sie wollen hier unter uns als Deutsche leben;
und so sollten wir ihnen auch begegnen.

Aus zahlreichen Gesprächen mit Spätaussiedlern bin
ich auf zwei Probleme gestoßen, die momentan als die
schwerwiegenden Hindernisse wahrgenommen werden:
zum einen die Anerkennung von im Ausland erworbenen
Berufsabschlüssen und zum anderen die im Rahmen der
Familienzusammenführung aufgetretenen Härtefälle. In
beiden Fällen muss rasch eine Lösung gefunden werden,
was sich die Union auf ihre Fahnen geschrieben hat!

„Integration leidet in Deutschland nicht in erster Linie
an einem Mangel an Angeboten und erst Recht nicht an zu
wenig Regeln und Gesetzen“, äußerte jüngst die Journa-
listin Merle Hilbk, die selbst Nachfahrin von Russland-
Deutschen ist, in einem bemerkenswerten Beitrag in der
„taz“, „sondern,“ so Hilbk weiter, „vor allem an einer
fehlenden Vorstellung davon, wie das gemeinsame Zu-
sammenleben aussehen könnte – einem Leitbild, das dem
Rückzug in Parallelgesellschaften entgegenwirken
könnte“.

Auch wenn es noch so verpönt ist, von Leitbildern zu
sprechen, kommt die deutsche Gesellschaft, vor allem die
deutsche Politik, nicht um diese Diskussion herum.

Ich erinnere an die gewalttätigen Unruhen in den
Vororten von Paris, bei denen vor gerade mal vier Jah-
ren 2 500 Randalierer festgenommen wurden. Heinz
Buschkowsky, der Bürgermeister von Neukölln, Berlins
Zuwandererhochburg, sagte damals, dass die Ausschrei-
tungen in Frankreich ein Hinweis auf das sein könnten,
was uns in 10 bis 15 Jahren drohe. Mehr denn je ist die
Gesellschaft, ist die Politik gefordert, stärkere Integra-
tionsbemühungen umzusetzen. Die heute zu beschlie-
ßende gesetzliche Grundlage ist ein weiterer Schritt in
diese Richtung, und daher bitte ich um Ihre Zustimmung.


Maik Reichel (SPD):
Rede ID: ID1622214400

Wir haben heute über das 8. Gesetz zur Änderung des

Bundesvertriebenengesetzes zu befinden. Die Vertreibun-
gen infolge des Zweiten Weltkrieges sind ein Thema, das
– obwohl seine realen Ereignisse mehr als 60 Jahre zu-
rückliegen – in vielen Aspekten noch Gegenwart ist. Wer
das abstreitet, verschließt die Augen zum Beispiel vor den
vielfältigen Debatten und Reflexionen in unserer gesell-
schaftlichen Öffentlichkeit, ganz unabhängig von Inte-
ressenverbänden oder Parteigruppierungen. In neuen
Buchpublikationen, Filmen, Presseartikeln findet eine
öffentliche Aufarbeitung statt, die sich zunehmend offener
und differenzierter mit diesem Kapitel deutscher und
europäischer Geschichte befasst.

Das Thema Vertreibung betrifft – wie historische Er-
eignisse überhaupt – ja nicht nur die Menschen, die dies
noch selbst unmittelbar erlebt haben, sondern in mancher
Weise die nachfolgenden Generationen, unter anderem
Zu Protokoll
auch Kinder und Enkel der Betroffenen, die sich zum Bei-
spiel mit psychischen Traumata auseinandersetzen müs-
sen. Wie in vielen Aspekten der Aufarbeitung der natio-
nalsozialistischen Vergangenheit können nachfolgende
Generationen mit dem wachsenden zeitlichen Abstand
unaufgeregter, oft genauer und unabhängiger von ideolo-
gischen Frontstellungen die Geschichte aufarbeiten.

Wir haben zum Beispiel in diesem Hause im vergange-
nen Jahr über die Errichtung einer Stiftung „Flucht, Ver-
treibung, Versöhnung“ entschieden. Die Diskussion um
die Gestaltung eines „sichtbaren Zeichens gegen Vertrei-
bungen“ ist noch lange nicht zu Ende – und ebenso das
Bestreben, dies im europäischen Zusammenhang, ge-
meinsam mit unseren betroffenen Nachbarstaaten, zu rea-
lisieren.

Auch das Bundesvertriebenengesetz hat seine Bedeu-
tung nicht verloren. Es hat seit 1953 vielen Millionen
Menschen ermöglicht, nach Deutschland einzureisen und
hier zu leben. Die Zahl der Antragsteller nimmt dabei ste-
tig ab. Waren es im Jahre 2005 noch mehr als 35 000, so
sank die Zahl im Folgejahr bereits auf 7 700, im Jahre
2007 auf knapp 6 000 und im vergangenen Jahr gingen
nur circa 4 400 Anträge ein. Sicher wird sich diese Ten-
denz so fortsetzen. Dennoch stehen wir weiterhin in der
Verantwortung, so wie wir es im Koalitionsvertrag von
SPD und CDU/CSU formuliert haben: „Wir bekennen
uns auch weiterhin zu der Verantwortung sowohl für die-
jenigen Menschen, die als Deutsche in Ost- und Südost-
europa sowie in der Sowjetunion unter den Folgen des
Zweiten Weltkrieges gelitten haben und in ihrer jetzigen
Heimat bleiben wollen, als auch für jene, die nach
Deutschland aussiedeln.“

Ich darf auch besonders die Kulturförderung betonen,
die einerseits der Integration von Millionen Flüchtlingen
und Vertriebenen in unsere Gesellschaft dient, anderer-
seits aber nach 1989 auch neu ausgerichtet wurde. Denn
es gehört zu unserem Selbstverständnis als Kulturnation,
dass das kulturelle Erbe der ursprünglichen Siedlungsge-
biete von Vertriebenen und Aussiedlern bewahrt wird,
ebenso wie die Erinnerung an diese schreckliche Epoche
der Flucht und Vertreibung.

Das Bundesvertriebenengesetz ist im Laufe der Jahre
den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen entspre-
chend angepasst worden. Vor zwei Jahren haben wir hier
über das 7. Änderungsgesetz debattiert. Damals war über
etwa ein Dutzend wesentliche Änderungen zu befinden.
Sie betrafen einerseits die nötigen Anpassungen an die
fortschreitende Erweiterung der Europäischen Union.
Andererseits ging es um die Erweiterung und Modifizie-
rung von Ausschlussgründen für eine Anerkennung nach
dem BVG und um entsprechende Regelungen für eine
Abfrage bei den Sicherheitsbehörden. Zudem wurden
Vereinfachungen und Regelungen für effektivere und un-
bürokratischere Verwaltungsprozesse festgelegt, die zu-
nehmend von den Ländern auf den Bund, das heißt das
Bundesverwaltungsamt, übertragen wurden. Erleichte-
rungen bei der Integration und Regelungen für die jüdi-
sche Zuwanderung gehörten ebenfalls zu den Änderun-
gen, die wir damals hier beschlossen haben.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Maik Reichel
Das heute zum Beschluss vorliegende 8. Änderungsge-
setz ist von geringerem Umfang. Die vorgeschlagenen
Änderungen sollen der Rechtsklarheit und -bereinigung
dienen sowie die Verwaltungspraxis weiter vereinfachen.
In weiten Teilen beziehen sich die Neuregelungen auf eine
Änderung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungs-
gerichts, wonach es nicht dem Grundgesetz, Art. 16
Abs. 1, widerspricht, einem Spätaussiedler und dessen
Angehörigen die Staatsangehörigkeit wieder abzuerken-
nen, wenn diese durch Täuschung oder wissentlich fal-
sche Angaben erworben wurde. Dies kann mit diesem
Gesetzentwurf nunmehr auf fünf Jahre rückwirkend ge-
schehen. Die Antwortfristen der überprüfenden Sicher-
heitsbehörden im Verfahren werden dabei von bisher mit-
unter drei Monaten auf nun drei Wochen verkürzt. Damit
wird für berechtigte Antragsteller schneller Rechtssicher-
heit über ihren Status geschaffen, Unberechtigten kommt
weiterhin ein quasi vorbehaltliches Aufenthaltsrecht zu.
Bei ihnen wird im Verfahren eine Einzelfallprüfung über
ihren Status vorgesehen.

In den Kreis der zu befragenden Institutionen wird
nunmehr auch die Bundespolizei aufgenommen, da sie zu
den zentralen Sicherheitsorganen zählt. Ferner wird die
vor zwei Jahren festgelegte Befristung für die Geltungs-
dauer von Übernahmegenehmigungen und vor 1993 er-
teilten Aufnahmebescheiden wieder aufgehoben. Damit
soll verhindert werden, dass ein Druck zur vorzeitigen
Ausreise bei Personen entstehen könnte, deren Verbleib in
ihren Herkunftsstaaten in unserem Interesse wäre. Beson-
ders sind damit Menschen gemeint, die eine herausge-
hobene Stellung innerhalb der deutschen Minderheit in
diesen Ländern einnehmen.

Der weiteren Effektivität der Verwaltungsprozesse
dient die Neuregelung, dass das Bundesverwaltungsamt
nunmehr auch für die Ausstellung von Altfallbescheini-
gungen zuständig ist und die Länder weiter von unnötigen
parallelen Behördenstrukturen entlastet werden.

Eine zusätzliche Neuregelung betrifft die Erweiterung
von Möglichkeiten für Integrationshilfen. Zukünftig sol-
len die Zusatzangebote der Integrationsmaßnahmen auch
den sogenannten weiteren Familienangehörigen nach § 8
offenstehen. Damit soll die Integration unter Wahrung
der Familieneinheit erleichtert werden.

Mit den in diesem Änderungsgesetz zu beschließenden
durchaus unspektakulären Neuregelungen wird das Bun-
desvertriebenengesetz in der nötigen Weise an die aktuel-
len Bedürfnisse angepasst. Ich denke, dass diese Neu-
regelungen nachvollziehbar und schlüssig sind. Für die
Betroffenen – die Spätaussiedler und ihre Angehörigen –
bedeuten sie weitere Verbesserungen; sie dienen damit
dem sinnvollen Funktionieren des Gesetzes entsprechend
den gesellschaftlichen Anforderungen. Deshalb bitte ich
um Ihre Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf.


Christian Ahrendt (FDP):
Rede ID: ID1622214500

Wir befassen uns heute mit dem Achten Gesetz zur Än-

derung des Bundesvertriebenengesetzes. Im Folgenden
möchte ich vier Aspekte näher beleuchten, weil sie meines
Erachtens besonders wichtig sind.
Zu Protokoll
Es geht um die neu geschaffene Rücknahmevorschrift,
die Verkürzung von Bearbeitungszeiten, die Ausweitung
der Integrationsleistungen sowie die Einbeziehung der
Bundespolizei in die Sicherheitsbehörden, die bereits
nach der siebten Änderung erweiterte Abfragemöglich-
keiten bekamen. Insgesamt enthält der Gesetzentwurf
viele sinnvolle Regelungen, jedoch sind die Informations-
übermittlung an Sicherheitsbehörden und neuerdings die
Erweiterung des Kreises zuständiger Behörden der
Grund, warum die FDP ihre Zustimmung verweigern
muss.

In der Tat ist es gelungen, mit den Änderungen des
Bundesvertriebenengesetzes Rechtsklarheit und Verein-
fachung der Verwaltungspraxis zu bringen. Die nunmehr
geschaffene Regelung zur Rücknahme von Spätaussied-
ler- und Angehörigenbescheinigungen ist zwar bereits im
Staatsangehörigkeitsrecht zu finden, dient jedoch der
Verständlichkeit und ist daher zu begrüßen. Die entspre-
chende Regelung im Staatsangehörigkeitsgesetz hat die
FDP lediglich abgelehnt, weil sie mit einer völlig unnöti-
gen Strafvorschrift verbunden wurde. Dies ist hier glück-
licherweise nicht geschehen.

Die Verkürzung des Verfahrens zur Ausstellung einer
Spätaussiedler- oder Angehörigenbescheinigung von
derzeit zwei bis drei Monate auf zwei bis drei Wochen gibt
nicht nur den Betroffenen schneller Rechtssicherheit,
sondern dient auch der Disziplinierung der Behörden.

In dem Änderungsantrag der Großen Koalition wur-
den zusätzliche Integrationsleistungen für die Familien
einbezogen, was nun auch Gegenstand des Regierungs-
entwurfs ist und voll und ganz zu unterstützen ist. Die
FDP begrüßt ausdrücklich alle Maßnahmen, die zu einer
weiteren Verbesserung der Integration beitragen.

Jetzt ist aber Schluss mit den Lobgesängen. Bedauer-
licherweise enthält der Gesetzentwurf eine Regelung, die
wir schon bei der letzten Änderung des Bundesvertriebe-
nengesetzes gerügt haben. Damals wurden erweiterte Ab-
fragemöglichkeiten für Sicherheitsbehörden zur Feststel-
lung von Ausschlussgründen geschaffen, insbesondere
für die Fälle von Bestrebungen gegen die freiheitlich-de-
mokratische Grundordnung. Nun wird auch noch die
Bundespolizei in den Katalog der zu beteiligenden
Sicherheitsbehörden aufgenommen. In dem begründen-
den Teil des Gesetzentwurfs heißt es, der Entwurf diene
der Rechtsklarheit und -bereinigung. Das hört sich gut
an. Das hört sich harmlos an. Und fast überliest man,
dass jetzt auch die Bundespolizei an dem Informations-
fluss beteiligt werden soll.

Erstens erschließt sich mir nicht die Notwendigkeit ei-
ner solchen Vorschrift. Zweitens kann ich noch weniger
nachvollziehen, warum diese Befugnisse weiter ausge-
dehnt werden. Der unbegründete Verdacht terroristischer
Tendenzen bei Spätaussiedlern wird fortgesetzt, was mir
äußerst befremdlich erscheint. Sie erlauben mir den Hin-
weis darauf, dass laut der Kriminalitäts- und Integra-
tionsstatistiken Spätaussiedler keine besondere Problem-
gruppe darstellen und sich insgesamt gut in unsere
Gesellschaft integrieren. Noch weniger kann man be-
haupten, dass vertriebenenrechtliche Aufnahmeverfah-
ren als Einfallstor für Extremisten und Terroristen gelten.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Christian Ahrendt
Und falls doch, wäre die Bundesregierung schon bei der
letzten Gesetzesänderung in der Pflicht gewesen, zu be-
gründen, wie viele Extremisten oder Terroristen in der
Vergangenheit versucht haben, über das Verfahren nach
dem Bundesvertriebenengesetz Aufnahme in Deutsch-
land zu erlangen.

Es bestehen jedoch keine Zweifel daran, dass der Zu-
zug von Schwerkriminellen gesetzgeberisch verhindert
werden muss. In diesem Zusammenhang möchte sich die
FDP einer vernünftigen Lösung selbstverständlich nicht
verschließen. Allerdings lehnen wir strikt ab, wenn hin-
terrücks Abfragemöglichkeiten und der damit verbun-
dene Ausbau des Informationsaustausches eingefügt
werden. Aus diesen Gründen muss sich die FDP leider
enthalten.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1622214600

Wir beraten heute abschließend den Entwurf für die

8. Änderung des Bundesvertriebenengesetzes. Im Wesent-
lichen geht es dabei um drei Änderungen: die Bundes-
polizei soll in die Sicherheitsüberprüfung von Spätaus-
siedlern miteinbezogen werden. Zugleich werden die
Fristen, innerhalb derer die Sicherheitsbehörden der An-
erkennung der Spätaussiedlereigenschaft widersprechen
können, deutlich verkürzt. Und es wird nun eine gesetzli-
che Grundlage für die Rücknahme der Bescheinigung
über die „Spätaussiedlereigenschaft“ geschaffen.

Lassen Sie mich mit dem letzten Punkt beginnen. Zu-
nächst einmal ist eine gesetzliche Regelung für die Rück-
nahme der Bescheinigung ein Fortschritt gegenüber der
aktuellen Situation. Denn es wird in dieser Frage über-
haupt erst mal eine klare Rechtslage geschaffen. Analog
zum Staatsangehörigkeitsgesetz wird die Möglichkeit der
Rücknahme auf einen Zeitraum von fünf Jahren be-
schränkt. Wir stellen uns allerdings die Frage, warum es
überhaupt eine Regelung zur Rücknahme der Spätaus-
siedlereigenschaft geben muss. Die Bundesregierung
sagt in der Begründung nichts darüber, ob es in der Ver-
gangenheit etwa eine signifikante Anzahl an Bescheini-
gungen gegeben hat, die im Nachhinein umstritten wa-
ren. Die Regelung über den Widerruf der Spätaussiedler-
eigenschaft wurde gleich ganz gestrichen, weil sie nie zur
Anwendung kam. Ob diese neue Regelung je zur Anwen-
dung kommen wird, ist also völlig offen.

Zur Überprüfung durch Polizei und Geheimdienste:
Die Linksfraktion lehnt die pauschale und verdachtsun-
abhängige Durchleuchtung der Spätaussiedler im Rah-
men des Anerkennungsverfahrens generell ab. Nun müs-
sen die Sicherheitsbehörden allerdings wesentlich
schneller ihre Bedenken äußern als nach der alten
Rechtslage. Das finden wir richtig, weil es die Betroffe-
nen entlastet. Allerdings hätten Sie auch hier in der Be-
gründung etwas mehr liefern können, was die bisherigen
Ergebnisse dieser Überprüfungen angeht. Nun soll auch
noch die Bundespolizei beteiligt werden, laut Gesetzesbe-
gründung, um die Übersiedlung von „Schwerkriminellen
und gewaltbereiten Extremisten“ zu verhindern. Damit
wird der Eindruck erweckt, unter den Spätaussiedlern
seien in so großer Zahl Kriminelle und Extremisten, dass
deren ungebremste Einwanderung verhindert werden
Zu Protokoll
muss. Das ist doch wohl eindeutig nicht der Fall. Der ge-
setzgeberische Handlungsbedarf ist nicht überzeugend
dargelegt. Deshalb wird sich die Linksfraktion enthalten.

Ich will noch zu einem Nebenaspekt dieses Gesetzes et-
was sagen. Menschen aus osteuropäischen Staaten konn-
ten sich früher einen Aufnahmebescheid der Bundesrepu-
blik ausstellen lassen, auch wenn sie gar nicht direkt
übersiedeln wollten. Diese Aufnahmebescheide gelten
unbefristet. Da mit der Möglichkeit der Übersiedlung das
Kriegsfolgenschicksal der Betroffenen gelindert werden
sollte, hat der Gesetzgeber 2007 zu Recht gesagt: Wer in
einem EU-Mitgliedstaat lebt, der muss sich bis Ende 2009
entscheiden, ob er nun übersiedeln will oder nicht. Da-
nach verfällt der Bescheid, der die Spätaussiedlereigen-
schaft bestätigt. Ein Kriegsfolgenschicksal muss ja nun
nicht mehr ausgeglichen werden. Aber jetzt, keine zwei
Jahre später, soll diese Befristung wieder aufgehoben
werden.

Die Bundesregierung begründet dieses Ansinnen auf
eine höchst fragwürdige Art und Weise:

… damit hierdurch nicht Personen, deren weiterer
Verbleib in ihren Herkunftsstaaten im Interesse der
Bundesrepublik Deutschland liegt, zu einer vorzei-
tigen Ausreise veranlasst werden. Dies betrifft ins-
besondere Personen, die eine herausgehobene Stel-
lung innerhalb der deutschen Minderheiten im
Herkunftsgebiet haben.

Diese Sätze klingen in meinen Ohren doch sehr nach
„Fünfter Kolonne“ und nach Sicherung von Einfluss in
den osteuropäischen Staaten, indem man die dort leben-
den deutschen Minderheiten instrumentalisiert. Unter
dem Deckmantel des Minderheitenschutzes will man hier
anscheinend einen Fuß in der Tür halten. Das zeigt, dass
die deutsche Politik gegenüber den deutschen Minderhei-
ten in Osteuropa noch immer nicht von den Überresten ei-
ner überkommenen Volkstumspolitik entschlackt ist. Die
Koalitionsfraktionen hätten gut daran getan, solchen
Quatsch aus der Gesetzesbegründung herauszustreichen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir werden den Änderungen im Bundesvertriebenen-
gesetz zustimmen, weil wir eine tatsächliche Verbesse-
rung für die von dem Gesetz betroffenen Menschen sehen.

Die bislang völlig unangemessene Wartezeit von meh-
reren Monaten für die Prüfung der Spätaussiedlerbe-
scheinigungen und der Angehörigenbescheinigungen soll
erheblich verkürzt werden. Wir werden prüfen, ob damit
das im Gesetz angekündigte Ziel, eine verbindliche Ent-
scheidung innerhalb von drei Wochen zu treffen, in der
Praxis wirklich erreicht wird. Insbesondere die Sicher-
heitsbehörden sollten eigentlich in der Lage sein, Sicher-
heitsbedenken innerhalb einer kurzen Frist vorzutragen.
Es kann nicht sein, dass die Sicherheitsüberprüfungen,
die in der Regel ein Routinevorgang sind, zu so erhebli-
chen Verfahrensverzögerungen führen.

Die Aufhebung der Befristung von vertriebenenrecht-
lichen Altbescheiden fordern wir seit langem. Wir begrü-
ßen, dass dies jetzt umgesetzt wird. Ob wir die Regelung



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Silke Stokar von Neuforn
zur Rücknahme der Bescheinigungen wirklich brauchen,
muss die Praxis zeigen. Wir halten sie nicht für erforder-
lich. Das ist für uns aber kein hinreichender Grund, den
Gesetzentwurf abzulehnen.

Entscheidend für unsere Zustimmung ist allerdings der
Änderungsantrag, den die Koalitionsfraktionen noch in
den Innenausschuss eingebracht haben. Wir brauchen
weitere Anstrengungen bei der Integration der Spätaus-
siedler. Es ist nicht vernünftig, einzelne Personen oder
Personengruppen von dem Zugang zu Sprach- und Inte-
grationskursen auszuschließen. Diejenigen, die kommen
und bleiben dürfen, ganz gleich, ob als Spätaussiedler
oder im Rahmen des Familiennachzuges, müssen glei-
chermaßen Zugang zu Integrationsmaßnahmen haben.
Es kann nicht sein, dass in Familienverbünden ein Teil
Deutsch lernen soll und der andere Teil nicht an Deutsch-
kursen teilnehmen darf.

Es ist zu begrüßen, dass wir für die Aufnahme von Spät-
aussiedlern und deren Angehörigen klarere Regelungen
schaffen, dass wir durch die Zusammenfassung von Zu-
ständigkeiten zu einer Verfahrensbeschleunigung kom-
men und den Zugang zu Integrationsmaßnahmen verbes-
sern. Wenn die Große Koalition vernünftige Vorschläge
macht, gibt es keinen Grund, dagegen zu stimmen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622214700

Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss

empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/13015, den Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung auf Drucksache 16/12593 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr
Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Da-
mit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zu-
stimmung der Koalitionsfraktionen und des Bündnis-
ses 90/Die Grünen angenommen. Gegenstimmen gab es
nicht. Enthalten haben sich FDP und Linke.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetz-
entwurf in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmer-
gebnis wie zuvor angenommen.

Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem

(Quedlinburg)

weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Die Bedrohung der Meeresumwelt durch
Unterwasserlärm stoppen

– Drucksachen 16/5117, 16/7168 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Christoph Pries
Angelika Brunkhorst
Eva Bulling-Schröter
Undine Kurth (Quedlinburg)


b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union (21. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Rainder Steenblock,
Undine Kurth (Quedlinburg), Cornelia Behm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Einführung eines Europäischen Tags der
Meere

– Drucksachen 16/8213, 16/12654 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Kurt Bodewig
Michael Link (Heilbronn)

Alexander Ulrich
Rainder Steenblock

Hier haben folgende Kolleginnen und Kollegen ihre
Reden zu Protokoll gegeben: Bernhard Kaster, Ingbert
Liebing, Christoph Pries, Kurt Bodewig, Hans-Michael
Goldmann, Eva Bulling-Schröter und Rainder
Steenblock.


Bernhard Kaster (CDU):
Rede ID: ID1622214800

Bereits vor ziemlich genau einem Jahr haben wir uns

hier im Plenum in erster Lesung mit dem zweiten Teil der
heutigen Tagesordnung, dem Grünen-Antrag für die Ein-
führung eines Europäischen Tages der Meere, näher be-
fasst. Ich will das damals Gesagte an dieser Stelle nur
nochmals kurz skizzieren und mich nicht in Wiederholun-
gen ergehen. Faktum jedenfalls ist und bleibt, auch nach
der Behandlung dieses Antrags in den Ausschüssen: Er
ist natürlich gut gemeint. Indes: Gut gemeint genügt oft-
mals nicht. So verhält es sich auch hier.

Politisch wird – dies ist an dieser Stelle erneut zu unter-
streichen – der allgemeinen Stoßrichtung des Antrags der
Grünen längst gefolgt. Ich verweise in diesem Zusammen-
hang etwa auf die Anstrengungen während der deutschen
EU-Präsidentschaft vor bereits zwei Jahren, als mit der
„Bremer Erklärung zur Zukunft der Meerespolitik in der
EU“ wesentliche Impulse für eine integrierte Meerespolitik
gegeben wurden.

Es folgte dann eine Mitteilung der Europäischen Kom-
mission zur integrierten Meerespolitik der EU mit einer
ganzen Reihe interessanter Anstöße. Die Reihe lässt sich
weiter fortsetzen. Längst werden weitere, ergänzende
Bereiche behandelt, wird die ganze Thematik vertieft,
ergänzt und ausgeweitet. Ganz aktuell etwa hat sich erst
vor wenigen Wochen der Rat der EU-Agrarminister mit
einer Mitteilung der Kommission zur nachhaltigen Zu-
kunft der Aquakultur befasst, zu denen möglicherweise
noch unter tschechischer Präsidentschaft entsprechende
Schlussfolgerungen verabschiedet werden können.

Mit der Vorlage des Grünbuchs der Europäischen Kom-
mission zur Gemeinsamen Fischereipolitik steht zudem
auch dieser für den Zustand der Meere ganz wesentliche


(A) (C)



(B) (D)


Bernhard Kaster
und bekanntermaßen schwierige Bereich vor einer
grundlegenden Neuausrichtung. Die Diskussion im Rat
dazu hat begonnen, und Deutschland wird sich dazu kon-
struktiv einbringen.

Daran zeigt sich: Die von den Grünen eingeforderte Po-
litik für die Meere findet längst statt, in einem umfassen-
den, nachhaltigen Sinne. Auf vielen Ebenen – europäisch,
national, regional, lokal – wird intensiv an einer integrier-
ten und in sich stimmigen Politik für die Zukunft unserer
Meere gearbeitet. Der mit der „Bremer Erklärung“ be-
gonnene Prozess hat eindrucksvoll Gestalt angenommen.

Natürlich betrifft, darüber sind wir in der CDU/CSU-
Fraktion uns völlig im Klaren, vor allem uns Deutsche als
Anrainer von Nord- und Ostsee die Gefährdung der Welt-
meere ganz konkret. Das heißt für uns etwa, insbesondere
das sensible Ökosystem Wattenmeer zu schützen. Zugleich,
das will ich ausdrücklich nochmals für meine Fraktion
hier hervorheben, kommt es ganz entscheidend darauf an,
alle politischen, gesetzgeberischen wie administrativen
Maßnahmen, gleich ob auf europäischer, nationaler oder
regionaler Ebene, stets in Kooperation mit den Bewohnern
der Küsten zu ergreifen. Es sind die Menschen vor Ort,
deren unschätzbares Erfahrungswissen wir uns – und
dies halte ich anlässlich dieser Debatte im europäischen
Maßstab für sinnvoll – zunutze machen müssen.

Keine Frage: Wir dürfen uns nicht auf dem bereits Er-
reichten ausruhen. Die europäische Politik für die Meere,
von Deutschland ganz entscheidend initiiert und weiter
vorangetrieben, muss fortgeführt und ausgestaltet werden.
Genau darauf, auf das konkrete Handeln, die konkrete Tat
im Austausch mit den Menschen vor Ort, die an den Meeren
und vielfach als Fischer auch von den Meeren leben, kommt
es an.


Ingbert Liebing (CDU):
Rede ID: ID1622214900

Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, den wir heute

hier debattieren, ist schon mehr als zwei Jahre alt. Die
seismischen Untersuchungen im Naturschutzgebiet Dog-
gerbank, deren sofortiger Stopp gefordert wird, waren im
Mai 2007 bereits abgeschlossen. Jetzt haben wir Mai 2009.
Auch über den Einsatz von US-Kriegsmarineschiffen mit
Mittelfrequenzsonar in der Ostsee zur Bewachung des im
Juni 2007 stattfindenden G-8-Gipfels in Heiligendamm,
der in dem Antrag kritisiert wird, brauchen wir wohl nicht
mehr zu sprechen. Damit ist der Antrag der Grünen nicht
nur alt, sondern auch veraltet und überholt.

Ebenfalls vor zwei Jahren, am 27. März 2007, haben
die Fraktionen CDU/CSU und SPD in dem gemeinsamen
Antrag „Schutz der Wale sicherstellen“ – Druck-
sache 16/48431 – unter anderem konkrete Maßnahmen
zum verbesserten Schutz aller Walarten, inklusive kleine-
rer Wale und Delfine, gefordert. Hierin wurde besonders
auch vor den negativen anthropogenen Einflüssen wie
zum Beispiel Verschmutzung, Beifang und Lärm gewarnt.
Am 10. Mai 2007 hat der Deutsche Bundestag diesen
Antrag inklusive der Forderung nach einem wirksamen
Monitoring dieser Maßnahmen angenommen. Dies macht
deutlich, dass wir als Koalitionsfraktionen und die Bundes-
regierung das Thema Unterwasserlärm längst aufgegrif-
Zu Protokoll
fen haben und es einer Aufforderung durch die Grünen
nicht bedarf.

Dennoch gibt es durchaus positive Ansätze in dem Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen. Dazu gehören unter anderem
die Forderungen nach einer stärkeren Forschung über
Umweltauswirkungen von Unterwasserlärm. Auch stimme
ich der Entwicklung und Erprobung von Vermeidungs- und
Minimierungsmaßnahmen zu. Das ist auch eine Aufgabe
der europäischen Ebene. Die Bundesregierung hat – nicht
zuletzt aufgrund unseres eben angesprochenen Antrages –
auch diesbezügliche Aktivitäten ergriffen, etwa im Rah-
men des am 10. Oktober 2007 vorgelegten Blaubuchs zur
integrierten EU-Meerespolitik mit dem dazugehörigen
Aktionsplan und im Rahmen der EU-Meeresstrategie-
Richtlinie.

Beim Unterwasserlärm ist eine Vielzahl von Faktoren
zu beachten. Neben militärischen Aktivitäten sind hier
der Schiffsverkehr, der Bau und Betrieb von Offshore-
Windparks, die maritime Erdöl- und Gasförderung und
auch die Sand- und Kiesgewinnung zu nennen. Auch seis-
mische Untersuchungen im Zusammenhang mit maritimen
Erdöl- und Erdgasquellen gehören dazu. Diesen vielfältigen
Faktoren wird man mit Pauschalurteilen nicht gerecht,
wie wir sie im Antrag der Grünen lesen.

Als Beispiel ist hier ihr Wunsch zu nennen, „anthropo-
genen Unterwasserlärm in Schutzgebieten und in hoch-
frequentierten Aufenthaltsgebieten von geschützten mariti-
men Arten nicht mehr zu genehmigen“. Würden wir dieser
Forderung zustimmen, wäre eine Genehmigung von Off-
shore-Windparks in wesentlichen Bereichen der Nord-
und Ostsee ausgeschlossen.

An diesem Beispiel wird die widersprüchliche Politik
der Grünen deutlich. Der erste Offshore-Windpark in der
Nordsee ist in der Amtszeit von ihrem eigenen Bundesum-
weltminister Jürgen Trittin zur Genehmigung vorbereitet
worden. Im Anschluss daran sind genau in den genehmigten
Gebieten FFH-Schutzgebiete ausgewiesen worden. Und
erst jetzt erfolgt die Raumplanung für die AWZ, die eigent-
lich am Anfang hätte stehen müssen: der zweite Schritt vor
dem ersten. Raumplanerisch ist das ein Riesenblödsinn.
Einerseits wollen sie den Ausbau regenerativer Energien,
andererseits behindern sie ihn zum Beispiel durch einen
derartigen Forderungskatalog in ihrem Antrag.

Wenn sie es dennoch tun, können sie kaum Zustimmung
erwarten. Sie setzen sich dann nämlich dem Verdacht aus,
ihre Hausaufgaben nicht ordentlich erledigt zu haben.
Politik muss immer eine Vielzahl unterschiedlicher
Aspekte berücksichtigen und in sich stimmig sein. Ich
weiß, Kompromisse sind nicht immer leicht zu finden,
aber gegensätzliche Forderungen aus der gleichen Frak-
tion werden der Anforderung an eine seriöse Politik nicht
gerecht.

Die Bundesregierung engagiert sich beim Thema Un-
terwasserlärm. Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt sie da-
bei. Das Bundesumweltministerium führt derzeit mehrere
Forschungsaufträge zum Thema Unterwasserlärm durch.
Es laufen Aufträge über die Lärmbelästigung im Zusam-
menhang mit Offshore-Windanlagen. Im Zusammenhang



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Ingbert Liebing
mit Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee arbeiten die
verschiedenen beteiligten Ministerien zusammen.

Darüber hinaus benötigen wir dringend wissenschaftli-
che Grundlagen für fundierte Standards zum Meeresschutz.
Daher unterstütze ich ausdrücklich den Einsatz des BMU
und des Bundesamtes für Naturschutz, mit dem in konkre-
ten Fällen die Lärmbelastungen heimischer Wale bereits
minimiert werden konnten. Dafür können auch neue tech-
nologische Entwicklungen genutzt werden.

Ich hoffe, dass auf der Grundlage der aktuellen wis-
senschaftlichen Forschung so bald wie möglich konkrete
Verbesserungen bei der Lärmbelastung von Walen, insbe-
sondere des heimischen Schweinswales, erreicht werden
können. Dafür sind wir auf einem guten Weg – auch ohne
den längst überholten und veralteten Antrag der Grünen,
den wir nur ablehnen können.


