Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolle-ginnen und Kollegen!Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, gibt eswieder einige Mitteilungen und Veränderungen. Ichbeginne mit dem Hinweis, dass die Kollegin Ilse Falkam vergangenen Sonntag ihren 65. Geburtstag gefeierthat. Wir alle übermitteln ihr auf diesem Weg gute Wün-sche.
Nicht ganz so erfreulich ist, dass die SPD-Fraktionmitgeteilt hat, dass die Kollegin Gabriele Groneberg ihrAmt als Schriftführerin niedergelegt hat. Als Nachfolge-rin wird die Kollegin Marianne Schieder vorgeschla-gen. Auch die Fraktion Die Linke bittet um einen Wech-sel bei den Schriftführerinnen und Schriftführern. Fürdie Kollegin Sabine Zimmermann soll die KolleginKarin Binder das Amt der Schriftführerin übernehmen.Ich stelle fest, dass wir außer dem allgemeinen Bedauernüber das Ausscheiden der Kolleginnen mit den vorge-schlagenen Veränderungen einverstanden sind. – Das istoffenkundig der Fall. Dann sind die KolleginnenMarianne Schieder und Karin Binder zu Schriftführerin-Redenen gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, dass die ver-bundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktlisteaufgeführten Punkte erweitert werden soll:ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Pakistan stabilisieren – Völkerrecht beachten
ZP 2 Abgabe einer Regierungserklärung durch denBundesminister der Finanzenzur Lage der FinanzmärkteZP 3 Erste Beratung des von den AHartfrid Wolff , GDr. Max Stadler, weiteren Abgeordneten und dertzungn 25. September 2008.00 UhrFraktion der FDP eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Änderung des Gesetzes zurSteuerung und Begrenzung der Zuwanderungund zur Regelung des Aufenthalts und der In-tegration von Unionsbürgern und Ausländern
– Drucksache 16/9091 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Auswärtiger AusschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten HartfridWolff , Dr. Heinrich L. Kolb, DirkNiebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDPEU-Arbeitnehmerfreizügigkeit sofort und un-beschränkt in der Bundesrepublik Deutsch-land gewähren– Drucksache 16/10310 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UniontextZP 5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahren
a) Erste Beratung des von den AbgeordnetenDr. Hermann Otto Solms, Jens Ackermann,Dr. Karl Addicks, weiteren Abgeordneten undder Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zur Stärkung der Steuerautono-
– Drucksache 16/10309 –isungsvorschlag:usschuss
usschussss für Wirtschaft und Technologiebgeordnetenisela Piltz,ÜberweFinanzaRechtsaAusschuHaushaltsausschuss
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Präsident Dr. Norbert Lammertb) Beratung des Antrags der Abgeordneten JürgenTrittin, Kerstin Müller , WinfriedNachtwei, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKontraproduktive US-Operationen in Pakis-tan sofort einstellen – Umfassende Strategiezur Stabilisierung Pakistans entwickeln– Drucksache 16/10333 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
InnenausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 6 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-sprache
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-ausschusses
Übersicht 12über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-gericht– Drucksache 16/10321 –ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten RainerBrüderle, Martin Zeil, Birgit Homburger, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDPNovellierung des Vergaberechts für Bürokra-tieabbau nutzen – Bundesweit einheitlichesPräqualifizierungssystem für Leistungen ein-führen– Drucksache 16/9092 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
RechtsausschussAufgrund der Aufsetzung der Regierungserklärungzur Lage der Finanzmärkte verschieben sich die übrigenTagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen jeweilsnach hinten. Zusätzlich werden die Tagesordnungs-punkte 6 und 7 getauscht. Die Tagesordnungspunkte 14 bund 35 werden abgesetzt. Von der Frist für den Beginnder Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichenwerden.Ich mache außerdem auf die nachträgliche Aus-schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-merksam:Der in der 172. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-lich dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäreHilfe zur Mitberatung überwiesen wer-den.Erste Beratung des von den AbgeordnetenJoachim Stünker, Michael Kauch, Dr. LukreziaJochimsen und weiteren Abgeordneten einge-brachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zurÄnderung des Betreuungsrechts– Drucksache 16/8442 –überwiesen:Rechtsausschuss
FinanzausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeSind Sie mit diesen vorgeschlagenen Änderungen ein-verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann istdas so beschlossen.Ich rufe nun den Zusatzpunkt 2 auf:Abgabe einer Regierungserklärung durch denBundesminister der Finanzenzur Lage der FinanzmärkteHierzu liegt ein Entschließungsantrag der FraktionDie Linke vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-rung zwei Stunden vorgesehen. Sind Sie damit einver-standen? – Darüber besteht offenkundig Einvernehmen.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung er-hält nun der Bundesminister der Finanzen, PeerSteinbrück.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Immer mehr Unsicherheiten, jaÄngste machen sich bei den Menschen breit, nicht nur inunserem Land, sondern fast weltweit. Viele fragen sich:Stehen wir vor dem Kollaps des Finanzsystems? Folgtaus der Krise an den Finanzmärkten eine globale Wirt-schaftkrise nach einigen guten Jahren? Was heißt das fürmich persönlich? Deshalb will ich am Anfang meinerRegierungserklärung zwei wichtige Feststellungen tref-fen: Erstens. Bislang hat das internationale Krisenma-nagement funktioniert. Es ist nicht zu einem Kollaps desWeltfinanzsystems gekommen – und das, obwohl wir inden letzten Wochen an den Finanzmärkten eine weitereZuspitzung der schlimmsten Bankenkrise seit Jahrzehn-ten erleben. Zweitens. Die Bürgerinnen und Bürger müs-sen keine Angst um ihr Erspartes haben.Ich möchte feststellen: Was wir erleben, ist ein Erdbe-ben in der internationalen Finanzarchitektur mit un-vorstellbaren Wertberichtigungen bei einer ganzen Reihevon Banken. Schätzungen gehen davon aus, dass bisherWertberichtigungen oder Abschreibungen in der Dimen-sion von über 550 Milliarden US-Dollar erfolgt sind.Diesen steht eine Kapitalzufuhr von ungefähr 350 Mil-liarden US-Dollar gegenüber. Einzelne Banken sind da-rüber in den Abgrund oder an den Rand des Abgrundsgeraten. Bei einigen Banken wird schonungslos aufge-deckt, dass sie keine tragfähigen Geschäftsmodelle ha-ben.
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Bundesminister Peer SteinbrückIch habe in einer Regierungserklärung zur Lage aufden Finanzmärkten am 15. Februar 2008 etwas gesagt,was ich gerne wiederholen möchte:Es ist richtig, dass wir es in weiten Teilen der Weltund zulasten weiter Teile der Welt mit einer ernst-haften … Finanzmarktkrise zu tun haben … Siewird uns das ganze Jahr 2008 beschäftigen. Sie istkein deutsches Spezifikum. Sie birgt weitere, nochnicht behobene Risiken. Infektionsgefahren für dieweltweite Konjunktur und die weltweite Wachs-tumsentwicklung sind nicht zu übersehen.Leider sind diese von mir damals beschriebenen Risi-ken eingetreten. Diese ernste globale Finanzmarktkrisewird tiefe Spuren hinterlassen. Sie wird das Weltfinanz-system tiefgreifend umwälzen. Niemand sollte sich täu-schen: Die Welt wird nicht wieder so werden wie vordieser Krise. Wir müssen uns in nächster Zeit weltweitauf niedrigere Wachstumsraten und – zeitlich verscho-ben – auch auf eine ungünstige Entwicklung auf den Ar-beitsmärkten einstellen. Die Fernwirkungen dieser Krisesind derzeit nicht absehbar, aber eines scheint mirhöchstwahrscheinlich: Die USA werden ihren Status alsSupermacht des Weltfinanzsystems verlieren, nicht ab-rupt, nicht plötzlich, aber erodierend. Das Weltfinanz-system wird multipolarer. In der neuen Finanzmarktweltwerden Handelsbanken und Staatsfonds aus Asien, ins-besondere aus der Golfregion, ebenso ihren Anteil habenwie europäische Banken mit ihrem Universalbankenmo-dell – übrigens ein Modell, das sich derzeit gegenüberdem amerikanischen Trennbankenmodell als sehr über-legen erwiesen hat.
Seit dem Platzen der Immobilienblase – Sie erinnernsich an den Sommer letzten Jahres – sind vier Erschütte-rungswellen buchstäblich durch das Weltfinanzsystemgerollt. Im Juli/August 2007 kam es ausgehend von derUS-Subprime-Krise zu massiven Verlusten bei BearStearns und der britischen Bank Northern Rock. Gleich-zeitig mussten in Deutschland Rettungsaktionen für dieIKB und die Sachsen LB mit dem Ziel organisiert wer-den, einen weitergehenden Schaden auch für den Finanz-platz Deutschland zu vermeiden. Das ist uns gelungen.Ende 2007 meldeten US-Banken Milliardenabschrei-bungen. Zugleich ergaben sich ernste Liquiditätseng-pässe für Banken, worauf Staatsfonds als Kapitalgebereinspringen mussten. Wir stellen plötzlich fest, dass sichdie Debatte über die Aktivitäten von Staatsfonds inner-halb von zwölf Monaten ziemlich geändert hat.
Ohne die Bereitschaft dieser Staatsfonds, insbesondereSchweizer und amerikanische Banken zu rekapitalisie-ren, hätten wir es nicht mit einem Rand des Abgrunds zutun, sondern wir wären tief drin.Im März 2008 rettet die amerikanische Zentralbank,die Fed, Bear Stearns – nach den größten Marktpreisver-lusten, die es je in einem Monat gab –, und in diesem– ich nenne es so – schwarzen September 2008 gehtschließlich die viertgrößte amerikanische Investment-bank, die über 150 Jahre alte Bank Lehman Brothers, indie Insolvenz. Wenige Tage später wird der zweitgrößteVersicherer der Welt, die US-amerikanische AIG, mit85 Milliarden US-Dollar ebenso quasi verstaatlicht wiezuvor die beiden US-Hypothekenfinanziers Fannie Maeund Freddie Mac mit 200 Milliarden US-Dollar. Als dasalles nicht ausreicht, legt die US-Regierung mit dem un-glaublichen Volumen von 700 Milliarden US-Dollar dasgrößte Rettungsprogramm in der Geschichte der interna-tionalen Finanzmärkte auf. Wir alle schauen gespannt indie USA, um zu erfahren, wie die beiden Häuser desKongresses mit diesem Vorschlag der amerikanischenRegierung umgehen. Die steht unter einem erheblichenZeitdruck. Das letzte Mal in der laufenden Legislatur-periode werden beide Häuser morgen tagen.Insgesamt tritt die US-Regierung mit über 1 BillionUS-Dollar ein, um die Finanzmarktkrise zu bewältigen.Vieles habe ich noch gar nicht mitgezählt, nämlich wenndie amerikanische Regierung Hypotheken von Fannie-Mae- und Freddie-Mac-Kunden aufkaufen sollte. Ichwill darauf hinweisen, dass das ein ungeheures Ausmaßist, auch wenn Sie daran denken, dass es vor ungefährzwölf Monaten noch 24 Institute in den USA gab, die in-zwischen entweder pleitegegangen sind, aufgekauft wor-den sind, verheiratet worden sind oder schlicht und ein-fach verschwunden sind – 24 Finanzdienstleister. Bis voreinem halben Jahr gab es an der Wall Street fünf, viel-leicht sechs große Investmentbanken; heute gibt es dakeine mehr.Der Blick darauf, was die Amerikaner an Steuergeldbereitstellen, darf gelegentlich auch einen Vergleich mitdem erlauben, was wir in Deutschland gemacht haben.Wenn wir die 1 Billion Dollar, die der Steuerzahler inden USA aufbringen muss, in Bezug setzen zu den1,2 Milliarden Euro Steuergeldern aus dem Bundesetatfür die IKB, dann gerät vielleicht manche Debatte, diewir in den letzten Monaten geführt haben, in eine grö-ßere Balance.
Ich darf auch daran erinnern, dass es die britische Regie-rung im Fall von Northern Rock wahrscheinlich mit Be-lastungen in der Größenordnung von 80 bis 100 Milliar-den Pfund zu tun haben wird.Trotz aller Vorhersagen, dass die Krise nicht raschvorüber sein werde, war ein solcher Reigen von Not-übernahmen und Quasiverstaatlichungen – und das inden USA, dem Hort der Marktwirtschaft und einer laut-stark vorgetragenen neoliberalen Grundüberzeugung –oder Insolvenzen nicht zu erwarten. Die USA – darauflege ich gesteigerten Wert – sind der Ursprung der Krise,und sie sind der Schwerpunkt der Krise. Es ist nichtEuropa, und es ist nicht die Bundesrepublik Deutsch-land.
Dort wurden Hypothekenkredite an nicht kreditwür-dige Kreditnehmer ohne jegliche Sicherheiten vergeben.Dort wurden die immensen Kreditrisiken anschließenddurch Verbriefungsgeschäfte unkenntlich gemacht. Dort
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Bundesminister Peer Steinbrücknahm das Rennen nach Rendite seinen Anfang. Von dortaus hat sich die Finanzmarktkrise wie ein giftiger Öltep-pich weltweit ausgebreitet, zunehmend auch in RichtungEuropa, wenngleich das Volumen der bislang bekanntenVerluste in Europa in keiner Weise mit den Zahlen ver-gleichbar ist, die ich, bezogen auf die USA, nur andeu-tungsweise schon genannt habe.Dennoch: Auch namhafte europäische Bankenmussten milliardenschwere Wertberichtigungen vorneh-men, nicht nur in Deutschland, zum Beispiel CréditAgricole in Frankreich, Société Générale in Frankreichund – sehr stark getroffen – UBS in der Schweiz mit Ver-lusten von sage und schreibe 44 Milliarden US-Dollar.Damit hat die UBS europaweit mit Abstand die größtenVerluste.Die Krise hat inzwischen Finanzdienstleister in ganzEuropa erfasst. Das zeigen weitere Beispiele, die ichjetzt gar nicht benennen will.Was heißt das alles für Deutschland? Der deutscheBankensektor wird von den krisenhaften Entwicklun-gen nicht verschont. Viele Institute sind betroffen, nichtnur die IKB, sondern auch eine Reihe von Landesban-ken. Aber es wäre ein Fehler, anzunehmen, dass aus-schließlich oder vornehmlich öffentlich-rechtliche Ban-ken von dieser Entwicklung betroffen sind. Es sind alledrei Säulen betroffen, allerdings mit einem großen Un-terschied, nämlich dass es eine ganze Reihe privater Ge-schäftsbanken und auch anderer Banken, gerade unterden Genossenschaftsbanken, gibt, die mit Blick auf ihreErtragskraft und ihre Eigenkapitalbasis die Entwicklungsehr viel besser verkraften können als die von mir zuvorgenannten Institute.
Zum Glück halten sich die Engagements deutscherBanken bei Lehman Brothers in einem überschaubarenRahmen und sind nach Aussage der BaFin und auchnach Aussage der Bundesbank verkraftbar. Ich füge al-lerdings hinzu: Wenn der zweitgrößte Versicherer in denUSA, den ich schon genannt habe, die AIG, von deramerikanischen Regierung und der amerikanischen Zen-tralbank nicht stabilisiert worden wäre, dann hätten wirsehr viel düstere Zeiten, weil sich auch viele deutscheund europäische Institute dort versichert haben.Insgesamt zeigt sich, dass das deutsche Dreisäulen-system im internationalen Vergleich relativ robust ist.Die deutsche Aufsichtsbehörde, die BaFin, ist sich si-cher, dass die in den letzten Jahren gesteigerte Risiko-tragfähigkeit der deutschen Institute ausreicht, Verlusteauszugleichen und die Sicherheit der privaten Erspar-nisse zu gewährleisten. Deshalb sollten wir in diesemBereich nicht durch eine falsche Wortwahl eine Panikauslösen.
Mit Blick auf die Realwirtschaft sind wir in Deutsch-land in der vorteilhaften Lage, dass sich unsere Unter-nehmen, insbesondere der auf Kreditfinanzierungen an-gewiesene Mittelstand, trotz Abschwungs und sichverschärfender Kreditkonditionen bisher nicht einer Kre-ditklemme gegenübersehen. Das denke ich mir nicht aus.Wenn Sie den Eindruck haben, das sei die Passage, diemeine Abteilung für Agitation und Propaganda aufge-schrieben hat, sage ich Ihnen: Dies ist die Einschätzungdes Bundesbankpräsidenten, und dies ist auch die Ein-schätzung des BDI-Präsidenten. Zumindest die beidenKoalitionsfraktionen konnten dies vor wenigen Tagen imOriginalton vom Bundesbankpräsidenten, Herrn Weber,hören.
Dass es in Deutschland nicht zu einer Kreditklemmegekommen ist, haben wir – das will ich unterstreichen –wesentlich dem Sparkassensektor zu verdanken.
Dieser Sparkassensektor hat im ersten Halbjahr 2008mehr Kredite vornehmlich an den Mittelstand gegebenals im ersten Halbjahr 2007.In dieser größten Krise seit Jahrzehnten zeigt sich,dass das zu unserem Wirtschaftsmodell der sozialenMarktwirtschaft passende Universalbankensystem mitseinen drei Säulen der privaten Geschäftsbanken, derkommunalen Sparkassen und der regionalen Genossen-schaftsinstitute wesentlich robuster ist, als es das anglo-amerikanische Trennbankensystem mit seiner überzoge-nen Renditefixierung war und ist.
Die vergleichsweise breite geschäftspolitische Aufstel-lung bewährt sich in der Krise. Vor allem bewährt essich, dass wir in Deutschland nicht nur auf die kurzfris-tige Rendite geschaut haben. Wir haben uns der aus-schließlichen Fixierung auf kurzfristige Renditen undauf immer weiter gesteigerte Quartalsgewinne in weitenTeilen unseres Bankensystems entzogen.Gerade dies ist einer der Gründe, meine Damen undHerren, warum wir auch gegenüber der Brüsseler Kom-mission dieses Dreisäulensystem für den Fall verteidigensollten, dass es dort andere ordnungspolitische Vorstel-lungen gibt.
Gelegentlich habe ich die Befürchtung, dass eines Tagesim Fokus dieser Brüsseler Kommission und der dortigenordnungspolitischen Vorstellungen nicht nur das öffent-lich-rechtliche Bankensystem, sondern auch der öffent-lich-rechtliche Rundfunk und die Sozial- und Wohl-fahrtsverbände stehen könnten.
Wenn nach den Ursachen der Krise gefragt wird, dannlautet die Standardantwort, die US-Hypothekenmarkt-
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Bundesminister Peer Steinbrückkrise, wie ich sie weiterhin nennen möchte, sei der klareUrsprung der gesamten Entwicklung. Einige weisenauch darauf hin, dass es nach den fürchterlichen An-schlägen vom 11. September 2001 eine Überversorgungmit Liquidität aufgrund der Zentralbankpolitik in denUSA gegeben habe. Vordergründig ist dies alles richtig.Ich will aber darauf hinaus, dass die eigentlichen Ursa-chen tiefer liegen: in einer aus meiner Sicht unverant-wortlichen Überhöhung des Laisser-faire-Prinzips ge-rade im angloamerikanischen Bereich.
Mit dem Laisser-faire-Prinzip meine ich im Hin-blick auf das Finanzmarktsystem ein von staatlichen Re-gulierungen möglichst vollständig befreites Spiel derMarktkräfte. Die Argumentation der Laisser-faire-Ver-treter war genauso falsch wie gefährlich: Lasst denMarkt mal machen; er ist am effizientesten, wenn sichder Staat heraushält und auf Regulierungen vollständigverzichtet. – Der kurzfristige – vielleicht sollte ich bes-ser sagen: kurzsichtige – Erfolg in Form zweistelligerRenditen und milliardenschwerer Boni für Investment-banker und -manager schien ihnen recht zu geben. Da-rauf wollte man weder in New York noch in London ver-zichten.Kritische Hinterfragungen dieses Systems sowie Lö-sungsvorschläge, wie sie die Bundesregierung maßgeb-lich unter ihrer G-7-Präsidentschaft angestellt hat, wur-den während dieser Präsidentschaft, aber auch währendunserer EU-Präsidentschaft gelegentlich müde belächelt,wenn wir Glück hatten, ansonsten aber als typisch deut-sche Regulierungswut abgetan.Von angloamerikanischer Seite wurde das dortigeSystem mit einer Art Absolutheitsanspruch vertreten.Noch vor kurzer Zeit wurde ziemlich vehement auf diemöglichst globale Übernahme dieses Modells gedrängt.Verhängnisvolle Folge war, dass die USA bei der Imple-mentierung der stabilisierenden Basel-II-Bankenregelnsehr zögerlich vorgegangen sind, obwohl sie eigentlichdas Copyright darauf hatten.
Die USA haben dies bis heute noch nicht umgesetzt,während die europäischen Banken es zum 1. Januar die-ses Jahres taten.Eine weitere Folge war, dass die USA wegen ihrerlangen Weigerung erst zehn Jahre nach Einführung derFinancial-Stability-Assessment-Programme beim IWFeine Untersuchung ihres Finanzsystems haben wollten.Des Weiteren war die Folge, dass die USA anders alszum Beispiel Deutschland bislang die Investmentbankennicht ausreichend reguliert und beaufsichtigt haben. Diesändert sich jetzt gerade.
Schließlich war die Folge, dass, anders als in den meis-ten europäischen Ländern, in den USA keine Allfinanz-aufsicht, sondern eine sehr stark zersplitterte Finanzauf-sicht besteht, die jetzt von meinem amerikanischenKollegen seit wenigen Monaten Gegenstand von sehrambitionierten Reformanstrengungen ist.Dieses in weiten Teilen unzureichend regulierte Sys-tem bricht gerade zusammen – nicht nur mit weitrei-chenden Folgen für den US-Finanzmarkt, sondern auchmit erheblichen Ansteckungseffekten für die übrigeWelt. Einmal mehr scheint es in der Geschichte so zusein, meine Damen und Herren, dass sich ein System,das maßlose Übertreibungen ermöglicht und geduldethat, letztlich seine eigene Antithese schafft.
Wie bei einem Patienten, der unter akuten Kreislauf-problemen leidet, kommt es auch bei einer Finanzmarkt-krise im Rahmen des akuten Krisenmanagements zual-lererst darauf an, einen Kollaps zu verhindern. Dazumüssen lebenserhaltende Prozesse und Funktionen stabi-lisiert werden, die in Stresssituationen nur noch einge-schränkt oder gar nicht mehr ablaufen. Angesichts der inden letzten Tagen zugespitzten Situation in den USA hatdie US-Regierung eine Reihe von Stabilisierungsmaß-nahmen beschlossen, die ich ausdrücklich begrüße –jenseits meines kritischen Blicks zurück, was in der Ver-gangenheit versäumt worden ist. Diese waren richtig, dasie das Ziel verfolgten, den Kollaps des US-Finanzmark-tes und damit Schlimmeres auch für andere Länder undRegionen zu verhindern.An oberster Stelle steht das bereits von mir erwähnte700 Milliarden Dollar schwere staatliche Rettungspro-gramm. Es dient zum Aufkauf illiquider hypothekenbe-zogener Aktiva der Finanzinstitute. Wenn Sie so wollen,ist das eine riesige nationale „Bad Bank“, die dort in denUSA eingerichtet worden ist. Jetzt muss allerdings deramerikanische Steuerzahler dafür zahlen, dass das Fi-nanzmarktsystem trotz immer undurchsichtigerer Inno-vationen nicht ausreichend reguliert wurde. Ich bin sehrfroh, dass der deutsche Steuerzahler bisher deutlichniedriger belastet worden ist und auch belastet wird. DieKosten, die bisher bei der Stabilisierung der in Schwie-rigkeiten geratenen Banken entstanden sind, sind weit-aus niedriger als die Kosten, die für unsere Wirtschaftentstanden wären,
wenn wir diese Stabilisierung nicht vorgenommen hät-ten.
Wie groß die Probleme in den USA aktuell sind, zeigtein Vergleich mit dem Programm zur Beilegung der sei-nerzeitigen sogenannten Savings-and-Loans-Krise.Diese war Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre. Dasdamalige Rettungsprogramm der amerikanischen Regie-rung hatte einen Umfang von 3 Prozent des amerikani-schen Bruttoinlandsproduktes. Das, was die jetzt ma-chen, verursachte bereits Kosten in Höhe von 5 Prozentdes amerikanischen Bruttoinlandsproduktes.
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Bundesminister Peer SteinbrückIch habe darauf hingewiesen: Die Wall Street wird niewieder so sein, wie sie war. Bis vor wenigen Tagen gabes noch diese zwei Mohikaner unter den Banken: die In-vestmentbanken Goldman Sachs und Morgan Stanley.Beide haben sich gerade zu Instituten gewandelt, die wirals Universalbank bezeichnen würden.Meine Damen und Herren, die Entwicklungen bei denUS-Investmentbanken Bear Stearns, Lehman Brothers,bei den beiden großen Hypothekenfinanzierern FannieMae und Freddie Mac und zuletzt bei dem Versiche-rungsunternehmen AIG spiegeln ein schwieriges Abwä-gungsproblem wider, das auch wir in Deutschland ken-nen. Vor allem die staatlichen Autoritäten stehen vor derschwierigen Abwägung zwischen dem Erhalt der Funk-tionsfähigkeit des Finanzmarktes auf der einen Seite undder Vermeidung einer Ausnutzung staatlicher Unterstüt-zung durch Marktteilnehmer auf der anderen Seite.
Für Anhänger der sozialen Marktwirtschaft ist esselbstverständlich, dass der Marktmechanismus in beideRichtungen greifen muss: den Tüchtigen und denjeni-gen, die schnell Innovationen umsetzen, ihre Pionierge-winne zu überlassen und eine gute Entwicklung zu er-möglichen, aber diejenigen, die sich verzockt haben,auch zu bestrafen. Die Abwägung beginnt dann, wenndiejenigen, die man gerne durch den Marktmechanismusbestraft sehen möchte, eventuell so laut umfallen, dassandere in Mitleidenschaft gezogen werden. StaatlicheAutoritäten müssen immer abwägen, und zwar unter Un-gewissheit und bei unvollständiger Informationsbasis.Es ist etwas anderes, ob man ein halbes Jahr späterschlau vom Rathaus herunterkommt oder ob man teil-weise innerhalb von 24 oder 36 Stunden, wie ich es er-lebt habe, zwischen der Gefahr systemischer Krisen fürden gesamten Finanzmarkt und der Gefahr, von Markt-teilnehmern ausgenutzt zu werden, abwägen muss – vonsolchen Marktteilnehmern, die darauf spekulieren, dassder Staat mit Steuergeldern oder die Notenbanken mitfrischem Geld schon bereitstehen und intervenieren– will sagen: das Schlimmste verhindern – und somit dasriskante Geschäftsgebaren dieser Marktteilnehmer quasiim Nachhinein noch belohnen.
Ich kritisiere die staatlichen Stellen in den USA fürihr spätes Vorgehen, aber ich begrüße ihr differenziertesVorgehen. Staatliche Autoritäten in den USA habennicht jedes Institut gerettet, aber sie haben dann einge-griffen, wenn es nicht nur im US-Interesse notwendigwar, sondern auch um die Wahrnehmung von Verant-wortung für das weltweite Finanzsystem ging.Dabei entbehren die Diskussionen um Rettungsaktio-nen diesseits und jenseits des Atlantiks nicht einer ge-wissen Pikanterie; ich könnte auch sagen: Scheinheilig-keit.
Da werden im Fall der USA die milliarden- und billio-nenschweren Rettungsaktivitäten der Regierung als Be-leg für Tatkraft, tüchtiges Regierungsmanagement undHandlungsfähigkeit der Regierung gelobt. In Deutsch-land werden dagegen die eingesetzten Steuergelder unddie Aktivitäten von Landesregierungen und der Bundes-regierung als Versagen des Staates beklagt.
Das ist eine gewisse Beliebigkeit.
Da wird mein amerikanischer Kollege „Hank“ Paulsonals „King Henry“ – ich gönne ihm das von Herzen – aufdem Titelblatt des Magazins Newsweek dargestellt. Da-mit möchte ich nicht suggerieren, mir müsse Gleicheswiderfahren.
– Ich würde es auch nicht ablehnen.
Herr Minister, vielleicht kann ich Ihnen zwischenzeit-
lich mit einer Sonderausgabe der Zeitschrift Das Parla-
ment weiterhelfen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dann müssten wir darüber diskutieren, Herr Präsi-dent, wie viel von der Auflage ich aufkaufen dürfte.
Verstehen Sie mich jenseits dieses ironischen Ausflu-ges nicht falsch: Wir brauchen in der Tat keine Titelbil-der. Was ich aber einfordere oder – das ist etwas beschei-dener – erbitte, sind etwas mehr Ausgewogenheit undetwas weniger Beliebigkeit in der politischen Diskus-sion.
Das, was die Amerikaner im Großen machen, habenwir, bezogen auf die Banken, die in Deutschland in Ver-legenheit gekommen sind, im Kleinen gemacht: die Lan-desregierungen in ihren Verantwortungen, was die Lan-desbanken betrifft, der Bund mit Blick auf seineindirekte, aber bestehende Verantwortung über die KfWbei der IKB. Deshalb und weil die Verhältnisse bei unsanders sind, ist ein Programm, das dem ähnlich ist, dasdie Amerikaner aufgelegt haben, in Deutschland oder inEuropa nicht sinnvoll und auch nicht notwendig. Das istder Grund dafür gewesen, warum wir im Namen derBundesregierung über dieses Wochenende – bis hin zueiner großen Telefonkonferenz der G-7-Finanzministerund Notenbankgouverneure – für Deutschland die Über-nahme eines solchen Programms und die Beteiligung ab-gelehnt haben.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 18973
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Bundesminister Peer SteinbrückDas bedeutet nicht, dass die deutsche Politik untätigist. Im Gegenteil: Das Bundesfinanzministerium, dieAufsichtsbehörde BaFin und die Deutsche Bundesbankstehen in einem sehr engen Kontakt mit ihren jeweiligeninternationalen Partnerbehörden und den Spitzen derdeutschen Kreditwirtschaft. Das Krisenmanagement inDeutschland hat bisher funktioniert. Ich wiederhole das,was ich in einer meiner beiden Haushaltsreden gesagthabe: Ich bedanke mich namentlich bei der DeutschenBundesbank und der BaFin – an ihrer jeweiligen Spitzebei Herrn Weber und Herrn Sanio – für das bisher ent-wickelte Krisenmanagement.
Für den heutigen Nachmittag habe ich die wichtigstenVertreter der deutschen Finanzwirtschaft zu einem Mei-nungsaustausch eingeladen. Ich möchte nicht, dass dieszu einem Krisengipfel hochstilisiert – mein Sohn würde„hochsterilisiert“ sagen – wird. Vielmehr ist es ein ganznormales Gespräch, in dem es darum geht, wie die Lageist und welche Schlussfolgerungen wir zu ziehen haben.Ich möchte mich in diesem Gespräch mit den Vertreternvon Banken und Versicherungen insbesondere auf mei-nen wichtigen Termin am 10. und 11. Oktober in Wa-shington vorbereiten; dann werden nämlich im Rahmendes G-7-Finanzministertreffens und des IMFs all dieseThemen auf der Tagesordnung stehen.Zum wirksamen aktuellen Krisenmanagement ge-hört auch, dass die BaFin ein Veräußerungs- und Zah-lungsverbot zur Sicherung der Vermögenswerte gegen-über der Lehman Brothers Bankhaus AG hier inDeutschland erlassen hat. Das ist konkretes Krisenma-nagement. Außerdem hat die BaFin in Abstimmung mitanderen Aufsichtsbehörden einen sehr wichtigen Schrittvollzogen: Sie hat am vergangenen Freitag ein sofortigesVerbot von Leerverkäufen von Aktien führender Unter-nehmen der Finanzbranche erlassen.
In meinem Schlussteil, in dem es darum geht, wie daszukünftige Krisenmanagement aussieht, werde ichmeine Position dahin gehend erläutern, ob wir nicht ge-nerell ein solches Verbot von Leerverkäufen verabredensollten.
Eines scheint mir völlig klar zu sein: Um das in denund gegenüber den Finanzmärkten und ihren Akteurenmassiv verloren gegangene Vertrauen wieder zurückzu-gewinnen, wird es bei weitem nicht ausreichen, nur einKrisenmanagement zu entwickeln.
Krise bewältigen und dann wieder zur Tagesordnungübergehen – das wird nicht reichen.Es geht um zwei Seiten einer Medaille: Zum einenmüssen wir jetzt Krisenmanagement betreiben. Zum an-deren geht es darum, wie wir eine Wiederkehr einer ähn-lich oder sogar gleichgearteten Krise vermeiden – ohnegenau zu wissen, wie diese aussieht.Es geht um nicht mehr und nicht weniger, als die Fi-nanzmärkte sozusagen neu zu zivilisieren und auf die-sem Wege vergleichbare Krisen in Zukunft möglichst zuverhindern oder zumindest in ihrer Schärfe zu be-grenzen. Wie können wir das erreichen? Sicherlich nichtallein durch moralische Appelle gegen exzessive Über-treibungen und eine spekulative Zügellosigkeit. Einewirksame mittel- bis langfristige Antwort auf die Krisekann deshalb nicht allein in erneuten Selbstverpflich-tungserklärungen oder Selbstregulierungen der Finanz-marktindustrie liegen. Das reicht nicht.
Die mir wichtige Antwort ist eine stärkere Regulierungauf internationaler Ebene, weil sie sich weitgehend dernationalstaatlichen Reichweite entzieht.
Dabei müssen wir – das ist eine weitere häufig in Ver-gessenheit geratene Nachricht – keineswegs bei Null an-fangen, sondern wir können auf bereits erreichten Fort-schritten aufbauen. Dies ist nicht zuletzt – das sei miteinem gewissen Stolz, aber auch im Brustton der Über-zeugung gesagt – das Verdienst dieser Bundesregierung.
Ich will dabei nicht unerwähnt lassen, dass Bundeskanz-ler Schröder damals bei dem Weltwirtschaftsgipfel inGleneagles dieses Thema mit auf die Tagesordnung ge-setzt hat.
Aber wir waren es, unter unserer G-7- und EU-Präsi-dentschaft, die im ersten Halbjahr 2007 das Thema einerstärkeren Regulierung der Finanzmärkte auf die interna-tionale Agenda gesetzt haben, immerhin mit dem Erfolg,dass in einem mühsamen Lernprozess internationaleGremien jetzt – natürlich in dem Entsetzen über die Fi-nanzmarktkrise – weitreichenden Maßnahmen zur Kri-senprävention zugestimmt haben und sehr zielstrebigauch die Umsetzung dieser Maßnahmen betreiben, umKrisen dieser Art zukünftig zu vermeiden.Weil das so ist, macht es überhaupt keinen Sinn, wennExperten oder diejenigen, die sich dafür halten, nun täg-lich eine Kakofonie an zusätzlichen Vorschlägen darüberanstimmen. Es kommt auf die Umsetzung der Maßnah-men an, die wir beschlossen haben. Das ist die Heraus-forderung.
Ich höre jetzt, ich müsste mit Blick auf die Bewältigungder derzeitigen Krise so schnell wie möglich die Eigen-kapitalregeln verschärfen. Das kann jedoch absolut kon-traproduktiv sein, weil ich damit noch weitere Institutein den Orkus werfen würde.
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Bundesminister Peer SteinbrückSauber wird die Treppe natürlich nur dann, wenn wirsie mit dem regulatorischen Besen von oben nach untenkehren. Das heißt, zuallererst sind regulierende Maßnah-men notwendig, die weltweit gelten. Auf der nächstenEbene brauchen wir ein gemeinsames Spielfeld in Eu-ropa. Dann erst steht an, dass wir das auf nationalstaatli-cher Ebene, kompatibel mit dem, was auf internationalerEbene verabredet worden ist, auch in Rechtsetzungs-schritten vollziehen müssen.Bereits kurz nach Beginn der Finanzmarktturbulen-zen hat Deutschland im September 2007 das Forum fürFinanzmarktstabilität – das ist das Financial StabilityForum – gebeten, nicht nur eine Analyse vorzunehmen,sondern Empfehlungen an uns zu adressieren, wie ähnli-che Krisen in Zukunft verhindert werden können. Mirwar wichtig, dass es zu einer Stärkung der Eigenkapi-talanforderungen, einer Verbesserung des Liquiditäts-und Risikomanagements, einer Erhöhung der Transpa-renz sowie zu Reformen bei den Ratingagenturenkommt, die bei der Entstehung dieser Krise nun wahrlicheine wenig rühmliche Rolle gespielt haben.
In meinem Schreiben an meinen japanischen Amts-kollegen, der den Vorsitz der G-7-Finanzminister An-fang dieses Jahres von uns übernahm, habe ich diese Be-reiche, in denen wir Verbesserungen brauchen, weiterausgeführt. Vor allem habe ich mehr generelle Eigenka-pitalpuffer als Stoßdämpfer für das Finanzmarktsystemvorgeschlagen. In der Tat war ich angenehm überrascht,dass im April 2008 unter dem Vorsitz des italienischenNotenbankpräsidenten Mario Draghi das Financial Sta-bility Forum bemerkenswerte Empfehlungen nicht nurvorgelegt hat, sondern sie anschließend auch beschlos-sen worden sind, unter Einbeziehung der angloamerika-nischen Freunde.Inzwischen hat die Umsetzung der Empfehlungengute Fortschritte gemacht. Die Bundeskanzlerin hat dieswährend des Weltwirtschaftsgipfels in Heiligendammweiter mit vorangebracht. Das ist eine Abfolge von Ter-minen gewesen. Die vom Financial Stability Forum aus-gearbeiteten 100-Tage-Prioritäten sind weitgehend um-gesetzt. Sie umfassen wichtige Maßnahmen wie zumBeispiel die Offenlegung der Risiken durch die Banken,die Vorlage einer überarbeiteten Leitlinie für das Liqui-ditätsmanagement durch den Baseler Bankenausschusssowie die Überarbeitung des Verhaltenskodex für Ra-tingagenturen durch eine Einrichtung, die IOSCO heißt.Aber die Umsetzung dieses Verhaltenskodex wird vonExternen zu überprüfen sein, nicht von ihr selber.
Auch mit der Umsetzung der übrigen Empfehlungengeht es planmäßig voran. So hat beispielsweise der Ba-seler Bankenausschuss ein Konsultationspapier zur Be-rechnung des spezifischen Risikos im Handelsbuch derBanken vorgelegt. Der Ausschuss hat zudem angekün-digt, noch in diesem Jahr eine Leitlinie für eine Stärkungder Eigenkapitalanforderungen für bestimmte struktu-rierte Finanzprodukte und Liquiditätslinien an Zweckge-sellschaften vorzulegen. Eine überarbeitete europäischeBankenrichtlinie wird eines Tages von Ihnen beratenwerden müssen bei der Übertragung in nationalstaatli-ches Recht.Verständlicher ausgedrückt: Was wir bisher erlebt ha-ben, ist, dass es viele Banken gibt, die sehr komplizierteProdukte außerhalb der Bilanzen geführt haben. DieHauptanstrengung geht dahin – ganz banal ausgedrückt –,ihnen dies nicht mehr zu erlauben, sondern diesesEngagement in die Bilanzen zurückzuholen
mit der Anforderung, dass dann Eigenkapitalunterle-gungen notwendig sind. Das ist die disziplinierendeKlammer für Bankmanager, mit dem Geld vorsichtigerumzugehen.
Bei dem schon erwähnten nächsten Treffen in Wa-shington Mitte Oktober werden wir einen umfangreichenBericht über den Stand der Umsetzung der Empfehlungdes Financial Stability Forums erhalten, und gleichzeitigwerden wir beraten, welche weiteren Maßnahmen ergrif-fen werden müssen, unter anderem durch eine verbes-serte Zusammenarbeit des Internationalen Währungs-fonds und des Financial Stability Forums im Sinne einerArt Frühwarnsystem, wie wir es jüngst vorgeschlagenhaben. Größe und Tiefe der Krise verlangen, nicht beidem stehen zu bleiben, was wir bereits im Frühjahr rich-tig erkannt und beschlossen haben.Auch in der Europäischen Union setzt sich Deutsch-land schon seit einigen Monaten energisch und erfolg-reich für eine Stärkung der Finanzstabilität ein. NachAusbruch der Krise im Bankensektor vor einem Jahr hatder ECOFIN-Rat am 9. Oktober 2007 ein Arbeitspro-gramm zur Stärkung der Effizienz und zur Stabilität be-schlossen. Diese sogenannte ECOFIN-Roadmap ent-hält zahlreiche Maßnahmen, um Schwachstellen derinternationalen Finanzmärkte zu beseitigen. Bei diesenMaßnahmen geht es darum, die Aufsicht über die Finanz-märkte und das grenzüberschreitende Krisenmanagementzu stärken, die Transparenz an den Finanzmärkten zu er-höhen, Aufsichtsregeln zu Kapitalanforderungen und dasRisikomanagement zu stärken. Ich werde gerne über denFinanzausschuss und den Haushaltsausschuss eine Vor-lage liefern, damit alle Parlamentarier in der Lage sind,diesen Maßnahmenkatalog im Einzelnen nachzuvollzie-hen.Auch bei der Umsetzung dieser Roadmap gibt esFortschritte. Einige grenzüberschreitende Gruppen derAufsichtsbehörden sind bereits eingerichtet. Ein Memo-randum of Understanding zwischen den europäischenAufsichtsbehörden, Zentralbanken und Finanzministe-rien ist bereits unter der slowenischen Präsidentschaftbeschlossen worden.In Deutschland – um jetzt auf die nationale Ebene zukommen – hat das dreisäulige Universalbankensystemwichtige Stabilisierungsfunktionen übernommen; ich
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Bundesminister Peer Steinbrücksagte es bereits. Je fragiler die Situation auf den interna-tionalen Finanzmärkten wird, desto mehr sollten wirdankbar sein, dass wir im dreigliedrigen deutschenBankensystem Sparkassen haben, die eben nicht, wie esMark Twain einmal formuliert hat, bei schönem WetterRegenschirme ausgeben, die sie bei den ersten Regen-tropfen wieder zurückhaben wollen.
Auch und gerade vor dem Hintergrund dieser wichti-gen realwirtschaftlichen Funktion der Sparkassen undauch der Genossenschaftsbanken, die ich in diesem Zu-sammenhang nicht vergessen will, als Stabilitätsankerund angesichts der extremen Nervosität auf den Märktenkann ich der EU-Kommission nur dringend raten, daslaufende Beihilfeverfahren mit einer solchen Verantwor-tung zu führen, die die derzeitigen Schwierigkeiten aufden Finanzmärkten insgesamt berücksichtigt.
Das heißt nicht, dass bei den Landesbanken allesbeim Alten bleiben soll. Ich will das deutlich sagen. Weres bis heute noch nicht wahrhaben wollte, dem hat spä-testens die Finanzmarktkrise mit aller Wucht gezeigt,dass das traditionelle Geschäftsmodell der Landesban-ken nicht mehr den Anforderungen der heutigen Zeitentspricht.Deshalb muss es jetzt darum gehen, für einen konsoli-dierten Landesbankensektor neue Geschäftsmodelle zudefinieren, mit denen die Landesbanken übermäßig hoheRisiken von hoch volatilen Kapitalmarktgeschäften ver-meiden – ich habe nie verstanden, warum das ihr eigent-liches Geschäft sein sollte –, nachhaltig angemesseneErträge erwirtschaften und die Sparkassen in ihrem Leis-tungsspektrum für die Kunden wirksam unterstützenkönnen.
Dazu bedarf es nicht sieben selbstständiger Landesban-ken in Deutschland.Schon seit langem sind hier die Bundesländer gefor-dert. Sie müssen regionale politische Egoismen überwin-den und sich endlich überregionalen Zusammenschlüssenöffnen, um den Verbund der Sparkassen-Finanzgruppeund damit das deutsche Bankensystem insgesamt nach-haltig zu stärken.
Ich will an dieser Stelle deutlich sagen: Ich warne alleBeteiligten vor Planspielen mit falschen Annahmen.Vom Bund ist bei der Bereinigung der Probleme im Lan-desbankenbereich keine finanzielle Unterstützung zu er-warten.
Die Hausaufgaben müssen diejenigen machen, die An-teilseigner oder – als Großväter – immer noch die Ge-währträger dieser Institute sind.Um mehr Rationalität in den Finanzmarkt zu bringenund um den Risiken entgegenzuwirken, die mit Finanz-investitionen für Unternehmen und die Gesamtwirtschafteinhergehen, meine Damen und Herren, hat die Bundes-regierung vor einigen Monaten das sogenannte Risiko-begrenzungsgesetz eingeführt. Ich erinnere daran: Diesist eine Reaktion auf das gewesen, was wir seit dem letz-ten Sommer erleben. Ich will das nicht im Einzelnen aus-führen, weil mir die Zeit davonläuft, aber ich wäre sehrdankbar, wenn mit Ihrer Unterstützung die wesentlicheninhaltlichen Bestandteile dieses Risikobegrenzungsgeset-zes noch einmal, und zwar im Sinne des Konsumenten-schutzes und übrigens auch des Arbeitnehmerschutzessowie einer erhöhten Transparenz, an die Beschäftigtenund ihre Arbeitnehmervertreter in Form von Daten undInformationen weitergegeben werden, die ihnen mehrSicherheit für ihren Arbeitsplatz geben.
Meine Damen und Herren, es gibt nichts zu beschöni-gen: Wir befinden uns mitten in der schwersten Finanz-krise seit Jahrzehnten, in der wir allerdings den Super-GAU, den Kollaps des Weltfinanzsystems bisher verhin-dern konnten. Niemand – kein Ökonom, kein Finanzmi-nister, kein Zentralbankchef dieser Welt – wird Ihnenmit Bestimmtheit sagen können, wie lange wir noch mitdieser Krise und ihren Begleiterscheinungen leben müs-sen. Wenn jemand behauptet, er sehe Licht am Ende desTunnels, dann kann es ihm passieren, dass es die Lichterdes entgegenkommenden Zuges sind.
Ich appelliere, auch angesichts des bislang erfolgrei-chen Krisenmanagements, an alle Verantwortlichen inder Politik und in den drei Säulen des deutschen Banken-systems: Dies ist nicht der Zeitpunkt für kleinliche Dis-kussionen und kleinteilige Hakeleien, mit denen manversucht, auf Kosten des vermeintlichen Wettbewerberskurzfristige Geländegewinne zu erzielen.Ich bin sehr an einer geschlossenen Aufstellung desdeutschen Finanzsektors in Brüssel interessiert.
Es ist der Zeitpunkt, um gemeinsam, mit vereinten Kräf-ten durch die Krise durchzukommen und gleichzeitig dasglobale Finanzsystem stabiler zu machen, nicht nur imInteresse der Finanzwirtschaft, sondern viel mehr nochim Interesse der Verbraucher, der Wirtschaft, aller Men-schen in unserem Land.Eine Erkenntnis aus der Krise lässt sich jetzt ziehen:Die Wall Street, das Epizentrum dieser Krise, wird nichtmehr das sein, was sie in den letzten Jahrzehnten war.Eine weitere Erkenntnis ist, dass wir nach der Bankrott-erklärung des in weiten Teilen des Finanzmarktes in denletzten Jahrzehnten dominierenden Laisser-faire-Kapita-lismus neue „Verkehrsregeln“ brauchen, wie HelmutSchmidt es jüngst formuliert hat. Er macht darauf auf-merksam, dass wir für den internationalen Luftverkehr
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Bundesminister Peer SteinbrückVerkehrsregeln haben, aber für die internationalen Fi-nanzmärkte nicht.
Diese neuen „Verkehrsregeln“, an denen wir im G-7-wie auch im europäischen Bereich intensiv arbeiten,können nur handlungsfähige staatliche Institutionenschaffen und durchsetzen, die sich international koordi-nieren, und zwar zum Wohle aller, der strauchelnden Fi-nanzinstitutionen genauso wie der Privatanleger, die sichzu Recht nach mehr staatlicher Sicherheit auf den Fi-nanzmärkten sehnen.Ich teile deshalb dezidiert die Auffassung von HerrnRöttgen, dass die Finanzmarktkrise die Idee der sozialenMarktwirtschaft auf lange Sicht weltweit stärkenkönnte.
Auch ich sehe in den Turbulenzen auf den Finanzmärk-ten nicht das Ende der marktwirtschaftlichen Ordnung,aber die Krise zeigt eindeutig die Notwendigkeit undAktualität von staatlichem Handeln, das den MärktenSpielregeln geben und damit auch Grenzen setzen muss.
In den vergangenen Jahren wurde viel über Staatsver-sagen geredet und geschrieben, manches zu Recht. Ichweiß aus eigenem Erleben, dass staatliches Handeln kei-neswegs immer effizient abläuft. Aber es wurde zu we-nig über Marktversagen geredet.
Dass es dies real gibt, und zwar mit gravierenden Aus-wirkungen auf das Leben aller, erleben wir gerade.Weder der bloße Ruf nach mehr Staat noch der simpleGlaube an den wettbewerblichen Markt wird der Auf-gabe gerecht, vor der wir stehen, nämlich Wirtschaft sozu gestalten, dass alle an einem stabilen, möglichst kri-senfreien Wachstum teilhaben können.Staatliche Institutionen müssen im internationalenVerbund Rahmen setzen, Regeln definieren und für ihreEinhaltung sorgen. Die Marktteilnehmer müssen diesenRahmen kreativ ausfüllen, nicht getrieben von Gier undKurzatmigkeit, sondern von Verantwortung für die Ge-sellschaft.
Das ist unser, das ist mein Verständnis von sozialerMarktwirtschaft. Das grenzt sich ab von jedem Neolibe-ralismus und jedem Neoetatismus.Neue „Verkehrsregeln“ für den Finanzmarkt sindnotwendig. Was heißt das konkret? Damit will ich miteinigen Punkten zum Schluss kommen.Erstens. Wir müssen zukünftig verhindern, dass Risi-ken durch Finanzinnovationen außerhalb der Bilanzplatziert werden können; davon sprach ich schon.
Wir wollen, dass die Banken Risiken eingehen können– das ist prägend für das Bankengeschäft –, aber nur sol-che, die sie mit ausreichend Eigenkapital unterlegt undin der Bilanz aufgeführt haben. Nur solche Transparenzschützt vor Krisen wie der gegenwärtigen. Das bedeutetnicht, in Zukunft Finanzinnovation zu verhindern, aberes bedeutet, sie transparent zu machen, und zwar auchden Prozess ihrer Entstehung.Zweitens. Wir brauchen höhere Liquiditätsvorsorgebei den Banken. Eines der Hauptprobleme ist der Man-gel an Liquidität gewesen. Diejenigen, die Liquidität ha-ben, sitzen darauf wie eine Glucke, und diejenigen, diekeine haben, japsen und kriegen kaum noch Luft, weilihnen im Interbankenverkehr diese Liquidität nicht gege-ben wird.Drittens. Es muss internationale Standards für einestärkere persönliche Haftung der verantwortlichen Fi-nanzmarktakteure geben.
Viertens. Wir müssen wieder zu einem engeren Zu-sammenhang zwischen Risiko und Rendite kommen.Das heißt auch, es muss endlich Schluss sein mit demwahnsinnigen Streben nach immer höheren Renditen –ein Quartal nach dem anderen. Allen Beteiligten mussklar sein, dass sich Renditen von 25 Prozent nicht erzie-len lassen, wenn nicht unverhältnismäßig hohe Risikeneingegangen oder andere Marktteilnehmer vorsätzlichbeschädigt werden.
Ein solches Renditerennen führt früher oder später zumZusammenbruch der Märkte, weil es nur auf Kosten an-derer geht. Es ist schizophren,
wenn die Anreiz- und Vergütungssysteme der Bankendie Jagd nach Umsatzvolumen und Renditen befeuern,ohne die dabei eingegangenen Risiken zu berücksichti-gen. Das wollen wir ändern. Das ist auch eine Aufgabeder Beteiligten selbst. Solange weiterhin zunehmendvariable Gehaltsbestandteile in Wirklichkeit das Volu-men der Vergütung von Bankmanagern ausmachen, solange wird die Jagd weitergehen, so lange werden sieweiter versuchen, so viel Volumen wie möglich zu ak-quirieren, weil davon ihre Boni, ihre variablen Vergü-tungsbestandteile, abhängig sind, so lange werden sieden Blick nicht darauf lenken, welche Risiken sie sichdamit gleichzeitig an den Hals ziehen.
Fünftens. Wir brauchen eine deutlich engere Zusam-menarbeit zwischen dem Financial Stability Forum unddem Internationalen Währungsfonds. In meinen Augensollte der IWF – er ist neben der Weltbank die letzte In-stitution, die vom Bretton-Woods-System übrig geblie-ben ist – die Kontrollinstanz für die Einhaltung weltwei-ter Finanzmarktstandards werden. Wir haben dieseInstitution. Vor dem Hintergrund des Rückgangs ihrertraditionellen Aufgaben läuft sie zunehmend ein biss-chen ins Leere. Die Überwachung, die Kontrolle welt-
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Bundesminister Peer Steinbrückweiter Finanzmarktstandards wäre eine neue Aufgabefür diese bestehende, geachtete Institution.
Sechstens. Im Sinne von mehr Transparenz und Stabi-lität auf den Finanzmärkten müssen wir gemeinsam aufinternationaler Ebene zu einem Verbot rein spekulativerLeerverkäufe kommen.
Siebtens. Um wieder ein nachhaltiges Risikobewusst-sein bei den Banken zu erreichen, werde ich mich beidem bevorstehenden G-7-Treffen in Washington dafüreinsetzen, dass Kreditrisiken, die die Banken eingehen,von diesen nicht mehr zu 100 Prozent verbrieft und da-mit weitergereicht werden können.
Das ist eine Maßnahme, die schwer zu erklären ist, dieaber ihre Auswirkungen hat. Aus meiner Sicht sollte dasveräußernde Institut verpflichtet werden, zukünftig im-mer bis zu 20 Prozent der eingegangenen Kreditrisikenin den eigenen Büchern zu führen, und nicht berechtigtsein, sie in Form von irgendwelchen Derivaten weiterzu-reichen.Achtens. Ich werde mich bei den europäischen Part-nern für eine weitere europäische Harmonisierung derAufsicht stark machen. Ich warne aber davor, zu glau-ben, dass man mit einem riesigen Wurf, quasi mit einemUrknall eine europäische Aufsichtsbehörde schaffenkönnte, nach dem Motto: Wenn wir ein Problem haben,gründen wir einen neuen Club. Das wird ein eher evolu-tionärer Vorgang sein müssen: ausgehend von dem, waswir schon in Gang gesetzt haben, über die Colleges ofSupervisors und die Gruppenaufsicht. Dass vielleicht inzehn Jahren eine gemeinsame europäische Institutionähnlich der EZB steht, will ich nicht ausschließen. Ei-nige in diesem Saal kommen vielleicht zu dem Ergebnis:Es ist die EZB.
Das könnte sein. Ich bitte aber darum, in dieser Situationnicht gleich wieder mit Vorschlägen zu kommen, die er-kennbar übers Knie gebrochen wurden.Ich bin zuversichtlich, dass diese acht erwähntenPunkte, die im Wesentlichen „Verkehrsregeln“ enthalten,dazu führen können, dass zukünftige Finanzkrisen nichtdie Sprengkraft entwickeln, wie das aktuell der Fall ist.Lassen Sie mich abschließend einige Bemerkungenbezogen auf die deutsche Wirtschaft und die öffentlichenHaushalte machen. In Übereinstimmung mit dem Bun-desbankpräsidenten sehe ich keine Kreditklemme, aberich sehe eine Verschärfung von Kreditkonditionen, diesich natürlich auch auf die Realwirtschaft auswirkenwerden. Die Bürger müssen keine Angst um ihr Erspar-tes haben. Unsere Realwirtschaft wird in Mitleidenschaftgezogen. Die Abwärtsrisiken für die Konjunktur sindnicht zu ignorieren.In welchem Ausmaß die öffentlichen Haushalte da-von betroffen sind, liegt allerdings an mehreren Fakto-ren. Es liegt weniger an der realen Wachstumsrate undsehr viel mehr an der nominalen Wachstumsrate. Es liegtvornehmlich auch an der Entwicklung des Arbeitsmark-tes. Davon ist abhängig, wie die tatsächlichen Steuerein-nahmen sind. Ich darf Ihnen berichten: Bisher – jeden-falls im laufenden Jahr – sind diese Steuereinnahmenvon diesen Abwärtsrisiken für die Konjunktur nicht be-rührt. Es ist auch davon abhängig, wie die Elastizitätensind. Es geht um die Effekte einer abnehmenden Wachs-tumsrate auf die staatlichen Einnahmen und auf die Ar-beitsmärkte. Wir sind dort als Volkswirtschaft in denletzten Jahren besser geworden. Es liegt auch daran, wieflexibel wir sind, wieder Fahrt aufzunehmen, wenn sichdie Rahmendaten wieder etwas verbessern.Wir sind immer noch, aber immer weniger von derEntwicklung in den USA abhängig. Andere dynamischeWeltregionen tragen mehr und mehr dazu bei, dass diedeutschen Exportaktivitäten sehr viel differenzierter inder Welt laufen und wir deshalb gegenüber den Ein-schlägen, die über den Atlantik kommen, unabhängigersind.Die neue Wachstumsprojektion der Bundesregierungerfolgt Mitte Oktober. Die Steuerschätzung kommt An-fang November. Ich sage: Diese bleiben abzuwarten, ehejemand versucht, mit eigenen Schätzungen Schlagzeilenzu machen. Die Bundesregierung wird ihren Kurs beibe-halten, ihren Planungen keine zweckoptimistischen Eck-punkte zugrunde zu legen. Damit sind wir in den letztendrei Jahren gut gefahren.
Das wird natürlich Einfluss auf die Haushaltsberatun-gen haben und auch manche Wunschzettel oder eil-fertige Versprechen aushebeln. Der Kurs der Bundes-regierung, die Konsolidierung fortzusetzen, dieautomatischen Stabilisatoren zur Geltung zu bringen, ge-genfinanzierte Entlastungen für die Bürgerinnen undBürger zu finanzieren und Zukunftsinvestitionen zu täti-gen, bleibt richtig.Die Tugenden, die Max Weber vor hundert Jahren füreinen Politiker beschrieben hat, sind aktueller denn je:Leidenschaft, Verantwortungsbewusstsein und Augen-maß.Vielen Dank für Ihr Zuhören.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder wird für ange-messen halten, dass ich bei der außerordentlich kompli-zierten und gleichzeitig besonders wichtigen Materieerst gar nicht den Versuch unternommen habe, auf dieDifferenz zwischen der angemeldeten und der tatsächli-chen Redezeit aufmerksam zu machen. Ich will daraufhinweisen, dass ich das für die erste Runde der jeweili-gen Fraktionsredner ähnlich halten möchte, mit der aus-
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Präsident Dr. Norbert Lammertdrücklichen Bitte, das jetzt nicht als Generalgenehmi-gung für beliebige Festansprachen misszuverstehen.
Nun eröffne ich die Aussprache und erteile als Erstesdas Wort dem Kollegen Dr. Hermann Otto Solms für dieFDP-Fraktion.
Herr Präsident! Ich glaube, das Thema gibt keinenAnlass zu Festansprachen; dazu ist es zu ernst. Deswe-gen möchte ich sagen, Herr BundesfinanzministerSteinbrück: Ihrer Analyse insbesondere im ersten Teilder Rede, aber auch Ihren Bemühungen, zu internationa-len Standards der Regulierung im Finanzmarkt zu kom-men, stimmt die FDP-Opposition ausdrücklich zu. Daranist keine Kritik zu äußern.
Enttäuscht sind wir allerdings, dass Sie kein Wort derSelbstkritik dazu geäußert haben, dass es auch hier Fehl-verhalten und Staatshaftung gibt.
Die spannende Frage, ob das nun eigentlich Staats-versagen oder Marktversagen ist, beantworte ich völ-lig anders als Sie. Wenn Sie Ihre Analyse noch einmaldurchlesen würden, kämen Sie zu demselben Ergebniswie ich. Denn Sie haben gesagt, dass es gerade in denVereinigten Staaten ein völlig unzureichendes Regulie-rungssystem gegeben hat. Das ist ein Fehler des Staatesund nicht des Marktes.
Wenn Sie sich anschauen, was die Ursache dieserKrise in den Vereinigten Staaten – da liegt die Ursache –war, dann erkennen Sie: Es war eindeutig Staatsversa-gen. Das Wichtigste war, dass die amerikanische Zen-tralbank unter Greenspan zu lange zu viel zu billigesGeld zur Verfügung gestellt hat, sodass diese spekula-tiven Blasen finanziell überhaupt erst möglich gewordensind.
Ein Weiteres war, dass das Programm der amerikani-schen Bundesregierung unter Bush, Häuser für jeder-mann erschwinglich zu machen – es wurde angekurbeltdurch Subventionen, durch Steuerbegünstigungen unddurch den Zwang, Freddie Mac und Fannie Mae zu gro-ßen Finanzierungskartellen zusammenzuschließen – erstdazu geführt hat, dass diese verrückte Finanzierungssitua-tion in den USA entstehen konnte: Menschen, die nie-mals in der Lage waren, auch nur 1 Dollar für ein Hauszu bezahlen, geschweige denn Zinsen zu tilgen, wurdenHäuser übereignet. Das wäre in Deutschland, auch recht-lich, überhaupt nicht möglich gewesen. Was in den Ver-einigten Staaten geschehen ist, war eindeutig Staatsver-sagen.
Was hat uns dann in diese Probleme hineingezogen?Man hat schöne Pakete, in denen schlechte Kredite mitguten Krediten vermischt worden sind, geschnürt. Dieamerikanischen Ratingagenturen – wir haben leider nuramerikanische Ratingagenturen – haben darauf„Triple A“ gestempelt. Dann sind diese Pakete den An-legern in der ganzen Welt angeboten worden, und die ha-ben natürlich zugegriffen. Wenn das im privaten Bereichgeschehen ist, dann müssen sie dafür eben geradestehen.So ist das in Deutschland auch. Damit bin ich schon beider deutschen Situation.Wenn aber deutsche Staatsbanken dieses Geschäft be-treiben, dann haben wir als Opposition die Aufgabe, unsvor den Steuerzahler zu stellen, der da in Haftung ge-nommen wird.
Herr Finanzminister, Sie betonen immer wieder, IhrHaushalt sei bis jetzt nur um 1,2 Milliarden Euro belas-tet worden. Das ist zwar rechnerisch und buchhalterischrichtig; aber in Wirklichkeit haben Sie – das geben Sieauch zu – einen Schutzschirm von mindestens10 Milliarden Euro aufgespannt, wofür der Steuerzahlergeradestehen muss.
Weil Sie das nicht Ihrem Haushalt entnehmen wollen,haben Sie mittlerweile buchhalterische Kunstgriffe vor-genommen: Bei der KfW haben Sie etwas getan, wasnach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Bilanzierung inDeutschland überhaupt nicht zulässig wäre. Wenn ichbei meiner Kaufmannsgehilfenprüfung als Bankkauf-mann 1964 das geraten hätte, wäre ich mit Pauken undTrompeten durchgefallen. Sie haben nämlich gesagt: Diejetzt eingetretenen Verluste werden mit möglichen Ge-winnen in der Zukunft verrechnet. Das widerspricht demVorsichtsprinzip total. Das ist nicht zulässig. Das ist einBuchhaltertrick, den Sie anwenden, damit Sie das allesvorerst aus Ihrem Haushalt heraushalten können.
Nun will ich noch einmal auf die Punkte zu sprechenkommen, bei denen die Bundesregierung in der Haftungist. Angefangen hat es damit, dass sie die Beteiligung ander IKB überhaupt eingegangen ist. Das ist 2001 unterHans Eichel, Ihrem Vorgänger, geschehen. Damals ge-schah dies mit der interessanten Begründung, man wolleabwehren, dass eine ausländische Bank die IKB in Be-sitz nehmen könne. Damals ging es um die Royal Bankof Scotland, immerhin eine europäische Bank. Im End-effekt haben Sie doch – auch auf Druck aus dem Parla-ment hin – die IKB verkaufen, das heißt quasi verschen-ken müssen, und zwar an wen? An Lone Star, an eineamerikanische Heuschrecke, und das, obwohl Sie nureine Woche vorher ein Gesetz erlassen haben, durch dasdie Beteiligung an solchen Fonds eingeschränkt werdensoll. Auch das ist ein Widerspruch, den der Betrachterüberhaupt nicht auflösen kann.
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Dr. Hermann Otto Solms2005 hätten Sie die Chance gehabt, die IKB zu ver-kaufen. Wir haben es Ihnen empfohlen. Sie hätten einenMilliardengewinn einstreichen können. Nun haben Sie10 Milliarden Euro Verlust gemacht.
Herr Präsident, ich bitte darum, dass diese Privatge-spräche auf der Regierungsbank aufhören. Wenn dasParteipräsidium der SPD tagen will, dann kann es dasaußerhalb des Parlaments machen.
Das ist hier ein Haus für alle Parteien.
Was haben Sie seitdem getan? Die Krise ist nicht erstim Juni/Juli letzten Jahres aufgeschienen, sondern dieersten Anzeichen dafür gab es schon im Februar 2007,als die HSBC-Bank – für die, die sie nicht kennen:Hongkong and Shanghai Banking Corporation – die ers-ten Gewinnwarnungen herausgegeben hat. Es folgten je-den Monat weitere Warnungen. Ein vorsichtiger Bankerund eine vorsichtige Aufsicht hätten natürlich schon indiesem Moment geschaut: Können auch wir betroffensein? – Erst im Juli 2007, als die Bude bereits gebrannthat, sind Sie aufgewacht.Danach hat es verschiedene Abschirmungsrunden ge-geben. Nach jeder Runde war klar, dass man nichtwusste, wie hoch das Risiko wirklich ist. Selbst bis heuteweiß man das nicht richtig, sonst hätte nicht das eintre-ten können, was jetzt gerade in diesem Monat eingetre-ten ist, nämlich die Überweisung an Lehman Brothers inHöhe von 350 Millionen Euro, obwohl sie schon pleitewaren. Das sind doch ein drastisches Versäumnis und einFehler der Aufsicht.
Ich habe bewusst den Bericht des Rechnungshofesnicht eingesehen, den wir Abgeordnete nur unter Auf-sicht lesen dürfen. Ich möchte mir nicht vorwerfen las-sen, aus einem geheimen Bericht zu zitieren, und ichwusste: Am nächsten Tag steht es sowieso in der Zei-tung. Schauen Sie heute in die Zeitung, da steht allesdrin. Der Rechnungshof hat schon im Jahre 2003 auf dieOrganisations- und Aufsichtsprobleme bei der KfW hin-gewiesen. Diese Vorwürfe wiederholt er jetzt. Seit seinerWarnung 2003 hat sich nichts geändert. Was aber vielschlimmer ist: Seit dem Eintreten der Krise – spätestensim Juli 2007 – hat sich ebenfalls nichts geändert. DieAufsicht ist weiterhin so dilettantisch wie zuvor betrie-ben worden.
Es sind immer dieselben Personen, die das machen.Auch darauf weist der Rechnungshof hin. Da heißt esganz klar: Gibt es keine Interessenkonflikte, wenn fürdie Aufsicht der KfW und für die Aufsicht der BaFindieselbe Person aus dem Finanzministerium zuständigist, die auch im Aufsichtsrat der IKB sitzt? Das kanndoch nicht gut gehen. Diese Person überwacht sich jaselbst. Sie kann ja gar nichts aufdecken. Wie soll sie dasmachen? Das müsste dann ein Wunderkind sein.Die Frage ist: Was haben Sie in dieser Zeit getan? Ichhabe darauf hingewiesen: Sie haben die IKB verkauft.Sie haben nicht gesagt, was Sie mit der IPEX machen,mit der Sie die gleichen Probleme haben. Auch diesemüsste privatisiert werden.
Sie haben bis heute nicht gesagt, was Sie mit der KfWmachen. Bleibt das eine Behörde, oder wird das eineBank, die der Bankenaufsicht – das wäre dringend not-wendig –, insbesondere der unabhängigen Aufsicht derDeutschen Bundesbank unterstellt wird? Wie werden dieAufsichtsstrukturen verändert? Die Antworten auf alldiese Fragen sind Sie schuldig geblieben. Aber auch dasgehört zur Abrechnung und zur Analyse. Deswegen sageich: Da sind Fehler passiert, die nicht hätten passierendürfen und längst hätten korrigiert sein müssen.
In der heutigen Ausgabe der FAZ schreibt BettinaSchulz aus London:Aber die Kritik muss an der Aufsicht ansetzen. Dasist für Politiker freilich ein brenzliges Thema: DieBanken- und Marktaufsicht hat an jedem einzelnenFinanzplatz katastrophal versagt. Weder die deut-sche Bafin noch die britische FSA, die amerikani-sche Federal Reserve oder die SEC haben erkannt,dass es Geschäftsmodelle gab, die gefährlicheSchneeballeffekte auslösen könnten.Ich kann dem nur zustimmen. Das ist das Staatsversagender Bundesregierung und des Bundesfinanzministers,der nach KfW-Gesetz im Benehmen mit dem Bundes-wirtschaftsminister für die Aufsicht der KfW zuständigist.
– § 12 des KfW-Gesetzes – ich zitiere –:Das Bundesministerium der Finanzen übt die Auf-sicht über die Anstalt im Benehmen mit dem Bun-desministerium für Wirtschaft und Technologie aus.
Dies sind Sie bei Ihrer Arbeit schuldig geblieben.Ich will zum Abschluss noch etwas zur Verantwor-tung sagen. Einige Landesbanken und die dazugehörigenRegierungen haben in diesem Bereich drastisch versagt.Sachsen hat dadurch einen Schaden von um die 5 Mil-liarden Euro verursacht. Als Folge sind immerhin derFinanzminister und schließlich auch der Ministerpräsi-dent Milbradt zurückgetreten, nicht nur deshalb, aberauch deshalb. Ein anderes Beispiel ist die BayerischeLandesbank. In der Bayerischen Landesbank setzt sichdie Hälfte des Verwaltungsrates aus Mitgliedern derbayerischen Landesregierung zusammen. Der Kohorten-führer ist Finanzminister Erwin Huber. Vor der Kommu-
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Dr. Hermann Otto Solmsnalwahl hat er versucht, zu vertuschen, welcher Schadenim März dieses Jahres entstanden ist;
bei der Kommunalwahl hat er natürlich eine Niederlageerlitten. Jetzt, vor der Landtagswahl, wird wieder nichtklar gesagt, welche zusätzlichen Belastungen durch dieBeteiligung an Lehman Brothers auf die BayerischeLandesbank zukommen werden.
Am kommenden Sonntag muss er sich erneut dem Wäh-ler stellen. Warten wir einmal ab, welches Urteil diebayerischen Wähler sprechen werden.
Schließlich frage ich die Bundesregierung: Wie ste-hen Sie zu Ihrer Verantwortung? Was sagen Sie dazu?Zumindest ein Wort der Entschuldigung beim Steuerzah-ler wäre angemessen gewesen. Das erwarten wir von Ih-nen.
Dr. Michael Meister ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ichmöchte für die Unionsfraktion zunächst einmal sagen:Ich halte es für richtig und begrüße es ausdrücklich, dassder Bundesfinanzminister heute Morgen für die Bundes-regierung eine Regierungserklärung zu diesem Themaabgegeben hat und dass wir die Gelegenheit haben, überdiese wichtigen und bewegenden Ereignisse eine Aus-sprache zu führen. Ich halte es auch für richtig, dass wirdas an diesem Ort und sehr zeitnah tun.Wie wir heute Morgen gehört haben, haben wir es mitSicherheit mit einer der größten Finanzkrisen der Welt-geschichte zu tun. Wenn man sich andere Finanzkrisender vergangenen 400 Jahre vor Augen führt, wird aller-dings deutlich, dass die Mechanismen, über die wirheute verfügen, besser sind als in früheren Zeiten. Des-halb können wir mit dieser Diskussion auf einem ganzanderen Niveau starten, als man es in den 30er-Jahren– Stichwort: Schwarzer Freitag – oder in den 80er-Jah-ren hätte tun können. Das sollten wir zur Kenntnis neh-men, damit wir wissen, wovon wir bei dieser Diskussionausgehen.Viele Menschen in unserem Land machen sich ver-ständlicherweise Sorgen, was mit ihren Spareinlagengeschieht. Ich glaube, wir haben in allen drei Säulen un-seres Bankensystems Vorkehrungen getroffen, die ge-währleisten, dass diese Sorgen unbegründet sind. Auchdas sollten wir klar und deutlich sagen, um nicht für Ver-unsicherung zu sorgen.In der Realwirtschaft macht man sich im Hinblick aufdie Kreditfinanzierungen von Unternehmen Sorgen.Ich stimme dem Finanzminister ausdrücklich zu, dasssich die Kreditversorgung unserer mittelständischenWirtschaft trotz Krise verbessert hat.
An dieser Stelle möchte ich den Akteuren in diesem Be-reich, die natürlich auch den EigenkapitalvorschriftenRechnung tragen müssen, dafür meinen Dank sagen.Da mit AIG auch ein großer Versicherer von der Fi-nanzkrise betroffen ist, will ich noch eine Bemerkungzur Altersversorgung machen. Möglicherweise werdennicht alle Renditeerwartungen erfüllt, die man in derVergangenheit hatte. Aber auch hier besteht kein Anlasszur Sorge. Wir können den Menschen sagen: Neben dergesetzlichen Rente gibt es sowohl im betrieblichen alsauch im privaten Bereich Altersvorsorgeinstrumente, dieauch in der Krise funktionieren. Diese Instrumente dür-fen wir in der aktuellen Debatte nicht diskreditieren.
In der jetzigen Situation heißt es, wir müssten diesoziale Marktwirtschaft hinterfragen. Ich glaube, dassdie soziale Marktwirtschaft durch diese Krise bestätigtwird. Wir treten für Märkte ein, auf denen klare Rah-menbedingungen und Regelwerke gelten. Was wir nichtwollen, ist die Beseitigung der Märkte. Was wir auchnicht wollen, ist die Beseitigung der Regeln.
Vielmehr müssen wir über die Fragen diskutieren: Wiekönnen wir diese Regeln vor dem Hintergrund der Pro-bleme, mit denen wir es jetzt zu tun haben, neu adjustie-ren, und wie können wir die vorhandenen Regelwerkeinternationalisieren? Denn als nationaler Gesetzgeberwürden wir uns überheben, wenn wir versuchen würden,diese Probleme allein zu lösen.
Ich plädiere dafür, dass wir versuchen sollten, unserModell der sozialen Marktwirtschaft bzw. zumindestseine Grundprinzipien in andere Länder und internatio-nale Organisationen zu exportieren, um im Hinblick aufdie Herausforderungen auf den Märkten ein etwas grö-ßeres Sicherheitsnetz zu schaffen. Insofern glaube ich,dass in dieser Krise auch eine Chance zu sehen ist.
Ich denke, heute diskutieren wir über die Herausfor-derungen der internationalen Finanzkrise unter wesent-lich besseren Konditionen, als es zu Beginn der Amtszeitdieser Bundesregierung möglich gewesen wäre. Wir ha-ben ein deutlich größeres Wirtschaftswachstum als inden Jahren zuvor. Wir haben eine deutliche Besserungam Arbeitsmarkt zu verzeichnen. Wir haben eine vielentspanntere Haushaltssituation, wenngleich sie nochnicht in Ordnung ist. Und unsere Wirtschaft befindet
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Dr. Michael Meistersich in struktureller Hinsicht in einer deutlich besserenVerfassung, als es früher der Fall war.Man muss sich einmal die Frage stellen, was gesche-hen wäre, wenn uns eine solche Krise im Jahre 2005 er-eilt hätte, als die Konditionen unserer Wirtschafts- undArbeitsmarktverfassung noch anders aussahen. Ichglaube, die Probleme und die Auswirkungen im Landewären wesentlich größer gewesen. An dieser Stelle sindwir ein Stück weit besser geworden.
Ich möchte auch ausdrücklich unterstreichen, dass wirnicht erst nach Auftreten der Krise damit begonnen ha-ben, über die Krise zu diskutieren, sondern dass wir vor-her gehandelt haben. Die Tagung in Heiligendamm unddie Vorbereitungen dafür lagen vor Beginn der Krise.Wenn wir uns das Hauptphänomen der Krise an-schauen, dann stellen wir fest, dass es eine Vertrauens-krise zwischen den Akteuren ist. Deshalb muss mansich die Frage stellen, wie man neues Vertrauen erzeu-gen kann. Das kann man durch Offenheit und Transpa-renz erreichen. Deshalb ist der Ansatz, für mehr Trans-parenz in den Märkten zu werben – das war der Ansatzder Bundesregierung, Herr Finanzminister und FrauBundeskanzlerin –, die zentrale Aussage, um neues Ver-trauen in den Märkten zu erzeugen und damit die Ak-teure wieder handlungsfähig zu machen.
Ich hoffe, dass durch diese Krise auch die Chance er-öffnet wird, die Reserviertheit, die wir in Großbritannienund den USA damals verspürt haben, ein wenig zu ver-ringern, damit wir damit vorankommen, das, womit da-mals begonnen wurde, dauerhaft zu implementieren unddamit mehr Transparenz und Vertrauen zu erreichen.Ich will ausdrücklich sagen: Finanzmärkte sind fürsich genommen nichts Böses. Sie tragen wesentlich zumWohlstand unserer Gesellschaft bei: zum einen direktüber diejenigen, die dort beschäftigt sind – wir reden im-merhin über 1,5 Millionen Menschen in Deutschland,die in diesem Sektor beschäftigt sind; diese Arbeits-plätze und den Anteil am Bruttoinlandsprodukt könnenwir nicht einfach wegdiskutieren –, und zum anderen na-türlich, indem dadurch Geschäfte in der Realwirtschaftmöglich sind und sich finanzieren lassen. Deshalb brau-chen wir die Finanzmärkte, aber wir müssen aufpassen,dass diese Finanzmärkte dauerhaft, nachhaltig und funk-tionsfähig sind. Darüber müssen wir diskutieren – undnicht gegen die Finanzmärkte.
Eine Reihe von Schwächen sind erkennbar geworden.Ich will ausdrücklich darauf hinweisen: Es gäbe das Pro-blem mit der IKB nicht in dieser Weise, wenn Basel IIbei uns in Deutschland nicht erst zum 1. Januar 2008umgesetzt worden wäre; denn das, was bei der IKB ge-macht wurde und keinen Niederschlag in der Bilanz ge-funden hat, wäre nicht möglich gewesen, wenn Basel IIschon gegolten hätte. Wir müssen uns dabei auch einmalselbst fragen, ob wir dafür nicht ein paar Tage zu langgebraucht haben.
Vor diesem Hintergrund will ich aber auch sagen,dass es eine ganze Reihe von Akteuren gibt – insbeson-dere in den USA –, die Basel II immer noch nicht umge-setzt haben. Deshalb ist es dringend notwendig, dass da-rauf gedrungen wird, diese Regeln hinsichtlich derAnforderungen an das Eigenkapital umzusetzen und dieMöglichkeit aufzuheben, etwas zu tun, was sich nicht inder Bilanz niederschlägt. Auch dafür müssen wir diesenAnlass direkt nutzen.
Ich will die Rolle der Europäischen Zentralbankansprechen. Ich glaube, dass dort richtigerweise eineDoppelstrategie verfolgt wird. Aus meiner Sicht blendenwir die Inflation gegenwärtig zu stark aus. Damit liegtauch eine weltweite Herausforderung vor uns, weil es sienicht nur in einigen Ländern, sondern insgesamt – umden Globus herum – gibt und weil sie nicht mehr überniedrige Lohnangebote in einigen Entwicklungs- oderSchwellenländern bekämpft wird. Deshalb werden wiruns mit der Herausforderung Inflation beschäftigen müs-sen. Es ist hochgradig gefährlich, das Ziel der Inflations-bekämpfung in der Krise aufzugeben.Ich möchte ausdrücklich hervorheben: Die Europäi-sche Zentralbank tut das nicht.
Sie versucht, die Inflation zu bekämpfen und die Märktegleichzeitig mit der notwendigen Liquidität zu versor-gen. Diese Doppelstrategie – beide Ziele im Auge zuhaben und zu verfolgen – ist zu loben. Deshalb unterstüt-zen wir diese Strategie unserer Zentralbank ausdrück-lich.
Ich möchte an dieser Stelle sagen: Wir möchten unsauch herzlich für den Rat und die Unterstützung unsererbeiden Aufsichtsinstitutionen – Notenbank und BaFin –bedanken. Man kann sehr wohl die Frage stellen, ob dortim Detail alles richtig gemacht wird. Meine Erfahrungist: In dieser Krisensituation waren sowohl der Rat alsauch die Handlungsfähigkeit wertvoll. Dadurch wurdegeholfen, die eine oder andere Verschlimmerung derKrise zu vermeiden. Das sollte man bei aller Kritik, diean der einen oder anderen Stelle vorgetragen wird, aucheinmal positiv hervorheben.
Lieber Kollege Solms, ich schätze Sie im Finanzaus-schuss sehr als Finanzfachmann. Ich rate aber sehr wohldazu, die Frage zu stellen, wie die Rolle der KfW inDeutschland in Zukunft aussehen wird. Was ist die Auf-gabe der KfW? Beschränkt sie sich auf das Förderge-schäft, oder gibt es noch weitere Aufgaben?
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Dr. Michael MeisterWir müssen auch die Frage stellen, unter welchemAufsichtsregime die Aufgaben nach dem Kreditwesen-gesetz wahrgenommen werden. Wir müssen auch fragen,ob die derzeitigen Regelungen im KfW-Gesetz dem ent-sprechen, was wir als künftige Rolle der KfW sehen. Dasist aus meiner Sicht wichtig und richtig, und wir solltenes in Ruhe bedenken. Weil daraus neue Erkenntnisse er-wachsen, wird es Veränderungen geben müssen.Ich rate aber dringend dazu, nicht so zu tun, als hättendie internationale Finanzkrise und ihre Auswirkungennur mit der KfW zu tun. Wir werden dem Thema nichtgerecht, wenn wir es nur auf diesen einzelnen Punkt ver-engen. Ich bitte deshalb darum, dass wir die Aufgabenlösen, uns aber gleichzeitig auch darum kümmern, wiewir die Finanzkrise insgesamt vernünftig aufarbeitenkönnen.Ich bin der Meinung – darin teile ich ausdrücklich diePosition von Herrn Steinbrück –, dass uns die Auswir-kungen auf das Einlagensicherungssystem, auf andereBanken, die dort Einlagen hatten, und auf die Finanzie-rung der Realwirtschaft deutlich mehr Steuergelder fürdie Rettungsaktion gekostet hätten, wenn wir die IKBnicht in der jetzigen Form erhalten hätten.
Deshalb ist in der Gesamtabwägung vielleicht ein einzel-ner Detailschritt kritikfähig, aber die gesamte Richtungist aus meiner Sicht ausdrücklich zu unterstützen.
Das Thema Landesbanken ist bereits angesprochenworden. Ich glaube, dass es für die Zukunft dringendnotwendig ist, nachhaltige und tragfähige Geschäfts-modelle zu entwickeln, und dass es dazu anderer Struk-turen bedarf. Ich rate aber dazu, dass wir als Bundestags-abgeordnete und als Bund diesen Prozess dort, wo wirgefordert sind, wohlwollend begleiten und unterstützen.Ich weise aber darauf hin, dass diese Institute keine Bun-desbanken, sondern Landesbanken sind. Deshalb solltenbitteschön zunächst einmal die Eigentümer ihre Verant-wortung wahrnehmen, bevor wir Fragen und Problemediskutieren, für deren Lösung wir gar nicht direkt zu-ständig sind, sondern bei denen wir höchstens Hilfestel-lung leisten können. Insofern sollten wir unsere Rolle andieser Stelle richtig verstehen.
– Dieser Zwischenruf mag ein guter Beitrag zum bayeri-schen Landtagswahlkampf sein. Ob er uns in der Krisehilft, bezweifele ich.Ich will noch einmal die Frage der Bankenaufsichtaufgreifen. Ich glaube, dass es richtig ist, dass wir eineengere Zusammenarbeit der nationalen Aufseher brau-chen. An der Stelle müssen auch Vorkehrungen für Kri-sensituationen getroffen werden. Wenn freitagnachmit-tags eine Krisensituation eintritt, dann geht es nicht an,dass man erst montagmorgens beginnt, zu recherchieren,wer die zuständigen Gesprächspartner sind. Es mussPläne geben, wie man in solchen Krisenfällen vorzuge-hen hat.Es sind auch Überlegungen notwendig – darin unter-stütze ich Herrn Steinbrück ausdrücklich –, welche Rolledie Europäische Zentralbank in der Finanzaufsicht aufeuropäischer Ebene spielen kann. Auch diese Aufgabemüssen wir lösen.Ich unterstütze für meine Fraktion ausdrücklich, dasswir beim Rating verbindliche Spielregeln brauchen. Esgeht nicht an, dass jemand Produkte kreiert und gleich-zeitig in diesem Bereich die Bewertungen vornimmt.
Das ist nicht akzeptabel. Deswegen brauchen wir ver-bindliche und überwachbare Kontrollmechanismen.Ich teile auch ausdrücklich die Auffassung in derFrage der Eigenkapitalunterlegung: Es kann nicht sein,dass Finanzprodukte risikofrei gehandelt werden kön-nen. Notwendig ist vielmehr eine Eigenkapitalunterle-gung, durch die derjenige, der Finanzprodukte auf denMarkt bringt, ein Eigenrisiko trägt.Insofern hoffe ich, dass wir heute die Chance nutzen,unser System nicht kleinzureden. Wir sollten vielmehrdie Chance nutzen, die in dieser Krise liegt, Erkenntnissezu gewinnen, um die Märkte für die Zukunft weiter zustabilisieren. Ich würde mich freuen, wenn auch dieseDebatte dazu einen Beitrag leisten würde.Vielen Dank.
Nächster Redner ist Oskar Lafontaine für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ich glaube, dass mit dem Wort „Finanzmarktkrise“die Krise, über die wir heute reden, nicht ausreichend be-schrieben ist. Nach unserer Auffassung geht es nicht umeine ökonomische Krise, sondern um eine Krise dergeistigen und moralischen Orientierung der westlichenIndustriegesellschaften.
Um verständlich zu machen, was ich damit meine, willich zuerst darlegen, wie das Ganze begonnen hat undwie vor einigen Jahren die Auffassung der großen Mehr-heit derjenigen, die an der Diskussion teilgenommen ha-ben, war. Im Jahre 1996 hat der BundesbankpräsidentTietmeyer vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos ge-sprochen. Dort sagte er, gerichtet an die Politiker undWirtschaftsführer, die dort versammelt waren: MeineHerren, Sie alle sind jetzt der Kontrolle der internatio-nalen Finanzmärkte unterworfen. – Wenn heute einBundesbankpräsident so etwas sagte, würde er wahr-scheinlich gleich in eine Heilanstalt eingeliefert werden.Aber damals wurde diese Aussage mit großem Beifallvon allen Versammelten aufgenommen. Sie fand auchgroßen Anklang in der deutschen Öffentlichkeit. Man
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Oskar Lafontainesieht: Die damalige Überzeugung und Auffassung wartatsächlich, dass die internationalen Finanzmärkte allesrichtig regeln, dass sie die richtigen Findungsprozesse inGang setzen werden, während die Politik nichts andereszu tun hat, als diesen Findungsprozessen Rechnung zutragen und ihnen zu folgen.Wer ein Zeugnis von einem relativ kritischen Politikervon der linken Seite haben will, dem möchte ich JoschkaFischer zitieren, der in den damaligen Auseinanderset-zungen gesagt hat: Ihr glaubt doch wohl nicht, dass ihrPolitik gegen die internationalen Finanzmärkte machenkönnt! – Wenn Sie nur diese zwei Aussagen als Beispielnehmen, dann stellen Sie fest, in welchem Ausmaß mansich damals geirrt hat und wie sehr die Fehlorientierungder Politik durch die internationalen Finanzmärkte er-zwungen wurde. Für uns war dies ein Prozess, den ichwie folgt beschreiben möchte: Das war eine Verabschie-dung von der Demokratie und vom Sozialstaat. DieFolgen tragen wir alle heute.
Wenn ich von der Verabschiedung von der Demokra-tie durch die internationalen Finanzmärkte spreche, dannwill ich auf die Definition der Demokratie zurückkom-men, die entscheidend ist, um das beurteilen zu können.Demokratie ist nicht nur ein formaler Prozess. Vieleglauben, es sei Demokratie, wenn man regelmäßig zurWahlurne gehen könne. Ich wiederhole, dass die klassi-sche Definition der Demokratie von den Ergebnissen herkam. Wir bezeichnen eine gesellschaftliche Ordnungdann als demokratisch, wenn die Entscheidungen so ge-troffen werden, dass die Interessen der Mehrheit bei denEntscheidungen berücksichtigt werden. Genau dies istnicht eingetreten, sondern das glatte Gegenteil. Deshalbist die Demokratie nachweislich verabschiedet worden.
Das glatte Gegenteil besteht in dem, was Sie, HerrBundesfinanzminister, offensichtlich nicht zur Kenntnisnehmen wollen, nämlich dass die Reallöhne, die Rentenund die sozialen Leistungen – das ist ein einmaliger Vor-gang – trotz einer wachsenden Wirtschaft und der Pro-zesse, die ich hier nur kurz ansprechen kann, fallen. Ge-nau das ist eingetreten. Inhaltlich wird die großeMehrheit der Menschen nicht mehr an der wachsendenWirtschaft beteiligt. Wir haben aufgrund des Regimesder internationalen Finanzmärkte keine soziale Markt-wirtschaft mehr.
– Jemand hat gerade „dummes Zeug“ dazwischengeru-fen. Am Schluss seiner Ausführungen hat der Bundes-finanzminister genau das, was ich beschrieben habe,gesagt. Das sei seine Vorstellung von sozialer Markt-wirtschaft. Wenn das aber seine Vorstellung von sozialerMarktwirtschaft ist, dann müsste er zumindest zurKenntnis nehmen, dass es ihm bisher nicht gelungen ist,diese zu realisieren.Nun stellt sich die Frage, wie man die geistig-morali-sche Umorientierung der Gesellschaft – das ist immerein ganz schwieriger Prozess – überhaupt in Gang setzenkann. Niemand wird darauf eine Antwort geben können,die weiter trägt als von hier bis zur nächsten Festveran-staltung. Aber im Grunde genommen muss man zuerstdie Frage aufwerfen: Ist beispielsweise die Forderungnach Transparenz geeignet, den Prozessen zu begegnen?Ich sage: Transparenz hat nur dann einen Sinn, wenn ausihr irgendwelche Konsequenzen abgeleitet werden.
Wenn man feststellt, dass alles ganz schlimm sei,dann mag Transparenz herrschen. Aber dann machtTransparenz keinen Sinn. Man muss auch nicht die groß-artigen Finanzinnovationen verstehen, um zu erkennen,was eigentlich los war.Ganz zum Schluss haben Sie leise etwas zu den Ren-diteerwartungen gesagt. Aber wir alle wussten seit vie-len Jahren das, was fast täglich auf den Wirtschaftsseitender Zeitungen stand: Wir, der Betrieb oder die Bank,wollen eine Kapitalrendite von 25 Prozent. – Sie habendas jetzt als schizophren bezeichnet. Herr Bundesfinanz-minister, Sie hätten früher sagen müssen: Das ist ver-rückt.
Das einfache Beherrschen der Prozentrechnung hättezu der Überlegung führen können, dass dann, wenn derganze Kuchen nur um 2 bis 3 Prozent größer wird, nichtmanche Kuchenstücke um 25 Prozent größer werdenkönnen. –
Dies ist das, was ich als geistig-moralische Dimensionbezeichne und was hier eben sichtbar geworden ist. Dassman eine Elite hatte, die völlig durchdrehte, kann mansich an folgendem Beispiel klarmachen: Stellen Sie sichvor, ein älterer Mann oder eine ältere Frau wäre zu einerBank oder Sparkasse gegangen, hätte gesagt, er bzw. siehabe 2 000, 3 000 Euro gespart und wolle jetzt 25 Pro-zent Zinsen. Die Bankangestellten hätten einen Knopfgedrückt und irgendeinen hilfreichen Geist aus demHause gebeten, diesem Mann bzw. dieser Frau zu helfen,weil er bzw. sie geistig verwirrt sei und nach Hause oderin ein Altersheim gebracht werden müsse. Wenn aberHerr Ackermann oder sonst jemand so etwas sagt, dannwird Beifall gespendet. Dies ist Ausdruck der morali-schen Verwerfung unserer Gesellschaft.
Diese Verwerfung ist aber nicht nur festzustellen, son-dern sie hatte auch erhebliche Implikationen für die ge-sellschaftliche Entwicklung in den letzten Jahren. Diegesellschaftliche Entwicklung in den letzten Jahren habeich doch beschrieben. Was bedeutete denn die Aussage„Sie sind alle der Kontrolle der internationalen Finanz-märkte unterworfen, und wir haben keine Möglichkeit,
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Oskar Lafontaineirgendetwas dagegen zu tun“? Es wurde doch auch hierin diesem Parlament immer wieder gesagt: Wer nicht sooder so handelt, den bestrafen die Märkte. – Man müssteeinmal googlen, um herauszufinden, wie viele von Ihnenoder wie viele frühere Kolleginnen und Kollegen immerwieder gesagt haben: Wer nicht Sozialabbau betreibt,den bestrafen die internationalen Finanzmärkte. – Daswar die ständige Rede in vielen Parlamenten, auch imDeutschen Bundestag.
Deshalb gibt es nicht nur Folgen für die Sicherheitder Einlagen der Bankkundinnen und Bankkunden – ichwill gar nicht von der Immobilienentwicklung sprechen,übrigens auch der hier in Berlin –, von denen hier ge-sprochen wird; vielmehr sind die Hauptbetroffenen dieBürgerinnen und Bürger, die Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer, die Rentnerinnen und Rentner und die Emp-fänger sozialer Leistungen, die aufgrund dieser Unter-werfung unter die internationalen Finanzmärkte mitfallenden Löhnen, fallenden Renten und sinkenden so-zialen Leistungen bezahlen müssen. Das ist der gesell-schaftliche Zusammenhang.
Dass Sie, Herr Bundesfinanzminister, immer nochkeine Lehren daraus gezogen haben, haben Sie in IhrerHaushaltsrede zu Protokoll gegeben. Dort reden Sie ineiner Situation – man fasst es nicht –, in der der amerika-nische Finanzminister – Sie haben das richtig dargestellt –5 Prozent des Sozialproduktes einsetzen muss, um dieMärkte zu stabilisieren, von einer weiter sinkendenStaatsquote. Man fasst es manchmal nicht!
– Das Lachen wird Ihnen noch vergehen, Herr Bundes-finanzminister. Sie werden sich mit dieser Prognose lä-cherlich machen. Das bitte ich zu Protokoll zu nehmenund dick zu unterstreichen.
Eine weiter sinkende Staatsquote – das ist die Spracheder internationalen Finanzmärkte, die Sie in Ihrer Haus-haltsrede gebrauchten; denn deren Credo ist: Je weiterdie Staatsquote sinkt, umso besser geht es den internatio-nalen Finanzmärkten. –
Das haben Sie jetzt selbst zu Protokoll gegeben. Sie ha-ben zu Protokoll gegeben, dass dann, wenn wir eineStaatsquote wie vor einigen Jahren hätten, die jährlichenAusgaben 114 Milliarden Euro höher wären. Wissen Siejetzt, warum wir andere Leistungen für Sozialhilfeemp-fänger haben, warum die Renten nicht steigen und wa-rum wir keine Investitionen in die öffentliche Infrastruk-tur tätigen?
Genau diese fehlerhafte Philosophie ist die Ursache fürdiese schlimme Fehlentwicklung.
Das Hauptproblem ist aufgrund des Imperativs der in-ternationalen Finanzmärkte die Privatisierung der So-zialversicherungssysteme. Ich wiederhole hier: Privareheißt berauben. Die Privatisierung der Sozialversiche-rungssysteme hat dazu geführt, dass die Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer und die Rentnerinnen und Rent-ner erhebliche Verluste in Kauf nehmen müssen. Wieman auf so etwas stolz sein kann, entzieht sich unsererKenntnis.
In dem gleichen Zuge hat man dann die Sicherheit, nachder jetzt wieder gerufen wird, nämlich die staatlich ga-rantierte Rente immer mehr in Misskredit gebracht underzählt: Nur dann, liebe Rentnerinnen und Rentner,wenn ihr den internationalen Finanzmärkten vertraut undwenn ihr euch privat versichert, werdet ihr die Kapital-renditen haben, mit denen ihr euren Lebensabend gestal-ten könnt. – Das war doch die Philosophie, nach der hierdie Rentengesetzgebung erfolgt ist. Sie wollen alles dasheute nicht mehr wahrhaben, aber es ist eine Tatsache.
Wenn Sie das nicht wahrhaben wollen, dann schauen Siesich die Ergebnisse Ihrer Rentenformel an. Die Ergeb-nisse Ihrer Rentenformel werden wir hier immer wiedervortragen, bis Sie irgendwann einmal akzeptieren, dassdie Ergebnisse zum Handeln zwingen. Die Ergebnisseder Rentenformel sind, dass jemand, der 1 000 Euro imMonat verdient, also im Niedriglohnsektor beschäftigtist – dieser wird aufgrund der Unterwerfung unter die in-ternationalen Finanzmärkte in Deutschland immer grö-ßer; er ist mittlerweile der größte aller Industriestaaten –,eine Rentenerwartung von 400 Euro hat. Das ist eineSchande. Diese Rentenformel darf nicht bestehen blei-ben, auch wegen der internationalen Finanzmärkte nicht.
Der OECD-Durchschnitt ist nicht 400 Euro, sondern730 Euro. In unserem Nachbarstaat Dänemark, der auchauf diesem Globus liegt, also ebenfalls den Zwängen derGlobalisierung unterworfen ist, sind es 1 200 Euro. Manmuss das dreimal lesen. Man glaubt es ja gar nicht.
– Der Zwischenruf war richtig. Lest es nach!
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Oskar LafontaineDie Frage ist, warum wir in Deutschland eine solcheSonderentwicklung haben. Immer mehr Menschen mer-ken, dass das Unterwerfen unter die internationalenFinanzmärkte ein Fehler war. Sie, meine sehr geehrtenDamen und Herren, werden dafür bei den nächsten Wah-len die Quittung bekommen. Warten Sie nur ab!
Dasselbe gilt natürlich auch für die Lohnentwick-lung. Sinkende Löhne bei steigendem Sozialprodukt,das gab es noch nie. Die Unterwerfung unter die interna-tionalen Finanzmärkte mit dem Imperativ „Deregulie-rung, Flexibilisierung und Privatisierung“ führte dazu,dass die Löhne immer weiter ins Rutschen kamen. Wirhaben jetzt Leiharbeit: Deregulierung. Wir haben jetztbefristete Arbeitsverträge: Deregulierung. Wir habenjetzt Minijobs und Midijobs: Deregulierung. Wir fum-meln am Kündigungsschutz herum: Deregulierung. Wirfummeln an den Tarifverträgen herum: Deregulierung.Wir haben auch die Finanzmärkte dereguliert. Die Paroleder Zeit ist nicht mehr Deregulierung – der Irrglaube desNeoliberalismus –, sondern ein Staat, der reguliert, imInteresse der Menschen, der Bürgerinnen und Bürger.
– Ach Gott, wie erbärmlich! Ich muss das wiederholen.Hier schreit ein Kollege, Herr Hinsken, glaube ich, da-zwischen, das sei Kommunismus. Gerade hat derFinanzminister doch gesagt, man müsse regulieren. Jasitzt denn ein Kommunist auf der Regierungsbank?
Machen Sie sich doch nicht lächerlich! Die ganze Welterkennt jetzt, dass Regulierung auf den internationalenFinanzmärkten notwendig ist, und Sie diffamieren oderdiskreditieren die Forderung nach Regulierung als Kom-munismus. Man fasst es wirklich nicht mehr.Zu der Frage, was zu tun ist, möchte ich jetzt einigePunkte ansprechen.Erstens zu einem Punkt, von dem Sie, Herr Bundes-finanzminister, nicht gesprochen haben. Wir sind derÜberzeugung – das möchte ich hier für meine Fraktionnoch einmal erklären –, dass das Wechselkursregimeheute völlig falsch ist, da es zu Spekulation verleitet, unddass daher ein seit 20 Jahren auf dem Tisch liegenderVorschlag aufgegriffen werden muss, nämlich die Stabi-lisierung der Wechselkurse der Leitwährungen, wozumittlerweile auch die chinesische Währung gehört. Esgeht um Zielzonen, die international bereits seit vielenJahren gefordert werden. Der Nobelpreisträger RobertMundell hat sie kürzlich in einem Interview der Frank-furter Allgemeinen Zeitung wieder gefordert. SolangeSie dazu nichts sagen, so lange werden Sie den erstenEinbruch nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-System nicht in Angriff nehmen.
Das Zweite ist die Regulierung des internationalenKapitalverkehrs. Das hatte der Herr Schmidt gemeint,Herr Bundesfinanzminister. Er hat schon vor 20 Jahrengesagt, dass man wie im Autoverkehr, wie im Schiffs-verkehr und wie im internationalen Flugverkehr Regelnbraucht. Oder nehmen Sie einen Spekulanten wie Soros,der gesagt hat: Wenn schon das Kapital in wenigen Mo-naten in eine kleine Volkswirtschaft hineinfließen kann– das war damals die Krise in Thailand –, dann mussman zumindest Ventile haben, damit das flüchtige Kapi-tal nicht von einem Tag auf den anderen wieder abfließtund so die ganze Volkswirtschaft ruiniert. – Also, dieKontrolle des internationalen Kapitals ist die zweite For-derung, die ich hier vortragen möchte.
Die dritte Forderung ist das Austrocknen der Steuer-oasen. Sie glauben doch nicht, dass Sie die Dinge in denGriff bekommen, dass Sie Ordnung in die internationa-len Finanzmärkte bekommen, wenn sich viele Industrie-staaten augenzwinkernd weiter Steueroasen halten, indenen Geld gewaschen wird und sich nicht versteuertesGeld immer mehr anhäuft.
Zu begrüßen ist, dass jetzt endlich erkannt ist: Manmuss die Ratingagenturen zumindest kontrollieren. Wirsagen: Die Ratingagenturen gehören in gesellschaftlicheVerantwortung. So wie es nicht sinnvoll wäre, die Zulas-sung von Medikamenten der Pharmaindustrie zu über-lassen, so wenig ist es sinnvoll, die Zulassung vonFinanzprodukten der Finanzindustrie zu überlassen.
Das ist eine unmögliche Vorgehensweise. Es ist anerken-nenswert, dass man das jetzt wenigstens erkannt hat.Natürlich brauchen wir internationale Regeln derBankenaufsicht. Die sind schon seit Jahrzehnten in Ar-beit. Es sind einige Verbesserungen erreicht worden.Aber sie haben offensichtlich nicht ausgereicht; sonsthätten wir die Fehlentwicklungen jetzt nicht. Solche Re-geln haben nur dann Sinn, wenn sich alle daran halten;davon – das muss ich fairerweise sagen – war schon dieRede.Kommen wir zu der eigenen Verantwortung. Es istimmer wunderbar, dass man auf die internationaleFinanzregulierung zeigt und die eigene Verantwortungnicht gelten lassen will. Da kann ich den Redner derFDP unterstützen. Sie hätten einmal über Ihre eigeneVerantwortung sprechen müssen. Ich möchte anführen,dass im Koalitionsvertrag genau das gefordert wordenist, was Sie hier kritisieren. Ich lese Ihnen einmal vor,was im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SDP unterdem Stichwort Finanzmarktpolitik steht:Produktinnovationen und neue Vertriebswege müs-sen nachdrücklich unterstützt werden.
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Oskar LafontaineWenn man beim Geldhandel schon von Produktinnova-tionen spricht, dann ist höchste Vorsicht geboten.Dazu wollen wir die Rahmenbedingungen für neueAnlagenklassen in Deutschland schaffen. Hierzugehören … der Ausbau des Verbriefungsmarktes …
Das ist genau der Schrott, der bei der IKB gehandeltwurde, wo auch noch ein Staatssekretär dabei saß. Siehaben es doch ermöglicht, dass dieser Schrott gehandeltwurde.
Das steht hier im Koalitionsvertrag. Wieso sagen Siedazu nichts? Sie stehen hier völlig mit in der Verantwor-tung.Dasselbe gilt natürlich für die Hedgefonds, die aller-dings unter der Vorgängerregierung zugelassen wordensind. Nachdem Sie die Folgen von Hebelwirkungen er-kannt haben, hätten Sie längst etwas unternehmen müs-sen, um dieses Treiben zu beenden, dass man sich zu1 Euro 40 Euro hinzu leiht und damit Finanzmärkte oderganze Unternehmen in Unordnung bringt.
Warum haben Sie nichts unternommen? Es ist ja jetzt sopassend, auf die USA zu zeigen und zu sagen, dort seialles ganz schlimm gewesen. Nein, packen Sie sich andie eigene Nase; dann haben Sie genug in der Hand,Herr Bundesfinanzminister! Stellen Sie sich einmal Ihrereigenen Verantwortung!
Was die Zweckgesellschaften angeht, ist es ja gut,dass über Basel irgendetwas gekommen ist. Sie saßendie ganze Zeit über dabei, vertreten durch Ihren Staats-sekretär, als die Risiken in den Zweckgesellschaften ver-steckt worden sind. Machen Sie deswegen hier nicht denClown, Herr Bundesfinanzminister. Sie tragen die Ver-antwortung für diese Fehlentwicklung und können nichtimmer so tun, als säßen Sie zwar dabei, hätten aber keineVerantwortung. Ihr Name ist doch nicht Hase; so viel ichweiß, ist er immer noch Steinbrück.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir stellenjetzt fest, dass die Formel von der Überlegenheit freierMärkte an die Wand gefahren wurde und dass wir jetztnicht mehr der Kontrolle der internationalen Finanz-märkte unterworfen sind, sondern dass die internationalenFinanzmärkte uns zwingen, aufgrund der Fehlentwicklun-gen Entscheidungen zu treffen, die kontraproduktiv sindund die wir gar nicht treffen wollten, weil sie mit großenVerlusten verbunden sind, deren Ausmaß noch niemandabsehen kann. Wir haben jetzt gelernt, dass die Aussage,wir könnten nicht gegen die internationalen Finanz-märkte regieren, umgedreht werden muss: Wir müssengegen die internationalen Finanzmärkte regieren, umendlich wieder Ordnung in das System zu bringen.
Im Grunde genommen geht es bei dieser Fragestellungzunächst natürlich um die Stabilisierung der internatio-nalen Finanzmärkte. In Bezug darauf ist eine Reihe vonEntscheidungen der letzten Zeit richtig gewesen; nichtalle, aus Zeitgründen kann ich darauf nicht weiter einge-hen.Das Thema, um das es hier geht, fasse ich in einemSatz zusammen: Es geht hier um die Wiederherstellungder Demokratie und des Sozialstaats.
Der nächste Redner ist Ludwig Stiegler für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als wirjetzt diese Zelebration von Selbstgerechtigkeit erlebt ha-ben,
habe ich mir im Stillen gedacht: Oh, Oskar!
Denn der Herr war einmal ein mächtiger Mann in dieserRepublik: Bundesfinanzminister und Parteivorsitzenderder SPD. Er hat damals schon Ansätze gehabt, sich umdie internationalen Märkte zu kümmern, und auch ersterobuste Gespräche geführt. Nachdem er nicht über Nachtzum Erfolg kam, ist er abgehauen.
Peer Steinbrück hat an Max Weber erinnert. MaxWeber hat einmal gesagt, Politik ist das Bohren harterBretter mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich. OskarLafontaine hat damals geglaubt, es sei ein Soufflé. Als erdann auf Granit oder auf hartes Holz gestoßen ist, ist ergeflüchtet. Der alte Cicero hätte gesagt: effugit, evasit,wie der alte Catilina, abgehauen. Aber hier jetzt selbst-gerechte Reden halten! Er hätte der Sankt Michael einesguten Finanzsystems werden können. Stattdessen ist erder Luzifer der PDS geworden.
Das ist wirklich schade; denn nur wenige hier in diesemHause hatten jemals eine solche Chance wie er, in Regie-rungsverantwortung die Welt so zu korrigieren, wie esdem eigenen Weltbild entspricht. Dazu gehören aberMarathonqualitäten: Ausdauer, Geduld und die Fähig-keit, wieder aufzustehen, nachdem man, wie jetzt die
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Ludwig StieglerAmerikaner, ganz gewaltig auf die Nase gefallen ist. Weraus der Verantwortung, die er übernommen hat, flüchtet– Gysi ist übrigens vom selben Typ –, sollte anderenkeine Predigten halten, meine Damen und Herren.
Natürlich stimmt es auch mich heiter, wenn ich sehe,wie hier in Deutschland manche Liberale in und außer-halb der FDP
vom Deregulierer zum Regulierer werden, wie plötzlichdie Bremser der Regulierung, nachdem das Kind in denBrunnen gefallen ist, vom Bremserhäuschen auf denFührerstand der Lokomotive drängen. Das erinnert michdirekt an Bond-Filme; das ist Bond-like. Es passt auchzu den Geschehnissen auf den Finanzmärkten, auf welchabenteuerliche Weise hier versucht wird, sich an dieSpitze zu setzen.Es waren Gerhard Schröder, Hans Eichel, PeerSteinbrück, die letzte und die derzeitige Bundesregierung,die im internationalen Gespräch mit den Engländern undden Amerikanern auf die Probleme hingewiesen haben.Nachdem Peer Steinbrück in der Haushaltsdebatte nochgemeint hat, ich hätte die Engländer vielleicht zu hartangegangen, habe ich mich gefreut, dass er mir heute einVorbild gegeben hat, wie heftig man auftreten und zu-gleich auf dem internationalen Parkett verkehren kann.Das hielt ich schon für eine tolle Sache.
Meine Damen und Herren, die Marktteilnehmer ha-ben versagt. Die Marktdisziplin war verschwunden.Oskar Lafontaine hat wiederum nicht recht, wenn ersagt, Transparenz alleine würde nicht helfen. Vielmehrist es so: Die Marktdisziplin hängt von der Transparenzab. Wenn die Leute wissen, welche faulen Eier jemandim Nest hat, dann werden sie zögern, ihm noch Geld fürden Kauf zusätzlicher fauler Eier zu geben. Deshalb istTransparenz das Erste und das Notwendigste.
Nun zur Regulierung: Ich war mit dem Kollegen Poßseit etwa zehn Jahren jährlich bei der amerikanischenCommunity. Wenn ich mir überlege, was die uns erzählthaben! Wenn wir schüchtern und diplomatisch zurück-haltend Regulierungsprobleme angesprochen haben,dann wurde uns entgegnet: Alles sei bestens. Ich habemir nun gestern Nacht die Anhörung von Paulson undBernanke vor dem Senat angetan. Da sagte der Paulsonplötzlich: Wir haben ein völlig überaltertes, kaputtes, mitvielen Löchern versehenes Regulierungssystem, das sei-ner Aufgabe nicht mehr gerecht geworden ist. Sie hattenaber damals die Macht, all dies zu vertuschen. Jetzt,nachdem sie auf die Nase gefallen sind, lassen sie end-lich die Hosen herunter. Was man da sieht, ist nicht sehrschön.
Meine Damen und Herren, diese Eingeständnisse sindhilfreich, wenn wir mit den Amerikanern darüber reden,in welcher Form die europäischen Banken, die in Ame-rika aktiv waren, an der Rettungsaktion, die da jetzt ab-läuft, beteiligt werden. Ich denke, eine Regierung, unterderen Augen sich die Subprime-Krise bis 2007 entwi-ckeln konnte und die zugeschaut hat, wie Betrüger Kre-dite ausgegeben und dann gebündelt weiterverkaufthaben, sollte darüber nachdenken, wie alle Marktteilneh-mer in der Welt, die man so hinters Licht geführt hat,entschädigt werden können. Das wäre die richtige Ant-wort und nicht die Behauptung, es sei eine Gnade, dassdie europäischen Banken mit Niederlassungen in Ame-rika an der Bewältigung der Krise teilhaben könnten.Stichwort Ratingagenturen: Ich kann mich erinnern,welche Aufregung von gewisser Seite kam, als JoachimPoß und Jörg-Otto Spiller dieses Thema hier im Parla-ment zur Sprache gebracht haben, und wie viele sich alsSchirmherren für die Ratingagenturen aufspielten. Jetztist endlich klar, dass diese Position unhaltbar ist.Oskar Lafontaine hat die Verbriefung angegriffen.Ich möchte ausdrücklich sagen, dass dies wieder so einIrrtum ist. Eine anständige Verbriefung wie zum Beispielder deutsche Pfandbrief oder die Standardisierung durchdie TSI in Frankfurt, die es auf dem deutschen Banken-platz gibt, ist ein Segen für die Finanzindustrie, weil dieMenschen wissen, was sie einzahlen und zurückbekom-men. Es geht also nicht um die Verbriefung als solche,sondern um betrügerische Aktivitäten im Umfeld derVerbriefung. Deshalb schlage ich vor, dass wir uns Ge-danken über ein deutsches Verbriefungsgesetz und eineDIN-Norm über die Verbriefung machen, damit wiederVertrauen in die Märkte zurückkehrt.
Dieses Originate to distribute Model ist in der jetzi-gen Phase gescheitert. Es ist übrigens bereits 2007 ge-scheitert. Denn wer die Indizes betrachtet, stellt fest,dass erst die Vintage 2007 zu diesen Problemen geführthat.Meine Damen und Herren, der Finanzminister hat dieBilanzierungsregeln nicht angesprochen. Ich denke,auch um die Bilanzierungsregeln werden wir uns zukümmern haben. Wenn die jetzige Situation unter demBilanzregime des soliden HGB erfolgt wäre, dann hättedie Beute in der Spitze nicht so groß und dann hätten dieAbschreibungen in der Flaute nicht so groß sein können.Das jetzige sogenannte Fair Value Accounting ist we-der fair noch beschreibt es einen Value. Es ist vielmehrdas Ergebnis derer, die in Quartalen denken und schnelleBeute wegschaffen wollen. Darüber hinaus müssen wiruns darum kümmern, dass nicht private Standardsetzerdie Buchführungsregeln bestimmen, sondern dass dieStaaten da wieder ein maßgebliches Wort mitreden.Auch die Europäische Union darf sich ihre Bilanzregelnnicht von der Wall Street diktieren lassen, sondern musseigene Bilanzregeln aufstellen.
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18988 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Ludwig StieglerMeine Damen und Herren, zum Stichwort Markt undStaat. Hier haben wir eben gelernt, dass all die Heldin-nen und Helden, die in guten Zeiten keinen Staat sehenwollen, in schlechten Zeiten in die sicheren Häfen flüch-ten. Wenn bei ihnen die Angst die Gier verdrängt, dannkaufen sie Dollaranleihen, selbst wenn diese nur Promil-lesätze an Rendite abwerfen. Deshalb haben wir auf-grund dieser Krise das moralische Recht, dass wir eineklare Neuordnung auf den Märkten vornehmen. Schließ-lich hat bereits Kant gesagt, dass die Freiheit durch dieGrenze definiert wird. Diesen Auftrag lassen wir unsnicht mehr nehmen. Uns steht in Amerika, in Englandund überall da, wo die Deregulierer gesiegt haben, nunein Fenster der Gelegenheit offen; selbst unsere Libera-len und die Liberalen außerhalb der FDP sind regulie-rungsfromm geworden. Lasst uns dieses Fenster nutzen,damit wir zu Finanzmärkten kommen, die der Realwirt-schaft und nicht der Spekulation dienen!
Das Wort erhält nun Fritz Kuhn für die Fraktion von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieVorstellung, dass man ungezügelt Risiken eingehenkann, um persönliche Gewinne zu erzielen und volks-wirtschaftliches Wachstum zu erzeugen, also dieses ver-meintliche Perpetuum mobile einer finanzmarktgetriebe-nen Ökonomie unendlicher Renditen, ist gescheitert. Ichglaube, dass man das so nüchtern und klar sagen muss.Es ist natürlich nicht nur – das ist mir wichtig – ein tech-nisches Problem von Regeln, sondern es ist auch ein mo-ralisches und grundlegendes Problem von Gesellschaf-ten, die sich dieser Vorstellung und Ideologieverschrieben haben.
Wenn Sie in der Realökonomie einer Industriegesell-schaft zum Beispiel im Industriebereich im langjährigenSchnitt Renditen zwischen 8 und 12 Prozent erreichenkönnen, dann ist die Vorstellung, dass Sie auf denFinanzmärkten Renditen von 25 Prozent erreichen kön-nen, eine Illusion. Was geschehen wird, wenn man diesglaubt, ist, dass die Risiken zurückschlagen, und das ha-ben sie getan. Das eigentliche politische Problem bestehtallerdings darin, dass die Risiken nicht bei denen zu-rückschlagen, die sie eingegangen sind – jedenfalls nichtin erster Linie –, sondern bei vielen Leuten, die mit denRisiken gar nichts zu tun hatten, zum Beispiel bei uns,den Steuerzahlern und Steuerzahlerinnen, die die Zechezahlen müssen.
Ich nenne einmal Zahlen, die die Dimension deutlichmachen: Gerade wird in den Vereinten Nationen darüberdiskutiert, dass zur Erreichung der Millennium Develop-ment Goals 70 Milliarden US-Dollar für ganz Afrikanotwendig wären, also 10 Prozent von den 700 Milliar-den US-Dollar, die jetzt zum Management der Finanz-marktkrise in den Vereinigten Staaten notwendig sind.Ich glaube, dieses Verhältnis sagt alles: Wir bringen die70 Milliarden US-Dollar für Afrika anscheinend nichtauf – jedenfalls ist man nicht gewillt –, aber die 700 Mil-liarden US-Dollar bringt man auf; man muss sie aufbrin-gen, weil sonst alles zusammenbricht. Über dieses mora-lische Missverhältnis müssen wir in der Tat reden.
Gescheitert ist eine neoliberale Konzeption einerMarktwirtschaft, die staatliche Regeln als Wachstums-bremsen versteht. Ich finde es übrigens interessant, dasssich zwei Parteien in Deutschland, nämlich die CDU unddie FDP, anschicken, die nächste Regierung zu bilden,die sich genau dieser Ideologie immer verschrieben ha-ben. Das muss an dieser Stelle auch einmal gesagt wer-den.
Früher war es, wenn es um Regeln oder gar Regulie-rungen für die Märkte ging, bei der CDU üblich, zu sa-gen, dies seien Fesseln für die Wirtschaft. Ich erinnerean eine Situation im Jahr 2001, als die Riester-Renteeingeführt wurde, und zwar mit strengen Kriterien – wirhaben damals darüber gestritten – in Bezug auf Riester-fähige Produkte, weil wir verhindern wollten – das hatLafontaine gerade vor lauter Aufregung übersehen –,dass das Geld der Leute, die für das Alter ansparen, inunregulierte, hochriskante Finanzanlagen gesteckt wird.Walter Riester hat damals Regeln und die entsprechendeZertifizierung gefordert, und wir haben das unterstützt.
Damals hat Frau Merkel, die jetzige Bundeskanzlerin,die sich heute für Regulierungen einsetzt, im Bundestaggesagt:Wir werden durch Ihre Reform ein bürokratischesMonstrum erleben mit einem zusätzlichen Zertifi-zierungsgesetz, mit Kriterien, von denen noch nie-mand weiß, wie sie erfüllt werden sollen, mitFondsstrukturen, über die das „Wall Street Journal“gestern nur einen einzigen Satz schreibt: „Die Aus-gestaltung dieser Fonds geht in die total falscheRichtung.“ Das ist die Bewertung der internationa-len Finanzwelt über das, was Sie hier vorgelegt ha-ben.Das war Frau Merkel 2001: gegen den Versuch, privatfür das Alter angespartes Geld in Deutschland durchklare Regulierung und Regeln zu schützen. Ich finde,Frau Merkel, da sollten Sie einmal einen Irrtum einge-stehen, denn da lagen Sie völlig falsch. Heute reden Sievon Regulierungen, wir haben sie schon damals notwen-digerweise gefordert.
Ich finde aber, Herr Lafontaine, was Sie hier veran-staltet haben, ist ein starkes Stück. Sie werfen alles in ei-
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Fritz Kuhnnen Topf. Das ist übrigens das Grundschema Ihrer politi-schen Rhetorik: Alles hängt mit allem zusammen, unddeswegen muss alles in einen Topf.
Sie sagen, weil die Finanzmärkte – da sind wir nicht aus-einander – jetzt versagt haben, sind auch alle anderen so-zialen Reformen einfach nicht richtig, und deswegenmuss man sie alle einkassieren. Was hat denn, bitteschön, das Problem in unserem Rentensystem, das auchein Demografieproblem ist, da der Altersaufbau der Ge-sellschaft die Rentensysteme in der Zukunft instabilmacht, mit der Finanzmarktkrise zu tun? Es hat garnichts damit zu tun!
Deswegen werden wir die private Säule der Alterssiche-rung in Deutschland nicht zurücknehmen, nur damit SieIhre billigen populistischen Reden halten können.
Wir haben in Bezug auf den demografischen Wan-del – so der OECD-Bericht zur Rente, den Sie einmalzur Kenntnis nehmen müssten – in Deutschland viel er-reicht; aber was wir noch nicht erreicht haben, ist einePrävention gegen aufwachsende Altersarmut. Da mussman tatsächlich etwas tun. Die richtige Antwort wäre ge-wesen, sich die Frage zu stellen, mit welcher weiterenRentenreform wir es schaffen können, Renten über dasGrundsicherungsniveau aufzuwerten; denn es kann inder Tat nicht sein, dass jemand, der sein Leben lang vollerwerbstätig war, nur das Grundsicherungsniveau derRente erreicht.
Herr Kollege Kuhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Schui?
Ja.
Herr Kollege Kuhn, ist Ihnen Folgendes bekannt:
Wenn man 25 Prozent Rendite einfährt, dann steigt der
Gewinnanteil am Volkseinkommen. Wenn der Gewinn-
anteil am Volkseinkommen steigt, muss notwendiger-
weise der Anteil sinken, der für soziale Zwecke ausgege-
ben wird, oder es müssen die Löhne sinken oder beides.
Infolgedessen muss man das eine mit dem anderen ver-
binden.
Würden Sie mir da recht geben?
Sie können sich wieder setzen; Ihre Frage ist schön,aber sie hat mit meiner Rede und mit meiner Argumenta-tion nichts zu tun.
Deswegen werde ich darauf nicht weiter eingehen.
Man muss natürlich die Frage stellen – da höre ichvon Herrn Steinbrück überhaupt nichts –, wer für dieKosten, die im Zuge der Bewältigung der internationalenFinanzmarktkrise auf uns zukommen, eigentlich auf-kommt. Die Antwort „Es kann nur der Steuerzahlersein“ – der Steuerzahler ist nämlich Leidtragender derBankabschreibungen, weil dadurch die Steuereinnahmendes Staates zurückgehen – ist mir zu fatalistisch.Deshalb sagen wir Grünen: Jetzt ist die Stunde derEinführung einer Börsenumsatzsteuer oder Finanz-umsatzsteuer,
weil wir die Finanzspekulationen damit begrenzen kön-nen und weil wir damit ein geeignetes Finanzinstrumen-tarium für notwendige Maßnahmen haben.
– Herr Dehm, für Ihr Leiden gibt es in jeder Apothekeein Zäpfchen mit Baldrian zur Beruhigung. Ich glaube,die richtige Strategie für Sie wäre: Schicken Sie jeman-den hin, oder gehen Sie selbst!Es wird hier streitig darüber diskutiert, ob es Markt-versagen oder Politikversagen ist. Ich finde diesen Streit,mit Verlaub gesagt, müßig. Marktversagen ist immerauch eine Form von Politikversagen,
weil in einer funktionierenden Marktwirtschaft die Poli-tik die Aufgabe hat, den Rahmen so zu setzen, dass dieFinanzmärkte nicht so leicht versagen können, wie diesheute der Fall ist.Im Unterschied zu Herrn Lafontaine sagen wir: Dawir solide Finanzmärkte brauchen – ohne Finanzmärktesind keine Investitionen möglich; dieser Aspekt kam beiIhnen nicht vor und das scheint Ihnen schnurzpiepegalzu sein –, brauchen wir ein neues System klarer Regelnfür diese Finanzmärkte, um ein Versagen, wie wir esjetzt erlebt haben, in der Zukunft ausschließen zu kön-nen.
Ich will es kurz machen. Dazu gehören eine effektiveRahmenordnung für die Ratingagenturen, eine europäi-sche Finanzkontrolle, die Unterlegung von Risiken beiVerbriefungen mit ausreichendem Eigenkapital sowiedie aufsichtsrechtlich und handelsrechtlich adäquate Er-fassung von Zweckgesellschaften, was heute noch nichtder Fall ist, und schließlich die Begrenzung der Anzahl
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18990 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Fritz Kuhnder Aufsichtsratsmandate. Angesichts der Situation beider KfW und bei anderen haben wir schon den Eindruck,dass zu einer Aufsichtsratkultur eine größere Qualifika-tion, ein besserer Überblick und mehr Zeit für die Aus-übung des Mandates, als dies heute der Fall ist, gehören.
Die Bundesregierung hat zwar wichtige Themen in-ternational auf die Tagesordnung gesetzt – HerrSteinbrück, das wollen wir nicht bestreiten –, aber mitBlick auf KfW, IKB und die Landesbanken muss mansagen, dass sie auf nationaler Ebene die Finanzkontrollenicht richtig koordiniert hat. Angesichts der Tatsache,dass im Zusammenhang mit der IKB insgesamt10,7 Milliarden Euro in den Sand gesetzt wurden, wer-den Sie, Herr Finanzminister, verstehen, dass meineFraktion genau untersuchen will, woran dies lag, wer da-für die Verantwortung trägt und wie die Verantwortlich-keiten zwischen KfW, IKB, Wirtschaftsministerium,Finanzministerium, BaFin und Bundesbank hin- undhergeschoben worden sind. Denn es ist kein normalerVorgang in einer Demokratie wie der unsrigen, dass ein-fach 10,7 Milliarden Euro in den Sand gesetzt werdenund dann nur gesagt wird, dass dies Gegenstand einerDiskussion auf einem G-7-Treffen ist.
Herr Finanzminister, da der Leiter der Abteilung 7 Ih-res Hauses Mitglied im Verwaltungsrat der BaFin und imAufsichtsrat der IKB ist und er für die Rechtsaufsichtüber die BaFin, die Bundesbank und die KfW zuständigist – er bereitet auch die Sitzungen des Verwaltungsratesder KfW vor –, müssen wir uns fragen, ob da nicht einesystematische und organisierte Unverantwortlichkeitstatt notwendiger Verantwortung vorliegt.
Obwohl die IKB ihre außerbilanzlichen Aktivitätenim Geschäftsbericht dargelegt hat, haben weder BaFinnoch Bundesbank noch BMF das davon ausgehendeRisikopotenzial adäquat eingeschätzt. Ich stelle dieFrage, ob sich diese Bundesregierung unter Ihrer Verant-wortung und auch unter der von Herrn Glos, der sich beidiesen Fragen immer verdrückt, der Verantwortung beimBeteiligungscontrolling überhaupt bewusst war. DieseFrage werden und müssen wir stellen. Wir hoffen darauf,dass die FDP sich besinnt und einem Untersuchungsaus-schuss zustimmt.
Ich will zum Abschluss noch etwas zu der Rolle derLandesbanken sagen. Es ist völlig klar, dass wir nachder bayerischen Landtagswahl erneute Diskussionsrun-den und wahrscheinlich auch die entsprechenden Fi-nanzprobleme bei einigen Landesbanken, vor allem beider bayerischen und bei der WestLB, erfahren werden.Ich finde, dass es notwendig ist, dass in diesen beidenBundesländern dann die Verantwortung, zum Beispielauch für unterlassene Reformen bei den Landesbanken,offen auf den Tisch gelegt wird.
Die Landesbanken haben im Zusammenhang mithoch spekulativen Finanzmarktprodukten ein viel zugroßes Rad gedreht. Ich finde, dass dies klar auf denTisch muss, weil darin Risiken, übrigens auch für dieSparkassenwelt, die jetzt zu Recht so gelobt worden ist,verborgen sind.Ein oder zwei Landesbanken sind nach unserer Über-zeugung für die Bundesrepublik Deutschland ausrei-chend. Sie haben die Aufgabe, passgenaue Finanzpro-dukte zu entwickeln, sodass die dezentrale Struktur derSparkassen ihnen im internationalen Finanzmarkt nichtzum Nachteil wird. Außerdem haben sie eine Zentral-institutsfunktion sowie eine Refinanzierungsfunktion,und sie müssen gerade für den Mittelstand Währungs-risiken absichern können. Das entscheidende Problem,das wir haben, ist doch, dass mittelständische Unterneh-men nicht ungeschützt in die Exporte und in die Globali-sierung gehen können.Die sächsische Landesregierung, Herr Finanzminis-ter, hat sich bei der Aufklärung im Untersuchungsaus-schuss und während der Krise bei der sächsischenLandesbank darauf berufen, dass sie selbst nur dieRechtsaufsicht habe, aber die Fachaufsicht bei der BaFinund beim Bundesfinanzministerium liege. Diese Rechts-auffassung ist zwar umstritten, aber ich möchte schondie Frage stellen: Warum hat eigentlich, als die BaFin inder Kritik an der sächsischen Landesbank nicht weiter-kam, niemand vom Bundesfinanzministerium eingegrif-fen und klargemacht, dass das Gebaren der sächsischenLandesbank nicht funktioniert?
Ich will damit sagen: Die Finanzmarktkontrolle inDeutschland ist insgesamt ein Problem, und deswegenerwarten wir als produktives Ergebnis eines Untersu-chungsausschusses auch, dass danach ein klares Bildentsteht, wie die Instrumente zu schärfen sind und einekluge Aufteilung der Finanzaufsicht in Deutschlandstattfindet, die wir bislang nicht haben.
Damit komme ich zum Schluss, liebe Kolleginnenund Kollegen. Es ist ein schwieriges Thema, es ist einwichtiges Thema. Man darf durch die internationale Dis-kussion nicht von den Hausaufgaben ablenken, die manin Deutschland machen muss. Deswegen werden wir dasGanze untersuchen. Ich hoffe, die FDP kann sich nochdazu durchringen. Den Entwurf des Rechnungshofsbe-richts werden Sie inzwischen gelesen haben. Auch die-ser macht deutlich, dass es ein Finanzaufsichtsproblemin Deutschland gab.Deswegen sollte jetzt jeder an seiner Stelle die Haus-aufgaben machen, und dann wird es in der Zukunft mitmehr Regeln eine Erneuerung der sozialen Marktwirt-schaft geben können, aber nicht – das sage ich Ihnen vo-raus –, wenn wir jetzt zwei Monate diskutieren. Dann in-teressiert dieses Thema niemanden mehr. Es ist einProblem, das wir oft in Deutschland haben, dass die The-men hochgehypt werden, und wenn es um neue Regelngeht, dann schwindet das Interesse. Arbeiten Sie deswe-
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Fritz Kuhngen alle daran mit, dass wir bessere Regeln bekommen,als wir sie in der Vergangenheit hatten.Vielen Dank.
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle-
gen Diether Dehm von der Fraktion Die Linke.
Herr Kuhn, Sie haben eben gesagt, es sei jetzt an der
Zeit, zur Devisenumsatzsteuer zu kommen. Das ist si-
cher richtig, aber Sie hatten diese Devisenumsatzsteuer
– genannt Tobin-Tax, nach dem Nobelpreisträger James
Tobin – vor Ihrer rot-grünen Koalition bereits gefordert,
und Sie haben, als Sie in der Koalition waren, nicht das
Mindeste dafür getan, dass eine solche Tobin-Tax, wie
von SPD und Grünen vor der vorletzten Bundestagswahl
gefordert, eingeführt und umgesetzt wird.
Hätten wir die Tobin-Tax, wäre diese Krise nicht mit sol-
cher Schwere über uns hereingebrochen. Es ist jetzt auch
an der Zeit. Nachdem James Tobin die Devisenumsatz-
steuer gefordert hat, wäre es aber schon damals und
immer an der Zeit gewesen. Sie haben versagt und ver-
suchen, mit wohlfeilen Phrasen darüber hinwegzutäu-
schen.
Kollege Kuhn, bitte.
Ich will es ganz kurz machen. Selbstverständlich ha-
ben wir in der Koalition über die Tobin-Tax, die es in-
zwischen übrigens in 25 Varianten in der internationalen
Diskussion gibt, gesprochen.
– Sie haben doch eine Frage gestellt, Herr Dehm.
Haben Sie ein Cholerikerproblem, oder was ist hier los?
Hören Sie doch zu. Kurzinterventionen haben doch nur
einen Sinn, wenn einen auch die Gegenmeinung interes-
siert.
Wir haben uns mit der Tobin-Tax beschäftigt. Ich will
Ihnen aber eine Illusion nehmen: Zu glauben, mit der
Einführung einer Börsenumsatzsteuer oder einer Tobin-
Tax, egal nach welchem Modell, wäre die jetzige Fi-
nanzmarktkrise zu verhindern gewesen, ist einfach dum-
mes Zeug und zeigt, dass Sie das Instrument, das Sie for-
dern, selbst überhaupt nicht verstehen. Sie sollten sich
noch einmal darüber informieren.
Das Wort hat nun Kollege Hans-Peter Friedrich,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Was Sie, Herr Lafontaine, hier abgeliefert ha-ben, war ein Beweis für Ihre große rhetorische Fähigkeit,mit der Sie die Wahrheit konsequent verbiegen.
Sie haben vor allem bewiesen, dass Sie sich Ihrer Ver-antwortung entziehen und das hinterher verschleiernkönnen. Ich finde es schäbig, dass Sie 1999 nach sechsMonaten Amtszeit aus dem Amt geflohen sind und ge-sagt haben: Das ist mir alles zu schwierig.
Ich will aber auch etwas Inhaltliches sagen. Die Sach-verständigen sind sich heute einig, dass der Auslöser fürdie Finanzmarktkrise die seit 2003 in den USA betrie-bene Politik der niedrigen Zinsen ist. Ich möchte Sie da-ran erinnern, dass Sie als Bundesfinanzminister damalsin mindestens jeder zweiten Rede nach einer Politik desbilligen Geldes gerufen haben. Sie haben gesagt: DieZinsen müssen gesenkt werden. – Wären wir Ihnen ge-folgt, wären wir heute arm dran.
Die Finanzmarktkrise macht zwei Dinge deutlich:Erstens. Finanzmärkte brauchen Spielregeln, um ihredienende Funktion für die Marktwirtschaft zuverlässigausfüllen zu können. Damit ist noch nicht gesagt, werdiese Spielregeln aufstellt. Damit ist auch noch nicht ge-sagt, wie flexibel diese Spielregeln sind. Damit ist nurgesagt, dass sie gelten müssen und eingehalten werdenmüssen.Herr Kuhn, ich sage Ihnen eines: Völlig sinnlos ist es,die eigenen, die nationalen Akteure auf den Finanzmärk-ten mit Fesseln zu belegen, sodass sie ihre internationaleWettbewerbsfähigkeit verlieren. Was wir in der Vergan-genheit wollten und in der Gegenwart wollen, sindSpielregeln für den internationalen Bereich. Mit Basel IIhat sozusagen eine Ausweitung auf die globalen Finanz-märkte begonnen. Wir wollen aber auch verhindern– das wollten wir in der Vergangenheit, das wollen wir inder Gegenwart und in der Zukunft –, dass unsere natio-nalen Finanzmarktakteure gegenüber den Wettbewer-bern in anderen Ländern benachteiligt werden. Dazu ste-hen wir.
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18992 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Dr. Hans-Peter Friedrich
Ich denke, wir sollten der Bundesbank bei der Frage,wer die Einhaltung der Spielregeln überwacht, eine be-sondere Bedeutung beimessen. Die Bundesbank hat inder schwierigen Situation der letzten zwölf Monate im-mer wieder bewiesen, dass sie die Dinge mit sehr vielSachverstand und Expertise in den Griff bekommenkann. Ich denke, wir sollten unbedingt über eine Stär-kung der Rolle der Bundesbank nachdenken.Das Zweite, was die Finanzmarktkrise deutlichmacht, ist, dass die deutsche Bankenlandschaft, die oftals renditeschwach, verstaubt und altmodisch verspottetwurde – der Minister hat das heute Morgen sehr deutlichausgeführt –, viel besser ist als ihr Ruf. Sie trägt dazubei, dass wir heute, in dieser schwierigen Situation, bes-ser dastehen als andere Länder. Das kann aber nicht da-rüber hinwegtäuschen, dass die Finanzmarktkrise auf-grund ihres Ausmaßes Auswirkungen auf die Wirtschaft,auf die Konjunktur, auf die Situation in Deutschland ins-gesamt haben wird, und zwar in erster Linie über dasNachlassen der Nachfrage aus dem Ausland, also überden außenwirtschaftlichen Kanal. Denn diejenigen Im-mobilienbesitzer in den USA, in Spanien und in Groß-britannien, die noch vor wenigen Monaten glaubten, sieseien reich, weil sie eine teure Immobilie haben, undjetzt wissen, dass sie es nicht sind, fragen auch nichtdeutsche Produkte nach. Insofern werden wir natürlicheine Nachfragedelle bekommen.In dieser Situation ist es wichtig, dass die deutscheWirtschaft in den letzten drei Jahren, in der Zeit der Gro-ßen Koalition, gegen externe Schocks und gegen nach-lassende Konjunktur widerstandsfähiger geworden ist.Die Unternehmen haben zusammen mit den Arbeitneh-mern ihre Hausaufgaben gemacht. Zum Teil warenschmerzhafte Anpassungsprozesse notwendig, die jetztvon der Linken genutzt werden, um gegen die Markt-wirtschaft zu agitieren. Ich sage aber: Diese Anpas-sungsprozesse haben dazu beigetragen, dass die sozialeMarktwirtschaft gestärkt wird und dass unsere Wirt-schaft heute diesen Herausforderungen der internationa-len Krise wettbewerbsfähig und stark begegnen kann.Insgesamt hat die gute Ertragslage in den vergange-nen Jahren dazu beigetragen, dass die Eigenkapitalaus-stattung der Unternehmen, die notwendig ist, bis heuteverbessert wurde, dass eine gewisse Innenfinanzierungder Unternehmen möglich wird und dass sie weniger aufKredite angewiesen sind als Unternehmen in Volkswirt-schaften anderer Länder. Dennoch bleiben Kredite in ei-ner Wirtschaft wichtig. Es ist erfreulich und erstaunlichzugleich, wie attraktiv die Kreditbedingungen für dieKreditnehmer trotz alledem in der aktuellen Situationgeblieben sind. Der Grund ist – auch ich möchte daswiederholen, weil es wahr ist und nicht oft genug gesagtwerden kann –, dass wir ein Sparkassen- und Genos-senschaftssystem haben, das stabil und gesund ist undsich über Privateinlagen relativ leicht finanzieren kann.Die drei Säulen – private, öffentliche und genossen-schaftliche Banken – haben sich auch in turbulenten Zei-ten bewährt. Herr Minister, ich sage Ihnen unsere Unter-stützung zu, wenn es darum geht, in Brüssel bei derEuropäischen Kommission für diese drei Säulen der Sta-bilität unseres Finanzwesens zu kämpfen.
Das deutsche System der Universalbanken zeigt, dassin der Krise am Ende die Solidität entscheidend ist. DieModen, die hin und wieder zu unsolidem Handeln verlo-cken mögen, wurden von dieser Bundesregierung in denletzten drei Jahren richtigerweise zurückgewiesen. Dasgilt im Übrigen auch, wenn ich das sagen darf, für dasdeutsche Versicherungswesen. Die deutschen Versiche-rer haben traditionell einen Anlageanteil, der sehr wenigrisikoreich ist. Insofern haben wir auch hier einen stabi-len Anker für die Finanzsituation in Deutschland.Dennoch hat die Eigenkapitalausstattung der deut-schen Banken in den letzten Monaten gelitten. MancherBanker in Deutschland hat sich von der Euphorie anste-cken lassen und ist Risiken eingegangen, die er selbernicht überblickt. Aber auch hier gilt: In jeder Krise liegteine Chance. Diese Finanzkrise bietet die Chance, dasssich Banken in Deutschland auf die heimischen Kredit-märkte besinnen, auf die Märkte, die man überblickenkann und denen die solide Substanz des deutschen Mit-telstandes zugrunde liegt. Jeder von uns hat in seinerPraxis als Abgeordneter schon erlebt, dass deutscheBanken bzw. Kreditinstitute Mittelständlern Kredite ver-weigert haben, weil sie nicht genügend Sicherheiten bie-ten konnten. Dieselben Kreditinstitute haben sich nichtabhalten lassen, internationale Finanzprodukte zu kau-fen, deren Risiko sie aufgrund der Komplexität über-haupt nicht überblicken konnten. Der schnelle Gewinnauf den anonymen Finanzmärkten war verlockender alsdie mühsamen Kreditverhandlungen mit den mittelstän-dischen Unternehmen. Das sollte Warnung und Lehre fürunsere Banken in Deutschland sein.
Der Direktor des Instituts für Wirtschaft, ProfessorMichael Hüther, hat dazu am 19. September im Handels-blatt geschrieben:Banken brauchen einen festen Anker im heimi-schen Markt, das klassische Geschäft mit Privat-kunden und Unternehmen wird seine Bedeutung si-chern. Jeweils steht das hohe Gut Vertrauen imMittelpunkt, das eine Anonymisierung nur in Gren-zen verträgt.Ja, das Risiko einer Kreditgewährung im eigenenUmfeld ist erfassbar. Es ist besser erfassbar als dieanonymen Risiken irgendwo jenseits des Atlantiks, diein irgendwelchen Verbriefungen gebündelt werden undderen Risiko überhaupt nicht mehr zuordenbar war.Es bleibt deswegen in der Krise die Hoffnung, dassdie Banken an die Realwirtschaft in Deutschland wiedernäher heranrücken und sich auf die Solidität und dieSubstanz des deutschen Mittelstandes besinnen. Eines istklar: Kurzfristig mag man an den Finanzmärkten traum-hafte und verlockende Gewinnchancen haben; aber lang-fristig zählt nur die Substanz dessen, was auf der Weltwirklich erwirtschaftet und erarbeitet wird.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 18993
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Dr. Hans-Peter Friedrich
Deswegen tun alle Akteure im Finanz- wie im Wirt-schaftsbereich gut daran, zwischendurch immer wiedereinmal zu fragen: Wo ist eigentlich die Substanz all des-sen, was sich da an Gewinnen und Erträgen aufbaut?Hätte man die Frage „Wo ist die Substanz?“ schon 2000/2001 in der Dotcom-Krise gestellt, wären so mancheEnttäuschung und so manches Desaster vielleicht ausge-blieben.Je komplexer die Finanzinstrumente werden, umsomehr sind Aufklärung, Information und Vertrauen not-wendig. Dennoch: Jedes Kreditgeschäft ist ein Risikoge-schäft, und es muss auch Kreditgeschäfte mit hohen Ri-siken geben. Denken Sie an den jungen Mann, denExistenzgründer, der eine Geschäftsidee, eine Innova-tion, eine Erfindung hat, aber kein Geld, kein Eigenkapi-tal. Er muss jemanden finden, der das Risiko eingeht,ihm dieses Geld zu geben, mit der Aussicht, entwedermit ihm reich zu werden oder alles zu verlieren. Er findetnur dann jemanden, wenn der Betreffende in der Lageist, dieses hohe Risiko in kleine Scheiben aufzuteilenund auf viele Schultern zu verteilen.Deswegen sind innovative, moderne Finanzinstru-mente an den Finanzmärkten notwendig, um Risiko zustreuen. Manches große Projekt ist nur realisierbar, wennRisiken auf die Schultern vieler verteilt werden. DieseSpielräume müssen wir den Finanzmärkten lassen. Ichsage das im Hinblick auf die Regulierungseuphorie, diejetzt als Reaktion auf die Deregulierungseuphorie, diewir vorher hatten – das Pendel schlägt sozusagen in dieGegenrichtung aus –, folgt.Wir brauchen strengere Anforderungen an die Rating-agenturen, ohne Frage.
Es kann nicht sein, dass diejenigen, die Risiken beurtei-len und Kategorien von Risiken bilden, auf die anderevertrauen, an den Finanzprodukten, die sie beurteilensollen, selber mitverdienen; deswegen müssen wir dieInteressenkonflikte, die sich bei den Ratingagenturenaufbauen, beseitigen. Das ist eines der wichtigen The-men.Aber täuschen wir uns nicht: Ein Kredit bleibt immereine Frage von Risiko, von Vertrauen. Beide Kategorien,„Risiko“ und „Vertrauen“, können nicht durch Gesetzeund nicht durch Verordnungen ersetzt werden. Auch da-rüber sollten wir uns im Klaren sein. Deswegen wäre esein verheerender Fehler, wenn wir, wie das gefordert wird,staatlich autorisierte oder staatliche Ratingagenturen ein-richten würden. Kein Mensch kann nämlich wirklichernsthaft daran denken, dass wir mit solchen staatlichenRatingagenturen, mit denen wir quasi ein Qualitätssiegelfür Finanzprodukte schaffen würden, den Managern, denhochbezahlten Akteuren am Finanzmarkt, ihr Risiko undihr Geschäft abnehmen. Dieses Risiko und dieses Ge-schäft müssen sie schon selber betreiben; denn dafürwerden sie gut und hoch bezahlt.Wir brauchen – auch das ist ein Appell vieler Sach-verständiger in dieser Frage und in dieser Zeit – mehrLangfristorientierung an den Finanzmärkten. Das Wort„Nachhaltigkeit“ aus dem Bereich des Umwelt- und Kli-maschutzes muss, auch als Kategorie, noch mehr Ein-gang in die Finanz- und Wirtschaftspolitik finden.Langfristiges Denken hat in Deutschland, sowohl imWirtschafts- als auch im Finanzbereich, Tradition. Den-ken wir gemeinsam an den Mittelstand und die deut-schen Familienunternehmen: Sie denken langfristig, siedenken über Generationen, sie denken nachhaltig. Siesind der stabile Faktor in unserem wirtschaftlichen Ge-schehen. Ich appelliere an den Koalitionspartner, in die-sem Zusammenhang bei der Diskussion um die Erb-schaftsteuer
diesen Gesichtspunkt nicht zu unterschätzen.
Die Krise ist nicht ausgestanden. Aber Deutschland,die deutsche Wirtschaft und die deutschen Finanzakteuresind gut aufgestellt und können die Krise besser verkraf-ten als andere. Es besteht wahrlich kein Grund zum Ju-bel, aber auch kein Grund zum Pessimismus.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Rainer Brüderle, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die dra-matische Entwicklung auf den internationalen Finanz-märkten hat gravierende Auswirkungen. Keiner kann sieabschließend bewerten. Niemand hat angesichts derkomplizierten Lage einfache und perfekte Lösungen zurHand.Aber ganz so überraschend kam das alles nicht – außerfür die Bundesregierung. Die internationale Finanzkrisemusste erst deutliche Spuren in Deutschland hinterlassen,bevor auch der Finanzminister endlich aufgewacht ist.Als die Finanzmärkte beim G-7-Finanzministertreffenim Frühjahr letzten Jahres international zum politischenThema wurden, war er auf Safari. Die Europäische Zen-tralbank hat seit über einem Jahr vor dieser Entwicklunggewarnt. Der Sachverständigenrat hat im letzten Jahrden Risiken auf dem Finanzmarkt ein ganzes Kapitel ge-widmet. Nichts ist geschehen, um sich auf diese Risikenvorzubereiten.Aber Sie haben auch schon als Landesminister imKreditausschuss der WestLB nicht an den Sitzungen teil-genommen und sich für derartige Fragen nicht besondersengagiert. Im Zusammenhang mit der IKB-Krise ist dieBeförderung Ihres Stellvertreters im Aufsichtsrat zumStaatssekretär bemerkenswert. Es wird nicht genügen,
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Rainer Brüderlebei der KfW zwei Vorstände als Bauernopfer hinauszu-werfen. Die KfW hat ein Strukturproblem. Die Struk-tur ist nicht stimmig. Sie muss geändert werden.
Ich sage hier nur: Wenn es dem Esel zu wohl wird,geht er aufs Eis. Es ist fatal, wenn ein solches Institut an-fängt, Banker zu spielen. Der Einkauf bei der IKB unddie Führung dieser Bank kennzeichnen eine Misere, fürdie der Steuerzahler hart bezahlen muss. Der Unter-schied zwischen der Entwicklung in den VereinigtenStaaten und der in Deutschland ist: In den VereinigtenStaaten wurde auf den Finanzmärkten ohne Schiedsrich-ter gespielt. In Deutschland haben die Schiedsrichtermitgespielt. Das ist das Fatale.
Es ist auffällig, wie die Marktstrukturen verteilt sind.Die Sparkassen haben einen Marktanteil von 50 Prozentund die Genossenschaftsbanken von 15 Prozent: ZweiDrittel der deutschen Banken sind also staatlich odervergesellschaftet.
– Dagegen habe ich nichts. Aber auffällig ist, dass beiden Landesbanken, die politisch determiniert sind – dieVorstände werden nicht nach Qualität, sondern nach derFarbenlehre rekrutiert – und deren Aufsichtsgremien po-litisch besetzt werden, der größte Mist geschehen ist. Eswurde gestern von Frau Professor Müller auf einer Ta-gung in der Humboldt-Universität gesagt, dass an deninternationalen Finanzmärkten die Regel galt: If youcan’t sell it, sell it to the Landesbank. – Das ist eine trau-rige Entwicklung.Die Konsequenz kann aber nicht sein, dass der Staatsich noch mehr in das Bankengeschäft einmischt. Diegeniale Lösung der sozialen Marktwirtschaft ist, denWettbewerb als Entmachtungsinstrument funktionsfähigzu halten. Es sind in der Tat keine entsprechenden Re-geln geschaffen worden, und diejenigen, die es gibt, sindnicht eingehalten worden. Grundlegende Prinzipienmüssen beachtet werden. Schon einer der Gründungsvä-ter, Walter Eucken, hat gewarnt, dass etwas schief läuft,wenn zwei Dinge eintreten: Kartellierung, sprich eineungesunde Konzentration, und Punktualismus, also das,was die Amerikaner machen. Bei der einen Bank greifensie ein, die andere lassen sie Konkurs gehen. Nach wel-chen Kriterien das geschieht, ist nicht nachvollziehbar.Bei Bear Stearns übernimmt man einen Notenbankkreditvon 35 Milliarden Dollar, also auf gut Deutsch: Mandruckt Geld. Die Lehman Brothers Bank lässt man inKonkurs gehen. Wer entscheidet das? Der heilige Pries-terrat, der Senatsführer? Genau das ist der Verstoß gegendie Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft.
Die Gegner der sozialen Marktwirtschaft von linksaußen wie von rechts außen wittern jetzt Morgenluft:Die Finanzmärkte sollen kontrolliert und Familienunter-nehmen verstaatlicht werden. – Ja, Kontrollen müssensein, Regeln müssen verändert und auch strikter formu-liert werden. Es kann aber kein Ersatz sein, die Dinge,statt sie der Marktentwicklung zu überlassen, durch neuestaatliche Behörden zu gestalten. Das wäre genau diefalsche Schlussfolgerung.
Die soziale Marktwirtschaft verträgt viele rostige Nä-gel. Man kann aber auch so viele in sie hineinschütten,dass sie sich übergeben muss. Man muss die Grund-strukturen in Ordnung bringen. Das gilt nicht nur hier.Man muss sich auch fragen, ob die Verfassung in denBetrieben funktioniert, ob die Aufsichtsräte nicht zugroß sind bzw. ob sie in der Lage sind, ihre Funktionenauszuüben. Ich war immer für eine Begrenzung der Zahlder Mandate auf maximal fünf, wobei ein Aufsichtsrats-vorsitz doppelt zählen sollte. Ich kenne niemanden, dernebenbei 20 Mandate wahrnehmen kann.
Früher wurde die Zahl der Aufsichtsratsmandate durchdie Lex Abs begrenzt. Bis heute hat die Häufung vonAufsichtsratsmandaten allerdings stark zugenommen.Funktioniert denn die paritätische Mitbestimmung in denBetrieben?
Stimmen die Verfassungen in den Betrieben? Ist das inOrdnung?Wurde nicht auch in anderen Bereichen, etwa imEnergiesektor, eine so große Konzentration zugelassen,dass man sagen kann: Auch hier funktioniert der Wettbe-werb nicht richtig? Beispiele sind Eon Ruhrgas mit ei-nem Marktanteil von mehr als 80 Prozent, und dieStromversorger, die quasi abgezirkelte Versorgungsge-biete haben. In all diesen Fällen handelt es sich um Ver-stöße gegen Prinzipen der sozialen Marktwirtschaft.Ich bin dafür, dass wir auch wieder über die Grundla-gen von Wirtschaftsordnungen diskutieren. Diejenigen,die immer wieder nach Gutsherrenart eingreifen wollen,dürfen es nicht leicht haben. Denn solche Eingriffe sinddie rostigen Nägel, von denen ich eben sprach. Die Prin-zipien der sozialen Marktwirtschaft müssen wieder mehrbeachtet werden, damit sie funktioniert und damit dieFeinde der sozialen Marktwirtschaft nicht die Oberhandgewinnen. Marktwirtschaft ist allemal besser als Plan-wirtschaft. Wir dürfen nicht jeden Unsinn der deutschenGeschichte wiederholen!
Meine Damen und Herren, der entscheidende Punktist, dass jetzt auch die Politik Konsequenzen zieht. Wirmüssen die Situation in Ordnung bringen. Der Staatmuss sich aus den Landesbanken zurückziehen. Dorthat er nämlich nichts zu suchen. Sie haben kein Ge-schäftsmodell.
– Meine Platte ist richtig, Herr Poß. Sie haben das nurnoch nicht genug inhaliert. Seien Sie doch einmal ehr-lich! Auch Sie wissen doch, wie traurig die WestLB ist,weil sie das Geld des Steuerzahlers verbrannt hat. In
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Rainer BrüderleRheinland-Pfalz müssten Sie mir eigentlich ein Denkmalsetzen. Denn die Landesbank Rheinland-Pfalz habe ichrechtzeitig verkauft. Sie hat sogar noch Geld einge-bracht.
Alle anderen Länder müssen jetzt Geld nachschießen.Sie müssen dafür zahlen, dass der eine oder andere, derBanker spielen wollte, unfähig war.
Dafür müssen die Steuerzahler, die für die Steuergro-schen hart arbeiten, zahlen.
Hier wurde Misswirtschaft betrieben. Es werden aberkeine Konsequenzen gezogen. Ich frage mich manch-mal: Wie viele Milliarden muss man in Deutschland ei-gentlich verdummbeuteln, bevor endlich Konsequenzengezogen werden?
Es gibt weitere Maßnahmen, die ergriffen werdenmüssen. Die Ratingagenturen müssen unabhängig sein.Wenn derjenige, der einen Test bestellt, dafür bezahlt,bekommt er das Ergebnis, das er bestellt hat. Ich frageSie: Wer hat die Banker daran gehindert, selbst zu den-ken, anstatt mechanisch nach Ratings vorzugehen?
In den Banken arbeiteten viele 30-Jährige – nichts ge-gen 30-Jährige! –, die nicht viel Lebenserfahrung hatten,die aber meinten, die Welt anhand von Computermodel-len steuern zu können. Sie haben aber nur herumgespielt.Sie haben Casino gespielt. Die Vorstände der Banken ha-ben sie spielen lassen, weil sich das lange Zeit rentierthat. Es ist eine Frage des Formats der Führungspersön-lichkeiten, wie sie ihre Aufgaben wahrnehmen.
Kollege Brüderle, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Kuhn?
Sehr gern; denn meine Redezeit ist fast abgelaufen.
Herr Brüderle, ich teile Ihre Auffassung zur rhein-
land-pfälzischen Landesbank. Allerdings habe ich ge-
rade vergessen, wie die Partei heißt, die in Nordrhein-
Westfalen gegenwärtig mit der CDU koaliert und dort et-
was verändern könnte.
Lieber Herr Kuhn, auch Ihnen wird nicht entgangen
sein, dass die Geschehnisse bei der WestLB, das Fehl-
verhalten und das Fehlsteuern, lange Zeit vor dem An-
tritt der neuen Landesregierung stattgefunden haben.
Mit dem, was sie vorgefunden hat, musste sie ver-
nünftig umgehen. Die vorherigen Landesregierungen in
NRW haben Industriepolitik gespielt und sich überall
eingekauft. Das ging schief. Ich traue der neuen Landes-
regierung zu, dass sie dieses Problem bald löst und sich
endlich aus der Umklammerung befreit; denn alle müs-
sen drauflegen. Es wird kein Geld verdient, sondern es
wird Geld verbrannt. Dieses Geld könnten wir für Bil-
dung, für Schulen, für die Umwelt und viele andere Be-
reiche sinnvoll verwenden.
Dem müssten selbst Sie zustimmen, auch wenn Sie jetzt
schreien, weil Sie das nicht verstehen.
– Wir stellen nicht den Wirtschaftsminister in NRW, was
sicherlich ein Fehler ist.
Zurück zu den Kernpositionen. Wir müssen diese Ge-
legenheit ergreifen, eine Systemdebatte zu führen, damit
denjenigen, die, sich in einem Kostüm verbergend, et-
was anderes wollen, das Handwerk gelegt wird. Die
Schwachstellen müssen beseitigt werden, die Mechanis-
men müssen wieder wirken können, und die Grundprin-
zipien müssen wieder beachtet werden. Dann funktio-
niert das auch.
Alles andere wäre eine schlechtere Lösung. Haben
wir den Mut, diese Debatte offensiv zu führen!
Das Wort hat nun Nina Hauer für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Herr Brüderle, aufgrund Ihrer Regierungszugehö-rigkeit in Nordrhein-Westfalen hatten Sie drei Jahre langZeit, bei der WestLB aufzuräumen. Ich glaube, das istIhnen nicht mehr rechtzeitig eingefallen. Deswegen ha-ben Sie sich hier vergaloppiert.
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Nina HauerIch sehe schon, dass Opposition für Sie ein schwieri-ges Geschäft ist; denn sonst würden Sie hier ja nichtverzweifelt versuchen, eine Krise, die in den USA ent-standen ist und dort ihre Auswirkungen hat, der Bundes-regierung in die Schuhe zu schieben. Sie erwecken damitbei den Menschen nicht nur den Eindruck, dass die Poli-tik das alles hätte verhindern können, sondern Sie lenkendamit auch vom Versagen und von Fehleinschätzungender Bankmanager und einem Verhalten ab, mit dem ohnejedes Maß an Verantwortung Risiken eingegangen wur-den.
Herr Minister, ich teile das, was Sie hier zu den Rating-agenturen gesagt haben. Man muss doch einmal sagen:Wenn ich jemandem Geld leihe, dann lasse ich nicht nurdie Ausfallwahrscheinlichkeit des Kredits durch eineRatingagentur berechnen, sondern dann prüfe ich dochauch, wem, in welchem Marktumfeld und für was ichihm das Geld gebe. Deswegen ist ein Instrument wie dasVotum einer Ratingagentur immer nur so gut wie derManager, der dieses Instrument nutzt. Da das in diesemFall nicht geprüft wurde, finde ich, dass man schon sa-gen muss, dass in dieser Branche ein komplettes Versa-gen vorliegt. Das ist dafür verantwortlich, dass wir jetztin dieser Situation sind. Wir können froh sein, dass wirin Deutschland nicht in diesem Maße betroffen sind.Der Minister hat ja einiges dazu gesagt: Das liegt anunserem Bankensystem und an unserem Wirtschaftssys-tem, aber auch daran, dass wir für mehr Transparenzund Verantwortung auf den internationalen Finanz-märkten in den letzten zehn Jahren sozialdemokrati-scher Verantwortung in diesem Ministerium einiges er-reicht und auf den Weg gebracht haben.
Einige Voten und Beiträge der Opposition dazu sindmir noch gut in Erinnerung. Wir haben hier Basel II um-gesetzt; dazu gab es ja eine internationale Vereinbarung.Man sieht in den USA jetzt das Missverhältnis zwischendem Risiko, der Eigenkapitalunterlegung und der Er-tragslage. Die außerbilanziellen Geschäfte, die auch inder IKB getätigt worden sind, sind mit Basel II nichtohne Weiteres möglich. Diese Regeln waren damals abernoch nicht in Kraft. Es hat offensichtlich auch einenHintergrund, dass sich die USA bisher geweigert haben,Basel II in ihre nationale Gesetzgebung zu implementie-ren.Die PDS hat sich damals übrigens enthalten. Ihnengeht ja immer alles nicht weit genug. Damit haben Sieaber nicht viel zu mehr Sicherheit, Stabilität und Trans-parenz auf den Finanzmärkten beigetragen.
Ich erinnere einmal an die Umsetzung der Transpa-renzrichtlinie, mit der die Meldepflicht für Stimmrechteab einer Schwelle von 3 Prozent eingeführt wurde. Seitder Übernahme von Continental durch die Schaeffler-Gruppe ist es in der FDP diesbezüglich ruhig geworden.Sie waren damals dagegen und haben gesagt, 3 Prozentseien zu wenig. Heute sehen wir, dass wir mit 3 Prozentschon gut gefahren wären. Nachdem später das Risiko-begrenzungsgesetz hinzugekommen ist, wäre eine sol-che Übernahme zwar auch noch möglich gewesen, abersie wäre viel früher deutlich geworden. Dadurch wäredem Zielunternehmen die Chance gegeben worden, sichentsprechend dazu zu verhalten.Die Berichtspflichten für börsenorientierte Unterneh-men haben wir durch die Umsetzung der Transparenz-richtlinie ebenfalls eingeführt. Diese gibt es in den USAzwar auch, aber nicht in dem Maße, wie es sie nach derUmsetzung der europäischen Richtlinie hier in Deutsch-land gibt.Durch das Risikobegrenzungsgesetz haben wir dafürgesorgt, dass Aktien und vergleichbare Positionen hin-sichtlich der Meldeschwellen zusammengerechnet wer-den. Das heißt, wenn dieses Gesetz schon früher in Kraftgetreten wäre, dann wäre das, was die Schaeffler-Gruppegeplant hatte, klarer erkennbar gewesen. Das gilt auchfür Fälle in der Zukunft. Das „acting in concert“ – alsoAbsprachen zum gemeinsamen Vorgehen von Aktionä-ren – wird transparenter. Verbotene Absprachen werdenleichter nachweisbar. Die FDP hat im Ausschuss mit derBegründung dagegen gestimmt, dass neue Transparenz-regelungen zum damaligen Zeitpunkt noch nicht vom Fi-nanzmarkt verkraftet würden.
Dann sollten Sie aber jetzt nicht behaupten, dass derdeutsche Gesetzgeber für das, was in den USA angerich-tet worden ist, irgendeine Verantwortung hat.
Dann hätten Sie sich an der Einführung von mehr Trans-parenz an den Finanzmärkten beteiligen müssen. Dashätte besser zu Ihrer Rolle gepasst.Es ärgert mich, dass die Bürgerinnen und Bürger inden USA, die ihre Kredite nicht zurückzahlen können, inder Debatte keine Rolle spielen. Auch das wäre bei unsanders. Wir haben in den letzten Jahren einiges vorange-bracht, damit sich auch private Anleger, die wenig Ka-pital am Finanzmarkt anlegen, darauf verlassen können,dass klare Regeln gelten. Ein Beispiel ist die Haftung fürfalsche Wertpapierprospekte. Produkte, deren Zinsennach drei, vier Jahren ins Astronomische steigen, sind inDeutschland offenlegungspflichtig. Jeder, der in dieseProdukte investiert, hätte das nachlesen können.Wir haben über die Verbriefungen gesprochen. DieVerbriefungen können von vielen Mittelständlern alsAusweg genutzt werden, wenn sie von den Banken keineKredite bekommen. Das betrifft übrigens nicht die Spar-kassen, sondern vor allem die vornehmen Geschäfts-
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Nina Hauerbanken – ich komme ja aus der Nähe von Frankfurt –,die lieber Investmentgeschäfte gemacht haben, als klei-nen Mittelständlern Geld zur Verfügung zu stellen. DieVerbriefungen waren eine Chance, diese Situation zu än-dern. Deswegen haben wir das vorangetrieben. Es istvorhin kritisiert worden, dass das im Koalitionsvertragvereinbart wurde. Dass das, was verbrieft wird – das giltauch für das, was nicht in Aktien verbrieft wird –, offen-legungspflichtig ist und nicht am grauen Kapitalmarktuntergeht, verdanken Sie den Aktivitäten dieser Bundes-regierung. Damit sind wir, finde ich, für die kleinen An-leger auf unserem Finanzmarkt – nicht nur für die Ban-ken – gut aufgestellt.
Beim Investmentmodernisierungsgesetz haben wirden Begriff des totalen Verlustes eingeführt, den es aufdem Finanzmarkt schon lange gibt. Das heißt, dass je-mand, der in ein Hebelprodukt, ein synthetisches Pro-dukt oder eine Option investiert, darüber informiert wird– je nach seiner finanziellen Leistungskraft oder auchseinen Kenntnissen des Finanzmarktes –, wann ein To-talverlust eintreten kann. Diese Regeln gelten in Europa.Wir haben sie auf unsere Situation in Deutschland zuge-schnitten. Sie gelten nicht in den USA. Das Ergebnis se-hen wir jetzt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höll?
Ja.
Kollegin Hauer, Sie haben eben die Verbriefung ange-
sprochen. In diesem Zusammenhang möchte ich eine
Frage an Sie richten.
Es ist von vielen neuen Instrumenten die Rede, deren
Einführung Sie für notwendig hielten. Ich zitiere aus ei-
ner Ihrer Reden, und zwar aus der vom 19. Mai 2006:
Wir haben die Hedgefonds vor einigen Jahren in
Deutschland zugelassen, weil wir deren Funktion
für den Finanzmarkt kennen. Wir brauchen diese
Fonds nicht nur im internationalen Vergleich und
Wettbewerb, sondern auch, weil sie eine Rolle er-
füllen, die kein anderes Finanzprodukt übernehmen
kann.
Sie sind in der Lage, Währungsrisiken und Speku-
lationsrisiken aufzufangen …
Ich glaube, wir wurden inzwischen eines Besseren be-
lehrt.
Was die Verbriefung angeht, haben wir seit 2002 eine
sehr rege Gesetzgebung. Aber wir sollten ehrlicherweise
zur Kenntnis nehmen, dass es erst durch die letzte
KWG-Novelle möglich wurde, dass bei einem Übergang
der Grundschuld der Kreditnehmer nicht einmal mehr
informiert werden muss. Dass heute sogenannte faule
Kredite – also aus irgendwelchen Gründen nicht mehr
rechtzeitig bediente Kredite – von der Bank einfach wei-
tergegeben und die Kreditnehmer nicht einmal mehr in-
formiert werden, haben Sie zu verantworten. Auch das
ist ein wesentlicher Bestandteil der Verbriefung, die Sie
jetzt wieder loben.
Frau Kollegin, Sie wollten doch eigentlich eine Frage
stellen.
Frau Höll, was in Ihrer Fraktion konsequent geleugnetwird, ist, dass das, was auf einem internationalen Marktzu kaufen ist, nicht vor unseren Grenzen haltmacht. Waswir aber tun können, ist, dafür zu sorgen, dass hier Re-geln gelten, die nach unseren Kriterien aufgestellt wer-den. Dasselbe gilt auch für die Hedgefonds. Dass manals Privatanleger hier nicht in Hedgefonds investierenkann oder dass diese Fonds bestimmte Finanzierungs-instrumente nicht enthalten dürfen, haben Sie unsererGesetzgebung zu verdanken. Im Übrigen gilt das auchfür die Umsetzung der europäischen Richtlinie für Bera-tungsleistungen bei Finanzdienstleistungen insgesamt.Wir haben diese zum Teil entsprechend unseren nationa-len Gegebenheiten verändert. Aber Sie haben sich imFinanzausschuss enthalten. Sie verweigern sich konse-quent und tun so, als ob man das, was es auf den interna-tionalen Finanzmärkten gibt, fernhalten könnte. Sie ha-ben nicht den Mumm, zu sagen: Wenn es das schon gibt,dann soll das hier in Deutschland nach unseren Regelnfunktionieren. In diesem Zusammenhang sind die Bei-spiele zu sehen, die Sie genannt haben.
– Das habe ich eben gesagt. Sie müssen zuhören!Ähnlich war es bei der Finanzaufsicht. Wir habennun eine Allfinanzaufsicht in Deutschland. Das war da-mals ein großer Schritt. Für manche ist dabei das Abend-land fast untergegangen. Aber es war richtig, die unter-schiedlichen Aufsichtsgremien zusammenzuschließen.Wir haben in regelmäßigen Abständen die Aufsicht denAnforderungen der Finanzmärkte angepasst. Sie habensich daran nicht beteiligt. Ich finde, dass wir heute eineAufsicht haben, die den Herausforderungen gewachsenist und in der Lage ist, die vorhandenen Risiken einzu-schätzen. Dem sind parlamentarische Prozesse voraus-gegangen, die noch nicht zu Ende sind; denn wir sehen,wie innovativ und schnell die Finanzmärkte voranschrei-ten. Aber wir müssen uns nicht von anderen, erst recht
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Nina Hauernicht von der Opposition, sagen lassen, dass unsere Auf-sicht in den zur Rede stehenden Fällen versagt habe.
Für die SPD-Fraktion sage ich, dass wir vielen Vor-schlägen zur Deregulierung der Finanzmärkte in denletzten Jahren widerstanden haben. Wir haben vielen vonVerbänden geäußerten Einwänden – die Aufsicht werdeden Markt kaputtmachen, oder die BaFin verursacheeine Kreditklemme – widerstanden. Wir hatten dabeiwenig Unterstützung von den Oppositionsfraktionen, dieheute gern für sich in Anspruch nehmen, dass unser Fi-nanzmarkt so robust aufgestellt ist.
Ich denke, dass wir einen Erfolg erzielt haben. Deutsch-land befindet sich aufgrund der internationalen Finanz-marktkrise zwar in einer schwierigen Situation. Wir kön-nen aber den Anlegern auf den Finanzmärkten, geradedenjenigen, die geringe Einkommen haben, sagen: Siemüssen sich nicht beunruhigen. Sie haben ihr Geld dortangelegt, wo Regeln gelten, die den Anleger schützenund die Finanzmärkte stabil halten.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Gerhard Schick, Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn man sich die Geschichte der Finanzmärkte an-schaut, dann stellt man fest, dass es immer wieder großeKrisen gab. Spekulationsblasen bauen sich auf. Dann,wenn sie platzen und die Vermögenswerte sinken,herrscht große Empörung. Alle reden plötzlich von Re-gulierung. Zwei Jahre später ist dann wieder Sende-pause, und man hört dieselbe Argumentation wie zuvor.
Das können Sie an der Asien-Krise, der Krise desHedgefonds Long Term Capital Management und demEnron-Skandal beobachten. Die entscheidende Frage inder aktuellen Krise ist: Schaffen wir es diesmal, dass esanders wird?
Die Äußerungen aus den Regierungsfraktionen warenleider etwas ernüchternd. Herr Friedrich hat sich wiedermit dem ganz zentralen Satz geäußert: Aber unseren ei-genen Akteuren dürfen wir auf keinen Fall Fesseln anle-gen. – Das entspricht der Argumentation in jedem ande-ren Land: Wir schützen unseren Finanzplatz, beteiligenuns deswegen nicht an internationalen Regeln und dür-fen vor allem nicht Vorreiter sein, wenn es um eine Ver-besserung der Regeln geht.
Das ist genau die Argumentation, mit der Sie in zweiJahren wieder business as usual machen werden. Das,was aus früheren Reden von Frau Merkel zitiert wordenist, charakterisiert das Programm, das ansteht, wennSchwarz-Gelb nach der nächsten Bundestagswahl dieMehrheit erhält. Ich bin dankbar für diese Hinweise.
Das heißt, nach dem Willen der Union soll es nach deraktuellen Krise, wenn alle Aufregung vorbei ist, weiter-gehen wie bisher. Das ist nicht die Position von Bünd-nis 90/Die Grünen. Wir wollen andere Finanzmärkte.
Schauen Sie sich doch die spanische Aufsicht an! Siehat es anders gemacht und ihren eigenen Akteuren einigeFesseln mehr angelegt. Das Bundesfinanzministeriummuss mir in einem Schreiben zugestehen, dass die spani-schen Banken besser dastehen, weil Spanien es andersgemacht hat. Eine jüngst veröffentlichte Studie über dieCity of London beklagt, dass der Nachteil des Finanz-platzes London ist, dass dort keine guten Regeln festge-legt worden sind. Ich finde, diese Erkenntnis müssen wiraus der Krise mitnehmen. Es lohnt sich, sinnvolle Re-geln im eigenen Land aufzustellen, selbst wenn nichtalle anderen Länder mitmachen. Dazu haben Sie keiner-lei Vorschläge vorgetragen, nicht im Ausschuss und auchnicht hier im Plenum.
Ich glaube, Sie ducken sich weg und versuchen, unterder Welle, die gerade die Finanzmärkte überspült, durch-zutauchen, um nachher wieder an derselben Stelle aufzu-tauchen. Ich finde, das ist ähnlich fatal wie das, was HerrLafontaine gemacht hat, der auf einer Welle surft, die dieMenschen mitreißt, die Arbeitsplätze und Steuern derMenschen kosten wird, die nicht auf den internationalenFinanzmärkten spekuliert haben. Als Krisengewinnlerhier einfach eine Show abzuziehen, wird der Situationüberhaupt nicht gerecht. Beide Verhaltensweisen sindfalsch, Wegducken und Surfen sind gleichermaßen un-verantwortlich.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Frage,die Frau Hauer aufgeworfen hat, eingehen. Was ist denndie Verantwortung hier vor Ort? Wir haben zu Maßnah-men, die hier in Deutschland ergriffen werden könntenund sollten, von den Regierungsfraktionen und auch vonHerrn Steinbrück nichts gehört. Es wurde immer nur vonder internationalen Ebene und von Koordinierung ge-sprochen. Wunderbar: „King Henry“ als Vorbild, großesTanzen bei internationalen Verhandlungen. Ich möchteein konkretes Beispiel nennen, das zeigt, in welchem Be-reich man etwas hätte tun können; wir haben dazu Vor-schläge unterbreitet: Ein Anleger oder eine Anlegerin inDeutschland kauft im Juli 2008 ein Zertifikat, das„Deutschland Garant“-Anleihe heißt, Emittent: LehmanBrothers. „Deutschland Garant“ klingt seriös. Aber
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Dr. Gerhard Schicknichts ist garantiert und nichts ist mit Deutschland; viel-mehr hat eine amerikanische Investmentbank, die heutepleite ist, die Anleihe emittiert, und die Anleger habennichts davon. Das zu dem Wort von Herrn Steinbrück,die Ersparnisse in Deutschland seien sicher. Natürlichsind die Sparbücher sicher, aber viele Anleger habenGeld verloren. Nur 0,13 Prozent des Zertifikatemarktes– das hört sich wenig an – hat Lehman Brothers, aberwenn Sie sich die Summe ausrechnen, dann stellen Siefest, dass es sich um 100 Millionen Euro handelt, diedeutsche Anleger verloren haben, weil man nicht dafürgesorgt hat, dass diese wissen, dass, wo „DeutschlandGarant“ draufsteht, keine Garantie des Kapitals drin ist.Es wurde nichts in Bezug auf das Bonitätsrisiko getan.Tun Sie etwas für den wirklichen Anlegerschutz! Dannkönnen Sie auch bei Krisen dafür sorgen, dass Menschennicht in die Röhre schauen. Da haben Sie versagt.
Eine weitere Frage betrifft die Finanzaufsicht – FritzKuhn hat für unsere Fraktion schon darauf hingewiesen –:Wenn Sie davon sprechen, dass 25 Prozent Rendite nichtmöglich seien und das allen Beteiligten klar sein müsse,dann möchte ich Sie fragen, ob unter diesen Beteiligtenvielleicht auch die deutsche Finanzaufsicht ist, für dieSie verantwortlich sind. Offensichtlich nicht. Wenn diedeutsche Finanzaufsicht als Letzte merkt, wo Schiefla-gen bestehen, dann möchte ich fragen, warum Sie heutenichts vorgelegt haben, was uns zeigt, wie Sie die deut-sche Aufsicht verändern wollen. Das hätten wir von Ih-rer Rede erwartet, aber Sie haben nichts Konkretes vor-getragen.
Die Finanzaufsicht in Deutschland hat die Aufgabe,Missständen im Kredit- und Finanzdienstleistungswesenentgegenzuwirken, die erhebliche Nachteile für die Ge-samtwirtschaft herbeiführen können. Wir haben dieseerheblichen Nachteile für die Gesamtwirtschaft. Wirwerden das bei den Steuereinnahmen und bei den öffent-lichen Haushalten erleben, und wir werden es bei denArbeitslosenzahlen sehen. Trotzdem meinen Sie, Siekönnten sich hier hinstellen und nur die internationaleSituation beschreiben, ohne einen eigenen konkretenVorschlag zu machen. Wenn Sie, Herr Steinbrück, dasBeispiel von der Treppe nehmen, die von oben gekehrtwerden muss, dann möchte ich ganz klar sagen: Da Sienicht vor der eigenen Haustür kehren, sondern sich nurinternational engagieren wollen, werden wir als Opposi-tion mit allen Instrumentarien, die dafür zur Verfügungstehen, dafür sorgen, dass auch vor der deutschen Haus-tür wirksam gekehrt wird.Danke schön.
Das Wort hat nun Ortwin Runde für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Schick, das Beispiel, das Sie gebracht ha-ben, ist irgendwie unpassend. Wenn eine Unternehmens-anleihe, für die viermal 6 Prozent Zinsen gezahlt wer-den, unter dem falschen Siegel „Deutschland Garant“vermarktet und verkauft wird, dann kann man doch nichterwarten, dass jemand eintritt. Dass immer dann, wennjemand mit einer „Deutschland-Garantie“ wirbt, dieStaatshaftung gegeben ist, ist das Ihre Vorstellung? Wiewollen Sie dann mit Unternehmensanleihen insgesamtumgehen?
– Die Frage können Sie nachher im Rahmen einer Kurz-intervention stellen. – Wenn wir bei der Dimension sol-cher Unternehmensanleihen so diskutieren würden, wä-ren wir nicht auf der Höhe der Zeit.Was wir gegenwärtig erleben, ist eine Feuerwehrak-tion bei einem weltweiten Brand. Angesichts der atem-beraubenden Zahlen – die Notenbanken geben Liquiditätin die Finanzmärkte, sprich: an die Banken, in einer Grö-ßenordnung mal von 50, mal von 70, mal von 100 Mil-liarden Euro – habe ich schon aufgehört, auszurechnen,wozu sich das insgesamt addiert. Weltweit sind sicher-lich mehr als 2 Billionen an Liquiditätshilfe gegebenworden. In den letzten Tagen haben wir miterlebt, wiewirklich die gesamten Investmentbanken an der WallStreet zusammengebrochen sind und die Amerikaner,nachdem sie für Fannie Mae und Freddie Mac Geld aus-gegeben haben, 200 Milliarden, für Bear Stearns,70 Milliarden und dann weitere 30 Milliarden zur Verfü-gung gestellt haben. Das bedeutet, sie haben dort insge-samt mit 1 Billion interveniert, feuerwehrmäßig. Ange-sichts dessen unterhalten wir uns in der Debatte übereine solche Regierungserklärung nur über Kleinigkeiten.Das ist wirklich eine andere Dimension, um die es dageht.Es stellen sich natürlich Demokratiefragen bei dieserIntervention im Bankensektor, bei der Art, wie amerika-nische Banken dort plötzlich nach ziemlichem Beliebenverstaatlicht werden. Da gebe ich übrigens HerrnBrüderle recht. Allerdings ist er wie ein alternder Kir-mesboxer aufgetreten und hat diesen Punkt genutzt, umwieder seine Privatisierungsvorstellungen für den Be-reich der Landesbanken an den Mann zu bringen und aufdie Planwirtschaft einzuschlagen.
Das war schon richtig eindrucksvoll. Er kennt diesenStep. Das sind die geübten Schritte des Kirmesboxers. –Das ging nur wirklich zu weit.
Die Frage, vor der wir stehen, lautet: Befinden wiruns wirklich an einer Zeitenwende? Der Bundesfinanz-minister hat zu Recht gesagt, dass dies das Ende der
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Ortwin RundeDominanz der Amerikaner in der internationalenFinanzpolitik sein wird. Man muss allerdings sagen: Essind nicht allein die Amerikaner, sondern es ist derangloamerikanische Bereich, der da dominiert hat. DieFrage ist, wie wir nach den Feuerwehraktionen aus derKrise herauskommen.Die Deutsche Bank – das fällt mir gerade ein – hat inden 90er-Jahren mit dem Spruch geworben: Vertrauen istder Anfang von allem. – Wir haben erlebt, was gemachtwurde, um Renditen von 25, 30 und mehr Prozent zu er-zielen – Schnellballsysteme, Hütchenspielereien –, wirerleben jetzt, dass sich die Banken, weil die Märkte zu-sammengebrochen sind, untereinander nicht mehr ver-trauen, und da ist doch die Frage: Wie wollen wir in die-sem System wieder Vertrauen herstellen? Wenn nach allden Aktionen an der Wall Street und in Amerika nie-mand zu sagen wagt: „Das ist der Boden, und von nun angeht es aufwärts“, dann ist wirklich die Frage: Was mussgeschehen? Ich sage: Wir brauchen in der Tat eine neueinternationale Finanzarchitektur.Zur Verantwortung Einzelner kann ich nur sagen: Ichfinde in dem gesamten System keinen, der nicht mit ver-antwortlich gewesen wäre. Angesichts dessen wäre eserstaunlich, wenn eine Ebene für sich sagen könnte, siehabe nicht versagt und auch in Teilbereichen keine Feh-ler gemacht.Die FDP müsste doch wirklich ihre gesamte finanz-politische Grundposition überprüfen.
Sie hat immer gesagt, wir müssten deregulieren, umwettbewerbsfähig zu sein. Sie hat davon gesprochen, ein„level playing field“ sei im globalen Finanzkapitalismusnötig.
Das heißt, dass man immer die unterste Form der Regu-lierung wählt, also die Deregulierung.Wenn wir Zweckgesellschaften und all diese ver-schiedenen Finanzinstrumente haben, dann deshalb, weiles die Angloamerikaner so bestimmt haben. Hier mussman sich aber selbst einen Vorwurf machen und fragen,ob man auf der eigenen Ebene genug Widerstand geleis-tet hat. Wir können ein Stück weit in Analogie zu dem,was in der Außenpolitik geschieht, darauf verweisen,dass das alte Europa und Deutschland eine Reihe vonTraditionen haben, auf denen wir aufbauen können. Si-cher sind die Bereiche, in denen wir ganz und gar tradi-tionell geblieben sind. Dies gilt vor allem für denBereich der Sparkassen und Volksbanken sowie für jeneBanker, die gesagt haben: Ich handle nur mit Risiken,die ich auch bewerten und beurteilen kann. – AuchPfandbriefe und Verbraucherschutzmaßnahmen gehörenzu den Traditionen, auf denen man aufbauen kann. Dasswir aber wegen der Wettbewerbsgleichheit mit ausländi-schen Banken auch Fehler bei der Deregulierung ge-macht haben, ist unabweisbar. Insoweit sind wir von die-ser Krise natürlich mit betroffen.Die Betroffenheit wird sich in dem Zusammenhangvon Finanzwirtschaft und Realwirtschaft zeigen. DiesenZusammenhang haben wir lange tabuisiert; wir habenimmer gesagt, es handele sich allein um eine Finanz-krise. Wir werden noch merken, wie das, was in den Ver-einigten Staaten als Folge der jüngsten Ereignisse ab-läuft, auf die Realwirtschaft durchschlagen wird. DieAmerikaner werden ihre Staatsverschuldung so aufblä-hen, dass sie Schwierigkeiten haben werden, sie zu fi-nanzieren. Sie werden sie nicht über Steuererhöhungen,sondern über Inflation finanzieren, was dann Auswir-kungen auf das Währungssystem haben wird. An dieserStelle sind wir sehr schnell bei Helmut Schmidt – mitdem Abstand eines großen Staatsmanns kann er das amallerbesten beurteilen –, der diese Zusammenhänge mitdem Währungsbereich aufgezeigt hat. Wir werden erle-ben, dass sich dies auf das Wachstum der amerikani-schen Wirtschaft auswirken wird und dass uns dieseAuswirkungen heftig treffen werden. Wir haben erlebt,welche Wachstumsbremse die deutsche Vereinigungausgelöst hat. Wenn man sich die Größenordnung vor-stellt, dann ist klar: Das wird Auswirkungen auch aufuns haben.Deswegen kann ich nur sagen: Wir brauchen einAgieren auf der Ebene der Finanzminister. Dabei ist derFinanzminister einer Volkswirtschaft, die Exportwelt-meister ist, auf der internationalen Bühne natürlich ge-fragt. Träte er dort nicht auf, wäre es ein fundamentalerFehler. Wir brauchen Bemühungen im Rahmen der G 7plus Brasilien, Russland, China und die arabischen Län-der. Sie können nicht nur mit ihren Staatsfonds unserenkollabierenden Banken zur Seite stehen, sondern werdendann auch bei der neuen multipolaren Ordnung gefragtsein.Danke schön.
Das Wort hat nun Kollege Otto Bernhardt, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Kollege Lafontaine, wir haben keine Kriseder Demokratie, wir haben auch keine Krise der Markt-wirtschaft, wir haben eine internationale Finanzkrise.Dies sollte man zunächst einmal festhalten.
Wenn heute weltweit gefordert wird, man müsse beiden internationalen Finanzmärkten mehr Transparenz,aber auch mehr Regelungen schaffen, dann stellen wirfest, dass unsere Bundesregierung – die Bundeskanzlerinund der Finanzminister –
dies bereits vor der Krise gefordert hat.
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Otto BernhardtSie sind aber an den Vorstellungen der Vereinigten Staa-ten und Großbritanniens gescheitert, die gesagt haben:Nein, das Ganze läuft am besten, wenn wir uns darumnicht kümmern.
Natürlich kann man solche Probleme, Herr KollegeSchick, nur international lösen. Wir würden, wenn wirnur nationale Maßnahmen ergriffen, unseren eigenenFinanzplatz schwächen. Deshalb ist es richtig, wie es dieBundesregierung macht, im Rahmen der G 7 und der EUfür einheitliche neue Regelungen zugunsten von mehrTransparenz und zum Teil auch mehr Regulierung zuwerben.
Diese Krise – Herr Minister hat darauf hingewiesen –hat ihren Ursprung in den Vereinigten Staaten, und dieVereinigten Staaten sind am härtesten betroffen. Ich sageganz nüchtern
– ich komme auf die Probleme in Deutschland noch zusprechen –: Wenn ich Finanzpolitik in den VereinigtenStaaten hätte machen müssen, dann hätte auch ich michfür den 700-Milliarden-Dollar-Schirm ausgesprochen.Ich sage Ihnen auch, warum.
Herr Kollege, gestatten Sie vorher eine Zwischen-
frage der Kollegin Höll?
Gerne.
Herr Bernhardt, nur eine kurze Frage. Ich möchte mit
Erlaubnis des Präsidenten heute noch einmal zitieren,
und zwar das, was der Vorsitzende des Finanzausschus-
ses, Herr Oswald, CDU/CSU, am 15. Februar 2008
sagte:
Zur Deregulierung der Finanzmärkte gibt es keine
Alternative. Sie hat der Wirtschaft und den Bürgern
neue Anlage- und Finanzierungsmöglichkeiten er-
öffnet, und sie hat zur Risikostreuung beigetragen.
Ich gehe davon aus, dass, wenn der Finanzausschussvor-
sitzende so etwas verkündet, auch Ihre Politik der letzten
Jahre darauf ausgerichtet war. So habe ich es auch erfah-
ren. Hat sich nun Ihre Haltung zur Regulierung der
Finanzmärkte geändert oder nicht?
Zunächst einmal sage ich: Sofern es sich um ein Zitatmeines sehr geschätzten Kollegen Oswald handelt, soll-ten Sie ihn fragen.
– Entschuldigung! – Ich habe gesagt, dass diese Bundes-regierung, die ja von einer Großen Koalition getragenwird, also auch von den Unionsparteien, sich bereits vordieser Krise international für mehr Transparenz undmehr Regulierung eingesetzt hat. Wenn Sie sich die Re-den, die die Bundeskanzlerin vor anderthalb Jahren aufinternationalen Kongressen gehalten hat, noch einmalanschauen, dann werden Sie feststellen: Wir haben diesgefordert. An der Haltung der Amerikaner ist die Umset-zung dieser Forderung im Wesentlichen gescheitert. Jetztkommt dort ein Umdenken in Gang. Und das ist gut so.Ich war gerade bei dem Hinweis, dass ich, wenn ichFinanzpolitiker in den Vereinigten Staaten wäre, den700-Milliarden-Dollar-Schirm mittragen würde. DerSchaden für die amerikanische Volkswirtschaft, wennman nicht diesen Weg wählen würde, wäre nämlich nochviel größer. Man muss nur einmal daran denken, welcheFolgen es für die Altersvorsorge in den Vereinigten Staa-ten hätte, wenn die größte amerikanische Versicherungs-firma in die Insolvenz ginge.Die Wirtschaft der Vereinigten Staaten – ich will dasin diesem Zusammenhang einmal sagen – ist nach wievor so stark, dass die gesamte Verschuldung der Verei-nigten Staaten im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt– auf dieses berühmte Verhältnis wird ja immer abgeho-ben – zurzeit immer noch um 65 Prozent liegt. Das ent-spricht dem Verhältnis in Deutschland. In Japan liegt esbei 170 Prozent, und dort lebt man auch noch ganz gutdamit. Die amerikanische Wirtschaft kann dies also ab.Jetzt zurück zu Deutschland: Es gibt eine ganze Reihevon Gründen, warum Deutschland im Rahmen der Glo-balisierung mit dieser Krise besser fertig wird als andere.Das Universalbankensystem ist schon erwähnt worden.Stellen Sie sich vor: Während in Amerika und Großbri-tannien Banken Konkurs gehen, kaufen die beiden gro-ßen deutschen Privatbanken dazu: die eine die DresdnerBank und die andere eine wichtige Beteiligung an derPostbank. Das unterstreicht die Finanzkraft, die sie ha-ben.Natürlich ist es ein Vorteil, dass es bei uns 1 500 weit-gehend regional tätige Kreditinstitute gibt. Nur, all dieseFakten zur Heiligsprechung des Dreisäulensystems zunutzen, dazu bin ich nicht bereit. Ich bin nämlich davonüberzeugt, dass wir nicht nur Veränderungen innerhalbder Säulen brauchen. Wir werden in Kürze sicherlichauch über eine Veränderung der Grenzen der Säulensprechen. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob dies in mei-ner Fraktion mehrheitsfähig ist, aber in diese Richtungwird es mit Sicherheit gehen.Ein weiterer Vorteil bei uns ist die Langfristfinanzie-rungskultur. Alle Kolleginnen und Kollegen im Finanz-ausschuss wissen, dass wir diese manchmal sehr massivgegen die EU verteidigen müssen, die dies in der Ver-gangenheit nicht so gesehen hat. Ich glaube, diesenKampf werden wir jetzt leichter führen können.
Es gibt einen weiteren Punkt, der für die Stimmungim Lande sehr wichtig ist, und den sollte jeder Politiker
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Otto Bernhardt– auch der, der diese Bundesregierung vielleicht nichtmag – parat haben: Wir haben die besten Einlagensiche-rungssysteme der Welt. Der EU-Standard schreibt vor,dass 90 Prozent einer Einlage gesichert werden; dieHöchstsumme der Sicherung beträgt aber nur 20 000 Euro.All unsere Bankensysteme in Deutschland sichern Pri-vatkonten hingegen in unbeschränkter Höhe ab. Dasheißt, niemand braucht in Deutschland zur Bank zu ge-hen, um Geld abzuheben.Herr Kollege Schick, Sie verlangen von uns, dass wirden Anleger noch mehr schützen sollen als bisher. Wennheutzutage jemand kritische Papiere kaufen will – ichsage es etwas laienhaft –, dann muss er in einem Ge-spräch darüber beraten werden. Er muss unterschreiben,dass man ihm gesagt hat, wie risikoreich sein Vorhabenist. Ich füge hinzu: Wer einigermaßen darüber nach-denkt, dem muss doch klar sein, dass ein Angebot mit 6,7 oder 8 Prozent mit mehr Risiken verbunden ist, wennes auf dem Sparkonto nur 3 Prozent und für Festgeld nur4 Prozent Zinsen gibt.
Ich glaube, nirgendwo wird der Konsument so gut ge-schützt wie in Deutschland. Von daher bin ich gegennoch mehr Vorschriften. Wir glauben an den selbststän-dig denkenden Menschen.
Kollege Bernhardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Schick?
Aber selbstverständlich.
Herr Kollege Bernhardt, Ihr Kollege Meister hat vor-
hin davon gesprochen, dass wir auf den Finanzmärkten
mehr Transparenz brauchen. Würde es Ihrer Vorstel-
lung von Transparenz widersprechen, wenn nur dort Ga-
rantie draufsteht, wo Garantie drin ist, und wenn das Bo-
nitätsrisiko eines Emittenten klar ausgewiesen wird?
Würde es Ihrer Vorstellung von Transparenz widerspre-
chen, wenn man gesetzliche Standards schafft, damit die
Anlegerinnen und Anleger auch wirklich wissen, was
sich hinter bestimmten Produkten verbirgt, sodass sie die
Risiken einschätzen können? Ist das nicht auch ein Teil
von Transparenz?
Herr Kollege, haben Sie schon mal einen Prospekt ge-lesen, den jemand herausgeben muss, wenn er ein Papierauf dem deutschen Markt platzieren will? Diese Pros-pekte sind zum Teil mehrere Hundert Seiten dick; vonihnen gibt es sogar Kurzfassungen. Das Problem ist, dassviele gar nicht geschützt werden wollen. Sie sind nichtbereit, den Prospekt zu lesen. Insofern bleibe ich dabei,dass ich strengere Bestimmungen für diesen Bereich we-der national noch international für nicht erforderlichhalte.Ich komme jetzt dazu, wo unsere Schularbeiten lie-gen. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, wir hättenalles gut gemacht und dass es bei uns keine Problemegäbe.Das erste Problem ist angesprochen worden, nämlichdie KfW und die IKB. Natürlich war es ein Fehler, sichan der IKB zu beteiligen. Aber es war die Politik,
die die KfW zu diesem Schritt gedrängt hat. Wir warendamals noch nicht so weit in unserem Bewusstsein, dasses eigentlich nicht schlimm gewesen wäre, wenn einAusländer die IKB gekauft hätte. Damals wollten wirdies aber nicht.Wenn man sich allerdings mit diesem Thema beschäf-tigt, dann muss man auch ehrlich bleiben. Es ist zwarrichtig, dass der gesamte Schirm für die IKB bei gut10 Milliarden Euro liegt; aber wir, die Steuerzahler, ha-ben nicht 10 Milliarden Euro, sondern erst 1,2 Milliar-den verloren. Es heißt ja nicht, dass wir das ganze Geldbrauchen; die Papiere, die man übernommen hat, habenvielleicht in zwei oder drei Jahren einen Wert von50 oder 60 Prozent. Insofern sollte man hier fair vorge-hen. Ich sage auch ganz deutlich: Es war eine richtigeEntscheidung der Bundesregierung, die IKB nicht in dieInsolvenz gehen zu lassen. Sonst wäre der Schaden fürdie deutsche Volkswirtschaft viel größer ausgefallen.
Ich spreche eine zweite Baustelle an. Wir haben imdeutschen Bankensystem eigentlich nur ein wirklichesProblem, und das sind die Landesbanken; vielleichtmuss ich gerechter sagen: einige Landesbanken. Der ge-nossenschaftliche Bereich hatte früher auch ein DutzendSpitzenorganisationen und -verbände. Er hat sie der Zeitentsprechend aufgelöst. Heute hat er noch anderthalb;demnächst wird es nur noch einer sein. Zu meinen, wennwir die sieben Landesbanken zusammenschließen, seidas Problem gelöst, ist nicht richtig. Es ist nicht ihreAufgabe, Spitzeninstitut der Sparkassen zu sein, zumalsie inzwischen alle schon sehr groß geworden sind undvieles selber machen können. Das heißt, wir müssen ent-weder – ich sage das in dieser Brutalität – einen Teil stillliquidieren, oder wir müssen – auch wenn es der öffent-lich-rechtliche Bereich oder einige nicht hören mögen –Teile an den privaten Bereich verkaufen, der seine Auf-gaben vielleicht damit verbinden kann. Wir stehen hierallerdings unter einem ziemlichen Zeitdruck, um dasklar zu sagen.Natürlich muss man über die zukünftige Organisationder Bankenaufsicht nachdenken. Zweimal habe ich vondiesem Rednerpult gefordert – ich gebe zu, ich war da-mals in der Opposition und nicht in der Regierung –,dem Beispiel der Mehrzahl der Länder – nicht aller Län-der – zu folgen und die gesamte Bankenaufsicht auf dieDeutsche Bundesbank zu übertragen. Das war damals
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Otto Bernhardtunser Vorschlag. Die damalige Regierung unter Rot-Grün hat sich für ein anderes Modell entschieden, undwir haben gesagt, wir warten ab. Nun sind fünf Jahrevergangen, und ich würde die Bilanz ziehen: So schlechtist das Ganze nicht. Aber angesichts der neuen Heraus-forderungen stellt sich die Frage, ob wir nicht vielleichtdoch – ich persönlich tendiere zu dem Vorbild Irlands –beschließen, die BaFin unter die Hoheit der Bundesbankzu stellen und dort die Bankenaufsicht zu konzentrieren.Ich denke dabei natürlich auch an Folgendes: Wenn dieBankenaufsicht bei der Bundesbank konzentriert wirdund wir einmal europäische Aufsichtsorgane bekommen,dann haben wir gute Chancen, dass die nach Frankfurtkommen. Ich bitte, darüber einmal weiter nachzudenken.In Europa gibt es heute 27 nationale Bankenaufsich-ten. Wir haben aber 40 Banken in Europa, die in mehre-ren Staaten tätig sind. Vielleicht müssen wir hier alsZwischenschritt eine Gruppenaufsicht einziehen. Aberich schließe nicht aus, dass am Ende zumindest für die inmehreren Ländern tätigen Banken doch eine europäischeAufsicht steht.Ich will noch zwei Argumente nennen, die dafür spre-chen, die Aufsicht bei der Bundesbank zu konzentrieren:Wenn wir in einer Krise Geld brauchen, liquide seinmüssen, kann das nur die Bundesbank machen. Die Bun-desbank ist im Gegensatz zur BaFin mit den anderen No-tenbanken vernetzt, insbesondere mit der EuropäischenZentralbank. Auch hier haben wir also Schularbeiten zumachen, um das klar zu sagen.Im Tagesgeschäft müssen wir allerdings erst einmalsehen, wie wir die aktuelle Finanzmarktkrise überwin-den. Auch ich wage nicht mehr die Prognose, dass wirüber den Berg sind und dass die Krise in Kürze beendetsein wird; ich bin vorsichtig geworden. Ich wage auchkeine Aussage mehr darüber, wie groß die Verluste end-gültig sein werden. Wir haben festgestellt, dass es in derWelt zurzeit etwa – wir können es nicht nachrechnen –400 Milliarden Euro, 550 Milliarden Dollar sind. Esheißt, dass 10 Prozent, sprich: 40 Milliarden Euro, da-von in Deutschland angekommen sein sollen. Aber– auch das gehört zur Argumentation – diese 40 Milliar-den Euro sind noch kein Ausfall. Es sind zurzeit zu ei-nem erheblichen Teil Buchverluste. Wie groß die Aus-fälle sein werden, wissen wir nicht. Das sind Bereiche,wo wir unsere Schularbeiten machen müssen.Ich stelle abschließend fest: Das Zusammenspielzwischen Bundesregierung, Bundesbank und BaFin beider Lösung der aktuellen Finanzkrise, die ihre Ursa-chen nicht in Deutschland hat, war hervorragend. Wirsollten nicht so miesepetrig sein und nur kritisieren.Vielmehr glaube ich, die Bundesregierung, die Bundes-bank und die BaFin haben von uns allen ein Danke-schön verdient.
Das Wort hat nun Kollege Carsten Schneider für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Über die globale Einordnung der aktuellen Finanzmarkt-
krise ist schon viel gesagt worden. Ich unterstütze unein-
geschränkt die Erklärung des Bundesfinanzministers von
heute Vormittag. Er hat im Hinblick auf diese Situation
auch im vergangenen Jahr einen sehr guten Job gemacht.
Ich halte die Rettung der IKB für richtig, auch wenn
sie mit erheblichen Steuermitteln verbunden ist. Bis auf
eine Ausnahme gibt es dazu im Hause keinen Dissens.
Dadurch ist der Kelch einer Bankenpleite an unserem Fi-
nanzmarkt vorbeigegangen. Die Ausfälle für den Staat
wären bedeutend höher gewesen, wenn wir die IKB
nicht gerettet hätten.
Ich unterstütze den Finanzminister auch in seinem
heute hier vorgelegten Achtpunkteplan. Insbesondere
unterstütze ich ihn in seiner klaren Ansage, keine Steuer-
mittel des Bundes als Zuschuss an Landesbanken zu
geben. Dies muss deutlich sein. Die Landesregierungen,
die die Aufsicht über ihre Landesbanken haben, müssen
ihre Verantwortung wahrnehmen. Ich hoffe gleichwohl,
dass es nicht zu dem schlimmsten Fall kommt.
Es gab die Anfrage, ob sich die Bundesrepublik an
dem Rettungspaket der Amerikaner beteiligen will. Es
ist gut, dass es auch da eine klare Absage gab. Die Feh-
ler sind in den USA gemacht worden. Letztendlich müs-
sen dort die Probleme gelöst werden.
Ich will mich im Folgenden auf die Kreditanstalt für
Wiederaufbau konzentrieren, für die das Parlament die
direkte Verantwortung trägt. Wir haben gestern im Haus-
haltsausschuss lange und intensiv mit dem neuen
Vorstandsvorsitzenden diskutiert. Es geht um das Betei-
ligungsmanagement und in diesem Zusammenhang ins-
besondere um die Frage, wie es dazu kommen konnte,
dass man die Risiken bei der IKB nicht gesehen hat.
Dies ist aufzuklären. Vor allen Dingen muss es Verände-
rungen in der Struktur der Aufsicht geben, damit solche
Mängel abgestellt werden können.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schui von der Linksfraktion?
Ja, bitte sehr.
Sie haben gesagt, dass Sie sich damit einverstandenerklären, dass sich Finanzminister Steinbrück gegen eineBeteiligung an dem amerikanischen Rettungspaket inHöhe von 700 Milliarden US-Dollar ausspricht. Ist Ih-nen bekannt, dass die US-Regierung einige wirksameDruckmittel hat, um Deutschland und andere Länder mitbedeutenden Zentralbanken an der Finanzierung derKredite, die die USA aufnehmen müssen, zu beteiligen?Erstes Druckmittel: Wenn diese 700 Milliarden US-Dol-lar auf den Markt gedrückt werden, kann das zu einer si-gnifikanten Abwertung des Dollars führen. Wer will das
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Dr. Herbert Schuischon? Zweites Druckmittel: Es ist durchaus möglich,dass deutsche Banken, die in den USA operieren undfaule Kredite im Portefeuille haben, keine Geschäfte mitdieser 700-Milliarden-Agentur machen können. Was ge-denkt die SPD-Fraktion, was gedenkt der Bundes-minister der Finanzen dann zu tun?
Für den Finanzminister kann ich nicht sprechen. Aberfür meine Person kann ich Ihnen sagen, dass meine Aus-sage gilt: keine Steuermittel aus Deutschland zur Ret-tung von amerikanischen Banken. Das ist doch logisch.Etwas anderes würde niemand goutieren. Jeder muss fürseinen Bereich die Verantwortung wahrnehmen.
Die amerikanische Wirtschaft hat enorm davon profi-tiert, dass in den letzten Jahren eine Blase aufgrund nied-riger Zinsen und laxer Kreditvergaben entstanden ist.Wir sind nicht bereit, dafür die Verantwortung zu über-nehmen. Das ist ganz klar.
Herr Lafontaine, zu unserer Verantwortung gehört na-türlich auch, die Rechte, die man als Parlamentarier be-kommt – dazu gehört das Kontrollrecht als Mitglied desVerwaltungsrates der KfW; soweit ich weiß, sind Siedort Mitglied –, auch wahrzunehmen.
Sie können ja einmal sagen, wie oft Sie an diesen Sitzun-gen teilgenommen haben.
Sie nehmen dieses Recht nicht wahr. Herr KollegeStiegler hat eben schon darauf hingewiesen, dass Sie alsFinanzminister geflüchtet sind und jetzt als Parlamenta-rier Ihre Rechte nicht wahrnehmen, aber große Redenschwingen. Das ist unsolide und – ich würde fast schonsagen – dreist.
Ich möchte auf die KfW zurückkommen und damitauf die nicht zu akzeptierende Panne – ich weiß garnicht, ob man es nur als Panne bezeichnen kann – bei derÜberweisung von etwa 350 Millionen Euro im Rahmeneines Swap-Geschäfts an Lehman Brothers am Montagvergangener Woche. Wir haben gestern in geheimer Sit-zung intensiv darüber diskutiert. Aber ich will zumindestmeine Bewertung sagen.Wenn Sie die Presse in der Woche vom 8. bis13. September verfolgt haben, so wissen Sie, dass zu Be-ginn Lehman Brothers in großen Schwierigkeiten war.Dann sackte der Aktienkurs jeden Tag weiter ab, um90 Prozent zum Schluss. Am Freitag war klar – ich habedie Meldungen dabei –, dass es kein Rettungspaket undkeinen Rettungsschirm der amerikanischen Regierunggeben wird.Für mich ist unerklärlich, wie es in einer großenBank, einer Staatsbank nicht möglich ist, dies zu verfol-gen und einmal zu schauen, was wir dort eigentlich imObligo haben. Das ist nicht die Aufgabe von einzelnenVorständen; das ist vor allen Dingen die Aufgabe desVorstandsvorsitzenden.
Für mich ist nicht abschließend geklärt, ob er nicht fürdas gute Geld, das wir ihm bezahlen, auch am Wochen-ende einmal in den Ticker schauen und seine Kollegenanrufen kann, um eine Krisensitzung einzuberufen. Diesgilt es noch aufzuklären. Ich sehe da insbesondere denVerwaltungsratsvorsitzenden Glos in der Verantwortung,der ja den Eindruck erweckt hat, als sei er für die Banknicht zuständig, zumindest wenn man die Aussagen vomUnternehmertag der Union für voll nehmen soll.
Wir brauchen bei der KfW sicherlich Änderungen.Ich rate aber dazu, die KfW als wichtige Förderbank desBundes in ihren Festen zu erhalten und zu stärken; dasist unabdingbar. Was die Kapitalmarktgeschäfte betrifft,so halte ich es für notwendig, diesen Bereich der Auf-sicht nach dem KWG, also der Bundesbank und derBaFin, zu unterstellen, aber nicht, wie es in Teilen derUnionsfraktion zu hören ist, das Fördergeschäft. Daswürde zu einer deutlichen Beeinträchtigung des Förder-volumens, letztendlich unseres Geschäftes, wenn wirDarlehen zur CO2-Gebäudesanierung und auch Global-darlehen an Banken geben, führen und findet nichtmeine Unterstützung.
Ich denke aber auch, dass wir als Parlament das Be-teiligungscontrolling verbessern müssen. Eigentlichsind wir im Haushaltsausschuss dafür zuständig. Oft-mals bekommen wir aber gar nicht die erforderlichen In-formationen, weil uns bei Beteiligungen an GmbHs oderAktiengesellschaften gesagt wird, dies sei aktienrecht-lich nicht möglich. Ich sehe das mitnichten so. Ichdenke, wir müssen die Parlamentsrechte bei den Beteili-gungen, die wir kontrollieren, die wir besitzen und vonderen Erträgen und – im nicht zu wünschenden Fall –auch deren Verlusten wir betroffen sind, noch stärker un-termauern. Ich denke, das sollten wir noch in dieser Le-gislaturperiode regeln.Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifftdie Portfolios an Anlageprodukten, die es seitens desBundes gibt. Jeder Bürger kann in Bundesschatzbriefeals einen sicheren Hafen investieren und beim Staat di-rekt seine Gelder anlegen. Das ist sicher, das ist auch ei-nigermaßen gut verzinst. Wir haben hier im Parlamentein Gesetz verabschiedet, diese Privatkundenstrategieder Finanzagentur auszubauen, zwar mit einem unter-durchschnittlichen Volumen, aber es ging darum, diesattraktiv zu machen.Nun haben wir einen Dissens mit der Unionsfraktion,was insbesondere die Tagesgeldanleihen und anderePunkte betrifft. Ich kann nicht erkennen, dass es einNachteil für die Banken, geschweige denn für den Staat
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Carsten Schneider
ist, bei seinen Bürgern direkt die Kredite aufzunehmen,die er in Form von Einlagen haben will. Auch für dieBürger ist es kein Nachteil, einen sicheren Hafen zu ha-ben, in dem sie ihr Geld investieren können und guteZinsen bekommen. Ich hoffe, dass sich die Unionsfrak-tion hier noch bewegt, um diese guten Produkte, die si-cher sind und uns allen helfen, letztendlich auf den Wegzu bringen, und sich nicht querstellt.Das sind Punkte, um neben den Anmerkungen, dieder Finanzminister heute gemacht hat, das Vertrauen indas Finanzsystem und seine Stabilität noch stärker zubefördern und die Regulierungsmaßnahmen, die bei denG-8-Gipfeln von Bundesminister Steinbrück angestoßenwurden, letztendlich auch umzusetzen. Die Chancensind heute wahrscheinlich so gut wie nie zuvor.Vielen Dank.
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem
Kollegen Jörg-Otto Spiller, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Lassen Sie mich versuchen, am Ende dieser gutdreistündigen Debatte ein Fazit zu ziehen. Meine ersteAussage ist: Ich bin froh, dass Peer Steinbrück unserBundesfinanzminister ist.
Er hat eine brillante, umfassende Analyse der internatio-nalen Finanzkrise gebracht, und er hat gezeigt, dass erklare Positionen hat und dass er willens ist, auch in inter-nationalen Verhandlungen verantwortungsvoll zu agie-ren. Ich unterstreiche: Er hat, wie die Bundesregierunginsgesamt, gemeinsam mit der Bundesbank, mit derEuropäischen Zentralbank und mit der BaFin
wesentlich dazu beigetragen, die Krise in Deutschlandzu begrenzen. Das war ein gutes Handeln.
Auch wenn es das gute Recht der Opposition ist, an demeinen oder anderen Punkt zu mäkeln, war das insgesamtrichtig.Ich unterstreiche, was mehrere Vorredner gesagt haben,zuletzt Otto Bernhardt: Das deutsche Bankensystem istinsgesamt gesehen, so wie es aufgestellt, wie es konstru-iert ist, solide und steht sehr viel besser da als viele an-dere. Mit Blick auf unsere Zuhörer in diesem Saal und dieDamen und Herren, die die Debatte im Fernsehen verfol-gen, sage ich: In Deutschland braucht sich niemand Sor-gen zu machen um seine Einlagen bei einer Bank.
Das liegt nicht nur daran – das hat Herr Bernhardt ge-sagt –, dass wir insgesamt solide aufgestellt sind, son-dern auch daran, dass wir Einlagensicherungssystemehaben – Haftungsverbünde bei den Sparkassen und Ge-nossenschaftsbanken sowie ein Einlagensicherungssys-tem bei den privaten Banken, die im Bundesverbanddeutscher Banken organisiert sind –, die alle weit überdas hinausgehen, was auf europäischer Ebene vorge-schrieben ist. Jeder, dessen Vermögen bei der Bank einhalbwegs normal hohes Vermögen nicht übersteigt, istvoll abgesichert. Bis zu 30 Prozent des haftenden Eigen-kapitals der jeweiligen Bank sind für die Einlage einesjeden Kunden zur Haftung da. Das heißt, selbst wenn Siebei einer kleinen Bank, die nicht mehr als5 Millionen Euro Eigenkapital hat, Kunde sind, sindEinlagen von bis zu anderthalb Millionen Euro für jedeneinzelnen Kunden durch diesen Fonds abgesichert. Dasist in der Welt einmalig.Ich sage aber auch: Wir dürfen uns nicht damit begnü-gen, dass wir in Deutschland – zum Glück – einigerma-ßen geschützt sind. Als Exportweltmeister, als eineVolkswirtschaft, die wie keine andere mit dem Rest die-ser Welt verflochten ist, brauchen wir ein funktionieren-des internationales Finanzwesen. Deswegen ist es er-freulich, dass fast alle Fraktionen unterstützt haben, wasder Bundesfinanzminister gesagt hat: Wir brauchen eineRückbesinnung auf Regeln, die den Markt regulieren.Das heißt nicht, dass der Markt ständig eingeengt wird.Bei jedem ordentlichen Spiel gibt es nun einmal Spielre-geln. Wer käme denn beim Sport auf die Idee, dass esnur die Regel „Catch as catch can“ gibt? Es muss dochein Regelwerk geben, das für alle Teilnehmer gilt.