Christoph Pries (SPD):
Rede ID: ID1622215000

Wir diskutieren heute über den Antrag von Bündnis 90/

Die Grünen „Die Bedrohung der Meeresumwelt durch
Unterwasserlärm stoppen“. In dem Antrag wird die Bun-
desregierung aufgefordert, sich national und internatio-
nal für die Bekämpfung der anthropogenen Verlärmung
der Meere einzusetzen. Das Problem ist seit langem be-
kannt und fraktionsübergreifend grundsätzlich wenig um-
stritten. Dies wurde auch in der Debatte zum Walschutz
am 10. Mai 2007 deutlich. Damals haben wir uns ein-
stimmig für einen verbesserten Schutz der Wale ausge-
sprochen.

Unter anderem enthält der damals angenommene An-
trag „Schutz der Wale sicherstellen“ die Forderung an
die Bundesregierung, sich für „konkrete Maßnahmen
zum verbesserten Schutz aller Walarten vor negativen an-
thropogenen Einflüssen, wie zum Beispiel Verschmut-
zung, Beifang oder Lärm“ einzusetzen. Wir unterstützen
diese Forderung, sehen aber auch die Schwierigkeiten
bei der Umsetzung im Rahmen einer „Technischen An-
weisung (TA) Unterwasserlärm“ auf nationaler und im
Rahmen völkerrechtlich bindender Vereinbarungen auf
internationaler Ebene.

Die pauschalen und zum Teil bereits überholten For-
derungen in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
werden der komplexen Problematik nicht gerecht. Darü-
ber hinaus sind einige Forderungen bereits erfüllt wor-
den. Wir lehnen den Antrag daher ab.

Trotzdem möchte ich betonen, dass die zunehmende
Verlärmung der Meere auch für die SPD-Bundestagsfrak-
tion ein wichtiges Thema ist. Wir begrüßen deshalb die
Forschungsförderung des Bundesumweltministeriums
zum Thema Unterwasserlärm. Die Bundesregierung
trägt damit dazu bei, die dringend notwendigen wissen-
schaftlichen Grundlagen für fundierte Standards zu le-
gen. Darüber hinaus begrüßen wir den Einsatz des BMU
und des Bundesamtes für Naturschutz, um in konkreten
Fällen die Lärmbelastungen für die heimischen Wale zu
minimieren, so zum Beispiel beim G-8-Gipfel in Heiligen-
damm – Vermeidung von Sonareinsatz durch amerikani-
sche Kriegsschiffe – oder bei der Minenräumung vor der
Ostseeküste.
Zu Protokoll
Besonders erfreulich ist auch, dass es gelungen ist, auf
der 9. Vertragsstaatenkonferenz der Konvention zum
Schutz wandernder Tierarten (CMS) Anfang Dezember
2008 eine Resolution zum Thema Unterwasserlärm zu
verabschieden. Darüber hinaus werden im Rahmen des
Abkommens zum Schutz der Kleinwale in Nord- und Ost-
see, ASCOBANS, derzeit Leitlinien zur Minderung von
Unterwasserlärm entwickelt, die auf der nächsten Ver-
tragsstaatenkonferenz im Jahr 2010 vorgestellt werden
sollen.

Die SPD-Bundestagsfraktion hofft, dass auf der Grund-
lage der aktuellen wissenschaftlichen Forschung und der
Diskussionen im Rahmen von CMS und ASCOBANS bald-
möglichst konkrete Verbesserungen hinsichtlich der
Lärmbelastung von Walen und insbesondere des heimi-
schen Schweinswales erreicht werden können. Wir unter-
stützen das BMU bei den diesbezüglichen Anstrengungen
auf nationaler und internationaler Ebene.


Kurt Bodewig (SPD):
Rede ID: ID1622215100

Am 20. Mai 2009 feiert der „Europäische Tag der

Meere“ seinen ersten Geburtstag. Dessen Einführung
wurde im letzten Jahr in einer gemeinsamen Dreiererklä-
rung von den Präsidenten der Europäischen Kommis-
sion, des Europäischen Parlaments und des Rates der
Europäischen Union beschlossen und wird nun jedes
Jahr feierlich begangen. Hintergrund ist, Bewusstseins-
bildungs- und Netzwerkaktivitäten zu organisieren, die
den Menschen die Bedeutung der Meere näherbringen
und die Sichtbarkeit maritimer Angelegenheiten in
Europa stärken.

Deshalb ist an der grundsätzlichen Idee der Grünen in
ihrem vorliegenden Antrag nichts auszusetzen. Durch die
Einführung eines „Europäischen Tages der Meere“ in
Deutschland einen konkreten öffentlich wahrnehmbaren
Schritt zu unternehmen, um ein Bewusstsein für das ge-
meinsame maritime Erbe zu schaffen, ist ja grundsätzlich
nicht falsch. Aber ich muss an dieser Stelle fragen, warum
es hier explizit eines deutschen europäischen Tages der
Meere bedarf? Ich denke, dass es nicht zielführend ist in
Zeiten, in denen wir ein gemeinsames Europa anstreben,
in jedem Land einen nationalen Tag zu zelebrieren. Ein
gemeinsamer „Europäischer Tag der Meere“, der euro-
paweit in allen Mitgliedstaaten an vielen Orten begangen
wird, ist nach meiner Ansicht die bessere Lösung. So habe
ich die Freude, am kommenden Dienstag als Chairman
des internationalen „Baltic Sea Forums“ in der Landes-
vertretung Hamburg diesen Tag mit einer Veranstaltung
zum Thema „Die EU-Ostseestrategie – das Meer als
Chance“ zu begehen. Weitere Veranstaltungen anlässlich
des „Europäischen Tags der Meere“ fanden im Vorfeld
und in den Tagen um den 20. Mai allein in Deutschland in
Berlin, Kiel, Hamburg, Rostock und Bremen statt. Warum
sollten wir dies auf eine einzige Bundesveranstaltung ein-
dampfen?

Manche könnten sich fragen, warum ein europäischer
Mitgliedstaat wie beispielsweise Österreich den „Euro-
päischen Tag der Meere“ feiern sollte. Die Antwort da-
rauf ist einfach. Denn der maritime Sektor beschränkt
sich keineswegs nur auf Küstenregionen. Die Zulieferer-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Kurt Bodewig
industrie für die maritime Wirtschaft ist auch weit weg
von den Küsten angesiedelt. Deshalb und weil die Meere
und das maritime Erbe von unschätzbarem Wert für die
Bevölkerung Europas sind, sollte der „Europäische Tag
der Meere“ als europäischer und nicht als nationaler
Feiertag betrachtet werden. Mir gefällt der Gedanke,
dass sich europaweit in den Mitgliedstaaten Veranstal-
tungen mit der Bedeutung der Meere auseinandersetzen
und diese auch der breiten Öffentlichkeit vermitteln.

Denn wir alle sollten die vielfältige Bedeutung der
Meere nicht unterschätzen. Europa ist von 70 000 Kilo-
metern Küste umgeben. Mehr als zwei Drittel seiner
Grenzen sind Küsten, und mehr als 40 Prozent von Euro-
pas BIP wird in Küstenregionen erwirtschaftet. Zudem le-
ben mehr als 50 Prozent der europäischen Bevölkerung in
Küstenregionen. Eine gemeinsame europäische Meeres-
politik ist also wirklich wichtig, wenn Europa weiterhin
so erfolgreich sein möchte, wie es ist. Denn 90 Prozent
des Außenhandels und 40 Prozent des Binnenhandels er-
folgen über den Seeweg. Trotz der aktuellen Finanzkrise
bewältigen europäische Häfen jährlich 3,5 Milliarden
Tonnen Fracht, und etwa 350 000 Menschen sind in der
Hafenwirtschaft beschäftigt. Im Fischsektor sind es wei-
tere 526 000 Arbeitnehmer. Und auch der Küstentouris-
mus bringt jährlich 72 Milliarden Euro in Europas Kas-
sen.

Die Meere und Ozeane haben also eine strategische
Bedeutung für die europäische Wirtschaft. Die unter-
schiedlichen Sektoren Schiffbau und Schifffahrt, Häfen
und Fischerei, Offshoreenergie, Fremdenverkehr, Um-
welt und maritimes Erbe sind jeder für sich von großer
wirtschaftlicher Bedeutung. Ergänzt wird dies durch die
Synergien zwischen diesen Sektoren.

Im Blaubuch der KOM vom 10. Oktober 2007 „Eine
integrierte Meerespolitik für die Europäische Union“
wurde auf die strategische Bedeutung der Meere und
Ozeane für die europäische Wirtschaft hingewiesen. In
Zeiten der Globalisierung, der Finanzkrise und der Pira-
terie, aber auch des technologischen Fortschritts und des
Klimawandels ist eine gemeinsame europäische Meeres-
politik ein Muss.

Ich habe das Gefühl, dass sich auch im technologi-
schen Bereich in den kommenden Jahren einiges bewegen
wird. Die Meere sind ein noch in weiten Teilen unentdeck-
ter Forschungsbereich, und die Potenziale, die die euro-
päischen Mitgliedstaaten hier gemeinsam noch entwi-
ckeln und nutzen können, sind groß. Gerade – aber nicht
nur – für den Bereich der erneuerbaren Energien wird
hier sicher noch ein großer Nutzwert entstehen, der auch
unserem Klima zugutekommen wird. Jeder Mitgliedstaat
für sich wäre wahrscheinlich mit der Ausschöpfung die-
ser Potenziale überfordert. Doch durch die Kombination
ihres Wissens und ihrer Technologien kann Europa wett-
bewerbsfähig sein. Der Zusammenschluss bzw. die Ko-
operation von Universitäten und Unternehmen aus elf
Staaten im Ostseeraum ist ein gutes Beispiel.

Auch für den logistischen Bereich entwickeln sich die
Meere zu einer unverzichtbaren Alternative zur Schiene.
Wie bereits erwähnt, erfolgen 90 Prozent des europäi-
schen Außen- und 40 Prozent des Binnenhandels auf dem
Zu Protokoll
Seeweg. Die Frachtmengen, die an europäischen Häfen
bewältigt werden, sind immens. Dass die Europäische
Union zukünftig verstärkt auf die Schifffahrt setzt, um die
bevorstehenden Verkehrszuwächse ökologisch verträg-
lich und kostengünstig bewältigen zu können, begrüße
ich.

Problembereiche wie der Klimaschutz und der Schutz
der Meeresumwelt und die Bekämpfung von Piraterie las-
sen sich, wie man an der erfolgreichen Arbeit der Orga-
nisation HELCOM im Bereich der Umwelt und der
Atalanta-Mission der Europäischen Union zur Bekämp-
fung der Piraterie vor den Küsten Somalias sieht, am bes-
ten gemeinsam bekämpfen und lösen.

Gerade deshalb plädiere ich noch einmal dafür, den
„Europäischen Tag der Meere“ dort zu belassen, wo er
hingehört: auf der europäischen Ebene. Dort wird er
auch in diesem Jahr in großem Stil begangen. Ich selbst
freue mich sehr darauf, auf der Stakeholder Conference,
die anlässlich dieses Tages am 20. Mai in Rom stattfindet,
zu Gast zu sein. In einer Vielzahl von Paneldiskussionen,
Workshops und Gesprächen, aber auch bei den vielen
Veranstaltungen, die anlässlich des „Europäischen Tages
der Meere“ in ganz Rom stattfinden werden, wird es öf-
fentlichkeitswirksam um die Bedeutung der Meere für
Europa gehen.

Die Meerespolitik ist ein europäisches Anliegen.


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1622215200

Die wirtschaftliche Nutzung der Meere hat stark zuge-

nommen, wobei auch neue Interessen wie Seewindkraft,
Meeresbergbau, Meeresschutzgebiete etc. an Bedeutung
gewinnen. Verschiedene Nutzungsansprüche entwickeln
sich teilweise gegenläufig und geraten in Konkurrenz zu-
einander.

Die FDP-Bundestagsfraktion hat im Februar 2007
eine öffentliche Anhörung zur Meerespolitik der EU
durchgeführt, deren Ergebnisse in unseren Antrag
„Schutz und Nutzung der Meere – Für eine integrierte
maritime Politik“, Drucksache 16/4418, eingeflossen
sind. Nutzung und Schutz müssen sich nicht ausschließen.
Es gilt jeweils eine sinnvolle und vernünftige Abwägung
divergierender Interessen vorzunehmen.

So enthält der Antrag zum Schutz der Meeresumwelt
durch Unterwasserlärm durchaus viel Richtiges. Die
FDP unterstützt sowohl die Forderung nach Verstärkung
der Forschungsanstrengungen als auch die Forderung
nach der Intensivierung der Entwicklung und Erprobung
von Vermeidungs- und Vergrämungsstrategien. Wie sich
aus der Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine
Anfrage „Schutz der Meeresumwelt beim Bau deutscher
Offshore-Windparks“, Drucksache 16/10959, ergibt, be-
steht im Hinblick auf das Ziel Konsens, und es wird auch
schon manches unternommen, um die Meeresumwelt vor
Unterwasserlärm zu schützen. Da der Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen teilweise veraltet ist, enthal-
ten wir uns insoweit der Stimme.

Bei vielen Bürgern ist die dynamische Entwicklung der
Meere und des maritimen Bereichs noch nicht angekom-
men. Vielfach ist noch unklar, welche Bedeutung die



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Hans-Michael Goldmann
Meere haben, dass sie nicht nur für das Weltklima und die
Umwelt insgesamt von entscheidender Bedeutung sind,
sondern auch für unseren wirtschaftlichen Wohlstand.
Während der Nutzen der Meere, der Nutzen ökologisch
intakter Meere immerhin den meisten Menschen an der
Küste schon lange klar ist, haben die Binnenländer hier
noch einiges aufzuholen. Es fängt schon bei etwas so Pro-
fanem an, dass zwei Drittel der Wertschöpfung im Schiff-
bau gar nicht in den Küstenländern, sondern bei Firmen
im Binnenland erfolgen.

Die FDP begrüßt deshalb, dass die EU-Kommission
mit dem 20. Mai den „Europäischen Tag der Meere“ aus
der Taufe gehoben hat. Die Meeresregionen mit ihren
vielfältigen Ökosystemen sind unterschiedlichen Beein-
trächtigungen ausgesetzt. Trotz einiger Erfolge ist der
Schutz der Meere und Küsten nach wie vor eine große He-
rausforderung. Die Schäden, die den Küstenregionen
durch Schadstoffeinträge durch die Flüsse, auch aus dem
Binnenland, zugefügt werden, sind oft irreparabel. Ein
Beispiel ist ein immer noch zu hoher Nährstoff- und
Schwermetalleintrag. Die politische Entscheidungsfin-
dung zum Schutz der Meere kann nur unter der Betrach-
tung des ganzen Ökosystems erfolgen, und dafür bedarf
es eines umfassenden Verständnisses von der Bedeutung
der Meere.

Ein solcher Tag muss mit Leben gefüllt werden, wenn
er einen Sinn ergeben soll. Dieser Tag könnte Anlass für
deutsche Regionen und Städte sein, sich ein Programm zu
überlegen, das einerseits die Bürger aufklärt und ande-
rerseits touristische Akzente setzt. Schulen und Hoch-
schulen könnten ihn künftig sinnvoll begleiten.

Ob es Aufgabe gerade der Bundesregierung ist, ein
Konzept vorzulegen, wie mit einem Tag der Meere ein Be-
wusstsein für das maritime Erbe auch auf europäischer
Ebene geschaffen werden kann – wie dies von den Grünen
gefordert wird –, ist zweifelhaft. Wegen der Kultushoheit
der Länder wäre es sinnvoll, wenn die Bundesländer
Konzepte erarbeiten, wie sie diesen Tag durch entspre-
chende Angebote und Anreize gestalten können. Insofern
enthalten wir uns auch bei diesem Antrag der Stimme.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1622215300

Die Linksfraktion unterstützt den Antrag der Grünen,

der auf einen Vorschlag der Europäischen Kommmission,
des Rates und des EU-Parlaments zurückgeht. Ein „Eu-
ropäischer Tag der Meere“, der festlich begangen wird,
könnte dazu beitragen, ein Bewusstsein für das gemein-
same maritime Erbe zu schaffen.

Ein solches Bewusstsein wäre auch mehr als notwen-
dig. Schließlich ist die Bilanz der menschlichen Eingriffe
in die unterseeische Welt katastrophal. In den letzten hun-
dert Jahren sind die Bestände vieler Fischarten um fast
90 Prozent zurückgegangen, schätzen Wissenschaftler.
Weil sich das Ganze jedoch fernab und unter der Was-
seroberfläche abspielt, wird es für viele Menschen wenig
greifbar. Das ist beispielsweise beim Waldsterben anders.
Lichte Kronen und Mittelgebirge mit Baumstümpfen sind
sichtbar. Sie haben viele Bürgerinnen und Bürger für den
„sauren Regen“ und Luftschadstoffe sensibilisiert. Der
öffentliche Druck war es vor allem, der zur Verschärfung
Zu Protokoll
der entsprechenden Grenzwerte für Industrie- und Ver-
brennungsanlagen geführt hat.

Genau solch ein öffentlicher Druck für den Schutz der
Meere fehlt, wenn man einmal von Walen und Delfinen
absieht. Kabeljau, Sprotte und Tunfisch haben keine
Lobby. Sie werden gnadenlos überfischt. Dabei geht es
nicht nur um den Artenschutz, sondern – wie beim Klima-
schutz – auch um Solidarität. Denn während Millionen
Tonnen wertvoller Meerestiere als Beifänge ungenutzt
und tot über Bord gehen, sitzen Millionen von Küstenbe-
wohnern in Afrika vor leeren Tellern. Die Trawler der
Industriestaaten saugen ihnen die Meere leer, legal und
illegal.

Es geht aber nicht nur um Fische. Das Ökosystem
Meer als Ganzes zu begreifen und endlich behutsam zu
nutzen, das ist die eigentliche Aufgabe, die vor der
Menschheit steht. Schließlich sind die Ozeane neben der
Überfischung auch durch organische Überfrachtung und
Schadstoffeinträge bedroht. Die Überdüngung der Flüsse
aus der Landwirtschaft führt in den Meeren zu gefürchte-
ten Algenblüten. Schwermetalle und hormonelle Stoffe,
neuerdings auch nukleare Belastungen reichern sich in
den Organismen an. Zunehmend wird auch Lärm zu ei-
nem Problem, insbesondere für Großsäuger.

Wie mangelhaft die europäische Meeresschutzpolitik
ist, zeigen Grünbuch und Blue-Paper der EU-Kommis-
sion genauso wie die Entwicklung der europäischen Mee-
resschutzrichtlinie. Die Gesetzgebung und die Zuständig-
keiten in Bezug auf den Meeresschutz bleiben zersplittert.
Ein ganzheitlicher ökosystemarischer Ansatz ist nicht er-
kennbar. Die Ozeane werden vorrangig als Wirtschafts-
gut betrachtet. Meeresschutz ist aber deutlich mehr, als
konkurrierende Nutzungsansprüche aus Fischerei, Berg-
bau, Seefahrt und Tourismus abzugleichen.

Doch noch ein Blick nach vorn, der zeigt, dass sich
moderner Meeresschutz und Meeresnutzung auch gegen-
seitig befruchten können. In Neuseeland waren die
Fischer einst die stärksten Gegner, als es darum ging,
Schutzgebiete einzurichten. Nunmehr gehören die
Fischer zu den Verteidigern dieser ökologischen Oasen.
Die dort rasant anwachsenden Bestände wandern näm-
lich aus den Schutzgebieten aus und füllen wieder die
Netze. Greenpeace und andere fordern seit langem, auch
in anderen Teilen der Welt Meeresschutzgebiete einzu-
richten, in denen Fischerei und Rohstoffabbau verboten
werden. Konkrete Vorschläge gibt es für Nord- und Ost-
see sowie für die außereuropäischen Meere. Vielleicht
kann ein „Europäischer Tag der Meere“ dazu beitragen,
solche Visionen Wirklichkeit werden zu lassen.

Was den zweiten Antrag betrifft, so halten wir den stei-
genden Unterwasserlärm für eine große Bedrohung der
maritimen Lebenswelt. Mit Sicherheit gefährdet er Wale
und Tümmler. Entsprechende Untersuchungen liegen vor.
Deshalb muss die Bundesregierung einerseits national
Maßnahmen gegen anthropogenen Unterwasserlärm er-
greifen und sich andererseits konsequent für internatio-
nale Maßnahmen gegen den Unterwasserlärm einsetzen.
Insbesondere in Schutzgebieten und hochfrequentierten
Aufenthaltsgebieten dieser Tiere müssen Tätigkeiten des
Menschen, die starken Lärm entwickeln, weitgehend ver-



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Eva Bulling-Schröter
boten werden. Das betrifft insbesondere die Sonaraktivi-
täten von U-Booten sowie Sprengungen. Für Deutsch-
land müssen darum seismische Untersuchungen, wie sie
im Naturschutzgebiet Doggerbank stattgefunden haben,
künftig unterbunden werden.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Meere sind für alle Länder Europas von zentraler
ökonomischer und ökologischer Bedeutung: Circa zwei
Drittel der europäischen Außengrenzen werden von Küs-
tenlinien gebildet, 22 der 27 EU-Mitgliedsländer sind In-
sel- oder Küstenstaaten, und die Fläche der EU-Hoheits-
gewässer ist größer als das kontinentale Hoheitsgebiet
der EU. Fast die Hälfte aller EU-Bürger lebt in Küsten-
regionen. Sowohl ihre Lebensqualität als auch ihr Le-
bensstandard sind abhängig vom Zustand der Meere und
einer nachhaltigen Nutzung dieser Ressource. Der Rück-
griffsmöglichkeit auf die Ressource Meer haben wir einen
erheblichen Teil unseres heutigen Wohlstandes auf dem
europäischen Kontinent zu verdanken. Andererseits war
es genau diese Nutzung, die große Teile der sensiblen ma-
ritimen Ökosysteme an den Rand des Zusammenbruchs
gebracht hat. Unsere Meere sehen sich heute mannigfal-
tigen Bedrohungen ausgesetzt: Zunehmende Schadstoff-
und Lärmemission durch die Schifffahrt, eine Überdün-
gung und Überfischung, eine zunehmenden Verbauung
der Küsten etc. haben bereits heute zu teilweise irrepa-
rablen Schäden geführt. Durch die exzessive Nutzung
unserer Meere laufen wir Gefahr, den erst durch sie er-
möglichten Standard einer hohen Lebensqualität zu ge-
fährden.

Mit dem „Europäischen Tag der Meere“ macht die EU
deutlich, dass sie die Herausforderungen, unsere Meere
effektiv zu schützen, erkannt hat und die Herausforderung
ernst nimmt. Der „Europäische Tag der Meere“ ist ele-
mentarer Bestandteil der Strategie für „eine integrierte
Meerespolitik für die Europäische Union“. Diese lässt
sich im gleichnamigen Blaubuch und dem darauf aufbau-
enden Aktionsplan der Kommission vom 10. Oktober
2007 finden. Dort heißt es: Die Stärkung der Wettbe-
werbsfähigkeit, der Schutz der Meeresumwelt und die In-
teressen und Lebensgrundlagen derjenigen, die von der
maritimen Wirtschaft abhängig sind oder an der Küste
wohnen, sollen integrale Bestandteile einer ganzheitli-
chen Betrachtungsweise sein. Dementsprechend enthal-
ten Blaubuch und Aktionsplan folgende Aktionsbereiche:
Optimale Nachhaltigkeit bei der wirtschaftlichen Nut-
zung der Meeresressourcen, Aufbau einer Wissens- und
Innovationsgrundlage, verbesserte Lebensqualität in den
Küstenregionen, Ausbau der Position Europas in den
internationalen Organisationen und Abkommen und grö-
ßere Aufmerksamkeit für ein maritimes Europa in der
Öffentlichkeit.

Um die Bedeutung unserer Meere für unser tägliches
Leben stärker ins Bewusstsein zu rufen und vor allem dem
letzten Punkt, einer größeren Aufmerksamkeit für ein ma-
ritimes Europa, gerecht zu werden, haben Europäische
Kommission, Rat und Parlament vor zwei Jahren den
„Europäischen Tag der Meere“ ins Leben gerufen. Zu-
gleich wurden alle, ich betone, alle Mitgliedstaaten,
Regionen, nichtstaatliche Organisationen, Wissenschafts-
einrichtungen sowie alle Organisationen und Institutio-
nen, die irgendwie mit dem Meer zu tun haben, aufgeru-
fen, sich mit eigenen Aktionen an dem „Europäischen Tag
des Meeres“ zu beteiligen. Dieser Aufforderung sind viele
Mitgliedstaaten, etliche Regionen, unzählige nichtstaat-
liche Organisationen und Wirtschafts- und Forschungs-
einrichten nachgekommen. Auch viele deutsche Bundes-
länder begehen in Kooperation mit Universitäten, Mee-
resforschungsinstituten und Organisationen den „Euro-
päischen Tag der Meere“ am 20. Mai 2009.

Nur die Bundesregierung weigert sich bislang beharr-
lich, einen solchen „Europäischen Tag der Meere“ auch
in Deutschland einzuführen und angemessen zu gestalten.
Das ist mehr als traurig: Als Exportnation haben gerade
wir besonders von der Bedeutung der Meere profitiert.
Gerade wir sind es, die ein besonderes Interesse daran
haben sollten, auch unseren zukünftigen Wohlstand zu
sichern. Womit die Weigerung der Bundesregierung,
einen solchen Tag auch in Deutschland einzuführen, zu
begründen ist, bleibt weiter unklar. Der Hinweis darauf,
man sei nicht imstande, einen solchen Tag in Deutschland
zu begehen, da man sich auf europäischer Ebene so stark
engagiere, ist peinlich und kann wohl kaum der Grund
sein. Für mich bleiben nur zwei mögliche Erklärungen:
Entweder hat die Bundesregierung die Bedeutung der
Meere bisher nicht erkannt, womit sie sich ein Armuts-
zeugnis ausstellen würde –, oder der wahre Grund ist der,
dass es sich nach Meinung der Bundesregierung um die
Initiative einer Oppositionsfraktion handelt, der man
schon aus Prinzip nicht zustimmen will.

Liebe Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregie-
rung, um das noch einmal klarzustellen: Die Annahme,
dass es sich hier ausschließlich um eine Initiative der
Opposition handele, ist falsch. Wir, die Vertreterinnen
und Vertreter der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen
sind es lediglich, die Sie, die Bundesregierung, einmal
mehr an die Bedeutung der Meere für unser Land und die
von Ihnen eingegangenen Verpflichtungen innerhalb der
EU erinnern müssen.

Hiermit fordern meine Fraktion und ich sie noch ein-
mal mit Nachdruck dazu auf, den 20. Mai als den „Euro-
päischen Tag der Meere“ auch in Deutschland einzufüh-
ren und angemessen zu gestalten. Ansonsten läuft die
Bundesregierung nicht nur Gefahr, die gemeinsame Emp-
fehlung der Europäischen Kommission, des Europäi-
schen Parlaments und des Rates der Europäischen Union
vom 14. Dezember 2007 zu missachten, sondern vergibt
zudem die Chance, ein Bewusstsein für das maritime
Erbe auf deutscher und europäischer Ebene zu schaffen
und der Notwendigkeit des Schutzes der Meere den Platz
einzuräumen, welche die Meere als unsere natürliche Le-
bensgrundlage verdienen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622215400

Tagesordnungspunkt 27 a. Wir kommen zunächst zur

Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Naturschutz, Umwelt und Reaktorsicherheit
zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Die Bedrohung der Meeresumwelt durch Un-






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
terwasserlärm stoppen“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7168, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/5117 abzulehnen. Wer stimmt für die Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung
durch die Koalitionsfraktionen und bei Gegenstimmen
des Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die
Linke angenommen. Die FDP hat sich enthalten.

Tagesordnungspunkt 27 b. Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegen-
heiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Einführung
eines Europäischen Tages der Meere“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/12654, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/8213 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfeh-
lung angenommen. Zugestimmt haben die Koalitions-
fraktionen. Dagegen haben die Fraktionen Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Die FDP hat sich
enthalten.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:

Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung
des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhält-
nisse der Helfer der Bundesanstalt Techni-
sches Hilfswerk

– Drucksache 16/12854 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


– Drucksache 16/13016 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Beatrix Philipp
Gerold Reichenbach
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

Petra Pau
Silke Stokar von Neuforn

Hier haben Beatrix Philipp, Gerold Reichenbach,
Hartfrid Wolff, Petra Pau und Silke Stokar von Neuforn
ihre Reden zu Protokoll gegeben.


Beatrix Philipp (CDU):
Rede ID: ID1622215500

Wir sprechen heute über das Erste Gesetz zur Ände-

rung des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse
der Helfer der Bundesanstalt Technisches Hilfswerk, kurz
THW-Helferrechtsgesetz. Angesichts der Bedeutung des
THW für alle Menschen in Deutschland und zunehmend
auch im Ausland ist es fast verwunderlich oder ein Zei-
chen besonderer Qualität und Güte des THW, dass das
derzeit gültige THW-HelfRG bisher Akzeptanz gefunden
hat, obwohl es eigentlich anders hätte heißen müssen. Es
beinhaltete nämlich von Anfang an auch Regelungen zum
Einsatz und zur Organisation des THW, ohne dass sich
dies in der Gesetzesbezeichnung wiedergefunden hätte.
Der 15. Mai 2009 ist der Tag des THW. So ist es also
kein Zufall, wenn wir heute nicht nur eine Namensände-
rung vornehmen, sondern auch das regeln, was eindeutig
– vor allem im Interesse der hauptamtlichen Mitarbeite-
rinnen und Mitarbeiter, besonders aber für die ehrenamt-
lichen Helferinnen und Helfer – dringend geboten ist.
Das THW als Einrichtung des Bundes ist elementarer Be-
standteil des Zivil- und Katastrophenschutzes.

Trotz des zweigliedrigen Aufbaus des Zivil- und Kata-
strophenschutzes zwischen Bund und Ländern ist eine
scharfe Grenzziehung in der Praxis oft schwierig, wenn
es um die eindeutige Kompetenzzuweisung geht. Dies
zeigten bereits die Debatten zur Änderung des Zivil-
schutzgesetzes vom 29. Januar dieses Jahres und die
Diskussionen im Rahmen der Föderalismusreform. So
kommt dem Bund nicht nur die Funktion des Zivilschut-
zes, sondern mittlerweile auch eine ergänzende Funktion
im Bereich des Katastrophenschutzes zu. Aufgrund der
immer umfassender werdenden zunehmenden Herausfor-
derungen an die Leistungsfähigkeit und das Spektrum der
Einsätze wird deutlich, dass ein funktionierendes Zusam-
menspiel von Bund und Ländern unabdingbar ist. Dies
zeigte sich zuletzt bei den Bergungsarbeiten nach dem
Einsturz des Kölner Stadtarchivs oder bei Aufräumarbei-
ten nach Verkehrsunfällen und Autobahnsperrungen, wie
dies noch in dieser Woche auf der A2 in Brandenburg der
Fall war.

Wenn nun alles fast reibungslos läuft, warum ist denn
dann die Änderung des bestehenden Gesetzes notwendig?

Seit der Gründung des THW in den 50er-Jahren haben
sich, wie gesagt, die Einsatzarten stark verändert. Die
bisher gesetzlichen Regelungen entsprechen zum Teil
nicht mehr den Einsatzerfordernissen. Daher besteht ge-
setzlicher Anpassungsbedarf. So findet sich nun im neuen
THW-Helferrechtsgesetz, welches 1990 den Erlass über
die Errichtung des Technischen Hilfswerkes als nicht-
rechtsfähige Bundesanstalt ablöste, eine genauere und
zum Teil auch erweiterte Aufgabenskizzierung.

Wer sich im Zivil- und Katastrophenschutz auskennt,
weiß, wie schwierig sich in der Vergangenheit die Zusam-
menarbeit zwischen Bund und Ländern oft gestaltete. Es
ist der Praxisbezogenheit der handelnden Personen und
dem Wunsch, den Menschen zu helfen, zu verdanken, dass
es zu so vielen erfolgreichen Einsätzen und beeindrucken-
den Bilanzen kommen konnte. Allein im Jahr 2008 gab es
circa 390 000 Einsatzstunden, waren Tausende von Hel-
ferinnen und Helfern im Einsatz.

Der Verweis von § 1 Abs. 4 auf die landesrechtlichen
Vorschriften erlaubt es nun den THW-Einsatzkräften,
gleichberechtigt wie Einsatzkräfte von Feuerwehr und
anderen Hilfsorganisationen zu handeln. Darunter fällt
zum Beispiel, dass THWler nun berechtigt sind, einen
Einsatzort abzusperren, Absperrungen gegenüber Schau-
lustigen durchzusetzen, betroffene Grundstücke zu betre-
ten usw. Das sind Beispiele, die zeigen, dass wir uns – im
Gegensatz zu manch anderen Gesetzesvorhaben – im ab-
soluten praktischen und nicht im theoretischen Bereich
der Anwendung dieses Gesetzes bewegen. Die Gleichstel-
lung von THW und Feuerwehr war angesichts der zuneh-


(A) (C)



(B) (D)


Beatrix Philipp
menden Bedeutung des Technischen Hilfswerkes in unse-
rer heutigen Gesellschaft mehr als geboten.

Immer häufiger können wir die blauen Fahrzeuge des
THW auf den Straßen sehen, wenn sie von einem Einsatz-
ort zum nächsten unterwegs sind, und es wirkt irgendwie
„beruhigend“.

Das Besondere daran ist, dass bei diesen Einsätzen ein
hoher Anteil der Kräfte ehrenamtlich tätig ist. Dafür
möchte ich allen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern
danken.

Mit gut 80 000 ehrenamtlichen Helferinnen und Hel-
fern ist das THW mit eine der bekanntesten Hilfsorgani-
sationen in Deutschland, in der sich Helferinnen und Hel-
fer ehrenamtlich engagieren. Ehrenamtliche Arbeit hat in
unserem Land eine lange Tradition. Wir sind in Deutsch-
land zwar immer noch weit davon entfernt, dem Ehrenamt
so viel Bedeutung und Anerkennung beizumessen, wie
dies in den USA der Fall ist, aber es gibt ermutigende An-
zeichen dafür, dass wir auf einem guten Weg sind. Zwei-
fellos hat sich auch die Arbeitswelt in den letzten Jahren
so verändert, dass ehrenamtliches Engagement immer
schwieriger wird.