Das meiste ist dazu schon gesagt worden. Produkt-transparenz gehört dazu. Herr Kollege Dr. Schick, eshat mich ein bisschen gewundert, dass Sie sich für un-durchsichtige Produkte starkmachen.
Ich finde, man kann den deutschen Anlegern nicht raten,etwas zu kaufen, das kein Mensch versteht. Das ist schonfür Banker nicht ratsam; aber dass Sie das auch nochdem Publikum schmackhaft machen wollen, hat michein Stück weit gewundert.
Zu diesem Thema gehört auch – das hat der KollegeStiegler angesprochen – ein Nachdenken über Bilanzie-rungsregeln. Ist es wirklich vernünftig, die bewährtenRegelungen, die wir seit hundert Jahren im Handelsge-setzbuch haben, zum Beispiel das Niederstwertprinzip,durch schwankende Bewertungen von Aktiva zu erset-zen? In der guten Phase würde dann doch alles nachoben und bei einer Verschlechterung alles nach untenübertrieben. Darüber muss man nachdenken.
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Jörg-Otto SpillerIch bin auch froh – das ist hier noch nicht so zur Spra-che gekommen; das will ich einbringen –, dass wir denEuro haben. Ich möchte nicht wissen, wie sich dieinternationale Finanzkrise auf Deutschland ausgewirkthätte, wenn wir den Währungsverbund in Europa nichthätten.
Wir hätten wilde Spekulationen gehabt, im Zweifelsfallhätten wir uns an den Devisenmärkten riesige Problemegeschaffen. Ich kann nur sagen: Europa steht auch des-wegen besser da. Dies wird uns, finde ich, legitimieren,das europäische Gewicht in die neue internationale Re-gelung von Finanzmärkten einzubringen, um das, wasauch der Bundesfinanzminister genannt hat, zu errei-chen, nämlich die Finanzmärkte neu zu zivilisieren.Eine letzte Bemerkung – Kollege Bernhardt hat dasschon angesprochen –: Natürlich müssen wir auch da-rüber nachdenken, wie wir die Bankenaufsicht im Zugeder Europäisierung besser aufstellen. Ich will allerdingsauf Folgendes hinweisen: Die BaFin, die Bundesanstaltfür Finanzdienstleistungsaufsicht, ist für das ganzeSpektrum von Finanzmärkten einschließlich Versiche-rungen zuständig; das ist bei der Bundesbank nicht so.Das würde ich nicht gering schätzen. Ich möchte daraufhinweisen, dass die Bundesbank schon heute an der Ban-kenaufsicht stark beteiligt ist. Dazu sage ich nur: Beidemüssen stärker werden. Wir müssen uns überlegen, wiewir der Bundesbank und der BaFin helfen können, nocheffektiver zu werden. Denn eine wohlfunktionierendeund starke Finanzaufsicht ist ein Standortvorteil.
Ich schließe die Aussprache.
Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/10308 soll überwiesen werden zur feder-
führenden Beratung an den Finanzausschuss und zur
Mitberatung an den Haushaltsausschuss, den Ausschuss
für Wirtschaft und Technologie sowie an den Ausschuss
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b sowie
die Zusatzpunkte 3 und 4 auf:
3 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur arbeits-
marktadäquaten Steuerung der Zuwande-
rung Hochqualifizierter und zur Änderung
weiterer aufenthaltsrechtlicher Regelungen
– Drucksache 16/10288 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Rainder Steenblock, Manuel Sarrazin,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Abschottungspolitik beenden – Volle Arbeit-
nehmerfreizügigkeit ab 2009 herstellen
– Drucksache 16/10237 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Hartfrid Wolff , Gisela Piltz,
Dr. Max Stadler, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Steu-
erung und Begrenzung der Zuwanderung und
zur Regelung des Aufenthalts und der Integra-
– Drucksache 16/9091 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid
Wolff , Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk
Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit sofort und un-
beschränkt in der Bundesrepublik Deutsch-
land gewähren
– Drucksache 16/10310 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-
tarischen Staatssekretär Peter Altmaier das Wort.
P
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Be-darf an gut ausgebildeten und gut qualifizierten Fach-kräften ist in den letzten Jahren stetig gestiegen, undzwar nicht zuletzt dank der guten Wirtschaftsentwick-lung seit Amtsantritt dieser Bundesregierung, lieber HerrKollege Wolff, wie jedermann anhand der Zahlen fest-stellen kann.
Dieser Bedarf an Arbeitskräften wächst weiter undwird auch unabhängig von konjunkturellen Schwankun-
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Parl. Staatssekretär Peter Altmaiergen in Zukunft weiterwachsen, wie ein Blick auf diedemografische Entwicklung zeigt. Deshalb muss eineverantwortliche Bundesregierung vorausschauend dieWeichen dafür stellen, dass die notwendigen Fachkräftedem Arbeitsmarkt auch künftig zur Verfügung stehen.Die Politik der Bundesregierung beruht auf drei Säu-len, nämlich erstens darauf, die einheimischen Arbeits-kräfte so zu qualifizieren und so weiterzubilden, dass sievon den großen Chancen, die sich bieten, besser profitie-ren können. Das gilt zweitens auch für diejenigen, dieschon lange hier sind und in vielen Fällen aufgrund man-gelnder Bildungschancen und mangelnder Förderungnicht imstande waren, sich so in den Arbeitsmarkt einzu-gliedern, wie dies im Interesse unserer wirtschaftlichenEntwicklung geboten ist. Drittens kann die Gewinnungausländischer Facharbeitskräfte Versäumnisse der inlän-dischen Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen nieganz ersetzen, sondern sie ist allenfalls eine wichtige Er-gänzung dieser Politik; nicht mehr, aber auch nicht weni-ger.In diesen Gesamtansatz fügt sich der Entwurf desArbeitsmigrationssteuerungsgesetzes ein. Es geht beidiesem Entwurf in erster Linie um die Bedürfnisse desArbeitsmarktes und der Wirtschaft. Das unterscheidetihn von früheren Vorhaben wie beispielsweise Bleibe-rechtsregelungen oder Resettlementregelungen, über diebisweilen ebenfalls diskutiert wird.Wir haben mit diesem Vorschlag eine umfassende,eine maßgeschneiderte Lösung vorgelegt, die insbeson-dere intelligent gestaffelt ist und sich möglichst passge-nau an den Bedürfnissen des deutschen Arbeitsmarktesorientiert. Das heißt, sie soll nicht auf Kosten der Be-schäftigungsmöglichkeiten einheimischer Arbeitnehmergehen, sondern sich auf diejenigen Segmente im Ar-beitsmarkt konzentrieren, in denen Bedarfslücken beste-hen.Wir müssen die Position unseres Landes im weltwei-ten Wettbewerb um die besten Köpfe stärken. Demwird der vorliegende Entwurf auch gerecht. Er sieht imArbeitsmigrationssteuerungsgesetz insbesondere folgendePunkte vor: erstens: die Senkung der Einkommens-grenze für Hochqualifizierte, die eine Niederlassungser-laubnis anstreben, von derzeit über 86 000 Euro auf rund63 000 Euro; zweitens: die verstärkte Nutzung im Inlandvorhandener Qualifikationspotenziale durch Erteilungeines neuen Aufenthaltstitels, der beruflich Qualifizier-ten einen sicheren Aufenthaltsstatus ermöglicht – einwichtiger Schritt zu einer verlässlichen, berechenbarenKalkulationsgrundlage für viele Unternehmen in unse-rem Land. Drittens werden wir mit den begleitendenVerordnungsänderungen des BMAS auch dafür sorgen,dass der Zugang für Akademiker aus den neuen EU-Mitgliedstaaten durch Verzicht auf den Vermittlungsvor-rang erleichtert wird. Wir werden ermöglichen, dassAkademiker aus Drittstaaten Zugang zum Arbeitsmarkthaben, soweit für die Beschäftigung keine inländischenArbeitssuchenden zur Verfügung stehen. Außerdem wer-den wir sicherstellen, dass Absolventen deutscher Aus-landsschulen für jede Berufsausbildung zugelassen wer-den und der Zugang zu einer sich daran anschließendenBeschäftigung ohne Vorrangprüfung ermöglicht wird.Sie können aus diesen Punkten ersehen, dass wir unstatsächlich um maßgeschneiderte und differenzierte Lö-sungen bemüht haben.
Darüber hinaus ist uns wichtig, dass durch das vorlie-gende Gesetz die allgemeinen ausländer- und migrations-politischen Ziele der Bundesregierung nicht konterkariertwerden. Wir waren in den letzten Jahren ausgesprochenerfolgreich bei der Bekämpfung der illegalen Migra-tion und des Asylmissbrauchs, sowohl im nationalenals auch im europäischen und im internationalen Be-reich. Aus Sicht des Bundesinnenministeriums ist eswichtig, dass dies auch in Zukunft so bleibt; denn es istdie Voraussetzung dafür, dass der Handlungsspielraumim Bereich der Migrationspolitik, den wir uns in denletzten Jahren eröffnet haben, auch erhalten bleibt. Des-halb wollen wir alles vermeiden, was in Zukunft wie einPull-Faktor wirken könnte, was dazu beitragen könnte,erfolgreiche Maßnahmen der Missbrauchsbekämpfungaus der Vergangenheit zu konterkarieren. Daran musssich auch die Regelung in dem in Aussicht genommenen§ 18 a Aufenthaltsgesetz messen lassen.
Aus diesem Grund sieht der Entwurf zum Beispielvor, dass eine Aufenthaltsverfestigung dann ausscheidet,wenn der Betreffende zuvor die Ausländerbehörden ge-täuscht hat, wenn er Bezüge zu extremistischen Organi-sationen hat oder wenn er substanziell strafrechtlich inErscheinung getreten ist. All dies sind keine bürokrati-schen Spitzfindigkeiten; vielmehr ist es notwendig, da-mit die neue Regelung trägt und auch gesellschaftlicheAkzeptanz findet.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf leisten wir ei-nen besonnenen Beitrag zu einer besseren Deckung desFachkräftebedarfs in Deutschland und damit auch zurNutzung von Wachstumspotenzialen und zur Schaffungvon weiteren Arbeitsplätzen. Es ist eine Regelung, dienicht kurzfristig, sondern auf die Zukunft angelegt istund die eine positive Wirkung entfalten kann und soll.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Hartfrid Wolff für die FDP-Frak-tion.
Hartfrid Wolff (FDP):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zu-wanderungspolitik der Bundesregierung aus CDU/CSUund SPD ist Stückwerk. Die groß als Aktionsprogrammangekündigte Initiative ist ein Flickenteppich. Sie habenes gerade gemerkt: Der Staatssekretär hatte schon ein
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Hartfrid Wolff
bisschen Schwierigkeiten, die einzelnen Punkte differen-ziert darzustellen.
Diese Initiative wird den Bedürfnissen unseres Landesnicht gerecht.
Der vorliegende Gesetzentwurf zur Steuerung der Ar-beitsmigration bleibt weit hinter der Faktenlage und demDiskussionsstand zurück. Die Bundesregierung bleibthalbherzig, wenn es um erhebliche Zukunftschancenfür unsere Gesellschaft und auch für die deutsche Wirt-schaft geht. Die vorgesehene Öffnung des deutschen Ar-beitsmarktes für Akademiker aus allen EU-Staaten, dieSenkung der Mindesteinkommensgrenze und der verein-zelte Verzicht auf die Vorrangprüfung sind Minimal-schritte,
die zwar in die richtige Richtung gehen, aber wenig brin-gen werden.
Lieber Herr Staatssekretär, mit dieser Aktion werden Siewieder nicht die Fachkräfte und die Menschen bekom-men, die wir in Deutschland dringend brauchen.
Die grundsätzliche Beibehaltung der bürokratischenVorrangprüfung für Hochqualifizierte bleibt ein Pro-blem. Einmal soll die Vorrangprüfung gelten, ein ande-res Mal nicht.
Wie sollen gerade kleine und mittelständische Unterneh-men so ihre Personalplanung betreiben?
Sie sind in diesem Punkt von der deutschen Arbeitsver-waltung abhängig. Herzlichen Glückwunsch! Freies Un-ternehmertum geht anders.
Auch die nach wie vor zu hohen Einkommensgrenzensind Hürden, die dem Hochtechnologiestandort Deutsch-land insgesamt und unserem Mittelstand schaden. Vorallem aber werden die wenigen und unzureichenden Ver-besserungen durch eine geradezu reaktionäre Politik imBereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU konter-kariert.
Eine weitere Beschränkung der EU-Arbeitnehmer-freizügigkeit für Arbeitnehmer aus neu beigetretenenMitgliedstaaten in die Bundesrepublik ist kontraproduk-tiv. Die Bundesregierung muss von ihrem Vorhabendringend ablassen, bei der EU-Kommission eine erneuteVerlängerung der Einschränkung bis 2011 anzumelden.
Wieso differenzieren Sie für diesen kurzen Zeitraum vonzwei Jahren noch mal nach Akademikern und anderen?Das schafft Bürokratie für Unternehmen, Unsicherheitbei den Arbeitnehmern und Unverständnis bei unserenNachbarn.
Vielmehr ist die Öffnung des deutschen Arbeitsmark-tes für Arbeitnehmer aus den neuen EU-Staaten erfor-derlich. Großbritannien, liebe Kollegen von der CDU/CSU, profitiert von der Öffnung mit einer niedrigen Ar-beitslosigkeit. Auch Frankreich will diesem Vorbild fol-gen. Dagegen will unsere Bundesregierung eine falscheRegelung jetzt auch noch verlängern. Das ist grotesk.
Ich möchte ganz bewusst noch einen weiteren europa-politischen Aspekt hinzufügen. Die Arbeitnehmerfreizü-gigkeit ist einer der Grundpfeiler der EuropäischenUnion. Gerade im Hinblick auf die europäische Ver-ständigung ist deshalb diese Abschottungspolitik kon-traproduktiv. Eine Politik der guten Nachbarschaft undPartnerschaft in Europa darf die Arbeitnehmer aus denneuen Mitgliedstaaten der EU nicht länger diskriminie-ren.
Wir sollten unseren neuen europäischen Partnern mit Of-fenheit begegnen, nicht uns von ihnen abschotten und ih-ren Bürgern misstrauen.
Die Zukunft unseres Landes hängt davon ab, dass wiruns weiterentwickeln können und hierfür die entspre-chenden Kapazitäten haben. Dazu müssen wir das Pro-blem des Fachkräftemangels dringend beheben. Dasscheint bei der Bundesregierung zumindest tendenziellangekommen zu sein. Gewerkschaften und Arbeitgeber-verbände sind sich aber einig, dass der stärkere Zuzugvon Fachkräften nach Deutschland über ein Punkte-system ein Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeitbei uns ist;
denn der Einsatz jeder weiteren Fachkraft zieht weitereArbeitsplätze nach sich.Gebraucht werden nicht nur Hochqualifizierte, wie esdie Bundesregierung teilweise vorsieht, sondern auchFacharbeiter und Saisonarbeitskräfte. In der Landwirt-schaft beispielsweise trifft die weitere bürokratische Ver-schiebung der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf komplettesUnverständnis. Die Bundesregierung bedient hier ledig-lich ungerechtfertigte Ängste.
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Hartfrid Wolff
Die Erfahrungen aus den anderen EU-Staaten zeigen,dass eine überbordende Zuwanderung auf den deutschenArbeitsmarkt nicht erfolgen wird. Hier wäre die Bundes-regierung in der Pflicht, die Bevölkerung wahrheitsge-treu aufzuklären, anstatt die Angstmache durch Verlän-gerung der Übergangsregelungen zu verstärken. Ohneein einheitliches System droht Deutschland den Wettbe-werb um die klügsten Köpfe zu verlieren. Dieses punk-tuelle Herumwursteln, Herr Staatssekretär, ist kein ein-heitliches System. Aber anstatt die bewusste Gestaltungdieser Politik beherzt in die eigenen Hände zu nehmen,wird ein Verschiebebahnhof nach Brüssel organisiert.Die Idee, mit der Bluecard Hochqualifizierte nachEuropa zu holen, ist grundsätzlich gut und richtig. Dochkeine Initiative aus Brüssel entbindet uns von derPflicht, zu Hause unsere Hausaufgaben zu machen.
Durch europäische Regelungen wird der Wettbewerbin Europa steigen. Mit den halbherzigen Vorschlägen derBundesregierung verlieren wir gerade gegenüber unse-ren EU-Nachbarn weiter an Boden. CDU, CSU und SPDvergießen allerdings Krokodilstränen, beklagen sichüber die Eurokratie in Brüssel und schieben der EU denSchwarzen Peter für eigene Versäumnisse zu. Das ist bil-lig.
Heute tagt der Rat der EU-Innen- und -Justizminister.Es wäre gut, wenn aus Berlin ein klares Signal für einekompetente nationale Zuwanderungssteuerung käme. Dadie EU-Minister auch die Flüchtlingspolitik beraten,möchte ich hinzufügen: Die Zuwanderung aus huma-nitären Gründen muss im Fokus der Migrationspolitikbleiben. Wir werden nicht alle Probleme der Welt inner-halb unserer Landesgrenzen lösen können. Vor akutenVerfolgungsschicksalen dürfen wir aber nicht die Augenverschließen. Im Einzelfall ist hier ein hohes Maß anVerantwortungsbewusstsein erforderlich. Außerdem mussman viele Maßnahmen, manchmal auch gut gemeinteMaßnahmen, kritisch hinterfragen, damit sie nicht kon-traproduktiv wirken.
Ein erfolgreiches Instrument für die kritische Prüfungmigrationspolitischer Maßnahmen ist die Härtefallkom-mission. Die FDP hat die Aufhebung der Befristung derRegelungen zu dieser Kommission gefordert.
Ich begrüße nachdrücklich, dass sich jetzt auch die Bun-desregierung diesen Vorschlag zu eigen gemacht hat.
– Das ist richtig.Meine Damen und Herren, die demografische Ent-wicklung lässt erwarten, dass wir unseren wirtschaftli-chen Standard mittelfristig nicht werden halten können,wenn wir uns nicht für die Zuwanderung qualifizierterFachkräfte öffnen. Wie am Ausländerrecht nach wie vordeutlich wird, will die Bundesregierung eigentlich keinegesteuerte Zuwanderung.Die FDP hat ein Gegenmodell zu dieser restriktivenPolitik vorgelegt. Wir brauchen ein Punktesystem, mitdem die Zuwanderung nach klaren Kriterien gesteuertwird und mit dem auch unsere Interessen und unsere Er-wartungen an die Zuwanderer klar definiert werden.
Dabei spielen vor allem die Qualifikation, die beruflicheErfahrung, das Alter und die Kenntnisse der deutschenSprache eine große Rolle. Entscheidend sind die Fragen:Wen wollen wir nach Deutschland einladen? Wer kannunsere Gesellschaft voranbringen?Für die Menschen, auf die dies zutrifft, brauchen wireine Willkommenskultur, die es Hochqualifizierten undFachkräften aus dem Ausland erleichtert, sich fürDeutschland zu entscheiden. Die Bundesregierung willsteuern. Sie steuert aber mit stotterndem Motor und fährteinen Zickzackkurs. Deutschland braucht nicht dasangstgeleitete zuwanderungspolitische Stückwerk vonCDU, CSU und SPD, sondern eine moderne, klare undnachvollziehbare Zuwanderungssteuerung aus einemGuss.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Josip Juratovic für die SPD-Frak-
tion.
Verehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnenund Kollegen! Die aktuelle Entwicklung auf demArbeitsmarkt ist positiv. Die Arbeitslosigkeit ist mit3,2 Millionen arbeitslosen Menschen so gering wie seit15 Jahren nicht mehr. Es ist ein großer Erfolg, dass wirdie Arbeitslosigkeit durch die Arbeitsmarktreformen derRegierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder senkenkonnten.
Leider ist die Zahl der Arbeitslosen aber immer nochviel zu hoch, vor allem unter den Geringqualifizierten.Wir Politiker stehen in der Pflicht, die Rahmenbedingun-gen zu schaffen, damit alle Arbeitsuchenden die Chanceauf eine Arbeitsstelle bekommen.Wir haben momentan wohl noch keinen flächende-ckenden Fachkräftemangel zu verzeichnen. Klar ist aber:Wir brauchen mehr qualifizierte und hochqualifizierteFachkräfte, um Wachstum und Beschäftigung auchfür die Zukunft zu sichern.
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Josip JuratovicFür uns Sozialdemokraten hat dabei die Ausschöpfungdes heimischen Arbeitsmarktes Vorrang. Große Poten-ziale sehen wir bei der Jugend, bei den Frauen, den Älte-ren und den in Deutschland lebenden Migranten.
Der Ausbildungsbonus, der Ausbau der Ganztagsbe-treuung und die Initiative „50 plus“ sind Maßnahmen,mit denen wir unseren Fachkräftebedarf decken wollen.Diesen Maßnahmen werden weitere folgen. Wir werdenzum Beispiel das Recht auf das Nachholen des Haupt-schulabschlusses einführen und für eine größere Durch-lässigkeit des Hochschulsystems sorgen, damit auch einHandwerksmeister ein Studium beginnen kann.
Doch all das wird nicht reichen. Trotzdem wird es zuEngpässen kommen. Bereits ab Mitte des kommendenJahrzehnts kann dadurch unser Wirtschaftswachstum be-einträchtigt werden. Deswegen brauchen wir über dasheimische Potenzial hinaus weitere Fachkräfte.Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung werdendie bereits in Deutschland lebenden Ausländer als Po-tenzial erkannt. Des Weiteren werden Möglichkeiten zurEinwanderung hochqualifizierter Fachkräfte aus denneuen EU-Beitrittsstaaten und aus Staaten außerhalb derEU erschlossen.Für uns ist besonders das Potenzial interessant, das inden sogenannten Bildungsinländern steckt. Bildungsin-länder sind zumeist junge Migrantinnen und Migranten,die in Deutschland die Schule und die Universität be-sucht und abgeschlossen haben. Sie sind mit der deut-schen Sprache und der deutschen Kultur bestens ver-traut, doch durch seinen unsicheren Aufenthaltsstatus istdieser Personenkreis bislang chancenlos. Durch den Ge-setzentwurf der Bundesregierung erhalten beruflich gutqualifizierte geduldete Migranten künftig eine Aufent-haltserlaubnis und einen Zugang zum Ausbildungs-und Arbeitsmarkt. Diese neuen Regelungen sind drin-gend notwendig.
Ich führe in meinem Bürgerbüro regelmäßig Gesprä-che mit Familien, die als Flüchtlinge nach Deutschlandgekommen sind und nun abgeschoben werden sollen,obwohl sie in unsere Gesellschaft integriert sind. Erstgestern wurde entschieden, dass eine kurdische Familieaus Heilbronn in die Türkei abgeschoben wird, obwohldie Kinder in Heilbronn voll integriert sind. Sie sprechenDeutsch, engagieren sich in ihrem Stadtteil, und die äl-testen Kinder haben Angebote für eine Ausbildung.Diese Kinder könnten unsere Fachkräfte von morgensein.
Durch dieses tragische Schicksal wird uns gezeigt: Es isthöchste Zeit, dass wir das Potenzial der unter uns leben-den geduldeten Asylbewerber nutzen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, der Weg ist freidafür, diesen Menschen einen besseren Status zuzuer-kennen. Wieso tun wir das? – Wir haben in diese Men-schen investiert: in ihre Integration und ihre Bildung.Daher muss es auch selbstverständlich sein, dass sie hierbei uns in Deutschland auch arbeiten dürfen.Doch auch das Potenzial der bereits in Deutschlandlebenden Ausländer wird für uns nicht reichen, um denFachkräftebedarf der Zukunft zu decken. Deswegen istes gemäß dem Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz unterverschiedenen Voraussetzungen möglich, hochqualifi-zierte Fachkräfte aus dem Ausland nach Deutschland zuholen:Erstens. Akademiker aus den neuen EU-Mitgliedstaa-ten in Mittel- und Osteuropa erhalten einen uneinge-schränkten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt.Zweitens. Akademiker aus den sogenannten Drittstaa-ten erhalten einen Zugang mit Vorrangprüfung.Drittens. Einen uneingeschränkten Zugang zum Ar-beitsmarkt erhalten hochqualifizierte Fachkräfte mit ei-nem Einkommen von über 63 600 Euro.Viertens. Der Arbeitsmarkt wird für Absolventen derdeutschen Schulen im Ausland geöffnet.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, gesetzliche Be-stimmungen zur Zuwanderung sind die eine Seite derMedaille. Die andere Seite der Medaille ist jedoch dieAkzeptanz der Zuwanderung. Die Bundesregierungwill die Übergangsregelung zur Arbeitnehmerfreizü-gigkeit für die neuen EU-Mitgliedstaaten aus gutemGrund bis zum 30. April 2011 verlängern. Diese Zeitmüssen wir nutzen, um in unserer Gesellschaft eine Ak-zeptanz für die Zuwanderung aufzubauen.Die FDP spricht davon, den Ausbildungsmarkt fürjunge Menschen aus Mittel- und Osteuropa zu öffnen.Das birgt sozialen Zündstoff. Wenn wir das tun, währendmomentan gerade einmal jeder Dritte oder Vierte einerAbschlussklasse einer deutschen Hauptschule einen re-gulären Ausbildungsplatz erhält, dann gewinnen wirkeine gesellschaftliche Zustimmung zur Einwanderung.
Wir müssen zunächst alles daransetzen, dass unsereJugendlichen eine reelle Chance auf einen Ausbildungs-platz bekommen. Außerdem müssen wir hierzulande einBewusstsein dafür schaffen, dass die Zuwanderung füruns alle eine Chance bietet. Es ist eine Tatsache, dass derZuzug von hochqualifizierten Fachkräften gerade fürdie Geringqualifizierten in Deutschland von Nutzen ist.Eine neue hochqualifizierte Fachkraft bedingt drei Ar-beitsstellen für weniger qualifizierte Arbeitnehmer. Dassichert Arbeit. Das schafft Arbeit. Deswegen ist es sinn-voll, dass wir unseren Arbeitsmarkt zunächst für diehochqualifizierten Fachkräfte aus den neuen EU-Mit-gliedstaaten öffnen, bevor ab 2011 unser Arbeitsmarktallen neuen EU-Bürgern von Ungarn bis zum Baltikum
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Josip Juratovicoffensteht. Durch diese Reihenfolge kann es uns gelin-gen, ein positives Klima für Zuwanderung zu schaffen.Deutschland hat mit ökonomischer Zuwanderungbereits seit über 50 Jahren Erfahrung. Wir wissen, dasswir mit den Fachkräften, die zu uns kommen, nicht nurArbeitskräfte, sondern vor allen Dingen Menschen er-warten. Ich selbst bin im Alter von 15 Jahren aus Kroa-tien nach Deutschland gekommen. Seitdem habe ichviele Facetten der deutschen Migrationspolitik kennen-gelernt.Wir müssen die Ängste der Geringqualifizierten ernstnehmen. Einwanderung darf nicht nur unter wirtschaftli-chen Aspekten geschehen, sondern muss den Bestanddes sozialen Friedens in Deutschland gewährleisten.
Deswegen müssen wir – entgegen den Forderungen vonFDP und Grünen – die Übergangsregelungen für dieneuen EU-Mitgliedstaaten bis 2011 fortführen. Vor al-lem brauchen wir bis dahin in Deutschland einen flä-chendeckenden Mindestlohn.
Das Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz ist ein ver-nünftiger Ansatz. Es nimmt Rücksicht auf die Men-schen, die hierzulande leben, und auf die, die zu unskommen. Es zeugt auch von Wertschätzung für die Mi-granten, die ohne Bleiberecht bei uns leben; denn sie erhal-ten die Möglichkeit, unserer Gesellschaft etwas zurückzu-geben, statt nur aus humanitären Gründen auf unsere Hilfeangewiesen zu sein. Integration hilft beiden Seiten. Mitdem Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz zeigt die Bun-desregierung, dass sie Einwanderungspolitik mit Augen-maß betreibt.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen
für die Fraktion Die Linke.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Glaubt man den Wirtschaftsverbänden, derBundesregierung oder der FDP – das sollte man aber lie-ber nicht machen –, dann hat Deutschland einen drasti-schen Mangel an Fachkräften, der negative Folgen fürdie Volkswirtschaft hat. Damit die deutsche Wirtschaftkeine allzu großen Nachteile im Wettbewerb hat, willnun die Bundesregierung den Zuzug von hochqualifi-zierten ausländischen Fachkräften nach Deutschland er-leichtern. Das erscheint irgendwie plausibel.Aktuell gibt es jedoch keine Anzeichen für einen all-gemeinen Fachkräftemangel. Nach Untersuchungen desInstituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung – IAB –gibt es den beklagten Fachkräftemangel in der Formnicht. Es deuten sich nur partiell Engpässe an. Das be-trifft vor allen Dingen Akademikerinnen und Akademi-ker sowie Ingenieure bestimmter Fachrichtungen wieMaschinenbau-, Elektro- und Wirtschaftsingenieure.Während die Bundesregierung vom Fachkräfteman-gel redet, gibt es über 3 Millionen Erwerbslose und über1 Million Langzeiterwerbslose; aber eine aktivierendeArbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung gibt esnicht.
Während die Bundesregierung den Forderungen derWirtschaft reflexartig folgt, werden über 6,5 MillionenMenschen im Niedriglohnsektor beschäftigt, und1,3 Millionen Menschen erhalten zusätzliche Hilfen,weil ihr Lohn nicht ausreicht. Beachtlich ist hierbei, dassinzwischen nicht mehr hauptsächlich Geringqualifizierteund Ungelernte von Niedriglöhnen betroffen sind. Viel-mehr haben derzeit circa 75 Prozent aller Beschäftigtenim Niedriglohnbereich eine abgeschlossene Berufsaus-bildung oder sogar einen Hochschulabschluss. Über2 Millionen Beschäftigte gehen laut Verdi einem Zweit-job nach, um über die Runden kommen zu können.Während Sie den Mangel an qualifiziertem Personalbeklagen, haben selbst gut qualifizierte und motivierteBerufsanfänger oft Schwierigkeiten beim Berufseinstiegund müssen etwa in gering oder gar nicht vergütetenPraktika versuchen, Anschluss zu finden. Andereackern, wie gesagt, im Niedriglohnbereich, addieren oftmehrere Tätigkeiten und kommen dennoch nicht überdie Runden. Von einer ausreichenden Vorsorge für dasAlter können junge Leute, die unter solchen Erwerbsbe-dingungen arbeiten, nur träumen. Die daraus abgeführ-ten Minimalbeiträge führen direkt in die Altersarmutunter dem schönmalerischen Titel „Grundsicherung imAlter“. All dies gilt es zu bedenken, wenn Nebelkerzengeworfen werden und gesagt wird, wir hätten einenFachkräftemangel in Deutschland.Die Bundesregierung hat bisher im Bildungs-, Ausbil-dungs- und Hochschulbereich komplett versagt.
Der Bildungsbericht 2008 belegt dies schwarz auf weiß:die hohe Zahl von Schulabbrechern, das perspektivloseLernen in Hauptschulen, die erschreckende soziale Un-gleichheit, die Ausgrenzung von Kindern und Jugendli-chen mit Migrationshintergrund oder Behinderung, diechronische Unterfinanzierung aller Bildungsbereiche,die fehlenden Ausbildungsplätze und die sinkenden Stu-dienanfängerzahlen.Der OECD-Bildungsbericht zeigt, dass Deutschlandim internationalen Vergleich jedes Jahr an Boden ver-liert. Angesichts der Einführung von Studiengebühren,von unzureichendem BAföG und verstärkten Zulas-sungsbeschränkungen überrascht uns dies nicht wirklich.Dennoch werden weder vermehrt Bildungsanstrengun-gen unternommen noch vorhandene Personalreservenausgeschöpft.Während die Verbände der Wirtschaft von Fachkräf-temangel reden, lebt nach Schätzungen des Leiters desOldenburger Interdisziplinären Zentrums für Bildung
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Sevim DaðdelenSevim Dağdelenund Kommunikation in Migrationsprozessen, ProfessorDr. Rolf Meinhardt, etwa eine halbe Million zugewan-derte Akademikerinnen und Akademiker in Deutsch-land, deren Abschlüsse hierzulande nicht anerkanntwerden. Sie müssen in der Regel unqualifizierten Tätig-keiten nachgehen. So arbeiten häufig in Berlin russischeÄrztinnen als Putzfrauen oder Ingenieure als Taxifahrer.Dazu haben wir Ihnen bereits im letzten Jahr einen An-trag mit dem Titel „Für eine erleichterte Anerkennungvon im Ausland erworbenen Schul-, Bildungs- und Be-rufsabschlüssen“ vorgelegt.
Sie sind weiterhin untätig und berauben diese halbe Mil-lion Menschen ihrer Chance, qualifizierte Jobs auszu-üben.Fast könnte man glauben, dass die Bundesregierungnun ihr Herz für Migrantinnen und Migranten oderFlüchtlinge entdeckt hat. Dem ist aber nicht so; denn dieBundesregierung hat nur ein Herz für die Nützlichen.
So soll zwar Hochqualifizierten aus anderen EU-Staatenab 2009 der Zugang zum Arbeitsmarkt durch die Sen-kung der Mindestverdienstgrenze erleichtert werden. Fürdie hier lebenden geduldeten Menschen bleibt es hinge-gen bei den Arbeits-, Ausbildungs- und Studienhinder-nissen.
– Dann sagen Sie mir doch, warum Sie sie ausgeschlos-sen haben. Die Flüchtlingspolitik, die Sie seit Jahren be-treiben, ist nichts anderes als blanker Zynismus.
Sie beweisen erneut, dass bei Ihnen Humanität undMenschenrechte immer unter ökonomischem Verwer-tungsvorbehalt stehen. Das ist die Leitlinie der Politikder Bundesregierung. Selektionsmechanismen nachNützlichkeitskriterien lehnt die Linke generell ab. Be-sonders perfide finden wir sie, wenn sie sich auf das hu-manitäre Aufenthaltsrecht beziehen.Damit es keinen Mangel an Fachkräften gibt, schlägtIhnen die Linke Folgendes vor: Schaffen Sie die Arbeits-und Ausbildungsverbote für Flüchtlinge endlich ab!Schaffen Sie eine wirksame Bleiberechtsregelung, damiterst gar keine Härtefälle entstehen und es einer Entfris-tung der Härtefallregelung nicht bedarf! Setzen Sie zu-sätzliche Mittel für Krippen, Kindergärten, Schulen,Hochschulen sowie berufliche Bildung und Weiterbil-dung ein, wenn nicht der soziale Status über den Bil-dungsweg und später über die Erwerbsbiografie ent-scheiden soll! Nehmen Sie sich ein Beispiel an Hessenund schaffen Sie bundesweit alle Studiengebühren ab!
Nehmen Sie endlich die Unternehmen der Privatwirt-schaft und den öffentlichen Dienst in die Verantwortungund führen Sie eine gesetzliche Ausbildungsplatzumlageein, damit Jugendliche nicht ohne Berufsausbildung da-stehen!
Erkennen Sie endlich die biografischen Lebensleistun-gen der über 500 000 Menschen an, die einen im Aus-land erworbenen akademischen Abschluss haben, derbislang in Deutschland nicht anerkannt wurde!
Schaffen Sie Mindeststandards für Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer, ob sie nun aus Deutschland kommenoder aus Europa! Es muss endlich dafür gesorgt werden,dass unter gleichen Arbeitsbedingungen am gleichen Ortund für die gleiche Arbeit auch der gleiche Lohn gezahltwird. Führen Sie somit endlich den gesetzlichen Min-destlohn ein, damit Beschäftigte nicht mehr gegeneinan-der ausgespielt werden können!
Ratifizieren Sie endlich die Internationale Konventionder Vereinten Nationen zum Schutz der Rechte allerWanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen!Ich sage Ihnen: Wenn Sie das alles beherzigen, wer-den Sie keinen Fachkräftemangel mehr in diesem Landhaben.Übrigens fordern wir die letzten Punkte auch im Zu-sammenhang mit der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit.Eine Lohnspirale nach unten, die sich vermutlich dieFDP mit ihrem Antrag für die deutschen Unternehmenerhofft,
wollen wir mit der Unterstützung des Deutschen Ge-werkschaftsbundes im Interesse der ausländischen wieder inländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerverhindern.Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas sagen.Schon Karl Marx wusste: „Die Arbeiter haben kein Va-terland.“ – Die Linke ist nicht gegen die Zuwanderungvon Menschen nach Deutschland. Die Linke ist für Frei-zügigkeit mit globalen sozialen Rechten. Wir sind abergegen eine neue Gastarbeiterpolitik und die Ausbeutungvon Menschen, die in Deutschland leben oder ausEuropa zu uns kommen. Die Linke ist für die Solidaritätunter den Beschäftigten unterschiedlicher Länder, dievon denselben Konzernen und vom gleichen Kapitalausgebeutet und ausgeplündert werden.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja, ich komme zum Schluss. – Die Linke ist für Ar-beit, die ein Auskommen garantiert, und für gleicheRechte für alle; sie ist gegen Lohndumping, das Sie zuverschärfen versuchen.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19013
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Nun hat das Wort die Kollegin Brigitte Pothmer für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! FrauDağdelen, ich habe Ihren Beitrag gerade so verstanden,dass Sie in Bezug auf die Zuwanderung von Fachkräftenäußerst zurückhaltend sind. Sie hätten heute den Tages-spiegel lesen sollen. In dieser Zeitung hat der Wirt-schaftssenator Harald Wolf anlässlich dieser Debatte dievollständige Freizügigkeit für Arbeitnehmer, und zwarsofort, gefordert.
Vielleicht unterhalten Sie sich einmal innerhalb der Lin-ken über die Frage, wie Sie sich positionieren wollen.
– Er hat von Mindestlöhnen nichts gesagt, FrauDağdelen. Ich habe den Tagesspiegel hier. Lesen Sie dasnach und besprechen Sie das miteinander!
Ja, das stimmt: Das Proletariat hat keine Heimat, aberwir sollten ihm wenigstens im Gastland angenehme Be-dingungen bieten. Das wäre vernünftige Politik.
Ich habe Ihnen anlässlich der heutigen Debatte dreiZeitungsüberschriften mitgebracht, die ich kurz zitierenmöchte.
– Zeitungslesen bildet, manchmal sollten auch Sie dastun.
Am 11. September 2008 titelte die Welt: „Ausländermachen einen Bogen um Deutschland“. Der Anlass wardie Vorlage des aktuellen OECD-Migrationsberichts.Am 13. September 2008 legte die taz mit der Formulie-rung nach: „Bund lässt Akademiker links liegen“.
Anlass dafür war die Untersuchung zur mangelhaftenAnerkennung von im Ausland erworbenen Bildungsab-schlüssen. Aber schon am 1. September sagte HerrScholz – das meldete die FAZ –, das Problem des Fach-kräftemangels sei gelöst.
Nichts kann doch deutlicher dokumentieren, dass es indieser Regierung eine ungeheure Kluft zwischen demProblem an sich und dem Bewusstsein über dieses Pro-blem gibt.
Ich finde, Sie ignorieren die Fakten. Mit der Politik, dieSie machen, hängen Sie Deutschland im internationalenWettbewerb um die klügsten Köpfe und die bestenHände ab. Das ist nicht verantwortlich.
Auch das, was Sie jetzt wieder vorgelegt haben, be-wegt sich weiter im Klein-Klein. Ich will Ihnen sagen,was Ihre bisherigen Bemühungen gebracht haben: Vonder Veränderung des Zuwanderungsgesetzes in 2005 ha-ben gerade 1 100 Menschen profitiert.
Die im letzten Jahr beschlossenen Erleichterungen habenbis Ende 2007 gerade einmal 19 zusätzliche Ingenieureaus Osteuropa nach Deutschland gelockt.
Sie schauen auf eine gescheiterte Zuwanderungspolitik.
Das müssen Sie endlich zur Kenntnis nehmen. Hören Sieauf, so weiterzumachen!
Mit diesem Gesetzentwurf wird aber genauso weiter-gemacht.
Auch jetzt heißt es wieder: ein bisschen für Hochqualifi-zierte, ein bisschen für Geduldete und ein bisschen fürosteuropäische EU-Mitgliedstaaten. Stattdessen solltenSie endlich Arbeitnehmerfreizügigkeit herstellen, dieübrigens gerade von denjenigen Bundesländern gefor-dert wird, von denen Sie immer behaupten, Sie müsstensie davor schützen. Berlin fordert sie, Mecklenburg-Vor-pommern fordert sie, Brandenburg fordert sie. Sie allewollen die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit, weil sie ge-nau wissen, dass sie davon profitieren werden.
Bei der Politik, die Sie hier betreiben, nehmen Sienicht zur Kenntnis, dass andere Länder qualifiziertenZuwanderern längst den roten Teppich ausgerollt haben.Sie glauben immer noch, der Dienstboteneingang sei fürdiese Gruppe allemal gut genug. Aber das wird nichtfunktionieren.
Alle Fachleute nennen eine zentrale Voraussetzungdafür, dass Zuwanderung funktionieren kann, und das ist
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Brigitte PothmerTransparenz. Dieser Gesetzentwurf ist intransparent biszum Gehtnichtmehr.
Wir brauchen durchschaubare Regelungen, nicht nur fürHochqualifizierte, sondern auch für Fachkräfte sowie– da haben Sie recht – für Geringqualifizierte. Deswegenist die Idee des Punktesystems richtig.
Wir haben das schon vor Jahren auf die Tagesordnunggesetzt, aber Sie verweigern sich da.Übrigens brauchen wir eine grundsätzlich andere Hal-tung in dieser Frage. Zuwanderung ist kein Gnadenakt.Wir brauchen diese Menschen.
Die Wirtschaft braucht diese Menschen. Die Gesell-schaft wird durch diese Menschen bereichert.
Zuwanderung muss natürlich gestaltet werden. Einpaar Leitlinien für die Gestaltung will ich Ihnen nen-nen:Erstens. „Öffnung statt Abschottung“ muss eine derParolen sein. Deswegen führt kein Weg daran vorbei:Wir müssen, wie andere Länder auch, die volle Arbeit-nehmerfreizügigkeit herstellen.
Aber natürlich haben Sie recht: Wir müssen mit der Ein-führung von Mindestlöhnen in allen Branchen die Vo-raussetzung dafür schaffen. Dafür haben wir immer ge-worben. Ich verstehe einfach nicht, warum die SPD-Fraktion die Situation nicht nutzt, um den Mindestlohndurchzusetzen. Das wäre doch ein Argument. Sie könnteder CDU/CSU an dieser Stelle sagen: Wenn ihr Arbeit-nehmerfreizügigkeit wollt, dann brauchen wir den Min-destlohn. – Aber stattdessen wird in dieser Frage weiterblockiert.Selbst die Bundesagentur für Arbeit, die lange vor-sichtig argumentiert hat, sagt seit August dieses Jahres:Wir brauchen die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Die Sorge,dass der Arbeitsmarkt überschwemmt wird, ist unbe-rechtigt. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit bringt mehrVorteile als Probleme.Zweitens. Keine Migration ohne Integration. DieGastarbeiterpolitik der vergangenen Jahre ist gescheitert.Deswegen müssen wir Migration mit Integrationsmaß-nahmen verbinden. Natürlich müssen alle Flüchtlingeund Geduldeten Zugang zu Ausbildung und Arbeit ha-ben.Drittens. Ressourcen nutzen und nicht verplempern.Da haben Sie recht: Es ist doch absurd, dass ausgebildeteÄrztinnen als Putzfrauen und Ingenieure als Hilfskräftearbeiten. Das ist eine ungeheure Verschwendung desPotenzials von Menschen, die in diesem Land leben. Wirmüssen die Abschlüsse, die in anderen Ländern erwor-ben worden sind, endlich in stärkerem Maße anerken-nen.Viertens. Deutschland ist keine Insel. Deswegen brau-chen wir eine europäische Zuwanderungspolitik.Deutschland muss begreifen: Wir sind in einem gemein-samen Wirtschaftsraum, und deswegen müssen sich dieArbeitskräfte in diesem Wirtschaftsraum auch frei bewe-gen können.Last, but not least: Migranten und deutsche Arbeits-kräfte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Wir brauchen den Dreiklang. Wir brauchen die Fach-kräfte, die aus anderen Ländern kommen, aber nötig sindnatürlich auch eine bessere Qualifikation und Integrationderjenigen Gruppen, die bisher vernachlässigt wordensind, etwa der Frauen und Älteren. Wir können nichtnach Zuwanderung rufen und dann für diese Menschennichts tun. Wir brauchen sie alle.
Die Politik muss aufhören, ängstlich und konfus zuagieren. Mutig und klar muss sie sein; dann wird sieauch gelingen. Wir sind gern bereit, Ihnen dabei zurSeite zu stehen.Ich danke Ihnen.
Nächster Redner ist der Kollege Stephan Mayer für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenKolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Es ist mit Sicher-heit unbestreitbar, dass wir in der deutschen Wirtschafteinen gestiegenen Fachkräftebedarf und in manchenWirtschaftsbranchen mittlerweile auch einen Fachkräfte-mangel haben. Unbestreitbar ist aber ebenso, dass es inDeutschland nach wie vor über 3,2 Millionen offizielleArbeitslose gibt. Die Große Koalition hat zwar viel dafürgetan, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren und die Rah-menbedingungen so zu stricken, dass neue Arbeitsplätzegeschaffen werden konnten. Ich erinnere daran, dass wirmit über 5 Millionen Arbeitslosen in die Große Koali-tion gestartet sind und jetzt bei 3,2 Millionen liegen.Aber es gibt nach wie vor arbeitslose Fachkräfte. Ichzitiere nur einmal aus der Arbeitslosenstatistik vomAugust dieses Jahres: ungefähr 20 000 arbeitslose In-genieure, über 20 000 arbeitslose Techniker, 3 600 ar-
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Stephan Mayer
beitslose Chemiker und Physiker und über 13 000 ar-beitslose technische Sonderfachkräfte, insgesamt knapp60 000.Kernaufgabe der deutschen Politik muss es dahersein, dass wir uns um die arbeitsuchenden Menschen inDeutschland kümmern.
Die Menschen in Deutschland, vor allem die Arbeitslo-sen, müssen ordentlich qualifiziert werden, damit sie aufdem ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden können. Füruns als CSU und CDU ist eines klar: Bildung, Ausbil-dung und Qualifikation gehen vor Zuwanderung. Ich be-grüße daher nachdrücklich die nationale Qualifizie-rungsinitiative der Bundesbildungsministerin AnnetteSchavan. Es muss alles darangesetzt werden, dass wirunsere jungen Menschen dahin bringen, dass sie ordent-liche Ausbildungsberufe ergreifen und ihre Ausbildungerfolgreich abschließen, sodass sie dann auch einen er-folgreichen Weg im Arbeitsleben beschreiten können.Ferner müssen wir unser Bildungssystem insgesamtdurchlässiger gestalten. Vorbildlich ist in diesem Zusam-menhang Bayern. An den bayerischen Hoch- und Fach-hochschulen haben 40 Prozent aller Studierenden ihrenZugang nicht über das Abitur genommen. Das versteheich unter einem durchlässigen Bildungssystem.Die Bedeutung des Ausländer- und Zuwanderungs-rechts wird meines Erachtens bei der Frage, ob wir inDeutschland genügend Fachkräfte und Hochqualifizierteaus dem Ausland akquirieren können, überschätzt. Ichglaube, dass andere Faktoren eine größere Rolle spielen,beispielsweise die Möglichkeit, in Deutschland ordent-lich zu verdienen. Diese Spitzenkräfte, die wir nachDeutschland holen wollen – der weltweite Kampf um diefähigen und intelligenten Köpfe ist schon angesprochenworden –, können wir nur gewinnen, wenn die Wirt-schaft sie auch ordentlich bezahlt. Auch müssen wir die-sen Spitzenkräften aus dem Ausland entsprechende For-schungs- und Entwicklungsmöglichkeiten in Deutschlandbieten. Diese Faktoren sind meines Erachtens bei wei-tem ausschlaggebender als das Zuwanderungs- und Aus-länderrecht.Es ist Aufgabe der Politik, die Rahmenbedingungenfür die deutsche Wirtschaft so zu gestalten, dass sie ge-genüber der ausländischen Konkurrenz wettbewerbsfä-hig ist. Ich sage aber auch ganz deutlich, dass die Unter-nehmen nicht nur nach dem Staat rufen dürfen, sondernauch selbst in der Verpflichtung sind, attraktive Rahmen-bedingungen zu bieten.
Sie müssen ordentliche Gehälter zahlen, aber auch da-rauf achten, dass sie schon frühzeitig deutsche Nach-wuchskräfte ausbilden und damit die künftigen Füh-rungskräfte in ihren Unternehmen heranziehen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Ar-beitsmigrationssteuerungsgesetz, das wir heute in ersterLesung beraten, ist meines Erachtens ein zielführendererster Beitrag zur Sicherung der Fachkräftebasis inDeutschland. Ich gehe auf einige Punkte detaillierter ein.Schon erwähnt wurde die geplante Absenkung der Min-destverdienstgrenzen, denen in der Debatte aber eine zuhohe Bedeutung beigemessen wird, weil es schon heutemöglich ist, unterhalb dieser Mindestverdienstgrenzevon derzeit 86 600 Euro Nicht-EU-Ausländer nachDeutschland zu holen, wenn die Vorrangprüfung ergibt,dass es auf dem deutschen Arbeitsmarkt keinen ver-gleichbaren deutschen Arbeitslosen gibt und auch keinEU-Ausländer dem deutschen Arbeitsmarkt zur Verfü-gung steht.
Dennoch ist es richtig, diese Absenkung vorzunehmen.Ich schließe nur die Frage an, was passiert, wenn dieseAbsenkung der Mindestverdienstgrenze auch wiedernicht den Erfolg zeitigen sollte, den wir uns alle davonerhoffen.
Bei dieser Gelegenheit weise ich auch noch daraufhin, dass es schon heute – dies ist in der Wirtschaft leiderzu wenig bekannt – die von uns gewünschten flexiblen,intelligenten Methoden gibt, um auch zielgerichtete Zu-wanderung nach Deutschland zu ermöglichen.
Die Bundesagentur kann zum Beispiel gemäß § 39Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 des Aufenthaltsgesetzes sektoral,also bei bestimmten Branchen und Wirtschaftszweigen,auf die sogenannte Vorrangprüfung verzichten.Ich möchte ganz deutlich daran erinnern, dass dieBundesregierung in Meseberg beschlossen hatte, ab dem1. November letzten Jahres für Fahrzeugbauingenieure,Elektroingenieure und Maschinenbauingenieure auf dieVorrangprüfung zu verzichten. Dies sind, meine liebenKollegen von der FDP, meines Erachtens diese intelli-genten, flexiblen, passgenauen Methoden und Mittel, diewir brauchen, um eine gezielte, plangerichtete Zuwande-rung nach Deutschland zu erreichen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein weitererkritischer Punkt in diesem Gesetzentwurf ist mit Sicher-heit die Frage, wie wir mit den geduldeten Personen inDeutschland umgehen. Um eines von vornherein klarzu-machen: Mir ist es lieber, dass ein geduldeter Ausländer,der aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht ab-geschoben werden kann, der rechtstreu ist, bisher nichtstraffällig geworden ist und über ausreichend Wohnraumund ausreichende Deutschkenntnisse verfügt,
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arbeitet, damit selber zu seinem Lebensunterhalt beiträgtund in Deutschland Steuern und Sozialversicherungsbei-träge zahlt,
als dass er dem Staat auf der Tasche liegt und letztlichnur Empfänger von sozialen Transferleistungen ist.
Wir werden bei der Behandlung des Gesetzentwurfespeinlichst darauf achten, dass eines nicht ausgelöst wird,nämlich eine falsche Signalwirkung im Hinblick auf eineungesteuerte und nicht gewollte Zuwanderung nachDeutschland. Dieser Pull-Effekt, den diese Regelungauslösen könnte, muss auf jeden Fall vermieden werden.
Deswegen werden wir bei der weiteren Beschäftigungmit diesem Gesetzentwurf darauf achten, dass hier keinfalscher Anreiz, meine liebe Kollegin Dağdelen, zumMissbrauch gesetzt wird. Genau dies wollen wir aus-drücklich verhindern.
Ich möchte deswegen zum Beispiel hinterfragen, obeine Beschäftigung von zwei Jahren in Deutschland wirk-lich ausreichend dafür ist, dass eine Person, die – wohl-gemerkt – an sich zur Ausreise verpflichtet ist, inDeutschland in den Genuss einer allgemeinen Arbeitser-laubnis kommen kann. Ich denke, über den Zeitraum,der erforderlich ist, um eine Arbeitserlaubnis zu bekom-men, müssen wir bei der Beschäftigung mit diesem Ge-setzentwurf noch einmal ganz vorurteilsfrei und offendiskutieren.Ich möchte auch anmahnen, dass wir uns bei der Be-handlung des Gesetzentwurfes die Zeit und die Mußenehmen, darüber zu diskutieren, ob es richtig ist, schonjemanden als Fachkraft zu definieren, der nur eine drei-jährige Berufsausbildung absolviert hat.
Auch dies müssen wir mit Sicherheit bei der Behandlungdes Gesetzentwurfes noch einmal besprechen.An dieser Stelle möchte ich noch darauf hinweisen,dass es einen Antrag des Freistaates Bayern und desLandes Niedersachsen im Bundesrat gibt, der meines Er-achtens sehr begrüßenswert und sehr bemerkenswert istund der mit Sicherheit auch in die Beratung hier im Bun-destag miteinbezogen werden sollte.Der Antrag der FDP auf Entfristung des § 23 a desAufenthaltsgesetzes hat sich erledigt, weil er schon inden Gesetzentwurf aufgenommen wurde. Ich würde Ih-nen, meine lieben Kollegen von der FDP, deswegen an-heimstellen, diesen Antrag zurückzuziehen.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, vonseitender Union werden wir die Behandlung dieses Gesetzent-wurfes sehr aufmerksam, sehr intensiv und sehr wohl-wollend verfolgen.Herzlichen Dank.
Nun hat das Wort für die SPD-Fraktion der Kollege
Rüdiger Veit.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Unsere Republik wird immer leerer. In manchen Jahrensind mehr Personen aus Deutschland weggezogen alsneu hinzugewandert. Bei der Geburtenrate liegen wir aufdem letzten bzw. vorletzten Platz in Europa. Wir sind da-her – darin scheinen jetzt alle übereinzustimmen – zurAufrechterhaltung unseres Wirtschaftssystems und unse-rer Sozialversicherungssysteme dringend gefordert, Zu-wanderung zu organisieren bzw. dafür zu sorgen, dassqualifizierte ausländische Mitbürger hier bleiben könnenund nicht abgeschoben werden. Darin, lieber KollegeMayer, sind wir uns einig. Ich erlaube mir aber, gleichnoch auf einen Widerspruch in Ihrer Argumentation ein-zugehen.Wir als SPD-Fraktion haben übrigens diese Notwen-digkeiten schon vor mehr als sieben Jahren erkannt unddamals mit Bündnis 90/Die Grünen ein Zuwanderungs-gesetz geschaffen und hier zur Beratung vorgelegt,
in dem ein Punktesystem vorgesehen war, das es erlaubthätte, flexibel auf die Anforderungen des Arbeitsmarktesund der Wirtschaft auf der einen Seite und die menschli-chen Fähigkeiten auf der anderen Seite einzugehen.Auch die Zahl der Zuwanderer hätte man nach den ent-sprechenden Erfordernissen steuern können. Es war lei-der die CDU/CSU sowohl hier im Bundestag als auch inden Ländern, die dies nicht so gesehen hat und diesePunkteregelung gestrichen hat. Wir bedauern das sehr.Heute besteht allgemeine Übereinstimmung darin,dass wir handeln müssen. Wir sollten uns nicht über dieZuspätgekommenen, was die Einsichtsgewinnung an-geht, beklagen. Ich bin froh darüber, dass wir jetzt soweit sind, dass wir darüber politisch im Wesentlichenunstreitig diskutieren können.Nun ist dieser Entwurf eines Gesetzes zur Steuerungder Arbeitsmigration ein – erlauben Sie mir bitte, ihn sozu qualifizieren – kleiner, aber wichtiger Etappensiegder Vernunft
und findet – von entsprechenden Details abgesehen, dieich noch ansprechen werde – unsere ausdrückliche Zu-stimmung. Richtigerweise wird die Mindesteinkom-
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Rüdiger Veitmensgrenze für Hochqualifizierte gesenkt. KollegeMayer, Sie haben recht, wir wissen nicht genau, ob die64 000 Euro die richtige Größenordnung sind. Wir ha-ben schon in der Anhörung zum Zuwanderungsgesetz– ich glaube, sie fand im Mai 2007 statt – von den Prak-tikern gehört, dass die damals und auch heute noch gel-tende Grenze von 86 000 Euro viel zu hoch ist und in derPraxis ins Leere läuft.Wichtig ist der Schwerpunkt der neuen gesetzlichenRegelung. In der Begründung heißt es richtigerweise:Deutschland will vor allem die Potenziale derjeni-gen jungen Ausländer und Ausländerinnen nutzen,die durch Integration im Inland mit der deutschenKultur vertraut sind und hier ihre Ausbildung absol-vieren …Weiter heißt es dann – dem stimme ich voll zu –, dassdie bisherige gesetzliche Altfallregelung und auch dievon den Innenministern beschlossene Bleiberechtsrege-lung manchmal viel zu hohe Hürden aufstellen. Insofernhabe ich mich gefreut, von der Gesetzesbegründung inmeiner Einschätzung bestätigt zu werden.Die jetzige Neuregelung soll dem ein Stück weit ent-gegenwirken. Wir wollen vor allen Dingen denjenigeneinen gefestigten Verbleib ermöglichen – das ist dieerste Gruppe –, die in Deutschland eine Berufsausbil-dung oder ein Studium erfolgreich absolviert haben. Diezweite Gruppe umfasst die hier anerkannten Hochschul-absolventen, die zwei Jahre lang durchgängig in ihremBeruf gearbeitet haben.In diesem Zusammenhang – lassen Sie mich das sa-gen – gibt es Übereinstimmung mit den Rednern der Op-position: Wir müssen aufpassen, dass wir bei der Ver-wendung der Terminologie „anerkannter ausländischerHochschulabschluss“ die Kriterien nicht wieder so engfassen, dass dadurch im Ergebnis viel zu viele Menschennicht berücksichtigt werden.
Vielmehr sollten wir uns folgender Terminologie annä-hern: Wenn der ausländische Hochschulabschluss demdeutschen in etwa entspricht, dann ist die Voraussetzungerfüllt.Die dritte Gruppe, welcher ein sicherer Verbleib er-möglicht werden soll, umfasst diejenigen Fachkräfte, diezwei Jahre lang durchgängig in einer Beschäftigung tätigwaren, die eine qualifizierte Berufsausbildung voraus-setzt. Mit Blick auf diesen Vorschlag ist gefragt worden,ob wir dadurch vielleicht einen Pull-Effekt auslösen.Das, lieber Kollege Mayer, vermag ich beim besten Wil-len nicht zu erkennen. Denn wir reden von denjenigen,die bereits langjährig hier leben, geduldet sind und imArbeitsmarkt integriert sind. Insofern kann man bei Aus-ländern, die noch gar nicht in Deutschland sind, einensolchen Sog oder Pull-Effekt nicht bewirken.Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, dass ichmehrfach an dieser Stelle – aber nicht nur hier – folgen-den Widersinn beklagt habe: Auf der einen Seite jam-mern wir über zu geringe Geburtenraten und darüber,dass unsere Sozialversicherungssysteme nicht mehrfunktionieren. Auf der anderen Seite schieben wir viele,die nur geduldet sind und keinen gesicherten Aufenthalthaben, notfalls sogar zwangsweise ab. Aus diesemGrunde haben die Große Koalition einerseits und die In-nenminister der Länder andererseits erfreulicherweiseeine Altfall- und Bleiberechtsregelung geschaffen, die50 000 Menschen eine Perspektive ermöglicht. Dasreicht aber nicht aus. Es ist ziemlich kurios, dass manauf der einen Seite denjenigen, die für unsere Wirtschaftin besonderer Weise nützlich sein könnten, die Tür weistund auf der anderen Seite sagt, dass man neue Zuwande-rung qualifizierter Arbeitskräfte braucht.Jetzt können wir dieser Bevölkerungsgruppe, diesenausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, mögli-cherweise Rechtssicherheit bzw. einen gefestigten Auf-enthalt gewähren. Aber die Anzahl ist schwer zu bezif-fern. Ich jedenfalls sehe mich außerstande, zu sagen, wieviele betroffen sind.Es gibt in den Beiträgen der Opposition den Hinweis,wir sollten am besten sofort volle Arbeitnehmerfreizü-gigkeit in der EU gewähren. Ich persönlich sage ausmeiner eher ausländerrechtlichen Betrachtungsweiseheraus: Vielleicht wäre es sinnvoller, bei denjenigen einwenig großzügiger zu sein, die zwar keine EU-Angehö-rigen sind, aber als ausländische Mitbürger hier inte-griert und ausgebildet worden sind.
– Ich höre von Herrn Wolff, da sei kein Widerspruch.Wir werden aber an der einen oder anderen Stelle einpaar kritische Bemerkungen anbringen und das Gesetz-gebungsverfahren dazu benutzen müssen, in den Aus-schüssen Vorschriften herauszunehmen, die nicht in dasGesetz hineingehören. Ich nenne nur ein Beispiel fürÜberregulierung: Im Gesetzentwurf ist der Ermessens-ausweisungstatbestand der Täuschung des Arbeitgebersneu aufgenommen worden. Das ist erstens deswegenvöllig überflüssig, weil es systemfremd ist; denn norma-lerweise interessiert es die Ausländerbehörden und dendeutschen Staat überhaupt nicht, was im privaten Ver-hältnis geschieht, es sei denn, es ist strafbar.
Zweitens ist es deswegen überflüssig, weil jeder auslän-dische Mitbürger, der seinen Arbeitgeber bei der Einge-hung eines Arbeitsverhältnisses über die Voraussetzun-gen täuscht, damit zugleich auch die Ausländerbehördetäuscht, die darüber entscheidet, dass er aufgrund diesesArbeitsverhältnisses eine Aufenthaltserlaubnis oder Nie-derlassungserlaubnis erhält. Deswegen ist das ein typi-scher Fall von Überregulierung und kann aus demGesetzentwurf gestrichen werden. Diese Ermessensaus-weisungsmöglichkeit ist bereits nach anderen Vorschrif-ten gegeben.
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Rüdiger VeitIch möchte an dieser Stelle im Rahmen der zur Verfü-gung stehenden Redezeit noch zwei andere Bemerkun-gen aus ausländerrechtlicher Sicht machen. Ich finde eserfreulich, dass die sogenannte Härtefallregelung des§ 23 a des Aufenthaltsgesetzes entfristet werden soll.Mittlerweile haben alle Bundesländer Härtefallkommis-sionen geschaffen. Hinsichtlich der Zusammensetzungder Kommissionen, ihrer Verfahren, ihrer Effektivitätund in Bezug darauf, ob die Länderinnenminister auf dieEmpfehlungen achten, gibt es erhebliche Unterschiedezwischen den Bundesländern. Trotzdem ist das vomPrinzip her gut. Wir haben die Härtefallregelung seiner-zeit nicht nur deswegen befristet, weil man sehen wollte,wie es mit der Einklagbarkeit ist, sondern auch deshalb,weil wir der Auffassung waren, dass unser neues Aus-länder- und Zuwanderungsrecht nun so gut sei, dass inZukunft womöglich gar keine Härtefälle mehr entstehenkönnten. Das ist aber leider ein Trugschluss, insbeson-dere aufgrund der auf Drängen der Union wieder einge-führten Duldung; hier gibt es das Problem der Kettendul-dung, und da sind wir wieder bei dem Thema Altfall-und Bleiberechtsregelung, die lange nicht beseitigt sind.Selbst wenn wir mit diesem Arbeitsmigrationssteue-rungsgesetz einen Beitrag dazu leisten, dass die hier gutIntegrierten bleiben können, sind damit immer nochnicht alle Fälle gelöst, die in humanitärer Hinsicht hättengelöst werden müssen.Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Man hätte diesesGesetzgebungsverfahren aus der Sicht der meisten in derSPD-Fraktion, auch aus meiner persönlichen Sicht,durchaus zum Anlass nehmen können, noch einen ande-ren Punkt aktuell mit zu regeln. Ich meine die Vorausset-zungen für den Ehegattennachzug. Wir haben im letz-ten Änderungsverfahren zum Aufenthaltsgesetz aufDrängen der Union Vorschriften mit aufgenommen, dieals Voraussetzung für den Nachzug beispielsweise denvorherigen Erwerb von Sprachkenntnissen im Auslandverlangen.
Nun hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom25. Juli dieses Jahres, also vor nicht allzu langer Zeit,entschieden, dass immer dann, wenn ein Staatsbürgeraus der EU seinen Ehegatten aus dem Ausland nachzie-hen lassen will, nicht das nationale Recht bestimmendarf, dass das an bestimmte Voraussetzungen gebundenist, also auch nicht, wie in unserem Fall, an den vorheri-gen Erwerb von Deutschkenntnissen. Nun muss mannicht über besonders viel logisches Denkvermögen ver-fügen, um festzustellen: Wenn ein EU-Staatsangehörigerin Deutschland ohne jede Voraussetzung seinen auslän-dischen Ehegatten nachziehen lassen darf, dann kannman schlecht von einem deutschen Staatsbürger, der hierlebt und hier geboren ist, erwarten, dass er erst einmaldafür sorgt, dass die Ehefrau oder der Ehemann im Aus-land Deutschkenntnisse erwirbt. Das ist ein Wertungswi-derspruch und eine Inländerdiskriminierung, die nachmeinem Dafürhalten nicht aufrechterhalten werdenkann. Deswegen rege ich durchaus an, dass man das ineinem solchen Gesetz aktuell regelt.
– Das war damals ein schmerzhafter Kompromiss, liebeKollegin Dağdelen. Wenn der Europäische Gerichtshofuns jetzt ein schlagendes Argument liefert, sodass wirmit unserem Koalitionspartner über diesen Wertungswi-derspruch noch einmal reden können, dann werden wirdas gerne tun und das, wenn wir uns durchsetzen, im Ge-setz entsprechend ändern.Insgesamt also ein begrüßenswerter Gesetzentwurf,ein wichtiger kleiner Etappensieg; die Richtung jeden-falls stimmt. Deswegen wird die SPD-Fraktion den Be-ratungsprozess sehr konstruktiv begleiten.Danke für die Aufmerksamkeit.
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Michael Hennrich für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Wir behandeln heute das ThemaSteuerung der Arbeitsmigration nach Deutschland. DieProbleme sind vielfältig und facettenreich. Die Bundes-regierung hat hierzu einen umfassenden Maßnahmenka-talog vorgelegt, um die Fachkräftebasis in Deutschlandzu sichern.Ich möchte einen Punkt gesondert behandeln, zu demuns ein Antrag von den Grünen und ein Antrag von derFDP vorliegen. Es geht um die Beschränkung der Ar-beitnehmerfreizügigkeit für Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer aus den neuen Beitrittsstaaten in Ost- undMitteleuropa.
Wie Sie an dem Maßnahmenkatalog sehen, wollenwir die Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit umzwei Jahre verlängern. Die Grünen und die FDP lehnendies ab. Sie verweisen auf Großbritannien, Irland undSchweden, die von Anfang an keine Beschränkung hat-ten, sowie auf zahlreiche andere Mitgliedstaaten, diemittlerweile angeblich von dieser Beschränkung abge-rückt seien. Frau Pothmer, Sie verweisen auch auf dievielfältigen positiven Erfahrungen, die man insbeson-dere in Großbritannien gemacht habe, und auf den kul-turellen Austausch.In der Tat waren am Anfang die Erfahrungen positiv.Aber wenn Sie in den letzten Wochen und Monaten dieMedien verfolgt haben, dann wissen Sie, dass es zu einerVeränderung der Sichtweise in Großbritannien gekom-men ist. Wenn Sie die Schlagzeilen britischer Tageszei-
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Michael Hennrichtungen lesen – Frau Pothmer, Sie sind ja belesen –, dannerfahren Sie etwas über die Ausbeutung der Arbeitneh-mer und über die schlechte soziale Versorgung der Mi-granten. Das alles geschieht trotz staatlichen Mindest-lohnes. Selbst offizielle Stellen in Großbritannienräumen mittlerweile ein, dass sie mit der Migration über-fordert sind.Ich frage Sie, warum fast alle EU-Staaten die Arbeit-nehmerfreizügigkeit für Rumänien und Bulgarien be-schränken. Schweden ist das einzige Land, das für Men-schen aus Rumänien und Bulgarien die volleArbeitnehmerfreizügigkeit garantiert. Alle anderen EU-Mitgliedstaaten machen von den Ausnahmeregelungenfür die neuen Beitrittsstaaten Rumänien und BulgarienGebrauch.Die Grünen sprechen in ihrem Antrag vom Wettbe-werb um die besten Köpfe aus Ost- und Mitteleuropa.In der Tat brauchen wir solche klugen Köpfe. Die Bun-desregierung hat darauf eine Antwort gegeben. Es lohntsich, einmal die Statistiken aus Großbritannien anzu-schauen. Wer ist zugewandert, und in welchen Tätig-keitsbereichen werden diese Migranten in Großbritan-nien eingesetzt? Fabrik- und Lagerarbeiter, Verpackerund Beschäftigte im Transportwesen: 82 Prozent, Ser-vicekräfte für Hotel- und Gaststättengewerbe: 11 Pro-zent, Landwirtschaft: 4 Prozent. Das sind meines Erach-tens keine Jobs, für die wir Hochqualifizierte brauchen.Der Kollege Mayer hat das schon ausgeführt. Wir kön-nen diese Stellen bei uns genauso gut mit heimischenArbeitskräften besetzen.Lassen Sie mich noch auf das Thema Saisonarbeits-kräfte eingehen, das Sie in Ihrem Antrag ebenfalls er-wähnen. Wir haben alle noch die Situation von vor zweiJahren vor Augen, als die Ernte nicht eingefahren wer-den konnte. Aber dies war kein Problem der fehlendenArbeitnehmerfreizügigkeit. Diese Saisonarbeitskräftefehlten nämlich auch in Großbritannien. Wir haben vorzwei Jahren einfach erlebt, wie Markt funktioniert.Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat eine Reisenach Rumänien unternommen. Die Grünen und leiderauch die FDP waren nicht dabei.
Wenn Sie dabei gewesen wären, dann hätten Sie fol-gende Erfahrung gemacht: Rumänen, Polen und Bulga-ren gehen nicht nach Deutschland oder Großbritannienaus zwei ganz einfachen Gründen: Das Wetter in Spa-nien und Italien ist besser, und bezahlt wird dort genausogut wie in Deutschland. Deswegen kamen die Saisonar-beitskräfte nicht nach Deutschland. Unsere Landwirtehaben aber darauf reagiert. In diesem Jahr waren dieProbleme daher bei weitem nicht so groß wie vor zweiJahren.Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Aspekt an-sprechen, auf den Sie überhaupt nicht eingegangen sind,Frau Pothmer. In Anträgen der Grünen zur Entwick-lungspolitik steht immer, dass wir für Afrika keine Fach-kräfte abwerben sollen, die im Bereich des Gesundheits-wesens tätig sind, und Ähnliches. Wir haben in Litauenvor einem Jahr erlebt, dass auch dort eine umfassendeGesundheitsversorgung der Bevölkerung nicht mehrmöglich war.Wenn Sie die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit einfüh-ren, hat dies zur Folge, dass Sie diese Länder ihrer Zu-kunftschancen berauben.
Was wir brauchen, ist eine kluge Migrationspolitik, FrauPothmer. Darauf hat die Bundesregierung eine Antwortgegeben. Ihre Anträge lehnen wir ab.Ich bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf denDrucksachen 16/10288, 16/10237, 16/9091 und 16/10310an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüssevorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ichsehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-schlossen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 38 a bis 38 iisowie Zusatzpunkte 5 a und 5 b auf:38 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung des § 33des Gerichtsverfassungsgesetzes– Drucksache 16/514 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschussb) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung des§ 573 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs– Drucksache 16/1029 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungc) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Ver-waltungsgerichtsordnung– Drucksache 16/1345 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitd) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines … Strafrechtsänderungsgeset-zes – § 21 StGB
– Drucksache 16/4021 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Innenausschuss
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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldte) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines … Gesetzes zur Änderung desBundeszentralregistergesetzes– Drucksache 16/4199 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendf) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Op-ferschutzes im Strafprozess– Drucksache 16/7617 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Innenausschussg) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Intensivierung desEinsatzes von Videokonferenztechnik in ge-richtlichen und staatsanwaltschaftlichen Ver-fahren– Drucksache 16/7956 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Innenausschussh) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Reform des straf-rechtlichen Wiederaufnahmerechts– Drucksache 16/7957 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Innenausschussi) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung derBundesnotarordnung und anderer Gesetze– Drucksache 16/8696 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologiej) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines … Gesetzes zur Änderung desBundeszentralregistergesetzes– Drucksache 16/9021 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendk) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung desSchutzes der Opfer von Zwangsheirat undschwerem „Stalking“– Drucksache 16/9448 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfel) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Einführung einerModellklausel in die Berufsgesetze der Heb-ammen, Logopäden, Physiotherapeuten undErgotherapeuten– Drucksache 16/9898 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und Sozialesm) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ge-setzes über den Bau und den Betrieb von Ver-suchsanlagen zur Erprobung von Technikenfür den spurgeführten Verkehr– Drucksache 16/9899 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungn) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas-sung der Vorschriften des Internationalen Pri-vatrechts an die Verordnung Nr. 864/2007– Drucksache 16/9995 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheito) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Düngegesetzes– Drucksache 16/10032 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitp) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zurÄnderung des Gesetzes über Meldungen überMarktordnungswaren– Drucksache 16/10033 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzq) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch-führung des Übereinkommens vom 30. Okto-ber 2007 über die gerichtliche Zuständigkeitund die Anerkennung und Vollstreckung vonEntscheidungen in Zivil- und Handelssachen– Drucksache 16/10119 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschussr) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abwehrvon Gefahren des internationalen Terrorismusdurch das Bundeskriminalamt– Drucksache 16/10121 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Auswärtiger AusschussRechtsausschussHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19021
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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldts) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch-führung gemeinschaftlicher Vorschriften überdas Verbot der Einfuhr, der Ausfuhr und desInverkehrbringens von Katzen- und Hundefel-
– Drucksache 16/10122 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzt) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dasPersonal der Bundesagentur für Außenwirt-schaft
– Drucksache 16/10293 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Innenausschussu) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zurÄnderung des Filmförderungsgesetzes– Drucksache 16/10294 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medienv) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro-tokoll vom 15. Oktober 2007 zur Änderungdes Abkommens zwischen der BundesrepublikDeutschland und der Russischen Föderationzur Vermeidung der Doppelbesteuerung aufdem Gebiet der Steuern vom Einkommen undvom Vermögen vom 29. Mai 1996 und des Pro-tokolls hierzu vom 29. Mai 1996– Drucksache 16/10295 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschussw) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-trag vom 3. März 2008 zwischen der Bundes-republik Deutschland und dem Zentralrat derJuden in Deutschland – Körperschaft des öf-fentlichen Rechts – zur Änderung des Vertra-ges vom 27. Januar 2003 zwischen der Bundes-republik Deutschland und dem Zentralrat derJuden in Deutschland – Körperschaft des öf-fentlichen Rechts –– Drucksache 16/10296 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussHaushaltsausschuss gemäß § 96 GOx) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Dreizehnten Geset-zes zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes– Drucksache 16/10297 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungy) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zurÄnderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes– Drucksache 16/10298 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
RechtsausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitz) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Veröf-fentlichung von Informationen über die Zah-lung von Mitteln aus den Europäischen Fonds
– Drucksache 16/10299 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzaa) Beratung des Antrags der Abgeordneten SylviaKotting-Uhl, Cornelia Behm, Hans-Josef Fell,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENGrenzwerte bei Müllverbrennungsanlagendem technischen Fortschritt anpassen unddeutlich absenken– Drucksache 16/5775 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Gesundheitbb)Beratung des Antrags der Abgeordneten MichaelLeutert, Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEFür die Durchsetzung von Mindeststandardshumanen Arbeitens in der VolksrepublikChina eintreten – Menschenrechte und Sozial-standards bei Konzerngeschäften in und mitChina durchsetzen– Drucksache 16/9413 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungcc) Beratung des Antrags der AbgeordnetenIrmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck ,Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGrundrechte schützen – Frauenhäuser sichern– Drucksache 16/10236 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und Technologie
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19022 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldtdd)Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der Geschäftsord-
nungTechnikfolgenabschätzung
Potenziale und Anwendungsperspektiven derBionik
– Drucksache 16/3774 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitee) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der Geschäftsord-
nungTechnikfolgenabschätzung
Politik-Benchmarking: Akademische Spin-offsin Ost- und Westdeutschland und ihre Erfolgs-bedingungen– Drucksache 16/4669 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Sozialesff) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der Geschäftsord-
nungTechnikfolgenabschätzung
Politikbenchmarking: Nachfrageorientierte In-novationspolitik– Drucksache 16/5064 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitgg)Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der Geschäftsord-
nungTechnikfolgenabschätzung
TA-Vorstudie: Perspektiven eines CO2- undemissionsarmen Verkehrs – Kraftstoffe undAntriebe im Überblick– Drucksache 16/5325 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für Tourismushh)Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der Geschäftsord-
nungTechnikfolgenabschätzung
TA-Projekt: Hirnforschung– Drucksache 16/7821 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Kultur und Medienii) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der Geschäftsord-
nungTechnikfolgenabschätzung
Internetkommunikation in und mit Entwick-lungsländern – Chancen für die Entwicklungs-zusammenarbeit am Beispiel Afrika– Drucksache 16/9918 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und MedienZP 5a) Erste Beratung des von den AbgeordnetenDr. Hermann Otto Solms, Jens Ackermann,Dr. Karl Addicks, weiteren Abgeordneten und derFraktion der FDP eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Stärkung der Steuerautonomie inden Ländern
– Drucksache 16/10309 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten JürgenTrittin, Kerstin Müller , WinfriedNachtwei, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKontraproduktive US-Operationen in Pakis-tan sofort einstellen – Umfassende Strategiezur Stabilisierung Pakistans entwickeln– Drucksache 16/10333 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
InnenausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19023
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Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtEs handelt sich dabei um Überweisungen im verein-fachten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. – Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Siesind also damit einverstanden. Dann sind die Überwei-sungen so beschlossen.Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 39 a bis39 c sowie zu Zusatzpunkt 6. Dabei geht es um die Be-schlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Ausspra-che vorgesehen ist.Ich rufe Tagesordnungspunkt 39 a auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Müller , Winfried Nachtwei, Jürgen Trittin,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENKeine militärische Eskalation gegenüber demIran – Konflikt um das Atomprogramm mitVerhandlungen lösen– Drucksachen 16/4407, 16/7515 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zuGuttenbergDr. Rolf MützenichDr. Werner HoyerDr. Norman PaechKerstin Müller
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/7515, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4407 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist die Be-schlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfrak-tionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen derFraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion DieLinke angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 39 b auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses zudem Antrag der Abgeordneten WolfgangWieland, Volker Beck , Monika Lazar,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENEuropol-Beschluss rechtsstaatlich verbessern– Drucksachen 16/7742, 16/9825 –Berichterstattung:Abgeordnete Ralf GöbelWolfgang GunkelGisela PiltzUlla JelpkeWolfgang WielandDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/9825, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7742 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionengegen die Stimmen der FDP-Fraktion und der FraktionBündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion DieLinke angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 39 c auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Josef PhilipWinkler, Volker Beck , Monika Lazar, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENDas Parlament bei der Ausgestaltung des Ein-bürgerungstests beteiligen– Drucksachen 16/9602, 16/9945 –Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelRüdiger VeitHartfrid Wolff
Sevim DağdelenJosef Philip WinklerDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/9945, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9602 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenund der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Frak-tion der FDP angenommen.Wir kommen zum Zusatzpunkt 6:Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-ausschusses
Übersicht 12über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-gericht– Drucksache 16/10321 –Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ist je-mand dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist einstimmig angenommen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,Werner Dreibus, Ulla Lötzer, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion DIE LINKEEntfernungspauschale sofort vollständig aner-kennen – Verfassungsmäßigkeit und Steuerge-rechtigkeit herstellen– Drucksachen 16/9167, 16/9569 –Berichterstattung:Abgeordnete Olav GuttingDr. Barbara Höll
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19024 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtIch will darauf hinweisen, dass wir über diese Be-schlussempfehlung später namentlich abstimmen wer-den.
Zunächst kommen wir aber zur Aussprache. Nach einerinterfraktionellen Vereinbarung ist dafür eine halbeStunde vorgesehen. – Ich sehe dazu keinen Widerspruch.Dann können wir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Kollegen Florian Pronold für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zum wiederholten Male, aber dieses Mal zu
prominenterer Stunde,
haben wir das Thema Entfernungspauschale auf der Ta-
gesordnung. Dieses Mal hat die Linke einen Schaufens-
terantrag zur bayerischen Landtagswahl gestellt, um die
CSU vorzuführen.
Diesen Antrag braucht man dafür aber nicht, weil sich
die CSU bei der Pendlerpauschale schon zur Genüge
selbst vorgeführt hat.
Das wird klar, wenn man das Hin und Her der letzten
Monate zu dieser Frage betrachtet.
Ich nehme mit Freude zur Kenntnis, dass meine Anre-
gung, in dieser wichtigen Debatte nicht nur einen Abge-
ordneten der CDU, sondern auch einen Abgeordneten
der CSU sprechen zu lassen, dieses Mal aufgenommen
worden ist. Das ist erfreulich.
– Dieses Mal trauen sie sich.
– Ich komme gleich zu dem Thema, Herr Niebel. Wir
haben die Debatte schon zweimal geführt. Ich habe Ih-
nen das schon zweimal erklärt, werde es Ihnen aber auch
ein drittes Mal erklären. Ich befürchte nur, Sie wollen es
gar nicht hören.
Wir haben folgende Genese des Vorgangs: Ich habe
gehört, dass es eine Erklärung der CSU-Landesgruppe
gibt, nach der sie der Kürzung der Pendlerpauschale nur
zugestimmt habe, weil es im Jahr 2006 quasi eine Haus-
haltsnotlage gab. Das hat mich überrascht, weil ich das
CDU/CSU-Wahlprogramm von 2005 aufmerksam gele-
sen habe. Damals sind Steuerersenkungen versprochen
worden. Gleichzeitig wurde aber – auf Seite 17 – nicht
nur die Abschaffung der Steuerfreiheit von Nacht- und
Sonntagsarbeit, sondern auch die Kürzung der Pendler-
pauschale gefordert. Das kann mit der Haushaltsnotlage
nicht begründet werden. Das war Programmatik der
CDU/CSU.
In den Koalitionsverhandlungen hat die SPD durchge-
setzt, dass die Steuerfreiheit der Nacht- und Sonntagsar-
beit erhalten bleibt. Im Gegenzug hat sich die CDU/CSU
im Punkt „Kürzung der Pendlerpauschale“ durchgesetzt.
Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens fand eine An-
hörung im Deutschen Bundestag statt, bei der keiner der
Experten gesagt hat, dass der damals vorliegende Ge-
setzentwurf, den die CDU/CSU wollte, verfassungskon-
form ist.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kalb?
Da er Abgeordneter desselben Wahlkreises ist wie ich
– ich wohne in Deggendorf – und ich ihn sonst immer
fragen muss, wenn ich etwas wissen will, gestatte ich das
gerne einmal umgekehrt.
Herr Kollege, bitte sehr.
Herr Kollege Pronold, würden Sie freundlicherweise
und redlicherweise dem Hohen Haus mitteilen, dass in
dem Wahlprogramm der CSU seinerzeit eine Reduzie-
rung der Pendlerpauschale von 30 auf 25 Cent als Bei-
trag zur notwendigen Sanierung der Bundesfinanzen ent-
halten war?
Ich bin bereit – gleich, ob redlicherweise oder nicht –,darauf zu verweisen, dass die CSU tatsächlich die Kür-zung der Pendlerpauschale im Wahlkampf gefordert hat,was von der CSU in meinem Wahlkreis allerdings be-stritten worden ist, als ich 2005 dieses Thema angespro-chen habe. Ich weise darauf hin, dass die Kürzung, dieSie vorgeschlagen haben, für die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer von der finanziellen Wirkung her nocheinschneidender gewesen wäre als das, was jetzt vor-liegt. Auch das gehört zur Redlichkeit.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19025
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Florian PronoldIch fahre in der Betrachtung der Historie fort: Wir ha-ben uns bemüht, in der Großen Koalition einen gegen-finanzierten Vorschlag durchzusetzen, der die Pendler-pauschale ab dem ersten Kilometer erhalten hätte. Dasist aber abgelehnt worden. Dann kam es zu dem Gesetz,mit Zustimmung der SPD, wie Sie wissen. Das muss ichhier nicht groß betonen.
– Es gibt nun einmal Koalitionsverträge. Sie wissen viel-leicht noch aus den Zeiten, wo Sie regiert haben – das istGott sei Dank schon lange her –, dass es Dinge gibt, aufdie man sich geeinigt hat und zu denen man dann auchstehen muss. Diese Dinge muss man klar benennen undsagen, wie sie entstanden sind und was man erreichenwollte.Wir als SPD-Fraktion haben zum Beispiel – das istnachzulesen – im November 2007 eine weitere Initiativeunternommen, die Pendlerpauschale ab dem ersten Kilo-meter einzuführen. Dazu gab es eine Sitzung des Koali-tionsausschusses, an der zum ersten Mal ein gewisserErwin Huber als CSU-Parteivorsitzender teilgenommenhat. Diese Initiative wurde dort abgelehnt.
Auch das muss man in Erinnerung rufen. Deswegen istes besonders pikant, dass derselbe Herr Huber in derletzten Sitzung des Bundesrates vor der Sommerpauseeinen Antrag zur Wiedereinführung der Pendlerpau-schale zum alten Stand eingebracht hat. Denn er weiß,dass das Gesetzgebungsverfahren, selbst wenn alles gutgehen würde, niemals vor der bayerischen Landtagswahlbeendet sein wird.
Deswegen braucht es keinen Vorführantrag durch dieLinke gegenüber der CSU. Ich finde, die CSU hat sichan diesem Punkt selber mehr als vorgeführt.
Besonders erschwerend kommt hinzu, dass KollegeRupprecht hier schon das letzte Mal das „mea culpa“ imNamen der CSU erklärt hat. Ich hoffe, es fällt noch einbisschen deutlicher aus. Nicht über die Sünder ist Freudeim Himmel, sondern über die reuigen Sünder. Das be-deutet, man muss tätige Reue üben. Besonders pikantwar: Der Finanzminister von Bayern – er ist gelernterFinanzbeamter – hat vor den Werkstoren von BMW inDingolfing Flugblätter gegen seine eigenen Sünden ver-teilt.
Es ging um eine Unterschriftenaktion der CSU zur Pend-lerpauschale, unwissend, dass 80 Prozent der 22 000 Be-schäftigten bei BMW überhaupt keinen Anspruch aufdie Pendlerpauschale haben, weil es dort ein Werkbus-system gibt. Es ist nur absetzbar, was man dazuzahlt,wenn man dort mitfährt. Ich dachte, der bayerische Fi-nanzminister wisse wenigstens das.
Es geht darum, dass wir eine Regelung finden, dieden berechtigten Interessen der Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer und vor allem der Pendlerinnen und Pend-ler gerecht wird. Wenn jetzt große Bereitschaft dazu imHause existiert, dann freue ich mich. Wir werden einVerfassungsgerichtsurteil bekommen, das über span-nende Fragen Auskunft geben wird, zum Beispiel darü-ber, wie Werbungskosten zu behandeln sind, ob maneine Pauschalierung von Werbungskosten machen kannoder ob die kompletten Werbungskosten anzusetzensind. Auch das könnte in diesem Urteil stehen. Deswe-gen wäre die Rückkehr zur alten Pendlerpauschale zu-mindest zum jetzigen Zeitpunkt nicht hilfreich. Denn esist durchaus möglich, dass das Bundesverfassungsge-richt Hinweise gibt, die bei einer Neuregelung zu beach-ten sind. Daher sollten wir kurz vor der bayerischenLandtagswahl diesem Antrag der Linken nicht zustim-men, der, wie gesagt, ein Schaufensterantrag ist.Letzte Bemerkung. Nicht an ihren Worten, an ihrenTaten sollt ihr sie erkennen. Das gilt besonders in Bay-ern.
Wir haben nach Österreich geblickt.
In Österreich gibt es eine spannende Konstellation. Dortgibt es auf der Bundesebene eine steuerliche Regelungfür Pendlerinnen und Pendler. Sie hat dasselbe Defizitwie unsere, nämlich dass diejenigen, die kaum Steuernzahlen, von einer Pendlerpauschale wenig haben, ob-wohl auch sie weite Wege in Kauf nehmen. In Österreichgibt es aber sechs Bundesländer, die zusätzlich auf derLandesebene ein Pendlergeld zahlen, das auch denjeni-gen zugutekommt, die nicht steuerpflichtig sind oderwenig Steuern zahlen. Wir haben uns gedacht: WennÖsterreich schon einmal etwas Vernünftiges macht,könnte man das in Bayern übernehmen.
Daher haben wir Erwin Huber vorgeschlagen, das auchin Bayern einzuführen. Hierzu würden gerade einmal400 Millionen Euro benötigt. Während aber verkündetwird, man wolle aufgrund der Regelungen zur Erb-schaftsteuer 800 Millionen Euro den Villenbesitzern amStarnberger See in Bayern schenken,
hat derselbe Erwin Huber erklärt, er sei nicht bereit,diese 400 Millionen Euro für die bayerischen Pendlerin-nen und Pendler aufzubringen.
Deswegen gilt auch hier noch einmal: Nicht an ihrenWorten, an ihren Taten sollt ihr sie erkennen. Leider sindwir jetzt auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtsangewiesen, um hier zukünftig für bessere Verhältnissezu sorgen. Wenn die Erkenntnis bei allen im Haus ge-wachsen ist und diese Meinung geteilt wird, dann freueich mich auf die Debatten nach der Landtagswahl. Ich
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19026 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Florian Pronoldbin gespannt, ob alle dann noch dieselben Auffassungenvertreten wie vorher.Herzlichen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat nun das Wort der Kollege
Dr. Volker Wissing.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Große Koalition gleicht einem Auto, bei dem dasGaspedal an die Bremse gekoppelt ist: Die eine Seitewill Gas geben, die andere legt eine Vollbremsung hin.Hinten, auf der Hutablage dieses merkwürdigen Fahr-zeugs, sitzt ein Wackeldackel namens CSU, und dernickt immer brav mit dem Köpfchen.
Genau das ist der Zustand, in dem sich die CSU hier imBundestag befindet: Es wird alles schön abgenickt.Diese angeblich so große Koalition hat unserem Landbisher nichts gebracht. Sie haben das Land keinen nen-nenswerten Schritt nach vorne gebracht, weil Sie sichauf Reformschritte, die unser Land braucht, nicht eini-gen können.
– Hören Sie ruhig zu, Herr Kollege Pronold! – Sie habendas Land nicht nach vorne gebracht, weil Sie sich immernur dann einig sind, wenn es zulasten der Bürgerinnenund Bürger in diesem Land geht. Die Stillstandspolitiklassen Sie sich von den Menschen in Deutschland, diehart arbeiten, teuer bezahlen.
Sie haben die Mehrwertsteuer erhöht, die Versiche-rungssteuer erhöht, Sie haben den Sparerfreibetrag ge-kürzt, Sie haben die Entfernungspauschale gekürzt. Ins-gesamt 19 Steuererhöhungen hat die Große Koalitionzulasten der Bürgerinnen und Bürger beschlossen, undder politische Wackeldackel hat in jedem Einzelfallschön mit dem Köpfchen genickt und brav zugestimmt.
Das ist die Wahrheit.Sie erzählen den Wählerinnen und Wählern in Bay-ern, die CSU sei gegen die Kürzung der Pauschale gewe-sen. Ich meine, Sie müssen gespaltene Persönlichkeitensein, wenn Sie in Bayern gegen diejenigen Dinge sind,die mit Ihrer Stimme im Deutschen Bundestag den Wegins Bundesgesetzblatt gefunden haben.
Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Ich habe hier einFlugblatt, das Sie in Bayern verteilen. Damit sammelnSie von redlichen Menschen Unterschriften und erklären– ich zitiere –: „Die heutige Regelung ist nicht verfas-sungskonform.“ Sie fordern, dass die Politik handelt unddie alte Pendlerpauschale wieder einführt. Ich war beider Anhörung, die wir damals durchgeführt haben. Siehaben völlig recht, wenn Sie behaupten, dass damals alleSachverständigen gesagt haben: Das ist nicht verfas-sungskonform. Die Sachverständigen haben sogar ge-sagt: Das ist evident verfassungswidrig. Aber es gehörtdoch ein Stück Dreistigkeit dazu, dass man, wenn manso etwas für verfassungswidrig hält, dafür dann im Deut-schen Bundestag seine Hand hebt.
So kann man in diesem Land doch nicht glaubwürdigPolitik machen.Sie spucken in Bayern große Töne, und hier in Berlinmachen Sie alles mit, was die Bundesregierung will. Dasist inzwischen die Arbeitsteilung: die CSU in München –Regierungspartei, die CSU in Berlin – Abnickpartei. Esgab einmal eine Zeit, da haben Sie mit Ihrem PartnerCDU auf Augenhöhe gespielt. Inzwischen sind Sie derverlängerte Wurmfortsatz der Großen Koalition.
In Bayern bläst Huber in die Tuba, in Berlin ist mit Glosnichts los. Das ist der Zustand der Christsozialen imDeutschen Bundestag.Welche Initiative ist denn von Ihnen, von der CSU,gekommen? Sie wollen sich als Steuerentlastungsparteiprofilieren? Was haben Sie vorzuweisen? Einen ermä-ßigten Umsatzsteuersatz für Seilbahnen! Sie sind allen-falls die Partei der Gondelpauschale, aber doch nicht derPendlerpauschale.
Die CSU in München beschließt ein großes Steuerkon-zept, und davon kommt in Berlin nichts an.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Ihrem Engage-ment für die Rückkehr zur alten Entfernungspauschalehätten Sie längst ernst machen können. Sie hätten IhrenAntrag einbringen können; aber natürlich haben Sie dasnicht getan. Es ist reines Wahlkampfgetöse in Bayern.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19027
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(D)
Dr. Volker WissingSie haben heute die Gelegenheit, Ihre Glaubwürdig-keit unter Beweis zu stellen.
Wir lassen Sie nicht so einfach davonkommen, wenn Siesagen: Das ist ein Spielchen der Opposition. So einfach,liebe Kolleginnen und Kollegen, geht das nicht. Wer inBayern Klartext spricht, muss mit seiner Stimme auch inBerlin Klartext sprechen.
Sie müssen sich heute schon entscheiden. Dafür sind Siehier, und dazu zwingt Sie die Opposition im DeutschenBundestag.Dann wird sich zeigen, ob Sie die Menschen in Bay-ern hinters Licht führen wollen oder ob Sie tatsächlichhinter dem stehen, was Sie dort sagen. Es wäre interes-sant zu wissen, wie viele Menschen Ihnen in Bayern aufden Leim gegangen sind und dieses Flugblatt unter-schrieben haben. Ich würde es wirklich gerne wissen;aber das werden Sie uns nicht verraten. Eine Meldungder CSU-Landesleitung besagt:Eine umfassende Zwischenbilanz der CSU-Unter-schriftenaktion für die Wiedereinführung der altenPendlerpauschale wird es vor der bayerischenLandtagswahl am Sonntag nicht mehr geben.
Das ist wirklich interessant. Das lässt hoffen, dass dieBayern Ihnen inzwischen nicht mehr auf den Leim ge-hen; denn offensichtlich haben Sie nicht viele Bürgerin-nen und Bürger hinters Licht führen und dazu verleitenkönnen, Ihre lächerliche Unterschriftenaktion in Bayernzu unterstützen. Bekennen Sie doch Farbe, aber dafürsind Sie zu feige! Das, was Sie in Bayern vertreten, istnicht glaubwürdig. Die Menschen werden dafür derCSU ihre Stimme zu Recht verweigern.
Nächster Redner ist der Kollege Albert Rupprecht für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Herr Kollege Wissing, Sie reden über den bayerischenLandtagswahlkampf. Ich frage Sie: Wo sind denn diebayerischen Kollegen der FDP?
Wieso redet hier kein bayerischer Kollege? Ist heute eineinziger bayerischer FDP-Kollege anwesend? –
Keiner. Keiner hat ein Interesse daran, heute hier imBundestag zu sein.
Die CSU wirbt, argumentiert und kämpft offensiv fürdie Wiedereinführung der Pendlerpauschale ab dem ers-ten Kilometer; daran besteht überhaupt kein Zweifel.
Der 30-jährige Mechaniker mit zwei Kindern, der80 Kilometer zu seiner Arbeit nach Regensburg fahrenmuss, stellt zu Recht die Frage, wieso er tagtäglich in derFrüh aufsteht und zur Arbeit fährt. Er rechnet mir undgenauso Ihnen vor, dass er mit zwei Kindern fast das-selbe in der Tasche hätte, wenn er Hartz IV beziehenwürde und zu Hause bliebe. Deswegen muss sich Leis-tung lohnen.
Wir als CSU stehen für eine steuerliche Entlastung fürArbeitnehmer, Mittelstand, Familien und Pendler um28 Milliarden Euro.
Wir stehen zudem für eine Senkung der Lohnnebenkos-ten bei der Arbeitslosenversicherung, um die Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer zu entlasten.
Mehr Netto vom Brutto ist das Gebot der Stunde und diePolitik der CSU.
Deswegen stehen wir für die Wiedereinführung derPendlerpauschale ab dem ersten Kilometer. Wir als CSUhaben das den Bürgerinnen und Bürgern versprochen.Wir werden nicht nachgeben, bevor dies umgesetzt ist.
Wir brauchen zur Umsetzung schlichtweg eine Mehr-heit in der Koalition im Deutschen Bundestag. Das heißt,wir müssen Überzeugungsarbeit leisten.
Die Lage ist, wie sie ist. Wir werden leider vor Dezem-ber keine Entscheidung bekommen.
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19028 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
(C)
(D)
Albert Rupprecht
Anders als bei der CSU, wo es einen klaren und eindeu-tigen Beschluss der Partei und der Gremien gibt, gibt esbei der SPD diesen Beschluss, Herr Pronold, nicht. Esspricht nichts dagegen, dass Sie sich heute hier hinstel-len und sagen: Wir warten das Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts ab, aber wir beschließen vonseiten derSPD das, was wir wollen. Vonseiten der CSU gibt es die-sen Beschluss: Wir werden die Pendlerpauschale wiedereinführen.
Ein Teil der CDU-Kollegen unterstützt den CSU-Vor-schlag.
– In der Tat. Ein Teil der CDU-Kollegen will das Urteildes Bundesverfassungsgerichts im Dezember abwarten.Wir als CSU würden uns eine schnellere Entscheidungwünschen. Aber ich respektiere, dass Kollegen erst nachdem Urteil entscheiden wollen.
Ich hoffe natürlich, dass das Verfassungsgericht unserePosition stärkt und wir dann in der Regierung schnell zueiner Lösung kommen werden.
Lafontaine hat schon vor Wochen angekündigt, dasser die CSU ärgern wird, indem er einen Antrag der Lin-ken mit der Position der CSU zur Pendlerpauschale hiereinbringen will. Nun liegt der Antrag der Linken vor.Erstens. Es ist festzuhalten, dass der Antrag nicht mitdem CSU-Konzept identisch ist.
Es fehlt zum Beispiel jeglicher Vorschlag zur Finanzie-rung der Entlastung.
Zweitens. Es geht der CSU
um ein Gesamtpaket zur Entlastung bei Steuern und Ab-gaben, das weit über das Thema Pendlerpauschale hin-ausgeht.
Es ist offensichtlich, dass es Lafontaine und der Linkennicht um die Sache, sondern ausschließlich um medialenKrawall im Vorfeld der bayerischen Landtagswahl geht.
– Die FDP macht bei diesem Trauerspiel auch noch mit.Sehr geehrte Damen und Herren, wir lehnen den An-trag der Linken ab. Die Parlamentarier der CSU habendies in einer schriftlichen Erklärung nach § 31 der Ge-schäftsordnung begründet.
Ich erlaube mir, diese Erklärung in Auszügen vorzulesen– ich zitiere –:
Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heutezur Abstimmung stellt, geht es ihr nicht um die Sa-che,
sondern um ein durchsichtiges taktisches Manöver.
Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes-tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen …haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelleLücke von 60 Milliarden Euro jährlich.
… Die Entspannung der Lage der öffentlichenHaushalte … macht aus unserer Sicht eine Rück-kehr zur alten Pendlerpauschale möglich.
Diese Auffassung wollen wir in der Koalition mitNachdruck durchsetzen.
… Das Politikspektakel, das die Linken mit ihremAntrag bezwecken, lehnen wir entschieden ab.
Die programmatischen Eckpunkte der Linken for-dern eine Politik, die Deutschland international iso-liert, die Fundamente des Rechtsstaats und der so-zialen Marktwirtschaft gefährdet
und eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und Bür-ger Deutschlands massiv bedroht.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19029
(C)
(D)
Albert Rupprecht
Wir grenzen uns eindeutig von dieser Partei ab.
Sehr geehrte Damen und Herren, diese Erklärung ha-ben CSU-Abgeordnete unterschrieben, die den AufstiegBayerns vom Armenhaus Deutschlands an die SpitzeDeutschlands in ihrer Heimat erleben durften. Das istauch das Ergebnis der außerordentlich erfolgreichenCSU-Politik in den letzten 60 Jahren. Vernünftige, bür-gernahe Politik hat die Kraft, zu gestalten und zu prägen,wie es die CSU in Bayern und Deutschland seit nunmehr60 Jahren macht.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Ernst für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Um was es hier geht, ist inzwischen bekannt:Wir wollen, dass die Kilometerpauschale wieder ab demersten Kilometer gezahlt wird. Das sehen wir allerdingsnur als ersten Schritt an. Natürlich wissen auch wir, dassdavon insbesondere die Leute, die nur wenig Steuernzahlen, nur sehr wenig haben. Deshalb muss dieser Wegfortgeführt werden.
Die Koalition hat die Regelungen zur Entfernungs-pauschale verschlechtert. Das gilt natürlich auch für dieSPD. Denn die Kollegen von der SPD waren daran kräf-tig beteiligt. Vor dem Bundesverfassungsgericht tritt dieBundesregierung übrigens geschlossen auf, und zur Re-gierung gehören auch die SPD und auch die CSU.
Vor dem Bundesverfassungsgericht haben Sie sich gegendie Zahlung der Entfernungspauschale ab dem ersten Ki-lometer ausgesprochen.
– Natürlich! Sie sind doch in der Regierung, oder etwanicht? Habe ich da etwas übersehen? Ich sage es nocheinmal: Sie sind in der Regierung und kommen da auchnicht heraus.
Wir sind dagegen, dass ein Ehepaar mit zwei Kindern,das ein Haushaltseinkommen von 48 000 Euro hat,516 Euro zusätzlich zahlen muss. Bisher habe ich immergedacht, wir sind uns in diesem Hause einig, dass dieseRegelung geändert werden muss. Sie verlassen sich aberlieber auf das Bundesverfassungsgericht. Ich sage Ihnen:Wir sind das Parlament. Es gibt eine Regierung, keineAppellierung.
Wir sollten hier entscheiden und die Verantwortungnicht abschieben.Meine Damen und Herren, die CSU hat imJahre 2006 all diese Kürzungen mitbeschlossen.
Überall war sie beteiligt. Natürlich haben Sie inzwischenvon den Linken gelernt. Das freut mich. Macht das ruhigöfter!
Denn dann lernt ihr, dass ihr auch das eine oder andereGesetz von uns übernehmen solltet.Jetzt ist die CSU plötzlich dafür, dass die Kilometer-pauschale wieder ab dem ersten Kilometer gezahlt wird;das freut uns. Herr Huber hat in einem Sommerinter-view, auf einem Strohballen sitzend,
gesagt: Die CSU wird darauf bestehen, dass wir die altePendlerpauschale wiederbekommen. – Genau das stehtin unserem Antrag. Er beinhaltet das, was auch HerrHuber gesagt hat. Ich verstehe gar nicht, warum Sie sichüber unseren Antrag so sehr echauffieren.
Außerdem hat Herr Huber gesagt: Die Fahrt zur Ar-beit ist keine Fahrt zum Golfplatz. – Das war übrigensschon 2006 so, als Sie die Kürzung der Pendlerpauschalemitbeschlossen haben.
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Klaus ErnstAber vielleicht haben Sie das damals noch nicht be-merkt.Herr Ramsauer hat vorhin gesagt – jetzt wird es be-sonders interessant –, dass die CSU gegen unseren An-trag stimmt, weil er ein durchsichtiges taktisches Manö-ver sei.
Herr Ramsauer, ich sage Ihnen, was ein taktisches Ma-növer ist: Es ist ein taktisches Manöver, dass Sie hier imBundestag und in der Öffentlichkeit so tun, als sei dieCSU auf Bundesebene in der Opposition. Sie regierenhier mit! Das ist ein taktisches Manöver.
Ich sage Ihnen: Es ist ein taktisches Manöver, wenn Sieein Plakat wie dieses hier in Bayern plakatieren.
– Ja, bravo! Darauf steht „Pendlerpauschale jetzt“.
Herr Ramsauer, ich frage mich, wann bei Ihnen eigent-lich „jetzt“ ist.
Ist „jetzt“ vorgestern, weil Sie da gerade einen schönenPresseauftritt hatten? Ist „jetzt“ übermorgen? „Jetzt“heißt jetzt!
– So könnte man es auch machen, weil diese Politik aufdem Kopf steht. Das ist das Problem.
Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen nur sagen:Gesetze werden hier und nicht durch Wahlplakate ge-macht. Ich habe den Eindruck, dass Sie Politik beim Au-tofahren nach zwei Maß Bier machen. Das ist ein biss-chen zu wenig.
In aller Klarheit: Wenn Sie in Bayern für die Wieder-einführung der Pendlerpauschale plakatieren und hierdagegen stimmen, dann ist das ein angekündigter Wahl-betrug.
Herr Ramsauer, das bayerische Wappentier ist derLöwe und nicht der flüchtende Hase. Das könnten Siesich vielleicht auch einmal merken. Beim Kilometer-geld, beim Rauchverbot und bei der Gesundheitsreform:Sie schlagen doch nur noch Haken.
Mit Ihrem Verhalten machen Sie die CSU zum bravenDackel, der von Frau Merkel durch die politische Arenageführt wird. Das ist die Wahrheit.
Stimmen Sie unserem Antrag zu, dann kann man Siewenigstens wieder ein wenig ernster nehmen.
Das Wort hat nun die Kollegin Christine Scheel für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Debatte nimmt teilweise kabarettistische Züge an.Allerdings sind nicht alle Beiträge gutes Kabarett.Herr Wissing, Sie haben die CSU als Wurmfortsatzbezeichnet.
Ich würde das anders formulieren, weil ich eine andereSprache spreche. Fakt ist aber doch, dass der Einflussder CSU in der Großen Koalition gegen Null gegangenist.
Herr Rupprecht, das ist wohl doch der Grund dafür,dass Sie hier eine Erklärung vorgetragen haben, die Ih-nen aber auch nichts nützen wird. Wir können nur hof-fen, dass möglichst viele Zeitungen diese Erklärung ab-drucken. Damit würden sie nämlich dabei helfen, dassdie CSU am Sonntag mit Sicherheit unter 50 Prozentbleiben wird.
Herr Ramsauer hat auch in Bayern in verschiedenstenÄußerungen gesagt, dass bei diesem Thema ein Spekta-kel betrieben wird. Mit Blick auf den heutigen Tag ha-ben Sie auch wieder gesagt, dass die Linke hier ein Poli-
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Christine Scheeltikspektakel betreibt. Ich möchte einmal wissen, was inBayern abläuft.
In jedem Bierzelt, auf jedem Stadtfest und bei jederWahlkampfveranstaltung in irgendeiner Stadthalle findetdort ein Politspektakel zur Entfernungspauschale statt.Letztendlich geht es darum, dass die CSU einen Be-schluss mitgetragen hat, von dem sie heute nichts mehrwissen will, weil sie gemerkt hat, dass er wohl verfas-sungswidrig ist, dass er bei den Stammtischen nicht an-kommt und sich die Leute tierisch darüber aufgeregt ha-ben. Deswegen betreiben Sie dieses Spektakel, was dannzu dieser Unterschriftenaktion geführt hat.
Der Kollege der FDP hat darauf hingewiesen. Sie sindaber zu feige, diese Unterschriften auch vorzulegen undzu sagen, wie viele am Ende wirklich dafür unterschrie-ben haben, dass die Entfernungspauschale ab dem erstenKilometer wieder eingeführt wird.
Ich kann Ihnen sagen: So blöd sind die Leute nicht.Die Menschen durchschauen dieses Manöver und wis-sen, dass viele von der Wiedereinführung der alten Ent-fernungspauschale überhaupt nicht profitieren. DieLeute wissen auch, dass man letztendlich den Arbeitneh-merpauschbetrag senken will. Davor haben die LeuteAngst; denn genau das wäre der falsche Weg.Sie sagen: Zurück zur Pendlerpauschale ab dem ers-ten Kilometer, aber die Finanzierung muss stehen. – DieSPD sagt: Dann realisieren wir eben ein anderes Modell.Wir schauen uns einmal an, was das Bundesverfassungs-gericht dazu sagt. – Die Leute wissen dann, dass eventu-ell ein Modell Wirklichkeit wird, worunter andere alsdiejenigen leiden werden, die heute darunter leiden. In-sofern sind die Sorgen der Menschen berechtigt.
Sie sollten sich schämen, so zu tun, als könnten Siesich aus der Affäre ziehen. Wer hat denn zugestimmt? Esging doch nicht nur um den Koalitionsvertrag, der schoneine Weile zurückliegt und hoffentlich der letzte dieserGroßen Koalition war, sondern auch um die Frage, werim Bundesrat zugestimmt hat. Im Bundesrat hat auch dieCSU zugestimmt. Jetzt wollen Sie nichts mehr damit zutun haben. Das ist Opposition gegen sich selbst. Das isteine Opposition, die die Menschen durchschauen undnicht akzeptieren.
Wenn Sie eine neue Perspektive fordern, dann hättenSie sich längst dafür einsetzen können. Wir haben mehr-mals im zuständigen Finanzausschuss darüber gespro-chen, wie wir diese Frage lösen wollen. Sie haben sichaber verweigert und wollen abwarten, wie das Bundes-verfassungsgericht entscheidet. Das ist sehr durchsich-tig. Jeder weiß, dass die Entscheidung des Bundesverfas-sungsgerichts erst nach dem 28. September erfolgt. Wirwerden in den nächsten Tagen bis Sonntag alle in Bayernauffordern, nicht auf Ihre Propaganda hereinzufallen.Danke schön.
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Otto Bernhardt für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich will versuchen, wieder etwas mehr Sachlich-
keit in diese Debatte zu bringen.
Die Große Koalition hat im Jahre 2006 ein umfassen-
des Sanierungsprogramm für den Haushalt beschlossen.
Das war damals dringend erforderlich. Ein Punkt waren
die Änderungen bei der steuerlichen Absetzbarkeit der
Pendlerpauschale. Ich finde es nicht gut, dass sich Mit-
glieder der Großen Koalition heute von dieser Entschei-
dung verabschieden, die wir seinerzeit gemeinsam getra-
gen haben.
Die Fakten haben sich inzwischen ein Stück weit ge-
ändert. Zum Ersten sind wir auf dem Wege zur Sanie-
rung der öffentlichen Finanzen ein deutliches Stück vor-
angekommen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Dr. Höll?
Wenn ich den Gedanken zu Ende geführt habe, gerne. –Zum Zweiten haben sich die Benzin- und Dieselpreise ineinem Ausmaß erhöht, das wir damals nicht absehenkonnten. Diese Situation führt dazu, dass insbesonderein den Flächenländern – ich komme aus Schleswig-Hol-stein – über eine Änderung der jetzigen Regelung nach-gedacht wird.
Wir sind aber in der Großen Koalition gemeinsam mitder Regierung zu dem Ergebnis gekommen, zunächst dieEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts abzuwar-ten; denn wir wissen nicht, ob die bestehende Regelungverfassungswidrig ist.
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Otto BernhardtWenn wir eine Neuregelung beschließen, dann wissenwir nicht, ob sie der Rechtsprechung des Bundesverfas-sungsgerichts entspricht. Es gilt also abzuwarten.
Wir sollten aber die Möglichkeiten der Pendlerpau-schale nicht überschätzen. Um eine Zahl zu nennen: Fürden Bezieher eines Durchschnittseinkommens geht esum 5 Euro im Monat.
Deshalb sind wir entschlossen, die Bürger stärker zu ent-lasten als nur durch diesen einen Schritt. Die Bundesre-gierung bereitet ein größeres Entlastungsprogramm vor.
Im Rahmen dieses Entlastungsprogramms werden diehervorragenden Vorstellungen aus dem CSU-Steuerkon-zept eine sehr wichtige Rolle spielen.
Innerhalb der Union sind wir uns über die Grundzügeeines solchen Konzeptes längst einig.
Es gibt einen kleinen Unterschied, über den wir nach derEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts diskutie-ren werden. In dieser Diskussion werden Sie erkennen,wie stark die CSU nicht nur innerhalb der Union, son-dern auch innerhalb der Großen Koalition ist.
Sie können sicher sein, dass die CSU ein wichtiges Wortbei den Konsequenzen, die wir dann ziehen werden, mit-reden wird. Je stärker die CSU am Sonntag wird, destomehr hat sie zu bestimmen.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Entfernungspau-
schale sofort vollständig anerkennen – Verfassungsmä-
ßigkeit und Steuergerechtigkeit herstellen“. Dazu liegt
eine große Anzahl von persönlichen Erklärungen nach
§ 31 unserer Geschäftsordnung vor1). Sie alle werden in
den Stenografischen Bericht aufgenommen.
1) Anlagen 2 bis 7
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/9569, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/9167 abzulehnen. Wir
stimmen nun auf Verlangen der Fraktion Die Linke über
die Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen
Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze an den Urnen
eingenommen? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann eröffne
ich die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der
Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentli-
chen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben2).
Ich bitte Sie herzlich, Ihre Gespräche außerhalb des
Plenarsaals zu führen, wenn Sie den Beratungen nicht
mehr folgen wollen, damit wir die Beratungen fortsetzen
und den Rednerinnen und Rednern in der anschließen-
den Debatte konzentriert folgen können.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Jahressteuergesetzes
2009
– Drucksache 16/10189 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so ver-
fahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin für die Bundesregierung der Parlamentarischen
Staatssekretärin Nicolette Kressl das Wort.
N
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jahressteuergesetzegelten manchmal als Sammelbecken für die verschie-densten Maßnahmen, zum Beispiel um EU-Recht umzu-setzen oder kleinere Veränderungen, auch im redaktio-nellen Bereich, vorzunehmen. Auch solche Regelungensind in dem Entwurf zum Jahressteuergesetz, der Ihnenheute vorliegt, enthalten, aber nicht nur solche. Sie kön-nen in diesem Gesetz eine durchgehende Linie erkennen;denn es enthält eine Reihe von Vorschlägen, die insge-samt zu einer deutlichen steuerlichen Entlastung führenoder aber ehrenamtliches Engagement noch mehr alsbisher unterstützen.
2) Siehe Seite 19035 C
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Parl. Staatssekretärin Nicolette KresslIch will Ihnen dafür einige Beispiele nennen. DieSteuerfreiheit für Leistungen des Arbeitgebers zur Ver-besserung des allgemeinen Gesundheitszustandes undder betrieblichen Gesundheitsförderung mag technischklingen, ist aber, wovon wir überzeugt sind, eine wich-tige Maßnahme im Interesse der Arbeitnehmer und derUnternehmen; denn damit wird die Bereitschaft von Ar-beitgebern erhöht werden, ihren Arbeitnehmern Dienst-leistungen zur Verbesserung des allgemeinen Gesund-heitszustands anzubieten.
Wir finden, dass dies ein erster wichtiger Schritt ist. Wirwollen nicht nur über die Frage reden, wie die Bedin-gungen zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit verbes-sert werden können, sondern auch im steuerlichen Be-reich dazu eine erste wichtige Maßnahme einbringen.Wir werden mit diesem Gesetz eine Erleichterung beider Haftung im steuerlichen Spendenrecht auf den Wegbringen.
Es ist immer wieder diskutiert worden, inwieweit die In-anspruchnahme der Gesamtschuldner in diesem Bereicheine mögliche Hemmschwelle bei der Entscheidung ist,sich ehrenamtlich zu engagieren. Wir wollen, dass diehandelnden natürlichen Personen, also diejenigen, diesich selbst persönlich engagieren, nur dann in Anspruchgenommen werden, wenn die Inanspruchnahme der Kör-perschaft, in diesem Falle des Vereins, erfolglos geblie-ben ist. Wir sind der Überzeugung, dass dies eine deutli-che Erleichterung in diesem Bereich ist.
Wir werden in diesem Gesetz auch festschreiben, dassdie Kommunen an ihrer bisherigen Verwaltungspraxiszum steuerlichen Querverbund festhalten können. Auchdieses mag technisch klingen, aber für uns ist es die Ba-sis dafür, dass die Kommunen auch in Zukunft die Ver-antwortung für die Daseinsvorsorge für die Menschenbesser übernehmen können, als es nach dem BFH-Urteilmöglich gewesen wäre. Insofern ist das für uns eine ganzwichtige Maßnahme in diesem Gesetz.
Wir nehmen mit diesem Gesetz eine Debatte auf, diees über die Frage gab, inwieweit die Lohnsteuerklasse Vfür die weniger verdienenden Partner und Partnerinnenin einer Ehe zu einem Hemmnis für die Aufnahme einerBeschäftigung werden kann. Wir schlagen dem Parla-ment vor, sich für ein Faktorverfahren zu entscheiden, indem zum Beispiel, um es konkret zu machen, in Zukunftbei der Option für dieses Faktorverfahren im Vergleichzur bisherigen Lohnsteuerklasse V bis zu einem Monats-lohn von 900 Euro keine Lohnsteuer zu zahlen ist.Wir schlagen auch vor, die bestehende Diskrepanzzwischen der Steuerfestsetzungsverjährung und derStrafverfolgungsverjährung in Fällen der Steuerhinter-ziehung durch eine Verlängerung der Verjährungsverfol-gungsfrist für Steuerhinterziehung in § 376 der Abga-benordnung zu beseitigen. Ich halte das für eine Frageder Steuergerechtigkeit. Dies ist eben nicht nur einetechnische Frage. Nach der Debatte, die wir in den letz-ten Monaten hatten, ist die Frage eben, ob Steuerhinter-ziehung wie ein Kavaliersdelikt behandelt werden soll.Mit der vorgeschlagenen Änderung bekennt sich die Po-litik ausdrücklich dazu: Steuerhinterziehung ist ebenkein Kavaliersdelikt und wird entsprechend langfristigverfolgt.
An diesen Beispielen wird deutlich, dass mit dem Jah-ressteuergesetz, das natürlich eine ganze Reihe von Ein-zelregelungen enthält, den Menschen insgesamt eindeutliches Signal der Entlastung, der Erleichterung fürEngagement im ehrenamtlichen Bereich und – siehe Ver-folgungsverjährung – ein Signal der Steuergerechtigkeitgegeben wird. Natürlich werden wir den Entwurf, wieimmer, in einer Anhörung ausführlich beraten. Aber ichwerbe schon jetzt ausdrücklich dafür, dem Gesetz amEnde im Parlament eine überzeugende Mehrheit zu ver-schaffen.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Wissing
für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mit dem Jahressteuergesetz ist es so ähnlich wie mit demChristkind: Es kommt alle Jahre wieder zu uns. Das Ent-lastungsvolumen von 220 Millionen Euro könnte durch-aus eine schöne Bescherung werden. Von den 220 Mil-lionen Euro Entlastung zahlt der Bund allerdings nur89 Millionen Euro; 131 Millionen Euro müssen die Län-der und Gemeinden aufbringen. Es ist schon eine beson-dere Form der Großzügigkeit des BMF, hier zu verteilenund andere die Rechnung bezahlen zu lassen.Die 220 Millionen Euro klingen nach viel Entlastung.Aber wenn man bedenkt, dass von der KfW an den Fi-nanzmärkten gerade fast das Doppelte versenkt wordenist, dann erkennt man, wie wenig Entlastung Sie hier tat-sächlich gewähren. Eine spürbare Steuerentlastung istdas nicht. Das verdient nicht, besonders gelobt zu wer-den.
Das Jahressteuergesetz, Frau Kressl, ist wieder einmalein Gesetz von der Verwaltung für die Verwaltung. DerBundesfinanzminister erfüllt wieder einmal die Wün-sche seines Hauses und hat keine große Linie in seinemGesetzentwurf. Im Grunde genommen werden hier dieSchubladen des Bundesministeriums der Finanzen ge-leert. Ich sage Ihnen: Einiges wäre besser in diesenSchubladen geblieben.
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19034 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Dr. Volker WissingNehmen wir die Begrenzung der Absetzbarkeit desSchulgeldes auf 3 000 Euro als Beispiel. Das ist für Sievon der SPD eine ideologische Frage. Sie haben ein Pro-blem mit Privatschulen, es sei denn, Frau Ypsilantischickt ihren Sohn auf eine solche Schule, dann ist dasnicht ganz so schlimm,
aber ansonsten ist Ihnen das immer ein Dorn im Auge.Dabei halte ich es für einen fatalen Fehler, Eltern zu ver-teufeln, die ihre Kinder auf eine Privatschule schicken;denn sie entlasten damit, weil Plätze in den öffentlichenSchulen nicht benötigt werden, die öffentlichen Schulen.Somit kann dort besser unterrichtet werden. Mehr Kin-der auf Privatschulen, das heißt auch: mehr Mittel fürKinder an den öffentlichen Schulen. Das klammern Siebei Ihrer ideologischen Politik natürlich völlig aus.
Privatschulen sind nicht per se Luxusinternate fürKinder, deren Eltern nicht wissen, wohin mit dem Geld.
Ich verstehe vor allen Dingen nicht, warum Sie das nichtbesser wissen. Sie können ja einmal mit Frau Dieckmannsprechen oder sich von Frau Ypsilanti beraten lassen.Die haben gute Gründe dafür, ihre Kinder lieber auf einePrivatschule zu schicken. Das klammern Sie völlig aus.Nehmen wir das Beispiel der internationalen Schule.Der Finanzminister hat uns neulich gesagt, wie wichtigder Finanzstandort Frankfurt für die BundesrepublikDeutschland ist. Damit hat er recht. Es ist wichtig, dasses dort auch eine internationale Schule gibt, die nämlichden ausländischen Fachkräften ermöglicht, für einenZeitraum von zwei oder drei Jahren mit ihren Kindernnach Deutschland zu kommen.
Dort werden die Kinder so unterrichtet, dass sie spätermit ihren Eltern wieder in ihr Heimatland zurückgehenkönnen. Deshalb werden dort bewusst nicht die Lehr-pläne von öffentlichen Schulen übernommen. Genaudiese Schule sanktionieren Sie, und das ist ein Wider-spruch zu dem, was der Finanzminister angibt, nämlichden Finanzplatz stärken zu wollen. Sie schwächen ihnmit diesem Gesetz.
Deutschland braucht gut ausgebildete Fachkräfte, diezu uns kommen. Wir wollen ihr Know-how in unsereGesellschaft integrieren. Solche Menschen brauchen in-ternationale Schulen; sonst kommen sie nicht. Genaudiesen Menschen machen Sie das Leben schwer. Nochschlimmer: Sie vergraulen sie mit unsinnigen Bestim-mungen in Ihrem Jahressteuergesetz.
Es gibt aber nicht nur das Problem mit den Privat-schulen; in diesem Gesetz ist auch noch eine Reihe ande-rer Probleme enthalten. Ich nehme nur Ihre Vorschlägezur Dienstwagenbesteuerung. Auch dies ist wieder einganz ideologisches Thema für die Sozialdemokraten.Ein Dienstwagen ist per se etwas Böses, ein Privileg, ge-gen das Sie kämpfen müssen. Dabei vergessen Sie natür-lich, dass ein Dienstwagen auch ein Arbeitsgerät ist. Dasist innerhalb der Bundesregierung offensichtlich nochniemandem aufgefallen. Für Sozialdemokraten sindDienstwagen nur so lange schlimm, solange sie nichtselber drin sitzen.
Es wäre gut, wenn Sie einmal die Finger davon lie-ßen, die Dienstwagenbesteuerung ständig zu ändern. In-zwischen müssen bei der Besteuerung fünf verschiedeneAnschaffungszeiträume unterschieden werden. Jetztbringen Sie noch eine sechste Regelung. Das macht un-ser Land weder ökologischer noch sozial gerechter, ge-schweige denn, dass es irgendetwas im Steuerrecht ver-besserte. Im Gegenteil, Sie machen wieder alleskomplizierter und für die Menschen teurer. Das ziehtsich wie ein roter Faden durch Ihr Steuergesetz hindurch.Es ist keine Systematik zu erkennen. Sie wissen nicht,wohin Sie in der Steuerpolitik wollen, Sie fummeln einbisschen da und ein bisschen dort. Damit mögen die Be-amten im Bundesfinanzministerium zufrieden sein, aberPolitik für die Menschen in Deutschland machen Sie mitdiesem Gesetz wieder einmal nicht.
Sie haben vorhin über die Situation der Ehrenamtli-chen gesprochen. Es gibt erhebliche Haftungsrisiken,wenn man sich in Deutschland ehrenamtlich engagiert.Schon bei dem Gesetz zur Stärkung des bürgerschaftli-chen Engagements haben Sie angekündigt, dass Sienachbessern werden und die verschuldensunabhängigeHaftung beseitigen wollen. Das haben Sie wieder nichtgemacht. Sie sind rein fiskalisch gelenkt und schaffenden wirklich schlimmen Tatbestand einer verschuldens-unabhängigen Haftung für ehrenamtlich Engagierte inDeutschland nicht ab. Das ist eine nicht tragbare Lösung,weshalb ich Ihnen jetzt schon prophezeien kann, dasswir dies nicht mittragen.Sie beschränken die steuerliche Förderung von Tätig-keiten gemeinnütziger Organisationen im Ausland. Auchdies ist ein Fehler. Das sind massive Eingriffe in die Zi-vilgesellschaft, die rein fiskalisch motiviert sind und diewir in Gänze ablehnen.Sie haben einige Steuerverschärfungen bei der Abgel-tungsteuer vorgesehen. Hier sind sehr problematischeRegelungen im Gesetzentwurf enthalten. Wir werdendas von den Sachverständigen im Rahmen der Anhörungnoch hören. – Da brauchen Sie nicht mit dem Kopf zuschütteln, Herr Tauss, das sind in der Tat sehr problema-tische Vorschriften.
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Dr. Volker WissingEndgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 547;davonja: 450nein: 96enthalten: 1JaCDU/CSUUlrich AdamIlse AignerPeter AlbachPeter AltmaierDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleDr. Wolf BauerGünter BaumannVeronika BellmannDr. Christoph BergnerOtto BernhardtClemens BinningerRenate BlankPeter BleserAntje BlumenthalDr. Maria BöhmerJochen BorchertWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachKlaus BrähmigHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeMonika BrüningCajus CaesarGitta ConnemannLeo DautzenbergHubert DeittertAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttMaria EichhornDr. Stephan EiselAnke Eymer
Ilse FalkDr. Hans Georg FaustEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelDr. Jürgen GehbNorbert GeisEberhard GiengerRalf GöbelJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersDr. Karl-Theodor Freiherrzu GuttenbergHolger HaibachGerda HasselfeldtUda Carmen Freia HellerMichael HennrichJürgen HerrmannBernd HeynemannErnst HinskenChristian HirteRobert HochbaumKlaus HofbauerFranz-Josef HolzenkampAnette HübingerHubert HüppeSusanne Jaffke-WittDr. Peter JahrDr. Hans-Heinrich JordanAndreas Jung
Dr. Franz Josef JungBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderEckart von KlaedenJürgen KlimkeJulia KlöcknerJens KoeppenKristina Köhler
Manfred KolbeNorbert KönigshofenDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsDr. Martina KrogmannDr. Hermann KuesDr. Karl Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertHelmut LampKatharina LandgrafDr. Max LehmerPaul LehriederIngbert LiebingEduard LintnerDr. Klaus W. Lippold– Es ist gut, dass Sie noch dieSie haben ein großes PrKressl, nämlich das Thema dgungsverjährung bei Steuerhren auf zehn Jahre. Es ist natdie Finanzverwaltung und vohörden sagen, sie schafften enerhalb von fünf Jahren aufzwegen eine längere VerjäErmittlungsarbeit bei einem nStGB einen ähnlichen Umfastellt sich die Frage, warumgeändert wird und warum mableme nicht auf das allgemeikönnten es dann nämlich einren. Die FDP lehnt ein SondSteuerstrafrechts ab. Wir sindstraftäter in Deutschland gmüssen wie andere Straftäternen Sonderweg. Mit diesemdabei, Sonderregelungen in dDies halte ich für rechtspolitiIhr Jahressteuergesetz istsetz, wie es Deutschland brauThemen nicht auf, die in unseden müssten. Sie haben eineteilweise sogar BelastungeÜbrigen sagt der Finanzmin Kappe aufhaben.oblem angesprochen, Frauer Verlängerung der Verfol-interziehung von fünf Jah-ürlich ein Argument, wennr allen Dingen die Strafbe-s nicht, Steuerstraftaten in-uklären, und brauchten des-hrungsfrist. Nur hat dieormalen Betrug nach § 263ng. Dort tun Sie nichts. Esdas Steuerstrafrecht isoliertn die hier bestehenden Pro-ne Strafrecht überträgt. Wirmal systematisch diskutie-erstrafrecht im Bereich des der Meinung, dass Steuer-enauso behandelt werden auch. Wir wollen hier kei-Jahressteuergesetz sind Sieiesen Bereich einzuführen.sch verfehlt.kein anständiges Steuerge-cht. Sie greifen die großenrem Land angegangen wer- lächerliche Entlastung undn in diesem Gesetz. Imister immer, es könnte inDeutschland keinerlei steuJetzt legt er eine steuerlich220 Millionen vor. Auch daeinander; offensichtlich weiniemand mehr, in welche Rden totalen Stillstand in der Sreicht. Das muss auch zumtion führen, weil sich dieseschon umfangreich darübernational verändert – in Zeitenreich der internationalen Finauf diesem wichtigen Feld dekann.Ich danke Ihnen.
asselfeldt: Redner das Wort erteile,Tagesordnungspunkt 5 undriftführerinnen und Schrift-er namentlichen Abstim-pfehlung des Finanzaus-raktion Die Linke mit demsofort vollständig anerken-it und Steuergerechtigkeitene Stimmen 547. Mit Jain haben gestimmt 96, Ent-
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19036 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtPatricia LipsDr. Michael LutherStephan Mayer
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterFriedrich MerzLaurenz Meyer
Maria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Eva MöllringCarsten Müller
Stefan Müller
Dr. Gerd MüllerHildegard MüllerMichaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaRuprecht PolenzDaniela RaabThomas RachelHans RaidelDr. Peter RamsauerPeter RauenEckhardt RehbergKatherina Reiche
Klaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberFranz RomerJohannes RöringKurt J. RossmanithDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckAlbert Rupprecht
Peter RzepkaAnita Schäfer
Hermann-Josef ScharfDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerGeorg SchirmbeckBernd SchmidbauerChristian Schmidt
Andreas Schmidt
Ingo Schmitt
Dr. Andreas SchockenhoffDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe SchummerWilhelm Josef SebastianKurt SegnerMarion SeibThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnErika SteinbachChristian Freiherr von StettenGero StorjohannAndreas StormMax StraubingerThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenHans Peter ThulAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Uwe VogelAndrea Astrid VoßhoffGerhard WächterMarco WanderwitzKai WegnerMarcus WeinbergPeter Weiß
Gerald Weiß
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannAnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar WöhrlWolfgang ZöllerWilli ZylajewSPDDr. Lale AkgünGerd AndresNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldErnst Bahr
Doris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolSabine BätzingDirk BeckerUwe BeckmeyerKlaus Uwe BenneterDr. Axel BergUte BergLothar Binding
Kurt BodewigGerd BollmannDr. Gerhard BotzKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Edelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtMartin BurkertDr. Michael BürschChristian CarstensenMarion Caspers-MerkDr. Peter DanckertKarl DillerMartin DörmannDr. Carl-Christian DresselElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinDetlef DzembritzkiSebastian EdathySiegmund EhrmannHans EichelPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerAnnette FaßeElke FernerGabriele FograscherRainer FornahlGabriele FrechenPeter FriedrichSigmar GabrielMartin GersterIris GleickeGünter GloserRenate GradistanacAngelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnKerstin GrieseGabriele GronebergAchim GroßmannWolfgang GrotthausWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannAlfred HartenbachMichael Hartmann
Nina HauerDr. Reinhold HemkerRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogPetra HeßGabriele Hiller-OhmStephan HilsbergPetra Hinz
Gerd HöferIris Hoffmann
Frank Hofmann
Eike HovermannKlaas HübnerChristel HummeLothar IbrüggerBrunhilde IrberJosip JuratovicJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberChristian KleimingerDr. Bärbel KoflerWalter KolbowFritz Rudolf KörperKarin KortmannRolf KramerAnette KrammeErnst KranzNicolette KresslVolker KröningAngelika Krüger-LeißnerDr. Hans-Ulrich KrügerJürgen KucharczykHelga Kühn-MengelUte KumpfDr. Uwe KüsterChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachWaltraud LehnHelga LopezGabriele Lösekrug-MöllerDirk ManzewskiLothar MarkCaren MarksKatja MastHilde MattheisMarkus MeckelPetra Merkel
Ulrike MertenDr. Matthias MierschUrsula MoggMarko MühlsteinDetlef Müller
Michael Müller
Gesine MulthauptFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesThomas OppermannHolger OrtelHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßChristoph PriesDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldMechthild RawertSteffen Reiche
Maik ReichelGerold ReichenbachDr. Carola ReimannChristel Riemann-HanewinckelWalter RiesterSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Ortwin RundeMarlene Rupprecht
Anton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenMarianne SchiederSilvia Schmidt
Dr. Frank SchmidtHeinz Schmitt
Carsten Schneider
Ottmar SchreinerReinhard Schultz
Swen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Angelica Schwall-DürenDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzWolfgang SpanierDr. Margrit SpielmannJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltDieter SteineckeAndreas SteppuhnRolf StöckelChristoph Strässer
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19037
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Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtPetra WeisGunter WeißgerberGert WeisskirchenOmid NouripourBrigitte PothmerClaudia Roth
Dr. Werner HoyerMichael KauchDr. Heinrich L. KolbJan KorteKatrin KunertDr. Rainer WendLydia WestrichDr. Margrit WetzelAndrea WickleinEngelbert WistubaDr. Wolfgang WodargWaltraud Wolff
Heidi WrightUta ZapfManfred ZöllmerBrigitte ZypriesBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderAlexander BondeEkin DeligözDr. Thea DückertDr. Uschi EidHans Josef FellKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusWinfried HermannPeter HettlichDie Beschlussempfehlung istDamit erteile ich als nächEduard Oswald für die CDU/
SU):olleginnen und Kollegen!ion, gemäß der die Bundes- Jahressteuergesetz vorlegt.sem Zusammenhang vomielen wird es als Besenwa-Gudrun KoppJürgen KoppelinHeinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtMichael Link
Markus LöningPatrick MeinhardtJan MückeBurkhardt Müller-SönksenDirk NiebelDetlef ParrCornelia PieperGisela PiltzJörg RohdeFrank SchäfflerDr. Konrad SchilyDr. Max StadlerFlorian ToncarChristoph WaitzDr. Volker WissingHartfrid Wolff
DIE LINKEHüseyin-Kenan AydinDr. Dietmar BartschKarin BinderDr. Lothar BiskyEva Bulling-SchröterRoland ClausSevim Dağdelengen-, Omnibus- oder Lumpnet. Das Wort Christkind würeiner Art von Gesetz nicht vzelne damit aussagen wollenbolisiert werden: Mit dem Jwöhnlich in eine Vielzaheingegriffen. Man muss sichschauen, ob eine Änderungist. Man reagiert damit aunimmt Anregungen aus demauf, setzt Gerichtsurteile um,turen und auch so manche OUlla LötzerDr. Gesine LötzschUlrich MaurerDorothée MenznerKersten NaumannWolfgang NeškovićDr. Norman PaechPetra PauElke ReinkePaul Schäfer
Volker Schneider
Dr. Herbert SchuiDr. Ilja SeifertDr. Petra SitteFrank SpiethDr. Kirsten TackmannAlexander UlrichJörn WunderlichSabine ZimmermannfraktionsloseAbgeordneteHenry NitzscheGert WinkelmeierEnthaltenBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMonika Lazarensammlergesetz bezeich-de ich ganz sicher bei solcherwenden. Was immer Ein-, eines soll jedenfalls sym-ahressteuergesetz wird ge-l von Gesetzen änderndin der Tat in jedem Fall an-auch unbedingt notwendigf EU-rechtliche Vorgaben, Bereich der Verwaltungnimmt notwendige Korrek-ptimierung vor. Deswegen
Krista Sager Hellmut Königshaus Oskar Lafontaine
Dr. Peter StruckJoachim StünkerDr. Rainer TabillionJörg TaussJella TeuchnerDr. h. c. Wolfgang ThierseJörn ThießenFranz ThönnesRüdiger VeitSimone ViolkaJörg VogelsängerDr. Marlies VolkmerHedi WegenerAndreas WeigelPriska Hinz
Ulrike HöfkenDr. Anton HofreiterBärbel HöhnThilo HoppeUte KoczySylvia Kotting-UhlFritz KuhnRenate KünastUndine Kurth
Markus KurthNicole MaischJerzy MontagWinfried NachtweiMechthild DyckmansJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickePaul K. FriedhoffHorst Friedrich
Dr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinElke HoffBirgit HomburgerDr. Diether DehmDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstWolfgang GehrckeDiana GolzeDr. Gregor GysiLutz HeilmannHans-Kurt HillCornelia HirschInge HögerDr. Barbara HöllUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenDr. Hakki KeskinMonika Knoche
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19038 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Eduard Oswaldführen wir ja auch eine mehrstündige Anhörung zu die-sem Gesetz durch, um uns jeden einzelnen Punkt nocheinmal anzusehen.Ich bleibe jetzt einmal beim Begriff „Besenwagenge-setz“; er gefällt mir so gut. Das, was noch aufgekehrtwerden muss, muss also gewissenhaft und ordentlich be-seitigt, im Sinne von erledigt, werden. Die Bezeichnung„Besenwagengesetz“ verdeutlicht aber auch: Dort, woder Besen angesetzt wird, gilt es, sauber zu arbeiten.Trotz der Vielzahl von Gesetzen muss gelten: Gründlich-keit ist oberstes Handlungsgebot. Das gilt erst recht vordem Hintergrund, dass in den vergangenen Jahren durchdie Jahressteuergesetze stets auch bedeutungsvolle Re-gelungen umgesetzt wurden.Unser Ziel im Bereich der Finanzpolitik muss es sein,überflüssige Bürokratie konsequent abzubauen. Eigent-lich jedes Gesetz muss man dementsprechend prüfenund schauen, ob das gelingt. Weil Steuergesetze erfah-rungsgemäß als besonders bürokratieträchtig empfundenwerden, trägt natürlich das Bundesministerium der Fi-nanzen dabei eine besondere Verantwortung. Aber dasgilt auch für uns Parlamentarier. Wir sind es ja, die letz-ten Endes die Verantwortung für jedes Gesetz tragen, dasdieses Haus verlässt, und nicht der einzelne Ministerial-rat, der aufgeschrieben hat, dass dieses und jenes nochhinein soll, und wozu die Leitung des Hauses möglicher-weise sagt: Das machen wir halt, um diesem auch nocheinen Gefallen zu tun. – Wir tragen die Verantwortung.Wenn wir am Schluss sagen: „Das machen wir nicht“,dann wird es auch nicht gemacht.So muss es unsere Daueraufgabe sein, in dieses Steu-errecht Klarheit, Vereinfachung und Transparenz zubringen und die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bür-ger, Steuern zu zahlen, zu erhalten. Nun wissen wir alle,dass abstrakt alle für Vereinfachung sind. Konkret natür-lich versucht jeder, auch seine Einzelinteressen immerwieder durchzusetzen. Das uns vorliegende Jahressteu-ergesetz 2009 – eine Drucksache mit 146 Seiten – ent-hält natürlich bedeutsame politische Maßnahmen. DieStaatssekretärin hat schon auf einige hingewiesen.Für mich steht an erster Stelle der Ausschluss extre-mistischer Vereine von der Gemeinnützigkeit. Künftiggilt: Wenn eine politische Stiftung oder Körperschaft au-genscheinlich extremistisches Gedankengut fördert,dann kann sie keine Steuervergünstigung erhalten.
Wer gegen die Grundlagen unseres freiheitlichen demo-kratischen Rechtsstaates und das friedliche Zusammen-leben in unserem Lande arbeitet, der darf nicht hoffen,dafür in irgendeiner Weise auch noch vom Staat begüns-tigt zu werden. Hier gilt es, klare Regelungen zu schaf-fen.Ein weiterer Punkt ist – das ist wichtig und immerwieder anzusprechen –: Durch die Klarstellung und Ver-besserung bei der steuerlichen Haftungsregelung fürVereinsvorstände stärken wir das Engagement der ehren-amtlich Tätigen in diesem Lande.Das Jahressteuergesetz wird auch das im Koalitions-vertrag vereinbarte optionale Faktorverfahren bei derLohnsteuer von Ehegatten einführen; Frau Staatssekretä-rin, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie auf diesen Punktextra hingewiesen haben. Es schafft damit eine echte Al-ternative zur bisherigen Lohnsteuerklassenwahl undsorgt dadurch für mehr Flexibilität. Künftig können dieSteuervorteile für Ehepaare durch das Ehegattensplittingschon beim Lohnsteuerabzug entsprechend den Einkom-men verteilt werden.Bei manchen Vorschlägen, die uns hier vorgelegt wer-den, haben wir natürlich – dies sage ich für unsere Frak-tion – noch erheblichen Beratungsbedarf; das hat bereitsein Durchgang im Finanzausschuss gezeigt.
Bekanntlich haben wir schon im Vorfeld des Kabi-nettsbeschlusses erfolgreich auf den einen oder anderenPunkt hingewiesen. So konnten wir die Pläne, die vorsa-hen, die steuerliche Absetzbarkeit von Schulgeld voll-ständig zu streichen, abwenden.
Von einer kompletten Streichung der Absetzbarkeit wä-ren rund 240 000 Schülerinnen und Schüler betroffengewesen. Es wäre natürlich ein Eingriff nicht nur in dasprivate Bildungssystem, sondern in das Bildungssystemunseres Landes insgesamt.Natürlich wird der öffentliche Bildungsauftrag inDeutschland in erster Linie durch staatliche Schulen,aber auch durch Schulen in freier Trägerschaft abge-deckt. Das hat in unserem Land eine gute und große Tra-dition. In meinem Heimatland Bayern beispielsweisewurde bereits 1919 die anerkannte Privatschule mit An-spruch auf öffentliche Finanzhilfe geschaffen. Viele Pri-vatschulen insbesondere in den Großstädten und in derTrägerschaft der Kirchen sind eben auch für Familienmit kleinem Einkommen erschwinglich. Mehr als4 700 private Schulen gibt es in ganz Deutschland, Ten-denz steigend. Man könnte eigentlich fragen, warum dasso ist, aber das ist eine andere Debatte, Kollege Wissing.Aus Sicht unserer Fraktion muss auch über die imJahressteuergesetz 2009 enthaltene Maßnahme zur Stär-kung der privaten Altersvorsorge nachgedacht werden.Dies wäre durch eine Verbesserung der steuerlichenRahmenbedingungen bei langfristigen Sparplänen mög-lich. Zumindest beim langfristigen Sparen für das Alterist nicht einzusehen, warum Fonds und Lebensversiche-rungen steuerlich auf solch erhebliche Weise unter-schiedlich behandelt werden.
Durch eine konsequente steuerliche Gleichbehand-lung aller kapitalansparenden Vorsorgeprodukte solltenmeiner Meinung nach Wettbewerbsverzerrungen, An-reize zu Ausweichreaktionen und Altersvorsorgestrate-gien, die allein aus steuerlichen Erwägungen getroffenwerden, abgewendet werden.
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Eduard OswaldAuch in Bezug auf die vorgesehene Änderung derDienstwagenbesteuerung im Umsatzsteuerrecht habendie Länder im Bundesrat auf wichtige Punkte aufmerk-sam gemacht. Durch die ursprünglich vorgesehene Än-derung würde eine zusätzliche bürokratische Verkompli-zierung geschaffen werden. Wir können schließlich nichtnur über Entbürokratisierung sprechen, sondern wirmüssen auch dafür sorgen, dass bereits komplizierteSachverhalte nicht noch komplizierter werden. Deswe-gen müssen wir das Thema Dienstwagenbesteuerung ge-nau betrachten. Mir wurde gesagt, davon wären1,6 Millionen Betriebe betroffen.
Ich komme zum Schluss. – Wir haben noch einige in-tensive Beratungen vor uns. Diese finden natürlich erstin der Koalition statt – das will ich gar nicht verschwei-gen –, dann im Finanzausschuss. Darüber hinaus veran-stalten wir eine Anhörung. Wir wollen schließlich, dassunser Steuerrecht nicht nur für die Bürgerinnen und Bür-ger, sondern auch für die Finanzverwaltung verständlichund einfach ist. Daran sollten wir gemeinsam arbeiten.Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Burgbacher das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Oswald, es ist richtig, dass wir hier über
ganz konkrete Dinge diskutieren. Es ist auch notwendig,
dass man manches, was draußen diskutiert wird, dort
diskutiert, wo es hingehört, nämlich hier im Parlament.
Der Tourismusbeauftragte, Ihr CSU-Kollege Hinsken,
fordert landauf, landab die Einführung des reduzierten
Mehrwertsteuersatzes für die Hotellerie.
Im Bundesrat lag ein Antrag des Landes Baden-
Württemberg vor, den Wirtschaftsminister Pfister dort
eingebracht hat. Im Wirtschaftsausschuss hat Bayern
diesen zunächst abgelehnt. Auf massiven Druck auch
der FDP hat Bayern am Freitag im Bundesrat dann zuge-
stimmt. Dieses Spiel ist für die Leute überhaupt nicht
mehr nachvollziehbar. Ich bin der Meinung, wir brau-
chen das. Alle Nachbarländer der Bundesrepublik außer
Dänemark haben den reduzierten Satz, wohingegen wir
den vollen Satz von 19 Prozent verlangen. Ich meine, die
Menschen haben ein Recht darauf, gerade von Ihnen als
Vorsitzendem des Finanzausschusses jetzt eine klare
Aussage zu bekommen: Unterstützen Sie die Forderung
nach Einführung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes
für die Hotellerie – das können wir national in Deutsch-
land machen –, oder unterstützen Sie das nicht? Konkret:
Werden Sie auch nach dem Sonntag dafür sein und einen
Antrag einbringen, oder tun Sie das nicht?
Herr Kollege Oswald, bitte.
Kollege Burgbacher, zunächst einmal ist die Frage
des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes nicht Gegenstand
dieses Jahressteuergesetzes.
– Im Bundesrat ja; aber in diesem Paket ist er nicht ent-
halten. – Zunächst einmal ist es so, dass wir, auch im Fi-
nanzausschuss, vereinbart haben, dass das Thema des er-
mäßigten Mehrwertsteuersatzes auf der Tagesordnung
der Beratungen bleibt. Es wird in Kürze auch ein Be-
richterstattergespräch stattfinden. Sie wissen doch, dass
es zwei Bereiche gibt: Zum einen sind in der Tat Unge-
reimtheiten zwischen ermäßigtem und vollem Mehr-
wertsteuersatz vorhanden. Zum anderen gibt es große
Blöcke, zum Beispiel Gastronomie und Tourismus; aber
auch über viele andere Felder haben wir hier schon dis-
kutiert, beispielsweise Arzneimittel. Wir sichern zu, dass
wir intensiv darüber beraten. Das ist im Augenblick
nicht Gegenstand dieses Verfahrens. Aber wir müssen
natürlich bei all diesen Punkten jeweils auch – da sind
wir uns in der Koalition völlig einig – die Haushalts-
situation im Auge behalten. Bei mancher Absenkung
würden dem Haushalt Milliardenbeträge verlorengehen.
Ich nehme das sehr ernst, was Sie gesagt haben. Aber
ein zweiter Punkt ist: Wenn wir den Mehrwertsteuersatz
absenken, müssen wir auch sicher sein, dass diese Sen-
kung tatsächlich an die Verbraucher, die Bürgerinnen
und Bürger weitergegeben wird.
Nun hat das Wort die Kollegin Dr. Barbara Höll für
die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Angesichts des Wustes zum Jahressteuergesetz 2009fragt man sich als Abgeordneter doch: Ist da wirklichjede Änderung notwendig? Zum Gesetzentwurf habenwir schon 13 Änderungsvorschläge, 24 Punkte habenwir zusätzlich für die öffentliche Anhörung, und derPresse kann man weitere Änderungswünsche entneh-men, zum Beispiel das Ansinnen der Union, nun diehauswirtschaftliche Dienstleistung, also Putzfrauen,Gärtner usw., für Gutverdienende noch stärker steuerlichzu subventionieren.Sicher sind in dem Gesetzentwurf einige Punkte ent-halten, über die es sich zu diskutieren lohnt. Michbewegt am heutigen Tag, gerade nach der morgendlichenDebatte zur Finanzmarktkrise, die Frage: Wie wird daskonkret umgesetzt in der Gesetzgebung? HerrSteinbrück hat heute früh gesagt, er wolle eigentlich,dass die Leerverkäufe verboten werden. Man könnte jaerwarten, dass im Jahressteuergesetz eine entsprechendeRegelung enthalten ist, aber nein. Im Jahressteuergesetzfinden wir eine Regelung, die das Gegenteil bewirkt:Jetzt sollen die Verluste aus Stillhaltergeschäften steuer-
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19040 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Dr. Barbara Hölllich begünstigt werden. Das bedeutet, Verrechnungenvon bis zum Jahr 2009 nicht genutzten Verlusten ausStillhaltergeschäften sollen weiter geltend gemacht wer-den können. Das ist ein weiterer Anreiz, spekulativ tätigzu sein; denn es wird nicht eingedämmt, sondern sogarnoch steuerlich belohnt.Gestern war in der Financial Times Deutschland zulesen, dass das aktuelle Leerverkaufsverbot der BaFinseine Wirkung verfehle:
Im Grunde sei die Sperre „blödsinnig“, meinte einanderer Händler, der bei diesem heiklen Thema an-onym bleiben wollte. Man könne trotzdem Aktienleer verkaufen.Dann wird man noch belohnt. Das kann doch keine Poli-tik sein, die wir hier im Hause anstreben sollten!
Bereits mehrfach erwähnt wurde der Aspekt des Ehe-gattensplittings. Sie unternehmen einen zweiten Ver-such, die negativen Auswirkungen des derzeitigen Ehe-gattensplittings meistens auf die Ehefrau, die in dieLohnsteuerklasse V geht und damit wesentlich höhereSteuern zahlen muss, abzumildern Aber das ist doch nurein Pseudoverfahren. Es ist nicht der einzige Kritikpunktzum Ehegattensplitting.Seien Sie endlich konsequent und nehmen Sie Ihre ei-genen Forderungen wieder auf! Gerade die Kollegen ausder SPD waren jahrelang für die Abschaffung des Ehe-gattensplittings bzw. für dessen Umwandlung, und zwarso, wie wir es jetzt fordern, nämlich dass der nicht aus-geschöpfte steuerliche Grundfreibetrag auf den Partneroder die Partnerin übertragen werden kann. Dann habenwir eine gerechte Lösung. Es würden dann tatsächlichSteuermittel frei, die aufgewendet werden können, umdas Kindergeld endlich in einem ersten Schritt auf200 Euro und perspektivisch auf mindestens 250 Euroanzuheben.
Ich möchte noch die von Ihnen angestrebte möglicheVerlagerung der Buchführung ins Ausland ansprechen.Letztendlich wollen Sie damit etwas legalisieren, wasbisher im rechtlichen Graubereich schon gemacht wird.Dieses Politikverständnis kann ich nicht nachvollziehen.Bisher ist die Buchführung im Ausland aus gutemGrunde nicht erlaubt. Denn es muss sichergestellt sein,dass die Finanzverwaltung jederzeit einen Zugriff aufdie entsprechenden Unterlagen hat. Aber in dem Mo-ment, in dem die Buchführung – auch unter gewissenBedingungen – ins Ausland verlagert werden kann, wirddieses Recht natürlich eingeschränkt. In diesem Zusam-menhang sind wirklich eine ganze Reihe von Fragen zuklären.Lassen Sie mich noch einige Worte zum Schulgeldverlieren. Man kann daraus leicht ein ideologischesThema machen. Aber es ist ein ganz irdisches Thema.Warum gibt es zum Teil diesen Run auf Privatschulen?Weil das öffentliche Schulwesen immer mehr unter denFinanzmängeln zu leiden hat. Das ist ein Ergebnis auchder Finanzpolitik der Großen Koalition. Denn: Wenn esweniger Steuereinnahmen gibt, ist weniger Geld für Bil-dung vorhanden.
Das ist die Situation, vor der wir stehen.Die öffentlichen Schulen haben weniger Angebote,was Sprachausbildung und Spezialisierung betrifft. Esgibt vielfach die Kritik, dass der Schlüssel Lehrer/Schü-ler nicht ausreichend ist. Deshalb suchen viele Eltern an-dere Möglichkeiten. Die Lösung sollte aber darin beste-hen, dass das öffentliche Schulwesen gestärkt wird.Ich verstehe nicht, warum man nicht auf alle Fälle,die mit dem Schulgeld vergleichbar sind, eingeht. Esgibt heute Bundesländer, in denen die Ausbildung fürbestimmte Berufe nur noch von privaten Trägern für vielGeld angeboten wird. Die anfallenden Kosten kann manaber nicht absetzen. Schauen Sie einmal nach Sachsen-Anhalt! Die Regelungen für das Schulgeld müsste mankonsequenterweise auf diejenigen Kosten ausweiten, diebis zum ersten Berufsabschluss fällig werden. Prinzipielldenke ich aber, dass es nicht notwendig ist, eine steuerli-che Förderung in diesem Maße aufrechtzuerhalten.Ich danke Ihnen.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Scheel
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Eduard Oswald hat gesagt, dass Jahressteuergesetze Tra-dition haben. Das stimmt. Es ist aber leider auch diesmalso, dass das Jahressteuergesetz sehr viele Regelungenbeinhaltet, die nicht zu einem Abbau von Bürokratie imSteuerrecht führen. Es beinhaltet auch sehr viele Rege-lungen, die nicht zu einer signifikanten Entlastung vonBürgern und Bürgerinnen führen.Das Jahressteuergesetz umfasst 146 Seiten. Es gibteine Vielzahl von Änderungswünschen, die vonseitender Koalition eingebracht worden sind. Daran sieht man,dass es innerhalb der Koalition zu unterschiedlichenPunkten noch unterschiedliche Auffassungen gibt. Ichbin gespannt, wie sich da die Diskussionen entwickeln.Auch Vorschläge vonseiten der Opposition werden wirim Finanzausschuss zu diskutieren haben.Aufgrund der Tatsache, dass wir es mit diesem Jah-ressteuergesetz mit einer sehr großen Anzahl von Rege-lungen zu tun haben, möchte ich mich auf drei Punktekonzentrieren.Der erste Punkt. Wie gehen wir in Zukunft damit um,dass wir für die gemeinsam veranlagten Ehepartner un-terschiedliche Belastungseffekte bei der Lohnsteuer ha-ben?
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Christine ScheelSie haben jetzt zum zweiten Mal versucht, diesesThema anzugehen. Sie haben zum zweiten Mal ein Ver-fahren vorgeschlagen. Wir sagen allerdings, dass diesesneue Faktorverfahren für den Lohnsteuerabzug nicht derrichtige Weg ist. Zukünftig müssen bei den Finanz-ämtern die voraussichtlichen Bruttolöhne der Eheleuteermittelt werden und auf das Jahr hochgerechnet wer-den. Dann muss die Gesamtsteuer ohne Splittingverfah-ren ermittelt werden. Dann muss die Gesamtsteuer mitSplittingverfahren ermittelt werden. Dann wird der Fak-tor ermittelt und eingetragen. Damit ist es aber nochnicht vorbei; denn dann müssen beide eine Steuererklä-rung ausfüllen. Das heißt, die Pflicht, eine Steuererklä-rung abzugeben, wird damit ebenfalls ausgelöst, wasman an der einen oder anderen Stelle so auch nichtbrauchte. Da sage ich: Bürokratieabbau, verehrte Kolle-gen und Kolleginnen, schaut anders aus.Ich frage mich, wer diese Regelung in Anspruch neh-men wird; denn sie bewirkt im Regelfall – es gibt einpaar positive Beispiele, die die Frau Staatssekretärin ge-nannt hat; das sind aber ganz wenige –, dass die Lohn-steuerzahlung über das Jahr hinweg höher ist als ohnediese Regelung. Trotzdem müssen die Unternehmen eineneue Lohnsteuerabrechnungssoftware vorhalten. Das istein Mehraufwand für nichts.Das Verfahren, so finden wir, ist unverhältnismäßigund ungeeignet. Wir haben vonseiten der Grünen im Zu-sammenhang mit dem Ehegattensplitting schon längstbessere Vorschläge eingebracht.
Auch datenschutzrechtlich ist die Regelung äußerstbedenklich. Sie sagen, das Ganze sei eine Option; aberder erste Vorschlag, den Sie gemacht hatten, war aucheine Option. Damals haben Sie aufgrund der daten-schutzrechtlichen Bedenken, die zu Recht vorgebrachtworden sind, Ihren Vorschlag zurückgezogen und IhreRegelung ad acta gelegt. Jetzt haben Sie einen Vorschlaggemacht, der diese Problematik wieder beinhaltet.Ein zweites Beispiel, bei dem wir glauben, dass dieRegelung nicht so ist, wie sie sein müsste, ist das Schul-geld. Es wurde zu Recht gesagt, dass es gut ist, dass dieRegierung ihrer ursprünglichen Idee, das Schulgeldüberhaupt nicht mehr vom Steuerabzug erfassen zu las-sen, durch die neue Vorlage nicht mehr nachgehen will.Das heißt, Sie haben jetzt eine Änderung vorgenommen.Private Schulen erhalten – das wissen Sie – ein Vier-tel weniger staatliche Unterstützung als die öffentlichenSchulen. Der Rest muss von den Familien durch Schul-geldzahlungen finanziert werden. Deswegen ist es rich-tig, dass man aufgrund der Ungleichbehandlung vonprivaten Schulen und Schulen, die ganz vom Staat finan-ziert werden, einen Ausgleich schafft. Wir haben vongrüner Seite darauf hingewirkt, dass es zu der Streichungder ursprünglichen Idee gekommen ist.Aber berufsbildende Ersatzschulen fallen aus demSteuerabzug ganz heraus. Wenn wir alle der Meinungsind, dass Bildung ein ganz wichtiger Standortfaktor ist,dass wir eine Vielfalt an Schulformen brauchen, dass wirin der globalisierten Wirtschaft und angesichts des de-mografischen Umbruchs gut ausgebildete und qualifi-zierte Bürger und Bürgerinnen haben wollen, wenn manWohlstand und Wachstum erhalten will, ist es ein Muss,dass man bestimmte Schulformen nicht ausschließt.Diese Regelung kritisieren wir, genauso, wie wir an-dere Vorschläge kritisieren. Wir werden Ihnen das imVerfahren im Einzelnen vorlegen, auch mit Änderungs-wünschen; das habe ich schon angekündigt. Wir sind dasehr konstruktiv.Es gibt auch im Zusammenhang mit den Standortenvon Windkraftanlagen und Solaranlagen einiges zu tun,was die Gewerbesteuerzerlegung anbelangt. Ich hoffe,dass wir da zu einer gemeinsamen Lösung kommen. So,wie das Gesetz heute ist, verhindert es, dass sich mancheBürgermeister und Gemeinderäte für einen Standort ent-scheiden, weil die Gemeinden gewerbesteuerlich nichtsdavon haben.
Kollegin Scheel, achten Sie bitte auf die Zeit.
Letzter Satz, Frau Präsidentin: Denn die Steuern wer-
den nicht am Standort gezahlt, sondern dort, wo der Sitz
des Unternehmens ist. Das ist im Zusammenhang mit
der Entwicklung der regenerativen Energien ein steuer-
politisch falscher Anreiz. Das gilt es zu ändern. Da wer-
den wir unsere Vorschläge einbringen.
Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Frechen für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich bin Herrn Oswald dankbar dafür, dass erHerrn Wissing klargemacht hat, was ein Jahressteuerge-setz ist. Offensichtlich hat Herr Wissing überhaupt nichtkapiert, was mit dem Jahressteuergesetz bezweckt wird.Herr Oswald, Kompliment zu Ihrer Einführung in diesesThema.Von Herrn Dr. Wissing habe ich endlich erfahren, wasich ideologisch zu denken habe. Ich muss ja richtig frohsein, dass es Sie gibt. Sonst wüsste ich gar nicht, dass diePrivatschule für mich ein ideologisches Problem ist.
Das ist es aber nicht.Ich möchte am Beginn meiner Rede auf das ThemaSchuldgeld eingehen, weil es hier schon mehrfach ange-sprochen wurde. Die Damen Höll und Scheel kann ichberuhigen: Auch wir arbeiten an einer Änderung, damitberufsbildende Schulen einbezogen werden können. –Einverstanden!
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Gabriele FrechenDie Absetzbarkeit des Schulgeldes war immer auf30 Prozent begrenzt, ohne Deckel. Jetzt hat man in Brüs-sel festgestellt: Es widerspricht europäischem Recht,wenn nur Schulgeld für Schulen in Deutschland steuer-lich geltend gemacht werden kann. Ich halte es für abso-lut legitim, wenn wir überlegen, wie wir es schaffen, dieSchulgelder für fast alle deutschen Schulen in das Gesetzeinzubeziehen. Das Schulgeld für Privatschulen inDeutschland liegt bei ungefähr 10 000 Euro pro Jahr.Wir decken also fast alle Schulen in Deutschland ab, ma-chen aber einen Deckel darauf. Ich habe mir sagen las-sen, dass es im europäischen Ausland Privatschulen gibt,die deutlich teurer als die in Deutschland sind. DasSchulgeld für diese Schulen müssten wir komplett, ohneBegrenzung in Deutschland zum steuerlichen Abzug zu-lassen. Das kann ja wohl nicht richtig sein. Deshalbdiese Änderung im Gesetz, die ich sehr wohl unterstütze.Auch die Steuerklasse V war schon Thema. Die FrauStaatssekretärin hat in dieses Thema eingeführt. Esstimmt: Wir wollen eine neue Besteuerung von Ehegat-ten. Frau Dr. Höll, diese Form ist nicht nur ein bisschengerechter. Zum ersten Mal wird es mit diesem Faktorver-fahren gelingen, eine individuelle Besteuerung mit Split-tingvorteil hinzubekommen. Künftig werden die Ehegat-ten, die Steuerklasse V haben, weil sie das niedrigereEinkommen beziehen, just das an Steuern zahlen, was inder gemeinsamen Steuererklärung auf sie entfällt.
Kollegin Frechen, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Höll?
Ja.
Frau Kollegin Frechen, stimmen Sie mir zu, dass ers-
tens unser Vorschlag trotzdem wesentlich konsequenter
ist und zweitens bei Ihrem Vorschlag das Einvernehmen
beider Ehepartner Voraussetzung ist, Sie nach Aussage
der Parlamentarischen Staatssekretärin selbst damit
rechnen, dass nur etwa 5 Prozent aller Ehepaare Ihren
Vorschlag annehmen werden, und der von Frau Scheel
aufgeführte bürokratische Aufwand in keinem Verhältnis
dazu steht, insbesondere weil man eine einfache und
klare Lösung durchsetzen könnte?
Was die Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung an-belangt, ist der bürokratische Aufwand bei der Lohn-steuerklassenkombination III und V genauso gegebenwie beim Faktorverfahren. Auch diese Paare sind ver-pflichtet, eine Steuererklärung abzugeben.Gerechter ist das, was Sie vorschlagen, nicht. Auchnach Ihrem Vorschlag hätte jeder Ehegatte ab einem Ein-kommen von 900 Euro unterjährig und nicht erst amEnde des Jahres den auf ihn anfallenden Steueranteil zuzahlen. Einer der Kernkritikpunkte am Anteilsverfahrenwar, dass auch bei einem Einkommen von weniger als900 Euro Steuern hätten gezahlt werden müssen. Auchin Steuerklasse V müssen selbstverständlich Steuern ge-zahlt werden. Wenn aber laut individueller Besteuerungkeine Steuern zu zahlen sind, sind auch nach dem Fak-torverfahren keine zu zahlen. Das ist der Vorteil für dieBezieher ganz geringer Einkommen.
Lassen Sie mich ein Wort zum steuerlichen Querver-bund sagen. Ich denke, die Kommunalpolitiker unter unssind der Meinung, dass das ein richtig großer Wurf ist.Wir sind alle sehr froh, dass das schon im Gesetz steht,sonst hätten wir es nämlich selbst hineinschreiben müs-sen. Aber es steht schon im Entwurf der Regierung.Privat vor Staat – das ist ein Slogan der schwarz-gel-ben Landesregierung in Nordrhein-Westfalen. Er stimmtnicht, und er nützt nie den Bürgerinnen und Bürgern,sondern immer nur den Unternehmen. Deshalb bin ichfroh, dass der steuerliche Querverbund bleibt und dassdie Daseinsfürsorge mit Gewinnen aus kommunalen Be-trieben weiter finanziert werden kann. Ich halte über-haupt nichts davon, Kommunen in ihrer wirtschaftlichenBetätigung einzuschränken, die Verluste aus dem ÖPNVund der Daseinsfürsorge in der Kommune zu lassen undalles andere, was in der Kommune Gewinn bringt, zuprivatisieren.
Diese Haltung habe ich im Übrigen auch zu den Spar-kassen und zum Sparkassengesetz in Nordrhein-West-falen. Auch da macht „Privat vor Staat“ überhaupt kei-nen Sinn.
Ich möchte zwei Punkte zur Gemeinnützigkeit an-sprechen. Ich unterstütze Herrn Oswald, wenn er sagt:Es kann nicht sein, dass Vereine
– habe ich jemals etwas anderes gesagt, Herr Kollege? –,die nicht auf dem Boden unserer freiheitlichen demokra-tischen Grundordnung stehen, begünstigt werden. Dasist zwar schon heute die geltende Verwaltungspraxis,aber es ist deutlicher, wenn es im Gesetz verankert ist.Das machen wir jetzt.Weiter legen wir fest, dass gemeinnützige Vereineund gemeinnützige Stiftungen einen Bezug zum Allge-meinwohl im Inland haben müssen. Eine italienischeStiftung, die in der Schweiz gemeinnützig tätig ist und inDeutschland nur Vermietungseinkünfte hat, erfüllt dieseVoraussetzungen eindeutig nicht. Inländische gemein-nützige Vereine, die im In- und/oder Ausland Gutes tun,sind von dieser Regelung überhaupt nicht betroffen.Bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt sind füruns Ehrensache. Deshalb versichere ich den gemeinnüt-zigen Vereinen: Wir werden alle diesbezüglichen Beden-
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19043
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Gabriele Frechenken aufnehmen und gemeinsam mit Ihnen eine zweifels-freie Formulierung finden.
Außerdem – klein aber fein – werden wir den Arbeiter-Samariter-Bund in den Katalog der Verbände der freienWohlfahrtspflege aufnehmen.Frau Dr. Höll, Sie sprachen die Bedingungen an, un-ter denen Buchführungen ins Ausland verlegt werdenkönnen. Ein bisschen stimme ich mit Ihnen überein.Wenn es denn so ist, dass wir heute internationale Ver-flechtungen haben, dann darf es auf keinen Fall sein,dass der, der seine Buchführung im Ausland macht, bes-sere Bedingungen hat als der, der sie im Inland macht.Es kann nicht sein, dass der Zugriff für die Finanzbehö-riden nicht genau wie in Deutschland jederzeit gewähr-leistet ist. Deshalb werden wir uns diese Vorschrift ganzgenau anschauen.Wir werden die Zusagen aus der Unternehmensteuer-reform für Leasing- und Factoringunternehmen und be-züglich der Aufhebung des Organschaftsverbots zwi-schen Kranken- und Lebensversicherungen erfüllen.Dann gibt es noch einen für mich ganz wichtigenPunkt, den wir in das Gesetzgebungsverfahren einbrin-gen werden. Das betrifft die Besteuerung von Dividen-den und Veräußerungserlösen bei Streubesitz. Derzeitgilt für Dividende, die ins europäische Ausland gezahltwird, eine abgeltende Steuer in Höhe von 20 Prozent. ImInland ansässige Unternehmen können diese Kapital-ertragsteuer hingegen mit der Körperschaftsteuer ver-rechnen. Das wurde im Vertragsverletzungsverfahrenvon der Europäischen Kommission als nicht europakon-form angesehen. Handeln wir nicht, steht uns eine Klagevor dem EuGH ins Haus.Nach europäischem Recht haben wir zwei Möglich-keiten: Wir stellen alle In- und Ausländer frei oder wirmachen beide Gruppen steuerpflichtig. Der Unterschiedbeträgt rund 1,5 Milliarden Euro. Ich denke, angesichtsdes guten Wegs der Haushaltskonsolidierung, auf demsich diese Große Koalition befindet, muss man sich nichtlange fragen, wie wir uns entscheiden. Wir werden dieseSteuerpflicht für Dividenden- und Veräußerungserlösebei Streubesitz in diesem Gesetzgebungsverfahren ein-führen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Antje Tillmann für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Kollege Dr. Wissing, Sie haben einleitend gesagt,dieses Jahressteuergesetz sei ein Gesetz, das das Finanz-ministerium sich ausgedacht habe, das im Sinne der Fi-nanzbehörden sei, aber nicht im Sinne der Steuerpflichti-gen. Ich weiß nicht, mit welchem Finanzbeamten Siediese Meinung besprochen haben. Ich kann Ihnen an we-nigen Beispielen aufzeigen, dass dieses Gesetz – ganzim Gegenteil – viele Belastungen für die Finanzverwal-tungen bringt, um gerade Steuerpflichtige zu entlasten.Ich fange an mit dem Beispiel steuerliche Haftungsre-gelungen für Vereinsvorstände. Sie können mir glauben,dass es wesentlich einfacher ist, einen Haftungsbescheidgegen eine natürliche Person zu erlassen als gegen einenVorstand. Trotzdem waren wir uns einig, dass wir geradewegen der ehrenamtlichen Tätigkeit vieler Menschendiese Haftungsrisiken begrenzen wollen. Die Regelung,die mittlerweile vorgeschlagen ist, wird in den allermeis-ten Fällen dazu führen, dass der Schatzmeister desSportvereins, des Kulturvereins eben nicht in die Situa-tion kommt, dass gegen ihn haftungsrechtlich ermitteltwerden muss
und dass er tatsächlich Vermögensschäden hat.
Noch weiter gehende Regelungen halte ich insofernfür bedenklich – auch das muss man sagen –, als jedemEmpfänger einer Steuerbescheinigung zu fast 50 Prozentallgemeine Steuermittel zukommen müssen. Deshalbsehe ich überhaupt keinen Sinn darin, dass das leichtfer-tig gemacht wird. Wir müssen schon sicherstellen, dassSpendenbescheinigungen ordnungsgemäß sind.
Ich glaube, da haben wir einen guten Kompromiss ge-funden. Die Finanzbehörde wird sich dem beugen, weilsie sieht, dass sie damit gemeinnützige Tätigkeit unter-stützt.Das Faktorverfahren ist ein zweites Beispiel. Kein Fi-nanzbeamter kann Interesse daran haben, dieses Verfah-ren einzuführen, weil der Beratungsaufwand in Zukunftnatürlich steigen wird. Trotzdem haben wir gesagt: Wirwollen dieses Faktorverfahren. Dafür gab es zweiGründe: zum einen, weil wir die Erwerbstätigkeit vonFrauen, die nur eine Halbtagstätigkeit aufnehmen möch-ten, erleichtern wollten, und zum anderen, weil die Wahlder Steuerklasse teilweise endgültige finanzielle Auswir-kungen hat, zum Beispiel beim Arbeitslosengeld oderbeim Elterngeld. Auch hier ging es nicht um das Inte-resse der Finanzbehörden, sondern um das der Bürgerin-nen und Bürger, die mit diesen Problemen auf uns zuge-kommen sind und die deshalb gesagt haben: Sie müssendas ändern. In diesem Sinne werden wir das Jahressteu-ergesetz 2009 ausgestalten.
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Antje TillmannNächstes Beispiel: Auslandstätigkeit steuerbegünstig-ter, gemeinnütziger, mildtätiger oder kirchlicher Organi-sationen. Frau Frechen hat darauf hingewiesen, wie dasGesetz zu lesen ist. Trotzdem, liebe Kollegin Frechen,müssen wir aufgrund dessen, dass Herr Dr. Wissing dasGanze offensichtlich nicht verstanden hat, einmal überdie Formulierung nachdenken. Das meine ich jetzt garnicht böse; die Vereine haben die Regelung schließlichteilweise auch nicht verstanden. Es geht eben nicht umdie Fälle, die Sie hier aufgeführt haben, sondern es gehteinzig und allein um den Fall, dass eine gemeinnützigeOrganisation mit Deutschland überhaupt nichts zu tunhat, weswegen wir keinen Anlass dazu sehen, eine Steu-erbegünstigung durchzusetzen. Wir haben vom Finanz-ministerium schon das Signal bekommen, dass wir überdie Formulierung nachdenken sollten. Ich bin sicher:Am Ende der Anhörung können Sie diesem Vorschlag,wenn Sie es wollen, zustimmen.Liebe Frau Kollegin Höll, was haben Sie für ein so-ziales Menschenbild? Ganz offensichtlich ist es für Siebesser, als Reinigungsfrau unversichert, ohne Kranken-versicherung und ohne Rentenversicherung zu arbeitenals sozialversicherungspflichtig bei einem bösen Rei-chen.
Sie wissen doch, dass das Leben ganz anders ist, als Siees sich theoretisch vorstellen. Die Situation ist doch so,dass in diesem Bereich die höchste Schwarzarbeitsquoteist und dass Reinigungsfrauen tatsächlich schon heuteschwarz und ohne Unfallversicherung arbeiten. Wir wol-len das nicht sehenden Auges hinnehmen.
Wir wollen, dass auch diese Reinigungsfrauen ein sozi-alversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis haben. Wirsind bereit, dazu Anreize zu setzen, nämlich im Sinnedieser Frau, im Sinne des Gärtners, im Sinne der Kinder-betreuerin, die selbstverständlich ein Recht darauf ha-ben, einen ordentlichen Arbeitsplatz zu haben und nichtin der Schwarzarbeit zu landen.
Stichwort „Verlagerung der elektronischen Buchfüh-rung“. Es ist immer gut, wenn man nach einer ersten Le-sung – –
– Ich kann mich kaum konzentrieren, wenn Sie immerdazwischenreden. Ich gebe Ihnen gern die Gelegenheit,etwas zu sagen, wenn ich meinen Gedanken zu Ende ge-führt habe. – Auch da ist es gut, dass wir uns in der An-hörung das Gesetz noch einmal vornehmen. Sie habengesagt: Es kann nicht sein, dass bei einer Verlagerungder elektronischen Buchführung ins Ausland auf Datennicht mehr zugegriffen werden kann. Das verlangt auchkeiner; das ist auch gar nicht vorgesehen. Ein Blick indas Gesetz, das wir heute beraten, hilft. Da steht nämlichganz klar, dass eine solche Verlagerung nur zulässig ist– ich zitiere –, wenn „der Datenzugriff … in vollem Um-fang möglich ist“. Ich denke, wir können Ihnen in derAnhörung die Gelegenheit geben, da nachzufragen. Ichbin gerne bereit, Ihnen den Passus zukommen zu lassen.
Kollegin Tillmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Bitte.
Frau Tillmann, ich möchte nachfragen, welches Men-
schenbild Sie haben. Wenn jemand ein so hohes Einkom-
men hat, dass er es sich leisten kann, eine Haushaltshilfe
zu beschäftigen, dann ist das gut. Aber haben Sie die
Vorstellung, dass die Menschen, die viel haben und es
sich sowieso leisten können, das nur machen, wenn wir
ihnen als Gemeinschaft einen Teil ihrer Lohnausgaben
steuerlich erstatten? Das ist das Prinzip „Haltet den
Dieb!“, aber gleichzeitig wirft man noch etwas hinterher.
Es geht nicht um die Schwarzarbeit der Putzfrau. Vo-
raussetzung ist aber, dass sie jemand anstellt, und genau
darum geht es. Wenn jemand sagt, er stellt die Putzfrau
nur sozialversicherungsrechtlich abgesichert ein, dann
ist das eine ganz andere Situation. Aber hier der Putzfrau
den Schwarzen Peter zuzuschieben, ist eine Unver-
schämtheit.
Da habe ich ein anderes Menschenbild.
Ich habe niemandem den Schwarzen Peter zugescho-ben. Ich habe vielmehr Sie gebeten, aus Sicht der Reini-gungsfrau einmal zu überprüfen, welche Interessen siehat. Ich glaube, der Reinigungsfrau ist es völlig egal, obihr Arbeitgeber ein Unternehmen oder ein privater Haus-halt ist. Die Hauptsache ist doch, dass diese Reinigungs-frau eine sozialversicherungspflichtige Anstellung mitder Absicherung hat, die ich mir wünsche. Das werdenwir fördern.Ich bin sicher, dass wir den guten Ansatz, der schonsichtbar geworden ist, weiterverfolgen werden. Ich weiß,dass wir da noch nicht ganz auf einer Linie mit dem Ko-alitionspartner sind. Die Gespräche hierüber werden wirfortführen. Ich glaube, dass beide, SPD und CDU/CSU,
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Antje Tillmanndie Reinigungsfrau als Allererstes im Blick haben unddass wir für sie etwas erreichen wollen,
damit sie eine Absicherung für die Zukunft hat, auchwenn sie in einem privaten Haushalt arbeitet.
Das Thema strafrechtliche Verjährungsfristen wirdsehr kritisch diskutiert. Liebe Frau Kollegin Kressl, ichstimme nicht ganz mit Ihnen überein, dass die fünfjäh-rige Verjährungsfrist ein Zeichen für ein Kavaliersdeliktist. Fünf Jahre sind ein langer Zeitraum. Aber wir sinduns schnell wieder darin einig, dass es das allein sowiesonicht bringen wird. Am besten hilft gegen Steuerhinter-ziehung, wenn derjenige, der es tut, damit rechnen muss,entdeckt zu werden.Hier kämpfen wir gemeinsam in der Föderalismus-kommission darum, die Steuerverwaltung effektiver zumachen. Bund und Länder müssen hier zusammenarbei-ten. Gestern haben wir dabei die ersten Erfolge erzieltund erreicht, dass bei den Steuerhinterziehungstatbestän-den und auch bei den Betriebsprüfungen noch enger zu-sammengearbeitet wird. Darauf sollten wir für die Zu-kunft einen Schwerpunkt setzen.Es werden in der Anhörung noch einige anderePunkte zur Diskussion stehen, die heute noch nicht er-wähnt worden sind. Frau Kollegin Kressl hat darauf hin-gewiesen, dass wir auch das Engagement von Arbeitge-bern zur Gesundheitsfürsorge unterstützen wollen. Esgibt auch das Anliegen aus dem Bundesrat, Steuerfrei-heit für Aufwandsentschädigungen für die dauerhaftePflege von volljährigen Menschen mit Behinderungenzu schaffen. Wir werden das diskutieren und die Auswir-kungen besprechen.Weiterhin gibt es das Anliegen aus dem Bundesrat– das betrifft insbesondere die Kommunen –, bei struktu-rellem Leerstand die Voraussetzungen für einen Grund-steuererlass zu schaffen. Dieses Problem führt beimanchen ostdeutschen Kommunen zu erheblichen Ein-brüchen. Hier müssen wir im Rahmen der Anhörung zu-sammen mit den Kolleginnen und Kollegen nach Lösun-gen suchen, um den Kommunen Sicherheit zu geben,damit sie auf die Steuern, die sie eingeplant haben, tat-sächlich zurückgreifen können, um Leistungen wie Kin-derbetreuung, Schulverpflegung sowie die Sanierungvon Straßen und Jugendhäusern erbringen zu können.Ich freue mich auf die weitere Diskussion und sehe,dass wir noch erheblichen Beratungsbedarf haben.Ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/10189 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den
Sportausschuss vorgeschlagen. Gibt es dazu anderwei-
tige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b sowie
Zusatzpunkt 7 auf:
7 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Moder-
nisierung des Vergaberechts
– Drucksache 16/10117 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Lötzer, Werner Dreibus, Dr. Diether Dehm, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Tariftreue europarechtlich absichern
– Drucksache 16/9636 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Martin Zeil, Birgit Homburger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Novellierung des Vergaberechts für Bürokra-
tieabbau nutzen – Bundesweit einheitliches
Präqualifizierungssystem für Leistungen ein-
führen
– Drucksache 16/9092 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parla-
mentarische Staatssekretärin Dagmar Wöhrl.
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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Der Gesetzentwurf zur Modernisierung des Vergabe-rechts liegt jetzt vor. Der Abstimmungsprozess war nichteinfach. Es ging vor allem darum, unser komplexes Ver-gaberecht zu modernisieren und zu vereinfachen. Sehrwichtig war für uns, dass wir zu einer mittelstandsge-rechten Ausgestaltung gekommen sind.Es gab viele Diskussionen, vor allem im Zusammen-hang mit den sogenannten vergabefremden Aspekten.Ich glaube, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf haben
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Parl. Staatssekretärin Dagmar Wöhrlwir es geschafft, viele Unsicherheiten, die bis jetzt be-standen haben, zum Beispiel Unsicherheiten bei derRechtsauslegung, zu beseitigen. Zudem erfordern dieeuropäischen Richtlinien bekanntlich weitere Anpassun-gen der deutschen Regelungen.Wichtig war uns, dass wir bei der Vergabe öffentli-cher Aufträge ein transparentes Verfahren bekommen.Wichtig war uns auch, dass die Wirtschaftlichkeit bei derBeschaffung gewährleistet und der Wettbewerb um dieAufträge gestärkt wird. Hier haben wir ein Gleichge-wicht hergestellt; das ist gut.Ich möchte auf einige Kernelemente des Gesetzent-wurfes eingehen. Ich glaube, eines seiner wichtigstenElemente ist, dass eine gesetzliche Pflicht zur Aufteilungder Aufträge in Lose vorgesehen ist. Eine Gesamtver-gabe soll zukünftig nur noch aus besonderen wirtschaft-lichen oder technischen Gründen möglich sein. Somitstärken wir die Mittelstandsklausel; das hatten wir vonAnfang an vor. In Zukunft ist sie im Rahmen der Nach-prüfung überprüfbar.Die Vergabepraxis hat gezeigt, dass die Mittelstands-klausel bis jetzt nicht den gewünschten Effekt hatte.Nachfragen der öffentlichen Stellen werden immer häu-figer derart gebündelt, dass kleinere Betriebe keine An-gebote abgeben können, vor allem deshalb, weil sie nichtüber dieselben Ressourcen wie andere, größere Unter-nehmen verfügen.Es ist richtig, dass im Koalitionsvertrag und in denLeitlinien der Bundesregierung explizit gefordert wurde,die Vergabe öffentlicher Aufträge zukünftig mittel-standsfreundlich auszugestalten. Ein weiterer wichtigerPunkt war für uns, dafür zu sorgen, dass möglichst vielemittelständische Betriebe die Möglichkeit haben, sichum öffentliche Aufträge zu bewerben.Am Anfang meiner Rede habe ich bereits darauf hinge-wiesen, dass die sogenannten vergabefremden Aspekteein großer Diskussionspunkt waren. Im Gesetzentwurfhaben wir die wichtige Klarstellung getroffen, dass beider Vergabe öffentlicher Aufträge auch soziale, umwelt-bezogene und innovative Aspekte berücksichtigt werdenkönnen; ich betone das Wort „können“. Ich denke, dieseKriterien müssen in einem sachlichen Zusammenhangmit dem Auftragsgegenstand gesehen werden. Vor allemmüssen sie allen bekannt sein. Die Formulierung des Ge-setzentwurfes knüpft an die gemeinschaftsrechtlichenVorschriften an und entspricht somit dem europäischenStandard. Eine weitere wichtige Klarstellung ist, dassbestimmte städtebauliche Maßnahmen und bestimmteFormen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit nichtmehr dem Vergaberecht unterliegen.Noch eine kurze Bemerkung zum Antrag der FraktionDie Linke. Frau Lötzer, Sie gehen in Ihrem Antrag expli-zit auf das Urteil des EuGH vom April dieses Jahres ein.In diesem Urteil des EuGH wird für die Auftraggeberund die Auftragnehmer bei öffentlichen BauaufträgenKlarheit geschaffen. Dieses Urteil besagt aber nicht, dassTariftreueregelungen bei der Vergabe öffentlicher Auf-träge unzulässig sind; ich weiß nicht, ob Ihnen dieserZusammenhang klar war. Vielmehr wird in diesem Ur-teil im Einzelnen beschrieben, welche Bedingungen er-füllt sein müssen, damit eine Tariftreueregelung zur An-wendung kommt.Aus wirtschaftspolitischer Sicht ist dieses Urteil zubegrüßen. Wie wir wissen, sind hier die Länder in derPflicht und gefordert. Vergaberecht ist Einkaufsrecht; ichglaube, das sollte uns allen klar sein. Es ist aber kein In-strument, mit dem man versuchen sollte, Mindestlöhnedurch die Hintertür einzuführen.Liebe Kollegen, unser Gesetzentwurf enthält ausge-wogene Regelungen. Er würdigt die Interessen derMarktteilnehmer auf beiden Seiten. Ich kann festhalten:Die Bundesregierung hat ihren Teil dazu beigetragen,dass wir eine anwenderfreundliche Ausgestaltung der öf-fentlichen Beschaffung erreicht haben. Jetzt sind dieVerdingungsausschüsse gefragt. Ich hoffe, dass diejeni-gen, die die VOB und die VOL regeln, sich ihrer Verant-wortung dann auch bewusst werden.In dem Sinne: Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Paul Friedhoff für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anlässlich derersten Beratung des Regierungsentwurfs werde ich michfür die Bundestagsfraktion der FDP im Wesentlichen aufdie Perspektive der mittelständischen Unternehmen kon-zentrieren.Wir begrüßen zunächst die Klarstellung – das hat we-niger mit dem Mittelstand zu tun –, dass die Grund-stücksverkäufe nicht dem Vergaberecht unterliegen sol-len, auch wenn sie mit städtebaulichen Auflagen an dieInvestoren verbunden sind. Das bedeutet ein StückRechtssicherheit und ist sicher auch angemessen.
Die Mittelstandsklausel ist ein begrüßenswerter An-satz zur beabsichtigten Stärkung kleiner und mittlererUnternehmen. Die bisher im Gesetz enthaltene Auffor-derung, mittelständische Interessen angemessen zu be-rücksichtigen, hat sich als nicht sehr wirkungsvoll erwie-sen, wie die Frau Staatssekretärin gerade auchfestgestellt hat.Mit der verstärkten Aufteilung von Aufträgen in Teil-und Fachlose kann einem deutlich größeren Kreis vonUnternehmen die Möglichkeit der Teilnahme an Aus-schreibungen eröffnet werden. Deshalb ist diese Auftei-lung in Einzellose für uns als Regelfall vorzusehen.Wenn davon aus technischen oder wirtschaftlichenGründen abgewichen werden soll, muss dies begründetwerden. Eine Einzelfallbetrachtung ist auf jeden Fall nö-tig, da eine pauschale Aussage nicht möglich ist. Die
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Paul K. Friedhoffunterschiedlichen Ausschreibungen sind einfach zukomplex. Ob nun Komplett- oder Teilvergaben günstigersind, muss im Einzelfall betrachtet werden. Aus Sichtder FDP-Fraktion soll der Auftraggeber, wenn er dieAusnahme wählt, also komplett ausschreibt, dies immerkonkret begründen müssen.Einen entscheidenden Kritikpunkt am Gesetzentwurfsieht die FDP-Bundestagsfraktion in der Ausnahme fürdie interkommunale Zusammenarbeit, also die soge-nannten Inhousevergaben. Durch die geplante neue Vor-schrift wird den Kommunen viel Spielraum zu verstärk-ter Zusammenarbeit geboten. Sie können nach demEntwurf andere Kommunen ohne Ausschreibung mit je-der Art von Leistung beauftragen oder hierfür gemein-same Gesellschaften gründen. Das klingt für die Bürger-meister sicher attraktiv, aber dadurch wird derWettbewerb bei öffentlichen Aufträgen gefährdet.
Durch das Vergaberecht soll ein fairer Wettbewerb si-chergestellt werden, und es soll den Kommunen nichtetwa einfach gemacht werden, Wettbewerb auszuschal-ten und Aufträge nach Gutdünken zu vergeben. Nichtumsonst ist die öffentliche Auftragsvergabe im Gesetzgegen Wettbewerbsbeschränkungen geregelt.Lassen Sie mich eines klarstellen: Wenn kommunaleUnternehmen gut wirtschaften, dann brauchen sie denWettbewerb mit der Privatwirtschaft nicht zu fürchten.Deshalb gibt es auch keinen Grund, die städtischen Be-triebe von den Vergabevorschriften auszunehmen und sovor dem Wettbewerb zu schützen.
Meine Damen und Herren, bei allem dürfen dieGrundzwecke des Vergaberechts nicht aus den Augenverloren werden. Diese liegen zum einen darin, für dieöffentliche Hand einen wirtschaftlichen Einkauf vonLeistungen zu gewährleisten. Zum anderen soll den po-tenziellen Auftragnehmern ein fairer und durchschauba-rer Bieterwettbewerb gesichert werden.Diese grundsätzlichen Erwägungen zum Zweck desGesetzes müssen uns davon abbringen, Aufgaben undZiele in das Recht der Auftragsvergabe einzubinden, diehiermit überhaupt nichts zu tun haben. So stehen etwaAnliegen der Sozial- und Umweltpolitik mit den eigent-lichen Zielen des Vergaberechts meist in keinem Zusam-menhang und sollten auch nicht mit ihm vermischt wer-den.Durch vergabefremde Aspekte werden vielmehr In-transparenz und Bürokratie gefördert und vor allem mit-telständische Unternehmen diskriminiert, die sich geset-zeskonform verhalten, also bereits Aufgaben wahrnehmen,die vom Auftraggeber vorgegebenen Motive der verga-befremden Kriterien nach dem Gesetz aber eben nichterfüllen und auch nicht erfüllen müssen.Lassen Sie mich noch einen Punkt anführen, der fürdie beabsichtigte Vereinfachung und Entbürokratisie-rung der Vergabeverfahren sehr wichtig ist. Wir fordernin unserem Antrag, der heute ebenfalls zur Beratung vor-liegt, ein bundesweit einheitliches System der Präquali-fikation einzuführen.Inhalt der Präqualifikation ist eine möglichen Aufträ-gen vorgelagerte Prüfung der Eignung. Damit müssenUnternehmer nicht vor jeder Ausschreibung aufs Neueihre generelle Eignung aufwendig nachweisen und wer-den nicht im Hinblick auf den Nachweisaufwand von derTeilnahme an Ausschreibungen abgeschreckt.Derartige Systeme gibt es auf Landesebene bereits infünf Bundesländern. Um einer Zersplitterung des öffent-lichen Auftragswesens entgegenzuwirken, fordern wir,im Rahmen der anstehenden Novelle die Chance zu nut-zen, ein leistungsfähiges System der Präqualifikationnun auf Bundesebene einzuführen. Kleinen und mittle-ren Unternehmen muss die Präqualifikation einheitlichund flächendeckend ermöglicht werden.
Die Bundesregierung begründet ihren Gesetzentwurfmit der Absicht, eine mittelstandsgerechte Modernisie-rung des Vergaberechts vorzunehmen. Ich würde dieBundesregierung gerne beim Wort nehmen und forderesie auf, unseren Kritikpunkten und denen der mittelstän-dischen Wirtschaft die Beachtung zu schenken, die zurErreichung dieses Zieles notwendig ist.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Reinhard Schultz für die
SPD-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte FrauPräsidentin! Frau Staatssekretärin Wöhrl hat darauf hin-gewiesen, dass es ein ziemlich langer und schwierigerProzess war, bis man sich auf diesen Kabinettsentwurfgeeinigt hat. Die Tatsache, dass zwischenzeitlich eineKabinettsentscheidung gestoppt wurde, fanden zumin-dest einige in diesem Hause merkwürdig. Immerhin liegtuns aber die auf Kabinettsebene vereinbarte Lösung, an-gereichert durch eine Reihe von Gesichtspunkten, dievorab auf Berichterstatterebene besprochen worden wa-ren – zum Beispiel das Thema städtebauliche Verträge –,als Gesetzentwurf zur Beratung vor. Ich bedanke michausdrücklich auch bei Herrn Dr. Nüßlein. Wenn wir wei-terhin nahe beieinanderbleiben, dann werden wir trotzder noch bevorstehenden Klippen, die es auch gebenwird, die Reform des Vergaberechts zu einem gutenEnde bringen.Die Reform ist aus guten Gründen im Koalitionsver-trag vereinbart worden. Sie ging zum einen auf die EU-Vorgaben zurück, die zum Teil bereits 2006 umgesetztwurden. Jetzt folgt sozusagen der freiwillige Teil, wei-tere Regelungen der EU-Vergaberichtlinien in deutschesRecht umzusetzen. Zum anderen verfolgen wir damitauch eigene Absichten im Hinblick auf Vereinfachungund Mittelstandsorientierung.
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Reinhard Schultz
Angesichts der Tatsache, dass in Deutschland etwa262 Milliarden Euro jährlich für öffentliche Aufträge anUnternehmen gezahlt werden – das sind etwa 2,4 Millio-nen einzelne Vergabevorgänge –, kann man ermessen,wie kompliziert das ist, aber auch, welche große volks-wirtschaftliche Bedeutung das öffentliche Auftragswe-sen hat. Jedem, der daran teilnehmen möchte, sollte diesermöglicht werden. Das Vergabeverfahren sollte sotransparent, einfach und klar sein, dass jedes Unterneh-men – auch kleine Unternehmen – die Möglichkeit hat,daran teilzunehmen. Deswegen war die Reform erfor-derlich.Die Intransparenz lag zum Teil an der Vielschichtig-keit des Gesetzes und der darauf aufbauenden Verord-nungen, aber auch an der Zersplitterung der Vergabe-landschaft. Wir haben 8 000 Gebietskörperschaften und30 000 Vergabestellen, die bundesweit tätig sind undtäglich öffentliche Ausschreibungen vornehmen. Das istfür kleine und mittlere Unternehmen außerordentlichschwer zu handhaben.Wir haben seit langem beklagt, dass es gerade im Be-reich des Bauwesens angeblich zugunsten der Vereinfa-chung die Tendenz gibt, alles aus einer Hand schlüssel-fertig bei einem Generalunternehmer in Auftrag zugeben. Der Generalunternehmer übernimmt dann diePlanung, er steuert das Projekt und kauft in der Regel beiSubunternehmen ein mit dem Ergebnis, dass die eigent-liche Marge dort erwirtschaftet wird, wo man die mögli-chen Gewinne der Subunternehmer drücken kann. Dasgeht zulasten des Mittelstandes, aber auch der Qualität;denn manchmal kann das, was durch die Preisdrückereierforderlich wurde, durch Leistung gar nicht mehr er-bracht werden. Damit entstehen Pfusch und als Folgevielerlei Gewährleistungstatbestände, die das Geschäftfür den Endabnehmer, die öffentliche Hand, außeror-dentlich schwierig machen. Deswegen sind wir sowohlaus Wettbewerbsgründen als auch aus Qualitätsgründendafür, dass in der Regel losweise vergeben wird, wenn esum größere Ausschreibungen geht, und dass im Einzel-nen begründet werden muss, wenn man auf eine Gene-ralunternehmerlösung zurückgreifen will.Ich gehe sogar einen Schritt weiter. Ich glaube – da-rüber müssen wir im weiteren Gesetzgebungsverfahrennoch diskutieren; ich bin beim Thema PPP darauf gesto-ßen –, wir müssen darüber nachdenken, ob es sinnvollist, dass ein Generalunternehmer, wenn er zum Zugekommt, nach den Kriterien des Vergaberechts transpa-rent ausschreibt.
Nach meiner Meinung wäre das eine Lösung zumindestfür PPP, eventuell aber auch grundsätzlich für General-unternehmertätigkeiten. Ich freue mich, dass eine ge-wisse Aufgeschlossenheit auch beim Koalitionspartnervorhanden ist; das habe ich an dem Beifall gesehen.Das Thema der sogenannten vergabefremden Krite-rien hat die zweieinhalb Jahre dauernden Beratungensehr verzögert. Man muss sich fragen, ob wirklich allesvergabefremd ist. Bei der Lohnfindung in Unternehmen,die sich an öffentlichen Aufträgen beteiligen, geht eszum einen um die vernünftige Bewertung menschlicherArbeit und zum anderen um einen Wettbewerbsfaktor.Wenn zwei Unternehmen gegeneinander antreten unddas eine als Subunternehmen mit Drückerkolonnen deut-lich unter Mindestlohn anbietet und das andere tariftreuist, dann gibt es eine Verzerrung. Wir können nicht daraninteressiert sein, bei einem Volumen von mehr als einerViertel Billion Euro an öffentlichen Vergaben in Deutsch-land dazu beizutragen, dass Arbeitnehmer, die für dieDurchführung öffentlicher Aufträge beschäftigt werden,in eine Rutschpartie geraten, die damit endet, dass sieAufstocker im Rahmen des Arbeitslosengeldes II werden;denn dann zahlt die öffentliche Hand im Nachhinein dieLöhne, zumindest auf dem Niveau eines Mindestlohns.
Das müssen wir verhindern. Das ist eine Frage des An-standes, aber auch der ökonomischen Vernunft. Insofernhat die Lohnfindung als ein soziales Kriterium – auchinhaltlich – unmittelbar etwas mit dem Vergaberecht undder Wettbewerbsgerechtigkeit zu tun und ist nicht etwasachfremd. Deswegen habe ich Probleme mit den soge-nannten sachfremden Kriterien. Ähnliches gilt bis zu ei-nem gewissen Grad für ökologische Tatbestände und in-novative Belange.Die entscheidende Frage ist, wie wir damit umgehen.Der Gesetzentwurf sieht eine Eins-zu-eins-Übernahmeder Formulierung aus den europäischen Richtlinien vor.Danach könnte jeder, der öffentliche Aufträge vergibt,die Lohnfindung, ökologische Kriterien und innovativeBelange in seine Ausschreibungstexte einbeziehen. Daswäre dadurch gedeckt und stellte im Vergleich zu dem,was bundesweit gilt, einen Fortschritt dar. Ich gehe sogarso weit und sage: Wenn das Gesetz schon gelten würde,hätten wir den skandalösen Vorgang bei der Vergabe desFahrdienstes des Deutschen Bundestages nicht; denn daswäre dann gedeckt. Trotzdem muss man sich die Fragestellen, ob das weit genug geht. Soll man es in das Belie-ben des jeweiligen öffentlichen Auftraggebers stellen, ober die Fragen nach angemessenen Löhnen und Wettbe-werbsgerechtigkeit ernst nimmt oder nicht? Es wird si-cherlich noch Diskussionen darüber geben, ob wir dieTarifbindung nicht deutlich besser verankern können, alses bislang im Gesetzentwurf vorgesehen ist. Das gehtnoch ein Stück weiter. Der Kollege Walter Riester wirdgleich darauf seinen Schwerpunkt setzen. Aber ich willdeutlich machen, dass ich ausdrücklich dazu stehe.Es gibt internationales Recht, das, wenn es vonDeutschland ratifiziert ist, in Deutschland verbindlichist. Das sind beispielsweise die Normen der Internatio-nalen Arbeitsorganisation. 71 sind ratifiziert. Selbstver-ständlich müssen diese bei öffentlichen Vergaben, so-wohl bei der direkten Arbeit als auch bei der gesamtenWertschöpfungskette, berücksichtigt werden. Jeder vonIhnen wird sagen: Es ist doch völlig selbstverständlich,dass sich die Unternehmen an geltendes Recht halten. –Bei internationalem Recht ist das nicht so selbstver-ständlich, vor allen Dingen nicht in den Köpfen. Wennes aber für alle hier im Parlament selbstverständlich ist,dann wird auch nichts dagegen sprechen, das nicht nur inder Begründung zu erwähnen – denn darin kommt es vor –,
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Reinhard Schultz
sondern diese Klarstellung auch im eigentlichen Geset-zestext vorzunehmen. An Selbstverständlichkeiten wirdkeiner Anstoß nehmen. Wenn aber einer das ablehnensollte, dann stellt sich die Frage, ob diejenigen, die dasablehnen, versuchen, im deutschen Vergaberecht unterder Rechtsverbindlichkeit von internationalem Rechtwegzutauchen. Wir werden diese Stunde der Wahrheiterleben, aber ich bin da außerordentlich optimistisch.Ich will zu den Fragen der städtebaulichen Verträgeund der kommunalen Zusammenarbeit aufgrund der be-grenzten Zeit, die ich hier habe, jetzt nichts sagen. Ichwill nur darauf hinweisen, dass es Themen gab, die überden Bundesrat oder auch über Parteien der Opposition anuns herangetragen worden sind. Der Einrichtung einesRegisters von Unternehmen, die sich im Rahmen derVergabe schwerste Verfehlungen haben zuschuldenkommen lassen – Korruption, Nichteinhaltung von Ge-setzen usw.; es handelt sich um die berühmten schwar-zen Schafe –, stehen wir ausgesprochen offen gegenüber.Ich persönlich – das sage ich als Berichterstatter –könnte mir auch vorstellen, dass man sich dem Themader Vereinfachung durch die Präqualifizierung deutlichnähert, weil es wirklich eine Vereinfachung wäre, wenndie Qualifikation testiert würde und in einem Registerstünde. Demjenigen, der 25 Ausschreibungen innerhalbeiner Woche bearbeiten muss, könnte man sehr viel Ar-beit ersparen. Auch in dieser Frage sind wir offen. Ichwürde mich darüber freuen, wenn wir am Ende zu einerbreit getragenen Vergaberechtsreform kommen würden.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Ulla Lötzer für die Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! 1999hat der Bundestag schon einmal ein Vergabegesetz ver-abschiedet, das die öffentlichen Aufträge an die Zahlungvon Tariflöhnen gebunden hat. Dieses wurde im Bundes-rat mit der Begründung blockiert, dass es Ländersachesei. Acht Länder haben inzwischen Vergabegesetze be-schlossen. Entstanden ist ein Flickenteppich mit unter-schiedlichsten Regelungen: Die einen haben Kriteriennur für die Bauindustrie, die anderen für alle Branchen,die einen haben Kontrollen eingeführt, die anderen keineKontrollen, die einen haben Kontrollen wieder abge-schafft, bei den anderen gelten sie noch. Darüber hinausgibt es Kommunen, die auch sozial und ökologisch ver-antwortlich einkaufen wollen, unter anderem Neuss undDüsseldorf. Diese beiden Städte sind nicht gerade rotoder rot-grün regiert, erst recht nicht rot-rot. Sie kaufenkeine Produkte mehr, die mit Kinderarbeit hergestelltworden sind. Der rot-rote Senat in Berlin wollte alleUnternehmen verpflichten, Tariflöhne einzuhalten.Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht dazu 2006ausdrücklich festgestellt, dass Tariftreueregelungen dieBenachteiligung tariftreuer Unternehmen im Wettbe-werb verhindern, dem Lohndumping entgegenwirken,dem Erhalt wünschenswerter sozialer Standards dienenund die Tarifautonomie stabilisieren. Das alles sindGründe, mit einer bundesweiten Regelung für fairenWettbewerb und Rechtssicherheit zu sorgen und gleicheBedingungen für alle zu garantieren.
– Ich komme dazu. – Sie, Herr Schultz, haben das Volu-men angesprochen, eine bedeutsame Marktmacht, mitder man auch Normen für soziale und ökologische Ver-antwortung von Unternehmen setzen kann. Sie haben esmit Ihrem Entwurf in der Hand, diese Normen zu setzenund festzulegen, ob in Zukunft der Anteil von Ökostrommehr als 0,5 Prozent betragen wird; Sie haben es in derHand, ob Produkte gekauft werden, für deren Herstel-lung Kinder in Steinbrüchen Indiens gearbeitet haben,und Sie haben es in der Hand, ob zu Dumpinglöhnen ge-putzt oder Müll abgefahren wird. Wenn man diese Krite-rien anlegt, dann ist Ihr Entwurf allerdings beschämend.
Sie legen keine verpflichtenden Kriterien fest. Sie schie-ben diese Verantwortung auf die Kommunen und Länderab. Diese sollen das auftragsbezogen regeln. Das einzigPositive bei Ihnen – das sehen wir anders als Sie, HerrFriedhoff – ist die Förderung kommunaler Zusammen-arbeit sowie die Mittelstandsklausel. Wir fordern Sie,Herr Schultz, deshalb auf, die Förderung von betriebli-cher Ausbildung, von Langzeitarbeitslosen,
die ökologische Beschaffung, die Gleichstellung vonFrauen – genau – und den fairen Handel verbindlich indas Vergabegesetz aufzunehmen.
Kommen wir zur Tarifautonomie und dem EuGH-Urteil. Ja, der Europäische Gerichtshof hat nur allge-meinverbindliche Tarifverträge und einen gesetzlichenMindestlohn als Kriterium anerkannt. Das ist ein Urteilin einer Serie von Urteilen, in denen die sozialen und de-mokratischen Grundrechte niedriger bewertet werden alsdie Binnenmarktfreiheit von Unternehmen, mit Dum-pinglöhnen Aufträge zu bekommen. Ein Skandal, wiewir meinen, Frau Wöhrl!
Was machen Sie jetzt dagegen? Als Erstes wäre eingesetzlicher Mindestlohn fällig. Den führen Sie natürlichnicht ein. Stattdessen verstecken Sie sich im Entwurf zurModernisierung des Vergaberechts in diesen Fragen hin-ter dem EuGH. Der EuGH zwingt Sie auch nicht, die Ta-riftreue fallen zu lassen. Auf nationaler Ebene könntenSie die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen er-leichtern. Dafür wäre es sowieso höchste Zeit.Beim Europäischen Parlament regt sich endlich Wi-derstand. Gestern hat der Beschäftigungsausschuss be-schlossen, den Schutz der Tarifvertragsfreiheit in dereuropäischen Entsenderichtlinie zu verankern und diesdemnächst im Europäischen Parlament zu behandeln.
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Ulla LötzerWir fordern Sie auf, dieses Anliegen im EuropäischenRat zu unterstützen.
Der Europäische Gewerkschaftsbund tritt für eine so-ziale Fortschrittsklausel in Form eines Protokolls zu deneuropäischen Verträgen ein, mit dem der Vorrang derGrundrechte und Grundwerte vor den Binnenmarktfrei-heiten von Unternehmen abgesichert wird. Werden Siein diesem Sinne in Brüssel vorstellig! Gleicher Lohn fürgleiche Arbeit am gleichen Ort, das gehört auf der einenSeite verbindlich ins Vergaberecht und auf der anderenSeite in die europäischen Verträge. Nur so haben ein so-ziales Europa und eine Sozialunion Bestand.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Nun hat die Kollegin Kerstin Andreae für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Auch ich begrüße, dass wir bei der Reform desVergaberechts jetzt doch einen deutlichen Schritt weiter-kommen. Das ist nicht erst seit gestern ein Thema. DieKoalition hat es schon in ihren Koalitionsvertrag aufge-nommen. Jetzt, drei Jahre später, liegt uns ein Gesetzent-wurf vor. Die Europäische Union hat von uns verlangt,zu handeln. Wir sind keineswegs das erste Land, in demeine solche Reform gemacht wird.Auf das Volumen der öffentlichen Auftragsvergabe vonBund, Ländern und Kommunen ist eingegangen wordensowie darauf, was der größte Einkaufszettel – darumhandelt es sich quasi – bedeutet und welche Verantwor-tung dahintersteht. Auf diese Verantwortung möchte icheingehen, weil sie für Bündnis 90/Die Grünen sehr wich-tig ist.Vorab noch Folgendes. Das Grundproblem des Verga-berechts ist die enorme Zersplitterung, die enorme Kom-pliziertheit. Sowohl was den Rechtsschutz der Auftrag-geber, zum Beispiel der Kommunen, als auch was denRechtsschutz der Auftragnehmer, zum Beispiel der Mit-telständler, angeht, bestehen Probleme.Im Hinblick auf den Mittelstand begrüßen wir die Re-gelungen, die für die Fach- und Teillose gefunden wor-den sind. Es ist durchaus richtig, hier so zu handeln.Aber Sie sollten sich noch einmal sehr genau anschauen,was die Verbände in ihren Stellungnahmen im Hinblickauf Rechtsschutz und Klarheit, Transparenz schreiben.Dass der Rechtsschutz derzeit mangelhaft ist, haben wirkonstatiert; das ist auch von Ihnen beschrieben worden.Rechtsschutz bedeutet natürlich auch mehr Transparenzund Klarheit für die Unternehmen, die sich an solchenVerfahren beteiligen wollen.Man kann unterhalb der Schwellenwerte zwar imNachhinein klagen, aber dass es immer noch keinen Pri-märrechtsschutz gibt, also dass ein Mittelständler, dersich in einem Verfahren nicht angemessen beteiligt fühlt,keine Möglichkeit hat, in diesem laufenden Verfahren„Stopp!“ zu sagen, ist nicht mittelstandsfreundlich. Siesollten überlegen, ob Sie nicht doch eine Möglichkeit se-hen, hier mehr Rechtsschutz zu schaffen. Das würdenwir befürworten.
Im Übrigen unterstützen wir hier ausdrücklich diePosition der FDP. Das Präqualifizierungsverfahren istsinnvoll. Wir haben es auch in unserem eigenen Antrageingefordert.Jetzt möchte ich zu den sogenannten vergabefremdenKriterien kommen. Bei einem Auftragsvolumen von fast300 Milliarden Euro im Jahr kann und darf sich derBund nicht aus der Verantwortung stehlen. Vielmehrmuss er an diesen Einkaufszettel, an diese MarktmachtKriterien knüpfen und verlangen, dass nach diesen Kri-terien auch agiert wird.
Aus Sicht einer Umweltpartei ist es enorm wichtig,dass der Bund hier als Vorbild vorangeht und im Bereichseiner eigenen Beschaffungen klarstellt, welche ökologi-schen Kriterien bei der Vergabe öffentlicher Aufträgeangelegt werden. Der Bund soll sich bei seinen eigenenAufträgen klar positionieren, welche ökologischen undsozialen Kriterien er zugrunde legt.
In Deutschland gilt das Subsidiaritätsprinzip. Damitgehen wir konform, indem wir den Ländern und Kom-munen die erforderliche Rechtssicherheit geben, wennsie diese Kriterien anlegen wollen. Heute stehen wir vorfolgender Situation: Wenn eine Kommune entscheidet,dass sie ihren Marktplatz nicht mit Steinen aus ausbeute-rischer Kinderarbeit pflastern will, dann kann sie daszwar in die Auftragsvergabe hineinschreiben, muss aberhoffen, dass niemand dagegen klagt. Diese Situation istunhaltbar, und deswegen ist es richtig, hier für den Auf-traggeber – in diesem Falle für die Kommune – Rechts-sicherheit zu schaffen.
Dass das Billigste weder das Wirtschaftlichste undschon gar nicht das Beste ist und dass Billiges für andereauch sehr teuer werden kann, liegt auf der Hand. Deswe-gen halten auch wir es für sehr wichtig, künftig imBereich der ILO-Kernarbeitsnormen, im Bereich der Ta-riftreue und im Bereich der Entlohnung sehr genau hin-zuschauen, welche europakonformen Regelungen manfinden kann, damit hier auch die soziale Verantwortungwahrgenommen werden kann. Unserer Ansicht nachmüssen die ILO-Kernarbeitsnormen hier stärker berück-sichtigt werden. In diesem Punkt sollten Sie den Entwurfnachbessern.Da meine Redezeit abgelaufen ist, komme ich zu ei-nem letzten Punkt. Sie haben hier einen Gesetzentwurfauf den Weg gebracht, und dies ist heute die erste Le-sung. In der Anhörung werden wir im Hinblick auf denMittelstand, aber auch im Hinblick auf die Rechtssicher-heit und die ökologischen und sozialen Kriterien noch
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Kerstin Andreaesehr viele vernünftige und gute Anregungen bekommen.Ich hoffe sehr, dass Sie diesen Gesetzentwurf nachbes-sern werden. Er ist nachbesserungsbedürftig. Das Verga-berecht muss insgesamt reformiert werden. Nutzen Siedie Chance, die Sie jetzt haben!Vielen Dank.