Umso mehr ist es berechtigt, nicht nur den ehrenamt-
lichen Helferinnen und Helfern Dank zu sagen, sondern
auch den Arbeitgebern, die sich bereitfinden, die Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter während ihrer Arbeitszeit
freizustellen. Das ist nicht selbstverständlich. Also auch
ihnen ein herzliches Dankeschön!

Eine weitere wichtige Änderung ist die Schaffung einer
Rechtsgrundlage für das THW zur Durchsetzung eigener
entstandener Kosten in § 6. Demnach kann das THW
künftig Gebühren und Auslagen gemäß § 14 des Verwal-
tungskostengesetzes geltend machen. Die Besonderheit
liegt darin, dass dem THW ein Erstattungsanspruch zu-
kommt, wenn die anfordernde Behörde nicht gegenüber
dem Begünstigten kostenrechtlich tätig wird, das heißt
konkret, wenn die anfordernde Behörde einfach nicht ab-
rechnet oder sich die Abrechnung über die Behörde aus
anderen Gründen nicht umsetzen lässt. Die technische
Hilfe des THW ist nach § 6 Abs. 1 grundsätzlich gebüh-
ren- und auslagenpflichtig.

Wie hoch die Gebühren sein werden, richtet sich nach
dem Kostendeckungsprinzip. Dieses Prinzip geht aus § 3
Verwaltungskostengesetz hervor, wonach die Gebühren
so bemessen sein müssen, dass das geschätzte Gebühren-
aufkommen den auf die Amtshandlung entfallenden
durchschnittlichen Personal- und Sachaufwand für den
betreffenden Verwaltungszweig nicht übersteigt.

Eine Erwirtschaftung von Überschüssen ist ebenfalls
nicht möglich.

Gemäß § 6 Abs. 1 werden die näheren Bestimmungen
zur Gebührenhöhe durch Rechtsverordnung des Bundes-
ministers des Innern getroffen. Wie gestern im Ausschuss
erläutert wurde, ermöglicht dies eine flexible Handha-
bung und schnelle, angemessene Reaktionen, sollte es zu
ungewöhnlichen oder unvorhergesehenen Ereignissen
kommen.
Zu Protokoll
Gemäß Satz 3 ist aber auch ein Erlass der Kosten-
erstattung aus Gründen der Billigkeit oder des öffentli-
chen Interesses möglich, das heißt, es werden dann keine
Kosten in Rechnung gestellt, wenn es nach allgemeinen
Gesichtspunkten nicht hinnehmbar wäre – aufgrund der
Gesamtumstände –, dem Begünstigten die Kosten aufzu-
erlegen. Dies erlaubt eine Fortsetzung des bereits prakti-
zierten Verwaltungshandelns. Sofern die zuständige Be-
hörde die Kosten nicht an den Begünstigten weiterleiten
kann, hat das THW seinerseits die Möglichkeit, auf eine
finanzielle Belastung gegenüber der anfordernden Be-
hörde zu verzichten. Mit der Rechtsgrundlage der Kos-
tenstellung des neuen THW-Gesetzes findet insgesamt
eine Kostenentlastung des THW statt.

Weiterhin ist diese Regelung nach dem Urteil des Bun-
desgerichtshofes vom 19. Juli 2007 mehr als geboten.
Diese Rechtsgrundlage ist wichtig, um die Tätigkeit des
THW zu unterstützen.

Mit Schaffung dieser Rechtsvorschrift ist das Risiko ei-
ner Kostenbelastung beseitigt. Es liegt in der Natur der
Sache, dass diese gesetzlichen Klarstellungen an der viel-
zitierten Basis gerne aufgenommen werden; sie sind ein
Zeichen dafür, dass der Gesetzgeber sehr wohl in der
Lage ist, Anregungen aus der Praxis wahrzunehmen und
umzusetzen.


Gerold Reichenbach (SPD):
Rede ID: ID1622215600

Lassen Sie mich zu Beginn feststellen, dass wir in

Deutschland ein gut funktionierendes Bevölkerungs-
schutzsystem haben, das auf einer breiten Basis von Frei-
willigen ruht. Der Schutz der Bevölkerung ist eine der
wichtigsten Aufgaben unseres Staates. Sie wird durch die
vielen Tausend vor allem ehren- und hauptamtlichen Hel-
ferinnen und Helfer der Hilfsorganisationen, der Feuer-
wehren und des THW wahrgenommen. Viele Länder, so-
wohl in Europa als auch weltweit, beneiden uns um dieses
System.

Deutschland hat in dem Bereich der nichtpolizeilichen
Gefahrenabwehr traditionell ein vertikal gegliedertes,
auf Ehrenamtlichkeit und Freiwilligkeit beruhendes Si-
cherheitssystem aufgebaut. Dieses System hat sich im All-
tag und bei größeren Schadenslagen bisher im Großen
und Ganzen bewährt. Ich erinnere hier nur an die Oder-
und Elbeflut. Aber insbesondere in Zeiten der wachsen-
den Bedrohungen für die Bevölkerung durch Klimawan-
del, Pandemien, aber auch durch den Zusammenbruch
kritischer Infrastrukturen wird die nichtpolizeiliche Ge-
fahrenabwehr immer mehr in den Fokus der Öffentlich-
keit rücken. Das aktuellste Beispiel ist die sogenannte
Schweinegrippe. Durch die Globalisierung und die welt-
weite Vernetzung hat sie sich, von Mexiko ausgehend, in
rasantem Tempo zu einem pandemischen Geschehen ent-
wickelt – bisher zum Glück mit weltweit geringen Opfer-
zahlen. Das muss aber nicht so bleiben.

Aus all diesen Gründen werden die Aufgaben der
nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr weiter wachsen, und
sie werden einen noch höheren Stellenwert in der Sicher-
heitsarchitektur unseres Landes einnehmen müssen. Las-
sen Sie mich deshalb auch an dieser Stelle die Gelegen-
heit nutzen, besonders den Helferinnen und Helfern der



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Gerold Reichenbach
im Bevölkerungsschutz tätigen Hilfsorganisationen herz-
lich zu danken für Ihr unermüdliches Engagement bei der
Erfüllung dieser wichtigen Aufgabe. Das sind die Feuer-
wehren, die Sanitäts- und Rettungsorganisationen und
natürlich, im Verantwortungsbereich des Bundes, das
Technische Hilfswerk. Aus meiner eigenen Erfahrung als
ehrenamtlicher Helfer weiß ich, was eine solch ehrenamt-
liche Tätigkeit an zeitlichen, aber auch physischen und
psychischen Belastungen im Einsatz mit sich bringen
kann. Nicht zuletzt deshalb ist es unsere klare Pflicht, den
Helferinnen und Helfern eine ordentliche Grundlage für
ihre Arbeit zu schaffen.

Dazu gehören eine vernünftige, moderne Ausstattung
und ihre Finanzierung. Hier haben wir in den letzen Jah-
ren, beginnend unter Rot-Grün, Fortschritte erzielt. Der
Haushalt des THW etwa wurde kontinuierlich gesteigert.
Ich erinnere auch an die Vereinbarungen zwischen Bund
und Ländern zur „Neuen Strategie im Bevölkerungs-
schutz“ und an das Konjunkturpaket, von dem in den
Ländern die Feuerwehren und auf Bundesebene das THW
mit profitieren werden.

Wir müssen als Gesetzgeber aber auch dafür sorgen,
dass die gesetzlichen Grundlagen den Herausforderun-
gen gerecht werden. Denn diese Normen dienen dem
Schutz der Bevölkerung vor besonderen Gefahren – eben-
solchen Gefahren, vor denen sie sich aus eigener Kraft
nicht schützen kann. Einen ersten Teilschritt haben wir
gemacht: Wir haben die rechtlichen Grundlagen an die
Gefährdungsentwicklung – im Rahmen dessen, was dem
Bund möglich war – im neuen Zivilschutzgesetz-Ände-
rungsgesetz angepasst.

Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Änderung
des THW-Helferrechtsgesetzes gehen wir jetzt einen wei-
teren Schritt. Auch dieses aus dem Jahre 1990 stammende
Gesetz, das die Rechtsverhältnisse der Helferinnen und
Helfer im THW regelt, muss rechtlich weiterentwickelt
werden. Das neue THW-Gesetz wird der immer stärkeren
Einbindung des THW in die nichtpolizeiliche Gefahren-
abwehr und die Amtshilfe sowie seiner immer wichtigeren
Rolle in der humanitären Auslandshilfe Rechnung tragen.

Wir definieren die Aufgaben des THW als technische
Bevölkerungsschutz- und Katastrophenhilfeorganisation
des Bundes. Das THW nimmt zum einen Aufgaben nach
dem Gesetz über den Zivilschutz und zum anderen über
die Katastrophenhilfe des Bundes wahr. Es wird im Rah-
men des Art. 35 des Grundgesetzes für technische Hilfe-
leistungen bei Katastrophen und Unglücksfällen im Wege
der Amtshilfe tätig und ist damit mit seinen über
80 000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern und sei-
nen 800 hauptamtlichen Mitarbeitern ein wichtiger
Bestandteil im Sicherheitssystem der Bundesrepublik
Deutschland.

Darüber hinaus ist es die humanitäre Auslandshilfeor-
ganisation des Bundes. Es leistet im Auftrag der Bundes-
regierung humanitäre und technische Hilfe im Ausland
und hat sich als „Botschafter Deutschlands“ einen her-
vorragenden Ruf im Ausland erworben. Die vielfältigen
Anfragen aus dem Ausland – zuletzt aus China –, beim
Zu Protokoll
Aufbau eines eigenen am Vorbild des THW orientierten
Bevölkerungsschutzsystems Beratungs- und Aufbauhilfe
zu leisten, sind ein beredtes Beispiel dafür.

Mit der Gesetzesänderung sorgen wir dafür, dass lan-
desrechtlich geregelte Befugnisse nun auch für das THW
gelten, wenn es im Rahmen der Amts- oder Katastrophen-
hilfe eingesetzt wird. Bisher war es dem THW unter an-
derem nicht erlaubt, im Einzelfall ein nicht vom Scha-
densereignis betroffenes Grundstück zu betreten, um so
bei einem Unglücksfall oder einer Katastrophe effektive
Hilfe zu leisten oder eine drohende Gefahr abzuwehren.
Gleiches galt für die Durchsetzung einer Absperrung am
Unglücksort vor Schaulustigen oder die Heranziehung
von Hilfsmitteln, die in fremdem Eigentum stehen. Diese
Befugnisse besitzen bereits die anerkannten Hilfsorgani-
sationen sowie die Feuerwehren gemäß den jeweiligen
Landesgesetzen. Um einen erfolgreichen Einsatz und die
lückenlose Zusammenarbeit bei gemeinsamen Einsätzen
sicherzustellen, wird mit dem vorliegenden Gesetz diese
Lücke geschlossen.

Mit der Änderung des Gesetzes wollen wir auch eine
Rechtsgrundlage schaffen, um aufgetretene Probleme im
Rahmen der Kostenerstattung bei Inanspruchnahme des
THW zu lösen. Grundsätzlich ist die Hilfe des THW ge-
bühren- und auslagenpflichtig. Dort, wo im Wege der
Amts- oder Katastrophenhilfe die jeweils anfordernde
Behörde aus gesetzlichen Gründen selbst keine Gebühren
oder Kostenersatz erheben kann, wird dies auch das THW
weiterhin nicht tun. Dort, wo dies aber der Fall ist, wollen
wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass eine Erstat-
tung möglichst unkompliziert und ohne erheblichen zu-
sätzlichen Aufwand für die anfordernde Behörde erfolgen
kann.

Das Bundesinnenministerium wird mit dem Gesetz er-
mächtigt, eine entsprechende Rechtsverordnung zu schaf-
fen, die die Gebühren- und Auslagenerhebung durch das
THW regelt. Mit dieser Rechtsverordnung soll auch eine
direkte Kostenerstattung durch den letztendlich Kosten-
pflichtigen unter bestimmten Voraussetzungen möglich
sein. Die Rechtsverordnung des Innenministeriums wird
sich dabei im verfassungs- und verwaltungsrechtlich vor-
gegebenen Rahmen bewegen müssen.

Und last, but not least werden wir in dem neuen Gesetz
– so, wie dies bereits im Vorgängergesetz der Fall war –
die Mitgestaltungsmöglichkeiten der ehrenamtlichen
Helferinnen und Helfer im THW verankern. Das Nähere
wird dann eine Verordnung des Innenministers regeln.
Das THW-Gesetz selbst ist übrigens ein gutes Beispiel für
die Anerkennung von Fachkompetenz im Ehrenamt. So
waren im Vorfeld nicht nur, wie üblich, die zuständigen
Behörden, sondern eben auch die Ehrenamtlichen im
THW fachlich beteiligt.

Beim Schutz unserer Bevölkerung wird es in der Zu-
kunft noch mehr darauf ankommen, dass alle Akteure rei-
bungslos zusammenarbeiten. Das neue THW-Gesetz leis-
tet seinen Beitrag dazu. Und es ist auch ein Beitrag zur
Stärkung des ehrenamtlichen Fundaments. Darum bitte
ich um Ihre Zustimmung.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Die FDP ist überzeugt: Die ehrenamtlichen und die

professionellen Helferinnen und Helfer von THW und
Feuerwehren, von Rettungsdiensten, DLRG und anderen
Hilfsorganisationen leisten ausgezeichnete Arbeit. Sie
müssen deutlich mehr gewürdigt und unterstützt werden,
als es bisher der Fall war. Effiziente Strukturen, einfache
Entscheidungswege, an Risiken ausgerichtete Reaktions-
möglichkeiten helfen auch und gerade denjenigen, die
selbst schnell helfen wollen.

Die Herausforderungen im Bevölkerungsschutz sind
sehr groß. Deshalb ist es gut, dass den Helferinnen und
Helfern im THW endlich mehr Rechtssicherheit für ihre
verantwortungsvolle Aufgabe eingeräumt wird. Dem
THW werden im vorliegenden Gesetzentwurf Befugnisse
zuteil, die einen erfolgreichen Einsatz sicherstellen sol-
len. Dem THW werden nun die gleichen Befugnisse ein-
geräumt wie den anerkannten privaten Hilfsorganisatio-
nen. Auch die Landesgesetze für Feuerwehren und
Hilfsorganisationen enthalten ähnliche Befugnisse.

Die FDP unterstützt also das vorliegende Gesetz. Wir
weisen aber auf die immer noch offenen grundlegenden
Fragen des Bevölkerungsschutzes in Deutschland hin.
Naturkatastrophen und Großunfälle machen nicht an
Ländergrenzen halt. Überregionale Stromausfälle wie
vor einigen Jahren im Münsterland oder verursacht
durch die Ems-Durchfahrt eines großen Schiffsneubaus,
Pandemien wie etwa die Vogelgrippe oder von bestimm-
ten Gruppen ausgehende Gefahren, etwa durch organi-
sierte Kriminalität oder terroristische Aktivitäten, erfor-
dern ein länderübergreifendes Sicherheitskonzept.
Hierfür ist ein von Bund und Ländern gemeinsam getra-
genes, einheitliches Bevölkerungsschutzsystem am besten
geeignet – mit allein am Schadensausmaß und an den
schnellsten und besten Reaktionsmöglichkeiten ausge-
richteten klaren Zuständigkeiten und Verantwortlichkei-
ten.

Der Schutz der Bevölkerung vor Katastrophen und
Unglücksfällen ist eine der grundlegenden Aufgaben des
Staates. Das kürzlich verabschiedete Zivilschutzgesetz
war überfällig, aber erscheint nicht als ausreichend.
Neue Herausforderungen an die öffentliche Sicherheit
sind nicht allein mit tagespolitischen Aktivitäten zu be-
antworten. Der Bund muss im Katastrophenschutz Ver-
antwortung übernehmen und darf sich nicht aus der Flä-
che zurückziehen.

Der Bundesrechnungshof hat wiederholt die Bundes-
finanzierung kritisiert. Katastrophenschutz ist laut
Grundgesetz Ländersache. Eine Nachjustierung ist drin-
gend erforderlich.

Es ist befremdlich, dass Innenminister Schäuble dem
Bundeswehreinsatz im Innern Tür und Tor öffnen will,
aber sich einer zeitgemäßen Neudefinition der grundge-
setzlichen Bevölkerungsschutzkompetenzen verweigert.
Es gilt aber, die zivilen Kräfte zu stärken. Die bestehende
Zweiteilung in den Zivilschutz im Verteidigungsfall und
den Katastrophenschutz im Frieden ist überholt und
macht aus Sicht der meisten Experten so keinen Sinn
mehr. Die bislang praktizierte Zuweisung von Zuständig-
keiten nach der Schadensursache wird der Lage nicht
Zu Protokoll
länger gerecht. Zum Zeitpunkt einer notwendigen Gefah-
renabwehr kann nicht die Ursachenforschung höchste
Priorität haben, um Zuständigkeitsfragen zu klären. Hier
muss einfach und schnell anhand des Schadensausmaßes
geholfen werden.

Daher ist eine Aufgabenverteilung anzustreben, bei
der die Zuständigkeit für lokale Schadensereignisse im
Rahmen der allgemeinen Gefahrenabwehr bei den Kom-
munen bzw. beim Land, die Zuständigkeit für Großscha-
densereignisse innerhalb eines Bundeslandes ohne wei-
tere Auswirkungen auf das Bundesgebiet bei den Ländern
und die Zuständigkeit für außerordentliche bundesweite
Schadenslagen sowie für länderübergreifende Großscha-
denslagen beim Bund liegt. Innerhalb dieses Rahmens ist
die Ressourcenverantwortung zu regeln, um effektiv und
schnellstmöglich helfen zu können. Deshalb scheint eine
grundgesetzlich verankerte bundesweite Koordinie-
rungskompetenz im Katastrophenschutz unverzichtbar zu
sein.

Darüber hinaus sind die ehrenamtlichen Strukturen im
Katastrophenschutz mindestens im bisherigen Umfange
unbedingt aufrechtzuerhalten. Das ehrenamtliche Enga-
gement ist die bürgerschaftliche Grundlage für die
Sicherheit aller Bürgerinnen und Bürger in Deutschland
und die tragende personelle Infrastrukturkomponente des
Bevölkerungsschutzes. Gerade im Bereich des THW sind
die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer das Rückgrat
der Arbeit für den Bevölkerungsschutz. Dieses Engage-
ment muss unterstützt und anerkannt werden.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1622215700

Erstens. Das Gesetz, das heute beschlossen werden

soll, heißt: „Erstes Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur
Regelung der Rechtsverhältnisse der Helfer der Bundes-
anstalt Technisches Hilfswerk“. Schon die Überschrift ist
ein Text schlichter Schönheit. Glückwunsch! Worum geht
es also wirklich? Um Zweierlei! Erstens: Das Technische
Hilfswerk erhält Rechte, die ähnliche Einrichtungen, zum
Beispiel Feuerwehren, längst haben. So soll auch das
THW Straßen sperren dürfen, wenn das im Katastrophen-
fall geboten scheint. Es geht um weitere Befugnisse für
das THW, die sinnvoll und verhältnismäßig sind. Dem
stimmt die Linke zu. Und ich füge hinzu: Das Technische
Hilfswerk wird demnächst 60 Jahre alt. Ich wünsche dem
THW noch weitere erfolgreiche 60 Jahre, hierzulande
und weltweit.

Zweitens. Auch die zweite Absicht dieses Gesetzes ist
im Sinne der Fraktion Die Linke. Der Gesetzestext soll
der Realität angepasst werden, und die heißt: Nicht nur
Männer oder Jungs schultern die Arbeit im Technischen
Hilfswerk, sondern zunehmend auch Frauen und Mäd-
chen. Also wurde der Gesetzestext geändert oder
neudeutsch „gegendert“. Überall, wo vordem „Helfer“
geschrieben wurde, steht nunmehr „Helferinnen und Hel-
fer“. Mit einer wesentlichen Ausnahme: In der Über-
schrift geht es noch immer nur um die „Helfer“ des THW.
Nun können wir raten, ob hier schlicht sozialdemokrati-
scher Schlendrian am Werk war oder ob die CSU subver-
siv ihren Mannesgeist verewigen wollte. Wie auch immer:
Wichtiger ist, dass die THW-Helferinnen und -Helfer in



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Petra Pau
der Not, zumeist ehrenamtlich im besten Sinne, präsent
sind.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Technische Hilfswerk ist die bedeutendste Kata-
strophenschutzorganisation des Bundes, und lassen Sie
mich gleich zu Beginn sagen: Wir wünschen dem THW
auf der Tagung in Chemnitz viel Erfolg. Der „Tag des
THW“ der vom 15. bis 17. Mai in der Stadthalle von
Chemnitz stattfinden wird, steht unter dem Motto „Zu-
kunft gemeinsam gestalten“, und in den vier Foren wird
sich die Tagung mit den wichtigen Themen „Bevölke-
rungsentwicklung“, „Beruf und freiwilliges Engage-
ment“, „Risiko und Sicherheit“ und „Technischer Fort-
schritt“ befassen.

Ich bin gespannt auf die Ergebnisse dieser Foren, und
ich stelle hier diesen Tag des THW an den Anfang meiner
Rede, weil ich deutlich machen will, dass wir hier zwar
heute richtige Entscheidungen zur Verbesserung der
Rechtsverhältnisse der Helferinnen und Helfer des THW
treffen, dass es aber nicht ausreicht, bei dieser kleinen
Gesetzesänderung stehen zu bleiben. Wir müssen die
Bundesanstalt Technisches Hilfswerk fit machen für die
Zukunft, und ich würde es begrüßen, wenn die fraktions-
übergreifende Arbeit beim Thema Katastrophenschutz
auch in der kommenden Legislaturperiode fortgesetzt
wird.

Ich möchte mich an dieser Stelle bedanken bei den
über 80 000 ehrenamtlichen THW-Kräften, die im In- und
Ausland mit großem persönlichen Einsatz eine unver-
zichtbare Arbeit leisten, und ich freue mich ganz beson-
ders, dass das Erfolgsmodell THW in den vergangenen
Jahren so erfolgreich auf die neuen Bundesländer über-
tragen werden konnte. Ganz besonders erwähnen möchte
ich die THW-Jugend, die an vielen Orten neben der frei-
willigen Feuerwehr und den Sportvereinen jungen Men-
schen Orientierung und sinnvolle Beschäftigung bietet.

Es ist überfällig, dass mit dem Gesetzentwurf der Gro-
ßen Koalition jetzt die rechtlichen Befugnisse der Helfe-
rinnen und Helfer des THW eindeutig geregelt werden.
Während des Einsatzes muss schnell und effektiv gehan-
delt werden, rechtliche Streitigkeiten und Unklarheiten
der Befugnisse führen zu Reibungsverlusten in den Ein-
sätzen und verunsichern diejenigen, die helfen wollen.
Der vorliegende Gesetzentwurf stellt die Helferinnen und
Helfer des THW bei innerdeutschen Einsätzen im Kata-
strophenfall und Zivilschutz mit denen der öffentlichen
Landesfeuerwehren gleich. Unter Vorbehalt landesrecht-
licher Regelungen wird dem THW nun ein eindeutiger
Rechtsrahmen zur Verfügung gestellt, und ich hoffe, dass
auch die Länder bereit sind, weiter an einheitlichen
Rechtsstandards zu arbeiten. Es gibt keine Konkurrenz
zur freiwilligen Feuerwehr, sondern die Notwendigkeit
einer gemeinsamen, vernetzten Arbeit.

Auch das Problem der Finanzierung von THW-Einsät-
zen soll mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gelöst wer-
den. Über eine noch zu schaffende Rechtsordnung soll
das Bundesinnenministerium in Absprache mit dem Bun-
desministerium der Finanzen dazu ermächtigt werden,
gebührenpflichtige Tatbestände und deren Bemessung so-
wie feste Sätze festzulegen. Wir sehen hier Auswirkungen
auf den Haushalt, die nicht am Parlament vorbei ent-
schieden werden sollten, und wollen die Gebühren in das
Gesetz aufnehmen. Die jetzt vorgeschlagene Rechtsver-
ordnung ist zwar eine Verbesserung gegenüber der beste-
henden ungeregelten Verfahrensweise, wir wollen hier
aber keine Entscheidungen am Parlament vorbei.

Dennoch werden wir dem Gesetzentwurf der Großen
Koalition zustimmen. Die Änderungen gehen in die rich-
tige Richtung, und sie sind eine Verbesserung gegenüber
dem jetzigen Zustand.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622215800

Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss

empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/13016, den Gesetzentwurf der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/12854 an-
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zwei-
ter Beratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Diejenigen, die zustimmen
wollen, mögen sich erheben. – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Der Gesetzentwurf ist auch in dritter Bera-
tung einstimmig angenommen.

Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 29 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Spieth, Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Krankenversicherung für Selbständige be-
zahlbar gestalten

– Drucksache 16/12734 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales

Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden die Kolle-
gen Max Straubinger, Karl Lauterbach, Daniel Bahr,
Birgitt Bender, Frank Spieth und die Parlamentarische
Staatssekretärin Marion Caspers-Merk.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1622215900

Zunächst möchte ich für meine Fraktion ein gewisses

Erstaunen darüber nicht verhehlen, dass die Linke im
Titel ihres heute zu debattierenden Antrags suggeriert,
das Wählerpotenzial der Selbstständigen entdeckt zu ha-
ben. Schließlich lautet der Antrag: „Krankenversiche-
rung für Selbständige bezahlbar gestalten“. Doch um
privat versicherte Selbstständige geht es der Linken ja
auch gar nicht. Vielmehr geht es ihr einmal mehr darum,
Hartz-IV-Versicherte in der GKV und solche, die ledig-
lich aus systematischen Gründen der PKV zuzuordnen
sind, vor finanzieller Überforderung durch Beitrags-
pflichten zu schützen. Womit ich ausdrücklich nicht sagen
möchte, dass dort, wo es tatsächlich Ungereimtheiten
oder Ungerechtigkeiten bei gesetzlich auferlegten Bei-


(A) (C)



(B) (D)


Max Straubinger
tragspflichten gibt, nicht tatsächlich auch Korrekturen
erfolgen sollten. Ich komme gleich darauf zurück.

Zuvor stelle ich fest: Der Antragstitel ist also trüge-
risch. Denn tatsächlich selbstständige Unternehmer oder
Freiberufler sind gar nicht der Adressat. Alles andere
wäre ja auch höchst verwunderlich. Für diese Zielgruppe
hat die Linke ja auch nicht wirklich viel übrig. Im Gegen-
teil! Nehmen wir das Thema Steuern: Was die Linke dort
an Daumenschrauben in ihrem Sammelsurium steuer-
politischer Belastungen für Selbstständige und Freiberuf-
ler bereithält, ist mehr als beachtlich – oder besser: ab-
schreckend.

Doch zurück zum eigentlichen Inhalt des Antrages und
der von der Linken angeführten Ungerechtigkeit bei der
Bemessung von Beiträgen für freiwillig Versicherte. Die
unterschiedliche Beitragsbelastung freiwillig gesetzlich
versicherter Grundsicherungsempfänger und gesetzlich
pflichtversicherter Grundsicherungsempfänger ist tat-
sächlich schwer nachvollziehbar. Die beklagten Folgen
sind ganz offenbar Ergebnis des Bemühens der Bundes-
gesundheitsministerin, die Attraktivität der privaten
Krankenversicherung so weit wie möglich zu schmälern.
Warum? Weil die Betroffenen als Ausweg ja schließlich
zumindest theoretisch in den neu geschaffenen Basistarif
der PKV wechseln könnten. Doch auch dort hat man die
Schwellen entsprechend hoch gehängt. Schließlich liegt
auch in der PKV der von Hilfebedürftigen aufzubrin-
gende Beitrag bei knapp 300 Euro.

Im Unterschied zu pflichtversicherten GKV-Mitglie-
dern kommt für Beitragsausfälle infolge von Hilfebedürf-
tigkeit bei der PKV nur nicht die Allgemeinheit auf. Dies
wird vielmehr der übrigen Versichertengemeinschaft zu-
gemutet. In der GKV leistet die Gemeinschaft der Steuer-
zahler über die Träger der Grundsicherung Hilfe. Auch
dieses Beispiel zeigt, dass zwischen und sogar innerhalb
der beiden Krankenversicherungssysteme mit den Neu-
regelungen im Bereich des SGB V manche Ungereimthei-
ten geschaffen wurden, die es zu korrigieren gilt.

Eine Anmerkung zum Punkt zwei des Antrages, in dem
die Linke fordert, dass hilfeberechtigte Hartz-IV-Empfän-
ger und Sozialhilfeempfänger nicht mehr für den Basis-
tarif der PKV zahlen müssen, als sie vom Träger der
Grundsicherung dafür erhalten: Nach geltendem Recht
würde dies bedeuten, dass die PKV-Gemeinschaft und
eben nicht die Allgemeinheit dauerhaft für die Differenz
zwischen notwendigem Beitrag und geleistetem Beitrag
geradestehen müsste.

Die Linke wird anführen, dass dies bei der GKV ja
nicht anders sei, weil schließlich der von der Bundes-
agentur für Arbeit bzw. den Sozialämtern abgeführte Bei-
trag an die Krankenkassen auch deutlich unter dem
eigentlich erforderlichen Beitrag liegt. Und tatsächlich
bin auch ich an diesem Punkt der Meinung, dass dies
nicht auf Dauer gerechtfertigt sein kann. Nur, erstens
scheitert eine Korrektur in dieser ja gerade auch von der
Bundesgesundheitsministerin forcierten Frage bisher vor
allem am Widerstand ihres Parteifreundes, des Bundes-
finanzministers. Und zweitens darf darauf verwiesen wer-
den, dass wir uns gerade erst auf den Weg gemacht ha-
ben, einen dauerhaften und mehr als nennenswerten
Zu Protokoll
GKV-Bundeszuschuss aus Steuermitteln zu etablieren,
mit dem gesamtgesellschaftliche Aufgaben in der gesetz-
lichen Krankenversicherung geschultert werden.

Zu diesen gesamtgesellschaftlichen Aufgaben des
Steuerzahlers zählt zweifelsfrei auch der Schutz Hilfe-
bedürftiger vor finanzieller Überforderung durch Kran-
kenversicherungsbeiträge. Und auch dieser Hinweis sei
erlaubt: Einen solchen Bundeszuschuss für gesamtgesell-
schaftliche Aufgaben kennt die PKV nicht, wobei uns
doch eigentlich auch dort etwa der Versicherungsschutz
von Kindern genauso viel wert sein müsste wie in der ge-
setzlichen Krankenversicherung. In der GKV jedenfalls
finanziert der Steuerzahler die beitragsfreie Mitversiche-
rung von Kindern. Der in der PKV versicherte kleine Be-
amte muss hierfür selbst Beiträge entrichten. Auch dies
wäre ein Thema, dem sich die Linke einmal widmen
könnte.

Ich darf zusammenfassen: Unbestreitbar existieren bei
der Ausgestaltung der Beitragspflichten zur Krankenver-
sicherung für eng begrenzte Personengruppen Unge-
reimtheiten, die von den Betroffenen als ungerecht und
tatsächlich auch als korrekturbedürftig empfunden wer-
den. Nur sollte man diese Ungereimtheiten nicht jeweils
einer isolierten Lösung zuführen. Denn mit jeder ver-
meintlichen Gerechtigkeitslücke, die wir schließen, rei-
ßen wir neue auf. Im Steuerrecht ist dies nicht anders.

Ich plädiere deshalb mit Nachdruck für eine umfas-
sende Bestandsaufnahme. Danach sollten wir uns ge-
meinsam um Korrekturen bemühen, die allen betroffenen
Gruppen gerecht werden, selbstverständlich auch den
freiwillig GKV-versicherten Selbstständigen.

Gerade in dieser Gruppe von Versicherten vollziehen
wir mit der Rolle rückwärts beim Krankengeld ja gerade
eine höchst pragmatische Kehrtwende. Die Quasirück-
kehr zum alten Recht, in dem freiwillig GKV-versicherte
Selbstständige ihren Krankengeldanspruch durch Leis-
tung des allgemeinen Beitragssatzes erwerben, ist ein
Gebot der Vernunft und der Gerechtigkeit. Auch in dieser
Frage zeigt sich, dass pragmatische Regelungen im Inte-
resse der Betroffenen allemal besser und gerechter sind
als ideologisch gefärbte Versuche, freiwillig in der ge-
setzlichen Krankenversicherung verbliebene Selbststän-
dige zu vergraulen.


Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1622216000

Bei den privat versicherten ALG-II-Empfängern und

Sozialgeldempfängern besteht in der Tat eine Regelungs-
lücke. Dies hat die SPD-Fraktion auch frühzeitig erkannt.
Allerdings konnte hier mit dem Koalitionspartner noch
keine befriedigende Lösung erreicht werden. Der Antrag
der Linken greift hier aber dennoch deutlich zu kurz. Das
grundlegende Problem unseres Gesundheitssystems ist
nicht die finanzielle Überforderung privat versicherter
Arbeitsloser, sondern die willkürliche Zweiteilung des
Krankenversicherungssystems in gesetzliche und private
Kassen mit der Konsequenz einer zunehmenden Zwei-
klassenmedizin.

Ein gesetzlich Versicherter mit einem Höchstbeitrag
von 550 Euro im Monat zahlt davon circa 250 Euro für



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Karl Lauterbach
die Krankenversicherung der Einkommensschwachen.
Wechselt er in die private Krankenversicherung, muss er
dies nicht mehr bezahlen, weil die private Krankenversi-
cherung am Finanzausgleich der Krankenkassen zwi-
schen gering Verdienenden und gut Verdienenden nicht
teilnimmt. Nur aus diesem Grunde können die privaten
Krankenversicherungen trotz höherer Honorare für die
Ärzte und mehr als doppelt so hohen Verwaltungsausga-
ben billiger als die gesetzlichen Kassen sein. Wer bei ho-
hem Einkommen gesetzlich versichert bleibt, zahlt nicht
nur mehr, sondern muss dazu beim Arztbesuch warten, bis
der privat Versicherte behandelt wurde, leistet dann die
Praxisgebühr und zahlt selbst für ein Arzneimittel im
Wert von zehn Euro fünf Euro beim Apotheker dazu. Über
die Jahrzehnte zahlt er mehrere Hunderttausend Euro
Beitrag. Wird er dann krank, steht ihm die Privatsprech-
stunde eines Universitätsprofessors nicht zu, der dagegen
den privat versicherten Studenten empfängt.