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Dr. Georg
Nüßlein das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren!Wir werden das komplexe und unübersichtlichedeutsche Vergaberecht vereinfachen und moderni-sieren. Dabei werden wir auf die mittelstandsge-rechte Ausgestaltung, wie zum Beispiel die Auftei-lung in Lose, besonders achten.
– Der Kollege Lämmel klatscht. Das steht in unseremKoalitionsvertrag und ist nach wie vor richtig.Für diese Novellierung des Gesetzes ist die Mittel-standsklausel, wie sie heute schon vielfach beschriebenwurde, die Conditio sine qua non, also das, was diesesGesetz ausmacht. Es ist entscheidend, dass wir geradedem Mittelstand die Chance geben, sich vermehrt undmit Aussicht auf Erfolg an Ausschreibungen zu beteili-gen. Es geht also darum, in unserem Recht festzuschrei-ben, dass die Aufträge so zu portionieren sind, dass nichtnur die Großen sie schlucken können, sondern dass auchdie Kleineren Happen davon abbekommen. Die Tatsa-che, dass sich bei mir als Berichterstatter – dies giltsicherlich auch für den Kollegen Schultz – die Mittel-ständler mit positiven Reaktionen und die Industrie miteher ablehnenden Reaktionen melden, zeigt, dass wirhier auf einem richtigen Wege sind.
Eben hat die Kollegin Andreae das Thema Primär-rechtsschutz unterhalb der Schwellenwerte angespro-chen. Ich verstehe das Interesse, das es hier gibt. 90 Pro-zent aller Aufträge liegen in ihrer Größenordnungunterhalb dieser Schwelle. Insofern ist hier durchausVerständnis für das Anliegen des einen oder anderen ausder Wirtschaft angebracht.
Ich sehe aber als aktiver Kommunalpolitiker auch dieandere Seite, also die des Auftraggebers, der nach demHaushaltsrecht ohnehin zur Sparsamkeit verpflichtet ist,der den sekundären Rechtsschutz hinter sich oder – jenachdem – vor sich sieht und der sich unter diesem Ge-sichtspunkt natürlich in einem sehr engen Korsett be-wegt, das wir nicht noch enger schnüren sollten.Ich meine, dass wir die politische Verantwortung stär-ken sollten und eher die Frage stellen sollten: „Wer wirdwie politisch kontrolliert?“, als die Frage: „Brauchen wiran der einen oder anderen Stelle zusätzliche Vorgaben?“Diese Vorgaben wären ja dann wiederum einer juristi-schen Kontrolle unterworfen. Bürokratieabbau in unse-rem Land funktioniert nur, wenn wir einerseits politischeEntscheidungsspielräume und Verantwortlichkeiten undzugleich die politisch-demokratischen Kontrollmecha-nismen stärken, andererseits aber die Möglichkeiten zurjuristischen Nachprüfung da beschränken, wo sie nichtunbedingt notwendig sind.Wir können in dem Verfahren, in das wir heute eintre-ten, gerne darüber diskutieren, ob an der einen oder an-deren Stelle mehr Transparenz geschaffen werden kann,zum Beispiel indem im Anschluss an die Vergabe veröf-fentlicht wird, wer was zu welchen Konditionen bekom-men hat. Damit wäre teilweise dem Genüge getan, wasdie Wirtschaft fordert.Im Bereich von Vergaben, die über der Schwelle lie-gen, wollen wir keinen Verhinderungsrechtsschutz, aberauch keine Rechtsschutzverhinderung. Deshalb überle-gen wir, wie man das Nachprüfungsverfahren entspre-chend beschleunigen kann. Damit würde das ganze Ver-gabeverfahren auf mehr Effizienz getrimmt.Wir müssen im Einzelnen auch noch einmal über dasGebührensystem und über die Fristen, die in dem Zu-sammenhang geändert werden sollen, diskutieren. Dassollte, wie ich meine, in enger Abstimmung mit derWirtschaft geschehen, um abzuklären, was hier letztlichsinnvoll und machbar ist.Ich merke an der Debatte, dass die vergabefremdenKriterien auch hier im Plenum eine entscheidende Rollespielen. Ich gebe offen zu: In der Union gibt es darübereine heftige Diskussion. Man könnte es sich einfach ma-chen und unter Verweis auf die einschlägigen EU-Richt-linien sagen: Das sind EU-Vorgaben. Aber auch daszieht bei uns nicht so einfach. Es ist bei uns nach den Er-fahrungen mit dem AGG natürlich die Befürchtung lautgeworden, dass es sich hierbei um ein weiteres EU-Ok-troi eines ordnungspolitischen Sündenfalls handelnkönnte. Viele haben gefragt: Ist es denn ordnungspoli-tisch geboten, was hier gemacht wird? Ist das wirklichein Beitrag zur Entbürokratisierung, und wird dadurchmehr Transparenz hergestellt? Oder führt das nichtschlussendlich zu mehr Willkür? Ich meine allerdings,dass das Ganze so allgemein, wie es jetzt formuliert ist,als Kannvorschrift und beschränkt auf drei Kriterien,von uns akzeptiert werden kann. Ich rate nicht dazu, hiernoch weitere Konkretisierungen vorzunehmen.Zu der Litanei an Einfällen, die Sie hier vorgetragenhaben, Frau Kollegin Lötzer, kann ich nur sagen: Gnadeuns Gott! Wenn wir all das aufnehmen, was Ihnen vor-schwebt und was der eine oder andere noch an Ergän-zungen wünscht, bekommen wir am Ende des Tages si-cherlich kein Gesetz hin.
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Dr. Georg NüßleinEine Kannvorschrift ist meines Erachtens nicht nurdeshalb die richtige Lösung, weil sie sich in den EU-Richtlinien wiederfindet, sondern auch, weil hierdurchder Spielraum der Auftraggeber entsprechend größerwird. Die entsprechenden Auftraggeber sind ja vielfacheiner politisch-demokratischen Kontrolle unterworfen.Wenn nun eine Stadt längere Zeit nicht auf ihren Haus-halt aufpasst und nach anderen als nach Haushaltskrite-rien entscheidet, dann haben am Schluss die Verantwort-lichen die Konsequenz zu tragen, indem sie zumBeispiel abgewählt werden.Bei den Themen Inhouse-Vergabe und interkommu-nale Kooperation, Herr Kollege Friedhoff, schlagen auchin meiner Brust zwei Herzen; das gebe ich ganz offen zu.
Auf der einen Seite ist es natürlich schon problematisch,wenn es öffentlichen Auftraggebern durch Inhouse-Ver-gaben oder interkommunale Kooperation möglich ist,Aufträge vom Vergaberecht insgesamt auszunehmen.Auf der anderen Seite gibt es aber das Organisations-recht der Kommunen. Vielleicht ist im Hinblick darauf,dass es hier um Organisationsrecht geht, noch einiges zuverändern. So geht es hier in erster Linie darum, Bürger-meistern zu ermöglichen, miteinander interkommunaleKooperationen einzugehen, und nicht darum, sich demWettbewerb zu verschließen und aus der Verantwortungzu stehlen. Unter dem Gesichtspunkt sollte man nocheinmal über die entsprechenden Regelungen diskutieren.Es ist wichtig, dass wir das im Verlauf des sich an dieheutigen Beratungen anschließenden Prozesses tun.Bei den städtebaulichen Gestaltungsverträgen habenwir dem Anspruch der Kommunalpolitik Genüge geleis-tet. Es kann nicht sein, dass städtebauliche Gestaltungs-verträge aufgrund eines schiefen, eines aus meiner Sicht– das ist meine persönliche Meinung – nicht korrektenUrteils plötzlich in ein rechtliches Umfeld geraten, indem sie nicht mehr möglich sind. Damit würden wir denKommunalpolitikern ein wichtiges Instrument der Städ-tegestaltung aus der Hand nehmen. Das wäre falsch.Deshalb ist es richtig, dass wir hier für Klarstellung sor-gen.
Insgesamt ist es ein schwer erkämpfter, ausgewogenerVorschlag, der uns vorliegt. Mit kleineren Nachbesse-rungen im parlamentarischen Verfahren können wir alsGroße Koalition auch und gerade für den Mittelstand,der es in diesem Land bitter nötig hat, etwas voranbrin-gen.Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Walter Riester für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Natürlich muss eine Vergabeordnung Klarheitschaffen; diejenigen, die ausschreiben, müssen davonausgehen können, dass es Bestand hat.Mehrere Redner haben darauf hingewiesen, dass einerder zentralen Punkte der Auseinandersetzung die Fragewar, ob vergabefremde Richtlinien Einfluss auf die Ver-gabeordnung haben sollen, und wenn ja, mit welcherQualität. Ich zitiere aus der Begründung zu dem vorlie-genden Gesetzentwurf, welche Lösung gefunden wordenist – die Minute gönne ich mir gerne –:Gemäß § 97 Abs. 4 GWB sind zum Wettbewerb umöffentliche Aufträge alle Unternehmen zugelassen,welche das nötige Fachwissen sowie die erforderli-che wirtschaftliche und technische Leistungsfähig-keit mitbringen, um den vorgesehenen Auftrag zuerfüllen, und insofern „geeignet“ sind. Hierzu zähltinsbesondere die Zuverlässigkeit, die davon aus-geht, dass alle Unternehmen die deutschen Gesetzeeinhalten. Dazu zählen auch die für allgemein ver-bindlich erklärten Tarifverträge wie auch die Ent-geltgleichheit von Männern und Frauen. Auch dieinternational vereinbarten Grundprinzipien undRechte wie die Kernarbeitsnormen der Internatio-nalen Arbeitsorganisation zum Verbot der Kinder-und Zwangsarbeit sind zwingender Bestandteil un-serer Rechtsordnung und damit der Vergaberegeln.In Deutschland agierende Unternehmen, die dieseGrundprinzipien und Rechte nicht beachten, müs-sen prinzipiell aufgrund fehlender Zuverlässigkeitvom Wettbewerb um öffentliche Aufträge ausge-schlossen werden.
Herr Nüßlein, Sie sind ja Doktor der Rechtswissen-schaften. Es ist sicherlich kein vergabefremdes Krite-rium, deutsches Recht einzuhalten.Ich zitiere weiter:Im Rahmen der Wirtschaftlichkeit können weiteresoziale, umweltbezogene oder innovative Aspektebei der Vergabe Berücksichtigung finden. Dazu ge-hört insbesondere der Klimaschutz – zum Beispieldurch Beachtung von Lebenszykluskosten und Ener-gieeffizienz.Jetzt schauen wir einmal, was dazu im Gesetzentwurfsteht. Dort heißt es:Aufträge werden an fachkundige, leistungsfähigeund zuverlässige Unternehmen vergeben. Für dieAuftragsausführung können zusätzliche Anforde-rungen an Auftragnehmer gestellt werden, die ins-besondere soziale, umweltbezogene oder innova-tive Aspekte betreffen, wenn sie im sachlichenZusammenhang mit dem Auftragsgegenstand ste-hen und sich aus der Leistungsbeschreibung erge-ben.Nun habe ich darüber nachgedacht, warum dieseenorme Diskrepanz zwischen dem Text im Gesetzent-
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Walter Riesterwurf und dem offensichtlichen Willen des Gesetzgebersbesteht. Als ich einen Abgeordneten dieses Hauses ges-tern gefragt habe, sagte er: Na ja, das kennen Sie doch.Die Begründung geht unter; die liest niemand mehr.Letztlich bleibt das Gesetz. – Das mag ich nicht glauben.Man könnte auch annehmen, dass die zwingende Einhal-tung der Rechtsordnung bei der Frage der Kernarbeits-normen schlicht vergessen worden ist. Das mag ich, daJuristen daran beteiligt waren, eigentlich auch nichtglauben. Man könnte auch davon ausgehen, dass es ein-fach unterstellt wird. Das hielte ich für fahrlässig. Ich binmir nämlich sicher, dass darüber jedes Ausschreibungs-verfahren gekippt werden kann, wenn wir als Gesetzge-ber dies so verankern.Es gibt bloß eine Lösung: Nehmen wir doch bitte denText der Begründung ins Gesetz auf!
Dann gibt es die notwendige Klarheit über das, was wirwollen, und die Kommunen haben die Sicherheit. Soeinfach würde ich das als gelernter Fliesenleger machen.Ich bin kein Jurist; aber ich denke, dann kann eigentlichnichts mehr schiefgehen.
Bitte nehmen Sie – ich bin nicht in dem Fachausschuss –das, was wir wollen und was in der Begründung steht,ins Gesetz auf! Dann wissen es die Kommunen, die Auf-tragnehmer und die Bürger genau. Auch das gehört dazu,wenn man den Verdacht, hier sei schlampig gearbeitetoder getrickst worden, was Politikverdrossenheit auslö-sen würde, wegbekommen will.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/10117, 16/9636 und 16/9092 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Gentechnikfreie Regionen stärken – Bundes-
regierung soll Forderungen aus Bayern auf-
nehmen und weiterentwickeln
– Drucksache 16/10202 –
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken,
Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Rahmenbedingungen für Milchmarkt verbes-
sern – Faire Erzeugerpreise für Milch unter-
stützen
– Drucksachen 16/9601, 16/9869 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Röring
Dr. Wilhelm Priesmeier
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann
Ulrike Höfken
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Renate Künast für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Bay-ern tut sich was, und in Bayern liegen die Nerven blank.Dass die Nerven blank liegen, erkennt man daran, dassin Bayern munter gelogen wird, dass AgrarministerSeehofer lügend durch das Bundesland Bayern zieht unddort behauptet, nicht er habe Genmais MON 810 zuge-lassen, sondern die Grünen, dass munter Anträge gestelltwerden, man am Ende aber so feige ist, hier nicht einmaleinen CSUler ans Redepult zu holen und reden zu lassen,Herr Bleser.
Das lassen Sie mich gleich vorwegschicken. Ich weiß,die Nerven liegen bei Ihnen blank.Man sollte sich der Wahrheit wegen einmal ein paarZitate anschauen. Wir haben diesen Antrag auch deshalbhier eingebracht, weil wir meinen, dass die Leute einRecht darauf haben, endlich zu erfahren, wozu die CSUund die CDU eigentlich stehen. Zitat aus dem Februar2007 von Seehofer hier im Deutschen Bundestag:Ich habe noch keine einzige gentechnisch verän-derte Pflanze zugelassen.Wahr ist: Ende 2005 hat dieser Agrarminister unter die-ser Regierung MON 810, einen gentechnisch veränder-ten Mais, zum Anbau in Deutschland zugelassen. Darangibt es nichts zu rütteln.
Dazu können Sie gern etwas sagen, Herr Bleser, weil dieCSUler sich nicht trauen. Aber mich interessiert garnicht, was Sie sagen wollen;
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Renate Künastmich interessiert, was der Minister und was die CSU andieser Stelle sagt. Sie haben MON 810 zum Anbau zuge-lassen; da können Sie noch so viel über diese oder jeneVerordnung sagen. Ich weiß es genau; denn früher habenSie und andere mich immer kritisiert, dass ich es hiernicht zugelassen habe. Sie werden ja wohl damals nichtgelogen haben, Herr Bleser.
Zweites Zitat für die, die sich fragen, was nun eigent-lich wahr ist. Horst Seehofer am 16. Dezember 2005,also zu der Zeit, als er MON 810 zugelassen hat, in derBerliner Zeitung:„Wir wollen die Gentechnik befördern.“ … „Dasmuss auch in Deutschland zulässig sein“, sagte der …Politiker. Bislang werde den Bauern der Anbau na-hezu unmöglich gemacht. Deswegen werde er– Horst Seehofer –das von Rot-Grün beschlossene Gentechnikgesetzändern.Daran kann man doch nichts deuteln: CSUler will Gen-technik fördern.
Lassen Sie mich noch ein Zitat von Josef Miller, dembayerischen Landwirtschaftsminister, anführen, der ge-sagt hat: Es war Frau Künast, die MON 810 in Deutsch-land zugelassen und eingeführt hat. – Wahr ist: In derersten Hälfte des Jahres 1998 hat in einem Gesundheits-rat in Brüssel der damalige Gesundheitsminister HorstSeehofer dem Import von MON 810 als Lebensmittelund als Futtermittel nach Europa und damit nachDeutschland zugestimmt, weil er die Gentechnik fördernwollte. Wahr ist: Ende 2005 – zu diesem Zeitpunkt warer als Agrarminister dafür zuständig – hat HorstSeehofer MON 810 als Saatgut zugelassen. Deshalb ha-ben die Bauern landauf, landab – auch in Bayern – heutedas Problem, dass ihre Äcker und ihre Ernten verunrei-nigt werden durch MON 810, CSU-Saatgut.
Ich kann Ihnen nur sagen: Wer einmal lügt, dem glaubtman nicht.
Ich glaube, die CSU hängt dem Sankt-Florian-Prinzipan. Nach dem Interview von Horst Seehofer am Montagdieser Woche in der Süddeutschen Zeitung ist mir sofortfolgender Spruch eingefallen: Oh heiliger Sankt Florian,verschon’ mein Haus, zünd’ andre an.
Genau das hat Horst Seehofer gesagt: in Bayern nein,woanders ja. Meine Damen und Herren, wenn etwasSchädliches auskreuzt und wenn dadurch den Bauern dieErnte verhagelt wird, dann passiert das in allen 16 Bun-desländern der Republik.
Heute müssen Sie sagen, was Sie eigentlich wollen.In Bayern sprechen Sie von einer gentechnikfreien Zone.Wir haben uns die Mühe gemacht, alle entsprechendenZitate von Seehofer, Söder und Huber aufzuschreiben.Sie finden sich in unserem Antrag wieder. Jetzt könnenSie hier sagen, ob Sie die gentechnikfreie Zone wirklichwollen. Es reicht nämlich nicht, dass Sie das nur in Bay-ern beschließen. Wirklich Eindruck bei den anderen26 Mitgliedstaaten der Europäischen Union und bei derKommission in Brüssel machen Sie, wenn Sie hierManns und Frau genug sind, unserem Antrag, der Zitatevon Ihnen enthält, zuzustimmen und nach Brüssel und indie anderen Hauptstädte die Botschaft zu schicken: Ja,wir wollen, dass sich die Bundesländer zur gentechnik-freien Zone erklären. Sagen Sie es hier, und ducken Siesich nicht weg!
Sagen Sie hier, dass Sie gentechnikfreie Zonen auchfinanziell unterstützen wollen, damit dort regionale Tou-rismus- und Wirtschaftskonzepte entwickelt werdenkönnen! Machen Sie es nicht wie Ramsauer und anderein Traunstein, die sich dort rühmen, was sie alles tun.Wissen Sie, was mir an Ihrer Zeitungsanzeige auffiel?Erst wird ein bisschen an der SPD herumkritisiert – dazukann Herr Kelber selber etwas sagen –, und dann heißtes: CSU – wir reden nicht, wir handeln.
Jedes darin enthaltene Datum ist aus dem Jahr 2008. Wa-rum? Weil Sie sich 2008 sozusagen an die Bürger mitLügen heranschleimen. Aus den Jahren 2005, 2006 und2007 können Sie vor dem Schließen der Wahllokale amSonntag keine Zitate nennen, weil Sie in Wahrheit aufdem Schoß der Gentechnikkonzerne sitzen.Wenn Sie wirklich der Meinung sind, dass es gentech-nikfreie Zonen geben soll und wenn Sie die Bauern ander Stelle wirklich schützen wollen, dann stimmen Siedem Antrag, der auf Ihren eigenen Zitaten beruht, zu undeiern nicht herum!
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Peter Bleser
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichwollte eigentlich am Anfang auf die Ausführungen vonFrau Künast reagieren. Aber ich habe festgestellt, dassmeine vorbereitete Rede exakt zu dem passt, was FrauKünast gesagt hat. Deswegen kann ich auf den Beitragvon Frau Künast im Rahmen meiner vorgesehenen Redeeingehen.
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Peter Bleser
Vorher möchte ich aber Bundesminister Seehofer ent-schuldigen, Frau Künast. Er hätte sich dieser Debatte ge-stellt, aber er ist in Meißen bei der Agrarministerkonfe-renz der Länder und debattiert dort über den HealthCheck. Das ist sehr wichtig, deswegen kann er nicht an-wesend sein.
Jetzt aber zum Thema. Frau Künast, wir haben mona-telang um ein neues Gentechnikgesetz gerungen. Wir ha-ben mit allen interessierten Gruppen diskutiert und ihreVorschläge geprüft. Wir haben auch die Wissenschaftlerzurate gezogen. Wir haben dann ein Gentechnikgesetzverabschiedet, Frau Künast, das alle diese Interessen be-rücksichtigt. Dieses Gentechnikgesetz, das wir im Früh-jahr dieses Jahres verabschiedet haben, ist eine Verbes-serung des Gentechnikgesetzes, das Sie 2004 unter IhrerFederführung hinterlassen haben.
Dieses Gentechnikgesetz, Frau Künast – jetzt sollten Siezuhören, denn Sie können etwas lernen; Sie haben ja ge-rade von Verlogenheit gesprochen –, war die rechtlicheGrundlage für die zwingende Zulassung von MON 810.Das wissen Sie ganz genau.
– Nein.Warum machen Sie denn heute diesen Zirkus? Sie ha-ben es mehrfach gesagt: Es ist Wahlkampf. Zu Ihren Ver-sammlungen in Bayern kommt niemand. Deswegen be-lästigen Sie den Bundestag mit solchen überflüssigenAnträgen.
Meine Damen und Herren, Sie fordern gentechnik-freie Zonen, aber Sie wissen genau, dass dies nach EU-Recht nicht möglich ist.
In der EU-Freisetzungsrichtlinie heißt es, dass gentech-nisch veränderte Produkte national weder verboten nocheingeschränkt werden dürfen. Diese EU-Freisetzungs-richtlinie, Frau Künast – ich muss Sie noch einmal umAufmerksamkeit bitten –, haben Sie 2001 – da waren Siean der Regierung – in Brüssel auf den Weg gebracht.Unter Stimmenthaltung der Bundesregierung, der Sieangehört haben, ist diese Freisetzungsrichtlinie damalsin Recht und Gesetz umgewandelt worden.
– Sie haben es ermöglicht. Hätten Sie mit Nein ge-stimmt, wäre die Richtlinie nicht gekommen.
Sie haben alle Rechtsetzungen vorgenommen, inDeutschland und in Europa, die Sie jetzt selber bekämp-fen.
Das ist scheinheilig, das ist unwahrhaftig. Das ist ein Be-lügen des Wählers. Das muss hier in aller Klarheit ge-sagt werden.
Kollege Bleser, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höfken?
Natürlich. – Bitte schön.
Es ist die Unwahrheit, wenn Sie sagen, dass Sie die
Gesetze verbessert haben. Sie haben ganz im Gegenteil
die gute fachliche Praxis nicht zugelassen; das können
die Kollegen der SPD hier bestätigen. Ebenso wenig
– auch heute nicht – ist die Zulassung von MON 810
zwingend gewesen; diese Sortenzulassung hat Minister
Seehofer vielmehr als erste Amtshandlung erteilt.
Ich möchte Sie fragen, ob Sie wissen, was ich hier in
Händen halte. – Dies ist Honig aus der Gegend um
Augsburg, wo der Freistaat Bayern den Honig „vergif-
tet“, muss man sagen.
Insofern muss man ganz klar sagen: Der Freistaat Bay-
ern steht – –
Kollegin Höfken, stellen Sie bitte Ihre Frage.
Wissen Sie, dass der Freistaat Bayern gegen die Im-ker und gegen diejenigen steht, die in der Landwirtschaftauf die Befruchtungsleistung der Bienen angewiesensind? Wissen Sie auch, dass der Freistaat Bayern dieseImker verklagt und vertrieben hat? Das dokumentieren
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Ulrike Höfkensie mit ihren Demonstrationen in München oder inBonn.
Meine liebe Frau Kollegin Höfken, wir haben uns an
dieser Stelle schon des Öfteren darüber unterhalten, aber
ich muss diese Frage – es war ja eher eine Wortmeldung –
zurückweisen, weil Sie wissen, dass Gerichtsurteile vor-
liegen, die genau festlegen, was von dem, was Sie ge-
rade als Vorwurf vorgebracht haben, richtig ist und was
nicht. Diese Urteile haben klar belegt, dass hier die
Rechtshandlung der bayerischen Landesregierung rich-
tig war.
Im Übrigen passt auch Ihre Frage in meinen Redetext;
ich habe das alles vorausgesehen. Sie haben gesagt, dass
wir mit dem Gentechnikgesetz die gute fachliche Praxis
festgelegt haben. Das stimmt.
Es gab bis zum Frühjahr dieses Jahres keine Abstandsre-
gelungen für Mais.
Wir haben gesagt, dass wir die Forderung der Wissen-
schaft nach 50 Metern Abstand, damit keine Vermi-
schung stattfindet, um den Faktor drei erhöhen, und ha-
ben dann 150 Meter für konventionellen Mais und
300 Meter für ökologisch angebauten Mais vorgesehen.
Meine Damen und Herren, wir haben auch das Stand-
ortregister beibehalten. Man kann durchaus fragen, ob
dies unter Datenschutzgesichtspunkten richtig ist. Jeder
kann heute im Internet sehen, wo gentechnisch veränder-
tes Pflanzengut angebaut wird, sei es Mais oder anderes.
– Das liegt an einem Kompromiss, den wir gefunden ha-
ben und den wir selbstverständlich mittragen. Ich habe
aber auch gesagt: Man kann sich fragen, ob das in daten-
schutzrechtlicher Hinsicht richtig ist. Aber das ist Ge-
setz; insofern kann das jeder erfahren.
Wir haben die Haftungsregel nicht verändert. Wir ha-
ben es dabei belassen, dass nach BGB gehaftet wird.
Aufgrund der Abstände sind wir aber sicher, dass es
nicht zu einem Haftungsfall kommen wird.
Wir haben auch die Möglichkeit zur Produktunter-
scheidung eingeführt. Wer Lebensmittel mit dem Etikett
„ohne Gentechnik“ kennzeichnen will, der kann das tun.
Auch das war ein Kompromiss innerhalb der Koalition.
Wir wären viel schärfer vorgegangen. Wir hätten auch
Zusatzstoffe wie Enzyme oder Vitamine ausgeschlossen.
Jetzt kann jeder entscheiden, ob er die Kennzeichnungs-
möglichkeit nutzt oder nicht. Damit kann wiederum der
Verbraucher entscheiden, ob er solche Lebensmittel
kauft oder nicht. Das ist demokratisch. Was kann man
denn mehr tun?
Kollege Bleser, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Kotting-Uhl?
Ja, bitte.
Herr Kollege, wollen Sie mir und den anderen Kolle-
ginnen und Kollegen in diesem Parlament bestätigen,
dass Sie daran glauben, dass sich eine Biene freiwillig
auf ein Gebiet beschränkt, das durch einen Abstand von
150 Metern zum anderen Gebiet gekennzeichnet ist?
Reicht dieser Abstand Ihrer Meinung nach aus, um dem
Naturschutz Genüge zu tun?
Liebe Kollegin, ich glaube, ich muss doch ins Detail
gehen. Es ist erwiesen, dass Pollen, die von gentechnisch
veränderten Pflanzen stammen, inaktiv sind. Sie müssen
nicht gekennzeichnet werden.
Insofern gibt es keinen Grund, diese Produkte auszu-
grenzen. Aus und fertig!
Man muss diese neue Technologie einmal im Grund-
satz beleuchten. Bei der Roten Gentechnik hatten wir da-
mals eine ähnliche Situation: sehr viel Skepsis, sehr viel
Angst und sehr viele Sorgen. Die Rote Gentechnik wird
heute von allen akzeptiert. Sie ist sehr segensreich, weil
wir damit erblich bedingte Krankheiten entdecken und
entsprechende Medikamente entwickeln können.
Kollege Bleser, es gibt weitere Wünsche nach Zwi-
schenfragen.
Ich möchte den Gedanken gerne zu Ende führen; da-nach gerne.Wir haben die Weiße Gentechnik, die mittlerweileselbst bei den Grünen Akzeptanz findet; von den Linkenhabe ich noch nichts dazu gehört. Auch sie war umstrit-ten. Ich will es einmal auf den Punkt bringen: 95 Prozent
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Peter Bleserdes Vitamin C, das in fast allen Nahrungsmitteln enthal-ten ist, ist gentechnisch erzeugt worden.
80 Prozent der Lebensmittel enthalten Substanzen, dieaus der Weißen Gentechnik stammen. Das alles ist ak-zeptiert.Man kann noch weiter gehen. Auch bei der GrünenGentechnik können Sie die meisten Nahrungsmittel he-ranziehen. Im Produktionsprozess der meisten Nah-rungsmittel kommt Grüne Gentechnik zum Einsatz. DieFuttermittel aus den Vereinigten Staaten und Südamerikasind zu 80 Prozent gentechnisch verändert und werdenseit zwölf Jahren in Deutschland, in Europa, überall ein-gesetzt. Sie alle essen diese Produkte ganz selbstver-ständlich, wenn Sie irgendwo im Urlaub sind, ebenso inDeutschland.Hier wird Panik gemacht. Das ist das Ziel dieser De-batte. Das weisen wir zurück.
Kollege Bleser, gestatten Sie weitere Zwischenfra-
gen? Im Moment melden sich die Kollegin Höfken, die
Kollegin Happach-Kasan und die Kollegin Kurth.
Frau Präsidentin, ich habe mir für heute Abend nichts
vorgenommen. Insofern bitte, gerne.
Dann beginnen wir mit Frau Höfken.
Ich denke, dass Sie bis heute nicht verstanden haben,
worum es bei der Agrogentechnik geht. Es geht nicht um
geschlossene Systeme, sondern um Freisetzungen.
Wissen Sie, dass das Gericht in Augsburg entschieden
hat, dass Honig aus dem Umfeld des Anbaufeldes von
MON 810 nicht verkehrsfähig ist und auf die Sonder-
mülldeponie gebracht werden muss? Das gilt natürlich
nicht nur für den Anbau in Bayern, sondern überall. Ist
es tatsächlich das Ziel Ihrer Politik, die Erzeugung des
Produktes Honig durch Imkereien in Deutschland völlig
unmöglich zu machen?
Das kann ich kurz beantworten – Sie wollen auf die-
sem Punkt bis zum Exzess herumreiten –: Es gibt Ge-
richtsurteile, die das Gegenteil aussagen.
Das braucht man hier im Parlament nicht zu bewerten.
Ich teile Ihre Auffassung zu diesem Thema überhaupt
nicht.
Darf ich der Kollegin Happach-Kasan das Wort zu ei-
ner Zwischenfrage geben?
Ja.
Lieber Kollege Bleser, Sie haben ja schon dargestellt,
dass die Züchtungsmethode Grüne Gentechnik weltweit
auf 114 Millionen Hektar angewandt wird und dass wir
alle mit den Produkten der Grünen Gentechnik inzwi-
schen vertraut sind. Vor diesem Hintergrund ist sehr
wohl davon auszugehen, dass sich diese Züchtungs-
methode auch in Deutschland durchsetzen wird.
Kollegin Höfken hat Ihnen den Fall eines Imkers aus
Bayern vorgetragen, der jetzt seinen Honig entsorgen
muss. Dem ist vorausgegangen – –
Kollegin Happach-Kasan, ich muss auch Sie bitten,
eine Frage zu stellen.
Ich stelle auf jeden Fall eine Frage. Aber wenn FrauHöfken hier sozusagen Demonstrationsmaterial mitbrin-gen kann, dann darf ich vielleicht schlicht und ergreifendsagen, worauf es mir ankommt.Sie haben zu Recht festgestellt, dass es zum Tatbe-stand „Pollen von gentechnisch veränderten Pflanzen inHonig“ verschiedene Gerichtsurteile gibt. In Branden-burg sagt man, es sei unerheblich, und in Augsburgkommt man zu dem Urteil, der Honig wäre nicht ver-kehrsfähig. Können Sie mir erklären, warum es in Augs-burg beispielsweise von der LfL, die ja den gentechnischveränderten Mais angebaut hat, keinen Widerspruch ge-gen dieses Gerichtsurteil gegeben hat, das meines Erach-tens inhaltlich in jedem Falle falsch ist? Das wird ja auchdurch das Gerichtsurteil in Brandenburg bestätigt. Kön-nen Sie mir erklären, warum auch der Imker, der genauwusste, dass er, wenn dieses Gerichtsurteil Bestand hat,seinen Honig nicht verkaufen kann, keinen Widersprucheingelegt hat? Könnte es sein, dass genau dieses de-monstriert werden sollte, was jetzt demonstriert wird?
Sind Sie mit mir der Auffassung, dass der Freistaat Bay-ern für diese zusätzlichen Kosten, die dem Imker ent-standen sind, aufkommen muss, weil der Freistaat Bay-
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Dr. Christel Happach-Kasanern es versäumt hat, gegen das Urteil in AugsburgWiderspruch einzulegen?
Liebe Kollegin Happach-Kasan, Ihre Vermutungen
kann man jetzt teilen oder nicht. Gerichtsurteile zu kom-
mentieren, ist nicht Aufgabe des Parlaments. Ihre Ver-
mutungen könnten so zutreffen. Ob das dann im Einzel-
fall so war, wage ich hier nicht letztlich zu bestätigen.
Ich kann nur eines sagen – das kann man, glaube ich,
auch an Ihrer Frage ablesen –: Die Grünen haben sich
auf wenige Angstthemen beschränken müssen. Nach-
dem die Grünen die ersten Auslandseinsätze der Bundes-
wehr mitbeschlossen haben, ist ihnen das Thema Frie-
denspolitik entglitten.
Bei der Kernenergie gibt es in der Bevölkerung eine Ver-
änderung der Meinung. Die Grüne Gentechnik ist das
einzige Thema mit Verängstigungspotenzial, das man
noch hat und woraus man politisches Kapital zu schla-
gen versucht.
Insofern ist das aus wahltaktischen Gründen sogar ver-
ständlich.
So, wir wollten in der Reihenfolge fortfahren.
Kollege Bleser, ich habe jetzt noch zwei Zwischenfra-
gen gesehen: die Kollegin Kurth und die Kollegin Behm.
Lassen Sie diese Fragen noch zu?
Ich hatte nur neun Minuten Redezeit, aber das macht
ja nichts.
Inzwischen haben Ihnen die Kolleginnen fast zur Ver-
doppelung Ihrer Redezeit verholfen. – Kollegin Kurth.
Undine Kurth (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Herr Kollege, ich möchte Sie jetzt fragen – der Minis-
ter kann ja nicht anwesend sein; Sie haben ihn entschul-
digt –, ob Sie mir, nachdem Sie dargelegt haben, dass die
Risiken der Grünen Gentechnik abschätzbar sind und
dass man sie beherrschen könne, erklären können, wa-
rum der Herr Minister dann vor wenigen Tagen in der
Süddeutschen Zeitung verkündet hat, dass er durchaus
für die Gentechnik sei, nur in Bayern möchte er sie nicht
anwenden.
Sie werden sich nicht wundern, dass ich auch diese
Frage erwartet habe. Ich habe auch die Listen mitge-
bracht. In Bayern werden auf 9,92 Hektar 0,312 Prozent
der gentechnisch veränderten Pflanzen in Deutschland
angebaut. Insofern gibt es in Bayern de facto keine
Grüne Gentechnik. Dass man dieses Thema in diesen
Zeiten politisch aufgreift, kann ich verstehen. Wir sind
aber hier im Deutschen Bundestag und haben eine Ver-
pflichtung – –
– Ich unterstütze die CSU sehr wohl im Wahlkampf.
Aber ich sage Ihnen auch, dass ich die Bedürfnisse in
Bayern, diese Regelung anzustreben, für nicht sehr groß
halte.
Ich glaube, wir dürfen uns auch nicht in die Situation
begeben, dass wir hier auf Bundesebene und auf euro-
päischer Ebene Recht setzen. Ich habe vorhin geschil-
dert, wer diese Rechtsetzung im Wesentlichen vorge-
nommen hat. Das waren Ihre Fraktion
und der damalige Koalitionspartner. Wir müssen euro-
päisches und deutsches Recht in der Gänze anwenden
und nicht regional unterschiedlich. Das ist meine Posi-
tion dazu.
Die nächste Zwischenfrage könnte gleich die Kolle-
gin Behm stellen, wenn Sie das zulassen.
Ja, bitte, natürlich. Ich habe doch gesagt, dass ich Zeit
habe.
Herr Kollege Bleser, ist Ihnen bekannt, dass der Mol-
kereikonzern Campina für seine Milchprodukte der
Marke Landliebe zukünftig gänzlich auf Sojafett ver-
zichten wird und die Futtergrundlage auf garantiert
gentechnikfreies europäisches Futter umstellen wird?
Würden Sie mir zustimmen, dass es für deutsche Land-
wirte ein großer Wettbewerbsvorteil wäre, wenn es in
Deutschland entsprechende gentechnikfreie Regionen
geben würde?
Frau Kollegin Behm, ich habe in meiner Rede vorhingesagt, dass wir diese Kennzeichnungsmöglichkeit ge-schaffen haben. Sie wäre noch schärfer abgegrenztworden, wenn es nur nach uns gegangen wäre. Diese
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Peter BleserMöglichkeit haben wir ausdrücklich zu dem Zweck ge-schaffen, dass sich am Markt herausstellt, welche Formder Produktion Akzeptanz findet und welche nicht. Ichhabe auch gesagt: Das ist demokratisch. Insofern be-grüße ich es, wenn Unternehmen diese Möglichkeitennutzen. Wir werden dann feststellen, wie die Produkteam Markt angenommen werden. Wir werden auch fest-stellen, wie Analysen die Wahrhaftigkeit solcher Kenn-zeichnungen bestätigen.
Kollege Bleser, ich hätte jetzt noch eine Wortmel-
dung, nämlich der Kollegin Schieder aus der SPD-Frak-
tion. Sie müssen jetzt entscheiden.
Ich bin geneigt, sie als letzte Zwischenfragerin aufzuru-
fen.
Wollen wir die Zwischenfragen danach beenden?
Diese Zwischenfrage lassen wir noch zu.
Kollegin Schieder, bitte.
Herr Kollege Bleser, wie Sie wissen, komme ich aus
Bayern. Ich bin über Ihre Einlassungen ein bisschen ver-
wundert; denn in Bayern erzählt die CSU seit Monaten,
dass sie die Bevölkerung vor der Grünen Gentechnik
schützen wird, dass man keine Grüne Gentechnik haben
will und dass man die rechtlichen Voraussetzungen dafür
schaffen will. Sie stellen es jetzt ganz anders dar und sa-
gen: Dafür habe ich in Wahlkampfzeiten Verständnis.
– Das hat er gerade gesagt.
Darf ich Ihre Einlassungen jetzt so interpretieren, dass
sich die Bevölkerung in Bayern eben nicht darauf verlas-
sen kann, dass die Union dafür sorgen wird, dass es ein
gentechnikfreies Bayern gibt?
Ich habe dazu schon gesprochen. Ich habe gesagt,dass die Anbaufläche in Bayern verschwindend geringist und dass sich das Problem dort insofern gar nichtstellt.
Ich habe auch gesagt – dabei bleibe ich –, dass wir dieRechtsetzung auf europäischer und auf Bundesebene inallen Regionen zu befolgen haben. Der Antrag aus Bay-ern richtet sich an die Europäische Union; dort soll eineandere Rechtsetzung vorgenommen werden. Es wirdsich herausstellen, ob dies möglich ist oder nicht. Dasmuss dann auf einer wissenschaftlich basierten Grund-lage geschehen. Insofern ist das kein Widerspruch.
Ich möchte die restliche Redezeit nutzen, um die Vor-teile der Grünen Gentechnik auch den Zuhörern draußennoch einmal zu vermitteln. Ich habe die Rote und dieWeiße Gentechnik beschrieben. Es ist natürlich so, dasswir auch mit der Grünen Gentechnik, die sich erst imAnfangsstadium befindet, gewisse Erwartungen ver-knüpfen. Da ist zunächst einmal die Erwartung, dass derEinsatz von Pflanzenschutzmitteln damit wesentlich ver-ringert werden kann. Wir haben Kartoffeln in der Zulas-sung, für die bei der Pilzbekämpfung bis zu acht Pflan-zenschutzspritzungen in einer Vegetationsperiode nichtmehr gebraucht werden. Bei uns werden Pflanzen entwi-ckelt, die mit wenig Wasser in Stressregionen, was Tro-ckenheit angeht, wachsen. Bei uns werden auch Pflanzenentwickelt und schon angebaut, die höhere Erträge brin-gen.Wenn Sie diesen wissenschaftlichen Erkenntnissennicht offen gegenüberstehen, dann muss ich Sie wirklichbitten, sich einmal die moralische Dimension vor Augenhalten zu lassen.
Wer diese Technologie für die Zukunft ausgrenzt, dermuss in Kauf nehmen, dass Hunger und Not in der Weltin unteren Einkommensschichten weniger bekämpftwerden können als möglich.
Das muss man hier einfach offen sagen.
Ich bitte Sie deshalb, wirklich zu überprüfen, wie Siesich da positionieren. Wir wollen hier alle Risiken be-werten und bei der Zulassung entsprechend berücksichti-gen. Aber wir sind nicht wie Sie immer nur auf dieRisiken ausgerichtet; wir wollen auch die Chancen imBlickfeld haben. Diese Chancen sind gewaltig. Ichmöchte Sie herzlich bitten, Ihre politischen Festlegungennicht auf den Tag auszurichten, sondern weiter in die Zu-kunft zu schauen. Denn spätestens Ihre Enkel werdenSie fragen, wie Sie sich bei diesem Thema positionierthaben.Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann
für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich frage mich: Was habe ich hier eigentlichgerade erlebt? Ein Redner hat gesagt, der Minister seiein Lügner, ein anderer hat gesagt, er sei scheinheilig,die Große Koalition hat sich zerlegt, und Frau Schiederfragte nach der Position des Ministers, den sie sonst mit-trägt.
Ich finde, vor dem Hintergrund dessen, worüber wir hiereigentlich zu diskutieren haben, ist das dramatisch.
Die Grüne Gentechnik steht im Moment nicht geradeim Brennpunkt der politischen Weichenstellungen imAgrarbereich. Dennoch will ich Ihnen ganz kurz sagen,wie wir zu diesem Thema stehen. Wir sehen den verant-wortungsvollen Umgang mit der Grünen Gentechnikund die Nutzung der Potenziale in diesem Bereich alssinnvoll an.Frau Kollegin Schieder, ich war in Bayern, und zwarin der Region, aus der Sie kommen. Ich habe mir ange-hört, welche Sorgen die Menschen, die dort leben, ha-ben. Dabei ging es zum Beispiel um Schäden durch denMaiswurzelbohrer. Mir haben Bäuerinnen und Bauerngegenübergestanden, die ihre gesamte Ernte verloren ha-ben. Sie werden diese Ernte auch in den nächsten zweioder drei Jahren nicht einfahren können, weil diese Maß-nahmen dort dann nicht zulässig sein werden.
– Die gute fachliche Praxis wenden sie schon an. Machdir darüber keine Sorgen!
– Ja, das musst gerade du als Abgeordnete eines Ostlan-des sagen. Ihr seid ja die größten Fruchtfolgeexperten.
Ich muss Ihnen wirklich sagen: Wenn sich die Landwirt-schaft im Osten und im Westen unseres Landes aufstellt,um größere Marktteilhabe zu erreichen – das fordern wirimmer –, können wir davon ausgehen, dass der normaledeutsche Bauer etwas von guter fachlicher Praxis ver-steht.
Denn das – liebe Frau Künast, da brauchen Sie gar nichtzu lachen –
ist die Basis Ihrer Weichenstellungen.Die Regelungen bis 2013, die Sie mitgetragen haben,basieren auf guter fachlicher Praxis. Wie Sie wissen,sind die Cross-Compliance-Auflagen und die Bereitstel-lung der Mittel über Direktzahlungen, für die Sie ge-kämpft haben, dafür die Grundlagen. Deswegen ist esvöllig unangebracht, in dieser Diskussion darüber zuphilosophieren, wer gute fachliche Praxis realisiert undwer nicht. Die Bauern in Deutschland praktizieren diegute fachliche Praxis.
Jetzt will ich den Milchbereich ansprechen. Ichmöchte darauf hinweisen, dass wir mit vielem, was HerrSeehofer macht, nicht einverstanden sind. Es gab eineVereinbarung, die besagte, dass die Mittel für die Land-wirtschaft bis zum Jahre 2013 in dem Umfang bereitzu-stellen sind, der Vertragsbasis ist. Jetzt stellen wir fest,dass zum Beispiel bei der Modulation massiv eingegrif-fen wird. Hier wird ein Versprechen gebrochen. Das istdas genaue Gegenteil von Planungssicherheit. Das kön-nen wir überhaupt nicht akzeptieren.Herr Minister Seehofer macht meiner Meinung nacheinen großen Fehler. Es gibt eine Staatssekretärsverein-barung, aus der ich Ihnen gerne etwas vorlesen möchte– es geht um das Thema, über das wir diskutieren, näm-lich um die Mittelbereitstellung –:Bei unserem gestrigen Gespräch zur Gesundheits-überprüfung der Gemeinsamen Agrarpolitik konn-ten die zwei noch offenen Punkte des Positions-papiers der Bundesregierung abschließend geklärtwerden. Um die Ziele der Haushaltskonsolidierunghinreichend zu berücksichtigen, müssen die gekürz-ten Mittel vollständig im Mitgliedstaat verbleiben,und die zusätzliche Modulation darf nicht dazu füh-ren, dass die Mitgliedstaaten mehr nationale Ko-finanzierungsmittel als bisher bereitstellen müssen.Das heißt im Klartext: Die Bundesregierung signali-siert ihre Bereitschaft, im Bereich der Modulation imHinblick auf die Einkommen der Landwirte sehr großeEinschnitte vorzunehmen. Das kostet jede Menge Bau-ern im Osten Deutschlands ihre Existenz. Das kosteteinen ordentlichen landwirtschaftlichen Betrieb in Nie-dersachsen, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalenoder einem anderen Bundesland zwischen 4 000 und5 000 Euro im Jahr. Das ist ein massiver Eingriff in dieLeistungsfähigkeit dieser Betriebe.Die zusätzlichen Modulationsmittel müssen auch zurFinanzierung von Milchbegleitmaßnahmen genutzt wer-den, sagt Herr Seehofer. Damit ist dem Vorhaben, im Be-reich der Modulation dramatische Einschnitte vorzuneh-men, Tür und Tor geöffnet.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19061
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Hans-Michael GoldmannFrau Künast, auch Ihre Kolleginnen Frau Höfken undvor allen Dingen Frau Höhn werfen Herrn MinisterSeehofer hier Wortbruch vor. Frau Höhn, ich bin totalüberrascht darüber, dass Sie sagen, er blockiere die Re-form der Agrarhilfe zugunsten des Klimaschutzes.
– Nun einmal langsam. – Das heißt im Klartext, dass Sieim Grunde genommen einen Health Check, eine Agrar-reform in Richtung von mehr Klimaschutz wollen. Die-sen Klimaschutz können Sie nur über Modulationsmittelfinanzieren. Also lösen Sie Ihren Pakt auf, den Sie da-mals unter der Leitung von Frau Ministerin Künast ge-schlossen haben.
Das wiederum bedeutet einen Eingriff in die ersteSäule; denn das steht im Moment zur Diskussion. Essteht nicht zur Diskussion, ob die Gewichtung zwischender ersten und der zweiten Säule irgendwann einmal ver-ändert worden ist.Lassen Sie mich noch etwas zur Milch sagen.
Kollege Goldmann, das wird nicht mehr funktionie-
ren. Ich kann auch die Zwischenfrage von Frau Künast
nicht mehr zulassen, die sie inzwischen angemeldet hat,
da Sie Ihre Redezeit zu dem Zeitpunkt bereits überschrit-
ten hatten. Ich bitte Sie also, zum Schluss zu kommen.
Ich hatte fünf Minuten Redezeit, allerdings wurden
hier nur vier Minuten angezeigt.
– Ich verhandle nie mit der Präsidentin, aber wenn man
fünf Minuten Redezeit hat, dann sollten hier auch fünf
Minuten und nicht vier Minuten stehen.
– Das ist ja das Problem: Wir haben in dieser kurzen Zeit
relativ viel Vernünftiges zu sagen. – Wird die Zwischen-
frage jetzt noch gestellt?
Kommen Sie bitte zu Ihrem letzten Satz. Sie haben
Ihre Redezeit mittlerweile deutlich überschritten.
Ich komme zum Schluss. – Ich hätte die Frage von
Frau Künast, die sie stellen wollte, gerne noch beantwor-
tet.
Ich glaube, dass wir im Bereich der Milch auf dem
einzig richtigen Weg sind: rein in den Markt mit so vie-
len Bauern wie irgend möglich. Von mir aus wird auch
ein Begleitprogramm erstellt. Dieses dürfen wir aber
nicht mit Modulationsmitteln finanzieren, sondern dafür
müssen wir die eingesparten Mittel verwenden, die auf
europäischer Ebene im Moment nicht für die Agrarwirt-
schaft zur Verfügung gestellt werden. Das ist der richtige
Weg.
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Wolff das
Wort.
Sehr geehrter Herr Kollege Goldmann, Sie haben vor-
hin die ostdeutsche Landwirtschaft und insbesondere
auch mich angesprochen. Ich möchte hier ganz deutlich
machen, dass der Maiswurzelbohrer, den Sie hier ange-
sprochen haben, nicht vorrangig in Ostdeutschland, son-
dern im Süden der Republik, nämlich in Bayern und in
Baden-Württemberg, zu finden ist.
Ich finde, wenn Sie hier die ostdeutsche Landwirt-
schaft diffamieren, dann ist das wirklich eine Kurzinter-
vention wert.
Damit haben Sie die Gelegenheit, der Kollegin Wolff
zu antworten.
Liebe Kollegin Wolff, ich bin sehr überrascht darüber,
dass du mich so bewusst missverstehen willst.
Ich habe einen Zusammenhang zur guten fachlichen
Praxis hergestellt. Es wurde hier zum Ausdruck ge-
bracht, dass großflächige Strukturen besonders angreif-
bar sind, wenn sie nicht im Rahmen guter fachlicher Pra-
xis realisiert werden. Deswegen habe ich gesagt, dass ich
der Auffassung bin, dass gerade für intensiv arbeitende
Betriebe mit großen Strukturen Gentechnik eine Pro-
blemlösung sein kann.
Dass der Maiswurzelbohrer, wie du ja weißt, nicht im
Osten vertreten ist, der Maiszünsler, bei dem es im
Grunde genommen genau die gleiche Problematik gibt,
aber sehr wohl, wird dir sicherlich bekannt sein.
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Elvira
Drobinski-Weiß das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich denke, wir alle sind uns darin einig, dassdie Rahmenbedingungen für den Milchmarkt, um den es
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Elvira Drobinski-Weißheute auch noch geht, verbessert werden müssen. Den-noch lehnen wir die populistischen Forderungen ab;denn sie sind für die Weiterentwicklung des Milchsek-tors nur wenig hilfreich. Aus diesem Grunde lehnen wirauch den Antrag der Grünen ab. Welche konkreten Maß-nahmen hier im Einzelnen ergriffen werden müssen,werden wir in den nächsten Wochen in der Koalition si-cherlich diskutieren.Von der Milch ist der Weg zur Gentechnik nicht weit.Eines der größten milchverarbeitenden Unternehmen inDeutschland, nämlich die Campina GmbH, hat heute imVorfeld der Internationalen Fachmesse für Molkereipro-dukte für seine wichtigste Marke „Landliebe“ den Ein-stieg in die „Ohne Gentechnik“-Kennzeichnung ange-kündigt.
Wir begrüßen einen neuen großen Anbieter in diesemSegment. Im Rahmen der Fachkonferenz der SPD-Frak-tion kündigte letzte Woche auch die mittelständische Su-permarktkette tegut an, neben dem bereits bestehendenAngebot an Molkereiprodukten auch beim Schweine-fleisch in die „Ohne Gentechnik“-Kennzeichnung einzu-steigen. Mehrere Anbieter haben auf unserer Konferenzzur Kennzeichnungsregelung gezeigt, dass diese Kenn-zeichnung machbar ist. Das Interesse der Marktteilneh-mer ist groß. Einige sind bereits auf dem Markt; bei an-deren steht der Einstieg unmittelbar bevor. Das ist, wieich finde, ein Vorteil für die Verbraucherinnen und Ver-braucher, die durch die so entstehende Transparenz end-lich auswählen können, Herr Kollege.
Herr Minister Seehofer ist leider nicht da. Herr Staats-sekretär, bitte übermitteln Sie ihm unseren Dank, dasswir mit der „Ohne Gentechnik“-Kennzeichnung einwirklich gutes Vorhaben auf den Weg bringen können.
Umso empörender und unverständlicher ist der Eier-kurs, den die CSU in Sachen gentechnikfreie Regioneneingeschlagen hat. Die Überschrift „In Bayern bin ichgegen Gentechnik“ aus der Süddeutschen Zeitung ist be-reits zitiert worden. In Bayern sind Sie also dagegen undin Berlin dafür? Bislang sind etwa 15 000 Mails beiHerrn Seehofer und Herrn Dr. Ramsauer eingegangen.Sie wurden von Bürgerinnen und Bürgern geschrieben,die genau wissen, dass es nicht reicht, in Bayern mehrRechte für gentechnikfreie Regionen zu fordern, sonderndass man sich hier in Berlin und später auch in Brüsseldafür einsetzen muss, dass solche Forderungen ernst ge-meint sind.
Wir stehen bereit, um gemeinsam mit Ihnen den Wor-ten Taten folgen zu lassen. Die Forderungen der CSUnach Verbindlichkeit für die gentechnikfreien Regionenund nach der Möglichkeit, dass Länder und Regionenkünftig selbst über den gewerblichen Anbau von gen-technisch veränderten Pflanzen oder die Forschung ent-scheiden können, begrüßen wir ausdrücklich. Wir habensie bereits im Juni in unseren Antragsentwurf „Für einenachhaltige Weiterentwicklung des europäischen Gen-technikrechts“ aufgenommen.Unser Antragsentwurf enthält Forderungen, mit de-nen die CSU Landtagswahlkampf betreibt. Ich nennebeispielsweise die Überarbeitung des EU-Zulassungs-verfahrens für gentechnisch veränderte Pflanzen. Wirwollen mehr Transparenz und Demokratie bei diesenEntscheidungen und eine stärkere Berücksichtigungauch von kritischen Stellungnahmen. Wir fordern einAnbauverbot für nicht koexistenzfähige Pflanzen wieRaps. Wir fordern die Kennzeichnung von GVO-halti-gem Saatgut ab der Nachweisgrenze von 0,1 Prozent.
Diese Forderungen waren auch schon von HerrnDr. Ramsauer, Herrn Minister Seehofer und anderenCSU-Politikern zu hören. Was hielt Sie also bisher da-von ab, mit uns über unseren Entwurf zu diskutieren?Wenn wir den Antrag der Grünen nachher in die Aus-schüsse überweisen, dann habe ich dabei Bauchschmer-zen. Ich hoffe auf ernsthafte Beratungen und auf dieRedlichkeit der CSU. Ich fordere Sie auf, gemeinsammit uns für die Einbringung und Umsetzung dieser For-derungen zu sorgen. Denn wenn sich Ihr Einsatz für diegentechnikfreien Regionen als Wahlkampfgetöse ent-puppt, dann fällt das nicht nur Ihnen von der CSU aufdie Füße, sondern die Menschen im Land verlieren ihrVertrauen in die Politik. Das schadet uns allen.Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Eva
Bulling-Schröter das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Warum soll nicht jede Region, jedes Bundesland und je-der Mitgliedstaat selbst darüber entscheiden dürfen, obAgrogentechnik genutzt wird oder nicht? Das würde ichbegrüßen.
Dass solche Entscheidungen gegenwärtig von der EUuntersagt werden, finde ich fatal.Unabhängig davon lehne ich die Grüne Gentechnikgrundsätzlich ab. Die Risiken sind nicht beherrschbar,und wir brauchen diese Technologie auch nicht.
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Eva Bulling-SchröterWir sind auch dafür, MON 810 zu verbieten. Das lägenämlich in der Kompetenz der Bundesregierung. AberHerr Bleser hat bereits gesagt, dass die Bundesregierung,zumindest CDU und CSU, dies nicht tun wird.Noch einmal zurück: Am letzten Dienstag musste einbayerischer Imker seine gesamte Honigernte in derMüllverbrennungsanlage in Augsburg vernichten; dasGlas haben wir bereits gesehen. Sie war trotz aller Vor-sichtsmaßnahmen mit Pollen von MON 810 des Vorjah-res belastet. Die Imker meinen, schon bei 2 ProzentGenanbaufläche in Bayern sei dort praktisch keineHonigernte mehr möglich. Daher frage ich Sie, meineDamen und Herren von der CSU: Was sagen Sie dennden Menschen nun im Wahlkampf? Die wollen dochAntworten hören!
Vielleicht nehmen Sie zur Kenntnis, dass nach einer ak-tuellen Emnid-Umfrage 80 Prozent der Bayerinnen undBayern MON 810 verbieten lassen wollen. Sie sind docheine Volkspartei. Dann machen Sie das doch endlich!
Es sieht aber so aus, als ob die CSU in Bayern Oppo-sition gegen sich selber in Berlin machte. Das stellt manin vielen Fragen fest. Während sich die CSU-Landtags-fraktion dafür einsetzt, gentechnikfreie Zonen zu schüt-zen, hat Herr Seehofer seinerzeit fast als erste Amts-handlung für die bundesweite Zulassung von MON-810-Genmais gesorgt. In der Süddeutschen Zeitung hat erwiederum in der letzten Woche erklärt: „In Bayern binich gegen Gentechnik.“ Vielleicht hat der Bischof vonEichstätt jetzt doch gewirkt. Wir wünschen uns das je-denfalls sehr.
Zu Hause den Gentechnikkritiker und den Bewahrer derSchöpfung spielen, im Bundestag aber dafür sorgen,dass das Teufelszeug auf die Felder und dann auf denTeller kommt, das ist scheinheilig. So nennt man das je-denfalls in Bayern.
Herr Bleser, der weltweite Hunger wird nicht durchdie Gentechnik beseitigt oder zumindest gelindert. Dassagen nicht wir, sondern der Weltagrarrat, Misereor und„Brot für die Welt“. Zumindest diese müssten Sie ken-nen.
Aber vielleicht stehen bei Ihnen die großen Konzernevor der Tür – Bayer, BASF, Monsanto – und flüstern Ih-nen ab und zu etwas ein.
Das könnte ja sein.
Jetzt zur Milchwirtschaft. Beim Milchstreik in diesemSommer wurde von den Bauern zum ersten Mal in derGeschichte Milch in bislang unbekannten Größenord-nungen weggeschüttet. Das heißt, die Bauern sind ver-zweifelt. Das muss man ganz ernst nehmen. Es heißt im-mer, man bekomme keine drei Bauern unter einen Hut.Doch offensichtlich hat man es angesichts dieser Ver-hältnisse doch geschafft. Es ist tatsächlich so, wie es mirMilchbauern aus meiner Region gesagt haben. Sie haltenes für eine Unverschämtheit, wie man mit Menschenumgeht, die 365 Tage zweimal am Tag ihre Tiere mel-ken. Damit haben sie recht.
Für diese Menschen ist es absolut unverständlich, dassjetzt die Milchquoten wieder erhöht werden sollen, wo-durch der Preis möglicherweise noch weiter in den Kel-ler fällt.
Gleichzeitig fordert der Deutsche Raiffeisenverband alsVertretung der genossenschaftlichen Molkereien, die alteExportsubvention für Molkereiprodukte wieder einzu-führen, um für Marktentlastung zu sorgen. Beides sindvöllig falsche Politikansätze.
Wir unterstützen die Abkehr von der totalen Liberali-sierung der Milchwirtschaft, welche de facto durch dieAbschaffung der Milchquote stattfindet. Die Milchwirt-schaft wird damit an vielen Standorten in Deutschland,in Ost und in West, nicht mehr im Kampf um die nied-rigsten Erzeugerpreise mithalten können.
Kollegin Bulling-Schröter, achten Sie bitte auf die
Zeit.
Letzter Satz. – Wir unterstützen Ihre Anträge, meine
Damen und Herren von den Grünen. Wir halten sie für
eine gute Diskussionsgrundlage. Ich wünsche, dass über
diese Themen breit diskutiert wird.
Das Wort hat der Kollege Ulrich Kelber für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Was passiert eigentlich, wenn man die CSU mitKarl May vergleicht? Als Erstes fallen einem Gemein-samkeiten auf. Genauso wie Karl May schafft es dieCSU, mit blumigen Worten über Dinge zu schreiben, bei
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19064 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Ulrich Kelberdenen sie nie dabei war. Genauso wie Karl May schafftes die CSU, sich mit Pathos mit Taten zu brüsten, die sienie begangen hat.
Es gibt aber einen wichtigen Unterschied: Karl Maywäre nie auf die Idee gekommen, andere Menschen mitjuristischem Kleinkram daran zu hindern, das zu tun, mitdem er sich gebrüstet hat und was er nie gemacht hat.
Ich bin jetzt acht Jahre Mitglied des Deutschen Bun-destages, aber ein solches politisches Bubenstück wiedas Verhalten der CSU in der Gentechnik habe ich indiesen acht Jahren nicht erlebt.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich in diesem DeutschenBundestag eine solche Menge an Lügen und Verdrehun-gen kennenlernen müsste. Ich war das bisher von Sektenund extremistischen Parteien gewöhnt, von sonst nie-mandem.
Man muss die Fakten klarstellen: Die Zulassung fürden Genmais wurde von einem CSU-Minister angeord-net. Dieser CSU-Minister hätte den Anbau von MON 810in diesem Jahr auch stoppen können, und dann hättenwir die Probleme in Bayern und in anderen Teilen derRepublik nicht gehabt.
In den gesamten Verhandlungen der Jahre 2006 und2007 über das Gentechnikrecht in Deutschland habensich CDU und CSU geweigert, die Forderung nach ver-bindlich gentechnikfreien Regionen zu erfüllen. ImJuni 2008 gab es einen Antrag der CSU im BayerischenLandtag, dass sich Bayern im Bundesrat für die Einrich-tung verbindlich gentechnikfreier Regionen einsetzensolle. Das wurde durch die CSU abgelehnt. Seit Juniliegt CDU und CSU der Entwurf eines Antrags der SPD-Bundestagsfraktion vor, dass sich der Deutsche Bundes-tag für verbindlich gentechnikfreie Regionen ausspre-chen soll. Das wurde mit Verweis auf den Koalitionsver-trag verweigert. Dadurch darf die SPD diesen Antragnicht in den Deutschen Bundestag einbringen. DieseParteien können nicht behaupten, sie seien für verbind-lich gentechnikfreie Regionen, wenn sie jeden konkretenBeschluss dazu hintertreiben und mit juristischen Mit-teln verhindern.
Wir müssen einen Nerv bei der CSU erwischt haben.Herr Staatssekretär, Sie sitzen nicht auf der Regierungs-bank, sondern in den Reihen der Abgeordneten und ver-treten wahrscheinlich Herrn Ramsauer, den Chef derCSU-Landesgruppe, der heute nicht da ist. In dessenWahlkreis ist heute eine Anzeige erschienen, in der sug-geriert wird, die SPD sei für die Grüne Gentechnik, dieCSU aber handele. Ein Antrag der SPD, Langzeitversu-che mit Genfutter durchzuführen, wird so interpretiert,als sei die SPD dafür, die Tiere in Deutschland mit gen-technisch verändertem Futter zu versorgen.
Dies ist die Forderung der Gentechnikgegner, die end-lich wissen wollen, was mit den Tieren passiert, wennsie nicht nur sechs Wochen, sondern zwei Jahre lang da-mit gefüttert werden.
Dann gab es – das ist eine der dreistesten Geschich-ten, die ich erlebt habe – im März 2008 eine Anzeige derCSU mit der Behauptung, die SPD-Bundestagsfraktionstimme für die Einfuhr von Genmais. Im März 2008 gabes einen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen,MON 810 in Deutschland nicht mehr anbauen zu dürfen.In der gesamten Debatte haben sich die Redner der SPDfür diesen Antrag ausgesprochen, aber unser Koalitions-partner CSU hat die Karte des Koalitionsvertrags gezo-gen und gesagt: Wenn wir nicht zustimmen, dürft auchihr einem Antrag der Grünen nicht zustimmen. – Wirmussten mit Nein stimmen, um vertragstreu zu sein. Dasin einer CSU-Anzeige zu finden, ist dreist bis zum Ab-winken.
Herr Kollege Kelber, gestatten Sie Zwischenfragen
der Kollegin Happach-Kasan und der Kollegin
Klöckner?
Gerne, selbstverständlich.
Bitte schön, Frau Happach-Kasan.
Herr Kollege Kelber, ich habe drei Fragen an Sie.
Geht das, Frau Präsidentin? – Nur eine, dann verbinde
ich sie.
Machen Sie eine längere Frage daraus.
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Ja, ich mache eine längere daraus. – Mich würde inte-
ressieren, ob Sie eigentlich wissen, in welchem Umfang
die Schweinehaltung, die Rinderhaltung und die Hüh-
nerhaltung in der deutschen Landwirtschaft von der Ver-
fütterung von gentechnisch veränderten Pflanzen, bei-
spielsweise aus Importen, abhängen. Können Sie dem
zustimmen, was ein Leserbriefschreiber in der Süddeut-
schen Zeitung geschrieben hat, nämlich dass ursprüng-
lich in Bayern der Anbau von gentechnisch verändertem
Mais auf 116 Hektar angekündigt war, hinterher aber nur
9,9 Hektar tatsächlich angebaut worden sind? Wissen
Sie, dass dieser Leserbriefschreiber, der Ihnen übrigens
nahesteht,
die Beobachtung gemacht hat, dass es Diffamierungen
der Landwirte gegeben hat, die gentechnisch veränder-
ten Mais anbauen wollten? Sie haben intensiv für gen-
technikfreie Zonen geworben und wollen, dass die Re-
gionen über deren Einrichtung entscheiden. Was in der
EU zugelassen wird, möchte man in der Kommune ver-
bieten können. Wie sieht es denn eigentlich aus: Wollen
Sie den Kommunen auch das Recht geben, über Kraft-
fahrzeuge zu entscheiden, darüber, ob in einer Kom-
mune in Schleswig-Holstein zum Beispiel BMW gefah-
ren werden darf?
Frau Kollegin Happach-Kasan!
Ich bin damit am Schluss meiner Zwischenfrage.
Zum zweiten Teil – ich lasse den Teil, der natürlich
eine Meinungsäußerung von Ihnen war, beiseite –: Wie
Sie wissen, können Kommunen darüber entscheiden, ob
eine Umweltzone eingerichtet wird oder ob ein Kraft-
werk gebaut wird. Nur da, wo Ihnen die Mehrheitsmei-
nung der deutschen Bevölkerung nicht passt – Umfragen
besagen: 80 Prozent wollen keine Gentechnik in Lebens-
mitteln und auf dem Acker –,
wollen Sie die Verantwortung nach Brüssel schieben, da-
mit nicht vor Ort entschieden werden kann. Das sehen
wir anders.
Sie haben unsere Forderung nach verbindlich gen-
technikfreien Regionen angesprochen. Wir wollen zu-
dem kennzeichnen und keinen anderen Weg gehen.
Die SPD-Fraktion hat noch in der letzten Woche eine
Fachanhörung durchgeführt, in der auch Vertreter des
Raiffeisenverbands – auf den haben Sie sich indirekt be-
zogen – waren. Da wurde noch einmal gesagt: Wer in
Deutschland gentechnikfreies Futter beziehen will, be-
kommt es im Rahmen von langfristigen Verträgen auf
dem Weltmarkt zu den gleichen Preisen wie gentechnik-
haltiges Futter.
Es ist nicht schön, dass auf bestimmten Webseiten
nicht darauf verwiesen wird, dass zum Beispiel Indien
sich entschieden hat, seine boomende Sojaindustrie voll-
ständig gentechnikfrei aufzubauen, und nur auf die
Märkte in Europa wartet, um beliefern zu können.
Ich meine den Raiffeisenverband Kehl. Lesen Sie das
auf der Webseite nach! Wenn Sie dort anrufen, wird Ih-
nen das bestätigt werden, Frau Happach-Kasan.
Frau Happach-Kasan, auch die Frau Kollegin
Klöckner würde gern eine Zwischenfrage stellen, und
dann würde ich den Kollegen Kelber gern zum Schluss
kommen lassen.
Sehr geehrter Herr Kelber, mich irritiert die Sauber-manngeschichte, die Sie gerade betreiben, ein bisschen.Ich erinnere mich an unsere Debatte um die Kennzeich-nung „Ohne Gentechnik“. Uns als Union war es wichtig,für Wahrheit und Klarheit zu sorgen und den Verbrau-cherinnen und Verbrauchern auf den Etiketten von Pro-dukten mitzuteilen, ob sie gentechnisch veränderte Be-standteile enthalten.
Deshalb ist uns wichtig, dass bei einer Kennzeichnung„Ohne Gentechnik“ auch keine Gentechnik im Prozessverwendet worden ist.Aufgrund der SPD-Intervention ist ein Eintrag von0,9 Prozent während des Prozesses oder sind auch gen-technisch veränderte Futtermittel, Enzyme etc. zulässig.
Deshalb irritiert mich das etwas.Meine Frage lautet: Ist Ihnen das klar? Wie machenSie den Verbraucherinnen und Verbrauchern klar, dassman es bei einer Kennzeichnung „Ohne Gentechnik“durchaus mit einer gentechnischen Veränderung zu tunhaben kann.
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19066 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Ich hatte nicht mehr zu hoffen gewagt, dass diese
Zwischenfrage kommt.
Es ist eine relativ langwierige Debatte. Man kann sie ab-
kürzen, indem man schaut, wer hinter welchem Vor-
schlag steht.
Hinter Ihrem Vorschlag stehen der Bundesverband des
Deutschen Lebensmittelhandels, die großen Monopolis-
ten, die großen Chemieriesen, die die Gentechnik los-
werden wollen.
Hinter dem Vorschlag der Kennzeichnung „Ohne Gen-
technik“ stehen der Verbraucherzentrale Bundesverband,
Greenpeace, BUND, NABU, die kleinen Betriebe der
ökologischen Lebensmittelwirtschaft
und alle die, denen die Verbraucherinteressen
und nicht die eigenen wirtschaftlichen Interessen am
Herzen liegen. An den Freunden könnt ihr sie erkennen!
Das ist der beste Hinweis darauf, dass das, was Sie
gefordert haben, nicht Klarheit und Wahrheit war, son-
dern der Wunsch, es der Gentechniklobby zu ermögli-
chen, weiterhin in allen Lebensmitteln sozusagen unter-
zukommen und dabei nicht erkannt zu werden.
Herr Kollege Kelber, ich muss Sie fragen, ob Sie noch
eine Zwischenfrage, nämlich des Kollegen Straubinger,
zulassen.
Ja, natürlich.
Herr Kollege Kelber, da Sie sich gerade als der Ober-
kämpfer gegen die Gentechnik geriert haben und den
Eindruck erwecken wollten, die SPD sei schon immer
gegen die Gentechnik gewesen, frage ich: Würden Sie
mir bestätigen, dass gerade unter der rot-grünen Bundes-
regierung die Gentechnik in Europa hoffähig gemacht
worden ist,
nämlich aufgrund der Beschlüsse der damaligen rot-grü-
nen Bundesregierung mit der damaligen Ministerin
Renate Künast,
dass zudem in Bayern nur auf 8 Hektar Genmais ausge-
sät worden ist, während in dem von Ministerpräsident
Platzeck, SPD, regierten Brandenburg auf mehreren
Tausend Hektar Genmais zur Aussaat gebracht worden
ist? Wie lässt sich das mit den Grundsätzen vereinbaren,
die Sie hier darlegen?
Zunächst zur zweiten Frage: Das Bundesrecht, daswir im Deutschen Bundestag dahin gehend ändern wol-len, dass Regionen sich verbindlich als gentechnisch freierklären können, wird in Bayern wie in Brandenburggelten. Ich sage Ihnen voraus, dass dann auch in Bran-denburg zahlreiche Kommunen verhindern werden, dassauf ihrem Gebiet Gentechnik auf die Äcker kommt.
Zu Ihrer ersten Frage, Herr Straubinger: Ich glaube,Sie waren zu Beginn der Debatte noch nicht im Saal.Ansonsten hätten Sie nämlich gehört, was die KolleginKünast erklärt hat. Ich kann Ihnen den Zeitplan bestäti-gen: Die Zulassung von MON 810, dem einzigen inDeutschland in größerem Maßstab verwendeten Gen-mais, hat noch vor der Bundestagswahl 1998 in der EUstattgefunden. Zuständig war damals der Gesundheits-minister der Regierung Kohl/Westerwelle, der HorstSeehofer hieß. Über die Zulassung in Deutschlandwurde kurz nach dem November 2005 entschieden.Diesmal war der Landwirtschaftsminister zuständig, derwiederum Horst Seehofer, CSU, hieß. Sie sollten den ei-genen Anzeigen nicht glauben. Sie müssen ins europäi-sche Gesetzblatt schauen. Dort finden Sie die Wahrheit.
Das ist ein ganz wichtiges Signal. Man muss der CSUnicht glauben, wenn sie seit drei Monaten plötzlich ge-gen Gentechnik ist. Dies wird nach dem nächsten Sonn-tag alles vergeben und vergessen sein; dann werden sichwieder andere in der Partei durchsetzen, die diesen Kursnie mitgetragen haben. Das Schöne aber ist, dass dieMenschen das merken. Wenn sich die Menschen in Bay-ern und in Deutschland, die uns heute zugehört haben,fragen, ob die Redner von den Grünen, von der Links-partei, von der FDP, von der CDU/CSU oder von derSPD recht hatten, dann sollten sie auf die Webseitenvom BUND, von Greenpeace, vom Imkerbund, von der
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Ulrich KelberAktion Zivilcourage, von Campact und all denen, die fürdie Verbraucherseite gegen Gentechnik kämpfen, gehen.Sie alle beginnen mit der gleichen Schlagzeile: Glaubtdem Täuschungsmanöver der CSU nicht, sie meint es andieser Stelle nicht ehrlich.Vielen Dank.
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Müller.
Lieber Kollege Kelber, die Debatte könnte man in
weiten Zügen fast als oktoberfestreif bezeichnen, wenn
es nicht so traurig wäre. Deshalb nenne ich als CSU-Po-
litiker zur Klarstellung einige Fakten.
Die Grüne Gentechnik wird auf 120 Millionen Hektar
in 25 Staaten der Welt angebaut. In Deutschland haben
wir ungefähr 1 000 Hektar. In Bayern sind es 10 Hektar
– das sind fünf Fußballfelder –,
davon der wesentliche Teil für den Forschungsanbau.
Deshalb kam Minister Seehofer zu der Aussage, dass in
Bayern die Grüne Gentechnik keine Rolle spiele.
Das zweite Faktum: Die Freisetzungsrichtlinie zum
Anbau von MON 810 hat Frau Renate Künast mit den
Grünen umgesetzt. Dass diese Tür aufgestoßen wurde,
ist die Basis für die Zulassung gewesen.
Gefehlt hat die Festlegung klarer Grundsätze der
fachlichen Praxis. Hier haben wir vonseiten der CDU/
CSU und dieser Koalitionsregierung gehandelt und
klare, strenge Regeln für die Freisetzung, unter anderem
Abstandsregelungen,
festgelegt. Auch dies war vorher nicht der Fall. Darüber
hinaus haben wir die Kennzeichnung „Ohne Gentech-
nik“ eingeführt, was ebenfalls ein ganz entscheidender
Punkt war.
Warum haben wir das gemacht? Die Grüne Gentech-
nik wird sich durchsetzen oder auch nicht. Aber das ent-
scheiden die Verbraucher und die Bauern. Dem Verbrau-
cher, der zur Grünen Gentechnik Nein sagt, weil er sie
nicht will, geben wir durch die Kennzeichnung die Mög-
lichkeit, sich so zu entscheiden. Wenn der Bauer erklärt,
er baue das nicht an, dann ist es in Ordnung. Wir machen
keine Politik gegen Bauern, gegen Verbraucher, gegen
die Bürgerinnen und Bürger. Das ist unsere Linie.
Herr Kollege Kelber, bitte.
Die Kurzintervention bestand ja aus drei Teilen. Ichgehe auf den dritten Teil zuerst ein; denn das, was Sie,Herr Müller – aha, Sie sind wieder auf die Regierungs-bank gewechselt –, im dritten Teil gesagt haben, warrichtig. Sie haben sich da auf die Dinge bezogen, die wirgemeinsam gemacht haben: gute fachliche Praxis undKennzeichnungspflicht. Ich freue mich, dass diese For-derungen, die damals von der SPD in die Koalitionsver-handlungen eingebracht wurden – das ist nachlesbar –,heute gemeinsames Gedankengut der beiden Koalitions-partner sind.
Zweiter Punkt. Bezüglich des Themas Freisetzungs-richtlinie haben Sie heute den Versuch unternommen,dieses in neuer Art und Weise darzustellen. Da mussman ja aufpassen. Sie sagten – komisch, dass ich jetztfür die Opposition sprechen muss –,
Künast habe die Freisetzungsrichtlinie umgesetzt. Ge-nauso war es zwar, aber die Freisetzungsrichtlinie wurdeunter der Regierung Kohl/Westerwelle beschlossen, mitSeehofer als zuständigem Minister
Sie war danach bindend. Das europäische Recht musstedanach verpflichtend in nationales Recht umgesetzt wer-den. Dass dieser Punkt zu bindendem europäischemRecht wurde, dafür hat Ihr Minister Seehofer, der in ei-ner Dreiviertelstunde auf der Ministerkonferenz seinmuss, gesorgt.
Letzter Punkt. Die Gentechniklobbyisten sprechenimmer gerne davon, auf soundso vielen Millionen Hek-tar in soundso vielen Staaten würden ihre Produkte ange-baut. Das hört sich groß und bedeutend an. Wenn mangenauer hinschaut, stellt man fest, dass sich 95 Prozentder Anbaufläche in drei Staaten befinden, nämlich in denUSA, wo die Konzerne ihren Sitz haben, sowie in Ar-gentinien und Brasilien, wo dies mit Macht durchge-drückt wurde. Der ganze restliche Anbau ist unbedeu-tend. Immer mehr Staaten versuchen sogar, aus dieserTechnologie auszusteigen.
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Ulrich KelberSie sind auf dem falschen Dampfer. Steigen Sie recht-zeitig aus!
Zu einer weiteren Kurzintervention gebe ich das Wort
der Kollegin Renate Künast.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
– Auch Sie bekommen noch einen Chauvi-Preis. – Ich
halte es, ehrlich gesagt, in dieser Debatte für eine Art
Missachtung des Parlaments, wenn diejenigen, um deren
Politik es heute geht, nicht auf der Rednerliste auftau-
chen – phasenweise saß ja sogar niemand auf der Regie-
rungsbank – und es nicht wagen, in der Debatte Ross
und Reiter zu nennen und ihre inhaltliche Position darzu-
legen, aber am Ende im Rahmen einer Kurzintervention
versuchen, noch einmal ein bisschen Klarstellung zu be-
treiben.
Die Leute werden wissen, was das heißt.
Ich meine, dass diese Debatte gezeigt hat, dass die
CSU und die CDU die Bürger, die Verbraucher und die
Bauern alleine lassen.
Lassen Sie mich auch sagen: Der Beschluss der CSU,
den sie in Bayern gefasst hat, ist das Papier nicht wert,
auf dem er gedruckt worden ist. Warum ist das so? Hier
wird zwar so getan, als wolle man auf europäischer
Ebene aktiv werden und für gentechnikfreie Zonen ein-
treten, tatsächlich bietet er aber nicht einmal eine rechtli-
che Grundlage dafür, um demnächst im Agrarrat in
Brüssel in dieser Richtung tätig zu werden und auf diese
Weise die Europäische Kommission, die ja das Initiativ-
recht hat, zur Abfassung einer entsprechenden Vorlage
zu zwingen. Sie wollen das irgendwo im Europa der Re-
gionen zur Sprache bringen. Wenn Sie das aber wirklich
wollen, dann müssen Sie dafür sorgen, dass das da zur
Sprache kommt, wo wirklich Entscheidungskompetenz
ist. Das wären der Agrarrat und die Europäische Kom-
mission.
Ein Weiteres sage ich Ihnen: Sie haben jederzeit die
Möglichkeit, MON 810 die Zulassung zu entziehen. Das
haben Sie, Herr Kelber, hier klar gesagt. Verstecken Sie
sich also nicht hinter irgendwelchen Dingen! Bringen
Sie notfalls alleine einen Antrag dazu ein! Wir würden
dem zustimmen.
Herr Kollege Kelber möchte nicht antworten.
Herr Kollege Kelber, ich habe jetzt den Auszug des
Protokolls vor mir liegen. Sie haben gesagt:
Ich hätte nicht gedacht, dass ich in diesem Deut-
schen Bundestag eine solche Menge an Lügen und
Verdrehungen kennenlernen müsste. Ich war das
bisher von Sekten und extremistischen Parteien ge-
wöhnt, von sonst niemandem.
Sie haben das eindeutig in Richtung CDU/CSU gesagt.
Das ist wenig parlamentarisch. Es tut mir leid; das muss
ich rügen. Ich bitte doch, zu überdenken, ob Sie sich
nicht entschuldigen wollen.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/10202.
Ich erteile zunächst dem Kollegen Volker Beck für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort zur Ge-
schäftsordnung.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die an-tragstellende Fraktion beantragt, den Antrag der Koali-tion auf Überweisung zurückzuweisen und die Frageheute in der Sache zu entscheiden.Worum geht es im Antrag? Es geht um zwei leicht zubeantwortende Fragen. Erstens geht es darum, ob sichdiese unsere Bundesregierung, die im Wesentlichen ab-wesend ist, in Brüssel – vielleicht ist sie gerade in Brüs-sel – dafür einsetzt,
dass die Einrichtung gentechnikfreier Zonen von denGebietskörperschaften unseres Landes beschlossen wer-den kann. Es geht also darum, ob sie die Entscheidungs-hoheit darüber haben, ob bei ihnen gentechnisch verän-derte Pflanzen angebaut werden oder eben nicht.Zweitens geht es um ein Moratorium für weitere an-zubauende gentechnisch veränderte Pflanzen.Das ist exakt das, was die CSU in Bayern geradelandauf, landab in jedem Wahlkreis erklärt. Schauen Siesich einmal an, Herr Koschyk, was Ihr Landesgruppen-chef Ramsauer gesagt hat:Nach sorgfältiger Prüfung und Abwägung kommenwir zu dem Ergebnis, dass es für einen Einsatz derGrünen Gentechnik in unserem Landkreis mit derkleinteiligen Agrarstruktur und den empfindlichen
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Volker Beck
und wertvollen Naturräumen zu viele offene Fragenund kaum abschätzbare Risiken gibt.Deswegen ist er dagegen, dass gentechnisch verändertePflanzen angebaut werden.Recht hat er. Mit der Zustimmung zu unserem Antragkann das jetzt Wirklichkeit werden.
Allerdings ist es ein Bubenstück, dass Herr Seehofer ei-nerseits erklärt, in Bayern wolle er keine Gentechnik.Andererseits sei er für Gentechnik in Brandenburg, wosich die Bürger dagegen wehren.
Das ist natürlich nicht der Sinn einer solchen Regelung.Vielmehr sollen die Bürgerinnen und Bürger eines jedenLandkreises selber entscheiden, was dort gelten soll.
Meine Damen und Herren, Sie versuchen heute mitdiesem Überweisungsantrag – ich kann nicht verstehen,warum auch die SPD ihn gestellt hat –, der CSU den Of-fenbarungseid in der Frage der Gentechnik zu ersparen.
Diese parlamentarische Woche ist – –
Herr Kollege Beck, Sie müssen, bitte schön, zur Ge-
schäftsordnung sprechen.
Ja, ich begründe gerade, warum – –
Nein, Sie begründen nicht.
Ich begründe gerade, warum – –
Nein, Herr Kollege Beck, Sie begründen nicht.
Ich begründe gerade, Frau Präsidentin, warum es
nicht in Ordnung ist, zu überweisen.
Ich spreche nicht zur Sache, sondern dazu, –
Oh, Herr Kollege Beck!
– Frau Präsidentin, dass es nicht okay ist,
die Entscheidung in dieser Sitzungswoche zu vertagenund den Antrag zu überweisen. Ich plädiere dafür, jetztüber ihn zu entscheiden.
Ich möchte etwas zur Intention derjenigen sagen, dienicht begründet haben, warum sie den Antrag überwei-sen wollen.
Das ist zulässig, und ich bitte, Frau Präsidentin, hierauch die unangenehmen Wahrheiten aussprechen zu dür-fen, ohne gegen eine solche Lärmwand anschreien zumüssen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser Sitzungs-woche versuchen Sie mit allen Tricks, Entscheidungenzu vermeiden. Sie haben uns heute sogar im Ältestenratverboten,
eine Tagesordnung für die nächste Sitzungswoche zu be-schließen, weil Sie womöglich nicht eingestehen wollen,dass die CSU in der nächsten Sitzungswoche – ähnlichwie bei der Gentechnikfrage – bei der Debatte über dieErbschaftsteuerreform die Hosen runterlassen muss.Dies sollen die Wählerinnen und Wähler noch nicht er-fahren.
Meine Damen und Herren von der SPD, haben Sieden Mut, diese Frage jetzt zu entscheiden. Dann wirdklar, wo die CSU steht. Ich glaube, wir haben hier imHohen Haus eine Mehrheit dafür, dafür zu sorgen, dassin unserem Land keine gentechnisch veränderten Pflan-zen in der Landwirtschaft mehr angebaut werden. Ver-helfen Sie der CSU-Politik zu einer Chance, wenn sieernst gemeint sein soll.
Ansonsten sollen die Wählerinnen und Wähler erfahren,dass all das, was Sie den Bayerinnen und Bayern verkau-fen, Wahlkampfgetöse,
aber keine inhaltlich ernst gemeinte Politik war.
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Wird das Wort zur Erwiderung gewünscht? – Das istnicht der Fall.Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Ab-stimmung in der Sache. Die Fraktionen der CDU/CSUund der SPD wünschen Überweisung, und zwar feder-führend an den Ausschuss für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz und mitberatend an denAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit. Die Abstimmung über den Antrag auf Ausschuss-überweisung geht nach ständiger Übung vor. Ich fragedeshalb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.
Damit stimmen wir heute über den Antrag auf Drucksa-che 16/10202 nicht ab.Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernäh-rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem An-trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel„Rahmenbedingungen für Milchmarkt verbessern – FaireErzeugerpreise für Milch unterstützen“. Der Ausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache16/9869, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenauf Drucksache 16/9601 abzulehnen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstim-men von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion DieLinke angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes-serung der Rahmenbedingungen für die Ab-sicherung flexibler Arbeitszeitregelungen– Drucksache 16/10289 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich gebe das Wort dem Bundesminister Olaf Scholz.
Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Sozia-les:Meine Damen und Herren! Nach der eben sorgfältiggeführten Debatte muss man sagen: Hier geht es jetzt umein Erfolgsprojekt der Großen Koalition.
Im Hinblick auf die eine oder andere Wortmeldung, dieich gehört habe, und auf das Beklagen darüber, dass dieRegierung nicht ordentlich vertreten sei, möchte ich da-rauf hinweisen, dass, wenn der Bundesminister für Ar-beit und Soziales hier ist, immerhin 123 Milliarden Eurodes Haushaltes repräsentiert werden.
Zeit zu haben für das eigene Leben, für die privatenBelange, ist etwas Wichtiges, gerade wenn man bedenkt,dass Arbeit eine lange Zeit unser Leben bestimmt. Wermit 16 die Schule verlässt, muss damit rechnen, 50 Jahrearbeiten zu müssen. Es können auch 40 Jahre sein; aberjedenfalls sind es viele Jahrzehnte, in denen Arbeit dasLeben begleitet. Das führt dazu, dass wir uns Gedankendarüber machen müssen, wie die Beschäftigten genü-gend Souveränität erhalten können, um während des Ar-beitslebens über ihre Zeit zu verfügen. Sie brauchenmehr Spielräume, wenn sie im Schnitt 46 Wochen imJahr 40 Stunden in der Woche arbeiten. Ihnen diese Sou-veränität zu geben, ist das, was wir mit diesem Gesetzversuchen.
Wir haben im Hinblick auf die Souveränität der Be-schäftigten schon heute viele gesetzliche Ansprüche.Das gilt für die Möglichkeiten bei der Kindererziehung,bei der Pflege und bei der Bildung. All das ist gegeben.Wir haben in den letzten Jahren einen großen Fortschrittmit dem Teilzeit- und Befristungsgesetz erreicht, das ei-nen Rechtsanspruch auf Teilzeit mit sich gebracht hat.Was fehlt, ist eine Regelung, die es dem einzelnen Be-schäftigten gestattet, über das ganze Arbeitsleben hin-weg souverän über die eigene Arbeitszeit verfügen zukönnen. Das versuchen wir seit einigen Jahren mit einemGesetz zu erreichen, das allerdings noch nicht richtig ge-wirkt hat, nicht nur weil es einen komplizierten Namenhat – Gesetz zur Verbesserung der Rahmenbedingungenfür die Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen –,sondern auch weil die gesetzliche Regelung, die wir seitetwa zehn Jahren in Deutschland haben, bislang nichtalle Anforderungen erfüllt hat.Aber die Grundidee war richtig. Es geht darum, dassArbeitszeit angespart werden kann, dass sie sogar vorge-spart werden kann, wenn man das richtig organisiert,dass die Arbeitszeit dann verbeitragt und mit Steuern be-legt wird, wenn sie zur Finanzierung des eigenen Le-bensunterhaltes eingesetzt werden soll.Die Probleme des bisherigen Gesetzes haben dazu ge-führt, dass es bisher nicht ordentlich angewandt wurde.Zu den großen Problemen gehörte die Frage: Was ge-schieht eigentlich, wenn ein Arbeitnehmer den Arbeitge-ber wechselt? Ob freiwillig oder unfreiwillig: Dieskommt häufiger im Leben vor. In diesem Fall, so habensich viele gedacht, muss es doch möglich sein, dass mandas bis dahin angesparte Arbeitszeitguthaben mitnehmenkann. Das andere Problem ist die Frage, was geschieht,wenn der eigene Arbeitgeber insolvent wird. In dem Fallist die über einen langen Zeitraum angesparte Arbeits-
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Bundesminister Olaf Scholzzeit, die für den einzelnen Beschäftigten einen großenfinanziellen Wert darstellt, plötzlich verloren. Beide Pro-bleme waren im Rahmen der bisherigen Regelung nichtgut gelöst. Wir hatten darauf gesetzt, dass sie von denTarifvertragsparteien gelöst werden. Sie haben dies abernur in sehr wenigen Fällen getan. Darum ist aus einerguten Idee, die es vor zehn Jahren gab, noch nicht sehrviel entstanden.Aber wir müssen auf diesem Gebiet etwas erreichen.Aufgrund der Tatsache, dass Arbeit eine so große Rollein unserem Leben spielt, müssen wir die gesetzlichenVoraussetzungen dafür schaffen, dass Arbeitnehmer vonder Möglichkeit, ihre Arbeitszeit souverän über ihr Be-rufsleben zu verteilen, Gebrauch machen können. Daserreichen wir mit diesem Gesetz.
Gute Gesetzgebung besteht darin – das ist meine festeÜberzeugung –, dass man sich darauf verlassen kann,dass Gesetze funktionieren. In diesem konkreten Fall be-deutet das, dass man nicht einen Steuerberater und einenRechtsanwalt braucht, um sich an die Idee zu wagen, einArbeitszeitkonto aufzubauen, und um für sich die rich-tige Entscheidung zu treffen. Unsere Aufgabe ist es, da-für ein gutes Gesetz zu schaffen. Wir tun das mit demheute zu debattierenden Gesetzesvorhaben.Wir definieren, was Wertguthaben sind, und unter-scheiden auf diese Weise Langzeitkonten heute viel bes-ser von anderen Formen flexibler Arbeitszeitgestaltung,die es auch in Form von Überstundenkonten und Ähnli-chem gibt. Diese Definition wurde sehr sorgfältig erar-beitet. Zwar haben es die Tarifvertragsparteien nicht ge-schafft, sich untereinander zu einigen, aber inGesprächen mit uns sind sie sich einig, dass unser Vor-schlag eine vernünftige Lösung darstellt, die allen fachli-chen Anforderungen entspricht.
Wir schaffen die Möglichkeit, diese Wertguthaben,diese Langzeitkonten so einzusetzen, wie man esmöchte. Man kann dies natürlich dort tun, wo es gesetz-liche Freistellungsansprüche bereits heute gibt. Ich habeschon einige genannt. Aber man kann es auch in solchenFällen tun, die gesetzlich nicht geregelt sind, die das Er-gebnis einer Vereinbarung von Tarifvertragsparteienoder einer individuellen Vereinbarung mit dem Unter-nehmen sind.Es geht also darum, Zeit zu gewinnen, beispielsweisefür die Betreuung von Kindern. Man kann auch ein Jahr– ein Sabbatical – aussetzen. Es muss die Möglichkeitbestehen, den Akku neu aufzuladen und sich weiterzu-bilden. Es geht natürlich auch um die Möglichkeit, beimÜbergang in die Rente andere Gestaltungsmöglichkeitenzu haben als heute. All das ermöglichen wir mit denLangzeitkonten.
Das Gesetz regelt den Insolvenzschutz. Diesen Schutzerreichen wir unter anderem durch eine sorgfältige Prü-fung durch die Deutsche Rentenversicherung. Das istübrigens ein hocheffizienter Insolvenzschutz; denn wenndie Prüfung zu dem Ergebnis führt, dass das Arbeitszeit-konto nicht insolvenzgesichert ist, dann werden Beiträgeund Steuern sofort fällig. Auf diese Weise haben wir einganz sicheres Instrument, mit dem in jedem Unterneh-men sichergestellt wird, dass der Insolvenzschutz auchdort gewährleistet ist, wo bisher noch nicht dem Gesetzentsprechend gehandelt worden ist.Das Gleiche gilt für die Frage, wie man die Einlageabsichert. Wir machen dazu Vorschriften, wie wir sieauch in anderen Gesetzen im Hinblick auf die Anlagesi-cherheit haben. Man muss nicht die Wirtschaftsteile derZeitungen gelesen haben, um zu wissen, dass wir uns da-rum kümmern müssen, dass das Geld der kleinen Leutenicht in hoch spekulative Anlagen und in Produkte vonirgendwelchen Schnellversprechern gesteckt wird.
Im Übrigen regelt das Gesetz die Möglichkeit, seinArbeitszeitkonto mitzunehmen.
– Danke für den Zwischenruf. Das ist falsch!
Das Gesetz regelt die Möglichkeit, das Arbeitszeit-konto mitzunehmen. Wenn der neue Arbeitgeber es nichtfür sich haben will – wir können es ihm schwerlich ok-troyieren, denn er hat mit dem bisherigen Arbeitsverhält-nis ja nichts zu tun –, dann hat man die Möglichkeit, esbei der Deutschen Rentenversicherung langfristig sicherfestzulegen.
Dann kann es so eingesetzt werden, wie es auch geplantist. Aber wenn man es mitnimmt, dann kann man auchbei dem neuen Arbeitgeber ein solches Arbeitszeitkontomit den weiteren Ansprüchen aufbauen.
Es ist also für jeden Beschäftigten möglich, ein Ar-beitszeitkonto über das ganze Leben zu verwalten unddann zu den Zeitpunkten einzusetzen, zu denen er es be-nötigt.
Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf, überden wir heute beraten, wird vielleicht zu einem der mo-dernsten und wichtigsten Gesetze dieser Zeit. Ich binziemlich sicher, dass dieses Gesetzesvorhaben in zehnJahren wie eine Selbstverständlichkeit sein wird, weil esdas Arbeitsleben fast jedes Einzelnen mit beeinflusst,nämlich als Möglichkeit, aus eigener Perspektive souve-rän mit der Arbeitszeit umgehen zu können. Das ist ein
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Bundesminister Olaf Scholzguter Fortschritt für ein Land, das auf gute Arbeit undauf gute Löhne setzt.In diesem Sinne: Schönen Dank.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Minister Scholz, Sie haben gestern im Ausschussfür Arbeit und Soziales gesagt – Sie haben es heute wie-derholt –, dies sei das vielleicht wichtigste Gesetzge-bungsvorhaben dieser Legislaturperiode, das die Ar-beitswelt verändern werde. Das ist ein großes Wort. So,wie sich der Gesetzentwurf bisher präsentiert, wird diesegroße Ankündigung jedenfalls noch nicht eingelöst.
Die grundsätzliche Idee, die Arbeitszeit zu flexibili-sieren, ist richtig. Es war ja auch die FDP, die im April1998 das Gesetz zur sozialrechtlichen Absicherung fle-xibler Arbeitszeitregelungen mit in Kraft gesetzt hat.
Wir stimmen zu: Arbeitszeiten und Zeitmanagement sol-len flexibel und für Arbeitgeber und Arbeitnehmer indi-vidueller gestaltbar sein.Ich darf auch sagen, weil Sie das Ende des Arbeitsle-bens hier schon mit angeführt haben, dass die FDP-Bun-destagsfraktion den Gedanken eines selbstbestimmtenArbeitslebens mit dem Konzept eines flexiblen Renten-eintritts ab dem 60. Lebensjahr – übrigens bei Wegfallaller Zuverdienstgrenzen – und Vorschlägen zur Stär-kung der betrieblichen und privaten Vorsorge konse-quent weitergedacht und weiterentwickelt hat.
Lassen Sie mich zunächst sagen, was an Ihrem Vor-schlag gut ist. Es ist gut und richtig, dass künftig auchgeringfügig Beschäftigte in den Genuss der Regelungenüber flexible Arbeitszeitgestaltungen kommen sollen.Sinnvoll ist ferner, klarzustellen, welche Formen vonArbeitszeitguthaben von dem Gesetz erfasst werden.Aber es gibt auch ein paar Punkte, die wir uns nocheinmal anschauen müssen und bei denen es aus unsererSicht Klärungsbedarf gibt.Erstens. Es wird von Ihnen zu Recht darauf verwie-sen, dass bisher bei einem Arbeitgeberwechsel die Wert-guthaben meist aufgelöst werden und dann verbeitragt,versteuert und ausgezahlt werden. Das senkt die Attrak-tivität der Arbeitszeitkonten natürlich erheblich. Deswe-gen sollte – da stimmen wir Ihnen zu – eine bessere Por-tabilität ohne diesen Zwang zur Auflösung hergestelltwerden.Aber der im Entwurf des § 7 f SGB IV vorgeseheneWeg der Portabilität über die gesetzliche Rentenversi-cherung ist in der gegenwärtigen Fassung aus mehrerenGründen für die Arbeitnehmer, wie ich finde, unattrak-tiv. Zum einen wird ein Rückübertragungsanspruch desBeschäftigten auf einen neuen Arbeitgeber ausgeschlos-sen. Unter Umständen steht der neue Arbeitgeber nochgar nicht fest; es gibt eine Lücke in der Erwerbsbiogra-fie. Das wandert also zunächst zur Rentenversicherung.Nun wäre es ja sinnvoll, dass nach einer gewissenZeit eine Übertragung auf den neuen Arbeitgeber statt-finden kann. Das ist bisher nicht vorgesehen. Es würdeam Ende dazu führen, dass ein Arbeitnehmer mehrereKonten hat. Es ist nicht klar, warum eine Übertragungausgeschlossen sein soll. Im Gesetzentwurf wird dazuabstrakt von Gründen der Verwaltungssicherheit und Fi-nanzierung gesprochen. Darüber sollten wir also reden.Der andere Aspekt der Anlage der Arbeitszeitkontenbei der Rentenversicherung ist, dass der Arbeitnehmerdie Verwaltungskosten für das Wertguthaben tragen soll.Zugleich gibt es konservative Anlagevorschriften ent-sprechend denen für öffentlich-rechtliche Sozialver-sicherungsträger. Da muss man sich auch einmal an-schauen, welche Renditeerwartungen ein Arbeitnehmerbei einer solchen Anlage und Führung des Kontos durchdie Rentenversicherung noch hat.Man könnte meines Erachtens darüber nachdenken,den Arbeitnehmern hier ein Wahlrecht zuzugestehen,welchen Risikograd sie bei der Anlage des Wertkontoshaben möchten, was sich natürlich auch auf die Garan-tiesumme auswirkt.
Wenn die Anlage aber unattraktiv ist, wird diese Mög-lichkeit der Portabilität nicht genutzt werden.Im Gesetzentwurf werden viele Gründe aufgezählt,warum eine treuhänderische Übernahme der Arbeitszeit-konten durch private Anbieter nicht zulässig sein soll.Dabei geht es aber mehr um fiskalische Interessen, wennich das richtig sehe, vor allem um den Schutz der Sozial-versicherungsbeiträge. Die Interessen der Arbeitnehmertreten demgegenüber in den Hintergrund. Diese Interes-sengewichtung muss man sich einmal genau anschauenund sich fragen, ob die Attraktivität des Gesetzes für Ar-beitnehmer durch diese Regelung nicht massiv beschnit-ten wird.
Ich will auf einen weiteren Aspekt hinweisen. Mitdem § 7 d SGB IV sollen die Wertguthaben während derAnsparphase besser geschützt werden als bisher. Dafürsollen die Vermögensanlagevorschriften der § § 80 ff.SGB IV gelten. Das heißt, die Anlage in Aktien oderAktienfonds soll auf 20 Prozent begrenzt sein. Der eineoder andere mag sagen, dass das angesichts der aktuellenEntwicklung auf den Finanzmärkten sinnvoll ist. Ich willdarauf hinweisen, dass Beteiligungen am Kapitalmarktin der mittel- und langfristigen Perspektive immer diehöchsten Wertsteigerungen geboten haben.
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Dr. Heinrich L. KolbMan sollte deswegen prüfen, ob man nicht durch flexib-lere Regelungen dem Einzelinteresse gerecht werdenkann, etwa dadurch, dass man sagt: Jüngere Arbeitneh-mer, die noch ein langes Erwerbsleben vor sich haben,erhalten die Möglichkeit, einen höheren Aktienanteil zuwählen; sobald der Renteneintritt näher rückt, erfolgtaber eine Umschichtung in sicherere Produkte. Das Inte-resse des Einzelnen ist hier zu berücksichtigen. Ich sehekeinen Grund, warum wir das nicht tun sollten.
Der dritte und letzte Aspekt ist der Insolvenzschutzder Arbeitszeitkonten. Es gab sicherlich manche Ar-beitszeitkonten, die nicht wirksam insolvenzgesichertwaren. Man muss aber schauen, ob Sie mit dem, was Siejetzt vorschlagen, nicht das Kind mit dem Bade aus-schütten, ob die Neuregelung nicht über das Ziel hinaus-schießt und Arbeitszeitkonten aus Arbeitgebersicht unin-teressant macht. Speziell die Regelung der Haftung desVorstandes bzw. Geschäftführers eines Unternehmens,die zwar mit einer Escape-Klausel versehen ist, aberdennoch eine Umkehr der Beweislast ist, wird aus mei-ner Sicht dazu führen, dass viele Mittelständler diesenWeg nicht beschreiten werden. Das kann nicht in unse-rem Interesse sein.Man muss sich auch fragen, ob man zwingend vor-schreiben muss, dass diese Wertguthaben durch Drittegeführt werden, weil das gerade für kleinere Betriebe zueinem hohen Abfluss von Kapital führen könnte. Es gibtalso viele Fragen, unter anderem auch die, warum Ar-beitszeitkonten künftig nur noch in Geldform und nichtmehr als Zeitkonten geführt werden können. Eine wirkli-che Begründung liefert der Gesetzentwurf auch hierfürnicht.Im Ergebnis lässt sich feststellen: Die Richtungstimmt. Wir sollten versuchen, mehr Flexibilität zu errei-chen, aber auf eine Art und Weise, die in der Praxis ak-zeptiert wird; Herr Minister, Sie haben darauf hingewie-sen. Die Menschen müssen das Gesetz verstehen undanwenden wollen. Das ist im vorliegenden Fall nicht ge-geben. Wir haben aber die Chance, im Ausschuss darü-ber zu beraten. Wir stehen für die Beratungen gerne zurVerfügung.Ich bedanke mich.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Wolfgang
Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf zurVerbesserung der Rahmenbedingungen für die Absiche-rung flexibler Arbeitszeitregelungen – wir nennen das inder Kurzform Flexi II, weil es 1998 schon ein Flexi I gab –werden wir auf dem Weg, Arbeitszeitregelungen flexib-ler zu gestalten und Arbeitnehmern die Möglichkeit zugeben, Entscheidungen über Lebensarbeitszeiten zu-künftig besser steuern zu können, weitergehen.Ich möchte mich bei Ihnen von der Linken übrigensentschuldigen: Wenn ich hier rede, erwarten Sie, dass ichauf Sie eindresche. Das kann ich heute nicht. Es geht umein Sachthema, das wir nach vorne bringen wollen.
Deshalb halte ich mich ein bisschen zurück.Die Bedeutung flexibler Arbeitszeitregelungen hatallgemein zugenommen. Wir wissen, dass es Flexibilitätin der Arbeitszeit täglich gibt: bei Gleitzeit, bei der An-sammlung von Überstunden, bei Wochenarbeitszeiten.Dazu sind längst Regelungen getroffen worden. Inzwi-schen gibt es aber auch Modelle und Entwürfe, die wei-ter gehen, zum Beispiel Tarifvereinbarungen, bei denenlängerfristige Vereinbarungen über Arbeitszeitkontengetroffen werden. Zum Teil werden dort Regelungen ge-troffen, auch bei betrieblichen Abmachungen, die inGrauzonen landen. Deswegen müssen wir ein paarDinge klarer regeln.Warum ein neues Gesetz? Es gibt, wie gesagt, eineVielzahl von Modellen zur Gestaltung der Arbeitszeitunabhängig von der Frage der Gleitzeit- und Kurzzeit-konten; Metall-, Elektro- und chemische Industrie sindauf diesem Gebiet sehr fortschrittlich. Diese Modelle ha-ben die unterschiedlichsten Zielsetzungen, zum Beispieldie Freistellung von der Arbeitszeit während der Er-werbszeit, den gleitenden Übergang in den Ruhestandoder die Bereitstellung von Qualifikationszeiten.Gerade in dieser Zeit gibt es zwei Gründe, die es not-wendig machen, flexiblere Möglichkeiten zu haben, umetwas früher aus dem Erwerbsleben auszuscheiden.Dazu leisten solche Lebensarbeitszeitkonten einen Bei-trag. Ein Grund ist die Gewissheit, dass wir irgendwanneinmal am Ende der 20er-Jahre dieses Jahrhunderts dieRente mit 67 haben werden.