Dieses System ist mittlerweile nicht nur einzigartig in
Europa, sondern auch einzigartig ungerecht. In Zukunft
müssen wir sicherstellen, dass alle Bürger einen Solidar-
beitrag zur Gesundheitsversorgung leisten und umge-
kehrt Anspruch auf die Solidarität der Gesellschaft
haben. Alle Bürger sollen die Pflicht zur Versicherung
haben und einkommensabhängige Beiträge bis zur Bei-
tragsbemessungsgrenze zahlen, die an den Gesundheits-
fonds abgeführt werden, wobei zu prüfen ist, ob die
Beitragsbemessungsgrenze angehoben wird. Einer Versi-
cherungspflichtgrenze bedarf es dann nicht mehr. Die
Pflicht zur Versicherung sollte sowohl bei gesetzlichen
Krankenkassen als auch bei privaten Krankenversiche-
rungsunternehmen realisiert werden können. In dieser
neuen Pflichtversicherung sollte Kontrahierungszwang
herrschen, und Risikozuschläge sollten unzulässig sein.
Alle Krankenversicherer, die die Pflichtversicherung
durchführen, erhalten dann pauschalierte Zuweisungen
aus dem Gesundheitsfonds über den morbiditätsorien-
tierten Risikostrukturausgleich.

Nur auf dieser Grundlage eines einheitlichen Versi-
cherungssystems können wir auch die Lösung der weite-
ren zentralen Probleme, die unser Gesundheitssystem lei-
der prägen und eine gute medizinische Versorgung für die
Menschen in Deutschland gefährden, angehen.

Denn das deutsche Gesundheitssystem ist leider insge-
samt schlechter als sein Ruf: in der Welt hoch angesehen
wegen seiner Solidarität zwischen den Versicherten und
wegen der hohen Qualität der Ärzte, Pfleger und der Ein-
richtungen. In Wahrheit allerdings verschärft sich die
Zweiklassenmedizin immer mehr, was jeder gesetzlich
Versicherte – und das sind 90 Prozent der Bevölkerung –
am eigenen Leib spürt. Im Vergleich zu privat Versicher-
ten müssen gesetzlich Versicherte dreimal so lange beim
niedergelassenen Facharzt warten, und das auch bei
wichtigen diagnostischen Leistungen, die für die Abklä-
rung einer ernsthaften Erkrankung notwendig sind. Aber
auch wenn er einen Termin bekommt, ist eine adäquate
Versorgung keineswegs gewährleistet. Auch wenn die
Beitragszahler so viel Geld wie in kaum einem anderen
Land für die medizinische Versorgung bereitstellen, ist
die Qualität meist nur Mittelmaß.
Zu Protokoll
Mehrere Ursachen führen zu diesem Befund: Erstens
ist unser ganzes System zu wenig auf Vorbeugemedizin
ausgerichtet. Über 95 Prozent unserer Gesundheitsaus-
gaben gehen in die rein kurative Versorgung. Dabei ist es
mittlerweile wissenschaftlich gesichert, dass rund
80 Prozent aller Krankheitsfälle durch eine bessere Vor-
beugung vermieden, aufgeschoben oder gelindert werden
können.

Zweitens. Uns gehen die Hausärzte aus. Wir haben
zwar immer noch eine hohe Ärztedichte, aber leider nicht
mehr bei den Hausärzten. In kaum einem anderen Land
gibt es so viele Fachärzte pro Hausarzt, nämlich zweiein-
halb Mal so viel, wie in Deutschland. Gleichzeitig nimmt
die Zahl der Hausärzte jedes Jahr weiter ab. Das ist be-
sonders bitter, weil die Hausärzte diejenigen wären, die
verstärkt die Vorbeugemedizin anbieten könnten, weil sie
oft ihre Patienten über lange Zeiträume hinweg versor-
gen.

Drittens. Die einzelnen Akteure arbeiten nicht gut ge-
nug zusammen. Kein Gesundheitssystem der Welt trennt
so streng die Aufgaben der Krankenhäuser von den Auf-
gaben der niedergelassenen Ärzte wie unseres. Für die
schweren Fälle ist das Krankenhaus zuständig, für die
leichten der niedergelassene Hausarzt. Erschwerend
kommt noch hinzu, dass wir eines der wenigen Länder
sind, das Fachärzte sowohl in der Praxis als auch im
Krankenhaus vorhält. So kommt es, dass in vielen Fällen
die niedergelassenen Fachärzte sogar mit den Klinikärz-
ten um denselben Patienten konkurrieren anstatt zu ko-
operieren.

Viertens. Die Fortbildung unserer Ärzte ist zu schlecht
organisiert und zu gering vergütet. In kaum einer Diszi-
plin ist der Fortschritt so rasant wie in der Medizin. Täg-
lich erscheinen Hunderte medizinische Studien. Es gibt
mehrere Zehntausend medizinische Fachzeitschriften.
Ein Allgemeinarzt müsste jeden Tag 17 Artikel lesen, um
sich über die in seinem Fachgebiet gewonnenen Erkennt-
nisse zu informieren. Die jetzt vorgeschriebene ärztliche
Fortbildung wird meistens von der Pharmaindustrie ge-
sponsert und ist mit einfachsten Anforderungen im Inter-
net zu bewältigen. Das System belohnt Ärzte, die es sich
so einfach wie möglich machen, und bestraft diejenigen,
die viel Geld und Zeit in ihre Fortbildung investieren.

Fünftens. Wir haben zwar viele Fachärzte, aber wenig
Spezialisten. Ein Facharzt für Chirurgie beispielsweise,
der auch Knieverletzungen operiert, ist längst noch kein
Meniskusspezialist. Daher kommen bei uns für viele
Krankheiten mehr Fachärzte, aber weniger Spezialisten
auf 1 000 Einwohner als in anderen Ländern. Dies ist
eine direkte Folge des falschen Honorarsystems, in dem
eine konsequente Spezialisierung für viele Fachärzte das
wirtschaftliche Aus bedeutet hätte. So kommt es, dass die
wenigen Spezialisten in Deutschland vorwiegend privat
Versicherte behandeln, weil sie dort ein höheres Honorar
generieren können. Das Nachsehen hat auch hier die
große Mehrheit der gesetzlich Versicherten, die entweder
gar nicht beim Spezialisten drankommt oder sehr lange
Wartezeiten in Kauf nehmen muss.

Die Lösung dieser Probleme hat die SPD in ihrem Pro-
gramm vorgelegt. Das werden wir in der Wahlauseinan-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Karl Lauterbach
dersetzung deutlich machen, und das werden wir auch
nach der Wahl umsetzen.

Wir brauchen einen dritten Weg jenseits von Marktra-
dikalisierung und Staatsmedizin. Das zentrale Anliegen
dabei muss die Überwindung des zweigeteilten Versiche-
rungssystems sein. Wir brauchen eine Versicherung von
allen, von allem für alle. Damit einher geht auch eine ein-
heitliche Gebührenordnung für privat wie gesetzlich Ver-
sicherte gleichermaßen. Dies wäre der wirkungsvollste
Ansatz im Kampf gegen die Zweiklassenmedizin. Die Kli-
niken sollten stärker als bisher für die ambulante Versor-
gung geöffnet werden. Auch hier sollte eine einheitliche
Gebührenordnung für niedergelassene Fachärzte und
Kliniken gelten. In diesem Fall belebt Konkurrenz nicht
nur das Geschäft; die stärkere Öffnung der Krankenhäu-
ser kann auch zu mehr Kooperation und damit zu einer
Qualitätssteigerung führen.

Wir müssen Hausärzte deutlich besser bezahlen als
heute. Heute ist es so, dass diejenigen Ärzte am meisten
verdienen, die kaum einmal einen Patienten lebend oder
am Stück zu Gesicht bekommen, wie Pathologen oder La-
borärzte. Die Hausärzte hingegen waren in den letzten
beiden Jahrzehnten fast immer die Verlierer bei den
innerärztlichen Honorarverteilungskonflikten. So kommt
es, dass heutzutage ein Hausarzt nur noch die Hälfte des-
sen verdient wie beispielsweise ein Röntgenarzt. Eine
bessere Honorierung der Hausärzte, die diesen Beruf
wieder so attraktiv macht, wie er es verdient, ist auch der
Schlüssel zu mehr Vorbeugemedizin.

Der dritte Weg in der Gesundheitspolitik wäre in der
Tat der beste, würde man ihn auch konsequent gehen. Er
verbindet die Vorteile des Marktes mit denen eines star-
ken Sozialstaates. Die Rolle des Marktes ist es dabei, In-
novation und Wirtschaftlichkeit zu stützen. Dazu muss der
Verbraucher gestärkt werden. Weil er ohne Hilfe nicht er-
kennen kann, was echte Innovationen sind und was nur
als Innovation verkauft wird, müssen die Krankenkassen
und die Verbraucherschützer die Qualität der Tätigkeit
von Ärzten und Kliniken auswerten und öffentlich ma-
chen. Ärzte müssen ohne Einfluss der Pharmalobby fort-
gebildet und nach der Qualität ihrer Leistungen honoriert
werden, nicht nach der Zahl der Privatpatienten.

Zum besseren Wettbewerb gehört auch eine bessere
Bezahlung von Vorbeugeleistungen, die besonders von
Hausärzten angeboten werden. Es ist unsinnig, die Vor-
beugung zu vernachlässigen, nur um unser Überangebot
an Fachärzten auszulasten. Daher müssen die Wettbe-
werbsbedingungen so geändert werden, dass man mit
dem Erhalt der Gesundheit so gut verdienen kann wie mit
ihrer Wiederherstellung.

Eine gute Gesundheitspolitik kann dafür sorgen, dass
alle, ob arm oder reich, von einem Gesundheitssystem,
das sich durch Qualität und Wirtschaftlichkeit auszeich-
net, profitieren. Sie muss garantieren, dass genug Geld in
die Aus- und Weiterbildung von Ärzten fließt, und die For-
schung in Deutschland gezielt fördern. Dann könnte das
deutsche Gesundheitssystem international an die Spitze
zurückkehren. Das Potenzial dafür hat Deutschland, und
die Bürger werden in den kommenden Jahren die Politik
unterstützen, die dafür sorgt, dass dieses Potenzial end-
Zu Protokoll
lich ausgeschöpft wird. Sie können sicher sein, dass die
SPD genau diese Politik vertritt und gestalten wird.


Daniel Bahr (FDP):
Rede ID: ID1622216100

Die Linke macht mit ihrem Antrag auf einen Missstand

aufmerksam, den auch die FDP-Fraktion im Deutschen
Bundestag stets kritisiert hat. Mit dem Gesetz zur Stär-
kung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversi-
cherung – GKV-WSG – wird die Höhe der Prämie für
hilfebedürftige Versicherte im Basistarif einer privaten
Krankenversicherung halbiert. Diese Halbierung muss
durch die Versichertengemeinschaft der privaten Kran-
kenversicherung getragen werden. Zu der dann noch ver-
bleibenden Prämie erhält der hilfebedürftige Versicherte
zwar einen Zuschuss aus Steuermitteln, es bleibt jedoch
eine für viele nicht schulterbare Finanzierungslücke.

Diese Finanzierungslücke von über 155 Euro ist der
schwarz-roten Koalition nicht nur bereits seit dem Ge-
setzgebungsverfahren zum GKV-WSG bekannt, sie hat sie
sogar bewusst ignoriert, wie Frau Dr. Reimann, die ge-
sundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfrak-
tion, dies im „Tagesspiegel“ vom 4. Mai 2009 auch offen
zugibt. Damit sollte ganz bewusst eine Situation geschaf-
fen werden, die darauf hinausläuft, dass die anderen
PKV-Versicherten diese Finanzierungslücke durch eine
Verteuerung ihrer Tarife schließen müssen. Das ist nicht
nur inhaltlich falsch. Das ist auch unverantwortliches
politisches Handeln.

Eine solche Irreführung der Parlamentarier, die über
das Gesetz abzustimmen hatten, und auch der Bürger, die
diesen Prozess aufmerksam beobachtet haben, ist dem
Ansehen des Gesetzgebers und der Politik nicht förder-
lich. Für Frau Dr. Reimann stellt dies, so ihre Äußerun-
gen im genannten Beitrag des „Tagesspiegels“, „kein
Problem“ dar. Es handle sich ja nicht um besonders viele
Fälle. Für die FDP-Bundestagsfraktion ist dies jedoch
ein weiterer Schritt in das Aufweichen der politischen Sit-
ten. Und es ist die Fortsetzung des Versuchs, die private
Krankenversicherung zu schwächen, um beim Marsch in
ein staatlich gelenktes, zentralistisches Einheitskassen-
system wieder ein Stück voranzukommen.

Die Linke greift mit ihrem zur Debatte stehenden An-
trag zwar dankenswerterweise ein berechtigtes Anliegen
auf. Nichtsdestoweniger ist die Lösung, die Finanzie-
rungslücke durch die Versichertengemeinschaft der pri-
vaten Krankenversicherung tragen zu lassen, falsch.

Für die FDP-Bundestagsfraktion ist es zwar eine
Selbstverständlichkeit, dass derjenige, der seine Prämie
aus eigenen Kräften nicht schultern kann, unterstützt
werden muss. Aus den Regelsätzen für Hartz IV bzw. der
Grundsicherung kann die Finanzierungslücke bei der
Prämie nicht bestritten werden. Dies ist für die FDP-Bun-
destagsfraktion jedoch eine gesamtgesellschaftliche Auf-
gabe, die damit nicht über die Versichertengemeinschaft,
sondern über das Steuer- und Transfersystem gelöst wer-
den muss. Auch in unserem Antrag „Für ein einfaches,
transparentes und leistungsgerechtes Gesundheitswe-
sen“, der im Plenum des Deutschen Bundestages bereits
beraten wurde, schlagen wir einen sozialen Ausgleich



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Daniel Bahr (Münster)

über das Steuer- und Transfersystem vor. Denn dort ist er
transparenter und zielgenauer.


Frank Spieth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1622216200

„Alle Menschen werden krankenversichert“ ließ die

Bundesregierung 2007 republikweit plakatieren. Ein ehr-
geiziges Ziel, ein richtiges Ziel! Aber daran muss sich die
Bundesregierung auch messen lassen. Werden alle Men-
schen krankenversichert? Nein! Es gibt etwa eine Million
papierlose Flüchtlinge – manche nennen sie „Illegale“ –,
die in aller Regel keine Absicherung im Krankheitsfall
haben. Das haben wir schon mehrfach in Anfragen the-
matisiert, und die Bundesregierung hat abgewunken.

Aber auch nicht alle „legalen“ Einwohner Deutsch-
lands haben einen Krankenversicherungsschutz. Darum
geht es bei unserem Antrag. Es gibt eine große Gruppe
von geringverdienenden Selbstständigen, die nicht kran-
kenversichert waren und die immer noch unversichert
sind. Ihr Problem vor der Gesetzesänderung 2007 war,
dass sie sich die Krankenversicherung schlicht nicht leis-
ten konnten. Seit April 2007 haben nun die zuletzt gesetz-
lich versicherten Selbständigen zwar die Pflicht, sich zu
versichern. Sie haben jedoch – das ist das Kernproblem –
immer noch nicht das Geld dazu.

Im Gegensatz zu geringverdienenden Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmern müssen Selbstständige mit gleich
niedrigem Einkommen relativ hohe Krankenkassenbei-
träge zahlen. Mindestens 300 Euro müssen sie monatlich
der Krankenkasse überweisen. Nur unter gewissen Vo-
raussetzungen wird dies auf 200 Euro Mindestbeitrag ge-
senkt. Das entspricht dem Beitrag bei einem Einkommen
von 1 890 Euro bzw. 1 260 Euro.

Viele Selbstständige – der Döner-Verkäufer, der Hand-
werker, die Friseurin oder die Kioskbesitzerin – haben oft
nur um die 900 Euro Gewinn. Davon sollen sie dann
200 oder 300 Euro Krankenkassenbeiträge zahlen. Das
entspricht einer Beitragsbelastung von bis zu 33 Prozent.
Zum Vergleich: Der normale Arbeitnehmer zahlt zusam-
men mit seinem Arbeitgeber 15,5 Prozent, alleine aus sei-
nem Einkommen 8,2 Prozent. Ein Bundestagsabgeordne-
ter zahlt wegen der Beitragsbemessungsgrenze nur einen
Eigenanteil von 3,9 Prozent! Dies ist eine Riesen-Unge-
rechtigkeit! Eine Call-Center-Telefonistin auf Selbststän-
digen-Basis zahlt prozentual zehn Mal mehr als ein gut-
verdienender Bundestagsabgeordneter.

Wir wollen eine allgemein verbindliche Untergrenze
von 840 Euro. Unterhalb dieser Summe tritt in der Regel
Hilfebedürftigkeit ein und die ARGE zahlt die Kranken-
versicherung. Darüberliegende Einkommen sind in ihrer
realen Höhe zur Beitragszahlung heranzuziehen. Die bis-
herigen fiktiven Mindesteinkommen werden abgeschafft.
Im Ergebnis zahlen die betroffenen Selbstständigen mit
840 Euro Monatseinkommen also nicht mehr 300 oder
200 Euro, sondern nur 130 Euro. Das ist völlig ausrei-
chend, finden wir.

Das gilt für alle Selbstständigen, die gesetzlich kran-
kenversichert sind. Bei der Gruppe der privat Versicher-
ten gibt es ein anderes Problem, welches wir lösen wol-
len. Ist ein Selbstständiger, der arbeitslos wird, Mitglied
Zu Protokoll
in einer privaten Krankenversicherung, dann hat er
Pech: Seit Anfang 2009 ist er gesetzlich gezwungen, in
der privaten Krankenversicherung zu bleiben. Die pri-
vate Krankenversicherung darf im Basistarif von Hilfe-
bedürftigen 284,81 Euro verlangen. Die ARGE zahlt
aber nur 129,54 Euro. Es bleibt also eine Differenz von
155,27 Euro. Wer zahlt das?

Die Bundesregierung sagt: Das muss der Hilfebedürf-
tige selbst zahlen. Seit Monaten erinnere ich die Bundes-
regierung an diesen sozialpolitischen Mangel und erhalte
immer die gleiche abweisende Antwort: Man sehe hier
durchaus Handlungsbedarf und man habe eine Arbeits-
gruppe gegründet, die Lösungen erarbeiten soll. Ich habe
die Hoffnung ja noch nicht aufgegeben, dass die Ministe-
rien für Soziales und Gesundheit – beide SPD-geführt –
hier nicht nur heiße Luft produzieren, sondern Politik für
die Betroffenen machen.

Auf meine Fragen hat die Bundesregierung zudem ge-
antwortet, die privaten Krankenversicherungen müssten
bei Hilfebedürftigen alle Leistungen erbringen – auch
wenn diese nicht zahlten. Das ist richtig. Jedoch bauen
die Hilfebedürftigen damit Schulden bei ihrer Versiche-
rung auf. Nach derzeit geltendem Recht bedeutet das:
Wer zum Januar 2009 arbeitslos wurde und immer nur die
129,54 Euro weiterreicht, die die ARGE für eine Kran-
kenversicherung zur Verfügung stellt, bekommt zwar alle
Leistungen. Er hat aber Ende 2009 bereits knapp 1 900
Euro Schulden. Falls er dann wieder Arbeit findet, wird
er erstens sofort zahlungspflichtig und zweitens kann die
Versicherung die Leistungen dann so lange auf ein Min-
destmaß kürzen, bis alles beglichen ist. Das ist absurd.

Betroffene haben sich an mich gewendet. Sie wollen
mittlerweile ihre Krankenversicherung kündigen, obwohl
sie krank sind und dringend eine Versicherung brauchen.
Sie haben genug von der immer bedrückenderen Ver-
schuldung und genug von dem Rechtsstreit mit der Versi-
cherung. Mit jedem Tag, an dem wir hier im Bundestag
mit der Entscheidung warten, wird das Problem drängen-
der. Daher bitte ich Sie, dieses Gesetz noch vor der Bun-
destagswahl zu ändern.


Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622216300

„Ganz Deutschland ist versichert!“ – so jubelte es aus

den Anzeigen der Bundesregierung nach der Gesund-
heitsreform. Die allgemeine Versicherungspflicht wurde
als sozialpolitische Großtat dargestellt und sollte so über
die vielen Defizite der Reform hinwegtäuschen. Doch
schon nach kürzester Zeit erweist sich das als bloßes
Illusionstheater. Tatsächlich hat die Gesundheitsreform
nichts daran geändert, dass für viele Selbstständige der
Krankenversicherungsschutz nicht finanzierbar ist. Das
betrifft insbesondere solche Selbstständigen, die als Ein-
Mann- bzw. Ein-Frau-Unternehmen tätig sind. Diese
Gruppe macht inzwischen mehr als die Hälfte aller
Selbstständigen aus. Doch das Krankenversicherungs-
recht geht nach wie vor von einem überholten Selbst-
ständigenbild aus. Demnach sind Selbstständige typi-
scherweise in der Lage, selbst für die Kosten ihrer
Gesundheitsversorgung aufzukommen, und deshalb nicht
auf den Schutz der Solidargemeinschaft angewiesen. Die-



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Birgitt Bender
ses Selbstständigenbild ist aber überholt. Viele der über
2,3 Millionen Solo-Selbstständigen verfügen über deut-
lich geringere Einkommen als vergleichbar qualifizierte
Angestellte. Der Basistarif in der PKV ist für sie zu teuer,
die Mindestbemessungsgrundlage in der GKV zu hoch.
Die Kolleginnen und Kollegen von der Linken schlagen
deshalb vor, den Basistarif und die Mindestbemessungs-
grundlage weiter abzusenken. Ich halte diesen Vorschlag
für begründet. In der gesetzlichen Krankenversicherung
werden die Beiträge einkommensabhängig erhoben. Min-
destbeiträge sind innerhalb dieses Solidarsystems eigent-
lich ein Fremdkörper. Schade ist allerdings, dass der An-
trag mit keinem Wort auf die wesentliche Ursache dieses
sozialpolitischen Problems eingeht. Und das ist die Zwei-
teilung unseres Krankenversicherungssystems in GKV
und PKV und der Umstand, dass sich ausgerechnet die
wirtschaftlich leistungsstärksten Bevölkerungsgruppen
dem Solidarausgleich innerhalb der GKV entziehen kön-
nen.

Es ist dieses „Ausstiegsprivileg“, das innerhalb der
GKV eine Mindestbemessungsgrundlage für freiwillig
Versicherte erforderlich macht. Ohne eine solche Grenze
würden sich für die gesetzliche Krankenversicherung vor
allem einkommensschwache Selbstständige mit hohen
Gesundheitsrisiken entscheiden, die keine kostengünstige
Aufnahme in die PKV finden. Die meisten anderen Selbst-
ständigen würden sich auch weiterhin privat versichern.
Damit würden aber die gesetzlich Krankenversicherten
weiter belastet. Und das ist auch schon dann der Fall,
wenn man auf die Mindestbemessungsgrundlage nicht
verzichtet, sondern sie deutlich reduziert. Der von den
Kolleginnen und Kollegen der Linken angestrebte Min-
destbeitrag von 125 bis 130 Euro würde die entstehenden
Leistungsausgaben im Durchschnitt nicht decken. Damit
ist für mich die Forderung nach einer Reduzierung des
Mindestbeitrags nicht vom Tisch. Aber diese Überlegung
zeigt auch, dass eine wirklich gute Lösung nur mit einer
umfassenden Reform zu finden sein wird. Erst durch die
Weiterentwicklung unseres Krankenversicherungssys-
tems in eine Bürgerversicherung, an der alle Bevölke-
rungsgruppen beteiligt sind, werden sich die vielen Sys-
tembrüche und Ungerechtigkeiten, die heute zwischen
GKV und PKV stattfinden, beheben lassen.

M
Marion Caspers-Merk (SPD):
Rede ID: ID1622216400


Lassen Sie mich zu dem vorliegenden Antrag der Frak-
tion Die Linke eines feststellen: Die Bundesregierung hat
bedürftigen Selbstständigen bereits eine wichtige Hilfe
gegeben. Selbstständige, die nur ein geringes Einkommen
haben, zahlen 30 Prozent weniger Beiträge als im Nor-
malfall. Das haben wir mit der letzten Gesundheitsreform
realisiert. Allen Selbstständigen geringere Beitragszah-
lungen ermöglichen zu wollen, halte ich aber für zu weit
gegriffen. Nicht nur die Selbstständigen, sondern alle
Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung sind
daran interessiert, möglichst geringe Beiträge zur gesetz-
lichen Krankenversicherung zu zahlen. Ein verständli-
ches Anliegen. Beitrag und Leistung müssen jedoch
immer in einem angemessenen Verhältnis zueinanderste-
hen, die Krankenversicherung macht hier keine Aus-
nahme.

Besondere Mindestbeiträge für Selbstständige haben
schon deshalb einen Sinn, weil das Steuerrecht den
Selbstständigen, anders als Arbeitnehmern, eine gewisse
Gestaltbarkeit des Einkommens erlaubt. Diese steuer-
rechtlichen Möglichkeiten dürfen sich aber nicht in Form
ungerechtfertigt niedrigerer Beiträge auf die gesetzliche
Krankenversicherung auswirken. Zudem belasten Versi-
cherte, die keine oder nur geringe Beiträge zahlen, die
übrigen Beitragszahler der Solidargemeinschaft, da Bei-
tragsfreiheit oder geringe Beiträge immer von den übri-
gen Beitragszahlern mitfinanziert werden müssen. Das
kann nicht richtig sein.

Zum zweiten Punkt Ihres Antrags will ich betonen: Mit
der Gesundheitsreform haben auch Menschen mit gerin-
gerem Einkommen die Möglichkeit erhalten, in der PKV
versichert bleiben zu können; denn seit dem 1. Januar
2009 dürfen die Versicherungsunternehmen niemandem
mehr kündigen, der Beitragsrückstände aufweist. Sie
müssen zudem Notfallleistungen in jedem Fall bezahlen.
Und bei Hilfebedürftigen im Basistarif müssen die Versi-
cherer die Leistungen sogar in vollem Umfang gewähren.
Es kann also keine Rede davon sein, dass – wie Sie schrei-
ben – die Betroffenen keinen Krankenversicherungs-
schutz garantiert bekämen. Zu dem Problem, um das es
Ihnen konkret geht – die Beitragslücke, die nur bei Per-
sonen entstehen kann, die bereits ALG II beziehen und
privat versichert sind –, habe ich bereits im Gesundheits-
ausschuss Stellung genommen. Die Bundesregierung
prüft derzeit verschiedene Lösungsmöglichkeiten. Das
Ergebnis dieser Prüfung werden Sie abwarten müssen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622216500

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 16/12734 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.

Tagesordnungspunkte 32 a und 32 b:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

CSU und der SPD

Sicherheit, Stabilität und Demokratie im Süd-
kaukasus fördern

– Drucksachen 16/12102, 16/12726 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Eduard Lintner
Markus Meckel
Harald Leibrecht
Dr. Norman Paech
Rainder Steenblock

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

Steenblock, Marieluise Beck (Bremen), Volker
Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion Bündnis 90/DIE Grünen






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Demokratie und Sicherheit im Südkaukasus
stärken

– Drucksachen 16/12110, 16/12727 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Eduard Lintner
Markus Meckel
Harald Leibrecht
Dr. Norman Paech
Rainder Steenblock

Hierzu haben folgende Kolleginnen und Kollegen
ihre Reden zu Protokoll gegeben: Manfred Grund,
Eduard Lintner, Markus Meckel,1) Dr. Bärbel Kofler,
Michael Link, Dr. Hakki Keskin und Rainder
Steenblock.


Manfred Grund (CDU):
Rede ID: ID1622216600

Unsere Sicht auf den Südkaukasus wird noch von dem

Eindruck des Georgienkrieges vom letzten August domi-
niert. Allerdings sind damit auch einige positive Entwick-
lungen aus dem Blickfeld geraten. Ich nenne nur einige
vorsichtigen Zeichen der Annäherung zwischen Arme-
nien und der Türkei wie auch zwischen Armenien und
Aserbaidschan. Allerdings sind nach wie vor 20 Prozent
aserbaidschanischen Territoriums besetzt, festigt Russ-
land seine Präsenz in den abtrünnigen georgischen Ge-
bieten.

Der Georgienkrieg hat die Abspaltung Abchasiens und
Südossetiens zwangsläufig nur vertieft. Wir werden noch
abzuwarten haben, wie sich die innenpolitische Aufarbei-
tung der damaligen Ereignisse in Georgien selbst voll-
zieht. Hier sind im Augenblick noch Klärungsprozesse im
Gange, deren Ausgang mit darüber entscheiden wird, wie
sich unsere Zusammenarbeit mit Georgien weiter entwi-
ckeln sollte. Ich begnüge mich an dieser Stelle mit dem
Hinweis, dass das Verhalten des georgischen Präsidenten
im Zusammenhang mit dem Krieg im August für mich un-
sere Skepsis gegenüber einem möglichen Membership
Action Plan der NATO für Georgien bestätigt hat.

Die Krisenpräventionsmechanismen haben offensicht-
lich versagt. Allerdings war der Friedenswille auf beiden
Seiten begrenzt. Russland war auf den Krieg anscheinend
vorbereitet. Letztlich hat jedoch nicht Moskau, sondern
Georgien den Konflikt bewusst eskalieren lassen. Wenn es
einmal soweit kommt, helfen natürlich auch keine Prä-
ventionsmechanismen mehr.

Welche Schlüsse ergeben sich daraus? Erstens sollten
sich alle Beteiligten von der Vorstellung verabschieden,
es ließen sich im Kaukasus heute effektive Sicherheits-
strukturen ohne Einbeziehung Russlands aufbauen.
Umso wichtiger ist gerade deshalb der Ausbau der re-
gionalen Zusammenarbeit. Das Konzept der Schwarz-
meersynergie ist in dieser Hinsicht nach wie vor wegwei-
send. Und gerade auch die „Östliche Partnerschaft“
bietet den Ländern der Region eine Chance, bestehende
Trennlinien durch kooperative Ansätze zu überwinden.

1) Lag bei Redaktionsschluss nicht vor. Die Rede wird zu einem spä-
teren Zeitpunkt abgedruckt.
Aber auch im Verhältnis zwischen dem Westen und
Russland, zwischen der EU oder der NATO einerseits und
Russland andererseits zeigte sich, wie unterentwickelt die
Mechanismen für die Krisenbewältigung sind. Zwar
möchte ich ausdrücklich hervorheben, dass die französi-
sche Ratspräsidentschaft insgesamt sehr positiv agiert
hat, trotz aller Schwierigkeiten und Kritik. Demgegen-
über war es in meinen Augen jedoch ein Fehler, den
NATO-Russland-Rat auszusetzen. Welche Gremien haben
wir denn sonst für den Krisenfall?

Deshalb sollten wir auch auf die Vorschläge Präsident
Medwedews zur Ausgestaltung einer umfassenden Si-
cherheitsarchitektur in Europa ernsthaft eingehen. Es
kommt nur darauf an, dass hierbei nicht einfach nur eine
Art Einspruchsrecht gegenüber EU- oder NATO-Ent-
scheidungen gemeint ist. Russland ist jetzt gefordert,
seine bislang recht vagen Vorschläge zu konkretisieren.

Auf Präsident Medwedews Vorschläge eingehen zu
wollen, bedeutet nicht, die bestehende Sicherheitsarchi-
tektur in Europa infrage zu stellen. Aber das seit dem
Ende des Kalten Krieges ungelöste Problem dieser
Sicherheitsarchitektur ist die mangelnde Einbindung
Russlands gewesen. Solange Russland in einer Art
Außenseiterrolle verbleibt, wird es seine auch machtpoli-
tische Selbstbestätigung in Form innen- und außenpoliti-
scher Sonderwege suchen.

Natürlich muss die Anerkennung von Südossetien und
Abchasien auf unsere Ablehnung stoßen. Aber Russland
hat bereits zur Kenntnis nehmen müssen, wie isoliert es in
dieser Angelegenheit geblieben ist. Auch die russische
Politik sieht sich in dieser Hinsicht ja in einem Dilemma.

Moskau weiß sehr wohl, wie angewiesen Russland auf
ein kooperatives Verhältnis gegenüber dem Westen ist.
Und die wirtschaftlichen Folgewirkungen des Krieges in
Georgien haben dies ja auch noch einmal sehr deutlich
gemacht. Russland sollte deshalb auch selbst daran inte-
ressiert sein, Zeichen des guten Willens und der Zusam-
menarbeit gegenüber Europa zu setzen.

In diesem Zusammenhang haben Kanzlerin Merkel
und Präsident Sarkozy im Februar in einem gemeinsa-
men Artikel auf das Beispiel Transnistrien verwiesen. In-
wieweit Russland hier zu Konzessionen bereit oder fähig
ist, wird sich zeigen.

Grundsätzlich hat aber auch die Finanzkrise gegensei-
tige Abhängigkeiten beleuchtet. Und ebenso verbinden
sich mit der neuen Administration in Washington Aus-
sichten auf eine engere Zusammenarbeit, nicht nur im
russisch-amerikanischen Verhältnis. Auch innerhalb der
EU dürften so kooperative Ansätze gestärkt werden.
Beide Seiten sollten darin eine Chance sehen.

Auch auf den Kaukasus werden diese Entwicklungen
nicht ohne Einfluss bleiben. Alle Länder werden sehr viel
stärker davon profitieren, wenn sie sich auf ihre innere
Entwicklung konzentrieren können, anstatt auf innere und
äußere Konflikte. Die EU bietet bereits im Rahmen ihrer
bestehenden Instrumente ein breites Spektrum an Trans-
formationshilfen an. Es kommt allerdings entscheidend
darauf an, dass sie von den Regierungen in der Region
entsprechend angenommen werden; und dass Reformen


(A) (C)



(B) (D)


Manfred Grund
auch dann effektiv implementiert werden, wenn sie die
Macht der jeweils Herrschenden zu beschneiden drohen.

Der Kaukasus behält für Europa seine strategische
Bedeutung, nicht zuletzt im Blick auf unsere Energiever-
sorgung. Deshalb ist es auch richtig, dass wir an der po-
litischen Unterstützung für die Nabucco-Pipeline festhal-
ten. Für unsere Versorgungssicherheit, aber auch für
Sicherheit und Stabilität in Europa insgesamt bleibt der
Kaukasus eine Schlüsselregion. Deshalb kann auch der
Georgien-Krieg uns nur in unserer Absicht bestärken, die
Transformations- und Friedensprozesse in der Region zu
unterstützen.