Der zweite Grund ist, dass die Förderung der Altersteil-zeit durch die Bundesagentur für Arbeit auslaufen wird.Auch hier ist die Möglichkeit gegeben, entsprechendeVereinbarungen langfristig zu treffen und damit einenErsatz dafür zu schaffen.Wir streben mit dem Gesetz also mehr Attraktivitätvon Langzeitkonten an. Der Minister hat eben daraufhingewiesen, dass es schon länger Möglichkeiten gibt,aber Unsicherheiten vorhanden sind. Wir müssen dies at-traktiver gestalten. Das wird nur dann gelingen, wennwir gemeinschaftlich einen Entwurf vorlegen, den dieMenschen gut finden und verstehen. Wir müssen versu-chen, die rechtlichen Grauzonen zu beseitigen.Deswegen will ich auf drei Schwerpunkte eingehen,die in diesem Gesetzentwurf vorgesehen sind. Der erstePunkt ist die Abgrenzung des Begriffs Wertguthaben.Wir müssen hier unterscheiden. Es gibt flexible Arbeits-zeitregelungen, die sich im kürzeren Bereich, im Bereich
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Wolfgang Meckelburgder werktäglichen, wöchentlichen Arbeitszeit zum Aus-gleich eignen, zum Beispiel Überstunden, die angesam-melt und wieder abgebaut werden. Diese helfen also, in-nerhalb des Betriebsablaufs zu Lösungen zu kommenund die Arbeitszeiten flexibler zu machen. Dies ist einer-seits im Sinne der Unternehmer, aber auch der Arbeit-nehmer. Um diese Regelungen geht es jetzt nicht.Es geht bei Wertguthaben vor allem darum, dass län-gerfristig Arbeitszeit und Arbeitsentgelt angesammeltwerden. Dies geschieht immer mit dem Ziel, in der Zeit,in der man sich freistellen lässt, formal im Betrieb be-schäftigt zu sein und eine Entlohnung zu bekommen, aufdie Sozialabgaben und Steuern gezahlt werden müssen.Das heißt, die Entlohnung wird erst in dem Moment, indem sie ausgezahlt wird, von der Versicherung verbei-tragt und der Steuer unterzogen. Vorher wird sie auf ei-nem Konto gesammelt. Das Ziel eines Wertguthabens istalso nicht die flexible Gestaltung täglicher oder wö-chentlicher Arbeitszeiten, es dient nicht dem Ausgleichvon Produktions- und Arbeitszeitzyklen, gemeint sindalso nicht Gleitzeit- und Kurzzeitkonten, sondern es gehtum angespartes Arbeitsentgelt, das man sozusagen in ei-nen Topf gibt und das der Freistellung von der Arbeits-leistung dient, wenn man sie denn wünscht.Es gibt zwei Möglichkeiten. Zum einen gibt es ge-setzliche Möglichkeiten, die immer wichtiger werden:Anspruch auf Freistellung bei der Elternzeit und bei derPflege naher Angehöriger oder Anspruch auf Teilzeitar-beit. Zum anderen gibt es die Möglichkeit, Freistellun-gen in Verträgen individuell zu vereinbaren. AufDeutsch: Man spart Arbeitsstunden, Geld, Urlaubstageund was immer denkbar ist in einen Topf. Dieser Topfmuss bis zu dem Zeitpunkt verwaltet werden, an demman aus der Arbeit heraus will, während man formalweiter beschäftigt ist. Man bekommt dann auch ein Ge-halt. In dem Moment werden erst die Sozialbeiträge undSteuern von dem Gesparten abgezogen, das in dem Topfenthalten ist. Es geht darum, dies sicherzustellen. Das istein Ziel dieses Gesetzes.Wertguthaben sollen in Zukunft nur noch als Arbeits-entgeltkonten geführt werden. Das bedeutet zwar immernoch, dass man Arbeitszeit einbringen kann, aber dasKonto muss als Arbeitsentgeltkonto geführt werden.
Für die Arbeitgeber besteht die Pflicht, jährliche Konto-auszüge zu erstellen. Das gibt den Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmern Sicherheit, weil sie dann wissen,was auf dem Konto ist. Es gibt auch die Möglichkeit,dies kontrollieren und prüfen zu lassen; darauf ist ebenschon hingewiesen worden. Man hat einen Anspruch aufEntschädigung, wenn festgestellt wird, dass das Risikonicht richtig abgesichert ist.Führung der Wertguthaben generell durch Dritte:Auch das ist in dem Gesetzentwurf vorgesehen.Insolvenzschutz ist der zweite zentrale Punkt. Bisherhaben die Vertragsparteien selber wählen können, wieder Insolvenzschutz durchgeführt wird. Diese eher lo-ckere und freie Möglichkeit der Vereinbarung und Ge-staltung des Insolvenzschutzes hat oft dazu geführt, dassman auf Maßnahmen des Insolvenzschutzes gänzlichverzichtet hat. Das kann nicht im Sinne der Betroffenensein. Es darf nicht sein, dass man zum Teil über 30,40 Jahre auf Lebensarbeitszeitkonten ansammelt und amEnde feststellt, dass auf diesen Konten gar nichts mehrist und dass man total benachteiligt ist. Das muss gere-gelt werden. Die Insolvenzschutzregelung ist wichtig.Der Schutz vor Insolvenz war zwar vorgeschrieben,wurde aber bei Nichteinhaltung der Regelung nichtsanktioniert. Dies ist nach dem neuen Gesetzentwurfmöglich.Die Frage des Schadensersatzes habe ich gerade an-gesprochen. Da ich nur noch eine Minute Redezeit habe,gehe ich darauf nicht weiter ein.Ein weiterer Punkt dieses Gesetzentwurfs ist die be-grenzte Möglichkeit der Mitnahme von Lebensarbeits-zeitkonten. Herr Kolb, wir können gerne darüber reden.Ich bin Gott sei Dank kein Jurist, wie ich manchmalsage. An dieser Stelle muss man wahrscheinlich ein fin-diger Jurist sein, um eine Regelung zustande zu bringen.Ich habe die bisherigen Formulierungen im Gesetzent-wurf so verstanden, dass es sehr schwer ist, da Portabili-tät in größerem Umfang herzustellen. Man muss wäh-rend der Ausschussberatungen einmal austesten, wasgeht und was nicht geht. Dabei müssen Juristen Formu-lierungshilfen geben. Einfach zu sagen: „Da muss mehrgemacht werden“, ist zum jetzigen Zeitpunkt möglicher-weise verfrüht.
Wir wollen jedenfalls erreichen, dass der Arbeitneh-mer bei einem Wechsel des Arbeitgebers die Möglich-keit einer begrenzten Mitnahme seines Lebensarbeits-zeitkontos hat. Es gibt die Möglichkeit, dass er mit demneuen Arbeitgeber eine Vereinbarung über eine Übertra-gung trifft. Das ist natürlich der günstigste und besteFall. Ich glaube, je attraktiver wir Lebensarbeitszeitkon-ten gestalten, umso mehr werden wir bei Arbeitgeberndie Bereitschaft finden, solchen Übertragungen zuzu-stimmen.
Eine weitere Möglichkeit ist, dass dies von der Ren-tenversicherung treuhänderisch übernommen wird. Dashat den Nachteil, dass es nicht richtig weiterentwickeltwerden kann. Darüber muss man nachdenken. Wenn iches richtig verstanden habe, scheitert es bis jetzt an derfehlenden Arbeitgeberfunktion der Bundesagentur, diediese Funktion übernehmen müsste. Genauso gibt es beiPrivaten Schwierigkeiten mit der Definition. Da müssenJuristen heran. Bisher ist das nicht gelungen. Wenn esuns im Ausschussverfahren nicht gelingt, wäre ich auchnicht unglücklich; denn ich finde, wir kommen mit die-sem Gesetzentwurf schon ein Stückchen weiter.
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Wolfgang Meckelburg
Letztlich wäre es möglich, das Ganze wie bisher sozusa-gen als Störfall aufzulösen und an den Arbeitnehmer zu-rückzugeben.Ich glaube schon, dass Sie recht haben, Herr Minister,dass wir mit diesem Gesetzentwurf etwas auf den Wegbringen, was bei der Gestaltung von Lebensarbeitszeitenmittelfristig sicherlich eine Rolle spielen und die Freiheitder Menschen erhöhen wird.Schönen Dank.
Für die Fraktion Die Linke gebe ich das Wort der Kol-
legin Dr. Barbara Höll.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Menschen in Deutschland arbeiten sehr viel – das sagteDGB-Chef Sommer am 15. September in der Süddeut-schen Zeitung.
Sie arbeiten im EU-Vergleich sogar überdurchschnittlichviel. Die tatsächliche Wochenarbeitszeit in Deutschlandbeträgt 41,1 Stunden. Dies ist nach einer europäischenStudie zur Arbeitszeitentwicklung ein Spitzenplatz. DerDurchschnitt in den 27 EU-Staaten beträgt 40 StundenArbeit pro Woche.Laut IAB leisteten jeder Arbeitnehmer und jede Ar-beitnehmerin 2007 41,9 bezahlte Überstunden im Jahr.Das macht ein Gesamtvolumen von 1,45 MilliardenÜberstunden aus. Erfahrungsgemäß fällt jedoch tatsäch-lich die doppelte Anzahl an Überstunden an. Nicht aus-gezahlte Überstunden werden in der Regel in Gleitzeit-oder Kurzzeitkonten geparkt, um kurzfristig Auftrags-lücken und Ähnliches zu überbrücken.Nicht zuletzt durch die Anhebung der Altersgrenze inder gesetzlichen Rentenversicherung auf 67 Jahre sindModelle zur Arbeitszeitgestaltung wichtig.Spätestens mit 40 Jahren fragt sich die Krippenerzie-herin: Werde ich die Kleinen auch noch mit 60 Jahren solocker hochheben können wie jetzt?
Der Schweißer fragt sich, wie er das Dreischichtsystembewältigen wird.
Die Altenpflegerin fragt sich, wie sie mit 60 Jahren nochdie Kraft aufbringen soll, die schwere körperliche Arbeitzu bewältigen. Für viele wird aufgrund der Politik derBundesregierung, aufgrund Ihrer Großen Koalition, nurdie Option des vorzeitigen Renteneintritts, allerdings mithohen Abschlägen bis zum Lebensende, bleiben. Das istdas Hauptproblem.
Das Volumen der im Erwerbsleben zu leistenden Ar-beit hat sich erhöht. Das Arbeitstempo steigt stetig an.Lebenslanges Lernen ist eine Voraussetzung, um am Ar-beitsmarkt bestehen zu können.
In der beruflichen Praxis ist das aber noch nicht ange-kommen. Im Gegenteil, die bisherigen Möglichkeitenzur Gestaltung der Lebensarbeitszeit waren im Wesentli-chen auf die Altersteilzeitregelung beschränkt, die zum31. Dezember 2009 ausläuft und ersatzlos wegfällt.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
legt die Große Koalition nur eine billige Ersatzvariantefür das Auslaufen der Altersteilzeitregelung vor.
Im Fokus hat sie dabei die Milderung der mit der Erhö-hung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre verbundenenProbleme.Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen in Zu-kunft Mehrarbeit leisten, die ihnen nicht unmittelbar be-zahlt wird. Stattdessen sollen ihre Arbeitszeitguthabenauf ein sogenanntes Wertguthabenkonto gelegt werden.Der Gesetzentwurf sieht für die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer nur eine begrenzte Nutzung ihres dadurchgewährten zinslosen Darlehens an die Arbeitgeber vor.
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Dr. Barbara HöllGeregelt ist nur die Inanspruchnahme für Pflege, Kin-derbetreuung, Teilzeitvereinbarung und vorzeitigen Ren-teneintritt.
Alles andere unterliegt der Vereinbarung zwischen Ar-beitgeber und Arbeitnehmer. Die ungleiche Verhand-lungsmacht wird dabei aber überhaupt nicht berücksich-tigt.
Den Unternehmen steht es nach dem bisherigen Textdes Gesetzentwurfes außerdem frei, mit ihren Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmern die Inanspruchnahme vonWertguthaben auch zur Überbrückung von konjunkturel-len Schwankungen oder Auftragsmängeln zu vereinba-ren.
Für die Arbeitgeberseite stellen Wertguthaben einen Li-quiditätsvorteil dar, da die Sozialversicherungsabgabenerst bei der Auszahlung anfallen.Sie haben es versäumt, mit diesem Gesetz die nachwie vor vorhandenen Lücken zu schließen. Die unter-schiedlichen Gleit- und Arbeitszeitkonten haben Sie imRahmen der Ausweitung des Insolvenzschutzes nichteinbezogen. Erfasst werden von Ihrem Vorschlag geradeeinmal 10,2 Prozent der existierenden Arbeitszeitkonten,die sogenannten Langzeitkonten.
Kurzzeitkonten, die mit knapp 70 Prozent die großeMasse ausmachen, bleiben aber außen vor.
Dadurch können im Falle einer Insolvenz Zeitgutha-ben in der Größenordnung von einem Monatslohn bis zumehreren Jahresgehältern unwiederbringlich verlorengehen. Selbst die von der Koalition angedachte Möglich-keit der Mitnahme der Zeitguthaben beim Wechsel desArbeitgebers ist keinesfalls ausgereift; denn sie ist nichteinklagbar. Zudem sind die vorgesehenen Kontrollmög-lichkeiten der Insolvenzsicherung unzureichend.Die von Ihnen vorgeschlagene Möglichkeit der Über-tragung auf die Deutsche Rentenversicherung Bund istso ausgestaltet, dass es sehr schwierig ist, sie in An-spruch zu nehmen. Im Prinzip muss ein Arbeitnehmerein Guthaben in der Größenordnung einer Jahresfreistel-lung angesammelt haben, um es übertragen zu können,und dann bleibt es gebunden.
In Ihrem Gesetzentwurf gehen Sie überhaupt nichtauf die Frage ein: Was geschieht, wenn Arbeitnehmer,die bei der Deutschen Rentenversicherung Bund einWertguthaben haben, in ALG-II-Bezug fallen? Sind siedann gezwungen, ihr Guthaben aufzulösen, oder könnensie es, wie sie vielleicht geplant haben, behalten, umeher in Rente gehen zu können? Das ist ein Problem, zudem Sie sich auf alle Fälle klar äußern müssen. Wir den-ken, dass an diesem Gesetzentwurf noch viel zu tun ist,damit dabei etwas Vernünftiges herauskommt. Wir sindgern bereit, Ihnen dabei zu helfen.Danke.
Ich gebe das Wort der Kollegin Brigitte Pothmer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichfinde den Ansatz dieses Gesetzentwurfes richtig. Be-schäftigte brauchen mehr Zeitsouveränität. Das wird üb-rigens dann besonders wichtig sein, wenn wir endlichernsthaft darangehen, Frauen stärker in den Arbeits-markt zu integrieren.
Wir wissen, dass Frauen nicht bereit sind, zu jedenBedingungen, die Männer geschaffen haben, in den Ar-beitsmarkt einzutreten.
Deswegen brauchen wir dringend eine größere Zeitsou-veränität. Flexibilität darf keine Einbahnstraße zulastender Beschäftigten sein.
Sie haben hier einen Gesetzentwurf vorgelegt und sa-gen, dass Sie in diesem Bereich mehr Rechtssicherheiterreichen wollen. Ich finde, dass Sie das hinsichtlich ho-her Zeitwertguthaben tatsächlich auch schaffen, währenddies für niedrige Zeitwertguthaben aber eben nicht derFall ist. Nach Ihren Vorschlägen bleiben wir also bei derheutigen Situation, nämlich einer, wenn Sie so wollen,Klassengesellschaft bei den Langzeitarbeitskonten.
Ihre Vorstellung ist, dass nur die Zeitguthaben vor ei-ner Insolvenz geschützt sind, die einen Wert von unge-fähr 7 455 Euro überschreiten und zugleich einen Aus-gleichszeitraum von mindestens 27 Monaten umfassen.Warum ist das Geld unterhalb dieser Größenordnung,das die Menschen eingezahlt haben, eigentlich nichtschützenswert?
Warum ist nicht auch das Geld schützenswert, das einenAusgleichszeitraum von 27 Monaten nicht umfasst?
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Brigitte PothmerGlauben Sie wirklich, dass eine erquickliche Zahl vonBeschäftigten dieses Risiko eingeht und sich damit ab-findet, dass das Geld bis zu dieser Größenordnung nichtgeschützt ist? Das muss man doch erst einmal angesparthaben.Wenn die Menschen zum Beispiel für eine Fort- undWeiterbildung Geld ansparen, dann bleiben sie eigent-lich immer unterhalb dieser Größenordnung. DieseWertguthaben sind nach wie vor ungeschützt. Das kön-nen Sie eigentlich nicht wirklich vertreten wollen. Dasist keine qualitative Verbesserung im Vergleich zur Ist-situation.
Das WSI geht davon aus, dass ein Viertel aller Wert-guthaben weiterhin ungeschützt bleiben wird. Ichglaube, dadurch wird sich die Gruppe derjenigen, diesich an diesem Projekt beteiligen, erheblich minimieren.Das Geld derjenigen, die diese hohen Hürden überwun-den haben, ist zwar im Prinzip insolvenzgeschützt, aberauch für sie wird es im Falle einer Insolvenz nicht leichtsein, dieses Geld aus dem insolventen Betrieb tatsäch-lich auch herauszuholen.Wenn ein Arbeitgeber dieses Geld nicht hinreichendschützt, dann gibt es keine Sanktionsmöglichkeiten ge-gen ihn; das hat keine Konsequenzen, außer der Tatsa-che, dass das Konto aufgelöst wird.
Im positiven Falle erhält die Person das Geld möglicher-weise zurück, aber mit ihren Planungen hinsichtlich ei-ner Weiterbildung, einer Auszeit für die Familie oder ei-nes Sabbatjahrs etc. ist es vorbei. Sie hat eben Pechgehabt.
Ich will Ihnen einmal sagen, für wen dieses Kontowirklich etwas bringt – damit zeigt sich auch, für welcheGruppe Sie Politik machen –: Dieses Konto ist etwas fürden Facharbeiter, der lange Zeit in einem Betrieb war– zum Beispiel bei Mercedes-Benz – und dieses Wert-guthaben bzw. Zeitguthaben anlegt, um den Übergang inden Ruhestand zu gestalten. Für ihn machen Sie Politik.
Eine junge Frau, die zum Beispiel ihren Arbeitgebermehrfach wechselt – wir alle wissen, dass sich das Ar-beitsleben insoweit geändert hat, als dass man denArbeitgeber im Regelfall häufiger wechselt –, deren Ar-beitgeber nicht damit einverstanden ist, dieses Wertgut-haben zu übernehmen, und die eigentlich geplant hatte,zum Beispiel die Familienphase – die sogenannte Rush-hour des Lebens – ein bisschen zu entzerren, steht ge-nauso wie vorher da. Das ist wirklich eine Politik fürmännliche Facharbeiter.
Wir wollen eine echte Übertragbarkeit bei Arbeitge-berwechsel, und wir wollen auch, dass die Ansprüchebei Freistellungen tatsächlich realisiert werden können.Ich hoffe, dass wir in den Ausschussberatungen nochein bisschen nachlegen und das noch ein wenig verbes-sern können. In der Sache müssen wir einfach weiter vo-rankommen, als dieser Gesetzentwurf vorsieht.Ich danke Ihnen.
Für die SPD-Fraktion gebe ich dem Kollegen
Wolfgang Grotthaus das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Der eingebrachte Gesetzentwurf ist schon al-leine deswegen gut, weil wir uns schon vor der erstenBeratung sehr intensiv mit den Details beschäftigt ha-ben.Lassen Sie mich zunächst von meinem Redekonzeptabgehen. Ich möchte einiges aus meiner Sicht klarstel-len, der ich ungefähr 16 Jahre mit Flexikonten in Gleit-zeit gearbeitet habe. Erstens ist tatsächlich richtig, FrauPothmer,
dass über eine Betriebsvereinbarung geregelt werdenkann, dass im Falle der Überschreitung der in der Be-triebsvereinbarung vorgegebenen Arbeitszeit – in unse-rem Fall waren es zehn Stunden – der Überhang einemLangzeitarbeitskonto zugeführt werden kann.
Das ist aber von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich.Wir können eine solche Regelung nicht in den Ge-setzentwurf aufnehmen; es ist andernorts zu regeln. DieIG BCE hat das schon in Tarifverhandlungen umgesetztund entsprechende Richtlinien festgesetzt, sodass wir dieFlexibilität der Tarifvertragsparteien ruhig einfordernkönnen.Zweitens. Ich finde es an den Haaren herbeigezogen,wenn Frau Dr. Höll fragt, wie mit den ALG-II-Empfän-gern verfahren wird.
Zunächst einmal erhält man ALG I.
Ich unterstelle einmal, dass ein ALG-I-Empfänger miteiner vernünftigen Ratio, der über ein entsprechendesGuthaben mit geldwerten Vorteilen verfügt und dieHoffnung hat, innerhalb der nächsten drei bis vier Mo-
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Wolfgang Grotthausnate wieder in Arbeit zu kommen, bereit ist, zunächst aufsein Konto zurückzugreifen, um keine sozialen Einbu-ßen zu erleiden.Sie gehen im Übrigen davon aus, dass er während desBezugs von ALG I weiterhin nicht auf das Konto zu-rückgreift und insofern bewusst die sozialen Einbußen inKauf nimmt. Das widerspricht meinen Erfahrungen mitder Reaktion von Menschen, die auf einmal wenigerGeld zur Verfügung haben als während ihrer Berufstätig-keit.
Herr Kollege Grotthaus, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Höll?
Aber gerne.
Herr Kollege, man kann sich auch darüber streiten,
inwieweit die Ratio maßgeblichen Einfluss auf be-
stimmte Entscheidungen hat, die wir Politiker mit ent-
sprechenden Mehrheiten in diesem Hause treffen.
Es kann aber durchaus sein – ich finde, das muss im
Gesetzentwurf klargestellt werden –, dass jemand aus
bestimmten Gründen nur bis zum 60. Lebensjahr arbei-
ten will oder kann und dafür ein Wertguthabenkonto an-
gespart hat. Wenn er dann vielleicht mit 50 Jahren kein
ALG I mehr bekommt und zwei oder drei Monate
ALG II bezieht, aber sein Wertguthabenkonto nicht an-
greifen will, dann ist die Gesetzgebung in der Pflicht, für
Klarheit zu sorgen: Muss das Vermögen aufgezehrt wer-
den, oder darf man darüber verfügen und ist nicht ge-
zwungen, es aufzubrauchen, bevor man dies möchte?
Wie wir in dieser Frage mit welchen Mehrheiten ent-
scheiden, wird sich zeigen. Aber im Gesetzentwurf muss
dieser Punkt klargestellt werden. Ich finde, das ist nicht
zu viel verlangt. Ich hoffe, insofern stimmen Sie mir zu.
Nein, ich gehe davon aus, dass diese Klarstellungschon an anderer Stelle im Sozialgesetzbuch erfolgt ist,nämlich dass zunächst das vorhandene Vermögen – egalin welcher Form – aufgebraucht werden muss. Von da-her gehe ich davon aus, dass dies auch für die angesparteZeit zu gelten hat. Insofern muss nicht eigens betontwerden, wie in dieser Frage zu verfahren ist.Ich glaube nicht, dass mit der Benennung der im Ge-setzentwurf vorgesehenen Regelungen heute allen klarwird, welche positiven und langfristigen Auswirkungendas Gesetz auf die Zeitsouveränität von Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmern haben wird. Ich habe eben schonausgeführt, dass flexible Arbeitszeiten Kennzeichen un-serer modernen Arbeitswelt sind und dass viele Arbeit-nehmer und Arbeitgeber dies für unverzichtbar halten.Das Flexi-Gesetz hat einige Unwägbarkeiten aufge-wiesen. Es gab Unsicherheiten beim Ansparen vonLangzeitarbeitskonten. Der vorgelegte Gesetzentwurfsieht vor, dass die Langzeitarbeitskonten insolvenzge-schützt sein müssen. Es besteht nun eine Sanktionsmög-lichkeit, wenn der Arbeitgeber den Insolvenzschutznicht gewährleistet. Es ist gesetzlich geregelt, dass es zueiner externen Prüfung kommt, dass also außerhalb desBetriebes Stehende prüfen, ob der Insolvenzschutz gege-ben ist. Eine weitere Absicherung der durch den Arbeit-nehmer erarbeiteten Zeit besteht darin, dass eine Rück-abwicklung des Langzeitarbeitskontos möglich wird,wenn der Arbeitgeber seinen Verpflichtungen zum Insol-venzschutz nicht nachgekommen ist. Das bedeutet, dasshier im Gegensatz zu vorher keine Verluste für die Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer entstehen.Des Weiteren hat der Arbeitnehmer ein einklagbaresRecht auf Schadenersatz, wenn etwas mit seinem Ar-beitszeitkonto passiert, was nicht der Rechtslage ent-spricht. Auch dies ist bislang rechtlich nicht abgesichert.Die Portabilität wird ermöglicht. Für uns ist von großerWichtigkeit, dass die Sozialversicherungsbeiträge aufdas angesparte Zeit- oder Geldguthaben zu zahlen sind.Dies bedeutet, dass es in Zukunft eine größere Sicherheitin Bezug auf die Rente geben wird.
Ich sage aber auch: Nichts ist so gut, als dass es nichtverbessert werden kann. Wir reklamieren zumindest füruns das Struck’sche Gesetz. Wir fragen, ob das Wertgut-haben erst ab dem Dreifachen der monatlichen Bezugs-größe abzusichern ist. Wir können uns vorstellen, dassder im Gesetzentwurf genannte Zeitraum von 27 Mona-ten verkürzt wird.
Wir können uns zudem vorstellen, dass der für West-deutschland geltende Wert in Höhe von 29 800 Euro fürdie Portabilität eines Wertguthabens reduziert wird, so-dass wir Ihrem Petitum, hier flexibler zu sein, entgegen-kommen könnten.
– Sehen Sie, Frau Pothmer, dann fällt es Ihnen leichter,in der zweiten und dritten Lesung dem Gesetzentwurfvollen Herzens zuzustimmen.Wir begrüßen, dass im Gesetzentwurf klar festge-schrieben wird, für welche Zwecke das Wertguthabengenutzt werden kann. Wir sind der Auffassung, dass diedarüber hinausgehenden Zwecke, die nicht im Gesetzfestgeschrieben sind, durch die Tarifvertragsparteien ge-regelt werden können. Wir wissen, dass dieses Gesetzerst spät greifen wird. Wir brauchen eine lange Anlauf-zeit, um den Menschen zu sagen, was wir damit errei-chen wollen. Deshalb müssen wir nach der zweiten unddritten Lesung für dieses Gesetz werben, und zwar nicht
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19079
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Wolfgang Grotthausnur bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, son-dern auch bei den Arbeitgeberverbänden, den Gewerk-schaften, den Betriebsräten und den Arbeitgebern selber,sodass die Menschen deutlich sehen: Die Flexibilitätwird erhöht.
Herr Kollege!
Ich komme zum Ende. – Die Möglichkeit zu haben,
kurzfristig über ein Zeitguthaben zu verfügen und es zu
nutzen, wenn familiäre Bedürfnisse es erforderlich ma-
chen, ist ebenfalls wichtig.
Das Gesetz ist gut. Ich gehe davon aus, dass wir nach
einer langen Diskussion in diesem Jahr den Gesetzent-
wurf gemeinsam verabschieden werden.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Klaus-Peter Flosbach, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich begrüße die große Harmonie, die bei diesem Gesetzherrscht,
und die Bestätigung von allen Seiten, dass es sich um einsehr wichtiges Gesetz handelt. Ich pflichte Ihnen bei,Herr Minister, dass es sich um eines der modernsten Ge-setze dieser Zeit handelt. Ich glaube, dass uns diesesThema noch viele Jahre begleiten wird. In diesem Ge-setz ist sicherlich nicht alles geregelt, was wir uns der-zeit wünschen. Aber Lebensarbeitszeitkonten stellen fürden Arbeitnehmer ein besonders flexibles Instrumentdar, sich während seines Arbeitslebens seine Wünschezu erfüllen. Wir haben diesen Gesetzentwurf erarbeitet,weil wir all die Jahre einen Schwachpunkt gesehen ha-ben: den Insolvenzschutz der Arbeitnehmer. Das wich-tigste Anliegen war, dies im Gesetzentwurf zu regeln;denn bisher war im Insolvenzfall das Vermögen demArbeitgeber zugeordnet. Der Arbeitnehmer verlor imGrunde sein gesamtes Vermögen. Wir haben in derKoalition mit dieser Regierungsvorlage erreicht, dassder Arbeitnehmer geschützt ist.Ich möchte ein anderes Thema ansprechen. Lautaktuellen Untersuchungen verbinden 74 Prozent der Ar-beitnehmer das Thema „Übergang vom Erwerbsleben inden Ruhestand“ mit diesem Gesetz.Weil dieses Thema ein wichtiges Thema für die Ar-beitnehmer ist, auch wegen der Rente mit 67, die wir mitdem Jahr 2029 erreichen, führen wir diese Debatte. Wirals Koalition können sagen: Wir haben nicht nur dieRente mit 67 eingeführt, weil wir langfristig orientiertsind, sondern wir wollen auch bei der Frage langfristigorientiert sein, wo flexible Übergänge möglich sind.
Wenn also der Arbeitnehmer auf Arbeitslohn verzich-tet, ist es für ihn natürlich besonders wichtig, zu wissen,was seinem Lebensarbeitszeitkonto gutgeschriebenwird. Hier unterstützen wir den Arbeitnehmer doppelt:Erstens werden bekanntlich die Sozialversicherungsbei-träge erst dann erhoben, wenn aus dem Guthaben ent-nommen wird und das Geld wirklich im Portemonnaiedes Arbeitnehmers landet. Das gilt ebenso für die Be-steuerung. Erst wenn das Geld auf seinem Konto landet,erfolgt die Besteuerung. Das heißt also: Mit diesem Zeit-konto kann sich der Arbeitnehmer ein Stück Flexibilitätin seiner Lebensplanung erfüllen. Die Koalitionsparteienwollen die Arbeitnehmer mit diesen Rahmenbedingun-gen unterstützen.Zweitens möchte ich auf die steuerliche Seite einge-hen; denn ich bin Mitglied des Finanzausschusses, undwir werden dieses Thema auch im Jahressteuergesetz2009 parallel beraten. Auch wenn der Arbeitnehmer denBetrieb verlässt, zu einem neuen Arbeitgeber wechseltund der Arbeitgeber das Guthaben fortführt, wird dasGuthaben nicht versteuert. Ist der Arbeitnehmer nichtbeschäftigt oder macht er sich beispielsweise selbststän-dig, dann wird das Guthaben auf die Deutsche Renten-versicherung Bund übertragen. Auch hier gilt genau dasGleiche: Die Besteuerung setzt erst ein, wenn das Gutha-ben abgerufen wird. Es ist natürlich fraglich – das istauch von Vorrednern angesprochen worden –, ob es rich-tig ist, dass dieses Guthaben auf Dauer bei der Renten-versicherung Bund verbleiben soll, und ob es dort gutangelegt ist. Warum muss ein Arbeitnehmer, wenn erwieder in Arbeit ist, ein neues Lebensarbeitszeitkontoeröffnen? Das sollte im Rahmen der weiteren Beratun-gen überprüft werden.
Ein zentrales Thema für den Arbeitnehmer ist dieSicherheit und die Qualität der Anlage. Die Frage wirdnatürlich gestellt, wie das Geld angelegt wird und wie si-cher und ertragreich die Anlage ist.
Wichtig ist, dass das Guthaben vom Vermögen des Ar-beitgebers getrennt ist. Dafür haben wir normalerweiseirgendeinen Treuhänder oder einen sonstigen Dritten,der das Guthaben verwaltet. Ich finde es allerdings be-denklich, wie die Anlagevorschriften gewählt wordensind und welche Begrenzungen vorgenommen wordensind. Nehmen wir als Partner zum Beispiel die Versiche-rungsgesellschaften, die ohnehin einer scharfen Kon-trolle durch das Versicherungsaufsichtsgesetz und nunauch den schärferen Anlagevorschriften unterliegen sol-len. Auch die Versicherungsgesellschaften, die Garan-tien geben, unterliegen dann schärferen Anlagevor-schriften als bisher. Versicherungsgesellschaften können
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Klaus-Peter Flosbachbekanntlich bis zu 30 Prozent ihrer Anlagen in Aktienhalten. Hier werden sie aber auf 20 Prozent begrenzt.Das hat natürlich nichts mit spekulativen Anlagen zutun. Wenn wir bedenken, dass viele Arbeitnehmer eherlangfristig orientiert sind, dann kommt es darauf an, dasswir eine vernünftige Vermögensstreuung haben. Geradein diesem Bereich gehören, wenn man vernünftige Er-gebnisse erzielen will, auch konservative, breit gestreuteAktienanlagen dazu. Es handelt sich hier nicht um kurz-fristige, spekulative Anlagen. Denken wir nur einmal andie Riester-Rente. Selbst die Riester-Rente ermöglichtes, in Aktienfonds zu investieren. Deswegen sollten wirhier nicht zu enge Maßstäbe anlegen.
Ich komme zum Schluss. Das Gesetz bringt deutlicheVerbesserungen für die Arbeitnehmer. Es konkretisiertdie Pflichten zur Führung von Arbeitszeitkonten undverbessert den Insolvenzschutz. Wir tun etwas für dieArbeitnehmer und sind in der Koalition mit diesem Ge-setz auf dem richtigen Weg.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/10289 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
– zu dem Antrag der Abgeordneten Jörg Rohde,
Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Altersvorsorge für Geringverdiener attrak-
tiv gestalten
– zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst,
Dr. Lothar Bisky, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Riesterrente auf den Prüfstand stellen
– Drucksachen 16/7177, 16/8495, 16/10356 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Gabriele Hiller-Ohm, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegen von der FDP, mit Ihrem Antrag, auf den ich
jetzt eingehen möchte, wollen Sie die Altersvorsorge für
Geringverdiener attraktiv gestalten.
Ob Sie damit allerdings das Alter für Geringverdiener at-
traktiv gestalten, bezweifle ich. Warum, werde ich Ihnen
gern erklären.
Sie möchten erstens, dass Empfängerinnen und Emp-
fänger von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbs-
minderung mehr hinzuverdienen können. Sie wollen die
Anrechnungsregelungen an die des Zweiten Buches So-
zialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende –
angleichen. Im Ausschuss begründeten Sie Ihren Antrag
mit den Worten: So senken wir Altersarmut.
Liebe Kollegen von der FDP, so einfach ist das leider
nicht. Sie packen das Problem der Altersarmut nämlich
nicht an der Wurzel, sondern doktern an den Symptomen
herum. Wir von der SPD-Fraktion
machen das anders. Wir setzen uns dafür ein, dass Al-
tersarmut erst gar nicht entsteht.
Wer gute Arbeit hat und einen fairen Lohn erhält, dem
wird die Grundsicherung im Alter als letztes soziales
Auffangnetz erspart bleiben. Deshalb kämpfen wir ent-
schlossen für gute Arbeit und für Mindestlöhne.
Deshalb ist es uns so wichtig, dass ältere Menschen nicht
vorzeitig aus dem Arbeitsprozess aussortiert und zum al-
ten Eisen geworfen werden.
Frau Kollegin Hiller-Ohm, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Kolb?
Nein, ich möchte jetzt gern fortfahren.
– Sie haben nachher noch Gelegenheit, sich zu äußern.Deshalb erarbeiten wir Vorschläge für flexible Über-gänge aus dem Erwerbsleben in die Rente. Dazu gehörendie Fortführung der von der Bundesagentur gefördertenAltersteilzeit oder die Weiterentwicklung der Teilrente.Einen wichtigen Beitrag leisten auch der eben diskutierteInsolvenzschutz für Arbeitszeitkonten und die Möglich-keit, solche Konten mitzunehmen.Schade, liebe FDP, dass Sie sich gerade beim Min-destlohn so hartnäckig verweigern. Hier könnten Sie tat-
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Gabriele Hiller-Ohmsächlich etwas gegen Altersarmut und für ein besseresLeben vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tun.
Aber was machen Sie?
Sie wollen Rentnerinnen und Rentner zur Aufbesserungihrer Grundsicherung im Alter weiter zur Arbeit schi-cken nach dem Motto: Verdient euch etwas dazu! Werkaputt ist und dies im Alter nicht mehr kann, hat ebenPech gehabt.
Es ist selbstverständlich nicht verboten, im Rentenal-ter zu arbeiten. Auch wenn man Grundsicherung erhält,ist dies möglich. Aktuell sind etwa 176 Euro anrech-nungsfrei. Erwerbsfähige Menschen im Arbeitslosen-geld-II-Bezug haben höhere Hinzuverdienstmöglichkei-ten, und das ist richtig so; denn sie müssen sich denHerausforderungen des Erwerbslebens noch stellen.Ich komme zur zweiten Forderung in Ihrem Antrag.Sie schlagen vor, die Anrechnung von Einkommen ausprivater und betrieblicher Altersvorsorge entsprechendden Regeln für die Anrechnung von Erwerbseinkommenzu behandeln.
Mit anderen Worten: Wer fleißig privat vorsorgt, soll imAlter belohnt werden.
Dies müsse auch für die Menschen gelten, argumentie-ren Sie, die sich keine auskömmliche Altersrente auf-bauen könnten und auf staatliche Leistungen im Alterangewiesen seien. Sie sollen einen Teil ihrer Riester-Rente behalten dürfen.Das scheint auf den ersten Blick gerecht zu sein.
Die meisten Menschen mit kleinem Einkommen odergebrochener Erwerbsbiografie müssen sich die Raten fürihre private Altersvorsorge oft mühevoll vom Mund ab-sparen,
während Nichtsparer ihr Geld in den Konsum steckenkönnen. Am Ende erhalten beide die gleiche staatlicheAltersrente.
Im Mai haben wir eine Expertenanhörung zu diesemThema durchgeführt. Bei dieser Anhörung sind guteGründe genannt worden, warum wir bei der heutigenRegelung bleiben sollten. Unser Sozialsystem beruht aufdem sogenannten Nachranggrundsatz. Er sieht vor, dassalle Anstrengungen zu unternehmen sind, den Lebensun-terhalt aus eigenen Mitteln zu bestreiten, bevor Sozial-hilfeleistungen in Anspruch genommen werden können.Die Grundsicherung ist eine Sozialhilfeleistung. Deshalbmuss bis auf einen kleinen Schonbehalt alles an privatemVermögen aufgebraucht werden, bevor Grundsicherungin Anspruch genommen werden kann. Alle erworbenenAnsprüche aus vorgelagerten sozialen Sicherungssyste-men werden einbezogen. Dazu zählt natürlich auch diegesetzliche Rentenversicherung.Für nicht begründbar halten wir, warum die gesetzli-che Rente anders als die private behandelt werden soll.Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung sol-len voll auf die Grundsicherung angerechnet werden.Die private Riester-Rente hingegen soll teilweise an-rechnungsfrei bleiben. Aus Gleichbehandlungsgründen,aber auch, um eine Diskriminierung der gesetzlichenRentenversicherung zu vermeiden, müssten dann gesetz-liche Renten ebenfalls in gleicher Weise anrechnungsfreibleiben; das wäre logisch. Damit stiege aber die Zahl derbegünstigten Personen der Grundsicherung im Alterstark an – mit den entsprechenden finanziellen Folgen.Als schwierig sehe ich darüber hinaus die unter-schiedliche Verbreitung von privater und betrieblicherRente an. Leider greift die individuelle Altersvorsorgebei Frauen und in den neuen Bundesländern immer nochweniger. Hier gilt es, die Benachteiligung dieser Perso-nen zu beseitigen.Liebe Kollegen von der FDP, ich komme zu Ihrer drit-ten Forderung. Sie wollen das liberale Bürgergeld ausdem Jahre 2005 wieder aufwärmen und setzen damitnoch eines drauf. Mit Ihrem sogenannten Bürgergeld se-hen Sie vor, die Freibeträge nochmals großzügig anzuhe-ben. Diese Freibeträge sollen außerdem für das Zwölfteund Zweite Sozialgesetzbuch gleichermaßen gelten. Wiehoch das Finanzierungsvolumen sein wird und wie Siees aufbringen wollen, dazu schwiegen Sie damals undschweigen Sie heute.
Von Ihnen werden lediglich erhebliche Minderausgabendurch den vermeintlichen Wegfall ganzer Behörden un-terstellt. Das ist keine seriöse Rechnung.
Meine Damen und Herren, ich habe aufgezeigt, wa-rum der FDP-Antrag für die Altersvorsorge von Gering-verdienern keinerlei wegweisende Ideen liefert. Wir leh-nen den Antrag deshalb ab. Dem Antrag der Linken wirdes nicht besser ergehen. Meine Kollegin Lydia Westrichwird dies für die SPD-Fraktion begründen.
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Kolb.
Frau Kollegin Hiller-Ohm, Sie haben in Ihrer Rededavon gesprochen, der beste Schutz vor Altersarmut seidie Einführung von Mindestlöhnen. Meine Zwischen-
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Dr. Heinrich L. Kolbfrage haben Sie nicht zugelassen. Weil Sie ja auf seriöseRechnungen wert legen, wollte ich Sie nur darauf auf-merksam machen, dass derjenige, der 40 Jahre lang füreinen Mindestlohn von 7,50 Euro arbeitete, am Ende ei-nen Rentenanspruch von 540 Euro hätte; wer 45 Jahrelang auf dieser Basis gearbeitet hätte, bekäme 603 Euro.Das ist deutlich weniger als die Grundsicherung im Alterund bedeutet nach unserem Verständnis also Altersar-mut.
– Ich wollte diese Frage an die SPD richten: Ist Ihre neueMesslatte für einen flächendeckenden Mindestlohn jetztnicht mehr 7,50 Euro, sondern, was sich rechnerischeher ergäbe, 9 Euro? Vielleicht können Sie mir das in Ih-rer Antwort auf meine Kurzintervention schnell sagen.
Frau Kollegin, bitte.
Herr Kollege, ich stimme Ihnen zu: Der Mindestlohn
allein wird das Problem nicht lösen. Er ist aber ein Mittel
auf dem Weg zu einer Problemlösung. Wir brauchen
nicht nur Mindestlöhne, sondern gute Löhne.
Der Mindestlohn ist die untere Absicherung und soll
nicht das Ende der Fahnenstange sein. Aber wir hoffen
und kämpfen dafür, dass die Tarifparteien sich auf gute
Lohnabschlüsse einigen. Dann ginge es den Menschen
besser; das wollen wir doch. Der Mindestlohn ist die un-
tere Auffanglinie, an der Schluss sein muss.
Es gibt ja heute Löhne, die noch weit unter 7,50 Euro
liegen. Was ist denn mit diesen Menschen? Diese wer-
den niemals eine Chance haben, im Alter aus der Grund-
sicherung herauszukommen. Das wird nur mit guten
Löhnen für gute Arbeit gelingen. Deshalb kämpfen wir
darum und setzen uns dafür so sehr ein. Ich hoffe, dass
auch Sie noch einmal in sich gehen und uns in dieser für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutsch-
land wichtigen Frage unterstützen.
Nächster Redner ist der Kollege Jörg Rohde, FDP-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Frau Hiller-Ohm, Sie haben knapp das Themaverfehlt. Statt hier über ein Problem zu reden, das Mil-lionen von Menschen haben, sind Sie ausgewichen undhaben keine Antwort gegeben.
Seit zwei Jahrzehnten ist klar, dass die gesetzlicheumlagefinanzierte Rente auf Basis des Generationenver-trages ein Auslaufmodell ist.
2001 hat man mit Einführung der Riester-Rente erstmalsdarauf reagiert.
Die Einführung der Riester-Rente war ein erster Schrittin die richtige Richtung: weg von der alleinigen Alterssi-cherung durch die gesetzliche Rente hin zu einer Drei-säulenabsicherung mit der Säule gesetzliche Rente zurSicherung des Grundbedarfs und den Säulen private undbetriebliche Vorsorge zur Absicherung des Lebensstan-dards.
Leider sind sowohl die rot-grüne Vorgängerregierung alsauch die aktuelle Große Koalition nicht lange auf diesemWeg geblieben.Die betriebliche und private Vorsorge haben längstnicht das Niveau erreicht, das nötig wäre, und die umlage-finanzierte gesetzliche Rentenversicherung verschlingtnach wie vor Steuermittel in gigantischem Umfang. Alles,was in den vergangenen Jahren an vermeintlichen Refor-men folgte, war nichts anderes als die Verschlimmbesse-rei einer nicht mehr zeitgemäßen Form der Alterssiche-rung.
Auch bei der Riester-Rente haben Sie sich große Feh-ler erlaubt. Einen ganz entscheidenden Systemfehler derRiester-Rente möchten wir von der FDP mit unseremheute zur Schlussabstimmung stehenden Antrag korri-gieren. Leider haben alle Fraktionen des Bundestagesschon in den Ausschussberatungen angekündigt, gegenunseren Antrag und auch gegen die Meinung der über-wiegenden Zahl der Experten in der Anhörung zu unse-rem Antrag zu stimmen.
Rot und Grün wollen uns nicht folgen, weil sie den fol-genreichen Konstruktionsfehler der Riester-Rente nichteingestehen wollen. CDU und CSU schweigen trotz bes-seres Wissen vieler Kollegen aus Gründen der Koali-tionsdisziplin, und den Damen und Herren von Links-außen geht unser Antrag nicht weit genug.
Sachliche Argumente hat leider niemand von Ihnen.Der Grundgedanke der Riester-Rente ist folgender:Wer privat zusätzlich vorsorgt, um später im Alter einenhöheren Lebensstandard zu haben und nicht auf staatli-che Unterstützung angewiesen zu sein, wird dafür vomStaat mit einem nicht unerheblichen Zuschuss gefördert.So weit, so gut, meine Damen und Herren. Nun hat sich
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Jörg Rohdejedoch herausgestellt, dass eine Gruppe von Rentnernnicht in den Genuss einer Riester-Rente kommt, selbstwenn sie einmal Jahrzehnte lang in einen Riester-Vertrageingezahlt haben werden: Denn bei allen Rentnerinnenund Rentnern, deren gesetzliche Rente so gering ist, dasssie zusätzlich auf Grundsicherung im Alter angewiesensind, wird der Riester-Renten-Anspruch uneingeschränktauf die Grundsicherung angerechnet. Die Riester-Rentedieser Menschen wird komplett vom Grundsicherungs-träger vereinnahmt. Sie erhalten keinen einzigen Centmehr als alle anderen Rentner, die nicht privat vorge-sorgt haben. Werte Kolleginnen und Kollegen hier imDeutschen Bundestag, das ist eine Sauerei ungeheurenAusmaßes.
Gerade die Menschen, die aus welchen Gründen auchimmer über ein sehr niedriges Einkommen verfügen unddennoch etwas fürs Alter zurücklegen, werden rückwir-kend dafür bestraft, indem man ihre Riester-Rente zu100 Prozent vom Grundsicherungsanspruch abzieht.Dieses Signal ist verheerend. Es zerstört jedes Vertrauenin die staatlich geforderte und geförderte Riester-Rente.Gerade für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkom-men ist nämlich angesichts des sinkenden Rentenniveausbei der gesetzlichen Rente private und betriebliche Vor-sorge unerlässlich. All diesen Menschen sagen Sie vonCDU, CSU, SPD und Grünen heute: Wenn ihr keineAussicht mehr auf eine Rente über Grundsicherungs-niveau habt, braucht ihr auch nicht privat vorzusorgen;denn der Sozialhilfeträger kassiert es eh ein; und wennihr schon gespart habt, dann kündigt einfach euren Ver-trag und verzichtet auf die bis zu 92 Prozent staatlichenZuschüsse. Dann bleiben euch wenigstens die paar Euro,die ihr sonst selbst eingezahlt habt. – Das ist die Bot-schaft an die Menschen, die Sie von Union, SPD undGrünen heute aussenden.
Die FDP hat eine einfachere Botschaft: Die Formel„Wer spart, muss mehr haben als der, der nicht spart“muss gelten.
Wer die Menschen zu privater und betrieblicher Vor-sorge ermuntern möchte, muss auch garantieren, dasssich das Engerschnallen des Gürtels später auszahlt.
Das ist auch der grundlegende Unterschied, FrauHiller-Ohm: Die freiwillige Einzahlung in die Riester-Rente muss geschützt werden. Die gesetzliche Verpflich-tung zur gesetzlichen Rentenversicherung ist allerdingsgegeben, und insofern ist es ein klarer Unterschied zwi-schen freiwilliger Leistung und verpflichtender Leis-tung. Deswegen fordern wir eine unbürokratische Frei-betragsregelung für Betriebs- und Riester-Rentner, dieauf Grundsicherung angewiesen sind.Der Vorschlag der FDP lautet: Jeder Bezieher vonGrundsicherung soll zusätzlich bis zu einer Höhe von100 Euro monatlich anrechnungsfrei eine Betriebs- oderRiester-Rente beziehen können.
Darüber hinausgehende Ansprüche bis 800 Euro monat-lich bleiben zu 20 Prozent und Ansprüche bis1 200 Euro zu 10 Prozent anrechnungsfrei.Liebe Kolleginnen und Kollegen im Bundestag, die-ser Vorschlag der FDP ist nicht nur sozialpolitisch drin-gend zur Umsetzung empfohlen, sondern auch ord-nungspolitisch.
Ich weiß, dass dies den Kolleginnen und Kollegenlinks der Mitte zumeist egal ist, aber wenigstens von derUnion hätte ich mir etwas Unterstützung gewünscht.Denn es gibt keinen Grund dafür, dass die Grenzen beider Grundsicherung im Alter enger gesteckt sein sollenals beispielsweise bei ALG-II-Empfängern, also arbeits-losen Erwerbsfähigen. Wir von der FDP wollen, dass füralle Menschen, die auf staatliche Unterstützung ange-wiesen sind, gilt: Tragt dazu bei, diesen Zustand zu über-winden.
Wir honorieren dies, indem wir euch Hinzuverdienstezumindest teilweise belassen.
Unterschätzen Sie nicht die Zahl derer, auf die in dennächsten Jahren mein gerade skizziertes Szenario zutref-fen wird. Denn glücklicherweise sorgen immer mehrMenschen zusätzlich für das Alter vor. Darunter sindauch viele Geringverdiener und Menschen mit unterbro-chenen Erwerbsbiografien. All diesen Menschen sagenSie wahrscheinlich heute ins Gesicht: Du machst dichzwar für die Riester-Rente krumm, aber profitieren wirstdu davon nicht.In diesem Haus wird völlig zu Recht häufig über dasThema Altersarmut geredet. Heute können Sie mit ei-nem einfachen Ja zu unserem Antrag einen großen Bei-trag gegen die in einigen Jahren drohende Altersarmutvieler Menschen leisten. Nehmen Sie diese Chancewahr, meine Damen und Herren! Stimmen Sie dem An-trag der FDP zu!Zum Antrag der Linken. Wir haben genügend Daten,die belegen, dass wir die Riester-Rente nicht auf denPrüfstand stellen müssen.
Deswegen können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen.Vielen Dank, meine Damen und Herren.
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Ich gebe dem Kollegen Peter Weiß von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer inDeutschland interessiert vor allen Dingen eine Frage:
Wie soll ich mich verhalten, damit Altersarmut für micheines Tages tatsächlich vermieden wird und ein Fremd-wort bleibt? – Auf diese Frage wollen sie eine ehrliche,konkrete Antwort haben.
Diese Antwort kann nur heißen: Zusätzliche Alters-vorsorge zur Ergänzung der gesetzlichen Rente schütztam besten gegen Altersarmut.
Wenn wir als Parlamentarier gegenüber den Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmern in diesem Land, diediese ernsthafte Frage stellen, verantwortlich handelnwollen, dann sollten wir alles vermeiden, was diese Ant-wort verunklart und die Menschen verunsichert. Wirsollten ihnen eine klare und verlässliche Antwort geben,und die heißt eben: Zusätzliche Altersvorsorge ist derbeste Weg, um sich vor Altersarmut zu schützen. – Aufdiesem Wege sollten sich die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer in Deutschland nicht verunsichern lassen.
Die Umstellung der deutschen Altersvorsorge auf einDreisäulensystem aus gesetzlicher Rente – diese wirdbedeutsam bleiben, und Sie, Herr Rohde, sollten sie nichtkaputtreden, wie Sie es gerade eben gemacht haben –,
aus betrieblicher Altersvorsorge und aus privater kapital-gedeckter Vorsorge ist notwendig, um den demografi-schen Wandel zu bewältigen und um mehr Sicherheit imAlter zu gewährleisten.Übrigens: Obwohl es einige Jahre gebraucht hat, istdiese Botschaft bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmern in Deutschland mittlerweile angekommen.Denn sie handeln entsprechend.
Die Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, diesich eine Betriebsrentenanwartschaft erarbeiten, steigtkontinuierlich – heute sind es bereits über 65 Prozent;wir wollen selbstverständlich, dass es noch mehr werden –,und gerade in den letzten Jahren ist die Anzahl der Neu-abschlüsse sogenannter Riester-Renten-Verträge – derKollege Riester ist extra anwesend, damit er wieder ein-mal seinen Namen in einer Debatte hören darf –
sprunghaft angestiegen.– Ich bitte um Entschuldigung für die kleine flapsige Be-merkung. – Bis Mitte dieses Jahres sind jedenfalls11,6 Millionen Riester-Renten-Verträge abgeschlossenworden.Es ist gerade ein Markenzeichen der Großen Koali-tion, dass wir die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerbei dieser notwendigen zusätzlichen Altersvorsorgenicht alleine lassen, sondern sie nach Kräften unterstüt-zen wollen.
Ich darf erinnern: Wir haben in dieser Legislaturperiodebereits beschlossen, die Förderung der Riester-Renten-Verträge deutlich zu verbessern. Ab diesem Jahr gibt es300 Euro pro Kind als staatlichen Zuschuss für einenRiester-Renten-Vertrag. Wir haben neu eingeführt, dassunter 25-Jährige bei einem Erstabschluss 200 Euro Zu-schuss vom Staat zusätzlich bekommen. Wir haben ein-geführt, dass zukünftig auch der Erwerb privat genutztenWohneigentums als Form der Altersvorsorge von unszusätzlich gefördert wird. Wir haben die Entgeltum-wandlung auf Dauer steuer- und sozialversicherungsab-gabenfrei gestellt.
Wir unterstützen also quasi mit indirekter Subventionden Aufbau betrieblicher Altersvorsorge.Die klare Botschaft an alle Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer in unserem Land lautet: Nutzen Sie bittediese Chancen zusätzlicher Altersvorsorge! VerschenkenSie nicht das Geld, das wir Ihnen seitens des Staates zurVerfügung stellen! Wer vorsorgt, ist auf der sicherenSeite.
Umso unverständlicher ist, dass leider in einzelnenMedienberichten
und jetzt auch noch in zwei Anträgen – von der Linkenund von der FDP – ausgerechnet das Erfolgsmodell derprivaten kapitalgedeckten Altersvorsorge schlechtgere-det werden soll. Das ist der eigentliche Inhalt dieser An-träge, und es ist auch der eigentliche Grund, warum wirals Koalitionsfraktion beiden Anträgen nicht zustimmenwerden.
Wer das Motto ausgibt: „Lasst das mit der privatenVorsorge bleiben, es nützt eh nichts“, der handelt nichtnur fahrlässig und unverantwortlich, er führt die Men-schen schlichtweg hinters Licht.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19085
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Peter Weiß
Er treibt zahlreiche Menschen geradezu erst recht in dieAltersarmut. Solch unverantwortliches Reden muss ge-stoppt werden.
Herr Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Rohde?
Ja, selbstverständlich.
Vielen Dank, Herr Kollege Weiß. – Sie haben recht:
Sie haben zwei Anträge vorliegen, von den Linken und
von der FDP-Fraktion. Sie haben aber vergessen, zu er-
wähnen – da bitte ich Sie um Bestätigung –, dass unse-
rem Antrag eine Anfrage an die Bundesregierung zu-
grunde liegt, die Zahlen zum Vorschein gebracht hat,
welche uns zum Handeln veranlasst haben. Wir sehen
ein großes Problem für ungefähr ein Drittel der Riester-
Sparer. Aufgrund der Aussagen der Bundesregierung
sind 2 Millionen bis 4 Millionen Menschen betroffen,
weil sie ein sehr, sehr geringes Einkommen haben und
deswegen möglicherweise in die Personengruppe fallen,
die, sage ich einmal, enteignet werden könnten. Stim-
men Sie mir zu, dass erstens die Zahlen der Bundes-
regierung das belegen – die Zahlen sind zwar schon ein
Jahr alt, und wir beraten schon einige Zeit darüber – und
dass zweitens bisher in der Debatte weder von der SPD
noch von Ihnen ein Beitrag zur Lösung dieses Problems
angedeutet wurde?
Herr Kollege Rohde, es ist richtig, dass es in der Wis-senschaft und in den politischen Parteien und Gruppie-rungen verschiedene Vorschläge gibt, die aufgrund dessinkenden Niveaus der gesetzlichen Rente auf eine zu-sätzliche Sicherung für künftige Generationen von Rent-nerinnen und Rentnern abzielen. Es gibt dazu noch kei-nen Konsens. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir aufdiesem Weg in den kommenden Jahren zusätzliche Si-cherungsklauseln in unser Rentenrecht einbauen werden.Die Frage ist, wie sie aussehen werden.Aber die entscheidende Frage ist doch die: WelcheBotschaft geben wir heute einem jungen Menschen? Einjunger Mensch, der heute anfängt zu arbeiten, vielleichtim Niedriglohnsektor, plant doch nicht, zeit seines Le-bens, bis zum 67. Lebensjahr, im Niedriglohnsektor zubleiben. Ein junger Mensch will doch, genauso wie diejungen Menschen in der Vergangenheit, beruflich Kar-riere machen, mehr verdienen, zu einem besseren Ver-dienst kommen!
Deswegen ist die Botschaft an ihn: Sorge ab dem erstenEuro Verdienst zusätzlich für dein Alter vor; denn dannist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass du mit derRente aufgrund deiner beruflichen Karriere und mit derzusätzlichen Altersvorsorge mehr bekommst als nur dieGrundsicherung. Das ist doch die Botschaft, die wir aus-senden müssen.
Wir brauchen keine neuen Berichte, wie sie von denLinken gefordert werden. Die Linke stellt Anträge, neueBerichte zu erstellen, doch nur deswegen, um die Men-schen zu verunsichern. Die Bundesregierung wird imNovember den Rentenversicherungsbericht 2008 undden Alterssicherungsbericht 2008 vorlegen, der uns überdie gesamte Breite der Alterssicherung Auskunft gebenwird. Dann wird jeder nachlesen können, dass das Drei-säulenmodell funktioniert. Wir brauchen daher keine zu-sätzlichen Berichte. Es wäre besser, alle Abgeordneten-kollegen und die Öffentlichkeit würden die vorhandenenBerichte gründlich lesen und studieren. Sie würden dannzu dem Schluss kommen, dass das Dreisäulenmodell ge-gen die Altersarmut hilft.
Ich will konkrete Zahlen nennen. Deutsche Bank Re-search hat kürzlich eine Studie vorgelegt, die Folgendesaussagt: Bezieher von Durchschnittseinkommen – alsoMenschen, die ihr Leben lang ein Durchschnittseinkom-men beziehen; das sind zurzeit 30 000 Euro jährlich –
haben nach 20 Jahren, in denen sie Beiträge in die ge-setzliche Rentenversicherung und Beiträge in einenRiester-Renten-Sparvertrag eingezahlt haben, eine Al-tersvorsorge aufgebaut, die über dem Grundsicherungs-niveau liegt. Das ist doch eine tolle Leistung. Diejeni-gen, die nur die Hälfte des Durchschnittseinkommensein Leben lang verdienen, erhalten nach immerhin36 Jahren eine Leistung aus gesetzlicher Rente undRiester-Rente, die oberhalb des Grundsicherungsniveausliegt.
Angesichts dieser Zahlen muss eigentlich jeder kon-sequent sagen: Jawohl, ich vertraue darauf, dass ich esaus eigener Leistung mit der gesetzlichen Rente und derRiester-Rente schaffen kann, nicht auf Grundsicherungangewiesen zu sein, sondern ein Niveau zu erreichen,das mich vor Altersarmut schützt.
Weil das in der Altersarmutsdebatte totgeschwiegenwird, möchte ich daran erinnern, dass Konrad Adenauer1957 mit der Einführung der dynamischen Rente eineder größten sozialpolitischen Reformen, wenn nicht so-
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Peter Weiß
gar die größte sozialpolitische Reform in der GeschichteNachkriegsdeutschlands geschaffen hat. Bis 1957 war esso, dass über 70 Prozent der Rentnerinnen und Rentnerin Deutschland von ihrer Rente nicht leben konnten undbeim Staat Sozialhilfe beantragen mussten. Das war dieSituation vor 51 Jahren. Mit der dynamischen Rente ha-ben wir es geschafft, dass heute gerade noch 2,3 Prozentder Rentnerinnen und Rentner Grundsicherung im Alter– so heißt heute die Sozialhilfe für ältere Menschen – be-antragen müssen. Das ist die große sozialpolitische Leis-tung des deutschen Alterssicherungssystems.
Wir wollen mit der Förderung des Dreisäulenmodellsund mit der Unterstützung der Sparanstrengungen imRahmen der betrieblichen Altersvorsorge und der kapi-talgedeckten privaten Altersvorsorge dafür sorgen, dasses keine Rückschritte bei der hervorragenden Entwick-lung in der Alterssicherungspolitik Deutschlands gibt,sondern dass für die übergroße Mehrheit der Deutschenin Zukunft gilt: Altersarmut ist ein Fremdwort. Zu die-sem Weg, den wir eingeschlagen haben, gibt es keine Al-ternative.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Volker Schneider,
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich muss schon sagen, Herr Weiß, Ihre Reden sind eini-germaßen vorhersehbar. Es ist immer dasselbe:
Sie feiern immer auf die gleiche Art und Weise dieRiester-Rente als Erfolgsmodell und werfen dabei mitKonfetti und Luftschlangen. Wer nicht mitfeiert, sondernkritische Fragen stellt, egal von welcher Seite des Hau-ses, ist ein böser Bube und führt die armen Menschenhinters Licht.Aber so ganz unrecht haben Sie ja nicht, Herr Weiß.Ich wollte Ihnen das eigentlich ersparen, aber nach IhrerRede will ich auf diesen Punkt noch einmal hinweisen.Tatsächlich ist die Riester-Rente zumindest für die Versi-cherungsunternehmen ein Erfolgsmodell: 12 Milliardenzusätzlicher Umsatz in der privaten Altersvorsorge, dasist wahrhaftig ein fantastisches Geschäft. Da lässt sichdie Allianz auch in diesem Jahr nicht lumpen:60 000 Euro für die CDU,
60 000 Euro für die SPD, 60 000 Euro für die FDP,60 000 Euro für die CSU und natürlich 60 000 Euro auchfür die Grünen. Das macht 300 000 Euro,
die übrigens nicht von der Allianz gedruckt werden, son-dern die aus den Beiträgen der Versicherten kommenund die mit Sicherheit an eine Stelle nicht mehr fließen,nämlich in die Altersvorsorge.
Diese Pflege der politischen Landschaft ist offensicht-lich gut angelegtes Geld, denn in Ihren Jubelarien für dieprivate Altersvorsorge ist noch nicht einmal der Haucheines Zweifels zu entdecken.
Da kann man nur noch sagen: Wegsehen, ignorieren, ba-gatellisieren. Auch da, Herr Weiß, haben Sie gestern imAusschuss ein echtes Highlight geliefert, als Sie gesagthaben, die letzte kritische Berichterstattung zur Riester-Rente liege drei Monate zurück. Eben haben Sie ein bis-schen etwas anderes gesagt, aber ich kann Ihnen gernhier darstellen, was es in den letzten zwei Monaten anBerichterstattung gab.Da haben wir beispielsweise die Süddeutsche Zeitung.Unter dem Titel „Die Riester-Abzocke“ war dort zu le-sen:Viele Riester-Sparer füttern ein Monster namens Fi-nanzindustrie: Ihre staatlichen Zulagen kommennicht der Altersvorsorge zugute, sondern wandernin die Tasche der Anbieter.Ein anderes unverdächtiges Magazin, das ManagerMagazin,
beschreibt eine Form der Abzocke, die auch bei einigenanderen Zeitschriften nachzulesen war. Dort ist die Rededavon, wie der Gewinn der Versicherungsunternehmenim Grunde genommen dadurch gemehrt wird, dass manvon einer Lebenserwartung von über 90 Jahren ausgeht,sodass die Risikoüberschüsse nur den Menschen zugute-kommen, die deutlich über 90 Jahre alt werden. Das istein wirklich toller Erfolg.
Jetzt zu einem Test der Zeitschrift Finanztest. Finanz-test hat übrigens bis jetzt die Riester-Renten immer über-durchschnittlich gut beurteilt.
– Wissen Sie, Herr Brauksiepe: Das ist so dümmlich. Siekönnen Renten natürlich nur vergleichen, wenn Sie auchdie tatsächlichen Lebenshaltungskosten miteinander ver-gleichen.
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Volker Schneider
Die Zeitschrift Finanztest hat 53 Versicherungsanbie-ter überprüfen wollen. Davon hat sie von 24 sicherheits-halber schon einmal gar keine Auskünfte über dieGebühren und Kosten bekommen, die dort anfallen. Vonden übrigen Anbietern wurde gerade einmal acht mit„gut“ und nur zwei mit „sehr gut“ bewertet. Das heißt,80 Prozent werden von der Zeitschrift Finanztest imGrunde genommen so eingeschätzt, dass man sie nichternsthaft irgendjemandem empfehlen kann. Aber Siehalten das für ein Erfolgsmodell.Deshalb fordern wir – das ist für mich sehr gut nach-zuvollziehen –, dass die Wirksamkeit der Riester-Renteüberprüft wird. Wir machen konkrete Vorschläge, wel-che Fragestellungen in eine solche Überprüfung einzu-beziehen wären.Ich darf Sie daran erinnern: Das fordern nicht nur wir,sondern das hat in der Anhörung eine recht illustre Ge-sellschaft für gut befunden. Das haben nämlich derDGB, der Bund der Steuerzahler in Bayern, die Deut-sche Rentenversicherung Bund, der SozialverbandDeutschland und die Einzelsachverständigen FrauQueisser und Herr Fachinger begrüßt. Sie haben alle ge-sagt, dass es grundsätzlich eine vernünftige Idee sei, andieser Stelle die Wirksamkeit der Riester-Rente zu über-prüfen.Aber Sie machen es nicht mit. Die einzige Begrün-dung, die Sie dafür liefern, ist, dass wir die Riester-Rente schlechtreden wollen. Ich kann das nicht nach-vollziehen. Wenn Sie an dieser Stelle nichts zu verber-gen haben, müssten Sie es mitmachen. Weil Sie aberAngst vor dem Ergebnis haben, wollen Sie nicht, dassein entsprechender Bericht kommt.
Deshalb versuchen Sie, das abzubiegen. Ich sage Ih-nen: Dies ist offensichtlich auch ein Ergebnis einer sol-chen Art von politischer Landschaftspflege. Denn wennjemand so viel Geld bezahlt, dann erwartet er auch, dassschlechte Nachrichten über ihn unterdrückt werden.Besten Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir sprechen heute über zwei Anträge, die zu einer Zeiteingebracht worden sind, als in der Öffentlichkeit überden Anstieg von Altersarmut heftig diskutiert wurde.
In einer Fernsehsendung wurde der Eindruck erweckt, eswürde sich für Beschäftigte mit Versicherungszeiten von30 Jahren, für Menschen mit niedrigem Einkommen undfür Langzeitarbeitslose überhaupt nicht lohnen, privatvorzusorgen.
In der Folgezeit haben sich nicht nur die FDP, sondernteilweise auch Vertreter der Großen Koalition in einenWettstreit begeben: Wir haben täglich neue Vorschlägezu Freibeträgen und zur Grundsicherung gehört, undzwar von verschiedenen Seiten.
Die Linke hat den Antrag „Riesterrente auf den Prüf-stand stellen“ vorgelegt. Sie, meine Damen und Herren,wollen die Riester-Rente aber nicht nur evaluieren, Siewollen sie abschaffen. Sagen Sie das doch ehrlich,schließlich steht das in der Begründung.
Wir Grünen haben schon lange auf die steigende Al-tersarmut hingewiesen. Wir forderten die Bundesregie-rung wieder und wieder auf, schnellstens vorbeugendeMaßnahmen gegen Altersarmut zu beschließen;
denn hier schlummert in der Tat eine gesellschaftspoliti-sche Zeitbombe, und darauf muss man rechtzeitig poli-tisch reagieren. Wir wissen, die Armutsrisiken werden inZukunft steigen. Heute sind es gut 2 Prozent der Rentnerund Renterinnen, die auf Grundsicherung angewiesensind. Zukünftig wird sich diese Zahl aber vervielfachen.Im Unterschied zur FDP und zur Linken sind wir derMeinung, dass bei den Ursachen und nicht bei denSymptomen angesetzt werden muss.
Das heißt, wir wollen die vorgelagerten Systeme der Al-terssicherung stärken, um Altersarmut zu verhindern.Wir sind der Meinung, dass Altersarmut in der gesetzli-chen Rentenversicherung vermieden werden muss.
Für uns gilt der Grundsatz: Wer ein Leben lang arbeitetund sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellt, musseine Rente oberhalb der Grundsicherung erreichen kön-nen.
Auf die Veränderungen am Arbeitsmarkt muss mit ei-ner aktiven Arbeitsmarktpolitik, aber auch mit einerWeiterentwicklung der Rentenpolitik reagiert werden.Dazu brauchen wir endlich gesetzliche Mindestlöhne.Das reicht nicht aus, ist aber ein Baustein. Wir braucheneine Weiterentwicklung der Rentenpolitik und eine
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Irmingard Schewe-GerigkGarantierente oberhalb der Grundsicherung für Men-schen, die ein Leben lang gearbeitet haben.
Die Bundesregierung wollte uns lange Zeit Sand indie Augen streuen, indem sie behauptet hat, dass derAufschwung alle Probleme lösen werde. Schaut man inden jüngsten Bericht des Statistischen Bundesamtes vomSeptember, stellt man fest, dass er unsere Einschätzungbestätigt. Dort heißt es nämlich: Auch in dem gesamtwirt-schaftlich erfolgreichen Jahr 2007 sind die sogenannten„Normalarbeitsverhältnisse“ rückläufig geblieben. Trotzgünstiger Entwicklung bei der Erwerbslosigkeit wurdeder Trend nicht gestoppt, „Normalarbeitsplätze“
– jetzt müssen Sie zuhören – durch atypische Beschäfti-gungsformen zu ersetzen. – Deshalb – ich wiederholemich ganz bewusst – müssen wir das Problem an derWurzel anpacken und nicht nur Korrekturen vornehmen.
Die vorgelegten Anträge der FDP und der Linken leh-nen wir ab. Nach dem Vorschlag der FDP soll bei derGrundsicherung im Alter ein Freibetrag von maximal260 Euro monatlich für die private und die betrieblicheVorsorge anrechnungsfrei bleiben.
Einkommen aus der gesetzlichen Rentenversicherungsollen aber zu 100 Prozent angerechnet werden. Das ver-stehen wir ehrlich gesagt nicht so richtig.
Meine Kollegen von der FDP, Sie wollen gesetzlich Ver-sicherte schlechter behandeln als privat und betrieblichVersicherte. Ich sage dazu: Typisch FDP!
Wenn man dieser Logik folgt, muss man fragen: Wasist denn eigentlich mit einer alten Dame, die in ein Pfle-geheim geht und 10 000 Euro auf ihrem Konto hat? Siemuss das Geld einsetzen, wenn sie Leistungen vom Staathaben möchte. Ihr Vorschlag wird, glaube ich, eineganze Menge anderer Dinge nach sich ziehen.
Herr Kolb, Sie dokumentieren damit, dass Sie nicht aufdie solidarische Sicherung bauen, sondern Menschen,die privat und betrieblich vorsorgen können, bevorzugenwollen.
Die Linke will aus der Riester-Förderung aussteigenund die Mittel zur Stärkung der gesetzlichen Rente ver-wenden. Herr Schneider, ich finde, Sie schütten damitdas Kind mit dem Bade aus. Ich frage Sie einfach ein-mal: Wie wollen Sie es den über 11 Millionen Men-schen, die einen Riester-Vertrag abgeschlossen haben,erklären, warum die einzige Förderung privater Alters-vorsorge, die mit Elementen des sozialen Ausgleichsversehen ist, von morgen an nicht mehr gelten soll? Wis-sen Sie nicht, dass zwei Drittel der Riester-Sparer einEinkommen von weniger als 30 000 Euro pro Jahr ha-ben?
Es ist also nicht so, dass nur diejenigen, die ein hohesEinkommen haben, Riester-Verträge abschließen, son-dern gerade Klein- und Mittelverdiener.
Vertrauen in die Alterssicherung entsteht nur dann,wenn sich die Menschen auf das Geschaffene verlassenkönnen. Da helfen keine ideologischen Scheuklappen.Frau Präsidentin, ich fasse zusammen:
Für die eine Seite dieses Hauses ist die PrivatvorsorgeTeufelszeug, die andere Seite möchte die Privatvorsorgezulasten der gesetzlichen aufblähen. Das ist nicht sach-gerecht. Wir Grünen wollen in einem ersten Schritt dieBeiträge von Geringverdienenden aufstocken.
Wir wollen, dass Selbstständige, die keine obligatorischeAltersvorsorge haben, in die gesetzliche Rentenversiche-rung einzahlen. Wir wollen über ein Beitragssplitting dieeigenständige Rente von Frauen stärken. Das sind dieRezepte gegen Altersarmut.Ich danke Ihnen.
Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort der Kollegin
Lydia Westrich.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Herr Schneider, es gibt einmal jährlich denRentenversicherungsbericht; den lesen auch Sie fleißig.In jeder Legislaturperiode erhalten wir den Alterssiche-rungsbericht. Das alles wird durch den Sozialbeirat be-gutachtet. Dieses Gutachten bekommen wir ebenfalls.Wir diskutieren in den Ausschüssen laufend über die ak-tuelle Entwicklung. In unserer schönen Bibliothek kön-nen Sie die regelmäßigen Veröffentlichungen und Statis-tiken der Zentralen Zulagenstelle für Altersvermögeneinsehen. Es steht uns also bereits eine Fülle von Infor-mationen zur Verfügung. Aber es kann ja anscheinendnie genug sein. Sie haben schon drei Kleine Anfragen zu
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Lydia Westrichdiesem Thema allein in diesem Jahr gestellt. Doppeltund dreifach genäht hält besser, meinen Sie.
Frau Kollegin, nicht nur das, Kollege Schneider
würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Nein, ich wüsste nicht, was er fragen will; denn erweiß noch nicht, was ich sagen will.
Schnell einen Antrag geschrieben und eine neue Be-richtspflicht eingefordert, dann müssen Sie sich nicht dieMühe machen, selber zu schauen, ob die gewünschtenInformationen nicht schon vorhanden sind.Wir werden Ende des Jahres den jährlichen Renten-versicherungsbericht und den Alterssicherungsberichterhalten.
Wenn Sie Ihr Anliegen, gründliche Auskünfte über dieEntwicklung und Wirkung der Riester-Rente zu erhalten,wirklich ernst meinten, hätten Sie diese Berichte dochabgewartet. Nein, es geht Ihnen nicht um Auskünfte,sondern wieder einmal darum, ein erfolgreiches Projektwie die Riester-Rente, die allen Unkenrufen zum Trotzvon vielen Millionen Bürgern genutzt wird, weiter zuverteufeln.
Herr Schneider, dazu, wie Sie sie verteufeln, habenSie hier wieder einmal ein Beispiel geliefert. Sie wollenganz bewusst die Bürgerinnen und Bürger verunsichern.Das Schizophrene an der Sache ist,
dass Sie, meine Damen und Herren von der Linken, imBundestag die Riester-Rente ganz erbittert bekämpfen,aber zu Hause in Ihren Beratungszimmern, wo es nie-mand sieht und hört, füllen Sie den Leuten die Anträgeaus und legen ihnen nahe, einen Riester-Vertrag abzu-schließen. Das hat mir gerade neulich eine junge Frauaus meinem Wahlkreis berichtet. Natürlich habe auch ichihr dazu geraten, einen Vertrag abzuschließen, und michgefreut, wie vernünftig Ihre Basis vor Ort doch ist. Siescheint kapiert zu haben, dass der große demografischeWandel, der sich in unserer Bevölkerung vollzieht, auchan den Systemen der Alterssicherung nicht spurlos vo-rübergehen kann.Das erste Mal seit Jahren sind selbst in meiner struk-turschwachen Region gute Lehrstellen nicht besetzt. Siekönnen nicht wegdiskutieren, dass die Zahl älterer Men-schen im Verhältnis zur Zahl der Menschen im erwerbs-fähigen Alter bereits jetzt zunimmt. Sie reden trotz allerneuen Erkenntnisse und trotz der Entwicklungen, die je-des Kind sehen kann, ständig von einer lebensstandard-sichernden gesetzlichen Altersversorgung wie zu ZeitenNorbert Blüms.Das ist den Menschen ins Gesicht gelogen. Mein Va-ter ist 88 Jahre alt. Er hat ein Arbeitsleben – durch denKrieg unterbrochen – von vielleicht 40 Jahren und eineRentenzeit von bisher 28 Jahren hinter sich. Gott mögesie noch lange, lange andauern lassen. Auch Sie und ichwollen diesen langen, geruhsamen Lebensabend haben.Aber selbst am einfachen Beispiel meiner Familie– meine Mutter ist Gott sei Dank ein ähnlicher Fall – se-hen Sie, dass dies nicht funktionieren kann: 40 JahreBeitragszahlung und 30 Jahre Rente bei weniger Bei-tragszahlern.
Da müssten die Rentenversicherer schon sehr riskant aufdem gleichfalls von Ihnen verteufelten Finanzmarkt zo-cken, um diese Rendite erzielen zu können. Aber sie ha-ben keinen Kapitalstock; sie sind umlagefinanziert. Des-wegen müssen sie auf die Entwicklungen eingestelltwerden, wenn die Sozialkassen nicht vor die Wand lau-fen sollen. Das scheinen Sie zu wollen.
Selbst bei mäßig erhöhten Beitragszahlungen in dergesetzlichen Rentenversicherung, wie wir sie Unterneh-men und Arbeitnehmern zumuten könnten, ist es aufDauer unmöglich, dass eine immer geringere Zahl vonbeschäftigten Beitragszahlern in der Lage ist, für immermehr Rentner immer längere Rentenbezugszeiten in dergegenwärtigen Höhe zu finanzieren. Das ist doch Ihrewiges Mantra: Wir hätten alles im Griff, wenn die Ver-sicherungsbeiträge um ein paar Prozentpunkte steigenwürden.
Das ist grundfalsch. Sie wiegen die Menschen wieder ineiner scheinbaren Sicherheit, nach dem Motto „Nach mirdie Sintflut“.Rot-Grün hat im Jahr 2000 die Weichen anders ge-stellt. Wir haben die Verantwortung auch für die jungeGeneration ernst genommen. Die Dreisäulenaltersvor-sorge ist der richtige Weg. Gesetzliche Rentenversiche-rung, betriebliche Altersvorsorge und Riester-Rente er-gänzen einander. Die Bürgerinnen und Bürger haben daskapiert. 11 Millionen Riester-Verträge beweisen das.Der neue Wohn-Riester wird – davon bin ich über-zeugt – die Anzahl dieser Verträge weiter steigen lassen.Die Säule der privaten Vorsorge wird sich gerade für Ge-ringverdiener, für die Sie letztlich eine Lanze brechenwollen, auszahlen. Ich bin froh, dass wegen unserer För-derung gerade der prozentuale Anteil der Kleinverdiener
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Lydia Westrichan der Gesamtzahl der Vertragsabschlüsse – danach ha-ben Sie gefragt – so hoch ist.Wenn man in einem Allversorgerstaat wie der DDRaufgewachsen ist, kommt man aus seiner Haut vielleichtnicht mehr heraus. Ich treffe viele Leute, auch mit klei-nerem Verdienst, die stolz sind, ihre Familie ernährt zuhaben und die im Alter auf ihre eigene Vorsorge undnicht auf den Staat zurückgreifen wollen. Sie freuen sichüber die Riester-Förderung in Höhe von 60 Prozent odermehr und lassen sich auch durch Monitor-Berichte nichtirremachen. Aber genau das, die Menschen zu verunsi-chern, beabsichtigen Sie von der Linken doch. In20 Jahren reden wir vielleicht einmal über Ihren Antrag,der so schlecht ist.Sie sagen dem 25-jährigen Wachmann, der geradeseinen Riester-Vertrag abgeschlossen hat: Du bist dochdumm; da zahlst du ein und hast die Versicherung reichgemacht; später bekommst du sowieso nur die Grund-sicherung wie jeder, der nicht eingezahlt hat. Wissen Siedenn, ob es die Grundsicherung in 35 Jahren überhauptnoch gibt?
Dann wäre der Wachmann wirklich arm, wenn er denVertrag gekündigt hätte. Wissen Sie es?
Vielleicht geht es Deutschland in dieser Zeit aber so gut,dass die Riester-Rente nicht mehr angerechnet zu wer-den braucht. Dann wäre sie ein gutes Zubrot. Wird erWachmann bleiben, oder wird er eine Weiterbildung ma-chen und mehr verdienen? Grundsicherung wäre für ihndann gar kein Thema mehr, aber die zusätzliche Riester-Rente schon.
War er nun dumm, als er den Riester-Vertrag abgeschlos-sen hat, oder wäre es dumm gewesen, auf Ihren Rat zuhören, es nicht zu tun und die Versicherung nicht reichzu machen?Das will ich Ihnen schon noch einmal ins Stammbuchschreiben: Die Studie, die Sie von den Linken zur Be-gründung Ihres Antrags heranziehen, enthält richtigeAnalysen, aber sie zeigt falsche Schlussfolgerungen auf.Das passiert einmal, und Sie sind darauf hereingefallen:Erstens. 2005 war die Datenlage ganz anders. Die An-zahl der Riester-Verträge hat sich in dieser Zeit verdop-pelt.Zweitens. Die Studienmacher haben den Zweck derRiester-Rente nicht kapiert. Wir wollten den Beitrags-satz in der gesetzlichen Rentenversicherung auf einembezahlbaren Niveau halten. Wir wollten auch die Vermö-gensbildung für das Alter fördern. Die jährlichen Förder-milliarden erhöhen gerade das Altersvermögen derKleinsparer.
Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende, bitte.
Wenn die Studie besagt, die Menschen mit kleinen
Verdiensten sparen nicht mehr Geld, sondern für etwas
anderes, so wird außer Acht gelassen, dass unsere staatli-
chen Zulagen das Angesparte dieser Kleinverdiener ver-
vielfachen.
Frau Westrich!
Das sind keine Mitnahmeeffekte, sondern das ist ge-
wollte Zukunftsverantwortung. Deshalb brauchen wir
die Berichtspflicht bezüglich bereits vorhandener Daten
nicht.
Frau Westrich, kommen Sie zum Ende, bitte.
Wir stützen die Riester-Rente für Kleinverdiener. Wir
wollen die Umlenkung der – wenn auch noch so kleinen –
Sparquote der Haushalte in eine Altersvorsorge. Deshalb
lehnen wir Ihren Antrag gerne ab.
Vielen Dank.
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kol-
lege Schneider.
Frau Kollegin Westrich, das, was Sie eben vorgetra-gen haben, ist wirklich – erlauben Sie mir das harscheUrteil – ein Ausbund von Oberflächlichkeit.
Es würde sich rentieren, darauf noch einmal ausführlicheinzugehen; aber das schenke ich mir jetzt.Es geht mir nur um einen einzigen Punkt. Sie habenam Anfang behauptet, wir forderten etwas, was längstnachzulesen wäre. Ich würde Ihnen empfehlen: LesenSie unseren Antrag! Darin ist präzise aufgelistet, was wirwollen. Sie werden feststellen: Kein einziger dieser As-pekte ist im letzten Alterssicherungsbericht oder im letz-ten Rentenversicherungsbericht genannt. Das war dererste Punkt.Mein zweiter Punkt. Wir haben keinen der Aspekte,die in diesen Berichten erwähnt sind, noch einmal aufge-führt. Wir haben ganz gezielt nach dem gefragt, was bisheute nicht in diesen Berichten enthalten ist. Ich fragemich, warum Sie uns diese Auskünfte entgegen der
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Volker Schneider
Empfehlung aller Sachverständigen so nachhaltig ver-weigern wollen. Das ist Ihr schlechtes Gewissen.
Jetzt gebe ich dem Kollegen Max Straubinger für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Ja? Schauen wir einmal.Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Wir beschäftigen uns mit dem Antrag der FDP und mitdem Antrag der Linken. Die eine Seite möchte, dass diekapitalgedeckte Vorsorge bei Geringverdienern in gerin-gerem Umfang angerechnet wird, die andere Seitemöchte, dass die Riester-Rente auf den Prüfstand gestelltwird. Ich möchte meinen Vorrednern beipflichten: Ei-gentlich ist mit „Riesterrente auf den Prüfstand stellen“gemeint, dass Sie die Riester-Rente abschaffen wollen.Das ist das Ansinnen der Linken in diesem Hause. Siekönnen nämlich nur mit staatlichen Systemen, nicht abermit freiheitlichen Systemen leben.
Sie wollen die Leute bei ihren Anlageentscheidungenbevormunden. An dieser Stelle sieht man sehr deutlich,dass der Ansatz der Sozialisten bzw. der Kommunistendurchschlägt.
Werte Damen und Herren, die Linken äußern immerwieder die große Befürchtung: Wenn nicht alles, wie siees wollen, staatlich organisiert ist, dann führt das ins Un-glück. In diesem Fall würde das bedeuten, dass die Men-schen in Zukunft möglicherweise der Altersarmutanheimfallen. Dem möchte ich ausdrücklich widerspre-chen. Gerade diese Bundesregierung hat die wesentli-chen Grundlagen dafür geschaffen, dass die Menschenzukünftig nicht mit Altersarmut konfrontiert sein wer-den. Deutschland hat derzeit die geringste Altersarmutaller europäischen Länder zu verzeichnen.Außerdem hat es die kluge Politik dieser Bundesre-gierung ermöglicht, dass viele Menschen in Arbeit undBrot gekommen sind. Dass die Zahl der sozialversiche-rungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse um 1,5 Mil-lionen gestiegen ist, bedeutet mehr Schutz vor Altersar-mut.
Dies ist das Verdienst dieser Bundesregierung und eineGrundlage dafür, dass die Altersversorgung weiterhin si-cher ist.Dass in der Altersversorgung weiterhin Sicherheitherrscht, hat mit dem Umlagesystem der gesetzlichenRentenversicherung zu tun. Herr Rohde, ich möchte aus-drücklich feststellen: Das Umlagesystem ist kein Aus-laufmodell, sondern die Grundlage der sozialen Siche-rung der Menschen im Alter. Allerdings muss es um einkapitalgestütztes System ergänzt werden. Die Länder, indenen die Altersversorgung ausschließlich auf ein kapi-talgestütztes System ausgerichtet war, werden es in Zu-kunft sehr schwer haben – das wird angesichts der aktu-ellen Finanzmarktkrise deutlich –, die Altersversorgungder Menschen zu gewährleisten. Deshalb stehen wir zumUmlagesystem.
Genauso treten wir aber auch für die gleichzeitigeFörderung des kapitalgestützten Systems ein. Mein Kol-lege Weiß hat bereits darauf hingewiesen, wie viel wir indieser Legislaturperiode zur Stärkung der kapitalgestütz-ten Säule beigetragen haben.Ich möchte noch anmerken, dass gerade für dieSelbstständigen in unserem Land zwar nicht die Riester-Rente, dafür aber die Rürup-Rente eine bedeutsameStütze des Altersvorsorgesystems darstellt. Hier spielendie Versicherungsunternehmen eine Rolle. Sie legen dasGeld der Sparerinnen und Sparer zielorientiert und si-cher an. Für viele Anlageformen im Rahmen der Riester-Rente gilt – das ist schriftlich dargelegt –, dass nicht nurdas eingezahlte Kapital zur Auszahlung kommen, son-dern über viele Jahre und Jahrzehnte hinweg auch eingewisser Zins erwirtschaftet werden muss.Herr Kollege Schneider, ich möchte das, was Sie vor-hin hier gesagt haben, mit aller Schärfe zurückweisen.Sie haben gesagt, dass hier sozusagen aufgrund vonParteispenden Entscheidungen zugunsten von kapitalge-stützten Vorsorgemöglichkeiten getroffen worden sind.
Das ist, gelinde gesagt, wirklich nicht tolerabel
– und vor allen Dingen eine Verleumdung.Es gibt natürlich Spenden – auch die Linken erhaltenSpenden – für die Unterstützung der Parteien, damit sieihren staatsbürgerlichen Auftrag erfüllen. Diese sindrichtig und auch gut angelegt. Wenn sie sich auf alle Par-teien gleichmäßig verteilen, dann wird dadurch sehrdeutlich, dass damit die staatsbürgerliche Arbeit der Par-teien unterstützt und nicht irgendeine Entscheidung er-kauft werden soll.
In diesem Zusammenhang wäre es weitaus besser,wenn die Linke, die PDS bzw. die SED nachforschenwürde, wo das SED-Vermögen hingekommen ist,
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Max Straubinger
das Ihr Parteivorsitzender Gysi möglicherweise ins Aus-land transferiert hat, um es über Scheinfirmen jetzt mög-licherweise wieder in Ihren Parteiapparat fließen zu las-sen.
Das ist das schamlose Verhalten der Linken, der PDSbzw. der SED: Sie gibt den Bürgerinnen und Bürgernhier keine Auskunft über ihr SED-Vermögen. Das ist derBetrug. An diesem Verhalten werden die Menschen Sienatürlich messen.Ich fordere Sie auf, in diesem Zusammenhang hiernicht solche Verdächtigungen auszusprechen, sondernim Gegenteil zu einer vernünftigen Politik für die Bürge-rinnen und Bürger und insbesondere auch für die Rent-nerinnen und Rentner in unserem Land zurückzukehren.
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin
Enkelmann das Wort.
Da immer wieder der Vorwurf an uns gerichtet wird
und wir gefragt werden, wo denn das SED-Geld geblie-
ben ist:
Erstens. Fragen Sie die Kollegen der CDU, wo das
CDU-Geld geblieben ist.
Zweitens. Wenden Sie sich bitte vertrauensvoll an den
Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Herrn
Papier. Er war Vorsitzender der Unabhängigen Kommis-
sion zur Ermittlung des Vermögens der Parteien und
Massenorganisationen der Deutschen Demokratischen
Republik – unter anderem auch des Vermögens der
CDU. Es gibt einen Abschlussbericht, den Sie nachlesen
können. Sie sind schon länger hier im Parlament. Er ist
hier vorgestellt worden.
Es liegt also alles auf dem Tisch. Informieren Sie sich
bitte!
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 16/10356.Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der FDPauf Drucksache 16/7177 mit dem Titel „Altersvorsorgefür Geringverdiener attraktiv gestalten“. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit denStimmen der CDU/CSU, der SPD, der Linken und desBündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der an-tragstellenden Fraktion FDP angenommen.Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehltder Ausschuss die Ablehnung des Antrags der FraktionDie Linke auf Drucksache 16/8495 mit dem Titel„Riesterrente auf den Prüfstand stellen“. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist die Be-schlussempfehlung mit den Stimmen der CDU/CSU, derSPD, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen beiGegenstimmen durch die Fraktion Die Linke angenom-men.Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christian
der CDU/CSU sowie der AbgeordnetenDr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, GregorAmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPDFörderung von Bildung und Ausbildung –Entwicklungspolitischen Schlüsselsektorkonsequent ausbauen– zu dem Antrag der Abgeordneten Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche, Dr. DietherDehm, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEEntwicklung braucht Bildung – Den deut-schen Beitrag erhöhen– Drucksachen 16/9424, 16/8812, 16/10360 –Berichterstattung:Abgeordnete Anette HübingerDr. Bärbel KoflerHellmut KönigshausHüseyin-Kenan AydinUte KoczyHierzu haben die Fraktionen vereinbart, eine Drei-viertelstunde zu debattieren. – Dazu höre ich keinen Wi-derspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile der KolleginDr. Bärbel Kofler für die SPD-Fraktion das Wort.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Ich freue mich, dass wir heute über ein Thema de-battieren können, zu dem wir im Ausschuss fraktions-übergreifend einen Konsens erzielt haben. Wir wollendie Bedeutung von Bildung in der Entwicklungszusam-menarbeit voranbringen, stärken und fördern.Ich glaube, es ist richtig, an dieser Stelle zu betonen,dass Bildung ein wesentliches Fundament für eine ge-lungene, nachhaltige Entwicklungspolitik und Entwick-lung ist. Nicht umsonst ist in den Millenniumsentwick-lungszielen als zweites Ziel festgelegt, dass bis zumJahr 2015 eine vollständige Primärschulbildung für alleJungen und Mädchen erreicht werden soll. Das bedarfgroßer Anstrengungen. Wir möchten mit unserem An-trag dazu beitragen, dass dies gelingen kann.Wir wissen, dass Bildung die Basis für weitere Maß-nahmen in der Entwicklungszusammenarbeit und einernachhaltigen Armutsbekämpfung ist, ob es um Millen-niumsentwicklungsziele im Gesundheitsbereich, die Hal-bierung von Hunger und Armut oder – wie meine Kolle-gin Christel Riemann-Hanewinckel später noch ausführenwird – um die Geschlechtergerechtigkeit durch dieGleichstellung von Mann und Frau geht. Bildung ist abermehr. Bildung ist ein grundsätzliches Menschenrechtund aus diesem Grund von besonderer Bedeutung undauch in unserem Ausschuss entsprechend zu unterstüt-zen.Bildung ist die Basis für gesellschaftliche Teilhabeund ein selbstbestimmtes Leben. Demokratie, die wiralle in unseren Debatten um Good Governance auch inden Partnerländern der einen Welt fördern wollen, kannnur gelingen, wenn die Gesellschaften eine entspre-chende Basis an Bildung mitbringen.
Das ist die Voraussetzung für zivilgesellschaftlichesEngagement, das wir in der Entwicklungszusammen-arbeit brauchen. Sie ist, wie gesagt, die Basis für demo-kratische Strukturen und Entwicklungen.Wir brauchen nicht nur in den Bundesländern bei unszu Hause Bildungsgerechtigkeit und Bildungschancen,sondern müssen uns auch in der Entwicklungspolitik undder Zusammenarbeit mit den Ländern der Dritten Weltdafür einsetzen. Wir müssen uns gemeinsam mit unserenPartnerländern dafür einsetzen. Deshalb freue ich mich,dass es Teil unseres Antrags ist, die Abschaffung vonSchulgebühren und Lehrmittelkosten voranzubringen,wo dies noch nicht gelungen ist. Schulmittel müssenkostenfrei zur Verfügung gestellt werden. GebührenfreieGrundbildung von Kindern muss überall die Grundvo-raussetzung für das Lernen sein.
Wenn wir das mit unseren Partnerländern erreichenwollen, bedeutet das im Übrigen auch, dass wir uns mitder Finanzausstattung der Haushalte unserer Partnerlän-der auseinandersetzen müssen und ihnen dort Hilfestel-lung geben müssen, wo dies nötig ist.Wir haben in unserem Antrag – auch das finde ich be-sonders wichtig – auf die ILO-Kernarbeitsnormen Bezuggenommen. Für den Bereich der Bildung bedeutet dasein weltweites Verbot von Kinderarbeit.
Wer möchte, dass die 218 Millionen Kinder, die welt-weit durch Kinderarbeit ausgebeutet werden, zur Schulegehen können, kann nicht umhin, sich für die Kern-arbeitsnormen und das weltweite Verbot von Kinder-arbeit einzusetzen.
Darüber hinaus gibt es gute Ansätze und Projekte derEntwicklungszusammenarbeit, die für diese Kinder eineBrücke in das formale Bildungssystem darstellen und ih-nen Chancen bieten. Ein Drittel der Kinder, die in Kin-derarbeit ausgebeutet werden, leben in Indien. Es gibt in-zwischen Projekte der Deutschen Welthungerhilfe, diesich gemeinsam mit indischen Partnerorganisationen be-mühen, Kindern den Zugang zum formalen Bildungssys-tem zu ermöglichen, Brückenfunktionen zu nutzensowie Eltern und die örtlichen Verwaltungen einzubezie-hen, um einen Beitrag dazu zu leisten, diesen Kindern– den Ärmsten der Armen – Chancen zu bieten.
Wir haben in unseren Antrag einen Punkt aufgenom-men, auf den ich besonders stolz bin. Bei dieser Gele-genheit möchte ich einigen Schülern aus Hamburg mei-nen Dank aussprechen, die bei der Debatte über dieglobale Bildungskampagne vor dem Reichstagsgebäudenachdrücklich darum gebeten haben, in unseren Antragaufzunehmen, dass auch Menschen mit Behinderungenin den Entwicklungsländern Chancen brauchen, am Bil-dungssystem teilzuhaben. Weit über 90 Prozent der Kin-der mit Behinderung haben in Entwicklungsländernkeine Chance, am Bildungsprozess teilzuhaben. Es istgut, wenn wir uns dafür einsetzen, dies zu ändern.
Es passiert schon einiges in diesem Bereich. Auf bila-teraler Ebene ist Deutschland im Bereich der Grund-bildung mit 120 Millionen Euro, im Bereich der beruf-lichen Bildung mit knapp 80 Millionen Euro und imBereich der Hochschulen, aber auch im Bereich der Bil-dungsmaßnahmen, die die Verbesserung der Qualität so-wie die Lehrerausbildung und -fortbildung zum Ziel ha-ben, mit 60 Millionen Euro engagiert. Es gibt zudemgute internationale Initiativen wie Education For All undFast Track Initiative, die unterstützt gehören und derenEngagement bedeutend gestärkt werden muss. Dazumöchten wir insbesondere das BMZ mit unserem Antragermutigen.
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19094 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Dr. Bärbel KoflerDie Gründe dafür sind klar. Noch immer sind 77 Mil-lionen Kinder weltweit ohne jedweden Zugang zuSchulbildung. 774 Millionen Menschen weltweit sindAnalphabeten. Nicht nur die Zahl derer, die in die Schulekommen, ist interessant, sondern auch die Zahl derer, diein der Schule bleiben. Die Verweildauer in der Schule istvon Bedeutung. Leider ist die Schulabbrecherrate nochimmer sehr hoch, insbesondere wenn es um den Schul-besuch von Mädchen geht. Der UNESCO-Weltbildungs-bericht vom vergangenen Herbst spricht eine deutlicheSprache. Positiv sind die steigenden Einschulungsraten.Ich glaube, darüber freuen wir uns alle. Bedenklich ist,dass die Divergenz zwischen den Ländern mit steigen-den, gleichbleibenden und manchmal auch mit schlech-teren Einschulungsraten noch immer sehr groß ist. Fastdie Hälfte der Kinder, die keinen Zugang zu Schulbil-dung haben, lebt in Subsahara-Afrika. Das sind knapp40 Millionen. Allein diese Zahl macht deutlich, dass dasEngagement für mehr Kinder, die in die Schule gehen,nicht nachlassen darf und sogar – auch und gerade mit fi-nanziellen Mitteln – verstärkt werden muss, genauso wiedas Engagement für mehr Qualität in der Ausbildung.
Wir brauchen mehr Lehrer, und zwar gut ausgebil-dete, Lehrer, die eine pädagogische Ausbildung absol-viert haben. Es gibt Beispiele, die zeigen, wo sichDeutschland sehr gut engagiert. In Tadschikistan erhal-ten seit 2005 jedes Jahr 1 000 Lehrer im Rahmen einesLehrerfortbildungsprogramms der GTZ eine Qualifika-tion für den Lehrerberuf. Das ist ein entscheidender Bei-trag.Einen entscheidenden Beitrag stellen manchmal auchganz banale Dinge dar. Ich war vor wenigen Monaten imOstkongo und konnte in einem Dorf, ungefähr zweiStunden von Bukavu entfernt, lernen, was Qualität in derBildung bedeutet. Dort ist vor einem halben Jahr daserste Mal eine Präsenzbibliothek errichtet worden. „Prä-senzbibliothek“ ist sicherlich ein großes Wort. Schließ-lich handelt es sich nur um wenige gedruckte Bücherund Zeitschriften, die es plötzlich in diesem kongolesi-schen Dorf gab. Aber sogar das stellt einen riesigen Fort-schritt in der Qualität der Bildung dar. Warum? Bis zudiesem Zeitpunkt haben nur 70 Prozent der Schüler dieAbschlussprüfungen bestanden, weil sie bei diesen Prü-fungen zum ersten Mal bedrucktes Papier, gedruckteSchrift sehen konnten. Mit dieser kleinen Maßnahme,also mit wenigen Büchern und gedruckten Materialien,wurde innerhalb kürzester Zeit die Abschlussrate um20 Prozent erhöht. Wenn man in die Qualität der Bildunginvestiert – entweder in ganz kleine Maßnahmen oderfundamental in die Lehrerbildung –, tut man den jungenMenschen weltweit etwas sehr Gutes.
Wir haben uns in unserem Antrag im Wesentlichenauf drei Punkte konzentriert: die Förderung der Grund-bildung, der beruflichen Bildung und der akademischenBildung. Gerade Grundbildung und berufliche Bildungsind Bereiche, in denen die deutsche Entwicklungszu-sammenarbeit eine große Expertise, große Kenntnissehat.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
Ich glaube, wir tun gut daran, auch in Zukunft das,
was von unseren Partnerländern nachgefragt wird, auf-
zugreifen, und zwar aus den Gründen, die ich am Anfang
angesprochen habe.
Frau Kollegin!
Bildung ist ein Menschenrecht, Bildung schafft ge-
sellschaftliche Teilhabe und persönliche Emanzipation,
und Bildung steht damit auch in einer Tradition, die uns
Sozialdemokraten sehr nahe ist, wenn ich etwa an Arbei-
terbildung denke. Was bei uns gilt, gilt auch weltweit.
Danke.
Hellmut Königshaus spricht jetzt für die FDP-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In derTat herrscht hier – die Kollegin Kofler hat das gesagt –über die Ziele beim Thema „Bildung in Entwicklungs-ländern“ weitestgehend Konsens. Wir alle wissen, dassArmut und Bildungsarmut in den Entwicklungsländernunmittelbar zusammenhängen, übrigens nicht nur dort,aber eben auch dort. Nur, wenn wir das hier gemeinsamfeststellen – auch die Koalition hat das in ihrem Antragsehr deutlich ausgeführt –, dann frage ich mich, warumSie dann der Bundesregierung danken. Die Bundesregie-rung hat doch in diesem Bereich bisher wirklich versagtund ihn sträflich vernachlässigt.
Tatsache ist doch, dass die Förderung der Grundbildungin den letzten Jahren zurückgegangen ist.
So wurden, um die genaue Zahl zu nennen, von insge-samt 4 877,573 Millionen Euro deutscher bilateralerEntwicklungshilfe im Jahr 2002 lediglich 77,227 Millio-nen Euro der Förderung von Grundbildung zugeschrie-ben. Das ist ein Anteil von 1,6 Prozent der ODA, wäh-rend wir heute bei einem Anteil von nur noch1,5 Prozent der ODA sind.
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Hellmut Königshaus
Die Bundesregierung hat diesen Bereich bisher sträflichvernachlässigt. Sie hat jetzt allerdings im Entwurf desHaushaltsplans vorgesehen, dass im Bereich der Bildungein Aufwuchs vorgenommen wird, und zwar auf148,50 Millionen Euro im Jahr 2009; aber die Größe desGrundbildungsbereichs – das ist das Entscheidende, überdas wir uns hier unterhalten – ist daraus überhaupt nichtabzulesen. Deshalb müssen wir hier eine Klarstellungfordern. Wir als FDP fordern schon seit Jahren regelmä-ßig eine Aufstockung in diesem Bereich, in der Regel inder Größenordnung von 60 Millionen Euro. Das diffe-riert je nach der Gesamtlage. Sie haben das leider immerabgelehnt. Vielleicht können wir uns diesmal darauf ver-ständigen, dass wir in diesem Bereich vorangehen.
Die Koalition fasziniert zurzeit das Thema Bildung,nicht nur bei der Entwicklungszusammenarbeit, sondernauch hier in Deutschland.
Die Kanzlerin reist bekanntermaßen durch Deutschlandund veranstaltet Bildungsgipfel.
Sie lenkt dadurch eigentlich davon ab, dass sie für diesenBereich mitnichten zuständig ist. Es gibt in diesem Be-reich keine Zuständigkeit, jedenfalls nicht im Bereichder Grundbildung. Deshalb ist das, was dort abläuft,weiter nichts als eine Farce.
– Sie brauchen das nicht mit Empörung zurückzuweisen.Ich brauche nur Ihre Kanzlerin zu zitieren.
Sie hat zum Beispiel dem Kollegen Tauss, der hier ähn-lich wie Sie argumentiert hat, gesagt, sie wolle ihm mitVerlaub doch sagen, dass man ihm schließlich angebotenhabe, wenn er sich für Schulpolitik interessiere, in denLandtag zu gehen, weil das nicht Sache des Bundestagessei. Sie hat auch gesagt, wer Leidenschaft für die Schul-politik habe, der sei im Bundestag falsch aufgehoben.Wer sich als Kanzlerin um die Schulpolitik kümmert, dieLändersache ist, ist dort ebenfalls falsch aufgehoben.
Aber das ist nicht unser Thema heute; die Föderalismus-kommission ist ein anderes Thema.Die FDP kämpft seit Jahren für ein verstärktes En-gagement im Bildungsbereich der Entwicklungsländer;denn Bildung ist ein essenzieller Bestandteil der nach-haltigen Entwicklung einer Gesellschaft. Laut OECDgibt es eine enge Beziehung zwischen den Ausgaben fürweiterführende Schulen und für Schul- und Hochschul-ausbildung und der Wirtschaftsentwicklung eines Lan-des. In den vergangenen 20 Jahren habe sich das amstärksten – so die OECD – in Argentinien, Chile und Ja-maika gezeigt. Jamaika ist ohnehin ein gutes Stichwortfür die Entwicklung.