Eduard Lintner (CSU):
Rede ID: ID1622216700

Es ist sehr begrüßenswert, dass wir trotz des engen

Zeitplans des Parlaments in den letzten Wochen vor der
Sommerpause doch noch einmal die Zeit finden, über den
Südkaukasus zu sprechen. Denn dort liegt einer der welt-
politischen Brennpunkte, und aus der jüngsten Vergan-
genheit wissen wir, wie schnell sich dort schwelende Kon-
flikte in kriegerische Feuer verwandeln können. Dagegen
gilt es politische Vorkehrungen zu treffen.

An erster Stelle ist hier die Gründung der „Östlichen
Partnerschaft“ der EU zu nennen, zu der nun auch alle
drei südkaukasischen Republiken gehören. Die „Östliche
Partnerschaft“ macht deutlich, dass diese Staaten zu Eu-
ropa gehören und dass sie für die Außenpolitik der EU
künftig eine wichtige Rolle spielen sollen. Die Bundes-
kanzlerin hat mit ihrer persönlichen Anwesenheit in Prag
ein deutliches Zeichen dafür gesetzt und so bekundet,
dass Deutschland an der Entwicklung der „Östlichen
Partnerschaft“ großes Interesse hat. Aber jetzt muss der
durch die Partnerschaft geschaffene Rahmen entschlos-
sen und zügig mit konkreten Projekten gefüllt werden.

Im Anschluss an den Gründungsgipfel der „Östlichen
Partnerschaft“ fand noch ein Energiegipfel der EU statt,
der für die Realisierung der Nabucco-Pipeline wichtige
Fortschritte gebracht hat. So hat die Türkei ihr Junktim
zwischen der Teilnahme an dem Pipelineprojekt und den
EU-Beitrittsverhandlungen aufgehoben, und gleichzeitig
hat Aserbaidschan die Belieferung von Nabucco mit Gas
zugesagt. Damit ist dieses Projekt, das für die künftige si-
chere Energieversorgung Europas so wichtig ist, hoffent-
lich auf gutem Wege. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Pro-
jekt noch weitere positive Impulse für die gemeinsame
wirtschaftliche Entwicklung der Region und für die Bin-
dungen zwischen dem Südkaukasus und Europa auslöst.
Dies wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn noch mög-
lichst viele andere Staaten aus Zentralasien und dem
Mittleren Osten als Gaszulieferer für Nabucco gewonnen
werden könnten.

Die positiven Ergebnisse von Prag werden noch da-
durch unterstrichen, dass auch die Präsidenten Armeni-
ens und Aserbaidschans zu Gesprächen über die Beile-
gung des Konflikts um die Region Berg-Karabach
zusammenkamen. Diese auf Vermittlung der USA und der
Türkei zustande gekommenen Gespräche bieten nun eine
weitere Chance, diesen seit anderthalb Jahrzehnten
schwelenden Konflikt einer Lösung näher zu bringen. Die
Gespräche müssen nun in einen Prozess münden, in dem
Zu Protokoll
die Wahrung und Wiederherstellung der territorialen In-
tegrität der beteiligten Staaten sowie die Rückführung
der Flüchtlinge oberste Priorität haben müssen. Die Bun-
desregierung kann dabei in ihrer Rolle als Mitglied der
Minsk-Gruppe wertvolle Hilfestellungen leisten und
sollte die neuen Impulse im armenisch-aserbaidschani-
schen Verhältnis entschlossen nutzen, um einen aberma-
ligen Stillstand in den Verhandlungen zu verhindern.

Wie entscheidend es für das friedliche Miteinander
von Staaten ist, den Anspruch jedes Landes auf Respek-
tierung seiner territorialen Integrität zu achten, zeigen
die gravierenden Folgen der Verletzung dieses zentralen
Völkerrechtsprinzips. Regelmäßig sind Tod und Leid für
die betroffene Bevölkerung, die Vertreibung und Heimat-
losigkeit Tausender, wenn nicht Millionen von Menschen
die Folge, wird mit der vorhandenen Infrastruktur auch
die Basis für sicheres Auskommen und wachsenden Wohl-
stand zerstört. Die Chancen für eine friedliche Zukunft
werden oft für Generationen vernichtet. Wachsende Ver-
zweiflung, unbändige Wut und Hass belasten die Bezie-
hungen auf Jahrzehnte hinaus. Das zu verhindern ist eine
überaus wichtige humane Pflicht der Politik vor allem je-
ner Staaten, die wie zum Beispiel Russland entscheiden-
den Einfluss auf das Geschehen haben.

In Georgien gibt es nach Wochen der Konfrontation
zwischen Regierung und Opposition nun Anzeichen für
eine neue Dialogbereitschaft auf beiden Seiten. Georgien
braucht nach den verheerenden Ereignissen des vergan-
genen Sommers wahrlich keine neuen Konflikte. Daher
ist die am Montag begonnene Runde von Gesprächen
zwischen Präsident Saakaschwili und Vertretern der Op-
position ein gutes Zeichen. Die georgische Politik
braucht aber auch die Gewissheit, dass sie von der inter-
nationalen Gemeinschaft unterstützt wird. Daher war es
gut und richtig, das schon lange geplante NATO-Manö-
ver in der vergangenen Woche trotz der Kritik aus Mos-
kau abzuhalten. Die Äußerungen des Bundesministers
des Auswärtigen vom vergangenen Wochenende in dieser
Sache sind mir vor diesem Hintergrund nicht verständ-
lich. Es mag vielleicht sein, dass das Manöver die Gefahr
einer Reizung Moskaus mit sich gebracht hat. Eine kurz-
fristige Absage hätte aber als ein Hinweis darauf
missverstanden werden können, dass die westliche Staa-
tengemeinschaft tatsächlich den Anspruch Moskaus, das
Land als seine exklusive Interessensphäre zu behandeln,
hinnimmt.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass das in
letzter Zeit gezeigte große Interesse Europas am Gesche-
hen im Südkaukasus und den dortigen Staaten nicht, wie
schon so oft in der Vergangenheit, wieder nachlässt. Da-
für ist die Region mit ihren Menschen, ihrer Kultur, ihrem
Engagement, den Vorkommen an wichtigen Rohstoffen
und der Funktion als Brücke von Europa nach Asien und
dem Mittleren und Nahen Osten zu bedeutsam. Deutsch-
land und Europa müssen in verlässlicher Weise engagiert
bleiben.


Dr. Bärbel Kofler (SPD):
Rede ID: ID1622216800

Die Länder des südlichen Kaukasus – Armenien, Aser-

baidschan und Georgien – haben nach der Auflösung der



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Bärbel Kofler
Sowjetunion einen dramatischen Zusammenbruch ihrer
Wirtschaft und ihrer sozialen Sicherungssysteme erfah-
ren. Die desolate wirtschaftliche Situation verknüpfte
sich mit ethnischen und religiösen Konflikten, die ihre
Wurzeln in der Geschichte der Region Südkaukasus ha-
ben. Gleichzeitig gibt es derzeit in allen drei Ländern ei-
nen großen Bedarf am Aufbau von demokratischen und
rechtsstaatlichen Strukturen.

Das Verhältnis Georgiens zum Nachbarstaat Russland
ist durch die noch offene Regelung der Abchasien- und
Südossetien-Frage seit Jahren spannungsreich. Auch der
ungelöste Berg-Karabach-Konflikt zwischen Armenien
und Aserbaidschan beunruhigt die Region. Seit 1994 gibt
es einen fragilen Waffenstillstand zwischen beiden Staa-
ten, jedoch keinen Kompromiss, der den Frieden ermög-
licht.

Die Krise zwischen Russland und Georgien erreichte
im vergangenen Jahr eine Zuspitzung und zeigte zugleich
die internationale Dimension des südkaukasischen Kon-
flikts. Die Region des südlichen Kaukasus ist als Schnitt-
stelle zwischen Europa und Asien von großer politischer
Bedeutung. Die drei Südkaukasus-Länder streben eine
engere Bindung an Europa und die westliche Staatenge-
meinschaft an. Davon erhoffen sie sich einen Beitrag zur
Lösung ihrer gegenwärtigen Problemsituation. Alle drei
Staaten sind seit einigen Jahren Mitglieder im Europarat,
sind Partnerstaaten der Europäischen Nachbarschafts-
politik, und Georgien strebt zudem eine NATO-Mitglied-
schaft an. Frieden und Entwicklung in dieser Region sind
mithin für die internationale Gemeinschaft von großem
Interesse.

An erster Stelle aber ist eine demokratische und wirt-
schaftliche Entwicklung für die Völker des Südkaukasus,
für die Menschen vor Ort von besonderer Dringlichkeit.
Immer noch leben die Hälfte der Männer und Frauen in
diesen Ländern unterhalb der Armutsgrenze. Hinzu kom-
men die schrecklichen Erfahrungen von Krieg und Bür-
gerkrieg. Die gesundheitliche Situation ist durch die
grenzüberschreitende Gefahr der Tuberkulose überschat-
tet. Eine Kultur der gewaltfreien Konfliktlösung bedarf
ebenso der Förderung wie der Schutz für Minderheiten.

Um die wirtschaftliche und politische Entwicklung des
Südkaukasus zu stärken, den Menschen vor Ort Perspek-
tiven zu geben und eine regionale Kooperation zwischen
den Ländern des Südkaukasus zu erreichen, leistet auch
die deutsche Entwicklungspolitik ihren Beitrag. Die Eck-
pfeiler der Entwicklungszusammenarbeit mit der Region
des südlichen Kaukasus sind der Ausbau des demokrati-
schen Rechtssystems sowie die Stärkung der kommunalen
Demokratie und der Zivilgesellschaft. Die Förderung der
Privatwirtschaft und des Energiesektors sowie der Auf-
bau von grenzüberschreitenden Nationalparks gehören
ebenso dazu wie die Bekämpfung der Tuberkulose.

Beispielsweise wird durch die deutsche Technische Zu-
sammenarbeit in allen drei Ländern Beratung für den
Aufbau unabhängiger und funktionsfähiger Justizsysteme
bereitgestellt. Seit 1999 werden in Georgien daher fach-
liche Richterprüfungen durchgeführt. Bereits amtierende
Richter mussten sich ebenfalls dieser Prüfung unterzie-
hen. Sie findet zudem unter Beteiligung externer Beob-
Zu Protokoll
achter aus Europa und den USA statt. Gesetzesreformen
im Bereich des Zivil- und Handelsgesetzes sowie der Zi-
vilprozessordnung tragen zu einer verbesserten Rechtssi-
cherheit für wirtschaftliche Akteure in den drei Ländern
bei.

In Georgien unterstützt die deutsche Finanzielle Zu-
sammenarbeit ein Projekt zur Errichtung eines funktio-
nierenden Kataster- und Grundbuchwesens. 1991, nach
der Unabhängigkeit Georgiens, wurde aus staatlichem
Besitz faktisch über Nacht Privateigentum. Überprüfun-
gen alter Eigentumsrechte fanden nicht statt, die neuen
Besitzer wurden wiederum nirgendwo eingetragen. Ge-
meinden konnten keine Grundsteuern erheben, weil sie
die Eigentümer nicht kannten, und die mangelnde Rechts-
sicherheit im Grundbuchwesen führte zu Konflikten in
der Gesellschaft. Der Erfolg des Projekts macht sich in-
zwischen bemerkbar, denn überall im Land gibt es nun
verlässliche Grundbücher. Das ist die Basis für wirt-
schaftliche Entwicklung und für sozialen Frieden, aber
auch die Grundlage für ein Verantwortungsbewusstsein
von Eigentümern; denn Eigentum verpflichtet.

In Aserbeidschan hemmen gravierende Strukturpro-
bleme die weitere Entwicklung des Energiesektors au-
ßerhalb des Ölsektors. Das führt trotz des Ölreichtums
zu einer schlechten Energieversorgung des Landes.
Übertragungsnetze sind veraltet, häufig überlastet und
daher instabil. Hier setzt die deutsche Entwicklungszu-
sammenarbeit mit einem Reformprojekt der Elektrizi-
tätsübertragungsanlagen an. Auch hier sind erste Er-
folge zu verzeichnen, denn das Projekt führt zu einer
besseren Energieeffizienz und einer erhöhten Versorgung
des Landes. Dadurch wird zum einen die wirtschaftliche
Wettbewerbsfähigkeit gesteigert, zum anderen der Klima-
schutz gefördert.

Zum Klimaschutz trägt zudem das „Ökoregionale Na-
turschutzprogramm Südlicher Kaukasus“ bei, welches
unter anderem mit deutschen Entwicklungsgeldern finan-
ziert wird. Der südliche Kaukasus besitzt eine einzigar-
tige biologische Vielfalt, die durch Wilderei, Überwei-
dung und Holzeinschlag akut bedroht ist. Der mit unserer
Unterstützung gegründete Umweltstiftungsfonds finan-
ziert die Entwicklung und Umsetzung einer regionalen
Naturschutzstrategie.

Mit solchen Beispielen könnte ich im Bereich der För-
derung des Klein- und Mittelstandes fortfahren, wo durch
Mikrokredite nicht nur die Wirtschaft belebt wird, son-
dern auch der Korruption im Kreditwesen der Kampf an-
gesagt wird.

Aber lassen sie mich noch ein besonderes Augenmerk
auf die Friedensarbeit und Konfliktprävention der Ent-
wicklungszusammenarbeit werfen. Hier arbeiten die
deutschen Durchführungsorganisationen Hand in Hand
mit unseren politischen Stiftungen. Sie fördern den Erfah-
rungsaustausch zwischen politischen Entscheidungsträ-
gern, Mediatoren und Multiplikatoren, Vertretern von
Menschenrechtsgruppen sowie Medien. Dabei wird The-
men wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und religiöser
Toleranz sowie dem Schutz von Minderheiten besondere
Aufmerksamkeit geschenkt. Das Besondere an den kon-
fliktpräventiven Initiativen ist ihre regionale Dimension.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Bärbel Kofler
Sie sind als grenzüberschreitende Kooperationen ange-
legt und arbeiten mit unterschiedlichen Akteuren und
Entscheidungsträgern aller drei Länder.

Die Kaukasus-Initiative der deutschen Entwicklungs-
politik ergänzt in vielen Punkten die deutsche Außenpoli-
tik sowie Europapolitik. Gerade Letztere wurde mit der
„Östlichen Partnerschaft“ in der vergangenen Woche
noch einmal vertieft. Hierbei soll unter anderem die Ko-
operation der Länder untereinander gefördert werden.

Die langfristige und nachhaltige Begleitung der
Transformationsprozesse in der Region des südlichen
Kaukasus wird seit 2001 mit 50 Millionen Euro jährlich
aus dem entwicklungspolitischen Bundeshaushalt finan-
ziert. Die bereits geschilderten Maßnahmen und Investi-
tionen unserer Entwicklungszusammenarbeit zeigen ei-
nes besonders deutlich: Entwicklung fördern heißt auch
immer Frieden sichern. Grenzüberschreitende Projekte
regen fachlichen und zwischenmenschlichen Austausch
auf vielen Ebenen der Gesellschaft an. Gegenseitiges
Verständnis für gemeinsame Probleme führt zu besserer
Verständigung.

Mit unserer Entwicklungspolitik stellen wir uns dem
Anspruch, Verständnis zu ermutigen und Frieden zu för-
dern.


Michael Link (FDP):
Rede ID: ID1622216900

Die Ereignisse der vergangenen Wochen zeigen er-

neut, dass eine Aussprache über den Südkaukasus nur un-
ter dem Bezug zu den regionalen Akteuren Russland und
Türkei geschehen kann.

Die Reaktion Russlands auf das NATO-Manöver im
Rahmen der Partnerschaft für den Frieden und die Reak-
tionen Aserbaidschans auf die türkisch-armenische An-
näherung zeigen, wie stark die verschiedenen Problemla-
gen innerhalb der Region miteinander verzahnt und
verflochten sind. Dies mag mancher von uns bedauern,
zumal Akteure in allen Staaten der Region gleichermaßen
eine Lösung der Konflikte in die Geiselhaft eigener par-
tikularistischer und aggressiver Politiken nehmen.

Man kann über den ungünstigen Zeitpunkt des Militär-
manövers in Georgien diskutieren, auch wenn dieses Ma-
növer prinzipiell berechtigt und langfristig geplant und
angekündigt war. Die Reaktion Russlands zeigt jedoch er-
neut deutlich seine Haltung in der Südkaukasus-Frage.
Die Begrifflichkeiten mögen sich geändert haben, die
russische Politik des sogenannten Nahen Auslands als
seiner von ihm so definierten exklusiven Einflusszone ist
geblieben.

Die teils reflexhafte Politik Russlands richtet sich ge-
gen jeden, der vermeintlich in diese Einflusszone vor-
dringt. Russland hat leider noch immer nicht verinner-
licht, dass es sich bei den Nachfolgestaaten der UdSSR
um unabhängige Staaten handelt. Dieser rückwärtsge-
wandte Ansatz schadet jedoch letztendlich auch Russland
selbst. Im Gegensatz zur EU hat das Land leider noch
nicht begriffen, dass es sich bei internationaler Koopera-
tion nicht um ein Nullsummenspiel handelt.
Zu Protokoll
Die zwanghafte Einteilung in Freunde und Feinde
schadet hingegen allen Seiten und behindert Entwick-
lung, Frieden und Wohlstand. Diese Lektion haben wir in
Europa bitter lernen müssen, und deshalb besteht für die
FDP deutsche Außenpolitik immer zuerst aus einer
Selbstverpflichtung zur Kooperation. Eine solche Selbst-
verpflichtung zur Kooperation erwarten wir auch von
Russland – und natürlich von den südkaukasischen Staa-
ten.

Verpflichtung auf Kooperation ist auch ein integraler
Teil der Botschaft, die in der „Östlichen Partnerschaft“
steckt, die am 7. Mai 2009 in Prag offiziell initiiert wurde.
Das geringe Interesse mancher Mitgliedstaaten an der
Inauguration war allerdings, das muss man leider deut-
lich sagen, ein Armutszeugnis. Leider ist der Mangel an
Vertrauen und gegenseitiger Achtung anscheinend ein
prinzipielles Problem im Südkaukasus. Dies zeigt sich in-
nerhalb der Länder im Umgang mit der politischen Op-
position. So sind die beständige Diffamierung der Pro-
testbewegung in Georgien und eine fast zwanghafte
verschwörungstheoretische Aufladung der Probleme in
Georgien nicht hilfreich.

Die Regierung Saakaschwili muss sich endlich der
Kritik an der eigenen verfehlten Politik der vergangenen
Monate stellen und sich konstruktiv mit der Oppositions-
bewegung auseinandersetzen. Eine substanzlose Diffa-
mierungsrhetorik ist der falsche Weg. Aber auch die ge-
orgische Opposition muss mehr bieten als den Druck der
Straße.

Eine langfristige Stabilisierung der Beziehungen zwi-
schen der Türkei und Armenien macht die Einbindung
Aserbaidschans in den Annäherungsprozess notwendig.
Die Lösung dieser Konflikte darf kein Land auf dem Altar
rein nationaler Interessen opfern. Die berechtigten An-
sprüche Aserbaidschans auf eine Rückgewinnung der von
Armenien besetzten Gebiete dürfen aber nicht dazu die-
nen, die türkisch-armenische Annäherung zu torpedieren.
Im Gegenteil sollte Aserbaidschan, statt diesen Prozess
mit allen Mitteln zu bekämpfen, ihn verstärkt nutzen.

Bedauernswert ist aber auch die Reaktion der Opposi-
tion in Armenien. Trotz der Unterdrückung durch die ak-
tuelle armenische Regierung sollte die Opposition ihr
Heil nicht in strammen nationalen Tönen suchen. Auch
wenn die Bearbeitung der Konflikte im Südkaukasus – von
einer Lösung kann man leider wohl erst in ferner Zukunft
sprechen – die Einbeziehung aller Konfliktparteien ver-
langt, darf dies nicht dazu führen, dass die armenisch-
türkische Annäherung in die Geiselhaft ultra-nationalis-
tischer Propaganda auf beiden Seiten genommen wird.

Bezüglich der Konflikte im Südkaukasus hat sich die
internationale Gemeinschaft klar zum Prinzip der territo-
rialen Integrität bekannt. Die internationale Gemein-
schaft ist aber zuallererst einer friedlichen Lösung ver-
pflichtet, die langfristig nur unter Berücksichtigung der
Bedürfnisse aller Parteien erreicht werden kann.

Der russisch-georgische Krieg hat gezeigt, wie Gewalt-
erfahrungen das Vertrauen, das für eine erfolgreiche und
friedliche Konfliktbearbeitung unabdingbar ist, nachhal-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Michael Link (Heilbronn)

tig zerstören. Dieser Vertrauensverlust betrifft beileibe
nicht nur Georgien, sondern bedroht die gesamte Region.

Kaukasusexperten betonen, wie sehr der Augustkrieg
den Begriff der Frozen Conflicts infrage gestellt hat. Dies
stellt das „Arrangement“, mit dem man sich bisher be-
gnügt hat, infrage. In Zukunft bedeutet dies, dass die Kon-
fliktbearbeitung von der EU und auch von Deutschland
aktiver angegangen werden muss, und zwar auf allen
Ebenen, insbesondere aber auf der Ebene der zivilgesell-
schaftlichen Akteure.

Dialog ist das Gebot der Stunde! Neben vielen inter-
nationalen Nichtregierungsorganisationen leisten insbe-
sondere die politischen Stiftungen hier gute Arbeit, die
gestärkt werden muss.

Die deutsche Politik ist gefordert, die im Rahmen der
„Östlichen Partnerschaft“ geplante Annäherung des
Südkaukasus an Europa aktiv zu begleiten. Viele betonen,
dass dies nicht ohne gleichzeitige Einbindung Russlands
geschehen kann – das stimmt –, aber nicht durch ein Mit-
spracherecht oder Vetorecht Russlands bei der „Östli-
chen Partnerschaft“ , sondern durch die zügige und vor-
dringliche Verabschiedung eines neuen Partnerschafts-
und Kooperationsabkommens mit Russland. Nur ein sol-
ches neues PKA wird der besonderen Bedeutung Russ-
lands gerecht.

Abschließend hebe ich für die FDP hervor, dass wir
dem gelungenen Antrag der Grünen zustimmen und uns
beim Antrag der Großen Koalition enthalten werden, da
er leider auf die kritische innenpolitische Situation und
die Unterdrückung der demokratischen Opposition nicht
eingeht.


Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1622217000

Heute debattieren wir abschließend über die Anträge

der Regierungskoalition und der Grünen zum Thema
Südkaukasus. Lassen Sie mich zunächst auf eine aktuelle
Entwicklung eingehen.

Erst vor wenigen Tagen wurde zwischen der EU und
einigen Anrainern, darunter die Südkaukasus-Staaten,
die sogenannte Östliche Partnerschaft ins Leben gerufen.
Die Linke ist für eine engere Zusammenarbeit mit den öst-
lichen Nachbarn der EU. Entscheidend ist, ob es sich um
eine echte Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe handelt
und dass Russland nicht ausgegrenzt wird. Die Linke hat
hierzu bereits Anfang 2008 in ihrem eigenen Südkau-
kasus-Antrag detaillierte Vorschläge unterbreitet. Die
Stichwörter lauten: Armutsbekämpfung, sozialer Aus-
gleich, Demokratieförderung, Stärkung der Binnenwirt-
schaften, fairer Handel und Öffnung des EU-Binnen-
marktes für Exportprodukte aus den Südkaukasus-
Staaten über Erdöl und Erdgas hinaus.

Ich finde es sehr bedenklich, wenn die Partnerländer
im Südkaukasus, wie insbesondere im Koalitionsantrag
vorgesehen, auf die Rolle einer Nachschubbasis für den
fossilen Energiehunger Europas reduziert werden. Diese
Politik ist kurzsichtig und wird den Ansprüchen einer fai-
ren und gleichberechtigten Partnerschaft nicht gerecht.
Da unser eigener Antrag deutlich über die Anträge der
Koalition und der Grünen hinausgeht und weitaus umfas-
Zu Protokoll
sendere und präzisere Antworten formuliert, kann die
Linke beiden Anträgen nicht zustimmen.

Völlig vage bleiben die Antragsteller von der Koali-
tion beispielsweise bei den Themen Sicherheitspolitik und
Lösung der ethno-territorialen Konflikte. Wir sollten uns
daran erinnern, dass Georgien und Russland erst im Au-
gust letzten Jahres wegen Südossetien einen Krieg gegen-
einander geführt haben, der tiefe Wunden hinterlassen
hat. Dies betrifft vor allem die bis zu 2 000 Getöteten und
die schwierige Lage der Kriegsflüchtlinge und Bin-
nenvertriebenen in Georgien. Ihr Recht auf Rückkehr in
die früheren Wohnorte muss in vollem Umfang gewähr-
leistet werden. Zahlreiche Binnenvertriebene, circa
100 000 Menschen, konnten bereits in ihre Wohnorte in
den ehemaligen sogenannten Pufferzonen zurückkehren.
Der Wiederaufbau von Wohnungen und Infrastruktur in
Georgien kommt zügig voran. Zahlreiche ehrenamtliche
Helferinnen und Helfer aus der örtlichen Bevölkerung so-
wie humanitäre und technische Hilfsorganisationen aus
den EU-Mitgliedstaaten unterstützen aktiv den Aufbau-
prozess. Auch die Verdienste russischer Aufbauhelfer in
Süd- und Nordossetien gilt es zu würdigen. Ihnen allen
gebührt an dieser Stelle Dank für ihren unermüdlichen
Einsatz.

In der Praxis dürfen sich die Rückkehrmöglichkeiten
für die Flüchtlinge jedoch nicht nur auf kerngeorgische
Gebiete beschränken, sondern müssen auch für Süd-
ossetien und Abchasien gelten. Dies gilt für die Flücht-
linge des letzten Krieges, aber auch für diejenigen aus
früheren Konflikten. Ebenso benötigen zivile Hilfsorgani-
sationen dringend einen ungehinderten Zugang zu den
Konfliktgebieten.

Eine neue Beobachtermission der OSZE für ganz
Georgien inklusive Südossetien ist dringend notwendig.
Es ist auch in russischem Interesse, die Rolle der OSZE zu
stärken. Schließlich hat sich Russland als OSZE-Mitglied
jahrelang aktiv engagiert und wertvolle Arbeit geleistet.

Die OSZE ist nicht die NATO. Die OSZE hat sich in der
Vergangenheit sehr bewährt und könnte zur Grundlage
für eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa werden,
die Russland nicht ausgrenzt, sondern integriert. Die
militärische Einkreisungspolitik, die die NATO gegen-
über Russland immer noch praktiziert, entspricht der
Geisteshaltung des Kalten Krieges. Sie verschärft die
Konfrontation und muss deshalb umgehend beendet wer-
den. Vor diesem Hintergrund ist es politisch unverant-
wortlich, dass die Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag
ausgerechnet die NATO-Beitrittsoption für Georgien aus-
drücklich bekräftigen. Auch im Antrag der Grünen wird
die Aufnahme Georgiens in die NATO nur für den Mo-
ment ausgeschlossen, jedoch nicht für die Zukunft. Einzig
die Linke lehnt die Aufnahme neuer NATO-Mitglieder ab.

Frieden und Sicherheit in Europa bedürfen der Part-
nerschaft mit Russland und nicht seiner Ausgrenzung.
Dies würde ebenso die Lösung der Konflikte im Süd-
kaukasus erleichtern. Es ist sehr zu begrüßen, dass sich
in jüngster Zeit die Anzeichen für Fortschritte bei der
Lösung des Berg-Karabach-Konflikts mehren. Berg-
Karabach bildet den potenziell gefährlichsten Krisenherd
im Südkaukasus. Als Folge der seit 1994 anhaltenden Be-
setzung von circa 20 Prozent des Staatsterritoriums der



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Hakki Keskin
Republik Aserbaidschan durch die Nachbarrepublik Ar-
menien wird die Rückkehr von über 1 Million Binnen-
flüchtlingen blockiert. Armenien leidet umgekehrt unter
den Auswirkungen der Wirtschaftsblockade und den ge-
schlossenen Grenzen zu Aserbaidschan und der Türkei,
die zur Massenauswanderung insbesondere von gut aus-
gebildeten Fachkräften beigetragen haben.

Die Linke unterstützt den Friedensplan, den die OSZE
den Konfliktparteien bereits 1997 unterbreitet hat. Dem-
nach gilt es, die armenisch besetzten Gebiete um Berg-
Karabach schnellstmöglich zu räumen, damit der Groß-
teil der Flüchtlinge zurückkehren kann. Erst im Anschluss
daran sollte über den endgültigen Status der abtrünnigen
Provinz entschieden werden. Die Linke befürwortet hier-
bei eine Autonomielösung innerhalb der territorialen In-
tegrität Aserbaidschans, die den legitimen, völkerrechtli-
chen Interessen aller Konfliktbeteiligten nach unserer
Auffassung am besten entspricht.

Die EU und die deutsche Bundesregierung sind aufge-
rufen, ihre diplomatischen Anstrengungen für eine fried-
liche Konfliktlösung im Südkaukasus zu erhöhen, um
möglichen erneuten kriegerischen Konfliktzuspitzungen
vorzubeugen. Dies gilt für Abchasien und Südossetien
ebenso wie für Berg-Karabach.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die alltägliche Vorstellung der Region des Südkauka-
sus wird bis heute geprägt vom Krieg in Georgien im Au-
gust 2008 und seinen Folgen. Wenn man sich die Situa-
tion an den Grenzen von Südossetien und Abchasien
anschaut, dann stellt man fest, dass sie dramatischer ist,
als es häufig in Westeuropa wahrgenommen wird. Vor
zwei Wochen begann Russland, dauerhaft Truppen an
diesen Grenzen zu Georgien zu stationieren. Zu Recht kri-
tisierte die Europäische Union dies als eine weitere Ver-
letzung der Waffenstillstandsvereinbarung.

Wir brauchen eine Deeskalation, weil sich an den
Grenzen Georgiens ein neuer Konflikt aufbaut. Wir müs-
sen sehr viel sensibler als in der Vergangenheit darauf
achten, dass dieser Konflikt nicht wieder heißläuft. Das
heißt unter anderem auch, dass wir ein großes Interesse
daran haben müssen, dass dort internationale Beobach-
tungsstrukturen aufgebaut werden, die mehr Eingriffs-
möglichkeiten bieten, als es bei unserer EU-Monitoring-
mission bisher der Fall ist. Wir brauchen dort eine sehr
viel bessere Präsenz. Noch bis Mitte Juni 2009 läuft der-
zeit das Mandat für die unbewaffnete UN-Beobachter-
Mission UNOMIG in Abchasien. Sie sollte verlängert und
auf Südossetien ausgedehnt werden. Denn die UN und ihr
Sicherheitsrat sollten dafür zuständig sein. Vermittlung
erfordert Neutralität und Ergebnisoffenheit auf den
Grundlagen des Völkerrechts.

Ungeachtet der notwendigen Beobachtung des Kon-
fliktgebietes und der diplomatischen Suche nach einer
dauerhaften Lösung steht noch immer die Klärung der
Vorgänge im August 2008 aus. Mit Aufmerksamkeit er-
warten wir die demnächst anstehenden Ergebnisse der
auch von uns geforderten unabhängigen Untersuchungs-
kommission unter Leitung der Schweizer Diplomatin
Heidi Tagliavini.
Zu Protokoll
Unsere, die Beziehungen der Europäischen Union zu
den Ländern des Kaukasus sind eng und intensiv. Die
„Östliche Partnerschaft“ wird sie noch vertiefen, und die
Erwartungen vieler dieser Länder gerade an Deutschland
sind hoch. Deshalb begrüßen wir es, dass die Bundeskanz-
lerin im Gegensatz zu vielen anderen westeuropäischen
Regierungschefs an diesem Treffen teilgenommen hat.
Wir haben allerdings kein Verständnis dafür, dass diese
Länder in der Abschlusserklärung nicht, wie ursprüng-
lich im Entwurf vom Ratsvorsitz vorgesehen, als europäi-
sche Länder bezeichnet werden. Falls dies mit aktiver
deutscher Beteiligung bzw. aufgrund deutscher Interven-
tion verändert wurde, war es ein schwerer Fehler, den wir
scharf verurteilen. Diese Länder sind unsere europäi-
schen Partner, und die Beziehungen beruhen auf den Wer-
ten der gemeinsamen Mitgliedschaft im Europarat. Und
die Einhaltung dieser Werte ist die Grundlage für Frieden
und Stabilität in dieser Region.

Territoriale Integrität ist eine zentrale Säule des Völ-
kerrechts. Das gilt für die Lösung des Konflikts zwischen
Russland und Georgien genauso wie für den Konflikt zwi-
schen Aserbaidschan und Armenien. Aber wir werden
diese Konflikte nur lösen können, wenn die Selbstbestim-
mungsrechte von Minderheiten sichergestellt werden und
wenn die Bereitschaft zu sehr weitgehenden Autonomie-
regelungen ehrliches Anliegen aller Konfliktpartner ist.
Solange es Hunderttausende Flüchtlinge gibt, vor allem
in Georgien und Aserbaidschan, bleiben die Wunden of-
fen. Für sie muss mehr investiert werden, und vor allem
muss die Rückkehr in ihre Heimat ermöglicht werden. Die
jüngsten Entwicklungen in den Beziehungen zwischen der
Türkei und Armenien geben Anlass zu der Hoffnung, dass
dies auch positive Wirkung auf den direkten Konflikt zwi-
schen Armenien und Aserbaidschan, aber auch für die
Region als Ganzes, entfalten kann.

Eine Schlüsselrolle zur Lösung all dieser Konflikte
wird Russland spielen. Deshalb ist die Integration Russ-
lands in internationale Konfliktlösungsstrategien not-
wendig. Die EU muss dabei in allen Verhandlungen mit
Russland aber deutlich machen: Es geht nicht um die Auf-
teilung in Einflusszonen. Es geht um die eigenständige,
freie und demokratische Entscheidung jedes dieser Län-
der über seine eigene Zukunft. Dabei ist ökonomischer
Druck genauso fehl am Platz wie politische oder militä-
rische Provokation.