Die Probleme in den Entwicklungsländern sind evi-dent. Weltweit ist jedem siebten Menschen der Zugangzu grundlegender Schulbildung verwehrt. 85 Prozent derSchreib- und Leseunkundigen sowie derjenigen, diekeine Möglichkeit haben, eine Ausbildung zu absolvie-ren, leben in Entwicklungsländern. Hier müssen wir an-setzen. Das bedeutet insbesondere: Wir müssen dafürSorge tragen, dass nicht nur die Schule und der Lehrerda sind, sondern zum Beispiel auch das Lehrmaterial.Selbst daran fehlt es häufig.Kollegin Kofler hat darauf hingewiesen, dass manGebührenfreiheit braucht. Ich möchte erwidern: Das giltauch bei uns zu Hause, in den Bundesländern.
Da müssen wir uns alle an die eigene Nase fassen.
– Ich sage ja: Wir müssen uns alle an die eigene Nasefassen. Die Schulbuchfreiheit gibt es zum Beispiel inBerlin nicht, wo bekanntermaßen eine linke Partei in derRegierung vertreten ist.
Wir dürfen Forderungen nicht nur für die Entwick-lungsländer erheben, sondern müssen sie genauso fürunser eigenes Land erheben. Dafür wollen wir sorgen.Eben ist von der Kollegin Kofler das Thema Kinder-arbeit angesprochen worden; das ist mir wichtig; das istin der Tat ein ganz wesentlicher Punkt. Niemand willKinderarbeit. Aber wir müssen sehen, dass es Wechsel-wirkungen gibt. Als der Kollege Klimke und ich in In-dien waren und dort speziell dieses Thema angesprochenhaben, haben wir die Not von Eltern erlebt, die ihre Kin-der nicht ernähren können und sie aus der Not heraus anandere abgegeben, mitunter sogar verkauft haben. Daskann nicht das Ziel sein.Deshalb kommt es darauf an, dass wir vernünftigeModelle finden, die es den Eltern möglich machen, ihreKinder großzuziehen und ihnen auch eine Schulbildungzu ermöglichen. Das ist wichtig. Es geht nicht an, grob-schlächtig, wie das in dem Antrag zum Teil geschieht,
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Hellmut Königshaus
Lösungen zu finden, die überall greifen sollen. Es gibt inden einzelnen Ländern sehr unterschiedliche Vorausset-zungen. Es kommt darauf an, dass wir diese unterschied-lichen Voraussetzungen beachten und entsprechende Lö-sungen finden.Die Fokussierung auf dieses Thema ist wichtig. Wirunterstützen Sie in dieser Zielsetzung. – Frau Präsiden-tin, ich sehe das Blinken und komme auch zum Schluss.Es ist wichtig, Lösungen zu finden. Wir sollten unsbemühen, die Probleme vor Ort jeweils differenziert zubetrachten, statt einfach alles über einen Kamm zu sche-ren und überall die gleichen Lösungen anzustreben.Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren, für dieAufmerksamkeit und Ihnen, Frau Präsidentin, für dieGeduld.
Die Kollegin Anette Hübinger hören wir jetzt für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! VerehrteKolleginnen und Kollegen! Bildung ist in Deutschlandein zentrales Thema. Unsere Bundeskanzlerin beschreibtes sehr treffend, wenn sie sagt: Unser Land muss zur Bil-dungsrepublik Deutschland werden.Was uns in Deutschland etwas wert ist, muss uns auchin den anderen Ländern dieser Welt recht sein. Daher ge-hört für die Unionsfraktion auch in unseren Partnerlän-dern die Bildung der Menschen – neben Armutsbekämp-fung und Bewahrung der Schöpfung – zu den Schlüsselnunseres entwicklungspolitischen Handelns.
Erst wenn Menschen ihre Talente entfalten können undbefähigt werden, selbstbestimmt ihr Leben in die Handzu nehmen, werden wir einen nachhaltigen Erfolg unse-rer Entwicklungszusammenarbeit verzeichnen.Dazu brauchen Menschen Bildung, die Wissen, Werteund Fähigkeiten vermittelt. Sie brauchen darüber hinauseine Bildungsstruktur, die ihre Bedürfnisse und Le-bensumstände berücksichtigt, Herr Kollege Königshaus.Bildung muss für alle zugänglich sein.
Diese Aussage darf sich nicht nur auf eine Grundbildungbeziehen, sondern muss alle Bereiche der Bildung, vonder frühkindlichen Bildung bis zur Möglichkeit des le-benslangen Lernens, umfassen.
Eine Konzentration unserer Hilfen auf die Grundbildungallein würde bedeuten, die Tür nur einen Spaltbreit zuöffnen und die Chancen auf eine Entwicklung durch Bil-dung zu reduzieren. Genau das wollen wir als Koali-tionsfraktion nicht. Deshalb haben wir in unserem heutezu diskutierenden Antrag einen breiteren Ansatz ge-wählt, der für die Bildungssituation in unseren Partner-ländern zukunftsweisend sein wird.Heute befasst sich in New York die UN-Vollver-sammlung unter anderem mit der bisherigen Umsetzungder acht Millenniumsentwicklungsziele. Grundbildungfür alle Mädchen und Jungen ist das zweite der achtZiele, die es bis 2015 weltweit umzusetzen gilt. Nachden bisherigen Bilanzen sind wir hierbei auf einem rich-tigen Weg. In acht der zehn dokumentierten Regionen istnach Auskunft der UN dieses Ziel bereits zu 90 Prozenterfüllt. So besuchen heute 29 Millionen Kinder mehreine Schule als noch 1999. Allerdings liegt die Einschu-lungsquote südlich und nördlich der Sahara noch weitunter der 90-Prozent-Marke. Auch kann uns die Zahl derAnalphabeten auf dieser Welt nicht ruhen lassen.Trotz guter Fortschritte bleibt noch viel zu tun. Dieinternationale Gebergemeinschaft steht ebenso wieDeutschland in der Pflicht, ihre Anstrengungen fortzu-setzen und noch zu verstärken. In der schwerpunktmäßi-gen Zusammenarbeit mit unseren Partnern erreichte Bil-dung im Jahr 2007 einen Anteil von 5,84 Prozent; daswaren rund 116 Millionen Euro. Das war mehr als ge-plant, aber der Betrag muss unseres Erachtens noch ge-steigert werden.
Für den Bereich der Grundbildung verwendeten wiretwa ein Drittel des Geldes. Auch dieser Anteil müsste,Herr Kollege Königshaus, vergrößert werden.Meine Damen und Herren, frühkindliche Bildung undGrundbildung sind der Schlüssel für jedes weitere Ler-nen. Dabei stellen wir fest, dass es immer noch eine un-gleiche Verteilung des Angebots zwischen Stadt undländlichem Raum gibt. Um hier stärker voranzukom-men, brauchen wir mehr regionale und praxisorientierteAnsätze. Wir müssen uns stärker mit den Gegebenheitenvor Ort auseinandersetzen und im Dialog mit den Part-nern neue Ansätze entwickeln, um Schulbesuche zuerleichtern. Ich denke da an die Abschaffung des Schul-geldes, das Bereitstellen von Lernmaterial und Anreiz-modelle für Lehrer, eine Lehrtätigkeit im ländlichenRaum aufzunehmen, aber auch an so einfache Dinge wiedie Anpassung der Ferien an den landwirtschaftlichenKalender – oft werden die Kinder zur Hilfe bei der Erntebenötigt – oder die Einführung von Schulspeisung.So hat beispielsweise in Kolumbien, im Süden vonBogota, das Kolpingwerk Kolumbiens gemeinsam mitdem kolumbianischen Institut für Familie und Wohlfahrt15 Schulkantinen eingerichtet. Die Betreuung und dasEssen in den Kantinen haben dazu beigetragen, dass die
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Anette HübingerKinder heute viel regelmäßiger zur Schule gehen undsich auch Kinder aus schwierigen familiären Verhältnis-sen zum Schulbesuch angemeldet haben.
Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie pragmatische An-sätze die allgemeine Lebenssituation von Kindern erheb-lich verbessern können und darüber hinaus ihre Bil-dungschancen erhöhen.Um das Bildungsdefizit in unseren Partnerländern zubeseitigen, reicht die Steigerung der Schulbesuchsrateallein nicht aus. Die Qualität des Schulabschlusses mussauch zu einer Weiterbildung befähigen. Eltern müssenerkennen, dass Kinder einen nachhaltigen Nutzen aus ih-rem Schulbesuch haben, dass Kinder nach der Grundbil-dung lesen, schreiben und rechnen können. Dies ist oftnicht der Fall. Hierzu ist neben stimmigen Lehrplänengut ausgebildetes Lehrerpersonal in genügendem Aus-maß eine entscheidende Komponente, damit Quantitätund Qualität ineinander greifen.
Neben den Einschulungsraten sollten wir verstärktauf die Abschlussraten achten. In den ärmsten Ländernbricht jedes vierte Kind die Grundschule vorzeitig undohne Abschluss ab, und für Millionen von Grundschul-absolventen steht kein weiterführendes System zur Ver-fügung. Deshalb ist es genauso wichtig, angepasste undleistungsfähige Sekundarschulbereiche insbesondere imländlichen Raum zu installieren. Hilfreich kann hier si-cherlich auch die Möglichkeit des E-Learning sein.Mit dem erfolgreichen Abschluss ihrer Ausbildungsollen die jungen Menschen für ein eigenverantwortli-ches Leben befähigt sein und die Qualifikation für eineweiterführende technische oder akademische Ausbil-dung erhalten haben; denn wie bei uns in Deutschland istder Mangel an ausgebildeten Fachkräften im Produk-tions- und Dienstleistungsbereich auch in Entwicklungs-ländern ein immer größer werdendes Problem.Wir verfügen über ein hervorragendes Know-how imBereich der Berufs-, Weiter- und Hochschulbildung. Ge-nau hier lag in der Vergangenheit auch der Fokus unsererentwicklungspolitischen Zusammenarbeit im Bildungs-bereich. Unsere Partner sprechen uns immer wieder da-rauf an, unser Engagement in der Berufsausbildung zuverstärken, da sie erkannt haben, dass dies der beste Wegist, bei der eigenen Industrialisierung voranzukommenund eine Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen, die nötigist, um in der globalisierten Welt bestehen zu können.
Daher sollte dieser Schwerpunkt wie auch die Grund-bildung weiter ausgebaut und verbessert werden. EineKooperation mit ansässigen Wirtschaftsunternehmen imRahmen von Private-Public-Partnership-Projekten mussunseres Erachtens gefördert werden, wie zum Beispiel dieGründung einer Berufsakademie, die von in Südafrikaansässigen deutschen Unternehmen geplant ist. Die Be-deutung von Berufsausbildungsprogrammen spielt be-sonders im nonformalen Sektor eine große Rolle. Fürjunge Menschen, denen es nicht möglich war, am forma-len Bildungssystem teilzunehmen, ist solch eine Ausbil-dung oft die einzige Möglichkeit, eine Qualifikation zuerhalten.Meine Damen und Herren, als letzten Punkt möchteich noch auf die Zusammenarbeit im Hochschul- undWissenschaftsbereich, der auch in den Entwicklungslän-dern aufgrund der Globalisierung einen immer höherenStellenwert erhält, eingehen.Im Rahmen der Internationalisierungsstrategie wer-den wir unter der Federführung von Bundesforschungs-ministerin Annette Schavan Ansätze entwickeln, um inunseren Partnerländern moderne Hochschulbildungs-,Forschungs- und Innovationssysteme zu stärken bzw. zuentwickeln. Dabei werden wir entwicklungspolitischeInstrumente mit wissenschaftlich-technischen abstim-men. Durch eine Stärkung der Hochschul- und For-schungsstrukturen wollen wir auch einer Abwanderungvon Eliten aus Entwicklungsländern vorbeugen. Gutausgebildete Fachkräfte sind für die Entwicklung in die-sen Ländern unverzichtbar.
In diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklichauf das Engagement unserer Bundesregierung hinwei-sen, einen internationalen Verhaltenskodex herbeizufüh-ren, der das Abwerben von Lehrern verhindern soll.Bei der Entwicklungszusammenarbeit im Bereich derBildung sollten wir aber auch verstärkt die Potenzialeder deutschen Auslandsschulen, der Goethe-Instituteoder auch der Auslandsvertretungen unserer Stiftungennutzen und sie zur Stärkung der Bildungssysteme unse-rer Partner einsetzen.Bildung ist die Chance auf Entwicklung. DieseChance wollen wir unseren Partnerländern nicht vorent-halten. Der Antrag der Koalitionsfraktionen unterstreichtdiesen Ansatz. Ich bitte daher um Ihre Zustimmung.
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt Hüseyin-
Kenan Aydin.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Bildung ist ein Grundrecht. Art. 26 derUN-Menschenrechtscharta schreibt dieses Grundrechtauch fest. Hier wird klargestellt, dass jeder das Recht aufunentgeltliche Grundbildung hat.Auch das zweite der Millenniumsentwicklungszielefordert: Primarausbildung für alle. Die Regierungen ha-ben sich in Dakar im Jahr 2000 darüber verständigt, eineobligatorische, gebührenfreie und vor allem qualitativgute Grundbildung für alle Kinder bis zum Jahr 2015 si-cherzustellen. Daher ist auch Frau Merkel darauf ver-pflichtet. Damit haben alle Regierungen erkannt, dass
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Hüseyin-Kenan Aydinder beste Beitrag zur Entwicklung armer Länder einebreit angelegte Initiative zur Verbesserung der Grundbil-dung ist. So weit scheinen sich alle auf dieser Welt einigzu sein, auch hier in diesem Hause.Die Globale Bildungskampagne stellte fest: WennMädchen in den armen Ländern nur ein Jahr länger zurSchule gingen, würde ihr zukünftiges Einkommen umbis zu 20 Prozent höher liegen. Das käme auch der Ent-wicklung regionaler, wie aber auch nationaler Märktezugute, da die Kaufkraft damit höher liegen würde.Wenn alle Kinder eine Grundschule besuchen könnten,hätten wir 700 000 HIV-Infektionen pro Jahr weniger, daBildung auch zur Aufklärung beiträgt.Dennoch gehört der Sektor Grundbildung im Rahmender Entwicklungszusammenarbeit zu einem der amstärksten vernachlässigten Sektoren in den letzten Jah-ren. Da hat Herr Königshaus vollkommen recht. Deshalbmuss mehr in Grundbildung investiert anstatt gestrichenwerden, auch wenn die Geberländer ihre Zusammenar-beit harmonisieren.
Denn weltweit sieht die Bildungssituation immernoch alles andere als befriedigend aus. 780 MillionenErwachsene können weder lesen noch schreiben. Min-destens 72 Millionen Kinder haben keine Möglichkeit,zur Schule zu gehen. Die Mehrheit von ihnen sind Mäd-chen. Allein in Afrika haben 34 Prozent der Kinderkeine Möglichkeit, die Grundschule zu besuchen. DieSchulabschlussraten liegen in vielen Ländern bei unter30 Prozent, weil man leider nur auf Quantität anstatt aufQualität setzt. Qualität hat mit finanziellen Mitteln, mitpersonellen Ressourcen und mit der Ausstattung vonSchulen zu tun.Diesen Zahlen zum Trotz: Für das Jahr 2009 ist wei-terhin ein Anteil von nur 120 Millionen Euro für Grund-bildung vorgesehen. Berechtigterweise hat der interna-tionale Bildungsbericht 2008 der Kanzlerin das Zeugnis„ausreichend“ ausgestellt.
Durchgefallen ist die Bundesrepublik Deutschland ver-mutlich nur deswegen nicht, um ein Sitzenbleiben zuvermeiden.
Unter den Geberländern belegt Deutschland nur den14. Platz. Dieses Versprechen haben Sie gebrochen, vorallem Frau Merkel als Kanzlerin, die sich diesen Millen-niumszielen ebenfalls verpflichtet hat.Daher liegt Ihnen heute ein Antrag von uns vor, derSie noch einmal an dieses Versprechen erinnert und dieEinhaltung endlich einfordert. Auch die Regierungsfrak-tionen haben einen Antrag vorgelegt, in dem richtigeFeststellungen getroffen werden
aber sonst nichts. Denn am Ende haben Sie Angst vorder eigenen Courage bekommen. Sie beenden Ihren An-trag mit Floskeln. Sie möchten weiter reden; wir wollenallerdings handeln.
Mit Schönreden ist keinem Kind in Afrika geholfen.Um den entsprechenden Anteil an den von der EUangesetzten 4,3 Milliarden Euro beizutragen, müssteDeutschland seinen für Bildung vorgesehenen Betragauf 913 Millionen Euro erhöhen. Davon sind Sie nochmeilenweit entfernt.Wie sieht die Wirklichkeit aus? Afghanistan hat mit72 Prozent die höchste Analphabetenrate weltweit – unddas nach fast sieben Jahren des sogenannten Wiederauf-baus.Dennoch ist der Schwerpunkt in Afghanistan auch2009 beileibe nicht Grundbildung. Der Großteil des Gel-des für den zivilen Aufbau geht an den Sektor Gestal-tungsspielraum. Hierunter soll auch die Demokratisie-rung fallen. Doch wie wollen Sie ein Land, das vonHungerkrisen bedroht ist, das sich im Krieg befindet undin dem 70 Prozent Analphabeten leben, demokratisie-ren? Können Sie mir das verraten?Stimmen Sie nicht auch mit mir darin überein, dassdazu vor allem Bildung notwendig ist? Stattdessen wer-den weiter über 500 Millionen Euro für Kriegseinsätzein Afghanistan eingesetzt.Ich fordere Sie auf: Beenden Sie diese Einsätze! Mitdiesen eingesparten 500 bis 600 Millionen Euro könnteman in Afghanistan einen besseren Aufbau durch Bil-dung und damit auch Demokratisierung vorantreiben.Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen.
Mir liegen noch zwei Anmeldungen für Zwischenfra-
gen vor. Sollen dies nun Kurzinterventionen werden? –
Dann machen Sie eine Kurzintervention, Herr Raabe.
Herr Aydin, wir hatten gerade diese Woche auf Einla-dung von Frau Staatssekretärin Kortmann einen afghani-schen Abgeordneten als Gast. Er hat uns berichtet, dassim Süden des Landes, wo Schulen aufgebaut werden,diese Schulen von den Taliban sofort niedergebrannt undzerstört werden. Er hat uns eindringlich gebeten, militä-rischen Schutz zu geben. Er hat nämlich gesagt, dass esgar keinen Sinn macht, Schulen zu bauen, wenn wirnicht gleichzeitig durch Militär dafür sorgen, dass dieseSchulen stehen bleiben. Ich finde, das sollten Sie beden-ken.Man leistet in Afghanistan viel für die Bildung, wennman nicht nur Schulen baut, sondern auch dafür sorgt,dass diese Schulen stehen bleiben. Sie unterstützen aller-dings indirekt diejenigen, die diese Schulen zerstören,
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Dr. Sascha Raabeund insofern setzen Sie sich dort weniger für Bildung einals wir.
Nun haben Sie, Frau Pfeiffer, das Wort.
Herr Kollege Aydin, ich kann mich eigentlich dem
anschließen, was der Kollege Raabe gesagt hat. Ich rate
Ihnen dringendst, sich einmal nach Afghanistan zu bege-
ben. Schauen Sie sich dort eine Schuleröffnung an; das
habe ich gemacht. Wir haben zusammen mit dem Staats-
sekretär Kossendey eine Schule für 1 500 Kinder eröff-
net. Davon waren mehr als die Hälfte Mädchen. Das ist
also an sich schon eine tolle Schule.
Das, lieber Kollege Aydin, konnten wir nur machen,
weil sowohl die afghanischen als auch die deutschen Si-
cherheitskräfte nicht uns bewachten, sondern die Schul-
eröffnung an sich. Dies bestätigt genau das, was wir sa-
gen, dass nämlich dieses Land nur dann eine Zukunft
hat, wenn wir dem Umstand Rechnung tragen, dass Ent-
wicklung nur möglich ist, wenn die Sicherheit gewähr-
leistet ist. Wenn wir nicht sichern, können wir nicht auf-
bauen. Die Reihenfolge, die Sie vorschlagen, lieber
Kollege, ist meines Erachtens also völlig falsch.
Herr Aydin, zur Antwort, bitte.
Lieber Kollege Raabe, liebe Kollegin Pfeiffer, ich
habe bereits in meiner Rede darauf hingewiesen, dass
der sogenannte Aufbau mit militärischen Hilfen seit sie-
ben Jahren andauert, und seit sieben Jahren ist kein Fort-
schritt zu erkennen.
Sieben Jahre lang ist es nicht gelungen, die Taliban mit
den Mitteln des Krieges zu bekämpfen.
Die Taliban werden auch in weiteren sieben Jahren mit
Kriegsmitteln nicht bekämpft werden können.
Das sollten Sie endlich begreifen. Deshalb fordere ich
Sie noch einmal auf: Beenden Sie den Kriegseinsatz in
Afghanistan!
Bereiten Sie das mit einer vernünftigen Exit-Strategie
vor. Lassen Sie Afghanen Afghanistan in die Hand neh-
men, und lassen Sie sie uns mit unseren Mitteln dabei
unterstützen, dass das Land vernünftig aufgebaut wird;
das geht nicht mit einem Kriegseinsatz.
Die Kollegin Ute Koczy hat jetzt das Wort für Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! So wichtig das Thema Afghanistan auch ist:Ich möchte mich zum Thema Bildung äußern; denn dassteht heute Abend im Mittelpunkt. Ich möchte zunächst– wie alle anderen auch; da sind wir uns zum Glück ei-nig – darauf hinweisen, dass Bildung ein Schlüsselele-ment für die Weiterentwicklung und die Beseitigung vonArmut ist.
Wer über eine gute Bildung verfügt, hat einfach mehrChancen, am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Le-ben teilzunehmen. Dass das inzwischen Konsens ist undauch wieder stärker in den Mittelpunkt gerückt wird, ist,denke ich, ein gutes Zeichen. Wir wissen auch – das zei-gen die Studien –, dass dadurch die Wahrscheinlichkeitgeringer wird, dass sich Menschen mit HIV infizieren;denn wenn eine Person entsprechend gebildet ist, dannweiß sie damit umzugehen. Bildung führt also in der Ge-sundheit und auch in anderen Bereichen zu Fortschritten.Das gilt ebenfalls für die Mütter- und Kindersterblich-keitsrate. Bildung bewirkt, dass die hohe Rate sinkt. Andieser Stelle wird der klassische Zusammenhang deut-lich: In dem Augenblick, in dem man bei Bildung an-setzt, werden auch in anderen Schlüsselbereichen derEntwicklungspolitik Erfolge erreicht.Angesichts dessen ist es gut, dass die Weltgemein-schaft inzwischen darauf hingewiesen hat, dass dieGrundschulbildung für alle Kinder bis 2015 ein zentralesMillenniumsentwicklungsziel ist. Es gibt gemeinsameAnstrengungen, und es gibt auch Erfolge. Es gibt vor al-lem in der Subsahara hohe Steigerungsraten bei der Ein-schulungsquote. Sie stieg dort im Zeitraum von 1999 bis2005 von 57 Prozent auf 70 Prozent. Dies zeigt, dass mitden Millennium Development Goals eine positive Ent-wicklung erreicht worden ist. Das ist Ansporn genug,sich noch stärker dafür einzusetzen, dass die 70 Millio-nen Kinder, die noch keine Schulbildung haben, dieseauch noch erhalten.
Deutschland sollte sich überlegen, wie es sich in die-sem Bereich stärker engagieren kann. Wir haben mit
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19100 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Ute KoczyAufmerksamkeit gelesen, was die Koalition, aber auchdie Linke geschrieben hat: Im Jahr 2005 landete Deutsch-land mit seinen Beiträgen zur Grundbildung in derEntwicklungszusammenarbeit auf Platz 16 der 22 Haupt-geberländer der OECD. Das ist natürlich keine Erfolgs-geschichte. Es zeigt vielmehr, wie stark man dies ver-nachlässigt hat. Deswegen ist es sehr wichtig und zubegrüßen, dass die Ausgaben im Rahmen der bilateralenZusammenarbeit für das Haushaltsjahr 2009 verdoppeltwerden sollen. Aber ich füge hinzu: Das ist nicht ausrei-chend, um das Ziel tatsächlich zu erreichen. Ich hätte mirauch gewünscht, dass die Beiträge für die Fast-Track-In-itiative der Weltbank höher ausgefallen wären; denndiese Initiative scheint ein ganz guter Ansatz zu sein, umdie Eigenverantwortung in den Partnerländern beimThema Bildung zu stärken. Frau Kollegin Kofler hat da-rauf schon hingewiesen.Zu den Anträgen folgende Bemerkungen: Der Antragder Koalitionsfraktionen beschreibt den gesamten Be-reich „Bildung in der Entwicklungspolitik“. Neben derGrundbildung nennen Sie einige weitere wichtige Hand-lungsfelder wie zum Beispiel weiterführende Bildung,Berufsschulbildung und Ausbildung in fragilen Staaten.Es lässt sich allerdings im Forderungsteil nicht immernachvollziehen, worin denn der optimale deutsche Bei-trag liegen soll. Das heißt, viele der Forderungen sindrichtig, aber sie sind zu unkonkret. Beispiel: Eine IhrerForderungen ist, sich dafür einzusetzen, die Fast-Track-Initiative der Weltbank ihrer Bedeutung nach angemes-sen finanziell auszustatten. Die Frage ist aber: Was ist„angemessen“? Da hätten wir uns natürlich gewünscht,dass man hier klare Zahlen auf den Tisch legt. Wir vonder Opposition weisen Sie gerne darauf hin, dass Sie andieser Stelle ein bisschen unkonkret geblieben sind.Wer mehr Priorität für die Grundschulbildung einfor-dert, muss aber auch die starke Diskrepanz bei den Aus-gaben für den Schwerpunkt Bildung und den Ausgabenfür die Hochschulkooperation mit den Entwicklungslän-dern ansprechen. Da stellen sich schon die Fragen: Wieviele Universitäten gibt es denn in Afrika? Wie werdendiese unterstützt? Besteht da nicht ein schwarzes Loch,weil wir viel zu wenig Aufmerksamkeit darauf gerichtethaben, sodass wir an einer Veränderung arbeiten müs-sen?Spannend wird es auch, wenn Sie von den kompara-tiven Vorteilen Deutschlands bei der Konzeption vonBildungssystemen sprechen. Da hätte mich schon inte-ressiert, wo Sie diese sehen, und vor allen Dingen, wiediese in Entwicklungsländer eingebracht werden kön-nen.Grundsätzlich frage ich mich, wie die Bundesregie-rung all die verschiedenen Bildungsbereiche, die Sie an-sprechen und die ich auch für wichtig halte, mit einemBudget von knapp 150 Millionen Euro für 2009 tatsäch-lich bewältigen will. Es reicht eben nicht aus, nur denBogen zu spannen und ein Kessel Buntes zusammenzu-fügen, ohne zu präzisieren, wohin man will. Deswegenwerden wir uns bei diesem Antrag enthalten.Das gleiche Votum gilt auch für den Antrag der Kol-leginnen und Kollegen der Linksfraktion. Dieser Antragist aufgrund der knapp gehaltenen und guten Analyse deraktuellen Situation lesenswert. Aber wir sind nicht IhrerAuffassung, dass die Studienplatzkosten ausländischerStudierender in Deutschland nicht auf die ODA-Quoteangerechnet werden sollen. Das hätte andere Förde-rungsinstrumente zur Folge. Wir sind daher der Auffas-sung, dass Sie da und in weiteren Punkten nicht die rich-tigen Schlussfolgerungen gezogen haben. Deswegenenthalten wir uns bei Ihrem Antrag.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Die Kollegin Christel Riemann-Hanewinckel spricht
jetzt für die SPD-Fraktion.
Meine Damen und Herren auf den Rängen im Parla-ment zu dieser etwas vorgerückten Stunde! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Weltweit verbringen Frauen we-sentlich mehr Zeit als Männer mit Erwerbs- undHausarbeit. Frauen erhalten für diese Arbeiten weniger,geben aber mehr Geld für die Ernährung und die Gesund-erhaltung ihrer Familien aus. Frauen investieren ihr Geldeher in die Bildung ihrer Kinder, als Männer dies tun.Frauen könnten, wenn wir ihnen die Möglichkeit geben,wesentlich mehr zum wirtschaftlichen Wachstum ihrerLänder beitragen. Aber 60 Prozent der Frauen weltweitsind Analphabetinnen. Es sind zuerst die Mädchen, dieaus der Schule genommen werden, wenn Eltern das Geldfür Schuluniform, Schulgeld oder Lehrmittel fehlt. Mäd-chen müssen die Schule verlassen, weil ihre Arbeitskraftgebraucht wird, und Mädchen werden viel zu jung ver-heiratet, statt sie lernen zu lassen.
Mädchen, die die Schule besuchten, werden zuFrauen und Müttern, die für sich und ihre Kinder bessersorgen, weil sie nämlich durch das Lernen etwas über ih-ren Körper erfahren haben. Dadurch verringert sich ihrRisiko, bei der Geburt ihrer Kinder zu sterben. Durch dieBildung ernähren sie sich gesünder und achten auf medi-zinische Versorgung für ihre Kinder. Die Sterblichkeits-rate ihrer Kinder ist nur halb so hoch wie bei Mütternohne Schulbildung.
73 Prozent der Kinder, deren Mütter die Schule besuchthaben, werden in die Schule geschickt. Bei Müttern ohneSchulbildung dürfen dagegen nur 51 Prozent der Kinderin die Schule gehen, und das sind dann meistens die Jun-gen.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19101
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Christel Riemann-HanewinckelFrauen mit Schulbildung sind in der Lage, sich sowohlum ihre eigenen Rechte als auch um die Rechte ihrerKinder besser zu kümmern.Meine Damen und Herren, diese wenigen Beispielemachen deutlich, dass Bildung weit mehr ist als bloßeWissensanhäufung. Bildung hat insofern eine hohe Ren-dite: Jeder Euro, der investiert wird, hat eine Rendite vonmindestens 50 Euro. Bildung ist emotionale, kognitiveund gesundheitliche Bildung. Fehlende Bildung vonMädchen und Frauen hat auch Auswirkungen auf dieJungen und auf die Männer und damit auf die Entwick-lungschancen einer ganzen Gesellschaft.Ich möchte Ihnen an dieser Stelle von einem Projektberichten, das ich in Äthiopien kennengelernt habe. DieKindernothilfe, ein evangelischer Verein aus Duisburg,initiiert dort Selbsthilfegruppen. Angesprochen werdendie ärmsten unter den armen Frauen. Allein schon, dassandere Menschen sie als so wertvoll erachten, dass sieangesprochen werden, dass ihre Bedürfnisse und Nöte inden Mittelpunkt rücken, stärkt und bildet ihre Persön-lichkeit. Sie erleben sich erstmalig als Menschen, dieRechte haben. Sie machen die Erfahrung, dass Men-schenrechte unabhängig von Armut oder Reichtum, un-abhängig von Bildung, unabhängig vom Geschlecht,also auch für die Frauen, gelten. Ein Satz, den wir immerwieder gern wiederholen, ist, dass Menschenrechte un-teilbar sind. Diese Frauen erleben es ganz praktisch.
Diese Frauen erhalten Beratung und Unterstützungdabei, gemeinsam von ihrem wirklich minimalen Besitzeinen winzigen Bruchteil zu sparen. Gemeinsam ent-scheiden sie auch, was mit dem Geld geschehen soll,was für sie wichtig ist, nicht, was für die wichtig ist, diesie dazu anleiten. Jede Einzelne kann aus dem großenTopf einen Kredit bekommen. Existenzgründungen wer-den möglich. Sie können besser für ihre Familien sor-gen; denn sie bestimmen über den Einsatz der Gelder.Sie verfügen über Wissen und Mittel, und sie treffen– oft erstmalig – eigenständige Entscheidungen.Durch diese Erfahrungen geschieht Bewusstseinsbil-dung. Die Frauen erkennen, dass sie ihr Leben und dasLeben ihrer Kinder selbst in die Hand nehmen können.Sie wissen, dass sie sich gemeinsam gegen die Traditionder Genitalverstümmelung zur Wehr setzen müssen, undsie haben es geschafft – auch wieder gemeinsam –, ihreTöchter, ihre Kinder vor dieser Form der Gewalt zu be-wahren. Sie erfahren auch, dass Schulausbildung dabeihilft, eine Lebensperspektive zu entwickeln und denWeg aus der Armut zu finden.Diese Erfahrung, für sich selbst etwas bewirken zukönnen, für eigene Belange und Rechte gemeinsam ein-zutreten, geben die Frauen an ihre Kinder weiter. Das isteine ganz andere Art von Bildung. Hier kann Demokra-tiebildung entstehen und wachsen.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kom-
men.
Ja. – Wenn wir Mädchen und Frauen Bildung ermög-
lichen, wenn die Frauen die gleichen Chancen erhalten
wie die Männer, dann kann Zukunftsbildung stattfinden.
Wir haben das in unserem Antrag in mehreren Punkten
deutlich beschrieben. Wenn wir die Frauen in ihrem En-
gagement unterstützen, werden wir auch den Millen-
niumszielen näherkommen. Deshalb bitte ich Sie, unse-
rem Antrag unbedingt zuzustimmen, den Frauen zuliebe.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung auf Drucksache 16/10360.Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss-empfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionender CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/9424 mitdem Titel „Förderung von Bildung und Ausbildung –Entwicklungspolitischen Schlüsselsektor konsequentausbauen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist die Be-schlussempfehlung bei Zustimmung durch die Koalition,Gegenstimmen von FDP und Linke sowie Enthaltungvon Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung desAntrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/8812mit dem Titel „Entwicklung braucht Bildung – Dendeutschen Beitrag erhöhen“. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Diese Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen vonKoalition und FDP gegen die Stimmen der Fraktion DieLinke bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen ange-nommen.Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 12 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, KarinBinder, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEKeine Lobbyisten in den Ministerien– Drucksache 16/9484 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
HaushaltsausschussEs ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat-tieren, wobei Die Linke fünf Minuten erhalten soll. –Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache. Zu Beginn der Debattegebe ich das Wort dem Kollegen Roland Claus für DieLinke.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Allein der Titel unseres Antrages erklärt unser
Anliegen: „Keine Lobbyisten in den Ministerien“. Ge-
meint sind etwa 100 Vertreter der privaten Wirtschaft,
der Banken und von Wirtschaftsverbänden, die zeitwei-
lig in den Bundesministerien arbeiten, aber auf den Ge-
haltslisten von Unternehmen stehen.
Wir führen darüber seit etwa zwei Jahren im Bundes-
tag eine Debatte. Es gab Anfragen aller drei Opposi-
tionsfraktionen und Medienrecherchen. Eine fraktions-
lose Abgeordnete hat diese Frage schon 2003 gestellt.
Deshalb hat sich der Haushaltsausschuss des Bundesta-
ges mit dem Sachverhalt beschäftigt. Der Bundesrech-
nungshof hat einen sehr eindringlichen Bericht verfasst,
aus dem ich einen Satz zitieren möchte:
Das Risiko von Interessenkonflikten besteht aller-
dings in erster Linie bei Beschäftigten von Einzel-
unternehmen und Verbänden, die naturgemäß
eigene, häufig gewinnorientierte Interessen verfol-
gen.
Genau dort liegt der Kern des Problems. Während die
Bundesregierung, nicht zuletzt per Amtseid, dem Ge-
meinwohl verpflichtet ist, sind Vertreter einer Bank
selbstverständlich in erster Linie dem Gewinninteresse
der Bank verpflichtet. Wer diesen Interessenkonflikt ge-
ring schätzt oder gar aus der Welt räumen will, der ist
schlicht und einfach naiv.
Nun sind diese Verbände nicht etwa ausgewogen ver-
treten. Man könnte denken, die Bundesregierung schaut
sich die ganze Zivilgesellschaft an und bildet sie entspre-
chend ab: vom Arbeitslosenverband über Gewerkschaf-
ten bis zum Bundesverband privater Banken. Aber Fehl-
anzeige! Es ist schön einseitig. Ich will Ihnen nicht alle
hundert Namen vorlesen, aber Beispiele: Bayer AG,
BASF, Eon, PricewaterhouseCoopers, Kreditanstalt für
Wiederaufbau – an mehreren Stellen vertreten –, Daim-
ler, Dresdner Bank. Das ist schon ein relativ einseitiges
Bild.
Der Haushaltsausschuss hat deshalb im Juni einen
Beschluss gefasst, und zwar einstimmig, und gesagt: Wir
brauchen klarere Regelungen. Der Ausschuss hat zur
Kenntnis genommen, dass die Bundesregierung erklärt
hat, sie wolle dazu ebenfalls einen Beschluss fassen. Das
hat sie im Juni auch gemacht. In wesentlichen Punkten
aber ist sie nicht den Vorgaben des Haushaltsausschusses
gefolgt, was dazu führte, dass der haushaltspolitische
Sprecher der Union im Ausschuss wirklich im Quadrat
gesprungen ist, nicht etwa, weil er sich gefreut hat, son-
dern weil er sich geärgert hat. Jetzt spricht die Bundes-
regierung schlicht von einem Austauschprogramm. Was
wird denn dort ausgetauscht? Die Meinung der Bundes-
regierung gegen die Meinung der Deutschen Bank, oder
was? Oder man verharmlost das und sagt: Die tun nichts. –
Woher kenne ich den Spruch bloß? Wenn man einmal
zusammenrechnet, was diese 100 Leute im Jahr verdie-
nen, dann kommen mindestens 10 Millionen Euro dabei
heraus. Das ist ein Vielfaches dessen, was die Bundes-
tagsparteien – außer der Linken – von der Allianz an
Spenden bekommen; davon war schon die Rede. Des-
halb haben wir unseren Antrag gestellt.
Ich sage Ihnen noch etwas: Sie können nicht den gan-
zen Morgen in einer Debatte zubringen, in der Sie mehr
Regulierung der internationalen Finanzmärkte fordern
und verlangen, dass endlich Ordnung geschaffen wird
– es sind viele harsche Worte gefallen –, und eine fortge-
setzte Lobbyarbeit für Banken in den Bundesministerien
dulden. Das passt nicht zusammen.
Für uns ist eine Konsequenz, dass Lobbyisten nicht in
den Ministerien beschäftigt sein sollten.
Im Übrigen hoffe ich, dass sich das Gerücht nicht be-
stätigt, wonach die Bundesregierung beabsichtigt, die
Treuhand Liegenschaftsgesellschaft, also den ostdeut-
schen Immobilienlogistiker, an Lone Star zu verkaufen.
Ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem Antrag
„Keine Lobbyisten in den Ministerien“.
Vielen Dank.
Ralf Göbel hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Im Frühsommer dieses Jahres haben wir schon einmaleine Debatte über die Mitarbeit von Externen in der Bun-desverwaltung geführt. Grundlage und Anlass für diedamalige Debatte war der Bericht des Bundesrechnungs-hofes, der einige kritische Anmerkungen zu Art undUmfang der Einbeziehung Externer in verschiedenenBereichen der Bundesverwaltung gemacht hat. Der Zeit-raum, der vom Rechnungshof untersucht wurde, reichtevon 2004 bis 2006.Der Rechnungshof hat damit eine wichtige Diskus-sion angestoßen, die allerdings nicht neu ist. Es geht umdie Frage, in welchem Umfang es öffentlichen Verwal-tungen erlaubt ist, verwaltungsexterne Personen tempo-rär mit Aufgaben der öffentlichen Verwaltung zubetrauen bzw. sie in Prozesse einzubinden. Das ist einThema, das in der wissenschaftlichen Diskussion schonsehr lange erörtert wird, und zwar – je nach Position desBetroffenen – mit verschiedenen Ergebnissen. Ich plä-diere dafür, dieses Thema sehr differenziert zu betrach-ten. Pauschalierungen sind hier nicht geeignet, Alarmis-mus im Übrigen auch nicht.Ein Personaltausch zwischen Wirtschaftsverbändenund Verwaltung ist nicht grundsätzlich verwerflich; denner bietet die Möglichkeit, gegenseitig in die Strukturenund Prozesse Einblick zu nehmen und Erkenntnisse zugewinnen, wie die andere Seite arbeitet und wie andereVerfahren laufen können. Es gibt sicherlich auch keineEinwände dagegen, Sachverstand zeitlich begrenzt ein-
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Ralf Göbelzubringen, insbesondere bei komplexen Materien. Ichglaube, das ist ein wesentlicher Schritt zu mehr Qualitätgesetzlicher Regelungen. Es ist wesentlich besser, wennExperten, die sich in diesen komplexen Materien aus-kennen, an diesen Vorhaben mitwirken,
als wenn sich die öffentliche Verwaltung alleine damitbeschäftigt.Es ist aber klar – das ist im Sommer dieses Jahresschon betont worden –, dass es keinen Einsatz von Ex-ternen geben darf, wenn es zu Interessenkollisionenkommt. Es ist klar, dass kein Einsatz stattfinden darf,wenn dadurch Wettbewerbsvorteile erzielt werden kön-nen. Auch ist klar, dass ein Einsatz nicht möglich ist,wenn dadurch das Vertrauen in die Gesetzmäßigkeit unddie Gemeinwohlverpflichtung der öffentlichen Verwal-tung infrage gestellt wird. Ebenfalls ist klargestellt wor-den, dass Transparenz gegeben sein muss.Die Bundesregierung hat die Grundsätze, die nichtnur vom Haushaltsausschuss, sondern auch vom Innen-ausschuss aufgestellt worden sind, in eine Verwaltungs-vorschrift umgesetzt, die Verbindlichkeit für alle Bun-desministerien besitzt. Sie wurde am 18. Juni diesesJahres im Kabinett beschlossen und am 25. Juli im Bun-desanzeiger veröffentlicht. Meines Erachtens hat dieBundesregierung alles aufgegriffen, über das im Deut-schen Bundestag zu diesem Thema diskutiert worden ist:Die Zulässigkeit und die Steuerung eines Einsatzes sindgeregelt. Eine Risikoabschätzung ist vorzunehmen, undes ist eine Kontrolle durchzuführen. Entlohnung undTransparenz sind geregelt. Wir werden demnächst im In-nenausschuss und im Haushaltsausschuss einen Berichtüber den Einsatz Externer in der Bundesverwaltung be-kommen, so wie es in der Verwaltungsvorschrift geregeltist. Darüber hinaus ist ein Verhaltenskodex für diejeni-gen erstellt worden, die als Externe in der Bundesver-waltung arbeiten.Insoweit halte ich den Antrag, über den wir heute dis-kutieren, für völlig überholt. Ich glaube auch, dass einigeFormulierungen im Antrag etwas weit von der Wirklich-keit entfernt sind. In der Begründung lese ich:Die Lobbyisten dürfen erst im geordneten parla-mentarischen Verfahren ihre Vorstellungen öffent-lich vortragen.Das heißt ja, dass weder Gewerkschafter noch Unterneh-mensvertreter noch Verbände im Vorfeld eines Gesetzge-bungsverfahrens mit den Ministeriumsvertretern redendürfen. Mich würde einmal interessieren, wie die Praxisim Bundesland Berlin ist, ob sich die Senatoren der Lin-ken auch dort ein Rede- und Kontaktverbot verordnenlassen, bevor sie einen Gesetzentwurf in das BerlinerAbgeordnetenhaus einbringen.
Ich glaube, das, was hier gefordert wird, ist abenteuer-lich.Gewerkschaften werden im Übrigen ihre helle Freudedaran haben, zu erfahren, dass die Sozialreferenten anden deutschen Auslandsvertretungen abgezogen werdenmüssen, weil die Linke das in ihrem Antrag genauso for-dert wie den Abzug der Wirtschaftsvertreter, die in denAuslandsvertretungen der Bundesrepublik Deutschlandbeschäftigt sind.Zum Schluss komme ich auf die Antragsbegründungzu sprechen. Als Beamtenrechtler freut mich sehr, dassdie Linke nun den in Art. 33 Abs. 4 des Grundgesetzesverankerten Funktionsvorbehalt so hochhält und das Be-amtentum preist. Ich muss allerdings sagen: Ich wardann auf Ihrer Homepage. Unter dem Stichwort „öffent-licher Dienst“ steht: Die Abschaffung des Berufsbeam-tentums wird angestrebt.
Ich glaube, das zeigt, wie seriös dieser Antrag zu behan-deln ist.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Jetzt hat Christian Ahrendt das Wort für die FDP-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Herr Claus, Sie haben bei Ihrer Aufzäh-lung beispielsweise darauf verzichtet, zu erwähnen – eswar in der Anfrage der FDP-Fraktion nachzulesen –,dass die IG Metall im Arbeitsministerium vertreten ist.Insofern sind die Lobbyinteressen gleichermaßen an vie-len Stellen vertreten.Was wichtig ist – das sprachen Sie zu Recht an –: Eskann nicht sein, dass rund 108 Mitarbeiter im Zeitraum2004 bis 2006 an Gesetzgebungsvorhaben mitgewirkt ha-ben, ohne dass man es weiß. Es kann auch nicht richtigsein – diese Fälle hat der Rechnungshof dokumentiert –,dass Mitarbeiter, die von Unternehmen oder Verbändenbezahlt werden, an Gesetzesvorhaben mitgewirkt haben,die ihre Unternehmen oder Verbände betrafen. Das istinakzeptabel – das steht außer Frage –, und zwar ausdem einfachen Grund: Ein Gesetzgebungsverfahren istmit dem Anspruch verbunden, dass die Interessen ge-geneinander abgewogen und dann im Sinne des Gemein-wohls gewichtet werden.Allerdings findet Gesetzgebung nicht im Elfenbein-turm statt; sie muss sich letztendlich an der Lebenswirk-lichkeit orientieren. Sie haben die Finanzmarktkrise an-gesprochen. Ohne dass ich den Herrschaften imFinanzministerium zu nahe treten möchte: Ich glaubenicht, dass Sie ohne Spezialisten, die sich auf den inter-nationalen Finanzmärkten auskennen, vernünftige Regu-larien entwickeln können,
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Christian Ahrendtdurch die man in der Lage ist, Krisen zukünftig zu ver-meiden. Es ist sehr wohl wichtig, dass Spezialistenschon frühzeitig in Gesetzesinitiativen eingebunden wer-den, damit keine Gesetze entworfen werden, die an derLebenswirklichkeit vorbeigehen.Das Problem bekommt man dadurch in den Griff– teilweise ist das schon umgesetzt –, dass man die Ge-setze mit entsprechender Transparenz versieht. Das kannman beispielsweise dadurch erreichen, dass, wenn auf-seiten der Ministerien Spezialisten mitgewirkt haben, inden Gesetzesvorlagen ausdrücklich darauf hingewiesenwird. Das hätte erstens den Vorteil, dass man im Initia-tivverfahren gar kein Interesse daran hat, Beeinflussun-gen vorzunehmen, weil man weiß, dass die Konkurrenzdarauf sofort anspringen würde. Der zweite Vorteil wäre,dass man kompetentes Wissen frühzeitig einbindenkönnte, um Gesetze nicht an der Wirklichkeit vorbeige-hen zu lassen.Der Vorschlag, den Sie mit Ihrem Antrag machen,nämlich hier ein Beschäftigungsverbot auszusprechen,bedeutete schlichtweg, das Kind mit dem Bade auszu-schütten. Er hat auch keine Grundlage im Grundgesetz.Wenn Sie den entsprechenden Art. 33 richtig lesen, dannwerden Sie feststellen, dass der Gesetzgeber gesagt hat:In der Regel sollen im öffentlichen Dienst Beschäftigtean hoheitlichen Aufgaben mitwirken. Das heißt abernicht: ausschließlich. Insofern hat schon der Grundge-setzgeber eine entsprechende Öffnung vorgenommen.Es besteht kein Anlass, Ihrem Antrag zu folgen. Dasmeiste ist umgesetzt. Mehr Transparenz ist wünschens-wert.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Kollege Peter Friedrich spricht jetzt für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben nicht nur im April, sondern auch im Juni die-ses Jahres eine Debatte über das Verhältnis von Parla-ment, Regierung und Interessenvertretungen geführt. AlsErgebnis dieser Debatte möchte ich festhalten: Wir allewaren einvernehmlich der Überzeugung, dass Interes-senvertretungen zu einer demokratischen Verfassung ge-hören und dass Interessenvertretung legitim ist, wenn siekeinen unzulässigen Einfluss auf staatliche Institutionenausübt. Wir alle wissen: Es ist notwendig, dass in einemGesetzgebungsverfahren alle Betroffenen angehört undall ihre Befürchtungen und Sorgen berücksichtigtwerden. Gleichwohl stehen wir vor der Aufgabe, dieVerhältnisse klarer zu regeln, und zwar nicht nur im kon-kreten Fall der Mitarbeit in einem Ministerium, sonderninsgesamt.Aufgrund der ungeregelten Verhältnisse im Zusam-menhang mit Lobbyismus bzw. Interessenvertretungkönnte das Vertrauen in die Legitimität des Handelnsvon Parlament und Regierung infrage gestellt werden.Das gilt in besonderer Weise für die vorübergehendeMitarbeit von Personen in Bundesbehörden. Der Bun-desrechnungshof hat hierzu einen Bericht vorgelegt – erwurde bereits angesprochen – und eine ganze Reihe vonHinweisen gegeben, die das Bundesinnenministerium indie entsprechende Dienstanweisung weitestgehend auf-genommen hat.Herr Claus, gestatten Sie mir, auf Folgendes hinzu-weisen: Ich habe den Bericht des Bundesrechnungshofesund den Bericht des Innenministeriums genau gelesen.Ich finde, dass Sie mit Ihrer Interpretation ein bisschenüber das Ziel hinausgeschossen sind. Nicht alle 100 Lob-byisten, von denen Sie sprachen, gehörten deutschenUnternehmen an. Das betraf nur den kleinsten Teil von ih-nen, genauer gesagt 16 Prozent, und auch diese 16 Pro-zent waren nicht per se an entsprechenden Stellen. Wiralle kennen solche Beispiele und sind darüber besorgt.Deswegen müssen wir hier etwas tun. In manchen Un-ternehmen – es kam der Zwischenruf „Fraport!“; ein an-deres Beispiel ist die Telekom – kam es in der Vergan-genheit zu Fehlentwicklungen, die wir beenden müssen.Wenn wir den Inhalt der Vorlage der Bundesregierungumsetzen, können sie aus unserer Sicht weitgehend be-endet werden.Sie dürfen nicht so tun, als handele es sich in jedemFall, in dem jemand die Seiten wechselt, um eine unbe-rechtigte Einflussnahme in Bundesbehörden. Das istnicht so. Das Programm, durch das Mitarbeitern aus derPrivatwirtschaft zeitlich begrenzt und in Positionen mitgeringer Verantwortung die Möglichkeit gegeben wird,einmal auf die andere Seite, nämlich in ein Ministerium,zu blicken – das gilt auch umgekehrt –, ist sehr sinnvoll.Dadurch können das wechselseitige Verständnis und dieGesetzgebung verbessert werden. Außerdem kann dieArbeit privater Unternehmen und Organisationen besserkontrolliert werden. Durch die Beispiele, die Sie ange-führt haben, haben Sie allerdings den Anschein erweckt,als seien all diese Personen Entsandte der Industrie. Daswar bisher mitnichten so. Es traf lediglich auf wenigeEinzelfälle zu, die uns gleichwohl besorgt machen soll-ten.Des Weiteren finde ich, dass Ihr Antrag an einerStelle ein ganz gewaltiges Manko aufweist; deswegen istdie SPD-Fraktion mit der Vorlage des Innenministeriumsnoch nicht ganz zufrieden. Sie fordern in Ihrem Antrag,den Bundesbehörden zu untersagen, externe Personen zubeschäftigen, die für Verbände oder für eine Personen-und Kapitalgesellschaft mit nichtstaatlichen Anteilseig-nern arbeiten. Hierzu möchte ich Ihnen ein Beispiel nen-nen: die Deutsche Bahn. Da Sie sich an den Diskussio-nen über die Deutsche Bahn immer aktiv beteiligt haben,wissen Sie: Die Bahn ist zu 100 Prozent ein Bundes-unternehmen. Gleichwohl möchte natürlich auch ichwissen: Wie ist hier der Personalaustausch geregelt? Wieist hier die Situation im Hinblick auf die Mitarbeit inMinisterien? Ich halte es nach wie vor für legitim, dassbestimmte Personen abgestellt werden, auch von nach-
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Peter Friedrichgelagerten Behörden und öffentlichen Unternehmen. Ichmöchte aber, dass Transparenz besteht. Der Bürger sollteerfahren: Wer hat mitgewirkt? Wer stand dahinter?Wenn ich mir den Bericht des Innenministeriums, deruns jetzt vorliegt, ansehe und zur Kenntnis nehme, wiehoch die Zahl externer Personen ist und wie das Krite-rium „extern“ gefasst ist, muss ich sagen: Dieses Rasterhalte ich, ehrlich gesagt, für etwas zu grob. Auch hierwird der Begriff „öffentlicher Dienst“ verwendet. Dannwird eine ganze Reihe von Personen dem öffentlichenDienst gleichgestellt: juristische Personen, Gesellschaf-ten oder andere Personenvereinigungen, die sich aus-schließlich in öffentlicher Hand befinden, zwischenstaat-liche oder überstaatliche Einrichtungen, an denen derBund, ein Land oder eine andere Körperschaft, Anstaltoder Stiftung des öffentlichen Rechts im Bundesgebietoder ihre Verbände durch Zahlung von Beiträgen oderZuschüssen oder in anderer Weise beteiligt sind. – Dasist ein sehr weites Feld.Ich sage Ihnen noch einmal: Es geht nicht darum, ei-nen Austausch per se zu untersagen, sondern darum,Transparenz zu schaffen. Alle sollten wissen, wer dorttatsächlich arbeitet. Daher hält die SPD den Vorschlag,im jeweiligen Gesetz zu vermerken, wer an seiner Bera-tung und an seinem Zustandekommen beteiligt war– dieser Vorschlag wurde eben gemacht –, für sinnvollund zielführend.Des Weiteren sollten die Berichte über den EinsatzExterner öffentlich sein, um diese Transparenz herzu-stellen. Es reicht aus unserer Sicht nicht aus, dies alleinden Ausschüssen zur Verfügung zu stellen, sondern wirfinden, dass einer breiten Öffentlichkeit mitgeteilt wer-den kann, wer an den Gesetzgebungsverfahren tatsäch-lich mitwirkt. Nach allem, was wir wissen, kann man dasdurchaus publizieren; denn es gibt ja nichts, was dort ge-heim gehalten werden müsste. Dadurch würde Transpa-renz hergestellt und Vertrauen dafür geschaffen werden,dass es dort ordnungsgemäß zugeht. Wir haben darankeinen Zweifel, aber eine entsprechende Transparenz istnotwendig.Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, umden es in dieser Debatte immer wieder geht. Für denDeutschen Bundestag gibt es ein Verbändeverzeichnis,in dem aufgeführt ist, welche Verbände prinzipiell zuAnhörungen etc. eingeladen werden können. Leider wirddieses Verbändeverzeichnis bei Anhörungen in der Re-gel nicht angewendet, sondern es werden weit mehr Ver-bände eingeladen, als darin aufgeführt sind.Häufig wissen wir eigentlich nicht, wer hinter diesenVerbänden steht und wer die Interessen vertritt, die dieseVerbände formulieren. Deswegen ist es unser Wunschund unsere Hoffnung, dass wir es gemeinsam hinbekom-men, dass dieses Verbändeverzeichnis dahin gehend er-weitert wird, dass wir in Zukunft nicht mehr nur den Sitzund den Namen erfahren, sondern auch, wer diesen Ver-bänden welche Zuwendungen und Mittel für ihre Tätig-keit als Interessenvertretung zur Verfügung stellt. Daswäre ein weiterer Schritt. Eine Interessenvertretung soll,muss und kann erfolgen; sie muss aber transparent seinund sich nachvollziehen lassen.In diesem Sinne wäre ich froh, wenn wir als Parla-ment bei dem, was jetzt vom Innenministerium auf demTisch liegt, noch ein bisschen weitergehen würden. Es istAufgabe des Parlaments, darüber zu wachen, dass dieGesetzgebung ordnungsgemäß verläuft, und es ist Auf-gabe des Parlaments, die Exekutive zu kontrollieren.Deswegen finden wir, dass das eine Aufgabe für das ge-samte Parlament und nicht nur für einzelne Ausschüsseist.Wir denken, dass das, was jetzt von der Bundesregie-rung in Reaktion auf den Bericht des Bundesrechnungs-hofs auf den Weg gebracht wurde, noch ein wenig ausge-baut werden muss, um die notwendige Transparenztatsächlich zu erreichen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Jetzt spricht Volker Beck für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Trans-parenz in der öffentlichen Verwaltung und Neutralitätdes exekutiven Handelns sind natürlich wichtige The-men für die Demokratie. Deshalb haben wir bereits imApril dieses Jahres einen Antrag eingebracht, den wiram 25. April hier gelesen haben. Aus diesem Grundefragt man sich: Warum müssen wir im Nachklapp umdiese Zeit noch einmal über einen Antrag zu diesemThema debattieren, zumal er einfach schlecht gemachtist?
Sie sagen, dass es keine externen Mitarbeiter bei Bun-desbehörden mehr geben solle. In Ihrer Begründung zi-tieren Sie auch noch den Satz des Bundesrechnungshofs,wonach ein besonderes Problem bei Personenunterneh-men bestehe. Ausgerechnet diese lassen Sie aus IhremAntrag aber heraus. Das, was Sie hier vorgelegt haben,ist also völlig undurchdacht.Ihr Antrag klingt populistisch.
Sie wollen das überhaupt nicht mehr. Damit lösen Siedie Probleme nicht, und hinsichtlich der Abgrenzung istdieser Antrag auch noch dilettantisch gemacht.Ich glaube, es ist wirklich wichtig, dass wir überle-gen, wie wir Transparenz erreichen können. Die Richtli-nien, die die Bundesregierung in Kraft gesetzt hat, findeich dafür in der Tat einfach nicht ausreichend. Wir habenin unserem Antrag – orientiert an dem Bericht des Bun-desrechnungshofs – wesentlich klarere Vorgaben ge-macht.Ich finde, wenn Sie Mitarbeiter von Externen einstel-len – gegen eine befristete Einstellung habe ich garnichts –, dann soll jeder hier im Hohen Hause und in der
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Öffentlichkeit aufgrund eines Footprints wissen, wiediese Person an dem Gesetzentwurf, der im Hohen Hauseingebracht wird, mitgewirkt hat.
Das muss transparent sein, damit ich mich fragen kann,ob Expertisen oder Interessen eingeflossen sind. Ichmuss wissen, wer daran gearbeitet hat. Wenn ich weiß,dass das keine Bundesbeamten waren, dann habe ichganz andere Prüffragen hinsichtlich einer Vorlage, alswenn ich mir dessen nicht bewusst bin.Wenn die Verwendung externer Mitarbeiter prinzi-piell nichts Anrüchiges ist, wie die Bundesregierungmeint und was ich grundsätzlich verstehe, dann mussman sich vor Transparenz auch nicht scheuen und dannkann am Ende auch der Jahresbericht des Bundesinnen-ministeriums zu diesem Thema auf der Homepage desMinisteriums im Internet stehen. Jeder Bürger weißdann, wenn er irgendwo anruft, ob er mit einem Bundes-beamten, einem Angestellten des öffentlichen Dienstesoder mit jemandem redet, der extern entsandt wurde,weil er eine bestimmte Erfahrung und Expertise in dieVerwaltung einbringt oder auch weil sein Unternehmenwill, dass man etwas Erfahrung hinsichtlich der Bundes-verwaltung sammelt, was erst einmal nichts Illegitimesist.Ich glaube, wir dürfen bei der ganzen Debatte überLobbyismus und Demokratie nicht den Lobbyismus unddie Interessenvertretung in der demokratischen Gesell-schaft insgesamt für kritikwürdig halten. Entscheidendist, inwiefern die Interessenvertretung von der Willens-bildung im Parlament und auch vom exekutiven Handelngetrennt ist und dass der Bürger nachvollziehen kann,dass keine illegitime externe Einflussnahme und schongar keine Einflussnahme, die mit Geldflüssen korreliert,stattgefunden hat.
Das erwarten die Menschen von uns, und in diesemPunkt müssen wir nacharbeiten.Es war schon eine Unverschämtheit des Bundes-innenministeriums insbesondere gegenüber den Koali-tionsfraktionen, in der Sommerpause ungehindert vonparlamentarischer Einflussnahme eine nicht ausgegoreneRichtlinie als Verwaltungsvorschrift in Kraft zu setzen.
So geht man mit seinen Koalitionsfraktionen nicht um.Man sieht auch an den Mienen Einzelner, dass bei ihnenheimlich das Messer in der Tasche aufgegangen ist.
Das ist kein guter Umgang miteinander insbesondere ineiner Frage, bei der die Regierung in der Kritik des Par-laments stand.
Sie hatten als letzten Punkt das Lobbyistenregister an-gesprochen. Ich meine, dass wir damit weiterkommenmüssen. In unserer Fraktion hat in der Sommerpauseeine mit 200 Personen gut besuchte Veranstaltung zudieser Frage stattgefunden. Wir müssen allerdings– dazu hatte die Linksfraktion schon einen Antrag vor-gelegt – auch die verfassungsrechtlichen Rahmenbedin-gungen beachten, in denen wir uns bewegen. Dazu ge-hört etwa die Frage, inwieweit wir in die internenAngelegenheiten beispielsweise von Vereinen eingreifenkönnen. Denn auch die Vereinigungsfreiheit ist ein ge-schütztes Gut.Wir brauchen hier mehr Transparenz und Verbindlich-keit. Aber das Ganze muss mit Augenmaß und im Hin-blick auf unsere Verfassung und die Grundrechtspositio-nen erfolgen.Vielen Dank.
Dr. Georg Nüßlein hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! MitRücksicht auf die späte Stunde und die Kollegen wollteich meine Rede eigentlich zu Protokoll geben.
Aber weil niemand anders dazu bereit war, rede ich jetzttrotzdem und sage etwas, was ich sonst nicht zu Proto-koll gegeben hätte: Was dieses Hohe Haus garantiertnicht braucht, sind SED-Nachfahren, die uns sagen, wieman saubere Politik betreibt.
Dass es Regelungsbedarf gab, ist unbestritten. Eswurde aber deutlich, wie weit das Verfahren fortgeschrit-ten ist. Sie springen jetzt auf einen fahrenden Zug aufund tun so, als wären Sie Lokomotivführer.
– Das hätten Sie wohl gern. Ich sage das auch deshalb,weil ich heute den ganzen Tag verfolgt habe, was für einGetöse auf der linken Seite insbesondere zu bayerischenThemen veranstaltet wurde.Ich meine, dass die Initiative des Haushaltsausschus-ses und der entsprechende Kabinettsbeschluss – PeterAltmaier sitzt hier – richtig, konsequent und ausreichendwaren. Es war notwendig, mehr Transparenz zu schaf-fen, wie es der Kollege Göbel umfassend dargestellt hat.Was aber beibehalten werden muss, ist der Wissenstrans-fer zwischen der Wirtschaft – das ist in Deutschlandnoch ein wichtiger Faktor, jedenfalls zumindest solangeSie nichts zu sagen haben – und unseren Ministerien.Schon als ich Ihren Antrag gelesen habe, hatte ich denVerdacht, dass es wieder um irgendeine wirtschaftsfeind-liche Initiative geht. Aber nachdem ich Ihre Begründung
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Dr. Georg Nüßleingehört habe, Herr Kollege Claus, bin ich mir sicher.Denn Sie haben lamentiert, dass zwar die Wirtschafts-vertreter, aber nicht die Arbeitslosenverbände und an-dere – wen auch immer Sie aufgezählt haben – einge-bunden sind.Ich teile die Kritik an der Beteiligung von Externen– von Lobbyisten, wenn Sie so wollen – in einem so frü-hen Stadium des Gesetzgebungsverfahrens.
Letzten Endes kommt es aber darauf an, was wir selberaus den Referentenentwürfen machen. Ich kann nur dazuermutigen und auffordern, im parlamentarischen Verfah-ren das eine oder andere zu ändern, was wir auch tun. Ichwürde nicht ohne Weiteres behaupten, dass ein Referen-tenentwurf ohne Beteiligung Dritter – insbesondere von-seiten der Wirtschaft – unbedingt besser wird. Dasglaube ich nicht.Der Bürokratieabbau ist ein eigenes Thema. Ich sageIhnen ganz offen: Wer glaubt, dass wir zum Abbau derBürokratie zu wenige Beamte haben, täuscht sich ausmeiner Sicht. Ich meine, dass es darauf ankommt, mög-lichst früh Expertise in die Verfahren zu bringen, unddass die Lobby in den parlamentarischen Verfahren einegewisse Rolle spielen sollte.Mit solchen Anträgen wie dem vorliegenden erwe-cken Sie den Eindruck – dieser besteht draußen sowieso –,dass wir von der Lobby beherrscht werden. Lassen Siemich deutlich sagen, dass die Lobby im politischen Ver-fahren wichtig ist, weil wir nur so die Chance haben– wenn man so einseitig ist wie Sie, spielt das natürlichkeine Rolle –, die Positionen verschiedener Seiten ken-nenzulernen und zu erfahren, welche Konsequenzen ausdem einen oder anderen Verfahren zu ziehen sind. Erstdann kann man zu einer wohlabgewogenen Positionkommen. Ich weiß, dass insbesondere Sie, meine Damenund Herren von der linken Seite, ein ganz spezielles Pro-blem mit wohlabgewogenen Positionen haben. Das wer-den wir nicht ändern.Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksam-keit.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/9484 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein-verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 f auf:a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-rungTourismuspolitischer Bericht der Bundes-regierung – 16. Legislaturperiode –– zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne-ten Ernst Burgbacher, Jens Ackermann,Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der FDP zu der Unterrichtungdurch die BundesregierungTourismuspolitischer Bericht der Bundesre-gierung – 16. Legislaturperiode –– Drucksachen 16/8000, 16/8194, 16/10187 –Berichterstattung:Abgeordnete Klaus BrähmigAnnette FaßeErnst BurgbacherDr. Ilja SeifertBettina Herlitziusb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-PeterFriedrich , weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSU sowie der AbgeordnetenAnnette Faße, Brunhilde Irber, Renate Gradistanac,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDMessen und Geschäftsreisen als Chance fürden Tourismusstandort Deutschland– Drucksachen 16/5958, 16/9255 –Berichterstattung:Abgeordnete Jürgen KlimkeBrunhilde IrberErnst BurgbacherDr. Ilja SeifertBettina Herlitziusc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Abgeordneten KlausBrähmig, Bernward Müller , Dr. Hans-Peter Friedrich , weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab-geordneten Annette Faße, Renate Gradistanac,Bettina Hagedorn, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der SPDChancen des demographischen Wandels imTourismus nutzen– zu dem Antrag der Abgeordneten BettinaHerlitzius, Britta Haßelmann, Markus Kurth,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBarrierefreiheit und demografischer Wan-del – Auf die Herausforderungen für denTourismus reagieren– Drucksachen 16/8777, 16/9315, 16/10073 –Berichterstattung:Abgeordnete Jürgen KlimkeRenate GradistanacErnst BurgbacherDr. Ilja SeifertBettina Herlitzius
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19108 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardtd) Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausBrähmig, Uda Carmen Freia Heller, Dr. Hans-Peter Friedrich , weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord-neten Annette Faße, Engelbert Wistuba, Dr. Carl-Christian Dressel, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDReformationsjubiläum 2017 als welthistori-sches Ereignis würdigen– Drucksache 16/9830 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus
Auswärtiger AusschussInnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschusse) Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausBrähmig, Anita Schäfer , Dr. Hans-Peter Friedrich , weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord-neten Annette Faße, Gabriele Hiller-Ohm, RenateGradistanac, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDBauernhofurlaub und Landtourismus weiterfördern – Ländliche Räume nachhaltig stär-ken– Drucksache 16/10320 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussf) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. IljaSeifert, Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEBarrierefreier Tourismus für alle in Deutsch-land– Drucksache 16/10317 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungHaushaltsausschussZu dem Tourismuspolitischen Bericht der Bundes-regierung liegt ein Entschließungsantrag der FraktionDie Linke vor.Es ist verabredet, hier eine Dreiviertelstunde zu de-battieren. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist dasso beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als Erstem demKollegen Ernst Hinsken für die Bundesregierung dasWort.
Ernst Hinsken, Beauftragter der Bundesregierungfür Tourismus:Verehrte Frau Vizepräsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Der Tourismus ist neben der Biotechnolo-gie, dem IT-Sektor und der Gesundheitswirtschaft dieWachstumslokomotive des 21. Jahrhunderts. Wir spre-chen nicht umsonst von einer Leitökonomie der Zukunft.Wir können uns in der Bundesrepublik Deutschland frohund glücklich schätzen, dass gerade die Tourismuswirt-schaft momentan boomt. So hatten wir im vergangenenJahr fast 362 Millionen Übernachtungen. Unter denÜbernachtungsgästen waren 55 Millionen Ausländer.Dies entspricht einem Zuwachs von 3,6 Prozent. Wirkönnen uns auch darüber freuen, dass gerade die Touris-muswirtschaft seit der Fußballweltmeisterschaft 2006läuft. Der Ball rollt, und die Zahlen und Ergebnisse wer-den immer besser.Besonders erfreulich ist für mich als Tourismusbeauf-tragtem der Bundesregierung, dass inzwischen vieleMitbürgerinnen und Mitbürger erkannt haben, dass essich bei der Tourismuswirtschaft um einen Wirtschafts-faktor handelt, der mehr und mehr ausgebaut werdenkann. Wir haben gerade zu Beginn dieses Jahres seitensder Bundesregierung den Tourismuspolitischen Berichtvorgelegt. Der Bericht zeigt, dass die Tourismusbranchevor ganz großen Herausforderungen steht. Wenn ich dieHerausforderungen mit einem Kuchen vergleiche, dannstelle ich fest: Wir alle sind gefordert, alles zu tun, umein großes Stück dieses Kuchens, der weltweit zur Ver-teilung ansteht, abzubekommen; denn um den einzelnenGast, den einzelnen Touristen wird weltweit gebuhlt. Dadürfen wir nicht abseitsstehen. Da müssen wir dabeisein.Zurzeit sind wir seitens der Bundesregierung dabei,Leitlinien für die Zukunft des Tourismussektors zu erar-beiten.
Wir wollen damit den vielen kleinen und mittelständi-schen Betrieben der Tourismusbranche einen Schub ge-ben. Wir wollen günstige Rahmenbedingungen schaffen.
– Herr Kollege Brähmig, von denen können Sie es nichterwarten. Das müssen Sie selber machen.
– Ich sage das bei der Gelegenheit.Wenn ich heute darauf verweise, dass wir an solchenLeitlinien arbeiten, so möchte ich besonders unterstrei-chen, dass es mir darum geht, einen Konsens auch überparteipolitische Grenzen hinweg zu finden;
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Beauftragter der Bundesregierung Ernst Hinsken
denn Tourismus ist etwas, was uns alle angeht und wasuns allen auf den Nägeln brennt. Ich bin besonders dank-bar dafür, dass Sie, Frau Kollegin Faße, sich heute Mor-gen neben dem Kollegen Brähmig hervorragend einge-bracht haben.
Wir wollen gerade mit diesen Leitlinien Deutschlandweiterhin kraftvoll im Ausland vermarkten;
denn Tourismuspolitik ist die beste Außenpolitik, die esüberhaupt gibt.
Wir wollen die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingun-gen in den Bereichen Steuern, Verkehr, Umwelt und Ver-braucherschutz optimieren, um nur einige wenige zunennen. Wir wollen den steigenden Anforderungen desglobalisierten Tourismus mit noch mehr Qualität begeg-nen. Unser Land ist nicht mit immer weiß-blauem Him-mel,
Sonne, Meer, viel Wärme und dergleichen gesegnet.
Wir müssen das durch Qualität ersetzen, und wir sind da-bei. – Kollege Dr. Nüßlein, ich pflichte Ihnen bei, dasses in Bayern noch ein bisschen besser als in anderen Re-gionen der Republik ist.
Wir wollen darüber hinaus dafür sorgen, dass wir eu-ropaweite, ja weltweite Wettbewerbsverzerrungen ab-bauen. Es gilt insbesondere, die Stärken, die wir haben,noch stärker herauszustellen. Wo liegen unsere Stärken?Bei Messen und Geschäftsreisen zum Beispiel istDeutschland top. Deutschland ist Nummer eins bei denMessen in aller Welt, Deutschland ist Nummer zwei beiden Kongressen auf der ganzen Welt, und bei Geschäfts-reisen liegt bei uns der Anteil bei 28 Prozent, während erweltweit, auf die einzelnen Länder bezogen, nur bei16 Prozent liegt. Hier gilt es, unsere Marktführerschaftauszubauen. Das geht nicht von selber. Da brauchen wirvernünftige Rahmenbedingungen. Deshalb habe ich voreinigen Monaten Vertreter der Messewirtschaft zu mirins Ministerium geladen, um zu beraten, was getan wer-den soll und getan werden muss, damit die Messewirt-schaft einen weiteren Schub bekommt und wir ganzvorne bleiben.
Stark ist Deutschland, unsere Republik, auch beimStädte- und Kulturtourismus. Ich könnte hier etwas nen-nen, was die Mitbürgerinnen und Mitbürger und insbe-sondere die Politiker momentan bewegt, nämlich dieLuther-Dekade von 2008 bis 2017. Doch ich kann michhier kurzfassen, weil sich meine Kollegin Heller nochausführlich dazu äußern wird. Ich möchte bei der Gele-genheit aber auch neue Trends ansprechen, die nicht ver-nachlässigt werden dürfen.
– Nicht nur die Chinesen. Sie werden sich besondersfreuen, wenn sie in Ihre Nähe kommen. – Ich meine mitneuen Trends auch den Religionstourismus.
Im vergangenen Jahr gab es weltweit über 200 MillionenReligionstouristen, die mehr als fünf Tage unterwegswaren. Man muss natürlich unterscheiden zwischen demPilger, der nach Mekka geht, und demjenigen, der aufdem Jakobsweg wandert, der vor allen Dingen die Stilleund die Natur sucht und zu sich selber finden möchte,oder der auf dem Benedikt-Weg in Altötting, KollegeMayer – auch eine große Attraktion in der Bundesrepu-blik Deutschland –, wandert.
Schließlich haben wir 861 Wallfahrtsorte und über800 000 Pilgerreisen allein in der BundesrepublikDeutschland zu verzeichnen.Lassen Sie mich noch auf Folgendes verweisen:Wenn ich die breite Palette des Bereiches Tourismus hieranspreche, dann wäre meine Schilderung nicht vollstän-dig, wenn ich nicht auch den Urlaub auf dem Bauernhoferwähnen würde. Hier profitieren vor allen Dingen be-nachteiligte Gebiete. Es ist eine zusätzliche Einnahme-quelle für Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Tourismusin der Fläche praktizieren. Auch hier haben wir Gas ge-geben. Auch hier haben wir positive Zahlen zu verzeich-nen. Auch hier wollen wir die Betroffenen mehr denn jeunterstützen.
Zwei letzte Bemerkungen. Erstens. Für uns ist vor al-len Dingen der demografische Faktor wichtig, dem esRechnung zu tragen gilt. Wir können nicht wegdiskutie-ren, dass in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr2030 jeder Dritte älter als 60 Jahre ist und dass es imJahr 2040 mehr über 50-Jährige als unter 50-Jährigegibt.
Die Altersgruppe der 49- bis 74-Jährigen macht in derBundesrepublik Deutschland zwar nur 29 Prozent aus;im Tourismussektor sind es allerdings 48 Prozent. Dasist Zukunftsmusik. Es gilt, dies aufzugreifen und Rah-menbedingungen zu schaffen. Da sind wir alle gefordert,damit die Tourismuswirtschaft diese neuen Strömungenerfassen und berücksichtigen kann.Zweitens. Ich muss noch den barrierefreien Touris-mus erwähnen; sonst wäre mein Kollege Dr. Seifert be-stimmt nicht zufrieden. Barrierefreiheit bedeutet in mei-
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Beauftragter der Bundesregierung Ernst Hinskennen Augen ein Glückserlebnis für viele Mitbürgerinnenund Mitbürger, auch in der Bundesrepublik Deutschland.
Es lohnt sich, daran zu arbeiten. Über den Kongress mitüber 200 Teilnehmern hinaus, den wir vor 14 Tagen imMinisterium durchgeführt haben, gilt es, weitere Maß-nahmen zu treffen und das Notwendige zu tun.
– Liebe Frau Kollegin Dr. Enkelmann, wir wissen schon,worauf es ankommt. Wenn Sie bereit sind, das mitzutra-gen,
sind Sie auf dem richtigen Weg. Das würde ich Ihnenauch empfehlen.Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, darfich von Herzen für die Aufmerksamkeit danken.
Der Kollege Ernst Burgbacher hat jetzt das Wort für
die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Ernst Hinsken, die Rede hat genau das widerge-spiegelt, was Inhalt des Berichts ist, nämlich eine Auf-zählung von Feststellungen über den Deutschlandtouris-mus, aber eigentlich etwas völlig Unpolitisches. Ich habein der Rede jegliche politische Botschaft vermisst. Dasvermisse ich leider auch in dem Bericht.Ich will der kleinen Abteilung im Bundeswirtschafts-ministerium ausdrücklich danken, die mit einer Riesen-arbeit vieles zusammengestellt hat, was von der Anwen-dung her allerdings nicht allzu viel bringt. Wir sind hierim deutschen Parlament, und wir haben darüber zu re-den, was politisch getan werden muss. Das ist unsereAufgabe.Im Bericht habe ich all die Ziele gelesen und dann alsKonsequenz, die Branche müsse angesichts der Verände-rungen offener und flexibler werden. Ich sage Ihnen: DieBranche hat sich weit geöffnet. Die Branche ist flexibel.Das eigentliche Problem ist, dass die Bundesregierungweder offen noch flexibel ist.
Ich will in der Kürze der Zeit nur einige Punkte auf-zählen, die wir kritisieren:Das Erste. Es besteht eine völlig falsche Organisationin der Bundesregierung. Das Amt des Tourismusbeauf-tragten wurde geschaffen. Er hat eine klitzekleine Abtei-lung, aber das Wichtigste, die Mittel, die für den Touris-mus vorhanden sind, sind gerade einmal zu einem gutenDrittel beim Wirtschaftsministerium veranschlagt; derRest ist bei anderen Ministerien. Damit kann man keineTourismuspolitik machen. Deshalb brauchen wir eineStrukturreform in der Regierung. Notwendig ist eineKonzentration der Mittel und der Aufgaben im Wirt-schaftsministerium. Dann können wir eine schlagkräf-tige Tourismuspolitik machen.
Das Zweite. Der Tourismusbeauftragte hat uns geradegesagt, er habe die Vertreter der Messewirtschaft einge-laden. Es ist ja schön, wenn die eingeladen werden. Ichvermisse aber jegliche Aussage dazu, was eigentlich da-bei herausgekommen ist, ob die Bundesregierung auchnur irgendeine Konsequenz aus diesem Gespräch gezo-gen hat. Es gab dann eine Einladung an die Reisebusver-anstalter, um mit ihnen Maßnahmen aufgrund der gestie-genen Energiekosten zu diskutieren. Es wurde diskutiert;das Ergebnis war null, wirklich null. So kann man nichtPolitik machen. Wenn ich sie einlade, muss ich nachherauch sagen, welche Konsequenzen ich daraus ziehe.
Das ist überhaupt nicht erfolgt.
Bei den großen Fragen, die die Tourismuswirtschaftbeschäftigen, ist leider völlige Fehlanzeige. Lieber ErnstHinsken, wir hören bei jeder Veranstaltung, bei der derTourismusbeauftragte auftritt, die Forderung nach Ein-führung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes für dieHotellerie. Mich wundert es dann schon,
warum die CSU, die bayerische Landesregierung, als diebaden-württembergische Landesregierung den Antragim Bundesrat eingebracht hatte, dies umzusetzen, imWirtschaftsausschuss dagegengestimmt hat. Das mussuns einmal jemand erklären. Ich kann das doch nicht beiallen Veranstaltungen fordern, und die eigene Partei unddie eigene Regierung lassen mich dann im Regen stehen.
Dass Bayern nachher im Bundesrat doch dafür gestimmthat, lag an entsprechendem Druck. Aber wer weiß dennvon uns, was nach dem nächsten Sonntag passiert? Ichhabe diese Frage heute Morgen dem Vorsitzenden desFinanzausschusses gestellt. Er hat sich gewunden undüberhaupt nichts gesagt. Deshalb müssen die Menschendraußen wissen: Mit der Union wird das nicht passieren;es wird nur passieren, wenn die FDP stark wird und wei-ter Druck machen kann.
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Ernst BurgbacherDie CSU hat es geschafft, dieses Thema bei den Ski-liften plötzlich durchzubringen. Andere haben dabei mit-gemacht, weil sie gesagt haben, das sei ja nicht unver-nünftig. Dass aber an dieser Stelle geblockt wird,müssen die Leute draußen wissen. Das sollte man denMenschen draußen deutlich sagen.Ähnliches haben wir bei Themen wie Jugendarbeits-schutzgesetz und Feinstaubdebatte. Welchen Wahnsinnveranstalten wir im Augenblick im Hinblick auf denDeutschlandtourismus, wenn ausländische Touristennicht wissen, wie sie in die Städte hineindürfen, wenndie Busse ihre Leute am Stadtrand ausladen müssen undsie dann in alte Kutschen vom ÖPNV umgeladen wer-den! Welcher Unsinn ist das! Nichts davon wurde korri-giert; alles ist wie vorher. Das ist keine Tourismuspolitik.Darauf können wir wirklich verzichten.
Ganz entscheidend ist: Tourismuspolitik ist Mittel-standspolitik. Wir alle wissen: Die touristische Strukturin Deutschland ist – zum Glück ist es so – weitgehendmittelständisch geprägt. Deshalb wäre eine aktive Tou-rismuspolitik vor allem, Rahmenbedingungen für denMittelstand zu setzen. Exakt das Gegenteil wurde ge-macht: Die größten Steuererhöhungen in der Geschichteder Bundesrepublik haben den Mittelstand besondersstark getroffen. Darunter leidet der Mittelstand.Darunter leiden aber auch alle Menschen. Im vergan-genen Jahr ist die Zahl der Familien mit zwei Kindern,die Urlaub gemacht haben, um fast 10 Prozent zurückge-gangen. Das ist das deutlichste Zeichen für die verfehltePolitik. Angesichts dessen darf man hier doch nicht allemöglichen hehren Ziele formulieren. Ich muss den Men-schen das Geld in der Tasche lassen, damit sie reisenkönnen. Das ist das oberste Gebot.
Ich muss den Mittelstand unterstützen, damit er wirklichtätig werden kann, und darf ihn nicht durch Steuererhö-hungen, durch die Androhung einer mittelstandsfeindli-chen Erbschaftsteuerreform und anderes strangulieren.Meine Damen und Herren, Tourismuspolitik bedeutetdie Setzung richtiger Rahmenbedingungen. Da hilft keinBericht, da helfen keine Leitlinien, sondern da hilft poli-tische Aktivität. Diese vermissen wir, und wir werdensie an jeder Stelle weiter anmahnen und, wenn wir inVerantwortung sind, auch entfalten.
Dort, wo wir es in den Ländern tun können, machen wires. Keine Angst, auch im Bund werden wir es bald wie-der tun.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Gabriele Hiller-Ohm hat jetzt das Wort für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Burgbacher! Ich bedanke mich für meine
Fraktion bei den Autoren des Tourismuspolitischen Be-
richts, natürlich ganz besonders bei unserem Tourismus-
beauftragten Ernst Hinsken.
Der Tourismus in Deutschland boomt. Mit rund
360 Millionen Übernachtungen haben wir eine Zahl er-
reicht, von der wir lange nicht zu träumen wagten. Das
waren nämlich noch einmal 8 Millionen mehr als im
Fußball-WM-Rekordjahr 2006. Rund 2,8 Millionen Ar-
beitsplätze hängen direkt und indirekt vom Tourismus
ab. Fast 120 000 junge Menschen finden hier einen Aus-
bildungsplatz.
Schon diese Zahlen machen deutlich, wie wichtig der
Tourismus für unser Land ist. Es ist deshalb mehr als är-
gerlich, dass der Tourismus in der Haushaltsdebatte der
letzten Woche vom zuständigen Wirtschaftsminister
Michael Glos mit keinem einzigen Wort erwähnt wurde.
Auch heute ist er wieder nicht da. Es ist zwar ziemlich
spät geworden, aber ich hätte mich trotzdem sehr über
seine Anwesenheit gefreut.
Vollkommen unverständlich ist darüber hinaus, dass
sein Kollege Laurenz Meyer in der Haushaltsdebatte ei-
nen Gegensatz zwischen Industrie- und Dienstleistungs-
sektor konstruiert hat, der einfach nicht haltbar ist.
Industrie ist wichtig, aber das Dienstleistungsgewerbe ist
es natürlich auch. Meine Heimatstadt ist ein gutes Bei-
spiel: Lübeck war ein bedeutender Werftenstandort, an
dem viele Tausend Arbeitsplätze hingen. Die sind alle
weggebrochen. Wäre da nicht der Tourismus, der Gott
sei Dank seit Jahren boomt,
so sähe es düster aus. So wie in Lübeck wird es in vielen
Teilen Deutschlands sein. Deshalb ist es so wichtig,
nicht nur auf die Industrie zu setzen, sondern auch den
Tourismus zu stärken und für eine gute Infrastruktur zu
sorgen.
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage desKollegen Lutz Heilmann von der Linken zulassen?
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19112 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Nein, auf keinen Fall.
Meine Damen und Herren, intakte Naturlandschaften,
hohe Qualitätsstandards, vernünftige Arbeitsbedingun-
gen und gute Löhne gehören zu einer guten touristischen
Infrastruktur. Um auf der Erfolgsspur zu bleiben, muss
im Tourismus noch besser aus- und weitergebildet wer-
den. Gute Serviceleistung hat ihren Preis. Deshalb muss
Schluss sein mit Hungerlöhnen, von denen die Men-
schen nicht leben können.
Wir kämpfen gerade auch im Hotel- und Gaststättenge-
werbe für einen gesetzlichen Mindestlohn.
Es ist auch richtig, dass wir endlich tourismuspolitische
Leitlinien formulieren müssen, an denen wir unsere Poli-
tik ausrichten können.
Außerhalb von Großstädten leben zwei Drittel der ge-
samten Bevölkerung. Deshalb ist der Tourismus beson-
ders in den ländlichen Regionen so wichtig. Er bietet
hier Beschäftigungs- und Wachstumschancen.
Es gibt im Landtourismus inzwischen rund 25 000 An-
bieter, etwa 1,6 Millionen Urlaubsaufenthalte und einen
geschätzten Umsatz von fast 950 Millionen Euro. Zur
weiteren Stärkung des Landtourismus haben wir einen
umfassenden Forderungskatalog im vorliegenden Koali-
tionsantrag ausgearbeitet:
Erstens. Wir brauchen genaue Zahlen. Deshalb wol-
len wir eine Grundlagenuntersuchung mit fundierter Da-
tenlage, damit bestehende Marktpotenziale noch besser
erschlossen werden können.
Zweitens. Für den Tourismus im ländlichen Raum
müssen genügend Finanzmittel zur Verfügung gestellt
werden. Ich freue mich, dass es gelungen ist, die Mittel
für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrar-
struktur und des Küstenschutzes“ auf 700 Millionen
Euro aufzustocken.
Drittens. Auch Menschen mit kleinem Geldbeutel,
Herr Burgbacher, haben ein Recht auf Urlaub.
Der Landurlaub bietet hier gute Möglichkeiten vor allem
für Familien mit Kindern.
Viertens. Überregionale Tourismusprojekte müssen
unter den Ländern besser abgestimmt werden. Das setzt
Synergieeffekte frei.
Fünftens. Wir setzen uns ebenfalls für weniger Hür-
den bei der EU-Förderung von grenzüberschreitenden
Tourismusvorhaben ein.
Sechstens. Klimaschutz und Tourismus dürfen keine
Gegensätze sein. Deshalb fordern wir eine gute Erreich-
barkeit der ländlichen Regionen mit öffentlichen Ver-
kehrsmitteln, insbesondere mit der Bahn.
Wir haben noch zehn weitere Forderungen in unserem
Antrag formuliert. Aus Zeitgründen kann ich diese leider
nicht mehr vorstellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Deutsche Zen-
trale für Tourismus will den Landurlaub im nächsten
Jahr stärker bewerben. Das begrüßen wir ausdrücklich.
Dann stehen Aktivurlaub, Radfahren und Wandern im
Mittelpunkt des nationalen Tourismusmarketings.
Frau Kollegin!
Ich freue mich ganz besonders, dass in diesen Tagen
auf unser Drängen hin vom Ministerium eine Studie zum
Wandertourismus in Auftrag gegeben worden ist.
Frau Kollegin, Sie müssen jetzt dringend zum Ende
kommen.
Ich komme zum Schluss. – Diese Studie wird uns mit
Sicherheit viele weitere wertvolle Informationen zur
Stärkung des Landtourismus liefern.
Danke schön.
Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Ilja Seifert für
die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Im Mittelpunkt der Gesundheitspolitik steht dieGesundheit der Bevölkerung – nicht die Gesundheits-wirtschaft oder die Pharmaindustrie. Im Mittelpunkt derSportpolitik steht der Sport, stehen also die Sportlerin-nen und Sportler – nicht Adidas und Nike. Im Mittel-punkt der Verkehrspolitik steht der sichere und pünktli-che Transport von Personen und Gütern – nicht die
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19113
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Dr. Ilja SeifertVerkehrsunternehmen und die Autokonzerne. Im Mittel-punkt der Verteidigungspolitik steht die Sicherung desFriedens – nicht die Rüstungsindustrie.
Das Gleiche gilt für die Tourismuspolitik, lieber HerrKollege Brähmig: Im Mittelpunkt müssen die Bedürf-nisse der Bevölkerung nach Erholung, nach Bildung,nach Gesundheit stehen – nicht die Tourismuswirtschaft.
– Herr Brähmig, Sie wissen doch so gut wie ich, dass esnicht so ist. Sie kennen die entsprechenden Leitlinien sogut wie ich und wissen, dass es da um die Tourismus-wirtschaft und nicht um die Menschen geht, die sich er-holen und bilden wollen.
Das ist der entscheidende Unterschied zwischen derTourismuspolitik der Bundesregierung und der Art undWeise, wie die Linke das Thema angeht. Sie machen dasMittel zum Zweck.Die Linke tritt ganz deutlich für einen Tourismus füralle ein. Wir wollen, dass alle Menschen reisen können,um sich zu erholen, um sich zu bilden und um etwas fürihre Gesundheit zu tun. Es ist nicht akzeptabel, dass zu-nehmend mehr Menschen in diesem reichen Land – vorallem Familien mit Kindern, insbesondere mit kleinenKindern – nicht mehr reisen können, weil ihnen das Gelddafür fehlt oder weil sie ihren Jahresurlaub nicht planenoder nicht nehmen können.
Wir wollen, dass auch Hartz-IV-Empfängerinnen und-Empfänger und deren Kinder einmal Urlaub machenkönnen.
Das gehört in den Mittelpunkt der Politik und nicht dasBestreben, dass es der Wirtschaft besonders gut geht.
Wir sagen nicht, dass es ihr schlecht gehen soll. Sie istaber nicht der Zweck, sondern nur das Mittel.Die Linke – das hat der Herr Tourismusbeauftragtefreundlicherweise mit Blick auf mich gesagt; aber esgeht nicht um mich, sondern um die Menschen, die esbetrifft, und am Ende um Bequemlichkeit für alle – trittfür einen durchgängig barrierefreien Tourismus ein.„Durchgängig barrierefrei“ bedeutet, die gesamte touris-tische Kette einzubinden: vom Internetangebot über dasAbholen zu Hause, die Fahrt zum Urlaubsort, die Unter-bringung am Urlaubsort bis hin zu den Sehenswürdig-keiten am Urlaubsort und natürlich wieder retour.Wie nötig es ist, dafür noch viel zu tun, zeigten nicht zu-letzt die Konferenz der Bundesregierung am 11. Septem-ber und die dort vorgestellte Studie. Lassen Sie uns – es istja erfreulich, dass wir dieses Thema gemeinsam angehenwollen – gemeinsam vorankommen. Der heute hier vor-liegende Antrag der Linken ist sicher ein sehr guter Weg,den wir gemeinsam gehen können.
Die Linke tritt auch für einen ökologisch verantwort-baren Tourismus ein. Wir wollen, dass alle Menschenreisen und sich die Welt anschauen können, um ihreWeltanschauung auszuprägen. Es geht uns darum, dassnicht nur wenige Gutbetuchte reisen können.Für uns ist es wichtig, dass Umwelt und Tourismusnicht gegeneinander ausgespielt werden. Dies sage ich indem Wissen, dass der Tourismus einer der Verursacherfür Umweltschäden ist. Wir müssen hierfür einen ent-sprechenden Ausgleich schaffen.Die Linke tritt ebenfalls verstärkt für die Entwicklungdes Tourismus auf dem Lande ein. Ich freue mich, dass,nachdem die Linke bereits am 17. Dezember des vergan-genen Jahres einen entsprechenden Antrag vorgelegt hat,nun auch die Koalition nachzieht
und der Tourismusausschuss sogar meinem Vorschlagfolgt, am 21. Januar nächsten Jahres eine entsprechendeAnhörung auf der Grünen Woche durchzuführen.
– Das ist doch gut; denn dies zeigt, dass man auch zu-sammenarbeiten kann und nicht immer nur aufeinandereindrischt. Ich will euch gerne loben, wo ihr zu lobenseid. Aber ihr müsst auch einsehen, dass man nicht allesloben kann.Die Linke – das will ich ausdrücklich sagen – trittauch ein für eine sich gut entwickelnde Tourismuswirt-schaft, insbesondere im kleinen und mittelständischenBereich, für gute Arbeitsplätze, gute Ausbildungsplätzeund für gute Löhne für gute Arbeit und will Nied-riglöhne und prekäre Beschäftigungsverhältnisse verhin-dern.
Lassen Sie mich zum Abschluss einen letzten Punkterwähnen, der mir sehr am Herzen liegt. Es geht um dieSchulfahrten. Wir brauchen keinen Bildungsgipfel, aufdem uns die Kanzlerin erzählt, dass Bildung für allewichtig sei; vielmehr brauchen wir eine verbindliche Re-gelung dafür, dass jede Schulklasse mindestens einmalim Jahr eine Klassenfahrt machen kann, und zwar alsBestandteil des staatlichen Bildungsauftrags, sodass dieLehrerinnen und Lehrer entsprechend abgesichert sind.An dieser Stelle sollte der Bund nicht länger weg-schauen.
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19114 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Dr. Ilja SeifertHierfür brauchen wir Lösungen. Es wäre sehr schön,wenn die Kanzlerin dazu auf dem Bildungsgipfel klareWorte sagen würde und die Regierung dazu entspre-chende Maßnahmen einleiten würde.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit und bisbald.
– Dass das auch eine touristische Komponente hat, willich gar nicht bestreiten. Das sehen wir sogar sehr positiv.
Ich hatte den Eindruck, Herr Kollege, Sie waren mit
Ihrer Rede fertig.
Das war nur noch die Antwort auf einen Zuruf, Herr
Präsident.
Bevor ich als nächster Rednerin der Kollegin Bettina
Herlitzius, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort
erteile, möchte ich sagen: Herr Seifert, Ihr Vorschlag zur
Grünen Woche hat mir außerordentlich gut gefallen. Ich
habe spontan überlegt, ob nicht die Verlagerung von
Plenardebatten zur Grünen Woche die Gemütlichkeit
dieser Veranstaltung erheblich fördern könnte. Aber das
greifen wir bei passender Gelegenheit im Ältestenrat
auf.
Bitte schön, Frau Herlitzius.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichfreue mich, dass Sie noch so zahlreich hier sind, zeigtdies doch, wie wichtig der Tourismus für unser Land undfür unsere Wirtschaft ist, vor allen Dingen, wenn manden Worten unseres Tourismusbeauftragten Hinskenfolgt.In den letzten Tagen war der Presse zu entnehmen,dass der Deutschlandtourismus boomt. Er wächst aufWeltniveau. Der Zuwachs beträgt 5,1 Prozent. DerMarkt wächst weiter. Aber ich möchte an dieser Stellebetonen: Wachstum kann stattfinden, ohne dass derWohlstand steigt. Das heißt, wir müssen dringend daraufachten, in welche Richtung der Tourismus wächst.
Das scheint bei einigen Kolleginnen und Kollegenhier im Raum immer noch nicht angekommen zu sein.Die FDP fordert wie immer in ihrem Entschließungsan-trag die Schaffung weiterer wirtschaftsliberaler Rahmen-bedingungen. Lieber Kollege Burgbacher, wir habendoch schon heute äußerst kritische Arbeitsverhältnisse inder Branche. Wenn der Tourismus zum Wirtschaftsfaktoreiner Region werden soll, dann kann das nur funktionie-ren, wenn die Menschen in dieser Region auch von die-sen Arbeitsplätzen leben können. Ein Kellner verdientheute – das ist Tariflohn – 7,50 Euro. Es ist schon sehrschwierig, damit eine Familie zu ernähren. Dabei wer-den noch nicht einmal überall 7,50 Euro gezahlt. Dasheißt, hier müssen wir nachsteuern; hier ist noch einigesoffen.
Zum Beispiel kann man auch – das sage ich jetzt alsGrüne und ein Stück weit mit Stolz – mit NaturschutzGeld verdienen. Die fast 800 000 Menschen, die jährlichden Bayerischen Nationalpark besuchen, finanzieren939 Vollzeitstellen.
– Das ist heute mal ein gutes Beispiel aus Bayern.
Steigende Preise und hohe Energiekosten veränderndie Anforderungen der Urlauber an die Urlaubsorte.Deutschland wird wieder als Reiseland interessant. Aberauch die touristische Zielgruppe verändert sich. UnsereGesellschaft wird älter. Bis 2040 werden 40 Prozent derReisenden über 60 Jahre alt sein. Das heißt, der Marktverändert sich. Die meisten Veranstalter haben sich nochnicht darauf eingestellt. Wir müssen hier mit all unserenKräften politisch nachsteuern. Wir müssen dafür sorgen,dass der Tourismus in Deutschland nachhaltig und auchbarrierefrei gestaltet wird. Davon profitieren alle Grup-pen in dieser Gesellschaft.
Kommen wir zu meinem Lieblingsthema, dem öffent-lichen Nahverkehr. Aktuell kann man auf der Homepageder DB lesen, dass sie überlegt, wieder touristische Zielein ihr Programm aufzunehmen. Guten Morgen, HerrMehdorn! Ähnlich ist es beim Bedienzuschlag. Auchdieses Thema wurde auf relativ unglückliche Weise indie Presse gebracht. Dies ist jedoch absolut kontrapro-duktiv, wenn es darum geht, Touristen an den öffentli-chen Nahverkehr zu gewöhnen. Darüber muss manheute reden; dies ist ja nicht mehr selbstverständlich.
Die Regierungskoalition hat uns einen „großen“ An-trag zu den Chancen des demografischen Wandels vor-gelegt. Aber in ihm wird dieses Thema kaum behandelt.Genau das sind jedoch die Fragen, um die wir uns küm-mern müssen und über die wir uns politisch unterhaltenmüssen. Wir haben dazu einen eigenen Antrag einge-bracht; auch die Linke hat dieses Thema bearbeitet. Daszeigt, wie wichtig dieses Thema ist und wie wenig bisherpassiert ist.Die Anforderungen an die Barrierefreiheit bzw. – somuss man vorsichtig sagen – Barrierearmut sind nichtnur bei Mobilitäts- und Unterkunftsfragen wichtig.Diese Anforderungen gelten vielmehr für alle Dienstleis-tungen des Tourismusbereiches. Dazu gehören: unkom-plizierter Gepäcktransport sowie lesbare, leicht ver-ständliche und auch hörbare Reiseinformationen, was
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19115
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Bettina Herlitziusheute auf den Bahnsteigen nicht selbstverständlich ist.Es muss eine komplette Reisekette von Tür zu Tür ge-ben, die für jeden nutzbar ist.Barrierefreiheit und Servicebereitschaft sind zu-kunftsfähige Qualitäts- und Komfortmerkmale. Deutsch-land könnte hier – wie auch in einigen anderenBereichen – Vorbild sein. Das wäre ein entscheidenderWirtschaftsfaktor. Hier ist noch viel zu tun. Über einesmüssen wir uns im Klaren sein: Der demografischeWandel der Gesellschaft ist kein deutsches, sondern eineuropäisches Problem.Wir nehmen den Tourismuspolitischen Bericht derBundesregierung zur Kenntnis, aber wir legen ihn nichtzu den Akten. Er ist ein guter Bauplan, weil er alle imZusammenhang mit dem Tourismus wichtigen Themenenthält. Wir werden hier aber noch ganz stark politischnacharbeiten müssen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Brunhilde Irber,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Heute stimmen wir über die beiden Koali-tionsanträge „Messen und Geschäftsreisen als Chancefür den Tourismusstandort Deutschland“ und „Chancendes demographischen Wandels im Tourismus nutzen“ab. Ich möchte dazu Stellung nehmen.Ich kann die Bedeutung von Messen und Geschäfts-reisen gar nicht oft genug betonen. 2006 wurden inDeutschland fast 160 Millionen Geschäftsreisen unter-nommen und dabei annähernd 50 Milliarden Euro umge-setzt. Geschäftsreisende geben mit 148 Euro pro Tagdoppelt so viel Geld aus wie reine Urlaubsgäste.
Als Messestandort macht Deutschland internationaleine glänzende Figur. In Europa sind wir die Nummereins für Messen und Tagungen und weltweit hinter denUSA die Nummer zwei. Deshalb würde gerade Ge-schäftsreisenden die Umsetzung des Single EuropeanSky zur effizienten Abwicklung des europäischen Luft-verkehrs besonders zugutekommen.
Um Geschäftsreisen weiter anzukurbeln, fordern wirauch die stärkere Ausrichtung auf die Auslandswerbungder Deutschen Zentrale für Tourismus.Bei Geschäftsreisen geht es um den Wachstumsmotorunserer Tourismuswirtschaft. Bei allem Verständnis fürnotwendige Sicherheitsbelange können wir uns langwie-rige und bürokratische Visaverfahren bei der Einreise fürMesse- und Kongressbesucher nicht leisten.
Das schadet uns, und deshalb brauchen wir eine effizien-tere Bearbeitung der Antragsverfahren.Deutschlandweit ist heute jeder dritte Hotelgast Ta-gungs- oder Kongressteilnehmer. Um in diesem Marktprofessionelle Dienstleistungen zu erbringen, brauchenwir gut ausgebildete und qualifizierte Mitarbeiter. Des-halb appellieren wir an die Länder, in die Ausbildungs-pläne von Berufs-, Fach- und Hochschulen für Touristi-ker den Schwerpunkt „Geschäftsreisemanagement“aufzunehmen und die Förderung von Fremdsprachen-kenntnissen sowie von interkulturellem Verständnis vo-ranzutreiben.Für Unternehmen sind Geschäftsreisen aber nicht nureine wirtschaftliche Notwendigkeit, sondern auch einKostenfaktor. Laut VDR halten viele Unternehmen da-her vermehrt Video- und Telefonkonferenzen ab. Insbe-sondere durch ein verbessertes Reisemanagement undden Abbau bürokratischer Hemmnisse im Bereich Statis-tik-, Nachweis-, Dokumentations- und Buchführungs-pflichten könnten die Kosten für Geschäftsreisen – ge-rade angesichts steigender Energie- und Reisekosten –erheblich vermindert werden.
Besonders für kleine und mittlere Unternehmen, de-ren durchschnittliche Ausgaben pro Geschäftsreise umüber 20 Prozent gestiegen sind, wären Verbesserungenim Reisemanagement eine wichtige Hilfe. Die Schaffungeffektiver Rahmenbedingungen für Geschäftsreisen istechte Mittelstandsförderung.Dieser Antrag ist ein Schritt in die richtige Richtung,auch wenn einige meiner Vorschläge nicht realisierbarwaren. Weiter gehenden Handlungsbedarf sehe ich unteranderem im zu komplizierten Steuersystem für Ge-schäftsreisen und in den exzessiven Aufbewahrungsfris-ten für Reisekostenabrechnungen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu einer effektivenInfrastruktur für Geschäftsreisen gehören auch mehr-sprachige Hinweistafeln an den großen Messestandor-ten. Wir fordern auch, beim Bau der Verkehrswege aufvernünftige Umsteigezeiten zu achten. Insbesonderewollen wir von der Deutschen Bahn AG und anderenVerkehrsanbietern einen barrierefreien Zugang zu denBahnhöfen und Verkehrsmitteln, und das nicht nur fürmobilitätseingeschränkte und ältere Menschen, sondernfür alle, denen Barrierefreiheit einen besonderen Gewinnbringt. Es ist ein Zugewinn an Komfort für alle.
Weil wir wissen, dass die Barrierefreiheit ein touristi-sches Qualitätsmerkmal ist, arbeiten wir mit unseremKoalitionspartner an einem eigenen Antrag, den wir inKürze vorlegen werden. Deshalb sind die Anträge derLinken und der Grünen obsolet.
Der Reisemarkt für Ältere ist das Zukunftssegmentder Tourismusbranche schlechthin; das hat auch der
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Brunhilde IrberTAB-Bericht „Zukunftstrends im Tourismus“ gezeigt.Die Alterung unserer Gesellschaft mit einem Senioren-anteil von heute 25 Prozent und im Jahre 2050 sogar37 Prozent bietet der Tourismuswirtschaft die Möglich-keit, das Potenzial des Seniorentourismus auszuschöp-fen. Denn Seniorinnen und Senioren sind eine finanz-starke und aktive Zielgruppe, und bis 2035 werden siemindestens 6 Prozent mehr für Reisen ausgeben.Deshalb schlage ich vor, dass wir die Forderungenunseres Antrages „Chancen des demographischen Wan-dels im Tourismus nutzen“ umsetzen und dass die Bun-desregierung das Ihre dazu tut. Ich bitte Sie deshalb, un-serem Antrag zuzustimmen.
Das war ein vorzüglicher Schlusssatz, Frau Kollegin
Irber.
Ich weiß, Herr Präsident. Einen Satz hätte ich aber
gerne noch gesagt, wenn ich darf.
Der wird aber nicht besser; ich sage es Ihnen vorher.