Deshalb ist es richtig, die Art der russischen Militär-
präsenz in Südossetien zu kritisieren, aber deshalb war
es zumindest unklug, jetzt ein Manöver der NATO in Ge-
orgien abzuhalten. Das NATO-Argument langer Planung
und Bekanntheit zieht nicht, denn inzwischen hat immer-
hin ein Krieg stattgefunden. Die Manöver geben zum
jetzigen Zeitpunkt, noch nach einem angeblichen oder
vermeintlichen „Militärputsch“ in Georgien, unnötige
Gelegenheit zur politischen Instrumentalisierung.

Alle Länder des Südkaukasus verdienen unsere Unter-
stützung. Sie ist ebenso notwendig wie die eigenen An-
strengungen der Menschen in den drei Ländern, damit die
Wertegemeinschaft des Europarates und die Werte der
Europäischen Union dort auch erfolgreich und dauerhaft
wirksam werden können.



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622217100

Tagesordnungspunkt 32 a. Wir kommen zunächst zur

Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD mit dem Titel „Sicherheit, Sta-
bilität und Demokratie im Südkaukasus fördern“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/12726, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/12102 anzu-
nehmen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktio-
nen angenommen. Dagegen gestimmt haben die Fraktio-
nen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Die FDP hat
sich enthalten.

Tagesordnungspunkt 32 b. Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Demokratie und
Sicherheit im Südkaukasus stärken“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/12727, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/12110 abzulehnen. Wer stimmt
für die Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zu-
stimmung der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die
Linke angenommen. Dagegen gestimmt haben die Frak-
tionen von FDP und Bündnis 90/Die Grünen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 31 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(14. Ausschuss)

Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Krankenhausinfektionen vermeiden – Multi-
resistente Problemkeime wirksam bekämpfen

– Drucksachen 16/11660, 16/12925 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Konrad Schily

Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie-
ren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.

Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Hans Georg Faust,
Dr. Carola Reimann, Dr. Konrad Schily, Dr. Harald
Terpe und der Parlamentarische Staatssekretär Rolf
Schwanitz haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Frank Spieth für die Fraktion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Frank Spieth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1622217200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Thema er-
schließt sich nicht sofort, wenn man den Begriff „multi-
resistente Keime“ hört. Aber stellen Sie sich folgende

1) Anlage 8
Situation vor: Eine rüstige Rentnerin stürzt und bricht
sich den Oberschenkelhals. Im Krankenhaus wird dieser
Bruch genagelt, und alles scheint in Ordnung zu sein.
Doch dann kommt es zu einer Infektion, und innerhalb
von zwei Wochen verstirbt die Frau.

2006 starben in Deutschland 40 000 Patienten an
Krankenhausinfektionen, so das Bundesministerium für
Gesundheit in seiner Deutschen Antibiotikaresistenzstra-
tegie. Krankenhausinfektionen sind die mit Abstand
häufigste Form ernsthafter Infektionskrankheiten in
Deutschland. In Deutschland werden jährlich rund
17 Millionen Patienten behandelt, von denen sich rund
500 000 bis 800 000 mit Krankenhauskeimen infizieren.
Auch dies ist dem Gesundheitsbericht der Bundesregie-
rung zu entnehmen.

Die Hygienefachleute, die wir vor kurzem in einer
Anhörung zurate gezogen haben, haben klipp und klar
gesagt: Es ist an der Zeit, dass endlich gehandelt und
nicht mehr weiter nur appelliert wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sage Ihnen: Auch der gesunde Menschenverstand
verlangt, dass endlich gehandelt wird. Seit 14 Jahren
wird in Deutschland Jahr für Jahr in allen Berichten fest-
gestellt, dass es einen ständigen Anstieg der Verkeimung
gibt. Die Antwort darauf sind in der Regel Appelle. Es
werden, wie von den Fachleuten in der Anhörung gesagt
wurde, „Papiertiger“ produziert. Seit Mitte der 70er-
Jahre sind die Bundesländer aufgefordert, Hygienever-
ordnungen zu erlassen. Ganze vier Bundesländer sind
dieser Aufforderung nachgekommen. Zwölf Bundeslän-
der haben keine Hygieneverordnung. Ich finde, das al-
lein ist schon ein Skandal.


(Beifall bei der LINKEN)


Die vom Robert Koch-Institut vorgeschlagene Richtli-
nie zur Bekämpfung von Infektionen ist aus unserer Sicht
sehr brauchbar. Sie ist aber ohne Fachpersonal – auch das
wurde in der Anhörung von allen Fachleuten deutlich
formuliert – nicht umsetzbar.

Die Linke hat mit diesem Antrag den Versuch unter-
nommen, Krankenhausinfektionen vermeidbar zu ma-
chen und multiresistente Problemkeime zu bekämpfen.
Leider hat unser Antrag im Ausschuss keine Mehrheit
gefunden. Die Koalition hat ihn abgelehnt, und die bei-
den anderen Oppositionsfraktionen haben sich enthalten.
Wir bedauern dies sehr. Jeder Mensch, der in Deutsch-
land in einem Krankenhaus wegen einer vermeidbaren
Infektion verstirbt, ist ohne Wenn und Aber ein Toter zu
viel.


(Beifall bei der LINKEN)


Angesichts der Kürze meiner Redezeit habe ich nicht
die Möglichkeit, alle unsere Forderungen darzustellen.
Wir haben uns auf wesentliche Punkte konzentriert. Drei
davon will ich nennen:

Erstens. Wir brauchen endlich wirkungsvolle, ver-
bindliche Regelungen, um mit geeigneten Maßnahmen
Infektionen nicht nur zu einem späteren Zeitpunkt erfas-
sen und heilen zu können, sondern sie sofort, schon in






(A) (C)



(B) (D)


Frank Spieth
der Entstehung, durch Präventionsmaßnahmen bekämp-
fen zu können.


(Beifall bei der LINKEN)


Zweitens. Wir fordern den Einsatz von Ärztinnen und
Ärzten für Hygiene und Hygienefachkräften in Kranken-
häusern, und zwar in allen Bundesländern. Berlin, Sach-
sen und Bremen sind hier vorbildlich.


(Beifall bei der LINKEN)


Drittens. Wir fordern die konsequente Umsetzung der
bestehenden Richtlinie des Robert Koch-Instituts zur
Prävention von MRSA, also multiresistenten Keimen.

Meine Damen und Herren, es ist in der Tat Zeit, zu
handeln. Wir haben keine Zeit für weitere Verzögerun-
gen. Ich bedauere sehr, dass wir mit diesem Antrag heute
nicht durchdringen. Ich setze aber darauf, dass wir in
weiteren parlamentarischen Beratungen möglicherweise
gemeinsam im Interesse der Menschen, der Patienten in
diesem Land zu vernünftigen Lösungen im Sinne unse-
rer Vorschläge kommen.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622217300

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem An-
trag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Krankenhaus-
infektionen vermeiden – Multiresistente Problemkeime
wirksam bekämpfen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12925, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11660
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist bei Zustimmung der Koalitions-
fraktionen angenommen. Die Fraktion Die Linke hat
dagegen gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen und FDP ha-
ben sich enthalten.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 33 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung
einer „Stiftung Denkmal für die ermordeten
Juden Europas“

– Drucksache 16/12230 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Kultur und Medien (22. Ausschuss)


– Drucksache 16/12976 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Grütters
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)

Dr. Lukrezia Jochimsen
Katrin Göring-Eckardt
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen vor.

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden der Kolleginnen und Kollegen Monika Grütters,
Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Hans-Joachim Otto,
Dr. Lukrezia Jochimsen und Volker Beck zu Protokoll
gegeben.


Monika Grütters (CDU):
Rede ID: ID1622217400

Die Absicht zur Errichtung eines Mahnmals für die er-

mordeten Juden Europas und die angemessene Würdi-
gung anderer Opfergruppen erfordert einen breiten poli-
tischen Konsens. Das gilt hier mehr als bei irgendeiner
anderen politischen Auseinandersetzung. Darauf hat
schon damals unser heutiger Bundestagspräsident,
Dr. Norbert Lammert, in der Debatte um die Gründung
der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Euro-
pas“ hingewiesen. Ich freue mich, dass wir zu diesem
überfraktionellen Konsens bei der Entscheidung über die
Aktualisierung und Ergänzung des Stiftungsgesetzes auch
jetzt im Kulturausschuss kommen konnten.

Dennoch kam dieses Ergebnis nicht einhellig und ohne
Bedenken zustande. Die Fraktionen der FDP und des
Bündnisses 90/Die Grünen haben ihre Einwände trotz
Zustimmung zur Gesetzesänderung in jeweils eigenen
Änderungsanträgen niedergelegt.

Das Gesetz zur Errichtung einer „Stiftung Denkmal
für die ermordeten Juden Europas“ diente dazu, den Bun-
destagsbeschluss zur Errichtung dieses Denkmals umzu-
setzen und es später auch zu unterhalten. Der von Beginn
an im Stiftungszweck formulierte gesetzliche Auftrag, den
Entwurf des Stelenfeldes von Peter Eisenman und den er-
gänzenden Ort der Information zu verwirklichen, wurde
umgesetzt. Als neue Aufgabe der Stiftung hat inzwischen
die Betreuung der Denkmäler für die im Nationalsozialis-
mus verfolgten Homosexuellen und für die ermordeten
Sinti und Roma konkrete Gestalt angenommen. Im Mai
vergangenen Jahres ist das Denkmal für die homosexuel-
len Opfer der Naziherrschaft der Öffentlichkeit über-
geben worden, und im Laufe dieses Jahres kommt das
Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma hinzu.

Diesen neuen Aufgaben wollen wir mit der Änderung
des Stiftungsgesetzes Rechnung tragen. Die Organisa-
tionsstruktur der Stiftung soll dazu vergleichbaren Ein-
richtungen angepasst werden. Die Stiftung erhält nun den
Auftrag, das Denkmal für die ermordeten Juden Europas
mit dem Ort der Information zu unterhalten und zu betrei-
ben. Darüber hinaus obliegt ihr im Rahmen der Erinne-
rung an alle Opfergruppen des Nationalsozialismus die
Betreuung der beiden neuen Denkmäler für die Sinti und
Roma sowie für die ermordeten Homosexuellen.

Die FDP sowie die Grünen wollen in diesem Zusam-
menhang auch den Namen der Stiftung ändern. Aus meh-
reren Gründen sind wir da skeptisch. Schon in der ur-
sprünglichen Gesetzesfassung, in der man sich auf den
heutigen Stiftungsnamen geeinigt hatte, wurde im Stif-
tungsgesetz die Aufgabe verankert, an der angemessenen
Würdigung anderer Opfergruppen mitzuwirken.


(A) (C)



(B) (D)


Monika Grütters
Die Stiftungsgründung verdankt sich zudem einer pri-
vaten Initiative, die ausschließlich den jüdischen Opfern
des nationalsozialistischen Terrors gewidmet war. Der
Förderkreis „Denkmal für die ermordeten Juden Euro-
pas“ hat eine politisch-moralische Aufgabe der Nation
zum Gegenstand einer gesellschaftlichen Initiative ge-
macht, die der Staat sich dann selbst zur Aufgabe machte.
Erst mit dem Eintreten des Staates für dieses Erinne-
rungsprojekt ist neben der Debatte um ein eigenständiges
Mahnmal zum Gedenken an den Holocaust auch die Dis-
kussion um den Namen entbrannt. Diese private Initiative
und ihre Motive verdienen unseres Erachtens Dank und
Respekt, der sich eben auch in dem Namen der operativen
Stiftung ausdrückt. Entscheidend aber ist auch hier der
Verweis auf die Singularität der Verbrechen der Nazis ge-
gen die Juden.

Die Beibehaltung des Namens hat daher nicht nur ihre
Berechtigung, es spricht auch nichts dagegen. Faktisch
betreut die Stiftung bereits die beiden neuen Denkmale, so
wie es seit ihrer Gründung geplant war. Angesichts der
Stiftungsarbeit in den letzten vier Jahren, deren erfolgrei-
ches und international anerkanntes Wirken ich schon in
meiner letzten Rede ausgeführt habe, sehe ich in ihrer
Verantwortung für die Erinnerungsarbeit der neuen
Denkmäler einen echten Gewinn.

Für das Denkmal der im Nationalsozialismus verfolg-
ten Homosexuellen wurde die Feier zur Übergabe an die
Öffentlichkeit am 27. Mai 2008 von der Stiftung organi-
siert. Technisch unterstützt sie die dort im Rahmen des
Berliner Christopher Street Days und des Gedenktages
am 27. Januar stattfindenden Veranstaltungen. Darüber
hinaus zeichnet die Stiftung für Begleitmedien verant-
wortlich und bemüht sich, das Denkmal in Zusammen-
arbeit mit dem „Schwulen Museum Berlin“ und dem
Lesben- und Schwulenverband Deutschland in die Bil-
dungsarbeit der Stiftung einzubeziehen.

Für das Denkmal der im Nationalsozialismus ermor-
deten Sinti und Roma wurde der offizielle Baubeginn am
19. Dezember 2008 von der Stiftung organisiert. Ein ent-
sprechendes Faltblatt zum Denkmal erstellt sie in Ab-
sprache mit dem BKM und dem Künstler Dani Karavan
bis zur Eröffnung.

Trotz der Betreuung der Aktivitäten dieser Denkmale
durch die Stiftung werden jedoch alle drei Mahnmale in
der öffentlichen Berichterstattung völlig eigenständig
wahrgenommen.

Bei allem Verständnis auch für das Anliegen, den Na-
men der Stiftung – nicht des Denkmals! – an die nunmehr
faktisch erweiterte Aufgabe anzupassen, spricht meines
Erachtens doch nach wie vor vor allem eines dagegen:
Jede neue Bezeichnung impliziert neue Ausgrenzungen
und Konflikte, oder sie wird so allgemein, dass ihre Pau-
schalität verharmlost. Ein Denkmal für alle „Opfer von
Krieg und Gewaltherrschaft“ gibt es in der Neuen Wache.
Es gibt seit 1953 in Berlin-Charlottenburg sogar ein wei-
teres, am Steinplatz, mit der Inschrift „Den Opfern des
Nationalsozialismus“.

Die Grünen haben frühzeitig eine Namensänderung
gewollt, vor der ersten Lesung dieses Gesetzes. Aber sie
Zu Protokoll
haben keinen Vorschlag zur Formulierung gemacht. Die
FDP kam mit ihrer Formulierung so spät, dass bereits
Gespräche mit vielen Betroffenen stattgefunden hatten.
Abgesehen davon gibt es nach wie vor eine Mehrheit für
die Beibehaltung des Namens aus den oben genannten
Gründen. Dieser Auffassung hat sich in der vergangenen
Woche dann auch das Kuratorium der Stiftung „Mahn-
mal für die ermordeten Juden Europas“ einstimmig an-
geschlossen.

Der zweite Diskussionspunkt war die Besetzung der
Stiftungsgremien nach der Erweiterung der Aufgaben der
Stiftung. Gegenwärtig umfasst das Kuratorium insgesamt
23 Mitglieder. Dem wissenschaftlichen Beirat gehören
zurzeit 13 Sachverständige an. Die Grünen fordern in ih-
rem Änderungsantrag die zusätzliche Vertretung des Zen-
tralrates Deutscher Sinti und Roma sowie des Lesben-
und Schwulenverbandes im Stiftungskuratorium. Die
FDP möchte darüber hinaus die „Sinti Allianz Deutsch-
land“ und die Initiative „Der homosexuellen NS-Opfer
gedenken“ in diesem Gremium vertreten wissen. Immer-
hin kommt sie in der Begründung ihres Änderungsantra-
ges zu dem Schluss, dass die bisherige Mitgliederzahl
nicht überschritten werden sollte, da sonst die Arbeits-
fähigkeit des Gremiums geschwächt sei. Daher soll die
Zahl der Kuratoriumsplätze der Mitglieder des Bundes-
tages, der Bundesregierung und des Landes Berlin redu-
ziert werden.

Darin, dass die Mitgliederzahl des Kuratoriums nicht
weiter erhöht werden darf, um die Arbeitsfähigkeit zu
gewährleisten, stimmen wir völlig überein. Anliegen der
Gesetzesänderung ist es, die Stiftungsstruktur den Er-
fordernissen eines Dauerbetriebes anzupassen. Ver-
gleichbare Einrichtungen sollten dazu als Maßstab die-
nen. Auf Bundesebene wurde der vor allem in der neu
gegründeten selbstständigen Stiftung „Deutsches Histo-
risches Museum“, DHM, und in der unselbstständigen
Stiftung „Flucht, Vertreibungen, Versöhnung“ gesehen.
Das Kuratorium der DHM-Stiftung besteht laut Gesetz
aus 15 Mitgliedern, der Stiftungsrat „Flucht, Vertrei-
bung, Versöhnung“, der sich gestern konstituiert hat, be-
steht aus 13 Mitgliedern. Dem wissenschaftlichen Beirat
des DHM gehören mindestens 12 und höchstens 25 Sach-
verständige an. In den wissenschaftlichen Beraterkreis
der unselbstständigen Stiftung sollen bis zu neun Mitglie-
der berufen werden.

Das Kuratorium der „Stiftung Denkmal für die er-
mordeten Juden“ ist im Vergleich dazu personell bereits
großzügig besetzt. Die von der FDP vorgeschlagene Re-
duzierung der Sitze von Parlament sowie Bundes- und
Landesregierung lehnen wir ab. Die Mitgliedschaft von
derzeit sieben gewählten Volksvertretern im Kuratorium,
die auch die Mehrheitsverhältnisse des Parlamentes
widerspiegelt, sowie der Regierungsvertreter entspricht
der besonderen Bedeutung, die dem systematischen Völ-
kermord an den europäischen Juden in der deutschen Er-
innerungskultur zukommt. Erinnern und Gedenken sind
weder Privatsache noch rein bürgerschaftlich zu bewäl-
tigen. Sie sind immer eine öffentliche Angelegenheit, und
das heißt in staatlicher Gesamtverantwortung. Die Poli-
tik darf sich hier nicht allein auf die Verantwortung für
die Rahmenbedingungen zurückziehen, sondern muss die



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Monika Grütters
Form des Gedenkens mitprägen. Die Art und Weise, wie
eine Nation, wie ein Staat dies öffentlich tut, gibt Auskunft
über sein Selbstverständnis und prägt seine Identität.

So, wie es das Stiftungsgesetz vorsieht – die Erinne-
rung an alle Opfer des Nationalsozialismus und ihre
Würdigung in geeigneter Weise sicherzustellen –, ist es
durchaus denkbar, dass ihr auch künftig noch weitere
Aufgaben in diesem Rahmen zufallen. Wollen Sie dann
eine erneute Auseinandersetzung über die Verteilung der
Kuratoriumssitze? Wir wollen das nicht.

Es ist richtig, Vertreter der Opfergruppen der neuen
Denkmale in den Stiftungsbeirat zu integrieren. Über
diese Fragen ist mit den Vertretern aller jetzt zur Debatte
stehenden Opfergruppen gesprochen worden.

Die Zustimmung aller Fraktionen im Ausschuss für
Kultur und Medien trotz eigener Änderungsanträge be-
stätigt den Entwurf zur Änderung des Stiftungsgesetzes.
Ich danke den Kolleginnen und Kollegen der Opposi-
tionsfraktionen, dass sie ihre Einwände und Bedenken
zugunsten der Signalwirkung zurückstellen konnten, die
von einem überfraktionellen Beschluss für die Erinne-
rungspolitik der Bundesrepublik Deutschland ausgeht.
Das ist eine wichtige Botschaft für alle Betroffenen, un-
sere Mitbürgerinnen und Mitbürger, aber auch für unsere
europäischen Nachbarn.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1622217500

Die Änderung des Stiftungsgesetzes ist notwendig, weil

– mit großem Erfolg – der bisherige Stiftungszweck um-
gesetzt ist, nämlich die Errichtung des Mahnmals für die
ermordeten Juden Europas. Das Denkmal erfährt große
nationale und internationale Anerkennung; ein Besuch
steht regelmäßig bei Staatsgästen auf dem Programm.

Das Stiftungsgesetz wird jetzt in einigen Punkten
aktualisiert. Erstens wird der bisherige Stiftungszweck
– die Errichtung des Denkmals – geändert. Dafür heißt es
nun: „Zweck der Stiftung ist die Erinnerung an den
nationalsozialistischen Völkermord an den Juden Euro-
pas. Die Stiftung trägt dazu bei, die Erinnerung an alle
Opfer des Nationalsozialismus und ihre Würdigung in ge-
eigneter Weise sicherzustellen.“

Zweitens wird der Stiftungszweck erweitert um die Be-
treuung der Denkmäler für die im Nationalsozialismus
ermordeten Sinti und Roma und die im Nationalsozialis-
mus verfolgten Homosexuellen. Im Übrigen war auch
bisher schon im Stiftungsgesetz verankert, dass die Stif-
tung dazu beiträgt, „die Erinnerung an alle Opfer des
Nationalsozialismus und ihre Würdigung in geeigneter
Weise sicherzustellen.“

Drittens wird der dreiköpfige Vorstand abgeschafft,
der als Gremium neben dem weiter bestehenden Kurato-
rium nicht mehr erforderlich ist. Ziel bei dieser Änderung
ist die Angleichung der Stiftungsstruktur an vergleich-
bare Einrichtungen.

Deshalb werden viertens die Aufgaben des bisherigen
Vorstands und der Geschäftsführung in dem neuen Organ
„Direktorin oder Direktor“ zusammengefasst.
Zu Protokoll
Da ein Ziel der Änderung des Stiftungsgesetzes die An-
passung der Struktur an vergleichbare Einrichtungen ist,
haben wir im Kulturausschuss zwei Änderungen einge-
bracht. Zum einen haben wir festgeschrieben, dass der
bisherige Geschäftsführer auch der künftige Direktor
wird, um die Kontinuität der hervorragenden Arbeit der
Stiftung zu gewährleisten. Zum Zweiten wird der Direktor
für fünf Jahre bestellt und nicht, wie ursprünglich vorge-
sehen, für vier Jahre.

Eine Änderung des Stiftungsnamens halten wir nicht
für sinnvoll. Bisher wurde kein plausibler, überzeugender
Namensvorschlag unterbreitet. Bereits unter dem jetzigen
Namen der Stiftung war die Erinnerung an alle Opfer des
Nationalsozialismus Aufgabe der Stiftung. Unter dem jet-
zigen Namen wurden das Denkmal für die im Nationalso-
zialismus ermordeten Sinti und Roma und die im Natio-
nalsozialismus verfolgten Homosexuellen errichtet; und
unter dem jetzigen Namen betreut die Stiftung bereits das
Homosexuellendenkmal. Auch angesichts der internatio-
nalen Bedeutung des Denkmals sollte der Name nicht ver-
ändert werden. Außerdem bleibt trotz der Betreuung der
beiden neuen Denkmäler der Betrieb des Denkmals für
die ermordeten Juden Europas die Hauptaufgabe der Stif-
tung.

Aus den gleichen Gründen sind wir gegen eine Verän-
derung der Besetzung des Kuratoriums. Schon jetzt ist
der Lesben- und Schwulenverband im Beirat der Stiftung
vertreten. Hier können auch Vertreter der Sinti und Roma
mitarbeiten. Wir sollten den Streit, der im Vorfeld des
Baus der Denkmäler geführt wurde, nicht wieder führen.
Der Argumente sind genug gewechselt worden.

Es freut mich, dass der Gesetzentwurf im Kulturaus-
schuss einstimmig beschlossen wurde und der breite Kon-
sens bei wichtigen Entscheidungen zur Erinnerungskul-
tur in Deutschland weiterhin trägt.


Hans-Joachim Otto (FDP):
Rede ID: ID1622217600

Die Anpassung des Gesetzes zur Errichtung einer

„Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“
durch den Gesetzentwurf der Bundesregierung ist grund-
sätzlich richtig und sinnvoll. Denn die Stiftung hat im
Laufe der Zeit einen Teil ihrer Aufgaben bewältigt – ins-
besondere den Bau des Holocaust-Mahnmals –, aber
auch neue Aufgaben übernommen, sodass ihre Struktur
renoviert werden muss: Die „Stiftung Denkmal für die er-
mordeten Juden Europas“ wurde vor neun Jahren errich-
tet, Mitte 2008 konnte das Denkmal für die im National-
sozialismus verfolgten Homosexuellen der Öffentlichkeit
übergeben werden, und im Sommer 2009 wird das Denk-
mal für die ermordeten Sinti und Roma hoffentlich voll-
endet sein. Die Struktur der „Stiftung Denkmal für die er-
mordeten Juden Europas“ musste also auf diese
geänderte Aufgabenstellung ausgerichtet werden. Dem
stimmen wir ausdrücklich zu.

Aus Sicht der FDP gebietet es jedoch die Logik, dass
sowohl der Name der Stiftung, die nunmehr drei Denk-
mäler betreut, als auch die Zusammensetzung des Kura-
toriums der Stiftung an die neue Situation angepasst wer-
den. Selbstverständlich ist von einer Namensänderung
nicht das Holocaust-Mahnmal als „Denkmal für die er-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Hans-Joachim Otto (Frankfurt)

mordeten Juden Europas“ berührt. Eine Namensände-
rung des organisatorischen Rahmens halten wir jedoch
für geboten. Unser Vorschlag – „Stiftung Denkmäler für
die Opfer des Nationalsozialismus“ – wurde leider im
Ausschuss mehrheitlich abgelehnt, mit wenig überzeu-
gender Begründung. Wir gehen deshalb davon aus, dass
eine solche Namensänderung in naher Zukunft erneut auf
der Tagesordnung stehen wird. Wie kann denn eine Stif-
tung, die sich um drei Denkmäler kümmert, nur nach ei-
nem der Denkmäler benannt werden? Keiner käme doch
auf die Idee, die „Stiftung Preußischer Kulturbesitz“
„Stiftung Pergamonmuseum“ zu nennen oder die „Stif-
tung Preußische Schlösser und Gärten“ als „Stiftung
Schloss Sanssouci“ firmieren zu lassen.

Aus Sicht der FDP gebietet es ebenfalls die Logik, aber
auch der Respekt vor den Opfergruppen, die Zusammen-
setzung des Kuratoriums um die neuen Opfergruppen zu
erweitern. Um das jetzt schon 23-köpfige Gremium aber
nicht noch zu erweitern, hatte die FDP-Fraktion vorge-
schlagen, die Zahl der Mitglieder aus dem politischen
Raum – Bundestag, Bundesregierung und Land Berlin –
zugunsten von Vertretern der Homosexuellen und der
Sinti und Roma zu reduzieren. Damit hätte man den neuen
Opfergruppen Sitz und Stimme im Kuratorium ermög-
licht, und das Kuratorium wäre dennoch arbeitsfähig ge-
blieben.

Die vorgesehene Repräsentation dieser beiden Opfer-
gruppen lediglich im Stiftungsbeirat ist unseres Erach-
tens nicht angemessen. Bei allem Respekt vor den Mit-
gliedern und der Bedeutung des Beirates gibt es doch von
den Aufgaben her wichtige Unterschiede zwischen dem
Beirat und dem Kuratorium. Die Hauptaufgabe des Bei-
rates liegt nach § 8 Abs. 3 der Satzung der Stiftung Denk-
mal für die ermordeten Juden darin, das Kuratorium und
den Direktor bei grundsätzlichen Fragen, insbesondere
im Hinblick auf die Würdigung der anderen Opfergrup-
pen und die authentischen Stätten des Gedenkens, zu be-
raten. Allein das Kuratorium beschließt hingegen über
alle wichtigen Fragen, die zum Aufgabenbereich der Stif-
tung gehören, wie die Berufung des Direktors, die Fest-
stellung des Haushaltsplans und die Berufung der Mit-
glieder des Beirates; so steht es in § 6 Abs. 2 der Satzung
der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden.

Auch hier gilt: Warum sollte eine Opfergruppe, deren
Denkmal durch die Stiftung betreut wird, nicht auch Ver-
treter in das höchste Organ der Stiftung entsenden kön-
nen? Aus diesem Grund schlugen wir vor, das Kurato-
rium um je einen Vertreter des Zentralrates Deutscher
Sinti und Roma sowie der Sinti-Allianz Deutschland und
je einen Vertreter des Lesben- und Schwulenverbandes in
Deutschland und der Initiative „Der homosexuellen NS-
Opfer gedenken“ zu erweitern, die Zahl der Politiker dort
jedoch zu reduzieren.

Die Koalition erweckte im Ausschuss den Eindruck,
dass alle Änderungen zuvor mit den Betroffenen ausgie-
big erörtert worden seien. Dies scheint jedoch nicht der
Fall zu sein. Wir halten es für wenig sensibel, dass die
Opferverbände im Vorfeld dieser Reform nicht ausrei-
chend einbezogen wurden.
Zu Protokoll
Dem heute vorliegenden Änderungsantrag von Bünd-
nis 90/Die Grünen können wir deshalb nicht zustimmen,
weil das ohnehin schon zu große Kuratorium weiter auf-
gebläht und in seiner Effektivität beeinträchtigt würde.
Trotz der von mir erwähnten Kritikpunkte stimmen wir
dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zu, da das
Grundanliegen mehr als berechtigt ist. Wir hoffen, dass
unsere Vorschläge in der nächsten Legislaturperiode auf-
gegriffen werden und dann einvernehmlich umgesetzt
werden.


Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1622217700

Das Gesetz über die „Stiftung Denkmal für die ermor-

deten Juden Europas“ zu ändern, ist richtig und notwen-
dig, da sie neue Aufgaben – die Betreuung der Denkmäler
für die ermordeten Sinti und Roma sowie für die verfolg-
ten Homosexuellen – zu leisten hat.

Diese neuen Aufgaben verlangen allerdings eine Na-
mensänderung. Da die Stiftung nun nicht mehr nur für
das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ zu-
ständig ist, kann sie aus Sicht der Fraktion die Linke nicht
mehr unter dem alten Namen firmieren. Wir halten den
Namensvorschlag im Änderungsantrag, den die FDP im
Kulturausschuss eingebracht hatte, für sehr gut: „Stif-
tung Denkmäler für die Opfer des Nationalsozialismus“.

Allerdings ist ebenso zu bedenken, wie im Entschlie-
ßungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen im Kulturaus-
schuss vorgeschlagen und mittlerweile zurückgezogen,
ob es nicht noch besser wäre, mit den Opferverbänden ge-
meinsam einen Stiftungsnamen zu finden. Ich frage, wieso
diese beiden Anträge im Ausschuss für Kultur und
Medien beraten wurden, nur um sie im Plenum nicht mehr
zur Abstimmung zu stellen? Soll nun doch alles beim
Alten bleiben?

Schon im März 2009 hat der Lesben- und Schwulen-
verband Deutschlands eine Prüfung des Stiftungsnamens
gefordert. Ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des Zen-
tralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, hat er-
geben, dass er bisher nicht in dieser Frage konsultiert
wurde. Er widerspricht eindeutig der Aussage der Koali-
tionsfraktionen, die im Ausschuss für Kultur und Medien
behauptet haben, alles sei mit den Betroffenen erörtert
worden. Der Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma
würde die Namensänderung in „Stiftung Denkmäler für
die Opfer des Nationalsozialismus“ unterstützen, wenn
er denn gefragt werden würde. Insofern übergeht der An-
trag der Koalitionsfraktionen klar den Willen von zwei
Opfergruppen. Das ist für die Fraktion Die Linke inak-
zeptabel. Für wen wird diese Stiftung denn eingerichtet
und betrieben? Trotzdem wollen wir natürlich, dass die
Stiftung ihre Arbeit leisten kann, und stimmen deshalb
wie schon im Ausschuss für Kultur und Medien dem Ge-
setzentwurf und dem Änderungsantrag der Koalition zu.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622217800

Die Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Eu-

ropas“ hat Großartiges geleistet: bei der Realisierung
dieses Gedenkortes und bei der inhaltlichen und organi-
satorischen Betreuung. Das Denkmal für die ermordeten
Juden Europas ist zu einem der eindrucksvollsten Orte



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Volker Beck (Köln)

unserer Hauptstadt geworden. Zu Recht zieht es Jahr für
Jahr zahlreiche Menschen an.

Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stiftung ist
herzlich für ihr großes Engagement zu danken, stellver-
tretend für alle insbesondere dem Geschäftsführer, Herrn
Uwe Neumärker. Es ist eine gute Entscheidung, dass der
bisherige Geschäftsführer nach der Strukturreform der
erste Direktor wird. Das unterstützen wir sehr nach-
drücklich.

Bündnis 90/Die Grünen unterstützt ausdrücklich die
Erweiterung des Stiftungszweckes um die Betreuung des
entstehenden Denkmals für die im Nationalsozialismus
ermordeten Sinti und Roma sowie des Denkmals für die
im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, das
vor einem Jahr der Öffentlichkeit übergeben wurde. Es ist
aber sehr schade, dass die Koalition nicht bereit war, aus
dieser Aufgabenerweiterung auch strukturelle Konse-
quenzen zu ziehen.

Wir beantragen deshalb, dass die Verbände, die das
Sinti- und Roma-Denkmal wie das Homosexuellendenk-
mal maßgeblich iniitiert haben und diese Bevölkerungs-
gruppen repräsentieren, auch Sitz und Stimme im Ent-
scheidungsgremium der Stiftung, dem Kuratorium,
erhalten sollen. Denkmalsbetreuung ist schließlich nicht
allein eine technische Frage von Reinigung oder Instand-
haltung, sondern beinhaltet auch gedenkpolitische Grund-
satzentscheidungen zu den jeweiligen Gedenkorten. Dafür
sollten aber die Verbände und Initiatoren, die das Denk-
mal für die ermordeten Sinti und Roma und das Denkmal
für die verfolgten Homosexuellen gesellschaftlich tragen,
mit am Entscheidungstisch sitzen und nicht von außen als
Bittsteller auftreten müssen. Das Kuratorium beschließt
laut Stiftungsgesetz über alle grundsätzlichen Fragen, die
zum Aufgabenbereich der Stiftung gehören. Nach der
ausdrücklichen Aufgabenerweiterung ist es einfach un-
angemessen, dass Sinti und Roma sowie Homosexuelle
draußen bleiben müssen. Mir ist es gänzlich unverständ-
lich, warum man sie nicht dabei haben will. Mir ist
ebenso unververständlich, warum der Kulturstaatsminis-
ter und die Regierungsfraktionen nicht mit allen Beteilig-
ten ein klärendes Gespräch über die Kuratoriumsfrage
geführt haben. Insbesondere diese Gesprächsverweige-
rung grenzt an Missachtung. Diese Debatte kann mit der
Verabschiedung des heutigen Gesetzes nicht zu Ende
sein.

Eine offene Frage bleibt auch der Name der Stiftung.
Gewiss, Namen sollte man nicht leichtfertig ändern. Der
bisherige Name ist gut eingeführt. Er bringt die weltge-
schichtliche Einzigartigkeit des Verbrechens des Holo-
caust einprägsam auf den Punkt. Aber dennoch trägt er
nicht mehr der nun existierenden, veränderten Denkmals-
situation Rechnung.

Ich bin nicht der Meinung, dass wir hier einen neuen
Namen von oben dekretieren sollten. Namensänderungen
sollte es nur im Einvernehmen geben. Mein Vorschlag ist
daher nach wie vor, dass sich der Kulturstaatsminister
mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland, dem Zen-
tralrat Deutscher Sinti und Roma, dem Lesben- und
Schwulenverband und weiteren Interessierten zusammen-
setzt und im Gespräch Lösungsvorschläge für einen Stif-
tungsnamen entwickelt, der der neuen Situation Rech-
nung trägt.
Lange Jahrzehnte haben in Deutschland NS-Verfolgte
aus bestimmten Opfergruppen darunter gelitten, dass sie
im öffentlichen Gedenken nicht beim Namen genannt
wurden, dass sie dabei immer wieder „vergessen“, in
Wahrheit aber ausgrenzt wurden. Diese Phase sollte end-
gültig vorbei sein.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622217900

Wir kommen zur Abstimmung über den von der

Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf. Der
Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12976, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
16/12230 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu
liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt
für den Änderungsantrag auf Drucksache 16/13002? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Änderungsan-
trag ist bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion
und die Fraktion Die Linke abgelehnt. Dagegen haben
die übrigen Fraktionen des Hauses gestimmt.

Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Hand-
zeichen. – Gegenstimmen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig ange-
nommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wer für den Gesetzentwurf
stimmt, möge sich bitte erheben. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist auch in dritter
Beratung einstimmig angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 34 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Errichtung eines Sondervermögens „Vor-
sorge für Schlusszahlungen für inflationsinde-

(Schlusszahlungsfinanzierungsgesetz – SchlussFinG)


– Drucksache 16/12233 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts-
ausschusses (8. Ausschuss)


– Drucksache 16/12905 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Carsten Schneider (Erfurt)

Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Alexander Bonde

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt ebenfalls zu Protokoll zu
geben. Es handelt sich um die Reden der folgenden
Kolleginnen und Kollegen: Jochen-Konrad Fromme,
Bernhard Brinkmann, Otto Fricke, Roland Claus und
Alexander Bonde.1)

1) Anlage 9






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Wir kommen zur Abstimmung. Der Haushaltsaus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/12905, den Gesetzentwurf der Bundes-
regierung auf Drucksache 16/12233 in der Ausschuss-
fassung anzunehmen. Diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, bitte
ich um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei
Zustimmung von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die
Grünen angenommen. Dagegen hat die Fraktion Die
Linke gestimmt. Enthalten hat sich die FDP.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Diejenigen, die zustimmen
wollen, mögen sich bitte erheben. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in dritter Bera-
tung mit dem gleichen Stimmverhältnis wie zuvor ange-
nommen.

Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 35 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die
Errichtung einer Bundesanstalt für den Digi-
talfunk der Behörden und Organisationen mit
Sicherheitsaufgaben (BDBOS-Gesetz)


– Drucksache 16/12594 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


– Drucksache 16/12914 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Gerold Reichenbach
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

Ulla Jelpke
Silke Stokar von Neuforn

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um
die Reden der Kolleginnen und Kollegen Clemens
Binninger, Gerold Reichenbach, Hartfrid Wolff, Jan
Korte und Silke Stokar von Neuforn.


Clemens Binninger (CDU):
Rede ID: ID1622218000

Sicherheit zu gewährleisten gehört zu den vornehms-

ten Aufgaben des Staates überhaupt. Zu diesem Feld zählt
auch die Sicherheitsinfrastruktur. Die Polizeien, die Feu-
erwehren, die Rettungsdienste und die übrigen Sicher-
heitsbehörden in Deutschland benötigen für ihre wichtige
und nicht selten auch gefährliche Arbeit eine einwand-
freie und technisch moderne Ausstattung und Infrastruk-
tur. Dazu gehört ein modernes und leistungsfähiges
Funknetz, wie es im Augenblick mit dem Digitalfunk in
Deutschland aufgebaut wird.

Im Jahr 2006 hat der Gesetzgeber mit dem Beschluss
für die Einrichtung der Bundesanstalt für den Digitalfunk
der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsauf-
gaben den Startschuss für ein modernes Funknetz in
Deutschland gegeben. Die Bundesanstalt hat die Auf-
gabe, für Bund und Länder den Digitalfunk BOS aufzu-
bauen, seine Funktionsfähigkeit sicherzustellen. Die
Bundesanstalt nimmt gegenüber privatwirtschaftlichen
Unternehmen die Auftragsvergabe wahr. Dazu musste ein
Verwaltungsabkommen mit den Ländern geschlossen
werden, es musste ein Vergabeverfahren durchgeführt
werden und die Bundesbehörde aufgebaut werden. Im
April 2007 hat die Bundesanstalt für den Digitalfunk ihre
Arbeit aufgenommen.

Der Roll-out-Plan sieht vor, dass bis Ende 2010 rund
90 Prozent des Digitalfunknetzes aufgebaut sind. Aktuell
zeichnet sich ab, dass sich die Realisierung um andert-
halb bis zwei Jahre verzögern wird. Auch wenn es hier
– leider wieder einmal – zu Verzögerungen kommen kann,
gilt: Es ist zwar wichtig, dass wir die Digitalfunktechno-
logie möglichst schnell einsetzen können – noch wichti-
ger ist aber, dass sie zuverlässig funktioniert. Störungen
des Funknetzes können schwerwiegende Folgen für die
öffentliche Sicherheit und speziell für die Einsatzkräfte
haben.

Die wesentlichen Änderungen, die wir heute am Ge-
setz über die Errichtung der Bundesanstalt für den Digi-
talfunk beschließen, betreffen genau diesen Punkt: Zuver-
lässigkeit, Leistungsfähigkeit und Sicherheit bei der
eingesetzten Technik.

Die Beschaffung von Endgeräten für den Digitalfunk
liegt nicht im Aufgabenbereich der Bundesanstalt, son-
dern wird dezentral von Bund und Ländern vorgenom-
men. Deshalb ist ein klarer rechtlicher Rahmen not-
wendig, mit der die Bundesanstalt sicherstellen kann,
dass die von den zuständigen Bundes- und Landesstellen
angeschafften Endgeräte und Funkgeräte die für den
störungsfreien Betrieb des Netzes notwendigen Leis-
tungsmerkmale haben. Daher steht im Zentrum des vor-
liegenden Gesetzentwurfs die Zertifizierung von End-
geräten durch die Bundesanstalt für den Digitalfunk –
geregelt in dem neuen § 15 a bis c BDBOS-Gesetz.

Die technische Überprüfung der Funkgeräte wird zu-
künftig durch sachverständige Prüfstellen vorgenommen.
Auf der Grundlage der Prüfberichte und verschiedener
Nachweise entscheidet die Bundesanstalt für den Digital-
funk auf Antrag des Herstellers oder Lieferanten, ob ein
Zertifikat vergeben wird und das Gerät damit zugelassen
ist. Ein solches Zertifikat wird dann Voraussetzung dafür
sein, dass Funkgeräte im BOS-Digitalfunknetz eingesetzt
werden dürfen und entsprechend dezentral angeschafft
werden. Übergangsregelungen ermöglichen eine schritt-
weise Migration zu Funkgeräten mit Zertifikat. Die Ein-
zelheiten des Zertifizierungsverfahrens und der Inhalt der
Zertifikate werden in einer Verordnung geregelt, die im
Grundsatz vom Bundesinnenministerium erlassen wird.
Auch wenn hier keine formale Einbeziehung der Länder
bei der Gestaltung der Verordnung vorgesehen ist, halte
ich es für wichtig, dass die zuständigen Landesbehörden
auf der Arbeitsebene ausreichend einbezogen werden und
bei der Zertifizierung und der Festlegung von Standards
eingebunden werden. Ich will noch einmal daran erin-
nern: Das Projekt „Digitalfunk BOS“ ist eine gemein-
same Aufgabe von Bund und Ländern; daran muss sich
die Zusammenarbeit der beteiligten Stellen orientieren.


(A) (C)



(B) (D)


Clemens Binninger
Landesweite, auf dem sogenannten TETRA-Standard
basierende Funknetze errichten auch andere europäische
Staaten wie Österreich, Schweden, Norwegen und Däne-
mark. Das deutsche Digitalfunknetz, das wir zukünftig ei-
ner halben Million Mitarbeitern von Polizei, Feuerwehr,
Rettungsdiensten und weiteren Sicherheitsbehörden zur
Verfügung stellen werden, ist das weitaus größte Projekt
seiner Art.

Die Einführung des Digitalfunks bedeutet für unser
Land einen Zugewinn an innerer Sicherheit. Mit dem vor-
liegenden Gesetz tragen wir dazu bei.


Gerold Reichenbach (SPD):
Rede ID: ID1622218100

Das heute vorliegende Gesetz zur Änderung des Geset-

zes über die Errichtung einer Bundesanstalt für den
Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit
Sicherheitsaufgaben ist ein weiterer Schritt bei der
schwierigen und sich zäh gestaltenden Aufgabe, das in
Deutschland bereits bestehende integrierte BOS-Funk-
netz von der analogen in die modernere digitale Funk-
technik zu überführen. Die Gesetzesänderung ist notwen-
dig, weil das Großprojekt – seit der Verabschiedung des
dafür zuständigen Gesetzes im Juni 2006 – nun in ein Sta-
dium getreten ist, in dem wir endlich die Voraussetzungen
für die Beschaffung der Endgeräte festzulegen haben.

Entscheidend für die Realisierung und auch die künf-
tige Weiterentwicklung des BOS-Funknetzes ist, dass ent-
sprechende Endgeräte von den Herstellern angeboten
werden und sich ein entsprechender Markt entwickelt.
Dabei wollen wir einerseits einen breiten Wettbewerb bei
den Endgeräten gewährleisten. Das ist einer der Gründe,
warum wir Netz- und Systembetrieb getrennt vergeben
und dafür gesorgt haben, dass die Schnittstellen zu den
Endgeräten offengelegt werden müssen.

Andererseits müssen wir als Gesetzgeber darauf ach-
ten, dass eine sicherheitsrelevante Infrastruktur wie der
BOS-Digitalfunk die notwendigen Sicherheitsstandards
einhält. Die von den Nutzern dezentral beschafften und
verwendeten Endgeräte müssen störungsfrei und inter-
operabel mit den sonstigen Komponenten des Digital-
funknetzes und mit anderen Endgeräten eingesetzt wer-
den können. Zudem müssen die Endgeräte bestimmte
elektromagnetische und mechanische Eigenschaften so-
wie bestimmte Anforderungen an die Bedienbarkeit erfül-
len. Deshalb muss es eine Zertifizierung der Endgeräte
geben.

Sie ist zum einen wichtig für die Benutzer. Sie müssen
sich im Ernstfall, in dem es durchaus um Menschenleben
gehen kann, darauf verlassen können, dass die beschaff-
ten Geräte technisch und funktionell alle Anforderungen
erfüllen und störungsfrei betrieben werden können.

Sie ist aber auch wichtig für die Hersteller, um sie vor
unlauterem Wettbewerb zu schützen. Eine unabhängige
Zertifizierung durch die Bundesanstalt bietet für beide
diese Sicherheit.

Nicht zuletzt dient eine unabhängige, allgemeine Zer-
tifizierungsmöglichkeit auch der Vielfalt und Konkurrenz
auf dem Markt. Konkurrenz bei Preis und Qualität ist
wichtig für die kommunalen Gebietskörperschaften und
Zu Protokoll
Organisationen, die die Endgeräte beschaffen, auch in
Anbetracht der Gerätekosten. Wir wollen keine Monopol-
stellung eines einzelnen Anbieters mit allen Marktverzer-
rungen, die sehr wohl bekannt sind. Wir verpflichten die
Hersteller, die eine Zertifizierung anstreben, dazu, zwei
Endgeräte unentgeltlich zur Verfügung zu stellen, die von
unabhängigen, externen Testplattformen geprüft werden.
Dies gilt nicht für die Hersteller von mobilen oder statio-
nären Funkleitstellen. Weil diese Anlagen hohe Stück-
preise haben, hätte dies für die Zertifizierungswilligen
unverhältnismäßig hohe Kosten zur Folge, die sich nicht
marktkonform auf den Verkaufspreis umlegen ließen. Bei
den Endgeräten fällt dies wegen der geringeren Stück-
preise und den höheren Marktchancen dagegen kaum ins
Gewicht.

Durch einen Änderungsantrag haben die Koalitions-
fraktionen im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens sicher-
gestellt, dass bei kleineren Veränderungen keine aufwen-
digen Folgezertifizierungen notwendig sind. Nur bei
Änderungen, die wesentlich sind, die also Auswirkungen
auf Betriebs- und Funktionsfähigkeit haben muss nach-
zertifiziert werden. Für unwesentliche Änderungen, also
zum Beispiel im Design, gilt dies nicht. Die konkrete Un-
terscheidung trifft letztlich die Bundesanstalt innerhalb
einer Frist von drei Monaten.

Des Weiteren stellen wir mit der Gesetzesänderung
noch einmal klar, dass die Bundesanstalt für den Digital-
funk der Behörden und Organisationen mit Sicherheits-
aufgaben ausschließlich in öffentlichem Interesse tätig
wird.

Weil die Debatte über den Digitalfunk angesichts der
drohenden weiteren Verzögerungen und Kostensteigerun-
gen erneut aufflammt, lassen Sie mich anlässlich der heu-
tigen Gesetzesberatung noch zwei grundsätzliche Fest-
stellungen treffen: Erstens. Unbefriedigend ist, dass sich
erneut herausstellt, dass der bereits mehrfach in die
Länge gezogene Zeitplan für den Aufbau des flächende-
ckenden BOS-Digitalfunks wieder nicht eingehalten wer-
den kann. Entsprechend unserer föderalen Struktur im
Sicherheitsbereich müssen wir diesen Prozess kontinuier-
lich mit einer Vielzahl von Aufgabenträgern abstimmen:
mit dem Bund, den Ländern und auf den jeweiligen Ebe-
nen unter den Behören und Organisationen in der polizei-
lichen und nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr. Das er-
weist sich stellenweise immer noch als zäh, zumal die
einzelnen Länder unterschiedlich und unterschiedlich
schnell vorgehen. Allerdings können wir uns auch nicht
– wie manche Neunmalkluge immer wieder suggerieren –
mit vermeintlich erfolgreicheren Nachbarländern ver-
gleichen. Dort wurde der Digitalfunk bisher entweder als
Insellösung oder als Teilfunknetz angelegt. Erst jetzt wer-
den auf dieser Basis integrierte Gesamtlösungen geplant.
Wir müssen in Abstimmung zwischen Bund und Ländern,
den kommunalen Gebietskörperschaften und den jeweili-
gen Organisationen der polizeilichen und nichtpolizeili-
chen Gefahrenabwehr ein bereits bestehendes integrier-
tes Netz komplett transferieren. Der Verzicht auf den
einheitlichen Ausbau eines Kernnetzes durch den Bund
und der steigende Koordinierungsbedarf tun ein Übriges.
Zum Zweiten: Beunruhigend sind die stark steigenden
Kosten, die die ursprünglichen Ansätze jetzt schon erheb-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Gerold Reichenbach
lich übersteigen. Die Zahlen, die jetzt gehandelt werden,
sind ein Vielfaches dessen, was ursprünglich beim Aufbau
des Kernnetzes durch die DB-Telematik in Rede stand.
Damals führte der Aufschlag von 500 Millionen Euro
dazu, dass der DB-Telematik das Gesamtprojekt entzogen
wurde, und zwar mit der Begründung: zu teuer. Inzwi-
schen haben wir das Mehrfache der damals in Rede ste-
henden Kostensteigerung erreicht.

Wir erinnern uns, dass der Bund unter Rot-Grün zuge-
sagt hatte, das Kernnetz zu finanzieren. Das entspricht
50 Prozent des gesamten Netzes, und das obwohl der
Bund weniger als 10 Prozent der Nutzer stellt. Mit diesem
„unausschlagbaren“ Angebot, das einem Kostenteil des
Bundes von rund 30 Prozent entsprach, hatte der dama-
lige Bundesminister Schily das Kostenkarussell zwischen
Bund und Ländern beenden und endlich den Weg für den
Digitalfunk frei machen können.

Die Länder und Innenminister Wolfgang Schäuble ha-
ben dann von dem Modell es Ausbaus des Kernnetzes
durch den Bund mithilfe eines einheitlichen Dienstleisters
Abstand genommen, unter anderem mit Verweis auf die
avisierte Kostensteigerung von 500 Millionen Euro. Da-
gegen wurde – vereinfacht dargestellt – vereinbart, dass
der Bund zwar mit der Bundesanstalt die Verantwortung
für die Koordinierung und die Gesamtnetzplanung über-
nehmen soll, die Länder aber in ihrem Bereich den Ge-
samtausbau des Netzes eigenständig vornehmen können,
wobei sie dies auch wahlweise der Bundesanstalt über-
tragen können. Das wurde damals von allen Beteiligten
als kostengünstigere und schnellere Lösung gefeiert. Die
Realität sieht heute leider ganz anders aus. Es ist nicht
redlich, alle Probleme die jetzt im Projekt- und Kosten-
management entstehen, dem Vorgängerminister in die
Schuhe zu schieben und jegliche Verantwortung für die
jetzige – für uns alle unbefriedigende Situation – von sich
zu weisen. Im Gegenteil: Wir müssen aufpassen, dass das
von Innenminister Schäuble mit den Ländern vereinbarte
jetzige Vorgehen nicht zu einem reinen Optionsmodell
wird, bei dem alle Kostenrisiken auf den Bund abgewälzt
werden. Denjenigen, die jetzt die Kostensteigerungen als
Gelegenheit nutzen wollen, verlorene Schlachten erneut
zu schlagen und nach einer Privatisierung hoheitlicher
Aufgaben in Form einer Konsortiumslösung zu rufen,
möchte ich nur das Beispiel Maut entgegen halten. Es
kann nicht die Rede davon sein, dass diese Lösung kos-
tengünstig sei oder gewesen wäre. Das vorliegende Ge-
setz ist notwendig, um die Voraussetzung für die Zertifi-
zierung und damit die Markteinführung und Beschaffung
der Endgeräte zu schaffen. Die Bundesländer, die Ge-
meinden, aber insbesondere die Nutzer warten darauf un-
geduldig; nicht zuletzt auch deshalb, um endlich
marktreife Geräte und verlässlichere Zahlen für ihre Pla-
nungen zu erhalten. Wir stehen ohnehin im Verzug.

Die Frauen und Männer, die bei den Behörden und Or-
ganisationen mit Sicherheitsaufgaben, bei den Polizeien,
den Feuerwehren, den Hilfsorganisationen und beim
THW sich täglich für unser aller Sicherheit einsetzen und
dabei oft Risken für Leib und Leben in Kauf nehmen, ha-
ben nicht nur unser aller Dank dafür verdient, sie haben
auch Anspruch darauf, dass wir alles tun, damit ihnen
Zu Protokoll
endlich eine modernere Funktechnik für die Erfüllung ih-
rer schwierigen Aufgaben zu Verfügung steht.

Darum sollten wir die jetzige Gesetzesänderung nicht
in Haftung für andere Debatten nehmen. Ich bitte um ihre
Zustimmung.

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Wir brauchen schnellstmöglich den Digitalfunk in

Deutschland. Das Projekt ist zu wichtig, als dass sein
Scheitern auf Dauer riskiert werden darf.

Gegenstand des jetzt vorliegenden Gesetzentwurfes ist
insbesondere die Einführung einer Vorschrift zur Zertifi-
zierung von Endgeräten durch die Bundesanstalt für
Digitalfunk. Die technische Überprüfung verbleibt
grundsätzlich bei sachverständigen Prüfstellen. Die End-
abnahme soll durch die Bundesanstalt durchgeführt wer-
den. Eine Zertifizierung soll dann erteilt werden, wenn
die zwingend erforderlichen Leistungsmerkmale vorhan-
den sind, das Gerät nicht gegen andere öffentlich-recht-
liche Vorschriften verstößt und der Erteilung des Zertifi-
kats keine überwiegenden öffentlichen Interessen,
insbesondere sicherheitspolitische Belange der BRD, ent-
gegenstehen.

Die FDP-Bundestagsfraktion macht sich bereits seit
Jahren für die Einführung des Digitalfunks stark. Aller-
dings hatte sie sich bereits bei der Errichtung einer Bun-
desanstalt für Digitalfunk enthalten, da grundsätzlich die
Notwendigkeit einer Behördenlösung in diesem Bereich
zweifelhaft ist. Alternativen hatte die Bundesregierung
nicht ernsthaft geprüft. Diese Kritik wirkt auch jetzt fort,
vor allem, wenn ich über das Kostencontrolling und die
Informationspolitik der Bundesregierung nachdenke.

Innerhalb des Bundesrates wurde Kritik daran geäu-
ßert, dass die Mitspracherechte der Länder bei der Fest-
legung des Zertifizierungsverfahrens und des Inhalts der
Zertifikate zu gering seien. So solle die Zertifizierungs-
verordnung des BMI nicht der Zustimmung des Bundes-
rates bedürfen. Da das Projekt Digitalfunk ein Gemein-
schaftsprojekt von Bund und Ländern ist, muss dies
tatsächlich kritisch hinterfragt werden.

Das bisherige Auftrags- und Vergabeverfahren der
Bundesregierung für den BOS-Digitalfunk ist unverant-
wortlich und undurchsichtig. Die dringend erforderliche
Einführung wurde unnötig verzögert und verteuert. Der
ursprünglich geplante Weg, über eine Dienstleistungs-
ausschreibung das Digitalfunknetz zu errichten, wurde
von der Bundesregierung Ende Januar 2005 verlassen.
Der Betrieb wurde ohne Ausschreibung an die Bahntoch-
ter DB-Telematik vergeben – einfach so mit einem telege-
nen Handschlag von Otto Schily und Herrn Mehdorn.
Und dann passierte Folgendes: Für den Betrieb des BOS-
Digitalfunks legte die DB-Telematik am 31. Juli 2006 ein
Angebot in Höhe von 2,6 Milliarden Euro vor. Der im
Haushalts- und Finanzplan für den Bund veranschlagte
Kostenrahmen beträgt aber nur rund 1,1 Milliarden
Euro. Jetzt ist eine erneute Kostensteigerung um rund
1 Milliarde Euro bekannt geworden. Die Kosten für den
Bund betragen jetzt inzwischen fast das Dreifache.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

Die Kostenentwicklung wie die Gesamtumstände der
Digitalfunkeinführung in Deutschland sind skandalös.
Die Rolle der Minister Schily und Schäuble ist mit „un-
durchsichtig“ noch sehr behutsam ausgedrückt. Obwohl
die Bundesregierung immer wieder das Gegenteil be-
hauptet, ist der Eindruck unabweisbar, dass die Kosten
für den Steuerzahler als eine zu vernachlässigende Größe
angesehen werden. Ein wirksames Controlling fehlt.

Die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung der
Bundesregierung ist durch ein hohes Maß an Intranspa-
renz und Undurchsichtigkeit geprägt. Gegen daraus re-
sultierende Mutmaßungen und Verdächtigungen helfen
nur Offenheit und Transparenz. Die Finanzierung des ge-
samten Projekts für den Bund, aber auch die Finanzie-
rungsbedingungen für jedes einzelne Bundesland sind
völlig aus dem Blick geraten. Ein Vertrag zulasten Dritter,
zulasten der Länder ist unzulässig.

Die FDP hat erhebliche Bedenken gegen die Art und
Weise, wie die Bundesregierung die Einführung des Digi-
talfunks betreibt. Das unklare und intransparent wir-
kende Vergabeverfahren zum Digitalfunk hat bislang ne-
ben immensen Kosten nur grandiose Zeitverzögerungen
verursacht.

Wir sollten im Interesse der Sicherheit der Bürger,
aber auch der Haushaltslage schnellstmöglich die beste,
aber auch wirtschaftlichste Technik in Deutschland um-
setzen. Und wir wollen, dass alle Entscheidungen nach-
vollziehbar und transparent sind. Denn an dem, was und
wie bislang in diesem Zusammenhang entschieden
wurde, sind erhebliche Zweifel angebracht – sachlich,
rechtlich und finanziell.


Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1622218200

Wir debattieren heute über eine Gesetzesänderung,

vorgeschlagen durch die Bundesregierung, zu einem Ge-
setz, das die Regierung selber vor kaum drei Jahren durch
das Parlament gedrückt hat. Die Rede ist vom Gesetz zur
Einrichtung einer Bundesanstalt für den Digitalfunk der
Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben.

Bereits in den Debatten 2006 hat sich die Fraktion Die
Linke gegen die Einrichtung einer solchen Bundesanstalt
ausgesprochen, jedoch nicht, wie uns aus der Koalition
immer wieder vorgeworfen wurde, weil wir gegen eine
über die Ländergrenzen hinweg funktionierende Kommu-
nikation beispielsweise zwischen den Feuerwehren, dem
Katastrophenschutz oder der Polizei waren. Im Gegen-
teil, wir, Die Linke, sprechen uns seit langem dafür aus,
die vorsintflutartigen Kommunikationsmittel auf analo-
ger Basis durch digitales Gerät auszutauschen. Seit Jah-
ren wird nun an Geräten, Funkmasten und Zertifizierun-
gen für diese herumgedokter – ohne messbaren Erfolg.
Die bundesweite Inbetriebnahme des Digitalfunks steht
aus und wird wohl noch einige Jahre auf sich warten las-
sen. Ein deutsches Novum in der europäischen Sicher-
heitsarchitektur! Da werden Datenbanken aufgebaut,
millionenfach Personendaten ausgespäht, auf Vorrat
gesammelt und international weitergegeben, Geheim-
dienste und Militär in die Polizeiarbeit eingebunden, der
Kampf gegen den Terrorismus medienwirksam inszeniert,
und woran krankt unsere Sicherheitsarchitektur wirklich:
Zu Protokoll
an Funkgeräten. Das ist ein Schildbürgerstreich ohne
Beispiel. Das Vorgehen der Regierung ist so peinlich,
dass man sich sogar als Oppositionspolitiker für die Ko-
alitionsmehrheit fremdschämen muss. Neben den Knoten
in der Sicherheitskommunikation gehört deshalb auch
das Fremdschämen aufgehoben.

Nun will die Bundesregierung mit ihrer heute vorlie-
genden Gesetzesänderung ihr eigenes Gesetz von 2006
nachbessern. Plötzlich werden Kritikpunkte an der zu-
ständigen Bundesanstalt, die erst 2007 eingerichtet
wurde, aufgegriffen, welche die Opposition bereits zum
damaligen Zeitpunkt öffentlich machte. Es bleibt aber da-
bei: Der Nachbesserungsversuch der Regierung ist ein
hilfloser Versuch, denn nun, nachdem die Bundesländer
bereits Geräte für den Digitalfunk angeschafft haben,
stellt die Regierung fest, dass die Bundesanstalt mit der
Zertifizierung und der Prüfung der Geräte auf länder-
übergreifende und störungsfreie Nutzung und Kompatibi-
lität hin überfordert ist. Deshalb soll es zukünftig möglich
sein, diese Aufgaben abzugeben, das heißt externe Prüf-
stellen damit zu betrauen. Mit der Änderung des von § 13
Abs. 2 BDBOS-Gesetz sollen gleichzeitig der Bundesan-
stalt zusätzliche Befugnisse gegenüber Behörden anderer
Bundesministerien übertragen werden.

Ganz schlau ist im Übrigen auch, dass die Bundesre-
gierung jetzt – über den neuen § 15 b und c – drei Jahre
nach Gesetzeseinführung und zwei Jahre nach der Ein-
richtung der Bundesanstalt definiert, wie die Zertifizie-
rungsverfahren und Einzelheiten des Zertifikats auszuge-
stalten sind. Der Opposition hätte die Große Koalition
bei einem Gesetzentwurf, welcher derart viele Defizite
aufweist, jedwede politische Kompetenz abgesprochen.

Bis heute ist die Bundesanstalt ihrer eigentlichen Auf-
gabe nicht nachgekommen. Laut Gesetz hat die Bundes-
anstalt die Aufgabe, im Öffentlichen Interesse ein bundes-
weit einheitliches digitales Sprech- und Datenfunksystem
für Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufga-
ben aufzubauen, zu betreiben und seine Funktionsfähig-
keit sicherzustellen“. Weder wurde bis heute ein solches
System aufgebaut, noch ist die Funktionsfähigkeit ge-
sichert; denn die Kompatibilität der bisher angeschafften
Geräte und der Aufbau der notwendigen Funkmasten ste-
hen weiter in den Sternen.

Der Digitalfunk in Deutschland ist ein weiteres Mil-
lionengrab der Großen Koalition. Die daraus folgenden
Kommunikationsschwierigkeiten von Sicherheitsbehör-
den verschärfen die Sicherheitslage in Deutschland. Die
Linke wird der Gesetzesänderung nicht zustimmen und
fordert die Regierung auf, endlich im Sicherheitsinteresse
der Bürgerinnen und Bürger zu handeln.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der BOS-Digitalfunk kommt später, und er wird we-
sentlich teurer als bislang geplant – das ist die zweifach
schlechte Botschaft, die sich hinter diesem Gesetzentwurf
verbirgt. Was ganz Europa kann, bringt das Hightechland
Deutschland mit seinem föderalen Wahnsinn nicht zu-
stande, und ich kann dieser Bundesregierung noch nicht
einmal die alleinige Schuld in die Schuhe schieben.



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Silke Stokar von Neuforn
Wir erinnern uns noch an das großspurige Verspre-
chen von Otto Schily: Der Digitalfunk kommt pünktlich
zur Fußball-WM 2006. Dann gab es Alleingänge des ehe-
maligen Bundesinnenministers, Verträge per Handschlag
und einen festgefahrenen Konflikt mit allen Bundeslän-
dern, die nun einmal zu beteiligen sind, weil es bei der
Föderalismusreform I nur um das BKA ging und nicht da-
rum, dass der Aufbau eines einheitlichen, bundesweiten
Digitalfunks als Aufgabe des Bundes definiert wird. Jetzt
haben wir eine schwerfällige Bund-Länder-Behörde, die
mit der Bewältigung dieses Großprojektes schon auf-
grund ihrer Organisationsstruktur überfordert ist.

Nach Presseberichten – „Handelsblatt“ vom 6. Mai;
der Sachstandsbericht liegt den Mitgliedern des Innen-
ausschusses nicht vor – sind die Gesamtkosten um
30 Prozent auf 3,625 Milliarden Euro gestiegen, die Ein-
führung verzögert sich nach derzeitigem Stand bis 2012.
Es werden mehr Funkstationen gebraucht als ursprüng-
lich geplant, und in der Bevölkerung gibt es ganz offen-
sichtlich Widerstand gegen immer neue Sendemasten, de-
ren Strahlung nicht genau eingeschätzt werden kann. Die
unendliche Geschichte der Einführung des BOS-Digital-
funks in Deutschland wird auf jeden Fall weiter geschrie-
ben, und bis dahin funken wir weiter analog oder bauen
parallel Insellösungen auf und ab.

Es ist prima, dass die Bundesregierung jetzt beginnt,
verbindliche Standards zu setzen, und ich kann nur hof-
fen, dass die Länder, inklusive Bayern, hier zustimmen
können. Die Klarstellung, dass die BDBOS ihre Aufgaben
und Befugnisse nur im öffentlichen Interesse wahrnimmt
und die vorgesehene Klärung der Zuständigkeiten auf,
dem Gebiet der Versorgung sind Selbstverständlichkei-
ten, die nicht erneut eine Welle der Debatte auslösen soll-
ten. Dass es eine Zertifizierung der Endgeräte geben
muss, sollte auch für alle nachvollziehbar sein.

Wir haben gegen diese Änderungen keine Einwände.
Wir sind allerdings nicht bereit, die Verantwortung für
weitere Kostensteigerungen und Verzögerungen mit zu
übernehmen. Es mangelt an Transparenz gegenüber dem
Parlament, und es ist den Abgeordneten kaum möglich,
hier gestaltend einzugreifen. Der Murks beim BOS-Digi-
talfunk ist der Murks der Innenminister. Otto Schily
wollte seinen Alleingang, und Schäuble geht den falschen
Weg weiter. Für das Projekt BOS-Digitalfunk lehnen wir
die Mitverantwortung ab. Beim Gesetzentwurf der Bun-
desregierung enthalten wir uns, weil einige Regelungen
durchaus vernünftig sind, aber insgesamt das verkorkste
Verfahren damit nicht gerettet werden kann. Der BOS-
Digitalfunk braucht eine Evaluierung, ein transparentes
Kosten-Controlling und eine Neuausrichtung.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622218300

Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss

empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 16/12914, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 16/12594 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, mögen bitte die Hand
heben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der
Gesetzentwurf bei Zustimmung durch die Koalitionsfrak-
tionen angenommen. Dagegen hat die Fraktion Die
Linke gestimmt. Enthalten haben sich Bündnis 90/Die
Grünen und FDP.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge
sich bitte erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit dem glei-
chen Stimmverhältnis wie zuvor angenommen.

Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 36 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neure-
gelung der Rechtsverhältnisse bei Schuldver-
schreibungen aus Gesamtemissionen und zur
verbesserten Durchsetzbarkeit von Ansprü-
chen von Anlegern aus Falschberatung

– Drucksache 16/12814 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

Zu Protokoll gegeben haben hier ihre Reden die
Kolleginnen und Kollegen Marco Wanderwitz, Klaus
Uwe Benneter, Mechthild Dyckmans, Sevim Dağdelen,
Dr. Gerhard Schick und der Parlamentarische Staatsse-
kretär Alfred Hartenbach.1)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/12814 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu
gibt es keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist so be-
schlossen.

Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 37 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Irmingard Schewe-Gerigk, Dr. Konrad
Schily und weiteren Abgeordneten eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Strafgesetzbuches – Strafbarkeit der Genital-
verstümmelung

– Drucksache 16/12910 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden Ute
Granold, Christine Lambrecht, Sibylle Laurischk,
Dr. Kirsten Tackman und Irmingard Schewe-Gerigk.


Ute Granold (CDU):
Rede ID: ID1622218400

Wir diskutieren heute in erster Beratung einen Gesetz-

entwurf zur Strafbarkeit von Genitalverstümmelungen.
Der Gesetzentwurf sieht vor, die Genitalverstümmelung
bei Mädchen und Frauen als Fall der schweren Körper-
verletzung in das Strafgesetzbuch aufzunehmen. Zudem
soll die Verjährung der Strafbarkeit erst mit Vollendung

1) Anlage 10


(A) (C)



(B) (D)


Ute Granold
des 18. Lebensjahres des Opfers einsetzen. Mittels einer
Ergänzung der Vorschriften zur Auslandsstrafbarkeit soll
außerdem sichergestellt werden, dass die Genitalver-
stümmelung bei einem lediglich vorübergehenden Auf-
enthalt außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik dem
deutschen Strafrecht unterliegt.

Ich möchte zunächst feststellen: Die Union unterstützt
ausdrücklich das Anliegen, Mädchen und Frauen besser
vor Genitalverstümmelungen zu schützen. Die Genital-
verstümmelung stellt eine schwere Menschenrechtsver-
letzung und Diskriminierung der betroffenen Mädchen
und Frauen dar, die auch mit Blick auf einen etwaigen be-
sonderen kulturellen oder religiösen Hintergrund unter
keinen Umständen toleriert werden kann.

Die Koalition hat sich der Problematik der Genitalver-
stümmelung bereits seit langem angenommen und den
Antrag „Wirksame Bekämpfung der Genitalverstümme-
lung von Mädchen und Frauen“ mit einem 20-Punkte-
Plan eingebracht, der im Juni letzten Jahres vom Bundes-
tag verabschiedet wurde. Darin wird eine Reihe von Maß-
nahmen genannt, die aus unserer Sicht erforderlich sind,
um Mädchen und Frauen wirksamer vor Genitalverstüm-
melungen zu schützen.

Die zentrale Forderung des heute zur Beratung anste-
henden Entwurfs zielt auf die Schaffung eines eigenen
Straftatbestandes hin. Zur Begründung wird angeführt, es
sei unklar, ob eine Genitalverstümmelung den Straftatbe-
stand der schweren Körperverletzung erfülle. Deshalb sei
die vorgeschlagene Gesetzesänderung notwendig. Mit
der ausdrücklichen Erfassung als schwere Körperverlet-
zung und der damit verbundenen Strafandrohung werde
der besondere Unrechtsgehalt dieser Tat erfasst. Eine
Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung würde
hingegen den schlimmen Folgen für die Opfer nicht hin-
reichend Rechnung tragen.

Es dürfte weitestgehend unstreitig sein, dass die Geni-
talverstümmelung, da sie in der Regel mit einem Messer,
Skalpell oder ähnlich scharfem Gegenstand geschieht,
schon jetzt nicht nur eine einfache Körperverletzung dar-
stellt, sondern in der Regel den Straftatbestand der ge-
fährlichen Körperverletzung nach § 224 des Strafgesetz-
buchs erfüllt. Mit Blick auf die damit verbundene
Höchststrafe von zehn Jahren Freiheitsentzug wäre eine
Aufnahme in den Katalog der schweren Körperverlet-
zung, wie hier vorgeschlagen, somit wegen des Strafma-
ßes nicht erforderlich und im Übrigen auch nicht zu
rechtfertigen.

Soweit es jedoch um die unterschiedliche Mindest-
strafe geht, die bei der schweren Körperverletzung bei
absichtlicher Verstümmelung der Genitalien drei Jahre
und bei der gefährlichen Körperverletzung sechs Monate
beträgt, gibt es ein Problem, auf das der vorliegende Ent-
wurf nicht eingeht: Der Familienausschuss hat die Pro-
blematik der Genitalverstümmelung im Rahmen einer
Anhörung im September 2007 intensiv erörtert. Es wur-
den nicht nur Experten, sondern auch Betroffene ange-
hört. Die Koalition hat sich nach dieser Anhörung be-
wusst gegen einen eigenen Straftatbestand entschieden.
Ausschlaggebend war hierfür vor allem der Einwand der
Sachverständigen, dass die vorgeschlagene Strafver-
Zu Protokoll
schärfung mit ihrer Mindestfreiheitsstrafe von drei Jah-
ren ausländerrechtlich stets die Ausweisung der Täter
– also insbesondere der Eltern oder anderer Familien-
angehöriger – zur Folge hätte. Für die betroffenen Opfer
wäre deshalb nach eigener Aussage die Strafverschär-
fung wegen der damit verbundenen Regelausweisung
keine Lösung. Es besteht daher aus unserer Sicht die Ge-
fahr, dass eine Strafverschärfung sogar kontraproduktiv
wirkt: Sie könnte die Opfer wegen der damit verbundenen
Ausweisung ihrer Familienangehörigen von einer An-
zeige abhalten. Dies kann von uns nicht gewollt sein.

Was die angesprochene Symbolwirkung einer erwei-
terten Strafbarkeit angeht, so teile ich die Einschätzung,
dass leider einem beträchtlichen Teil der Öffentlichkeit
immer noch das Bewusstsein der Strafbarkeit von Geni-
talverstümmelungen fehlt. Es ist allerdings auch festzu-
stellen, dass sich in diesem Bereich in den vergangenen
Jahren schon vieles zum Positiven entwickelt hat. Den
Menschen ist inzwischen weitgehend bekannt, dass es
– auch hierzulande – Genitalverstümmelungen gibt. Auch
müsste sich in den relevanten Migrantengruppen mittler-
weile die Erkenntnis durchgesetzt haben, dass unsere
Rechtsordnung diese menschen- und frauenverachtenden
Praktiken nicht duldet. Hier hat die vielfältige Aufklä-
rungsarbeit seitens des Staates und privater Organisatio-
nen bereits zu einer Veränderung in den Köpfen der Men-
schen geführt.

Unabhängig von der Frage der strafrechtlichen Be-
wertung werden wir unsere Anstrengungen in diesem Be-
reich weiter forcieren. Die Bundesregierung setzt sich be-
reits seit Jahren kontinuierlich für die Bekämpfung der
Genitalverstümmelung ein. So ist etwa der Aktionsplan II
zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen vom Septem-
ber 2007 zu nennen. Die Koalition hat mit ihrem Antrag
aus dem vergangenen Jahr nun eine Reihe weiterer wich-
tiger und guter Maßnahmen beschlossen, die es jetzt um-
zusetzen gilt.

So wollen wir durch entsprechende Öffentlichkeitsar-
beit darauf hinwirken, dass die Strafbarkeit der Verstüm-
melung weiblicher Genitalien als Körperverletzung der
breiten Öffentlichkeit und insbesondere auch bei den Mi-
granten bzw. Migrantenorganisationen noch stärker be-
kannt gemacht wird und sich hier ein entsprechender
Mentalitätswechsel vollzieht.

Darüber hinaus – hierin sehen wir die zentrale He-
rausforderung – muss es uns gelingen, Mädchen und
Frauen umfassend über ihre Rechte sowie Beratungs-
und Zufluchtsmöglichkeiten aufzuklären. Dabei wollen
wir auch die mit diesem Thema befassten Akteure – zum
Beispiel Ärzte, Sozialarbeiter, Polizei und andere Behör-
den – weiter sensibilisieren und auch bei den Ländern
darauf hinwirken, dass sie die erforderliche Infrastruktur
bereitstellen. Vordringlich sind dies Mädchen- und Frau-
enhäuser sowie Beratungsstellen.

Wir wollen zudem einen besonderen Schwerpunkt in
die Aufklärung und Prävention bei der Vergabe von For-
schungsaufträgen setzen. Dazu zählt auch eine Evaluie-
rung von sogenannten Best Practices in Herkunftslän-
dern und europäischen Migrationsländern. Gelingen uns
dabei keine Fortschritte, sind alle gesetzlichen Maßnah-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Ute Granold
men reine Symbolpolitik, die den betroffenen Mädchen
und Frauen nicht helfen. Hier müssen wir also unsere
Prioritäten setzen. Das tun wir auch.

Schließlich haben auch wir uns in unserem Antrag da-
für ausgesprochen, die Verjährungsfrist für Opfer, die
zum Tatzeitpunkt noch nicht volljährig waren, zu verlän-
gern, sodass die Betroffenen auch noch nach dem Errei-
chen der Volljährigkeit die Möglichkeit haben, selbst An-
zeige zu erstatten. In diesem Punkt stimmen wir mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf ausdrücklich überein.

Aus diesem Grund habe ich bereits gemeinsam mit
dem Kollegen Arnold Vaatz die Bundesregierung – na-
mentlich die Justizministerin – aufgefordert, die Vorga-
ben des Bundestages umzusetzen und einen entsprechen-
den Gesetzentwurf vorzulegen. Dabei haben wir auch
ausdrücklich um Prüfung gebeten, inwieweit eine Verlän-
gerung der Verjährungsfrist auch ohne die Schaffung ei-
nes eigenen Straftatbestandes für Genitalverstümmelung
zu realisieren ist, und für den Fall, dass dies nicht geht,
welche Lösungen sich aus rechtspolitischer Sicht erge-
ben, um diese Forderung des Bundestages umzusetzen.
Eine Antwort bzw. den Gesetzentwurf erwarten wir in
Kürze.

Vor diesem Hintergrund lehnen wir es – zumindest
zum gegenwärtigen Zeitpunkt und wegen der noch aus-
stehenden rechtlichen Prüfung durch das Bundesjustiz-
ministerium – ab, die Genitalverstümmelung als Fall der
schweren Körperverletzung in das Strafgesetzbuch auf-
zunehmen. Schnellschüsse verbieten sich angesichts der
Sensibilität dieses Themas.

Da uns als Union dieses Thema – vor allem auch im
Interesse der betroffenen Mädchen und Frauen – sehr
wichtig ist, drängen wir darauf, dass die noch offenen
rechtlichen Fragen zeitnah geklärt werden. Ich bin zuver-
sichtlich, dass wir hier schon in Kürze einen eigenen Ge-
setzentwurf auf den Weg bringen werden.


Christine Lambrecht (SPD):
Rede ID: ID1622218500

Der hier behandelte Gruppenantrag beschäftigt sich

mit einem sehr wichtigen und ernst zu nehmenden Thema.
Die Genitalverstümmelung ist eine schwere Menschen-
rechtsverletzung und eine schwere Diskriminierung der
Frau. Nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes
und der Frauenrechtsorganisation „Terre des Femmes –
Menschenrechte für die Frau e.V.“ sind in Deutschland
etwa 30 000 Frauen und Mädchen von der Genitalver-
stümmelung betroffen oder bedroht.

Richtig ist, dass der Eingriff weder mit Religion noch
mit Tradition zu rechtfertigen ist. Auf der Grundlage in-
ternationaler Verträge liegt auch unbestritten eine rechts-
verbindliche Verpflichtung Deutschlands vor, aktiv gegen
die weibliche Genitalverstümmelung in Deutschland vor-
zugehen.

Leider vermengt der Gruppenantrag von Dr. Konrad
Schily aber das Anliegen, die Genitalverstümmelung zu
bekämpfen und diesen Frauen und Mädchen zu helfen,
mit einer Reihe von Halbwahrheiten. Das ist schade.
Zu Protokoll
So beschäftigt uns das Thema „Kampf gegen die Ge-
nitalverstümmelung“ hier im Bundestag schon seit Jah-
ren. Es gab diverse Anträge von allen Fraktionen und
eine öffentliche Anhörung zu dem Thema. Wir als Koali-
tionsfraktionen haben schließlich am 26. Juni 2008 einen
sehr ausführlichen und dezidierten Antrag verabschiedet.
Dies zeigt, dass dieses Thema nicht neu von einigen Ab-
geordneten, unter anderem der FDP, aufgegriffen wurde.
Wir haben uns mit allen Aspekten, die der Gruppenantrag
aufwirft, bereits sehr ausgiebig und intensiv auseinander-
gesetzt. Fälschlicherweise erweckt der Gruppenantrag
den Eindruck, das Thema sei neu auf der Tagesordnung.

Über eine ausdrückliche Strafbewehrung als schwere
Körperverletzung haben wir immer wieder diskutiert. In
den Beratungen zu unserem Antrag haben wir uns aus gu-
ten Gründen gegen die Einführung eines ausdrücklichen
Straftatbestandes entschieden. Entgegen dem Gruppen-
antrag bestehen keine rechtlichen Unsicherheiten bei der
exakten strafrechtlichen Einordnung. Es gibt hier keine
Strafbarkeitslücke. Für Mädchen und Frauen, denen die
Genitalverstümmelung droht, gilt, dass Genitalverstüm-
melung bereits jetzt strafbar ist und in den meisten Fällen
auch als gefährliche oder schwere Körperverletzung ge-
ahndet werden kann. Selbst bei einer Einwilligung des
Mädchens oder der Frau zu dem Eingriff bleibt die Tat
strafbar, da sie nach unserem Strafrecht gegen die guten
Sitten verstößt. Die Schaffung eines Straftatbestandes
wäre daher ein rein symbolischer Akt.

Auch das Problem der Ferienbeschneidung ist straf-
rechtlich ausreichend erfasst. Das bestätigen die Antwor-
ten der Bundesregierung auf entsprechende Anfragen,
zum Beispiel in der Drucksache 14/6682 unter Frage 15.
Die Unterstützer eines solchen Eingriffs, beispielsweise
Verwandte, die in Deutschland leben, machen sich in die-
sem Fall als Beihelfer oder Mittäter schuldig.

In einer Strafrechtsänderung sehe ich zudem keine
Problemlösung. Sie würde keinesfalls die Wurzel des Pro-
blems beheben. Trotz der existierenden Strafbarkeit der
Genitalverstümmelung gibt es bei uns bislang keine ein-
zige Verurteilung. Es liegt das Problem vielmehr in der
Nachweisbarkeit einer solchen Straftat. Denn es werden
derzeit leider solche Vorgänge von niemandem aus dem
Umfeld der Betroffenengruppe zur Anzeige gebracht.

Unser Anliegen bei der Verabschiedung des Koali-
tionsantrags war es immer, für die Prävention von Geni-
talverstümmelung gemeinsam mit den betroffenen Fami-
lien an einem Unrechtsbewusstsein für diese lebenslan-
gen Verstümmelungen ihrer Kinder zu arbeiten. So haben
wir uns bereits mit unserem Koalitionsantrag für eine
verstärkte Öffentlichkeitsarbeit bei den entsprechenden
Migrantenorganisationen eingesetzt, die deutlich macht,
dass die Genitalverstümmelung mit unserem Strafrecht
geahndet wird und ein großes nicht wiedergutzumachen-
des Unrecht darstellt. Wir haben uns mit dem Koalitions-
antrag für die Sensibilisierung von Polizei, Justiz, Leh-
rern und Ärzten eingesetzt, um für mehr Aufklärungs- und
Präventionsarbeit zu sorgen. In dieser Arbeit und ent-
sprechenden Sensibilisierungskampagnen sehe ich den
einzigen Lösungsansatz für das Problem.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Christine Lambrecht
Für viel wichtiger als eine Strafrechtsverschärfung
halte ich eine Änderung des Ausländerrechts in der Form,
dass es nicht zur Abschiebung der Eltern bzw. gefährde-
ten Mädchen im Fall einer Anzeige kommt. Bei Straftaten
in solchen Fällen kommt es auch deshalb nicht zur An-
zeige, weil den Eltern mit ihren Kindern im Falle einer
Verurteilung die Ausweisung droht.

Wir haben außerdem mit dem Koalitionsantrag be-
schlossen, eine Verlängerung der Verjährungsfrist sicher-
zustellen, damit die Opfer ausreichend Zeit haben, solche
schrecklichen Verbrechen auch zur Anzeige zu bringen.
Hier besteht zutreffend Handlungsbedarf. Seitens des
Justizministeriums gibt es aber die Erklärung, dieses
auch zügig vorzubereiten.

Alle unsere Bemühungen und der Einsatz von Ärzten,
Lehrern und Polizisten sowie Justiz zeigen, dass die
Wahrnehmung von Herrn Dr. Schily, die Genitalverstüm-
melung würde in der deutschen Politik verharmlost, völ-
lig falsch ist. Durch einen symbolischen Akt der Straf-
rechtsverschärfung kommen wir dem Problem keinesfalls
bei. Setzen wir uns deshalb dafür ein, dass wir gemeinsam
mit den Migrantenorganisationen und den betroffenen
Familien weiter an einem Unrechtsbewusstsein arbeiten,
damit diese Straftaten in Zukunft zur Anzeige kommen
und geahndet werden können.


Sibylle Laurischk (FDP):
Rede ID: ID1622218600

Dieser Gruppenantrag hat eine lange Vorgeschichte.

Zuletzt haben wir uns im Juni letzten Jahres mit der Ge-
nitalverstümmelung befasst. Er ist das Ergebnis einer An-
hörung vor dem Familienausschuss und langer inner-
und interfraktioneller und fachlicher Diskussionen. Ich
hoffe sehr, dass er einen guten Abschluss und eine klare
Mehrheit in diesem Hause finden wird. Alles andere wäre
ein Rückschlag für den Schutz der Menschenrechte in
Deutschland.

Die Verstümmelung weiblicher Genitalien ist, unab-
hängig davon, wo und warum dies geschieht, eine
schwere Verletzung der körperlichen und seelischen Un-
versehrtheit von Frauen und Mädchen. Die genitale Ver-
stümmelung von Frauen – international ist die Abkürzung
FGM für „female genital mutilation“ gebräuchlich – wird
seit der 4. UN-Weltkonferenz zu Frauen in Peking 1995
weltweit als schwerwiegende Menschenrechtsverletzung
geächtet. Bereits 1977 hatte ein Artikel in der Zeitschrift
„Emma“ das Problem deutlich gemacht.

Die genitale Verstümmelung verletzt die Frauen nicht
nur an ihren körperlichen Geschlechtsmerkmalen. Es ist
eine frühe Traumatisierung; die sexuelle Erlebnisfähig-
keit und partnerschaftliche Bindungsfähigkeit wird le-
benslänglich und unwiderruflich beschädigt. Es ist eine
tiefe Verletzung ihrer Menschenwürde. Alle Formen der
Verstümmelung erhöhen die Sterblichkeit der Frauen und
die Komplikationen auch für die Kinder während der Ge-
burt um 50 Prozent. Die genitale Verstümmelung stellt ei-
nen besonderen, nachhaltigen und menschenrechtswidri-
gen Auswuchs von Gewalt gegen Frauen dar. Weltweit
sind nach Schätzungen von UNICEF 140 Millionen
Frauen genital verstümmelt, zu denen 3 Millionen
Frauen und Mädchen jedes Jahr neu hinzukommen.
Zu Protokoll
In Deutschland leben nach Schätzungen der Frauen-
rechtsorganisation Terre des Femmes rund 20 000 von
Genitalverstümmelung betroffene und 4 000 bis 5 000
von genitaler Verstümmelung bedrohte Mädchen und
Frauen. Genitalverstümmelung ist in Deutschland also
nicht etwas Exotisches, für deren Bekämpfung im Aus-
land etwas getan werden muss, sondern sie ist auch bei
uns existent. Um es klar zu sagen: Genitalverstümmelung
ist in Deutschland bereits strafbar; man wird es unter den
Straftatbestand der Körperverletzung subsumieren müs-
sen. Jedoch unterliegt sie nach der bisherigen Rechtslage
der bis zu zehnjährigen Verjährung. Der Bundestag hat
mit Beschluss vom 26. Juni 2008 die Bundesregierung
aufgefordert, sicherzustellen, dass die Verjährung bis zur
Volljährigkeit der Betroffenen zu ruhen hat, also bis das
Opfer das 18. Lebensjahr erreicht hat. Wir begrüßen die-
sen Beschluss und nehmen das ureigene Recht des Parla-
ments wahr, diesen Beschluss Gesetz werden zu lassen.

Wir können ein Ruhen der Verjährung bis zum Errei-
chen der Volljährigkeit der Betroffenen nicht anders re-
geln, als im materiellen Strafrecht einen ausdrücklichen
Anknüpfungstatbestand zu schaffen, auf den sich § 78
StGB beziehen kann. Von meiner bisherigen Ablehnung
einer ausdrücklichen Strafbarkeit bin ich daher abge-
rückt.

Die Auslandsstrafbarkeit von im Inland lebenden Tä-
tern oder Betroffenen soll sogenannte Ferienbeschnei-
dungen ahnden und ein strafloses Ausweichen in die Her-
kunftsländer unmöglich machen.

Für die Aufnahme eines ausdrücklichen Straftatbe-
standes spricht darüber hinaus noch eine Vielzahl von an-
deren Gründen. Im Jahr 2001 forderte das Europäische
Parlament die Mitgliedstaaten auf, bei der Ausarbeitung
spezifischer Rechtsvorschriften zusammenzuarbeiten, um
FGM „im Namen der Rechte der Person auf Unversehrt-
heit, Gewissensfreiheit und Gesundheit zu unterbinden.“
Eine ausdrückliche Strafbarkeit erleichtert nach bisheri-
gen Erfahrungen aus Frankreich auch die Strafverfol-
gung; dort haben seit 1983 36 Prozesse wegen Genital-
verstümmelung stattgefunden.

Die ausdrückliche Strafbarkeit stärkt zudem den Dia-
log mit den Ländern, in denen Genitalverstümmelung
noch stattfindet. Sie stärkt die Glaubwürdigkeit deutscher
Entwicklungspolitik im Ausland. Die Migrantenorgani-
sationen selbst fordern eine ausdrückliche Strafbarkeit,
um in ihren Kreisen besser die Strafbarkeit in Deutsch-
land kommunizieren zu können.

Die eindeutige juristische Benennung wird auch die
Aufklärungsarbeit im Inland verbessern. Ärzte und
Ärztinnen, Juristen, Sozialarbeiter, Lehrer, Verwaltungs-
mitarbeiter, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von
Beratungsstellen, Jugendämtern, Ausländerbehörden,
Erzieher und all diejenigen, die mit betroffenen oder ge-
fährdeten Mädchen und Frauen zu tun haben können, ist
der Zugang zu diesem Thema durch die ausdrückliche
Benennung im Strafgesetzbuch erleichtert. So wird auch
die gemeinhin geforderte Doppelstrategie von Strafver-
folgung und Aufklärung umgesetzt.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Sibylle Laurischk
Ich bin sehr froh, dass die Wichtigkeit der ausdrück-
lichen strafrechtlichen Regelung auch von so vielen mei-
ner Kolleginnen und Kollegen mitgetragen wird, ganz un-
abhängig von ihrer Partei- und Fraktionszugehörigkeit.
Ich bin sicher, dass sich noch mehr Kolleginnen und Kol-
legen anschließen werden.

Damit ist aber der Kampf gegen Genitalverstümme-
lung leider noch nicht am Ende. Notwendig sind Präven-
tionsmaßnahen und Aufklärungsarbeit. Gleichzeitig ist
die Entwicklungshilfe für die Entwicklungsländer zu
überdenken, die noch nicht den Kampf gegen die Genital-
verstümmelung aufgenommen haben, wie dies auch
Dr. Guido Westerwelle unlängst in einem „SPIEGEL“-
Interview vom 12. Mai 2009 gefordert hat. Der Beschluss
des Deutschen Bundestages vom 26. Juni 2008 ist auch in
sofern umzusetzen, als die interministerielle Arbeits-
gruppe von Bund, Ländern und Nichtregierungsorgani-
sationen noch nicht effizient arbeitet. Überdies ist es
fragwürdig, warum das BMZ hier die Federführung ha-
ben sollte, geht es doch überwiegend um die Koordinie-
rung der Präventionsarbeit im Inland.

Dieser Gruppenantrag ist ein klares Bekenntnis zur
Wahrung der Menschenrechte. Er soll auch Grundlage
für präventive Arbeit gegen die traumatisierende Praxis
der Genitalverstümmelung sein, hier wie in der Welt.


Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1622218700

Ich möchte mit dem Verbindenden beginnen. Die

grundsätzliche Position der Linken zur weiblichen Geni-
talverstümmelung ist eindeutig: Sie ist eine schwere Kör-
perverletzung, die sowohl in der Bundesrepublik als auch
als Auslandsstraftat verfolgt werden muss. Das ist un-
strittig. Sie ist weder mit Tradition, Kultur noch Glauben
zu rechtfertigen, sondern stellt eine schwere Menschen-
rechtsverletzung dar, unter deren physischen und psychi-
schen Folgen die betroffenen Frauen ein Leben lang lei-
den. Da eine Genitalverstümmelung fast immer im
Kindesalter vorgenommen wird, ist auch das Ziel aus-
drücklich unstrittig, den Beginn der Verjährungsfrist auf
das 18. Lebensjahr zu verschieben. Aber damit enden
auch schon die Übereinstimmungen zwischen den Posi-
tionen der Linken und dem vorliegenden Gesetzentwurf.

Auch wenn wir eine ausdrückliche Aufnahme der Ge-
nitalverstümmelung als Straftatbestand wollen: Aus
unserer Sicht wäre es für die angestrebte Schließung
rechtlicher Schutzlücken eindeutiger, die Genitalverstüm-
melung als gesonderten Tatbestand bei den Tatbeständen
gegen die sexuelle Selbstbestimmung Schutzbefohlener
anzusiedeln, wie das ja auch zum Beispiel von Kollegin
Laurischk ausgedacht worden war. Das wäre dem ange-
griffenen Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung von
Frauen und Mädchen in seinen unterschiedlichen For-
men auch angemessen. Es würde ehrlich beim Namen ge-
nannt, was mit Genitalverstümmelungen in Wirklichkeit
erreicht werden soll: Frauen dauerhaft der sexuellen
Selbstbestimmung und eines Teils ihrer Persönlichkeit zu
berauben.

Aber diese Diskussion zur rechtlichen Einordnung ist
nicht unser größtes Problem. Viel schwerer wiegen für
uns die aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen des vorlie-
Zu Protokoll
genden Gesetzentwurfs. Als Gesetzgeber haben wir
selbstverständlich auch die Pflicht, die Folgen unserer
Regelungen für Opfer und Tatbeteiligte im Blick zu behal-
ten. Im vorliegenden Fall bedeutet das, die Folgen einer
Verurteilung der Eltern wegen Beihilfe oder Anstiftung
zur Genitalverstümmelung zu bedenken. Die betroffenen
Familien werden nach einer solchen Verurteilung mit ho-
her Wahrscheinlichkeit abgeschoben, vermutlich sogar in
das Land der Tat – getrennt von ihren Töchtern oder mit
diesen gemeinsam. Beides ist kaum im Interesse des Kin-
deswohls. Deshalb fordern wir die Autorinnen und Auto-
ren des Antrags erneut auf, den Gesetzentwurf so zu än-
dern, dass in § 56 Aufenthaltsgesetz eine Abschiebung
infolge einer Verurteilung wegen Genitalverstümmelung
ausgeschlossen wird. Sonst ist der Gesetzentwurf für uns
nicht zustimmungsfähig.

Sie werden sich sicher erinnern, dass meine Fraktion
vor zwei Jahren einen Antrag zur Genitalverstümmelung
eingebracht hat, der einen besonderen Schwerpunkt auf
Prävention und Hilfe für die Betroffenen auf internatio-
naler, europäischer und nationaler Ebene gesetzt hat.
Leider wurde dieser Antrag damals von allen anderen
Fraktionen abgelehnt.

Es ist aus Sicht der Linken aber nach wie vor allzu kurz
gedacht, vor allem auf Abschreckung durch Strafe zu set-
zen. Aufklärung, Kooperation mit Organisationen, die
sich vor Ort gegen Genitalverstümmelung engagieren,
und die Schaffung einer zentralen Stelle zur Koordination
und Vernetzung der Initiativen gegen Genitalverstümme-
lung in der Bundesrepublik bleiben deshalb weiter wich-
tige Forderungen der Linken. Denn wo bestraft werden
muss, kommen wir für das Opfer ohnehin zu spät.

Es gehört zu einer ernsthaften Diskussion zu beden-
ken, dass die Maßnahmen gegen die Täterinnen die Zu-
gänge zu den Gemeinschaften nicht versperren dürfen.
Wir brauchen ihre Unterstützung für ein wirksames
gemeinsames Handlungskonzept. Im vorliegenden Ge-
setzentwurf fehlt dieser Ansatz der Verhinderung von Ge-
nitalverstümmelungen durch Hilfe, Aufklärung und Bera-
tung und der Hilfe für Betroffene vollständig.

Deshalb werden wir unsere Vorschläge in die kommen-
den Debatten im Ausschuss und die zweite und dritte Le-
sung im Plenum erneut einbringen, denn sie sind dringen-
der denn je.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Grünen haben im Rahmen des Zuwanderungsge-
setzes 1999 durchgesetzt, dass drohende Genitalverstüm-
melung als eigenständiger Asylgrund anerkannt werden
kann. 1997 haben wir die Diskussion in der Öffentlichkeit
mit einer großen Fachanhörung im Bundestag überhaupt
erst in Gang gesetzt und mit einem gemeinsamen Antrag
aller Fraktionen dafür gesorgt, dass das Thema im Par-
lament behandelt wurde. Vor über zwei Jahren haben wir
Grünen die Bundesregierung mit unserem Antrag „Mäd-
chen und Frauen vor Genitalverstümmelung schützen“
dazu aufgefordert, endlich wirkungsvolle Maßnahmen
zum Schutz vor Genitalverstümmlung in Deutschland zu
ergreifen. Dieser wurde von der Großen Koalition abge-



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Irmingard Schewe-Gerigk

lehnt. Doch wir haben nicht aufgegeben, parteiübergrei-
fend über dieses Thema zu diskutieren und gemeinsames
Handeln voranzubringen.

Genitalverstümmlung ist eine schwere Menschen-
rechtsverletzung. Sie hinterl
körperliche und seelische S
chen und jungen Frauen. Es
ein deutsches Problem. Dur
ben heute immer mehr Fra
Herkunftsländern beschnitt
tern, die auch hier glauben,
ihre Töchter unbedingt notw
nach Schätzungen der Mens
des Femmes mindestens 20
lung betroffene Frauen sow

Aufgrund der hohen Anzahl „Ferienbeschneidungen“
im Ausland – ich nenne das nur in Anführungszeichen,
denn die Bezeichnung beschönigt die Brutalität solcher
Vorgänge – muss darüber hinaus die Genitalverstümm-
lung in den Katalog der Auslandsstraftaten im StGB auf-

ann sichergestellt werden,
ng während eines vorüber-
sland trotzdem dem deut-

fgefordert, bei dem Thema
übergreifend zu arbeiten.
und Verhandlungsrunden
twurf vor, mit dem Genital-

ins Strafgesetzbuch aufge-
re ein klares Signal an Ärzte
die davon bedroht sind. Die erlittenen Verletzungen sind
niemals revidierbar. Weder Religion noch Tradition kön-
nen diesen Eingriff rechtfertigen.

Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf fordern wir eine
ausdrückliche Aufnahme der grausamen Praktik in den
Straftatbestand der schweren Körperverletzung. Auch die
Mehrzahl der Sachverständigen in der Ausschussanhö-
rung sah dies als notwendig an. Ich möchte hierfür ein-
dringlich werben. Eine ausdrückliche Aufnahme als ein-
fache Körperverletzung würde den schrecklichen Folgen
der Verletzung nicht gerecht werden. Als eine einfache
Körperverletzung ist Genitalverstümmelung ohnehin an-
zusehen. Es kann aber nicht angehen, dass der Verlust
eines wichtigen Körpergliedes oder der Fortpflanzungs-
fähigkeit eine schwere Körperverletzung darstellen, aber
eine teilweise oder vollständige Amputation eines weibli-
chen Geschlechtsorgans „nicht so schlimm“ sein soll.
Hier müssen wir konsequent sein. Mit der Gesetzesände-
rung wird Rechtsklarheit und Transparenz bei allen Be-
teiligten wie medizinischem und juristischem Fachperso-
nal, Lehrerinnen und Lehrern und Eltern hergestellt. Für
die Betroffenen wird eine rechtliche Schutzlücke in aktu-
ellen Gefährdungslagen endlich geschlossen.

Die meisten Betroffenen sind zum Zeitpunkt der Be-
schneidung minderjährig, und der Weg bis zu einer Straf-
anzeige wegen des innerfamiliären Konflikts ist schwierig
und langwierig. Daher wollen wir, dass die Verjährungs-
frist erst mit dem 18. Lebensjahr der Mädchen einsetzt.
Dies ist bereits bei der gesetzlichen Regelung des sexuel-
len Missbrauchs so vorgesehen.

Bericht
221. Sitzung, Seite 2419

fünfte Satz ist wie folgt zu
pflichtet – diesen Punkt hab
Frau mit ihrem Einverständn
chosoziale Beratung zu mach
und Ärztinnen, Eltern und Opfer: Eine solche Menschen-
rechtsverletzung wird von unserem Staat nicht geduldet.

Es ist endlich an der Zeit, bei dem Thema Genitalver-
stümmlung nicht länger auf die Zustände in anderen Län-
dern zu verweisen, sondern vor Ort tätig zu werden. Der
Staat hat die Pflicht, gefährdete Mädchen und Frauen vor
Genitalverstümmlung zu schützen. Im Übrigen fordert
uns auch das Europäische Parlament dazu auf. Der vor-
gelegte Gesetzentwurf ist ein wichtiger Beitrag hierzu
und soll ein klares Zeichen setzen. Es gibt noch viele Vor-
behalte. Ich stehe weiter bereit, die Zweifler in Gesprä-
chen zu überzeugen. Eine Ablehnung wäre ein denkbar
schlechtes Signal. Ich fordere Sie auf: Unterstützen Sie
den Gesetzentwurf!


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1622218800

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 16/12910 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Damit sind wir am Ende der heutigen Tagesordnung.
Genießen Sie die gewonnenen Einsichten und den restli-
chen Abend.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 27. Mai 2009, 13 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.