Ich glaube, schon. – Wir warten auf die tourismus-
politischen Leitlinien. Herr Tourismusbeauftragter, ich
möchte Ihnen ein Satz mitgeben: Verantwortlich ist man
nicht nur für das, was man tut, sondern auch für das, was
man nicht tut. Deshalb bitte ich, die Leitlinien auch ent-
sprechend auszustatten.
Danke schön.
Ich fürchte, ich habe mit meiner Prognose recht be-
halten.
Nun hat die Kollegin Uda Heller das Wort.
Sehr verehrter Herr Präsident! Sehr geehrter HerrTourismusbeauftragter! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Vor zwei Stunden wurde in der Landesvertretungvon Sachsen-Anhalt die Luther-Dekade vorgestellt. DasInteresse von Presse und Gästen war groß. Mein Heimat-land Sachsen-Anhalt ist ein geschichtsträchtiges Land,welches deutsche und europäische Geschichte vereint.Allein vier UNESCO-Weltkulturerbestätten, die Straßeder Romanik, Leben und Wirken von Kaiser Otto I. unddie Himmelsscheibe von Nebra zeugen von Fülle undVielfalt der Kulturhistorie. Die Wiege und das Sterbebettvon Martin Luther befinden sich in meinem Wahlkreis,in der Lutherstadt Eisleben. Mit dem Reformationsjubi-läum rücken nun aber auch die zahlreichen Wirkungs-stätten Luthers in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thürin-gen in den Fokus der Öffentlichkeit. Wir müssen esschaffen, sie zu vernetzen und gemeinsam zu vermark-ten.Am vergangenen Sonntag hatte ich die Ehre, an derfeierlichen Eröffnung der Luther-Dekade in Wittenbergteilzunehmen. In einem deutsch-englischen Festgottes-dienst und bei einer Festveranstaltung erinnerten Vertre-ter von Kirche, Politik und Kultur an die Verdienste desReformators.Große Ereignisse müssen einen Anfang nehmen, umihren programmierten Erfolg erreichen zu können. Dielangfristige Vorbereitung des Jubiläums bietet Gelegen-heit, sich mit Martin Luther tatsächlich und neu ausein-anderzusetzen. Über einen Zeitraum von fast zehn Jah-ren hinweg werden wir uns auf vielfältige Art und Weisemit seinem Leben und Wirken beschäftigen. Der Höhe-und Endpunkt der Luther-Dekade wird am 31. Oktober2017 mit dem 500. Jahrestag des Anschlages jener95 Leitsätze gegen den Ablass erreicht sein.Wir sind eingeladen zum Mitreden, Mitwirken undMitgestalten. Kirche, Wissenschaft, Musik, Literaturund Kunst nähern sich diesem außergewöhnlichen Da-tum mit Tagungen, Podiumsdiskussionen, Lesungen,Konzerten und Ausstellungen. Der Luther-Weg lässt unsauf den historischen Spuren Luthers wandeln und bringtuns gleichzeitig die Schönheiten des Landes näher. Eineoffizielle Jubiläums-Website gibt einen aktuellen Über-blick über diverse Aktivitäten.Wir alle können stolz darauf sein, eine derart faszinie-rende Persönlichkeit wie Martin Luther ehren zu kön-nen. Seine Botschaften haben die Welt verändert.Deshalb lautet der Titel unseres Antrages „Reforma-tionsjubiläum 2017 als welthistorisches Ereignis würdi-gen“. Wir wollen sowohl das kirchliche als auch dasstaatliche Interesse an diesem Jubiläum in Einklang brin-gen. Hierzu bedarf es einer Gemeinschaftlichkeit bei denVorbereitungen.Als Tourismuspolitiker erkennen wir natürlich dasgroße Potenzial religiös motivierter Besucher, für die esein großes persönliches Bedürfnis ist, während der De-kade zu den Wirkungsstätten Martin Luthers in Mittel-deutschland zu reisen.
Hält man sich vor Augen, dass es weltweit 400 Millio-nen Protestanten gibt, wird einem diese Dimension deut-lich. Insbesondere mit vielen Gästen aus den USA ist zurechnen. Das ist also eine einmalige Chance für den Tou-rismus, die es zu nutzen gilt.Es stellt eine weitere Herausforderung dar, all dieseAktivitäten zu koordinieren und zu vermarkten, und dasüber fast zehn Jahre hinweg. Ich denke, diese Vorberei-
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Uda Carmen Freia Hellertungszeit ist einmalig. So viel Zeit hatten wir noch niezur Vorbereitung eines Jubiläums. Unterstützt werden alldiese Initiativen durch einheitliches Marketing unddurch eine von allen Akteuren gemeinsam entwickelteWort-Bild-Marke. Ein solches Ereignis hat es, wie ichschon sagte, in Deutschland in dieser Form noch nichtgegeben. Deswegen rufe ich alle Parteien auf, mit dafürzu sorgen, dass das ein Erfolg wird.
Allein Sachsen-Anhalt investiert in die Luther-De-kade und das eigentliche Reformationsjubiläum einenzweistelligen Millionenbetrag, welcher in Denkmal-schutzmaßnahmen, Infrastrukturprojekte, Marketing-aktivitäten und die Koordinierungstätigkeit des eigensdafür gegründeten Lenkungsausschusses fließt. Dieseaußerordentlichen finanziellen Belastungen können we-der Sachsen-Anhalt noch Thüringen noch Sachsen ohnedie Unterstützung durch die Bundesregierung schultern.Vor diesem Hintergrund haben die Koalitionsfraktio-nen den vorliegenden gemeinsamen Antrag in den Deut-schen Bundestag eingebracht, in welchem die Bundes-regierung aufgefordert wird, zur Würdigung diesesJubiläums und zum Nutzen der damit verbundenenChancen beizutragen. Die Bundesregierung soll vor al-lem im Rahmen bestehender Programme in involviertenBundesländern und Kommunen diese bei Investitionenund Infrastrukturverbesserungen unterstützen. Dazumöchte auch ich noch einmal aufrufen.Ich sehe, dass der Herr Präsident mich mahnt. Des-halb will ich zum Ende meiner Rede kommen.Schließen möchte ich mit einem verblüffend zeitge-mäßen Zitat von Martin Luther, welches der Minister-präsident von Sachsen-Anhalt, Professor Böhmer, aufder Festveranstaltung vorgetragen hat:Dem Volk aufs Maul schauen, ihm aber nicht nachdem Mund reden. Nahe bei den Menschen sein, ihreSprache sprechen und ihre Denkweise verstehen.Volkstümlich zu sein, ohne jemals opportunistischzu werden. Tun, was man sagt, und sagen, was mantut.Diese Grundsätze Martin Luthers sollten für uns allegelten.Vielen Dank.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Engelbert Wistuba, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Die am vergangenen Sonntag in Wittenberg eingeläuteteLutherdekade und das Reformationsjubiläum im Jahr2017 sind aus touristischer Sicht ein Glücksfall fürDeutschland. Wir haben dabei nicht nur das von derDeutschen Zentrale für Tourismus identifizierte touristi-sche Potenzial der weltweit 400 Millionen Protestantenim Blick, von denen mehr als 70 Millionen Lutheranersind. Das Reformationsjubiläum ist aufgrund seiner reli-giösen, aber eben auch kulturhistorischen Bedeutungvon hohem internationalen Interesse.Zehn Jahre lang wird es in Deutschland zahllose Ver-anstaltungen geben: wissenschaftliche, kirchliche undkulturelle. Im Fokus stehen die Lutherstädte Wittenbergund Eisleben mit den Luther-Gedenkstätten und sicher-lich auch die Wartburg in Thüringen. Das alles sind imÜbrigen UNESCO-Weltkulturerbestätten. Aber auch alleanderen Städte mit Lutherbezug wie Augsburg, Coburg,Marburg, Nürnberg, Worms, Erfurt, Torgau und nichtzuletzt auch Zerbst – um nur einige zu nennen – werdenspürbar touristischen Zulauf erhalten.Damit kann Deutschland als Kulturdestination seinegute Positionierung auf dem touristischen Markt aus-bauen und verbessern. Diese Chance, die man durchausmit den Hoffnungen und Wünschen im Vorfeld der Fuß-ballweltmeisterschaft vergleichen kann, darf nicht vertanwerden. Das heißt, wir müssen auch etwas dafür tun, da-mit es einmal mehr heißen kann: Die Welt zu Gast beiFreunden – diesmal allerdings für einen Zeitraum vonzehn Jahren.
Mit der DZT haben wir einen starken Partner. Das in-ternationale Marketing läuft bereits auf Hochtouren. DieGoethe-Institute vermitteln ein umfassendes Deutsch-landbild durch Informationen über das kulturelle, gesell-schaftliche und politische Leben. Die Reformation alsprägendes kulturhistorisches Ereignis ist deshalb idealgeeignet, um in den deutschen Kulturinstituten mit Aus-stellungen, sonstigen Veranstaltungen und mit der einenoder anderen informativen Broschüre auf die Luther-Dekade und das Reformationsjubiläum aufmerksam zumachen. Ich bin überzeugt, dass unser Außenministerdas genauso sieht.Unsere Forderung, die Aus- und Weiterbildung imTourismus verstärkt voranzutreiben, ist nicht neu; dasstimmt. Aber gerade am Beispiel solcher Großereignissemit ganz besonderen Anforderungen an Servicequalität,Fremdsprachenkenntnisse und eben auch Geschichts-kenntnisse
sieht man, dass es nur heißen kann: Nicht kleckern, son-dern klotzen. Denn die Investition in Köpfe zahlt sichschließlich wirtschaftlich aus. Wenn das Büro für Tech-nikfolgenabschätzung den Tourismus als Leitökonomieim 21. Jahrhundert bezeichnet, dann sollte es diesbezüg-lich keine kontroversen Diskussionen geben.Bei der Vorbereitung solcher Großereignisse spieltohne Zweifel die Barrierefreiheit eine große Rolle. Wirhaben in Deutschland sicherlich schon vieles umgesetzt,aber das Thema bleibt eine Dauerbaustelle. Die Ent-wicklung und Umsetzung von barrierefreien touristi-schen Angeboten sind auch im Hinblick auf den demo-grafischen Wandel ein Gebot der Stunde. Ich meine, wirsollten unsere Bemühungen in dieser Hinsicht erheblichverstärken.
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Engelbert Wistuba
Es gibt kein Großereignis ohne infrastrukturelle Er-fordernisse. Mir ist klar, dass zum Beispiel verkehrstech-nische Verbesserungen auf der einen Seite und die bauli-che Sanierung zentraler Stätten, Gedenkorte und Kirchender Reformation auf der anderen Seite richtig viel Geldkosten.Trotzdem sage ich: Wir müssen alles dafür tun, unserekulturellen Leuchttürme zu erhalten und die Substanz zuverbessern. Im Rahmen der Kultur- und Denkmalförde-rung, etwa der Kulturstiftung des Bundes und der Städte-bauförderung, wird schon einiges geleistet. Es wird indiesem Zusammenhang gern vom „Fass ohne Boden“gesprochen, vielleicht um allzu große Begehrlichkeitenim Keim zu ersticken. Unsere Kulturgüter sind Teil un-serer Identität; deshalb sollten wir die Anstrengungennoch einmal forcieren und bereits bestehende Pro-gramme ausbauen.Vor zehn Jahren wurde erstmals das Amt des Kultur-staatsministers besetzt. Kanzler Schröder berief seiner-zeit Michael Naumann für diese wichtige Aufgabe. Seit-her hat sich in der deutschen Kulturpolitik vieles positiventwickelt. Ich gehe davon aus, dass StaatsministerNeumann mit uns an einem Strang zieht.Die aktuelle Woche des bürgerschaftlichen Engage-ments nehme ich zum Anlass, all den ehrenamtlichenHelfern zu danken, die ihre Freizeit und mitunter auchihre finanziellen Ressourcen einsetzen, um unsere Kul-turdenkmäler offenzuhalten und zu pflegen. Lassen Sieuns die Chancen nutzen, die sich in den kommendenzehn Jahren bieten. Lassen Sie uns getreu dem Luther-Spruch „Wer eine Stunde versäumt, der versäumt auchwohl einen Tag“ alle gemeinsam an die Arbeit gehen.Ich bin sicher: Es lohnt sich.Ich habe mich beeilt. Ich hatte nur vier Minuten.Danke für das Verständnis.
Zu den vier Minuten, die Sie hatten, hat Ihnen derwieder einmal sehr großzügige Präsident weitere45 Sekunden als Zugabe gewährt.Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen desAusschusses für Tourismus zum TourismuspolitischenBericht der Bundesregierung und zum Entschließungs-antrag der Fraktion der FDP zu dem genannten Bericht.Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/10187, in Kenntnis des Touris-muspolitischen Berichts auf Drucksache 16/8000 denEntschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Druck-sache 16/8194 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich der Stimme? – Damit ist die Beschlussemp-fehlung mit Mehrheit angenommen.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Druck-sache 16/10380 zum Tourismuspolitischen Bericht derBundesregierung. Wer stimmt für diesen Entschlie-ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Entschließungsantrag ist mehrheitlich abge-lehnt.Tagesordnungspunkt 11 b. Hier geht es um die Be-schlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus zumAntrag der Fraktionen CDU/CSU und SPD mit dem Ti-tel „Messen und Geschäftsreisen als Chance für denTourismusstandort Deutschland“. Der Ausschuss emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 16/9255, den Antrag der Fraktionen CDU/CSUund SPD auf Drucksache 16/5958 anzunehmen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Stimmt je-mand dagegen? – Enthält sich jemand der Stimme? –Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen derKoalition mehrheitlich angenommen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 11 c. Hiergeht es um eine weitere Beschlussempfehlung des Aus-schusses, und zwar auf Drucksache 16/10073. Der Aus-schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-empfehlung die Annahme des Antrags der FraktionenCDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/8777 mit demTitel „Chancen des demographischen Wandels im Tou-rismus nutzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich derStimme? – Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheitangenommen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ableh-nung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenauf Drucksache 16/9315 mit dem Titel „Barrierefreiheitund demografischer Wandel – Auf die Herausforderun-gen für den Tourismus reagieren“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit Mehr-heit angenommen.Bei den Tagesordnungspunkten 11 d bis 11 f wird in-terfraktionell die Überweisung der Vorlagen auf denDrucksachen 16/9830, 16/10320 und 16/10317 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. Gibt es dazu Einvernehmen? – Das immerhin ist derFall. Dann können wir diesen Tagesordnungspunkt ingroßem Einvernehmen durch einen gemeinsamen Be-schluss zum Abschluss bringen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 a auf:Erste Beratung des von den Abgeordneten JerzyMontag, Volker Beck , Monika Lazar,weiteren Abgeordneten und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachtenEntwurfs eines … Strafrechtsänderungsgeset-zes – Bestechung und Bestechlichkeit von Ab-geordneten –
– Drucksache 16/6726 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität undGeschäftsordnungInnenausschuss
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Präsident Dr. Norbert LammertNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhaltensoll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demKollegen Hans-Christian Ströbele für die FraktionBündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zuspäter Stunde geht es um uns, die Bundestagsabgeordne-ten, zumindest unter anderem. Es geht darum, diesesParlament von einem Makel zu befreien.
Seit dem Jahre 1999 sind wir durch das Korruptionsab-kommen des Europarates und seit dem Jahre 2003 durchdas UNO-Übereinkommen gegen Korruption aufgefor-dert, im Gesetz endlich eine umfassende Regelung zurStrafbarkeit der Korruption und Bestechung von Abge-ordneten zu treffen. Dieser Aufforderung sind wir nichtnachgekommen, obwohl die Bundesregierung beide Ab-kommen mit formuliert, unterstützt und unterschriebenhat.
Der Bundesgerichtshof, ein hohes deutsches Gericht,
hat den Gesetzgeber, den Deutschen Bundestag, imMai 2006 aufgefordert, hinsichtlich der Strafbarkeit eineLücke zu schließen.
Auch dieser Aufforderung sind wir nicht nachgekom-men. Nach derzeitiger Gesetzeslage ist in Deutschlandzwar die Bestechung ausländischer Abgeordneter straf-bar, nicht aber die Bestechung deutscher Abgeordneter,es sei denn, es geht um Stimmenkauf. Das ist ein Makel.Das ist sogar ein ganz gravierender Makel, da wir vonLändern auf der ganzen Welt, vor allen Dingen von Län-dern des Südens, verlangen, Good Governance zu prakti-zieren,
etwas gegen Korruption zu tun und an der Spitze vonStaat und Gesellschaft verlässliche und klare Regelun-gen zur Strafbarkeit von Korruption einzuführen, dasselbst aber nicht tun, sondern meinen, das nicht nötig zuhaben.
Das können wir nicht länger hinnehmen.Wie ich weiß, haben sich viele von Ihnen schon überdieses Thema unterhalten. Offensichtlich hat die Koali-tion es bisher aber nicht geschafft, auch nicht mithilfeder Bundesregierung und nicht durch Beratung des Bun-desjustizministeriums, einen entsprechenden Gesetzent-wurf zu erarbeiten. Deshalb legt heute die FraktionBündnis 90/Die Grünen einen solchen Gesetzentwurfvor. Dieser Gesetzentwurf ist maßvoll und gut durch-dacht.
In ihm werden alle Bedenken berücksichtigt, die gegeneine solche gesetzliche Regelung vorgebracht werden.
In diesem Gesetzentwurf ist geregelt, dass Abgeord-nete in Deutschland oder Mitglieder anderer Volksver-tretungen in Bund, Ländern und Gemeinden dann zu be-strafen sind, wenn sie einen rechtswidrigen Vorteil alsGegenleistung dafür fordern, sich versprechen lassenoder gar annehmen, dass sie in Ausübung ihres Mandatsin der Volksvertretung oder im Gesetzgebungsorgan eineHandlung zur Vertretung oder Durchsetzung der Interes-sen des Leistenden oder eines Dritten vornehmen.
Die Frage, was unter „rechtswidrig“ zu verstehen ist,regeln wir in Art. 1 Abs. 3 des Gesetzentwurfes. Dortheißt es:Ein rechtswidriger Vorteil liegt vor, wenn seineVerknüpfung mit der Gegenleistung als verwerflichanzusehen ist.
Das ist eine Regelung, die dem Strafgesetzbuch nichtfremd ist. Wir haben sie aus § 240 des Strafgesetzbu-ches, dem Nötigungsparagrafen, übernommen.Mit dieser sehr engen Regelung – es gibt auch andereVorschläge, die viel weiter gehende Regelungen beinhal-ten – tragen wir allen Bedenken Rechnung. Eines derBedenken, dem wir Rechnung tragen, ist, dass Abgeord-nete in Zukunft zum Beispiel Probleme haben könnten,Spenden für ihre Partei zu akquirieren, da sie sich beidiesem Versuch in den Bereich der Strafbarkeit begebenkönnten. Wir tragen auch dem Bedenken Rechnung,dass Abgeordnete in ihrer Kariere, zum Beispiel bei ih-rer Wahlaufstellung, dadurch behindert werden könnten,dass zunächst ein Ermittlungsverfahren gegen sie einge-leitet wird, das ihren Ruf ruiniert, aber später sang- undklanglos eingestellt wird. Das sind ja die Bedenken, diedort immer vorgebracht werden.Dazu kann ich nur sagen: Abgeordnete sind auchkeine besseren Menschen. Auch bei Abgeordneten kannes immer welche geben, die sich bestechen lassen. Dassauch Abgeordnete nebenher erhebliche Geldbeträge be-ziehen – manchmal ist es völlig unerklärlich, für was –,
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Hans-Christian Ströbelehat es in der Vergangenheit, auch in der nahen Vergan-genheit, gegeben. Deshalb sagen wir, dass wie für Amts-träger auch für Abgeordnete eine solche gesetzliche Re-gelung – nicht die gleiche, aber eine ähnliche – insGesetzbuch aufgenommen werden muss.Wir möchten diesem Deutschen Bundestag auf dieSprünge helfen und haben einen Vorschlag vorgelegt,damit hier im Plenum des Deutschen Bundestages end-lich offen darüber gesprochen wird, damit die Auffas-sungen gegenübergestellt werden und damit wir zu ei-nem vernünftigen Gesetz kommen.Wir haben den Vorschlag vorgelegt, Sie brauchen nurzuzustimmen.
Siegfried Kauder von der CDU/CSU-Fraktion ist dernächste Redner.Siegfried Kauder (CDU/CSU):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Wenn dieser Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die GrünenGesetz würde,
dann hätten 612 Abgeordnete des Deutschen Bundesta-ges die beste Chance, Versuchskaninchen in einem Er-mittlungsverfahren zu werden.
Staatsanwälte und Richter würden das politische Han-deln sezieren und selektieren, weil der vorgelegteStraftatbestand mit normativen Elementen viel zu weitund ungewiss gefasst ist.
Wir reden aber nicht nur über 612 Abgeordnete desDeutschen Bundestages, sondern auch über Tausendevon Landtagsabgeordneten und Abgeordneten des Euro-päischen Parlaments und über Zigtausende ehrenamtlichtätige Mitglieder in Gemeinderäten und Kreistagen.
Wir reden also nicht nur über uns, sondern wir haben ei-nen Gesetzentwurf zu beraten, bei dem es auch um an-dere geht.
Was sind Vorteilsannahme und Bestechlichkeit? EinBeamter, ein Richter oder ein sonst im öffentlichenDienst Tätiger wird verurteilt, wenn er für eine Dienst-handlung einen Vorteil annimmt. Auch wir als Abgeord-nete nehmen öffentliche Ämter wahr. Ich fühle michaber nicht als Beamter, nicht als Richter und nicht alssonst im öffentlichen Dienst Tätiger. Wir sind freie Ab-geordnete und nicht weisungsgebunden, sondern nur un-serem Gewissen verantwortlich.
Darin unterscheiden wir uns deutlich von Beamten.Was bei einem Politiker Korruption sein soll, beschäf-tigt die Rechtsgelehrten schon seit vielen Jahrzehnten.
Im Jahre 1871, dem Jahr der Reichsgründung, hat mansich mit diesem Thema befasst.
Aus gutem Grund hatte man sich auf ein Minimalpro-gramm beschränkt. Die Wahlfälschung und der Stim-menkauf für Wahlen zu den Volksvertretungen wurdenstrafbar.
Die Diskussion unter den Rechtsgelehrten war virulentund hielt lange Zeit an, letztendlich hatte sich aber nichtsgeändert. Man lebte damit.
In der ersten Legislaturperiode des Deutschen Bun-destages hat man dieses Thema wieder aufgegriffen. Esgab einen Schritt zurück; denn im Jahre 1927 hatte dasReichsgericht den Straftatbestand ausgeweitet – abge-druckt im 62. Band auf Seite 6 –
und das Gesetz dahin gehend ausgelegt, dass sich einAbgeordneter auch strafbar machen kann, wenn er seineStimme bei Abstimmungen in der Volksvertretung kau-fen lässt.Darüber debattierten die Abgeordneten im Jahre1953. Sie werden nicht überrascht sein, dass sie zu kei-nem Ergebnis kamen.
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Siegfried Kauder
Deshalb ergab sich daraus wiederum ein Schritt zurück:nur noch der Stimmenkauf bei Wahlen zu Volksvertre-tungen war strafbar. Daran änderte sich bis zumJahre 1994 nichts.Die Rechtsgelehrten machten sich aber Gedankendarüber, wie man das Thema Korruption bei Parlamenta-riern in den Griff bekommen könnte. Von 1957 bis 1960tagte die Große Strafrechtskommission – zugegebener-maßen in Abständen. Die Crème de la Crème des deut-schen Strafrechts erhitzte sich über die Frage, was fürden Parlamentarier strafbar sein soll. Ich empfehle je-dem, die Protokolle nachzulesen. Sie sind im 13. Bandder Niederschriften über die Sitzungen der Großen Straf-rechtskommission – Besonderer Teil – veröffentlicht.
Es ist mir im Gedächtnis geblieben, was ProfessorBockelmann zu der beabsichtigten Gesetzgebung ausge-führt hat. Wenn der Gesetzgeber einen Straftatbestandmit normativen Elementen – also mit wertausfüllendenElementen – schmückt, sagt er eigentlich nichts. Das istdas Problem und die Krux des Gesetzentwurfs vonBündnis 90/Die Grünen. Dieser Gesetzentwurf lässtmehr Fragen offen, als er klärt.
Herr Kollege Kauder, gestatten Sie eine Zwischen-frage des Kollegen Ströbele?
Siegfried Kauder (CDU/CSU):Aber gerne doch.
Herr Kollege Kauder, haben Sie eine Erklärung dafür,warum wir von 120 Staaten der Welt verlangen – über-wiegend ist das schon umgesetzt worden –, dass sie dieTätigkeit von Abgeordneten auch im Strafgesetzbuch re-geln, obwohl es in den meisten Ländern inzwischenstrafbar ist, wenn sich Abgeordnete bestechen lassen,und warum das ausgerechnet in Deutschland nicht mög-lich sein soll?Siegfried Kauder (CDU/CSU):Herr Kollege Ströbele, ich will Ihnen erklären, warumes gerade mit dem Gesetzentwurf von Bündnis 90/DieGrünen nicht möglich ist.
Damit darf ich weiter fortfahren.
– Sie haben doch die Antwort bekommen. Sie könnenwieder Platz nehmen.Die Diskussion war sehr intensiv. Dabei fiel eines auf.Die Rechtsgelehrten kamen zu dem Ergebnis, dass sie zuwenig Ahnung von politischem Handeln hätten und sichdaher in dieses Thema nicht einfinden könnten. Die Dis-kussion war zwar von vielen rechtlichen Argumentengespickt; sie enthielt aber fast kein Beispiel. Das habeich in Ihrer Rede vermisst, Herr Kollege Ströbele.Welches politische Handeln soll über den bereits exis-tierenden Straftatbestand des § 108 e StGB hinaus strafbarwerden? Eines kam deutlich zum Ausdruck: Die Verwerf-lichkeitsklausel, die Sie dem § 240 des Strafgesetzbuchesentnommen haben, ist für politisches Handeln und parla-mentarische Arbeit nicht geeignet. Wir müssen uns alsoandere Lösungsansätze überlegen.Es gibt Literatur dazu, die ich ebenfalls empfehlenkann. Regina Michalke hat sich in der Festschrift fürRainer Hamm aus dem Jahr 2008 mit der Verwerflich-keitsklausel befasst. Wie wollen Sie es regeln? Nimmtein Politiker einen Vorteil für seine Handlung im Deut-schen Bundestag an, soll das strafbar sein, wenn Mittel-und Zweckrelationen zwischen Vorteil und Handeln ver-werflich sind.
Verwerflichkeit ist ein normativer Begriff, und in derRechtssprache wird er durch einen anderen, genauso un-verständlichen Begriff ersetzt. Verwerflichkeit ist durchein besonders hohes Maß an sittlicher Missbilligung de-finiert. Jetzt wissen wir es.
Es stimmt, was Professor Bockelmann gesagt hat: Wennein Gesetzgeber normative Begriffe verwendet, dannsagt er letztendlich gar nichts. Nun werden Sie einwen-den, dass es bei § 240 des Strafgesetzbuches, dem Nöti-gungsstraftatbestand, auch möglich ist.Ich beziehe mich noch einmal auf Regina Michalke inder Festschrift für Rainer Hamm aus dem Jahr 2008: Der§ 240 Strafgesetzbuch ist völlig anders strukturiert, alsder Straftatbestand des § 108 e des Strafgesetzbuches,sprich Abgeordnetenbestechung.
In § 240 Abs. 2 – dem Nötigungsstraftatbestand – sinddie Nötigungsmittel genau definiert. Das können Siehinsichtlich der Abgeordnetenbestechung nicht eins zueins übernehmen.Sie sehen, dass Ihr Projekt nur scheitern kann. Wirbrauchen keine normativen, sondern deskriptive Straftat-bestandsmerkmale. Wir müssen dem Abgeordneten inden Kommunalparlamenten genau sagen, was er tun darfund was nicht.Wir könnten eigentlich aus dem Leben lernen. Es gibteinen Bereich, in dem wir Menschen ins Messer laufen
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Siegfried Kauder
ließen, weil wir eine Gesetzeslücke nicht geschlossenhaben. Mancher Professor der Medizin hat sich hoch-schulrechtlich richtig verhalten und Drittmittel einge-worben, wie es ihm das Hochschulrecht vorschreibt.Aber statt eines Dankeschöns hat er ein Strafverfahrenwegen Vorteilsannahme bekommen. Diese Professorenwurden in erster Instanz zu Freiheitsstrafen verurteiltund mussten sich ihr Recht vor dem Bundesgerichtshoferkämpfen. Hier hat der Bundesgerichtshof gesetzgebe-rische Tätigkeit angemahnt. Wir sind dem nicht nachge-kommen, obwohl wir es tun könnten.Setzen wir Parlamentarier nicht als Versuchskanin-chen einem Ermittlungs- und Strafverfahren aus! Regelnwir diesen Sachverhalt sinnvoll! Wir werden dazu in denAusschusssitzungen Gelegenheit haben. Ich kann Ihnenschon jetzt sagen: Ihr Modell kann nur scheitern.
Der Kollege Jörg van Essen ist der nächste Redner für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichwar schon Berichterstatter bei früheren Beratungen überdas Thema Abgeordnetenbestechung. Die Problematik,die wir damals sehr sorgfältig erörtert haben, besteht un-verändert fort. Herr Ströbele, mir ist aufgefallen, dassSie viele Ausführungen gemacht haben, eines aber garnicht angesprochen haben, nämlich die im Grundgesetzder Bundesrepublik Deutschland verankerte Freiheit desMandats. Das im Grundgesetz verankerte Modell desAbgeordneten ist völlig anders als das des Beamten, desAmtsträgers, des Richters.
– Warum haben Sie das dann nicht angesprochen? – Da-raus ergibt sich die Konsequenz, dass Abgeordnete an-ders behandelt werden müssen als Amtsträger; das istganz selbstverständlich.
Zur Freiheit des Mandats des Abgeordneten gehört,dass er anders als beispielsweise ein Beamter – ich wareiner –, der objektiv sein muss, völlig einseitig Interes-sen vertreten darf, beispielsweise die seines Wahlkreises.
Das gehört zur Demokratie. Wir sind Abgeordnete die-ses Parlaments, um Interessen zu vertreten. Damit habenwir eine völlig andere Aufgabe als beispielsweise derBeamte, der bei seinen Entscheidungen keine Interessenzu vertreten hat, sondern objektiv zu sein hat. Darausfolgt, dass es außerordentlich schwierig ist, jemandemvorzuwerfen, dass er sich völlig einseitig für seinenWahlkreis einsetzt. Die meisten von uns – ich behaupte:fast alle – tun dies aus guten Gründen. Wir engagierenuns dafür, dass die Interessen unserer Wahlkreise oderder Gruppen, in denen wir beispielsweise als Gewerk-schaftsvertreter tätig sind, im Deutschen Bundestag ver-treten sind. Das haben wir zu berücksichtigen.Mir hat Ihr ständiger Hinweis auf andere Länderüberhaupt nicht gefallen.
Zu den Ländern, die die entsprechenden Konventionenunterzeichnet und umgesetzt haben, gehören unter ande-rem Italien und China.
Ich werde permanent von Journalisten gefragt: WarumItalien und Deutschland nicht? Das Ergebnis kennen wiralle. Italien hat zwar unterschrieben. Wenn es aber ernstwird, wird im italienischen Parlament ein Gesetz verab-schiedet, das den Betroffenen, beispielsweise den Minis-terpräsidenten, von Strafverfolgung freistellt.
Hören Sie bitte auf, uns vorzuwerfen, andere seien bes-ser als wir!
Auch China hat, wie gesagt, unterzeichnet. Daran, dassdieses Land ein Modell für freie Abgeordnete ist, habeich meine Zweifel. Hören Sie also bitte auf, uns das vor-zuhalten!
Mir gefällt überhaupt nicht, dass es permanent Ten-denzen Richtung Verbeamtung des Bundestages gibt.Dafür, dass das aus Ihrer Fraktion kommt, habe ich Ver-ständnis. Viele haben keinen Berufsabschluss.
Dann ist es ganz schön, wenn man als Abgeordneter we-nigstens eine Verbeamtung hat. Aber ich erinnere an das,was die Kollegin Meseke, die spätere Präsidentin desBundesrechnungshofes, bei einer früheren Debatte ge-sagt hat: Jeder Schritt in Richtung Verbeamtung der Ab-geordneten ist schlecht für die Demokratie. – Das wirddie Devise für die FDP-Bundestagsfraktion sein.Ich warne sehr davor, die Mandatsträger in den Ge-meindeparlamenten, den Landesparlamenten, im Bun-destag und im Europaparlament gleichzubehandeln;denn die Verfassung gibt denjenigen, die Mitglied einesobersten Verfassungsorgans sind, andere Rechte. Des-halb müssen wir das bei der Gesetzgebung berücksichti-gen.Was ich wie der Kollege Kauder ganz kritisch sehe,ist der Begriff der Verwerflichkeit. Wenn man an man-che Zeitungen mit großen Buchstaben denkt, dannkönnte man den Eindruck gewinnen, dass schon die Tä-tigkeit des Abgeordneten an sich verwerflich ist. Des-halb wird sehr schnell entsprechend argumentiert wer-
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Jörg van Essenden, und was immer wir machen, sehr schnell alsverwerflich angesehen werden. Der Kollege Kauder hatzu Recht darauf hingewiesen, dass in § 240 StGB, demSie den Begriff entlehnt haben, zusätzliche Festlegungenim Tatbestand enthalten sind, die das Ganze eingrenzen.Genau das sehen Sie nicht vor.
Deshalb ist das, was Sie vorgeschlagen haben, ein völligfalscher Weg. Er bringt uns nicht voran. Wenn Sie ge-glaubt haben, dafür bekämen Sie Beifall,
dann muss ich Ihnen sagen: Ich habe in Vorbereitung aufdie Debatte heute Abend einen Artikel in einer wissen-schaftlichen Zeitschrift gelesen – Kollege Kauder weißbestimmt, auf welcher Seite das stand, was ich gelesenhabe; mir ist das leider entfallen –, und darin ist Ihnender Vorwurf gemacht worden, dass Ihr Entwurf, den Sieheute vorlegen, völlig untauglich ist. Also, in der Wis-senschaft finden Sie keinen Beifall, bei meiner Fraktionauch nicht, und ich hoffe, bei den anderen Fraktionen imDeutschen Bundestag ebenfalls nicht.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Joachim Stünker, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich habe fast den Eindruck, wir hätten den Gesetzent-wurf gleich an den Rechtsausschuss überweisen sollen.Dann hätten wir die Debatte, in der wir die lieben Kolle-ginnen und Kollegen mit vielen rechtlichen Begriffen zuspäter Stunde vielleicht noch langweilen, abkürzen kön-nen. Der Herr Bundespräsident hat am Dienstag bei derEröffnung des Deutschen Juristentages eine, wie ichmeine, sehr gute Rede gehalten. Er hat die Politik er-mahnt, nicht überzogene Erwartungen zu wecken. HerrKollege Ströbele, ich glaube, das gilt auch für diesesThema. Wir sollten es etwas tiefer hängen und keine Er-wartungen wecken, die hinterher nicht erfüllt werdenkönnen.Wir alle sind uns einig, dass Abgeordnete, also Volks-vertreter, nicht bestechlich oder korrupt sein dürfen. Wiralle sind uns auch darin einig, dass die ganz überwie-gende Zahl der Abgeordneten in den kommunalen Parla-menten, in den Landtagen, im Bundestag und auch imEuropäischen Parlament genau das nicht sind. Sie sindnicht korrupt, um es ganz deutlich zu sagen.
Wenn wir auch davon überzeugt sind, dass sie nicht kor-rupt sind, so bedarf es trotzdem Regelungen, um mögli-che Zuwiderhandlungen verfolgen zu können. SchwarzeSchafe gibt es überall im Leben, und so gibt es sie natür-lich auch unter Abgeordneten.
Über eines sollten wir uns, Herr Kollege Kauder undHerr Kollege van Essen, auch einig sein, und daran führtkein Weg vorbei: Die geltende Regelung im § 108 eStGB reicht nicht aus.
Die Vorschrift genügt nicht den internationalen Vorga-ben, die wir in Deutschland gezeichnet haben, aber nichtratifizieren können. Da haben Sie vollkommen recht. Esist peinlich, wenn wir dem nicht nachkommen.
Es gibt aber auch seit zwei Jahren eine Rechtspre-chung des Bundesgerichtshofs, die klargemacht hat, wasich schon seit Jahrzehnten behauptet habe, was aber24 Oberlandesgerichte anders gesehen haben. Der Bun-desgerichtshof hat nämlich festgestellt, kommunaleMandatsträger seien keine Amtsträger, weshalb für kom-munale Mandatsträger nicht unsere Vorschriften imStGB für Straftaten im Amt gelten würden. Die Vorsit-zende des Strafsenats, die das entschieden hat, die heu-tige Generalbundesanwältin Frau Harms, hat damals indem Urteil deutlich gemacht, dass eine Lücke im Gesetzexistiert. Diese Lücke muss geschlossen werden, und da-her sind wir aufgefordert, nicht nur schlaue Reden zuhalten, sondern diese Lücke zu schließen.
Herr Kollege Ströbele, wir hätten diese Lücke schonlange schließen können. Sie und ich, wir beide wissendas. Denn wir hatten im Jahr 2005 in einer Kommission– der Kollege Manzewski war dabei – eine Regelung er-arbeitet.
– Nun hören Sie doch zu! Jetzt wird es Ihnen peinlich. –Ich meine, es war eine sehr gute Regelung, die wir da-mals erarbeitet hatten.
– Okay, die von uns entworfen war, vielen Dank. –
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Joachim StünkerAber dann mussten wir koalitionstreu sein, und wir durf-ten sie nicht ins Parlament einbringen, weil uns die Grü-nen blockiert haben. Man höre und staune.
Das war eine Regelung, die dem Kollegen Beck zu weitund dem Kollegen Ströbele nicht weit genug ging.
Also war gar nichts zu machen. Man hat sich damals ge-genseitig blockiert.Aber – und das ist vielleicht die Tragik bei uns Sozial-demokraten –
– darf ich weitermachen? – wir möchten auch jetzt, inder Großen Koalition, gern eine Regelung vorlegen, diewiederum wir erarbeitet haben. Nun will unser Koali-tionspartner nicht.
Wir sollten uns im Ausschuss zusammensetzen und dorteinmal eine vernünftige Debatte führen.
Herr Kollege Stünker, gestatten Sie eine Zwischen-
frage?
Nein. Die Zeit ist schon sehr weit fortgeschritten,Herr Kollege von Klaeden; ich möchte jetzt gern zumEnde kommen. Wir können das sicherlich auch untervier Augen austauschen.
– Lassen Sie uns noch einmal einen Moment ernst wer-den!Wo liegt das Problem? Das Problem liegt – das isthier schon häufig angesprochen worden – im Tatbe-standsmerkmal des Vorteils. Es geht um den Vorteilsbe-griff. Das Merkmal ist in Ihrem Entwurf zu schwammiggefasst. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestageswerden im Ergebnis in die Hände der dritten Gewalt, indie Auslegung gegeben, was mit dem freien Mandat ausArt. 38 des Grundgesetzes sicherlich nicht in Überein-stimmung zu bringen ist.Wir sind uns völlig einig: Nach Art. 38 des Grundge-setzes darf der Abgeordnete Interessenvertreter sein. Ermuss Interessenvertreter sein. Er ist parteilich. Er darfparteilich sein. Das alles ist richtig.Wenn wir uns alle darüber einig sind, warum schaffenwir dann nicht einen Tatbestand, bei dem wir an genaudas anknüpfen, was uns das Grundgesetz in Art. 38 imGrunde vorgibt?
Es heißt dort: An Aufträge und Weisungen sind die Ab-geordneten nicht gebunden; sie sind nur ihrem Gewissenunterworfen.
Warum implementieren wir nicht diese verfassungs-rechtlichen Grenzen in den zu bildenden Straftatbestand,liebe Kolleginnen und Kollegen?Der Straftatbestand könnte dann wie folgt lauten:„Der Abgeordnete macht sich strafbar, wenn er ... sichbereit zeigt, bei der Wahrnehmung seines Mandats Auf-träge oder Weisungen deshalb zu erfüllen, weil ihm da-für ein Vorteil versprochen oder gewährt wird.“ Das istein Vorschlag von uns, um eine Lösung zu finden. Er istmit Art. 38 – freies Mandat des Abgeordneten – mögli-cherweise kompatibel.Dann bräuchten wir uns nicht mehr darüber zu unter-halten, ob der Vorteil unbillig oder rechtswidrig seinmuss; denn bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit geht esimmer auch um die Angemessenheit. Es gibt also Lö-sungsmöglichkeiten für ein schweres rechtliches Pro-blem.Wir meinen, dass wir in eine Regelung zur Strafver-folgung ein weiteres Element aufnehmen müssten. Wirsollten darüber nachdenken, ob dann, wenn der Tatbe-stand erfüllt sein könnte, als Voraussetzung für eineStrafverfolgung nicht auch noch die Ermächtigung derVolksvertretung notwendig ist, ob wir also das Strafrechtmit dem Recht der Immunität verbinden müssen.
Die Befürchtung, die überall geäußert wird, ist ja: Be-reits eine entsprechende Überschrift in der Bild-Zeitung,dass jemand durch eine Anzeige in ein Ermittlungsver-fahren geraten ist – das kann ja völlig im Sande verlau-fen –, führt zum politischen Tod. Das muss man mit be-denken.
Ein Beispiel von heute aus einer Zeitung bei uns imNorden passt da. Das habe ich heute Mittag auf denTisch bekommen. Die Überschrift lautet: „Staatsanwaltermittelt nach Anzeige gegen ...“. Es geht um einen Kol-legen von uns in Niedersachsen. In dem Artikel heißt esdann, dass der Staatsanwalt bestätigt usw.Dem ist man heute gleich nachgegangen. Keine derRegeln ist eingehalten worden. Nach den RiStBV, denRichtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldver-fahren, wie das schöne Büchlein heißt, hätte zuerstinnerhalb bestimmter Fristen eine Anzeige an den Par-lamentspräsidenten erfolgen müssen. Bei der Staatsan-waltschaft dort ist angerufen worden und siehe da: DerSachverhalt ist ein ganz anderer. Aber der Staatsanwalt,der dort zitiert ist, hat genau diese Erklärung abgegeben.
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Joachim StünkerMorgen kommt eine Gegendarstellung. Aber wir wissen,was von einer solchen Gegendarstellung im Ergebnis zuhalten ist.
Von daher: Wir alle sehen die Probleme. Wir müssen– damit will ich schließen und meine Redezeit nicht ganzausnutzen; es ist schon spät geworden – miteinander re-den. Wir müssen gemeinsam beraten. Herr KollegeGehb und Herr Kollege Kauder, wir haben den rechtli-chen Sachverstand, um eine Regelung zu finden, bei derwir unsere Kolleginnen und Kollegen in den Parlamen-ten nicht ins Messer laufen lassen. Das dürfen wir näm-lich nicht; Sie haben darauf zu Recht hingewiesen. Unsaber ein Redeverbot aufzuerlegen und diese Frage garnicht mehr zu diskutieren, das, glaube ich, kann nicht dieLösung sein. Von daher meine Bitte an den Koalitions-partner – Sie persönlich muss ich gar nicht ansprechen –:Reden Sie noch einmal mit Ihren Oberen! Wir sollten dieBeratungen wieder aufnehmen.Schönen Dank.
Die Rede des Kollegen Wolfgang Nešković nehmen
wir zur Protokoll.1)
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird
Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/6726
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Moder-
– Drucksache 16/10067 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um folgende Kolleginnen und Kollegen: Parlamenta-
rischer Staatssekretär Alfred Hartenbach, Antje
Tillmann, CDU/CSU, Klaus Uwe Benneter, SPD,
Mechthild Dyckmans, FDP, Dr. Barbara Höll, Die Linke,
Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen.2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/10067 an die in der Tagesord-
1) Anlage 8
2) Anlage 9
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Elke
Hoff, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie
der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried
Nachtwei, Kerstin Müller , weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
NSG-Ausnahmeregelung für Indien beschä-
digt das nukleare Nichtverbreitungsregime –
Zustimmung der Bundesregierung ist Beleg ei-
ner falschen Abrüstungspolitik
– Drucksache 16/10355 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
FDP-Fraktion die Kollegin Elke Hoff.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Zu sehr später Stunde reden wir heute über einwichtiges Thema, das es eigentlich verdient hätte, anprominenterer Stelle hier im Deutschen Bundestag be-handelt zu werden. Deswegen freue ich mich auch, dasses uns gelungen ist, gemeinsam mit unseren Kollegenvon der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen heute ein Zei-chen zu setzen und unserer Missbilligung über etwasAusdruck zu verleihen, was die Bundesregierung in derparlamentarischen Sommerpause dieses Jahres auf denWeg gebracht hat.Die Entscheidung für eine Ausnahmeregelung für In-dien ohne die langfristige und verbindliche Verpflich-tung Indiens zur nuklearen Abrüstung und zum Beitrittzum Atomteststoppvertrag bricht nach unserer Auffas-sung mit allen Prinzipien der internationalen Nichtver-breitungspolitik und bedroht das ohnehin schon wan-kende nukleare Nichtverbreitungsregime endgültig inseiner Existenz.
Es wurden einem Nichtmitglied kostbare Rechte ein-geräumt, ohne dafür die entsprechenden Pflichten einzu-fordern. Indien wird dadurch nicht näher an das nukleareNichtverbreitungsregime herangeführt, sondern erhälteinen Sonderstatus als privilegierter Kernwaffenstaat au-ßerhalb des Atomwaffensperrvertrages. Das ist der Wegin nukleare Doppelstandards, das ist der Weg in die Un-
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Elke Hoffterscheidung zwischen guter und schlechter Prolifera-tion, und das ist, meine Damen und Herren, ein totalerIrrweg;
denn er bedeutet über kurz oder lang das Ende desAtomwaffensperrvertrages, das Ende des internationalenNichtverbreitungsregimes und den Beginn einer Phaseunkontrollierter nuklearer Aufrüstung.Nur durch ein intensives und glaubwürdiges Engage-ment der Weltgemeinschaft für die Institutionen derNichtverbreitung, nur durch eine globale Abrüstungsini-tiative, wie sie erfahrene Staatsmänner wie Außenminis-ter Henry Kissinger oder Hans-Dietrich Genscher wie-derholt eingefordert haben, werden sich der entstandeneSchaden noch begrenzen und ein Zerfall des Nichtver-breitungsregimes vielleicht noch verhindern lassen. Ab-rüstung und Rüstungskontrolle sind viel zu kostbareSäulen der internationalen Sicherheit, als dass sie zustrategischen Instrumenten von Geo- oder auch Wirt-schaftspolitik werden dürften.Die FDP hat wiederholt gefordert, dass Deutschlandendlich wieder eine Vorreiterrolle für die internationaleAbrüstung und Nichtverbreitung einnimmt. Unser Landhat sich auf diesem Politikfeld auch durch liberale Au-ßenpolitik ein stabiles Renommee aufgebaut. Deshalbschmerzt es meine Fraktion besonders, dass eine solcheabrüstungspolitische Fehlentscheidung unter deutschemVorsitz und unter Führung eines deutschen Außenminis-ters in der Nuclear Suppliers Group getroffen worden ist.
Dabei hatte der Bundesaußenminister ja bereits per-sönlich die richtigen und notwendigen Kriterien für eineHeranführung Indiens an das Nichtverbreitungsregimeund für eine außenpolitisch verantwortliche Entschei-dung der NSG benannt. Auf einer Abrüstungskonferenzder SPD im Juni 2006 nannte er als Kriterien den BeitrittIndiens zum Atomteststoppvertrag, ein Moratorium fürdie Produktion von spaltbarem Material für Waffenzwe-cke und die Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung. Undso hätten die Kriterien für eine Zustimmung der Bundes-regierung in der NSG auch am 6. September 2008 lautenmüssen.In der abrüstungspolitischen Grundsatzrede des Au-ßenministers auf der Münchner Sicherheitskonferenz indiesem Jahr kam das heikle Thema jedoch erst gar nichtvor. Wer in der anschließenden Diskussion etwas zu derdeutschen Haltung zum US-indischen Nuklearabkom-men wissen wollte, wurde ebenfalls enttäuscht. Konkre-tes, gar eine deutliche Positionierung gab es nicht. DieBundesregierung hat der indischen Sonderregelung inder NSG zugestimmt, ohne das Parlament und die deut-sche Öffentlichkeit auch nur ein einziges Mal im Vorfeldüber ihre Entscheidung zu informieren.
Die Entscheidung wurde klammheimlich in der parla-mentarischen Sommerpause getroffen. Dies ist aus unse-rer Sicht, wie Herr Kollege Hoyer richtig bemerkt hat,ein unerhörter Vorgang.
Aber die Bundesregierung hat nicht nur Parlamentund Öffentlichkeit über ihre Positionierung im Unklarengelassen. Wenn man die Berichterstattung ausländischerMedien, insbesondere die indische verfolgt und mit Ver-tretern anderer Delegationen gesprochen hat, wurde ei-nes sehr deutlich: Die Bundesregierung hat ihren NSG-Vorsitz aktiv dazu genutzt, für eine Sonderregelung fürIndien zu werben, sie hat kleine Staaten wie Irland, dieNiederlande oder Neuseeland mit ihrer Kritik an denfehlenden abrüstungspolitischen Bedingungen der Son-derregelung im Regen stehen lassen, und sie hat nie dievon Außenminister Steinmeier benannten abrüstungspo-litischen Kriterien zur Grundlage ihrer Entscheidung ge-macht. So sieht, meine Damen und Herren, keine glaub-würdige Abrüstungspolitik aus.Da hilft es auch nicht, immer wieder treuherzig aufMohammed al-Baradeis Unterstützung für das US-indi-sche Nuklearabkommen zu verweisen und diese wie eineMonstranz vor sich herzutragen. Denn bereits im Jahr2005 hat der IAEO-Direktor die entscheidende Ein-schränkung seiner Haltung hinzugefügt: „Managed pro-perly, it would take us forward.“ – Nur richtig gehand-habt würde ein US-indisches Nuklearabkommen Indiennäher an das Nichtverbreitungsregime heranführen unddie internationalen Bemühungen um nukleare Nichtver-breitung voranbringen.Das bedeutete auch seiner Meinung nach, das US-in-dische Nuklearabkommen zu einem Tauschgeschäft zumachen: Energieentwicklungshilfe gegen das Eingehenverbindlicher Verpflichtungen aus dem Atomwaffen-sperrvertrag. Nur, dieses Geschäft auf Gegenseitigkeithat eben nicht stattgefunden. Indien hat keine verbindli-chen Verpflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertragübernommen. Deshalb hätte die NSG, hätte die Bundes-regierung einer Sonderregelung für Indien auch nichtzustimmen dürfen. Deshalb muss Deutschland als glaub-würdiger Nichtkernwaffenstaat und verantwortungs-voller nuklearer Lieferstaat an seiner restriktiven Export-politik für Nukleartechnologie gegenüber Indien fest-halten.Ich appelliere hier auch im Namen der Kollegen, diegemeinsam mit uns den Antrag formuliert haben, an dieBundesregierung, zumindest in diese Richtung weiterzu-marschieren und uns bitte hier im Plenum zu erklären,wie es zu dieser, aus unserer Sicht wirklich verheerendenEntscheidung kommen konnte.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Eckart von Klaeden,CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle-gen! Wir wissen aus zahlreichen Unterrichtungen durchdas Auswärtige Amt, dass nicht nur dort, sondern auchim Parlament über die richtige Entscheidung zu dieserFrage lange Zeit gerungen worden ist. Am Ende des Ent-scheidungsprozesses hat Außenminister Steinmeier eineFührungsentscheidung getroffen, die unsere volle Unter-stützung verdient, nämlich: Die Ausnahmeregelung derNuclear Suppliers Group für Indien war notwendig.Das, was die Grünen und die FDP hier vorlegen, stelltnicht nur eine Misstrauenserklärung gegenüber den Ver-einigten Staaten von Amerika dar – das ruft in der deut-schen Öffentlichkeit heutzutage ja keine besondere Auf-merksamkeit mehr hervor –,
sondern stellt auch eine Misstrauenserklärung gegenüberIndien dar. Darauf wird, wenn aus einer der beiden Frak-tionen oder Parteien, je nach Konstellation, der Wunschvorgetragen wird, einmal den Außenminister zu stellen,sicherlich zurückzukommen sein.
Die entscheidende Frage ist doch: Hat Indien das Ver-trauen verdient, das ihm durch diese Ausnahmeregelungentgegengebracht wird?Vor Jahren haben sich die Grünen – damals mit derUnterstützung der Opposition von CDU/CSU und auchder Unterstützung der FDP – in der rot-grünen Koalitiondafür eingesetzt, Indien im Rahmen der G-4-Initiative zueiner Vetomacht im Weltsicherheitsrat zu machen. Glau-ben Sie wirklich, dass diese Entscheidung richtig gewe-sen wäre, wenn, wie Sie es in Ihrem Antrag deutlich ma-chen, Indien gleichzeitig eine Gefahr für das nukleareNichtverbreitungsregime wäre? Wäre diese Initiativewirklich verantwortbar gewesen? Ja, diese Initiative istmeiner Meinung nach damals richtig gewesen. Indiengehört in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.
– Indien kann ja gar nicht Mitglied des Nichtverbrei-tungsvertrages sein, Frau Kollegin Hoff. Sie müssteneinmal den Vertrag lesen. Denn Indien ist Nuklearmacht,und die Aufnahme einer weiteren Nuklearmacht ist indem Vertrag gar nicht vorgesehen. Es gibt überhauptkein Verfahren dafür.
Also, Indien stellt immer wieder diese Forderung. In-dien sagt ja: Wir sind bereit, Mitglied des Nichtverbrei-tungsvertrages zu werden, wenn ihr akzeptiert, dass wirNuklearmacht sind.
Zu sagen, dass Indien zwar eine Gefahr für das Nicht-verbreitungsregime ist, und gleichzeitig zu fordern, dassIndien in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen alsVetomacht soll, dass es also für andere Staaten inter-nationales Recht setzen soll, bedeutet nur – Sie lehnennämlich das eine ab und befürworten das andere –, dassSie entweder den Nichtverbreitungsvertrag oder den Si-cherheitsrat gering schätzen.
Ihre Position ist nicht schlüssig.
Wir dagegen sind der Ansicht, dass Indien dieses Ver-trauen verdient,
dass Indiens Aufstieg neben dem Aufstieg Chinas dieWelt in den kommenden Dekaden unübersehbar verän-dern wird. Wir meinen, dass Indien in den letzten Jahrenund Jahrzehnten wichtige Initiativen ergriffen hat. Indienhat in Südasien Verantwortung übernommen, zum Bei-spiel bei der Lösung der politischen Krise in Nepal. Eshat seine Beziehungen zu den ASEAN plus Drei und denVereinigten Staaten verstärkt. Indien kommt damit sei-nem angesichts seiner Größe verständlichen Ziel näher,als Großmacht eine Gleichrangigkeit mit seinem chinesi-schen Nachbarn zu erreichen, und das ist ein wesentli-cher Grund für seine nuklearen Ambitionen gewesen.
– Sie wollen jetzt doch nicht wirklich die Lage in Pakis-tan, Herr Kollege Ströbele, und die ProliferationspolitikPakistans mit der Indiens vergleichen. Das zeigt, wiesehr bei Ihnen die Maßstäbe verrutscht sind.
Seit 1974 hat Indien eine verantwortungsvolle Politikbetrieben und sich als eine verantwortungsvolle Atom-macht erwiesen: Anders als sein Nachbarland Pakistan,das Sie, Herr Kollege Ströbele, gerade als Kronzeugeeingeführt haben, war Indien zu keinem Zeitpunkt an derProliferation von Nuklearmaterial oder Know-how be-teiligt. Anders als Pakistan hat Indien zudem in seinerNukleardoktrin von Anfang an auf den Ersteinsatz vonAtomwaffen verzichtet. Darüber hinaus hat Indien er-klärt, keine Atomwaffen gegen Nichtnuklearstaaten ein-zusetzen, und es hat sich seit 1974 an diese Nukleardok-trin gehalten. Das sind wesentliche Unterschiede zuPakistan, das Sie gerade hier eingeführt haben.
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Eckart von KlaedenZudem hat die indische Regierung ein freiwilliges Mora-torium für neue Atomtests erklärt.Ich sehe auch keinen direkten Zusammenhang zwi-schen der NSG-Entscheidung und den Bemühungen umeine friedliche Lösung der Krise um das iranischeNuklearprogramm. Indien ist in dieser Frage nicht mitdem Iran zu vergleichen. Indien hat den Nichtverbrei-tungsvertrag nicht unterzeichnet. Iran hingegen ist demNVV beigetreten, und es gibt erhebliche Zweifel an derEinhaltung der völkerrechtlichen Verpflichtungen ausdem NVV durch das Teheraner Regime.Die E-Drei-plus-Drei haben dem Iran das Angebot ei-ner zivilen nuklearen Zusammenarbeit unterbreitet,wenn das Land das Vertrauen in den ausschließlich fried-lichen Charakter seines Programms wiederhergestellthat. Auch bedroht Indien nicht die Existenz eines ande-ren Staates, wie das der Iran offen gegenüber Israel tut.Die Rede des iranischen Präsidenten Ahmadinedschadvor der UN-Vollversammlung hat das ja wieder unterBeweis gestellt.Wie alle Schwellenländer ist Indien ein Land mit stei-gendem Energiebedarf.
Der Energiebedarf Indiens, das über keine eigenen Öl-und Gasvorkommen verfügt, steigt stetig an. Es verfügtüber große eigene Kohlevorkommen, deren Verstro-mung allerdings zu den rapide wachsenden CO2-Emis-sionen des Landes beitragen würde. Man kann daherIndien schwer den Zugang zu nuklearer Energie verwei-gern – das ist ja ein Argument, das immer wieder vonder FDP vorgetragen wird, aber von den Grünen nichtunterstützt wird –; denn Indien ist für seine wirtschaftli-che Entwicklung auf die Bereitstellung von Nuklear-energie angewiesen. Indien das vorzuenthalten, was mandem Iran immer wieder anbietet, ist nicht sonderlichüberzeugend.Mit dem Ausbau der Atomkraft hofft die Regierungin Delhi zudem, den Zuwachs der CO2-Emissionen ein-zudämmen.Es ist auch nicht überzeugend, wenn die Gegner desamerikanisch-indischen Nuklearabkommens behaupten,dass dadurch der NVV geschwächt werde. Meines Er-achtens wird der NVV gerade durch die Annäherung In-diens an den Vertrag gestärkt. Ihr Argument, Frau Kolle-gin Hoff, ist ja nur dadurch plausibel geworden, dass Siedas englische Zitat von al-Baradei unzutreffend insDeutsche übersetzt haben; denn Sie haben die selbstver-ständliche Kondition, dass eine Vereinbarung vernünftigausgeführt werden muss, in einer Weise verändert, wiesie im englischen Zitat al-Baradeis nicht enthalten war.Indien hat zugestimmt, 14 seiner bis 2014 verfügba-ren 22 Kernkraftwerke einer Inspektion durch die IAEOzu unterwerfen. Das ist der wesentliche Punkt, den al-Baradei als eine Heranführung an das NVV-Regime ge-nannt hat. Das vereinbarte Safeguards-Abkommen zwi-schen Indien und der IAEO dürfte bald unterzeichnetwerden.
Am 5. September hat der indische Außenminister vorder Entscheidung der NSG die indische Nichtverbrei-tungsverpflichtung noch einmal bekräftigt. Auf dieserindischen Nichtverbreitungsverpflichtung baut die Aus-nahmeregelung der NSG auf. Falls Indien erneut einenAtomtest durchführen sollte oder seine Safeguards- oderNSG-Verpflichtung verletzt, kann jedes NSG-Mitgliedein Sonderplenum einberufen, das über geeignete Maß-nahmen bis hin zur Suspendierung oder Beendigung desNuklearhandels mit Indien entscheidet.
Ich halte es daher für richtig, dieser Ausnahmerege-lung zuzustimmen. Ich glaube, dass Indien angesichtsseiner jahrzehntelangen verantwortungsvollen Nuklear-politik dieses Vertrauen verdient.
Nächster Redner ist der Kollege Paul Schäfer, Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! AnfangSeptember ist ein neues Kapitel eines Stücks geschrie-ben worden, das man auch „Chronik eines angekündig-ten Todes“ nennen könnte. Die Bundesregierung kannsagen, sie ist nicht nur dabei gewesen, sondern sie hatsogar den Vorsitz bei dieser Veranstaltung geführt.Das hat doch eine besondere Pikanterie. Diese Nukle-arlieferantengruppe ist 1976, also zwei Jahre nach denindischen Atomtests, gegründet worden, und zwar genauzu dem Zweck, Nuklearlieferungen an Indien zu verhin-dern. Jetzt gibt es eine Ausnahmeregelung der NuclearSuppliers Group, indem gesagt wird: Wir dürfen an In-dien liefern. – So etwas nennt man doch wohl Paradig-menwechsel, oder? Ich finde, es ist eindeutig – darumbraucht man nicht herumzureden – ein Dammbruch,weil Indien dafür prämiert wird – anders kann man esnicht sehen –, dass es sich im Widerspruch zum NPT zueiner Atommacht entwickelt hat. Um diesen Sachverhaltkommen Sie nicht herum. Wenn man jetzt solche Präze-denzfälle schafft, wird man es viel schwieriger haben,vom Iran und von anderen eine Abkehr von ihrennuklearen Ambitionen zu verlangen.Herr von Klaeden, alle Gründe, die Sie für die Son-derbehandlung Indiens anführen – Sie sagen beispiels-weise, es sei eine vertrauenswürdige Nuklearmacht –,beinhalten offensichtlich die Ansage, dass wir uns nichtallzu sehr um Recht und Gesetz kümmern. Damit wirdder Willkür Tür und Tor geöffnet. Wer definiert denn,dass Indien eine verantwortungsvolle Atommacht ist?Diese Willkür tut den internationalen Beziehungen nichtgut. Wir brauchen verlässliche rechtliche Grundlagen.Ein entsprechendes Verhalten wäre von Indien einzufor-dern gewesen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19129
(C)
(D)
Paul Schäfer
Es ist schon erwähnt worden, dass es eine Chance in-nerhalb der NSG gegeben hätte, ein klares Nein zu sa-gen, um die Beteiligten dazu zu bringen, darauf zu drän-gen, dass Indien die Bedingungen des NPT erfüllt. Eshätte dafür eine Mehrheit gegeben. Aber die Bundesre-gierung hat sich an die Spitze derjenigen gesetzt, diedem Druck nachgegeben haben, der vor allem von denUSA ausgegangen ist. Diesem Druck konnte keines derkleinen Länder standhalten; sie sind sozusagen in dieKnie gegangen. Es hätte also eine Möglichkeit gegeben,das zu verändern. Dass dies nicht passiert ist, zeigt:Worte und Taten klaffen bei der Bundesregierung weitauseinander.Man kann – leider, muss man an dieser Stelle sagen –auch vermuten, dass es dort unlautere Motive nicht nurseitens der USA gibt, die Materialien liefern wollen unddie im nuklearen Bereich Geschäfte machen wollen.Man muss dies auch für andere Regierungen vermuten.Wenn ich mir die Entwicklung der deutschen Rüstungs-exporte nach Indien anschaue und wenn ich berücksich-tige, dass man da spekuliert, was U-Boot-Lieferungenoder den Verkauf des Eurofighters betrifft, kann ichmich nicht ganz des Eindrucks erwehren – diese Fragestelle ich zumindest in den Raum –, dass da auch Export-interessen eine Rolle spielen. Man hat also die eigeneabrüstungspolitische Position aufgeweicht und ge-schwächt mit der Konsequenz, dass der Vertrag über dieNichtverbreitung von Kernwaffen in der Tat akut gefähr-det ist.Wir sind in der Situation – das ist an dieser Stelle oftgenug gesagt worden –: Wenn es 2010 nicht zu eindeuti-gen Ergebnissen auch in Richtung einer klaren Abrüs-tungspolitik kommt, dann wird es insgesamt eine Ero-sion geben, und dann wird man auf einer schiefen Bahnsein, auf der es kein Halten mehr gibt. Es wäre das Mini-mum gewesen, die rote Linie, die sich die Bundesregie-rung selbst gesetzt hat, in den NSG-Verhandlungen ein-zuhalten, das heißt, eine verbindliche Erklärung zuerreichen, dass Indien dem Atomteststoppvertrag beitritt,sich an dem Produktionsmoratorium für nukleare Waf-fen beteiligt und all seine Anlagen der Kontrolle derSafeguards der IAEO unterstellt.Das jetzt erreichte Abkommen kann man nur als För-derprogramm für den militärischen Bereich ansehen.Wenn nur Teile der Anlagen einer Kontrolle unterstelltwerden, dann können Materialien transferiert werdenund für militärische Programme genutzt werden. Das istein Förderprogramm für die nukleare Aufrüstung in derRegion. Dem hätte man Einhalt gebieten müssen; dahätte man Nein sagen müssen. Genau das ist das richtigeAnsinnen des Antrages von FDP und Grünen, der des-halb grundsätzlich unterstützungswürdig ist.Danke.
Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt,
Gernot Erler.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir debattieren heute hier über eine Entscheidung, dieunterschiedliche Wirkungen haben kann. Allen nachzu-gehen, ist in vier Minuten nicht möglich. Deshalb kon-zentriere ich mich auf eine.Das Ziel der Bundesregierung besteht darin, Indien inVerbindung mit den Entscheidungen der IAEO und derNSG näher an das internationale Nichtverbreitungsre-gime heranzuführen und damit aus seiner Isolation zu lö-sen. Diesem Ziel kommen wir jetzt näher. Indien hat sichauf das globale Nichtverbreitungsregime zubewegt undsteht jetzt stärker in der Verantwortung als vorher, vor al-lem durch das am 1. August von der IAEO gebilligteSafeguards-Abkommen. Indien wird jetzt die Mehrzahlseiner Reaktoren unter Safeguards stellen. Das bedeutetmehr Kontrolle als bisher und damit einen deutlichenGewinn für das Safeguardssystem und für die Nichtver-breitung.
Eine Wertung, wie ich sie letzten Mittwoch von demKollegen Trittin gehört habe, die Belieferung Indiens mitAtommaterial und Uran sei kein Gewinn, sondern einVerlust an Rüstungskontrolle, ist irreführend. Die NSG-Entscheidung erlaubt die Lieferung von NSG-kontrol-lierten Nukleargütern nur an zivile Anlagen unter Safe-guards. Die IAEO-Kontrollen verhindern gerade, dassdas Material in den militärischen Sektor gelangt.Nicht von ungefähr hat der indische AußenministerMukherjee in seiner Erklärung vom 5. September erst-mals öffentlich die nichtverbreitungspolitischen Ver-pflichtungen seines Landes genannt und bekräftigt.Hierzu zählen das Testmoratorium, die Safeguards-Ver-pflichtungen, die Schaffung effektiver indischer Export-kontrollen und die Verpflichtung, sich an den Richtliniender NSG und des MTCR auszurichten.Die indische Regierung hat sich ausdrücklich zumZiel des Abschlusses eines Vertrages über ein Verbot derProduktion von Spaltmaterial für Kernwaffen – für dieFachleute: FMCT – wie auch dem Ziel einer kernwaf-fenfreien Welt bekannt. Indien verpflichtet sich, die sen-siblen Nukleartechnologien, zu denen unter anderem dieAnreicherung von Uran gehört, nicht weiterzugeben.Hieran wird sich Indien in Zukunft messen lassen müs-sen. Dass dies ein für Indien weit gehender Schritt war,zeigt die starke Kritik der indischen Opposition an dieserEntscheidung.Die Ausnahmeregelung der NSG baut auf den indi-schen Verpflichtungen, die ich hier genannt habe, auf.Sollte Indien hiervon abweichen – Kollege von Klaedenhat darauf hingewiesen –, greifen die nichtverbreitungs-politischen Regeln, die wir in die Erklärung eingearbei-tet haben. Die NSG hätte dann die Möglichkeit, Sanktio-nen zu verhängen, einschließlich der Suspendierung desNuklearhandels.
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19130 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Staatsminister Dr. h. c. Gernot ErlerLiebe Kolleginnen und Kollegen, die Erklärung derNSG war ein Kompromiss, einer zwischen 45 Mitglied-staaten,
einer, bei dem wir wichtigen Nichtverbreitungselemen-ten Raum schaffen konnten.Was jetzt passiert, ist ein Zwischenschritt. Unser Zielbleibt – an ihm werden wir weiter arbeiten – IndiensBeitritt zum Nichtverbreitungsvertrag – die Problemesind hier genannt worden – sowie zum internationalenTeststoppabkommen und ein Produktionsmoratorium fürSpaltmaterial für militärische Zwecke.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Winfried Nachtwei,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Staatsminister, Sie haben entgegen Ihrer sonstigenArt eine Erklärung hier abgelesen. Das nehme ich zurKenntnis.
Atomwaffen sind der Extremismus der Militärtech-nik, und der Nichtverbreitungsvertrag versucht, in die-sem Bereich wenigstens nukleare Anarchie zu verhin-dern und gleichzeitig die Dinge in Richtung nuklearerAbrüstung zu bewegen.Wir wissen alle: In den letzten Jahren ist der Nicht-verbreitungsvertrag in eine erhebliche Krise gekommen.Erinnern wir uns: 1974 war der erste indische Nuklear-test. Wodurch wurde er möglich? Durch Plutonium, dasaus einem Reaktor, von Kanada geliefert, dafür abge-zweigt werden konnte. Die Schlussfolgerung daraus wardie Gründung der Nuclear Suppliers Group durch USA,Kanada, die Bundesrepublik und einige andere Länder.Und nun soll es diese Ausnahmeregelung für Indien ge-ben.Herr von Klaeden, wenn da von Misstrauen gegen-über Indien gesprochen wird, ist das in diesem Zusam-menhang die unpassende Kategorie.
Aber wir müssen zunächst feststellen, dass Indien keineverbindliche Abrüstungsverpflichtung im Nuklearbe-reich eingegangen ist,
dass kein Beitritt zum Atomteststopp erklärt wird unddass schließlich auch ein überprüfbares Moratorium fürdie Produktion von waffenfähigem Spaltmaterial nichtzugesagt wird.Was die IAEO-Kontrollen in den 14 zivilen Anlagenund in den acht anderen Anlagen angeht, die für die mili-tärische Nutzung entscheidend sind: null. Außerdemkann Indien auch von sich aus die Kontrollen der IAEObeenden. Ich verstehe, dass die IAEO sagt: Jetzt habenwir den Fuß in der Tür. Daraus die Schlussfolgerung zuziehen, das sei insgesamt eine Annäherung an den Nicht-verbreitungsvertrag, ist aber eine falsche Bewertung.Dazu haben Sie in Ihren vier Minuten Rede nichts ge-sagt. In frei gesprochenen weiteren vier Minuten würdenSie angesichts der Wirkung dazu vermutlich etwas ande-res sagen.Wie will man gegenüber dem Iran denn jetzt bitteschön noch irgendwie glaubwürdig vertreten – das istschon gesagt worden –: Ihr dürft das, was die anderenmachen, nicht; die sind halt Atommacht usw. Das be-kommen Sie nicht mehr auf die Reihe.
Israel und Pakistan haben selbst gesagt: Das wollenwir auch – Präzedenzfall. Eine Ablehnung kann mannicht plausibel machen. Na gut, Pakistan kann man sa-gen: Euch können wir nicht trauen. Aber Israel? Israeltrauen Sie doch sehr. Warum denn da nicht?
Was Pakistan angeht: Gestern hatten wir dazu eineAktuelle Stunde.
– Jetzt will ich keine Zwischenrede.
– Ich erzähle weiter. Sie können dann sehen, das ist ganzschön sinnvoll.Wir haben festgestellt, dass Pakistan ein politischesPulverfass ist, vielleicht das gefährlichste weltweit. Erin-nern wir uns daran, was 1999 war – das ist nachzulesen –,als es sieben Wochen lang einen kriegerischen Konfliktzwischen Pakistan und Indien gegeben hat: 13-mal istvon beiden Seiten der Einsatz von Atomwaffen ange-droht worden. Bitte schön! Das heißt im Klartext: Wennauf indischer Seite jetzt die Möglichkeit besteht – ichwill das nicht unterstellen –, in Sachen nuklearer Aufrüs-tung weiterzumachen, dann ist die Perzeption beim Geg-ner doch eindeutig. Dann geht die Sache auch da hoch.Das müssen Sie bitte berücksichtigen.
Die Bundesregierung trägt eine ganz erhebliche Mit-schuld an dieser Art von Entscheidung.Herr Staatsminister, Sie haben vorhin von einemKompromiss gesprochen. Sie wissen selbst, wieschlimm das gelaufen ist: Die kritischen Kleinen, dieRückgrat hatten, sind von den Spitzen der USA fertigge-
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19131
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Winfried Nachtweimacht worden, und die Bundesregierung, die gegenüberdem größten Verbündeten in solchen Angelegenheitenschon einmal Rückgrat bewiesen hat, hat das dieses Maloffensichtlich nicht getan. Es ist wirklich ein Hohn,wenn Sie in diesem Zusammenhang von einem Kompro-miss reden.Ich habe den Eindruck, dass elementare Sicherheits-und Abrüstungsinteressen anderen Interessen geopfertwurden. Davon wird natürlich gar nicht gesprochen. Esgeht aber immerhin um einen Markt von 150 MilliardenDollar. Legitimerweise sind daran natürlich alle mögli-chen Seiten interessiert. Ich glaube, das war das Ent-scheidende.
Herr Kollege Nachtwei!
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.
Ja, bitte.
Zwei dringende Bitten an die Koalition: Erstens. Re-
den Sie hier wenigstens nicht um diese Fehlentscheidung
drum herum. Uta Zapf, ich glaube, Sie können das ein
bisschen korrigieren. Zweitens. Wenigstens sollte es
jetzt keinerlei Nuklearlieferungen an Indien geben. Das
ist das Mindeste. Australien zum Beispiel macht uns das
vor.
Herr Kollege Nachtwei, ich muss Sie jetzt wirklich
unterbrechen.
Ich beende jetzt meine Rede.
Danke schön.
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem
Kollegen von Klaeden.
Herr Kollege Nachtwei, Sie haben gerade behauptet,
dass die israelische Regierung eine Sondergenehmigung
verlangt habe, die dem indisch-amerikanischen Nuklear-
deal entspricht. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dafür
einen Nachweis liefern könnten.
Zweitens. Sie haben das Verhalten Indiens mit dem
Verhalten Pakistans verglichen. Ich darf Sie darauf hin-
weisen, dass Pakistan gegen das Prinzip, an das sich In-
dien hält, nämlich keine Proliferation zu betreiben, versto-
ßen hat. Und Pakistan schließt in seiner Nukleardoktrin
den Ersteinsatz von Nuklearwaffen gerade nicht aus. Ich
wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zu diesen beiden Punkten
Stellung nehmen könnten.
Wenn ich noch einen dritten Punkt anführen darf: Die
Nuklearpolitik Indiens hat sich in den vergangenen Jah-
ren nicht verändert. Warum haben Sie eigentlich die
Aufnahme dieses Landes in den VN-Sicherheitsrat un-
terstützt? Hätte ein solches Land tatsächlich in den VN-
Sicherheitsrat gehört?
Erstens zu Israel. Es hat zumindest Pressemeldungen
gegeben, dass es solches Ansinnen von israelischer Seite
gäbe. Das gebe ich jetzt nur wieder; ich kann es nicht ve-
rifizieren. Ich sage es also mit Vorsicht.
Zweitens. Es ist völlig richtig: Wenn wir die Katego-
rien „vertrauenswürdige Staaten“ und „weniger vertrau-
enswürdige Staaten“ anwenden würden, würde Indien
als erheblich vertrauenswürdig gelten. Das ist klar. Pa-
kistan würde als viel weniger vertrauenswürdig oder
kaum oder gar nicht vertrauenswürdig gelten. Diese Ka-
tegorie ist eingeführt worden, aber sagt in diesem Zu-
sammenhang nichts aus. Es geht um den Universalismus
dieser Regel. Es wird nicht unterschieden zwischen Ver-
trauenswürdigen, für die es scheunentorgroße Ausnah-
men gibt, und den anderen, den Kritischen, bei denen es
dann anders läuft. Das ist das Problem.
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Uta
Zapf, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich gestehe, es ist für mich eine bittere Debatte. Sie istnoch zusätzlich bitter geworden, weil wir hier in einerArt diskutieren, die dem Problem, vor dem wir jetzt ste-hen, überhaupt nicht angemessen ist. Es macht keinenSinn, dieser Bundesregierung vorzuwerfen, an allemschuld zu sein, und zu behaupten, dass sie es hätte ver-hindern können. Vielmehr müssen wir, denke ich, viel-leicht in einer nachfolgenden Debatte über die Dinge re-den, die jetzt zu besorgen sind. Frau Hoff hatte einenVorschlag gemacht, den ich nur unterstützen kann.Wir haben hier schon mehrfach Debatten darüber ge-führt. Bis auf die CDU/CSU, die sich in dieser Phase ei-gentlich immer bedeckt gehalten hat, haben wir allesamt,die wir hier sind, die Forderungen an Indien aufgestellt,die hier auch als Vorausbedingungen zitiert worden sind,um einen solchen Deal überhaupt seriös abschließen zukönnen. Die Vorausbedingungen sind: CTBT-Beitritt,Stopp der Produktion von waffenfähigem Material, einanständiges Safeguards-Abkommen und ein Zusatzpro-
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19132 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Uta Zapftokoll. All diese Bedingungen sind nicht erfüllt. Sie ste-hen auch nicht in der Erklärung der Nuclear SuppliersGroup.
Das macht mir große Beschwerden; das sage ich ehrlich.
– Es war unser Außenminister dieser Koalition, und eswar Frau Merkel, die begeistert war über diesen Dealund das in Indien mehrfach geäußert hat.
Und es war Herr Glos, der begeistert ist über das Ge-schäft, das jetzt zu machen ist, und eine Hermesbürg-schaft möchte.
– Nein, diese Bemerkung ist unfair und gehört sich nicht.
– Na, in Ordnung.Dann finde es besonders unanständig, weil Steinmeierunser Kanzlerkandidat ist und weil das, was er in diesenVerhandlungen durchstehen musste und durchgestandenhat, hier ganz vorsichtig als Druck bezeichnet wordenist. Die USA sind doch in ganzen Divisionen losmar-schiert und haben die Folterwerkzeuge vorgezeigt. Daswaren nicht nur die Daumenschrauben, auch die EiserneJungfrau und das Waterboarding
wurden gegen die Staaten angewandt, die nicht bereitwaren, dem zuzustimmen.
Lassen Sie mich jetzt noch auf einen weiteren Punktkommen, der eher mit Abrüstung zu tun hat. Mir tut, ehr-lich gesagt, besonders weh, dass wir Indien nicht habendarauf verpflichten können, seine Waffenarsenale zu kap-pen und sich den Abrüstungsbedingungen der Nuklear-staaten zu unterwerfen. Mir tut auch weh, dass – übri-gens mit Zustimmung von Herrn al-Baradei, der dannseine Bedingungen offensichtlich vergessen hat, ichhabe sie nie gehört, Frau Hoff – ein Safeguards-Abkom-men geschlossen worden ist, das nicht der Interpretationentspricht, die die USA uns gegeben haben, und dasüberhaupt nicht den Kriterien des Hyde Act entspricht.Vielmehr lässt es Indien, wenn es testet und dann mögli-cherweise mit Sanktionen belegt wird, sich von diesemSafeguards-Abkommen zurückziehen.
– Ich halte sie für falsch. Das habe ich hier, an dieserStelle, aber schon öfter gesagt.
Wir können damit nicht so umgehen, wie es jetzt ge-schieht; vielmehr müssen wir den Tatsachen ins Augesehen und dann versuchen, nach vorne zu schauen.Es gibt auch in dem Safeguards-Abkommen keineRestriktionen, die einem Standardabkommen entspre-chen. Indien hat mit diesem Abkommen nach meinerAnsicht einen Freibrief bekommen. Ich denke, noch vielschlimmer ist Folgendes: Selbst wenn die Amerikanerjetzt auf ihren Hyde Act rekurrieren, können jetzt alleanderen Lieferstaaten liefern.
Gerade heute, am 25. September, sitzen die Franzosenin Neu-Delhi und arbeiten an diesem Abkommen. Dasheißt, auch die im Antrag enthaltene Forderung, etwasauf dem europäischen Wege zustande zu bringen, ist illu-sorisch. Insofern ist das, was uns in der Tat als Optionbleibt, darauf zu bestehen, dass das, was der Außenmi-nister Indiens angekündigt hat, eine Verpflichtung wird,dass Indien sich also daran hält. Wir sollten eine großeAbrüstungsoffensive mit initiieren. Es ist nicht so, dassdas nicht in der Luft liegt. Im Moment gibt es eine ganzeMenge Initiativen, die vor allen Dingen von NGOs ge-tragen werden. Sie finden ihren Durchschlag in einemneuen Bewusstsein. Ich hoffe auf die amerikanische Re-gierung und darauf, dass der nächste Präsident weiser ist.Ich wünsche mir natürlich, dass die Aussagen vonObama umgesetzt werden können. Er hat sich verpflich-tet, CTBT zu unterschreiben. Das würde die Abrüstunginternational schon einmal ein Stück voranbringen.
Obama hat sich auch zu internationalen multilateralenAbrüstungen bekannt.
Ich denke, diese Perspektive zeigt uns eine Aufgabeauf –
Frau Kollegin Zapf!
– ich bin fertig –, die wir mit Indien, mit den USA
und mit unseren europäischen Nachbarn zu erfüllen ha-
ben.
Ich schließe die Aussprache.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19133
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne KastnerInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage aufDrucksache 16/10355 zur federführenden Beratung anden Auswärtigen Ausschuss und zur Mitberatung an denAusschuss für Wirtschaft und Technologie sowie an denAusschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnion zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vor-schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überwei-sung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBundesbericht zur Förderung des Wissen-schaftlichen Nachwuchses– Drucksache 16/8491 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
SportausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendb) Beratung des Antrags der Abgeordneten KaiGehring, Priska Hinz , Krista Sager,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENWissenschaft als Beruf attraktiver machen –Den wissenschaftlichen Nachwuchs besser un-terstützen– Drucksóache 16/9104 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für. Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sichum folgende Kolleginnen und Kollegen: Marion Seib,CDU/CSU, Dieter Grasedieck, SPD, Uwe Barth, FDP,Dr. Petra Sitte, Die Linke, Kai Gehring, Bündnis 90/Die Grünen, und den Parlamentarischen StaatssekretärAndreas Storm.1)Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 16/8491 und 16/9104 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten KatjaKipping, Katrin Kunert, Klaus Ernst, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKESozialticket für die Deutsche Bahn AG– Drucksache 16/10264 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Arbeit und Soziales
1) Anlage 10Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol-gende Kolleginnen und Kollegen: Klaus Hofbauer,CDU/CSU, Uwe Beckmeyer, SPD, Patrick Döring, FDP,Katja Kipping, Die Linke, Winfried Hermann, Bünd-nis 90/Die Grünen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion spricht sich klar
für Mobilität aus.
Wir haben hierzu bereits viel auf den Weg gebracht,
auch zugunsten von bedürftigen Menschen, und wir ar-
beiten ständig an Verbesserungen für Mobilität sowohl in
den Ballungszentren als auch im ländlichen Raum. Inso-
fern teile ich auch die Feststellung der Fraktion Die
Linke, dass Mobilität ein elementares Merkmal unserer
heutigen Gesellschaft ist. Aber! Ein derart pauschaler
und undifferenzierter Antrag, wie ihn Die Linke zum So-
zialticket für die Deutsche Bahn AG stellt, hat mit über-
legter, nachhaltiger und verantwortungsvoller Politik
nichts gemein. Verantwortungsvolle Politik setzt voraus,
dass man überlegt, was kann und will der Staat leisten
und was kann der Einzelne selbst tun. Wir müssen dieje-
nigen Menschen unterstützen, die tatsächlich auf Hilfe
angewiesen sind. Und das tun wir auch!
Behinderte Menschen, die zweifellos auf Hilfe ange-
wiesen sind, werden in Deutschland selbstverständlich
unterstützt. Sie sind wirklich bedürftig und vielfach nicht
in der Lage, Kosten für Mobilität selbst zu übernehmen.
Sie können daher bereits heute kostenlos den öffentlichen
Personenverkehr nutzen.
Fahrtkosten zu Bewerbungsgesprächen werden weit-
gehend erstattet, denn unser vorderstes Ziel ist es, Men-
schen in Arbeit zu bringen. Das ist Hilfe zur Selbsthilfe.
Die Menschen werden damit in die Lage versetzt, selbst
für sich zu sorgen, benötigen dann in den meisten Fällen
keine Hilfe mehr und können sich damit ein Bahnticket
ohne Unterstützung leisten.
Diejenigen Menschen, denen trotz Arbeit das Geld
fehlt, um mobil zu sein – Menschen im Niedriglohnbe-
reich etwa, die auf ergänzende Hilfeleistungen nach
SGB II angewiesen sind –, werden auch nicht vergessen.
Die für ihre Mobilität notwendigen Kosten, zum Beispiel
für eine Monatskarte, finden bei Berechnung der ergän-
zenden Hilfeleistung Berücksichtigung.
Wie wenig durchdacht und undifferenziert die Forde-
rungen der Linken in ihrem Antrag zum Sozialticket sind,
zeigt sich zudem daran, dass sie es pauschal für alle Emp-
fänger von Leistungen nach SGB II, SGB XII sowie nach
dem Asylbewerberleistungsgesetz fordert. Die Anzahl des
mit diesem Vorschlag ins Auge gefassten Personenkreises
liegt etwa bei 7 bis 8 Millionen Menschen.
In Kombination mit der gleichzeitig vorgeschlagenen
Erhöhung des Eckregelsatzes von derzeit 351 Euro auf
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Klaus Hofbauer
435 Euro kann ich dieser Partei nur attestieren, dass ihr
jeder Sinn für die Realität abhanden gekommen ist – so-
weit er überhaupt jemals vorhanden war. Eine Erhöhung
um fast 100 Euro ist nicht nur unfinanzierbar, sondern
hätte zur Folge, dass sich der Abstand zum Niedriglohn-
sektor minimiert und damit weit mehr Menschen in den
Kreis der ergänzenden Hilfeleistungen aufrücken würden
als heute. Vor dem Hintergrund der bereits erwähnten
Mobilitätsunterstützung, die diese Menschen schon heute
erhalten, käme es zu einer Doppelförderung – Berück-
sichtigung von Mobilitätskosten bei ergänzender Hilfe-
leistung plus das Sozialticket. Außerdem würde die Zahl
der Anspruchsberechtigten für das Sozialticket dann auf
etwa 14 Millionen Menschen steigen. Das hat nicht ein-
mal mehr im Ansatz etwas mit Realität zu tun!
Die Kette der Punkte, die darlegen, wie wenig durch-
dacht der Antrag der Linken ist, lässt sich beliebig fort-
führen. So wird vorgeschlagen, dass der Bund über seine
Vertretung in den Aufsichtsgremien der Deutschen Bahn
auf deren Preisgestaltung einwirkt, damit diese die Bahn-
card 25 statt für 55 Euro für lediglich 5 Euro abgibt. Mir
war nicht klar, dass der Linken niemand gesagt hat, dass
die Bahn ein als Aktiengesellschaft organisiertes und ei-
genständig wirtschaftlich operierendes Unternehmen ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, das ist
schon seit 1994 so! Der Bund kann auf die operative Ge-
schäftsführung der Bahn schlichtweg keinen Einfluss
nehmen, auch nicht im Aufsichtsrat.
Überlegt hat sich Die Linke offenbar auch nicht, wel-
che Konsequenz aus der Abgabe der Bahncard 25 zum
Preis von 5 Euro folgt – für den Fall, dass die Bahn diesen
Schritt geht. Wie bereits erwähnt beträgt die Anzahl der
Anspruchsberechtigten nach Vorstellung der Linken etwa
14 Millionen. Bei einem regulären Preis von 55 Euro pro
Bahncard müsste die Bahn also bereit sein, 14 Millionen
Menschen einen Preisnachlass von 50 Euro zu gewähren.
Da die Bahn ein wirtschaftlich denkendes Unternehmen
ist, wäre die sichere Folge eines solchen Entgegenkom-
mens eine Fahrpreiserhöhung der ohnehin schon teuren
Fahrscheine für alle anderen Bahnkunden.
Vor zwei Wochen haben wir uns zu Recht bei der Bahn
dafür stark gemacht, dass der Bedienzuschlag nicht erho-
ben wird. Die Linke hatte dies ebenfalls gefordert. Und
heute macht sie Vorschläge, die die Bahn dazu zwingt,
ihre Fahrpreise zu erhöhen. Diese Logik erschließt sich
mir schlichtweg nicht. Ich möchte mich nochmals aus-
drücklich zu der Notwendigkeit von Mobilität bekennen.
Sie gehört zu den vordringlichsten Aufgaben der Großen
Koalition.
Der Antrag der Fraktion Die Linke ist jedoch undiffe-
renziert, nicht durchdacht und damit ungeeignet, nach-
haltig für mehr Mobilität in Deutschland zu sorgen. Mit
diesem Antrag offenbart Die Linke einmal mehr, wie we-
nig sie in der Lage ist, Regierungsverantwortung zu über-
nehmen, und wie sehr ihre Vorschläge von reinem Popu-
lismus geprägt sind.
Wir wissen um die Debatten zur Einführung von So-zialtickets für den öffentlichen Personennahverkehr inZu Protokollverschiedenen Städte Deutschlands. Diese sind nichtohne Probleme und haben zu völlig gegensätzlichen Ent-scheidungen geführt.Unabhängig davon haben wir hier heute uns zu demvorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke zu verhalten.Für die SPD-Bundestagsfraktion möchte ich grund-sätzlich feststellen, dass der Erhalt von Transferleistun-gen über private Unternehmen in Form von verbilligtenProdukten oder Leistungen generell intransparent ist unddamit zu großen Ungerechtigkeiten führen kann. Bezahltwerden muss dies ohnehin durch den Steuerzahler, weilder Staat bzw. die öffentlichen Hände Zuschüsse an dieentsprechenden Unternehmen zu leisten haben.Wenn man den vorliegenden Antrag in seinem substan-ziellen Kern bewertet, muss man feststellen: Der Antragist höchst problematisch, weil unsolidarisch und unge-recht.Was ist zum Beispiel mit einer alleinerziehenden Mut-ter von zwei Kindern, die halbtags arbeitet und damitzwar mehr als den Hartz-IV-Satz verdient, aber mit ihremEinkommen gerade über die Runden kommt. Was ist mitdem Rentner, der 40 Jahre lang am Band gearbeitet hat,aber heute nur eine bescheidende Rente bekommt? Aucher wird nicht in den Genuss eines „Sozialtarifs“ kommen.Die von Ihnen vorgenommene Beschränkung der An-spruchsberechtung grenzt viele Menschen aus. Jemand,der nur über ein geringes Einkommen verfügt, das geradeeben über dem Hartz IV-Satz liegt, wird nicht in den Ge-nuss eines so genannten Sozialtickets kommen. FindenSie das fair?Zugleich suggerieren die Antragsteller, dass die Deut-sche Bahn AG eine Art VEB-Bahn sei, die willkürlich ihrePreise senken kann. Tatsächlich würden für die Einfüh-rung eines „Sozialtickets“ jedoch die Steuerzahler zah-len: Der Rentner mit seinem geringen Einkommen, derzweimal im Monat seine Enkel besuchen will, jedoch kein„Sozialticket“ bekommt, müsste höhere Steuern zahlenoder höhere Preise oder aber beides. Wo bleibt da die So-lidarität?Mit der Forderung der Fraktion Die Linke werdenwillkürlich Grenzen gezogen, die fragwürdig sind. Dasbestätigt nur eines: Wenn die Fraktion Die Linke Gerech-tigkeit erzwingen will, führt dies zu Ungerechtigkeit.Wenn Die Linke Solidarität erzwingen will, führt dies zurEntsolidarisierung.Sie, meine Damen und Herren von der Fraktion DieLinke, sind auf dem völlig falschen Dampfer. Ziel muss esdoch sein, möglichst viele Menschen in Arbeit zu bringenund nicht, sie vom Sozialstaat abhängig zu machen. Zielmuss es doch sein, als Arbeitnehmer ein Mindesteinkom-men für gute Arbeit zu erzielen, ein Einkommen, mit demdieser sich und seine Familie ernähren kann, anstatt mitungerechten Sozialtarifen die Welt verbessern zu wollen.Ihre Konzepte, meine Damen und Herren von der Frak-tion Die Linke, sind reines Flickwerk.Niemals gab es in Deutschland so viele Beschäftigtewie heute: Über 40 Millionen Erwerbstätige und rund27,2 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftige
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19134 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
gegebene Reden
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Uwe Beckmeyersprechen einen eindeutige Sprache. Sie sind das Ergebnisunserer Politik.Mit einer Arbeitslosenquote von 7,8 Prozent haben wirim Mai 2008 erstmals seit November 1992 wieder die8-Prozent-Marke unterschritten. Die Arbeitslosenquoteist im August sogar auf 7,6 gefallen. Allein im vergange-nen Jahr haben mehr als eine halbe Million Menscheneine reguläre Beschäftigung gefunden.Guter Lohn für gute Arbeit – das muss unser Ziel sein.Denn nur gute Arbeit macht den Einzelnen zufrieden undschafft sozialen Zusammenhalt und Wohlstand für alle.
Idealismus wächst mit dem Abstand zum Problem. Das
erleben wir wieder einmal im Zusammenhang mit dem
Antrag der Linken, den wir heute beraten. Damit fordert
sie, eine Bahncard 25 zu einem Normalpreis von 55 Euro
für die Empfänger sogenannter Hartz- IV-Leistungen für
5 Euro anzubieten. Um es auf den Punkt zu bringen; Das
ist sozialpolitischer Populismus und verkehrswirtschaft-
licher Unsinn in einem. Mit dem vorliegenden Antrag soll
die DB AG verpflichtet werden, Leistungsempfängern so-
zusagen 50 Euro im Jahr zu schenken. Warum aber soll
ein privates Unternehmen das tun? Ein privates Unter-
nehmen – das erkläre ich meinen Kollegen von der Linken
immer wieder gerne – möchte Leistungen anbieten und
damit Geld verdienen. Das soll so sein, das ist Marktwirt-
schaft. An den Konsequenzen der Wirtschaftsvorstellun-
gen der Linken haben wir bis heute zu arbeiten und stehen
in diesem Zusammenhang immer noch, vor großen He-
rausforderungen.
Ebenso wenig wie wir Bäckereien, Getränkehändler,
Drogerien und Tankstellen zu Geschenken an bestimmte
Personengruppen verpflichten, werden wir das bei der
Deutschen Bahn tun. Denn auch wenn Sie’s vielleicht
nicht wahrhaben wollen, die Deutsche Bahn wird nach
und nach ein privates Unternehmen werden. Und das ist
richtig – oder wollen Sie die Organisationsprivatisierung
rückgängig machen und zurück zur Behördenbahn?
Die Probleme auf diesem Sektor, den Sie von der Lin-
ken weiter staatlich regulieren wollen, liegen an ganz an-
derer Stelle: Die Bahntickets sind insgesamt zu teuer und
der Service ist nicht gut genug. Da können Sie meinen,
das alles sei mit Überregulierung und Staatseinfluss zu
lösen. Doch ein Blick in die Geschichte der Bahn zeigt,
dass die Zeit der Deutschen Bundesbahn die schlechteste
und ineffizienteste der gesamten Bahngeschichte war.
Nicht umsonst waren die ersten Eisenbahnunternehmen
im 19. Jahrhundert keine Staatsbahnen, sondern Unter-
nehmen. Dahin müssen wir zurück: Mehr Service und at-
traktivere Preise erreichen Sie nie, indem Sie sogenannte
Sozialtickets für eine Staatsbahn verteilen. Was wir brau-
chen, ist Wettbewerb auf der Schiene. Damit ist allen Bür-
gerinnen und Bürgern viel mehr geholfen als mit einer re-
duzierten Bahncard 25 für Empfänger von Hartz-IV-
Leistungen.
Abgesehen davon stellt sich die Frage der Erforder-
lichkeit: Bereits heute gibt es verschiedene günstige Rei-
semöglichkeiten, wenn man danach sucht. Das sind bei
Zu Protokoll
der Deutschen Bahn die Sparpreise 25 und 50 und die
Dauerspecials. Aber auch die durch Mitfahrzentralen
vermittelten Fahrgelegenheiten machen Reisen innerhalb
Deutschlands günstiger. Was zunächst so nett klingt, ent-
puppt sich dann schnell als Forderung nach staatlichen
Lenkungsmaßnahmen im Leben der Leistungsempfänge-
rinnen und -empfänger. Denn wer allein Bahnfahren sub-
ventionieren will, Radfahren, Autofahren oder andere
Fortbewegungsmöglichkeiten aber links liegen lässt, der
will im Rahmen der Transferleistungen das Verhalten der
Menschen bestimmen. Wir Liberale dagegen wollen die
Mindestbedingungen eines eigenverantwortlichen Le-
bens absichern, nicht weniger, aber – das sei an dieser
Stelle auch deutlich gesagt – nicht mehr. Denn der Vor-
rang eines selbst verdienten Lebensunterhalts verbietet,
eine staatliche Rundumversorgung für die Menschen zu
schaffen, deren Unterhalt von den Arbeitenden miterwirt-
schaftet wird. Wer arbeitet, muss mehr haben als derje-
nige, der nicht arbeitet.
Wenn wir schon über die Menschen sprechen, die am
Erwerbsleben teilnehmen, aber nur über ein kleines Ein-
kommen verfügen oder über eine kleine Rente, obwohl sie
lange gearbeitet haben, dann muss ich Folgendes fest-
stellen: Die Linke will mit diesem Antrag Transferleis-
tungsempfänger besser stellen als Menschen mit einem
geringen Einkommen. Und das ist für mich weder sozial-
noch gesellschaftspolitisch zu verantworten.
Daher stehen die Liberalen nach wie vor für eine an-
dere Sozialpolitik: Wer die wirtschaftlichen Rahmenbe-
dingungen so gestaltet, dass mehr Menschen Arbeit ha-
ben, der tut viel mehr für die ganze Bevölkerung als
derjenige, der auf Kosten anderer immer wieder Ge-
schenke an bestimmte Gruppen verteilt.
Dieser Antrag ist ein erneuter Beweis dafür, dass Marx
und Murks nicht nur phonetisch, sondern auch inhaltlich
nah beieinander sind.
Dass Menschen ihre Verwandten und Freunde besu-chen oder Urlaub machen und zu ihnen mit den öffentli-chen Verkehrsmittel reisen können, ist das Normalste derWelt. Nicht aber für Menschen, die vom Armuts- und Aus-grenzungsgesetz Hartz IV und analogen Grundsiche-rungsgesetzen betroffen sind.Der Eckregelsatz der Grundsicherungen enthält nur11,04 Euro pro Monat für Mobilität mit öffentlichen Ver-kehrsmitteln sowie 2,99 Euro für Reisen. Ein Einzelfahr-schein im innerstädtischen öffentlichen Nahverkehr liegtje nach Region bereits zwischen 1,20 und 2,20 Euro. DiePreise für Monatskarten oder für den Fernverkehr über-steigen diesen Betrag um ein Vielfaches. Deshalb undweil es immer mehr bedürftige Menschen gibt, bilden sichin immer mehr Städten und Kommunen Bündnisse, die fürdie Einführung von ermäßigten oder kostenfreien Sozial-tickets für den lokalen oder regionalen öffentlichen Nah-verkehr eintreten. Diese konnten in einigen Städten undRegionen bereits ein Sozialticket durchsetzen, so etwa inBerlin, in Dortmund oder in Köln. In vielen Orten stehensoziale Bündnisse in Verhandlungen mit der örtlichenVerwaltung und Verkehrsunternehmen oder arbeiten an
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19135
gegebene Reden
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19136 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Katja KippingVolksbegehren zur Durchsetzung eines Sozialtickets.Diese Bemühungen sind zu unterstützen.Ihnen stehen auf der Ebene des überregionalen öffent-lichen Fernverkehrs keine vergleichbaren Möglichkeitenoder Initiativen gegenüber, obwohl dies angesichts derKosten für Fahrten mit der Deutschen Bahn AG dringendnotwendig wäre. Die Einführung eines Sozialtickets fürdie Deutsche Bahn AG würde dieses Defizit beseitigen.Das Sozialticket für die Deutsche Bahn AG soll einerBahncard 25 entsprechen, die Anspruchsberechtigte zumPreis von 5 Euro erhalten. Anspruchsberechtigt sind Leis-tungsbeziehende nach dem SGB II, dem SGB XII und demAsylbewerberleistungsgesetz sowie deren Angehörige.Aus Gründen der Praktikabilität kann ein solches Sozial-ticket ganz einfach in das bestehende Preis- und Ermäßi-gungssystem der Deutschen Bahn AG eingepasst werden:Menschen, die über ihren Transferleistungsbescheid bzw.den ihrer Bedarfsgemeinschaft ihre Berechtigung für einSozialticket für den Bahnfernverkehr nachweisen können,erhalten an den DB-Verkaufsstellen eine Bahncard 25zum Preis von 5 Euro. Diese ermöglicht in Kombinationmit den sogenannten Sparpreisen eine Ermäßigung vonbis zu 62,5 Prozent. Mit einer Bahncard 50 wären hinge-gen nur maximal 50 Prozent Ermäßigung möglich. Damitwird dem Interesse des Unternehmens an einfacherHandhabbarkeit ebenso Rechnung getragen wie dem In-teresse von Hilfebedürftigen an möglichst hohen Ermäßi-gungen und an einem unbürokratischen, nicht stigmati-sierenden Verfahren. Und damit wird zumindest einkleiner Schritt unternommen, um Menschen eine Mini-malteilhabe an der Gesellschaft zu gewähren sowiegrundlegende Bedürfnisse nach familialen und sozialenKontakten zu befriedigen. Ein kleiner Schritt, der unsaber nicht der Notwendigkeit einer sofortigen Anhebungder Regelsätze auf 435 Euro und der weiteren Einführungeiner repressionsfreien sozialen Grundsicherung enthebt.
Der vorliegende Antrag der Linken enthält im Titel ein
semantisches Missverständnis. Offensichtlich geht es
nicht darum, der Bahn ein Sozialticket auszustellen, son-
dern um Sozialtickets für Bezieher von ALG II bei der
Deutschen Bahn.
Zunächst stelle ich fest, dass die im Regelsatz für Mo-
bilität vorgesehenen Anteile viel zu niedrig sind. Für
2,99 Euro im Monat kann man nicht verreisen, egal mit
welchem Verkehrsmittel. Es ist daher unser vordringli-
ches Ziel, den Regelsatz für Bezieher von ALG II auf
420 Euro anzuheben. Das muss vorrangiges Ziel vor der
Schaffung einzelner Vergünstigungen sein.
Der Vorschlag, dass die Deutsche Bahn AG eine auf
5 Euro rabattierte Bahncard 25 für die Bezieher von
ALG-II-Leistungen anbieten soll, ist aus unserer Sicht
dennoch prüfenswert. Da die Bahncard 25 mit dem
Sparpreis 25 und dem Sparpreis 50 kombiniert werden
kann, kann bei rechtzeitiger Buchung und Zugbindung
ein Rabatt von 62,5 Prozent auf den Normalpreis erzielt
werden. Fahren mehrere Personen mit einer Bahncard 25
zusammen, sinkt der Einzelpreis durch den Mitfahrer-
rabatt noch weiter. Auf vielen Strecken werden damit so-
gar vermeintliche Preisbrecher wie das 29-Euro-Ticket
der Deutschen Bahn unterboten.
Allerdings wird die Deutsche Bahn AG für die Einfüh-
rung eines Sozialtickets einen finanziellen Ausgleich ver-
langen, wie es bei Sozialtickets im Nahverkehr gesetzlich
auch geregelt ist. Geht man beispielsweise davon aus,
dass eine Million Menschen von diesem Angebot Ge-
brauch macht und die Differenz zwischen 58 Euro Nor-
malpreis und 5 Euro Sozialticketpreis erstattet werden
muss, ergibt sich eine jährliche Summe von 53 Millionen
Euro.
Angesichts der Tatsache, dass die Deutsche Bahn AG
aus dem Bundeshaushalt mittel- oder unmittelbar jähr-
lich rund 9 Milliarden Euro erhält, dürfte diese Summe
durch Umschichtungen aus diesen Mitteln gegenfinan-
zierbar sein. Man muss aber auch klar sagen, dass eine
solche Maßnahme Geld kostet, die dann an anderer Stelle
fehlt.
Es ist zudem falsch, sich nur auf das eine Unternehmen
Deutsche Bahn AG zu fixieren. Es gibt bereits heute an-
dere Fernverkehrsanbieter auf der Schiene, und es gibt
andere Möglichkeiten, in Deutschland zu reisen.
Hier beginnen auch die Probleme mit dem Vorschlag
der Linken: Sollen Fernlinienbusse auch verpflichtet
werden, Sozialtickets anzubieten? Was ist mit den ande-
ren Bahnen, die im Fernverkehr fahren. Sollen diese
ebenfalls verpflichtet werden, Sozialtickets einzuführen?
Was ist mit den Mitfahrzentralen?
Eine gesetzliche Regelung für Sozialtickets müsste alle
Fernverkehrsanbieter umfassen. Alternativ könnte der
Eigentümer, vertreten durch den Verkehrsminister, die
Deutsche Bahn AG auffordern, ein Sozialticket einzufüh-
ren. Schließlich hat die Politik ja auch massiv Einfluss
darauf genommen, dass der Bedienzuschlag von der
Deutschen Bahn AG zurückgenommen wurde.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/10264 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung istjedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU, der SPD,der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen wünschenFederführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau undStadtentwicklung. Die Fraktion Die Linke wünscht Fe-derführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales.Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derFraktion Die Linke, Federführung beim Ausschuss fürArbeit und Soziales, abstimmen. Wer stimmt für diesenÜberweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit derMehrheit der Stimmen des Hauses abgelehnt.Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und desBündnisses 90/Die Grünen, Federführung beim Aus-schuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, abstim-men. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Überwei-
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19137
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastnersungsvorschlag ist bei Gegenstimmen der Fraktion DieLinke mit der Mehrheit des Hauses angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungNationales Reformprogramm Deutschland2008 bis 2010Umsetzungs- und Fortschrittsbericht 2008– Drucksache 16/10250 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
FinanzausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sichum folgende Kolleginnen und Kollegen: Doris Barnett,SPD, Rainer Brüderle, FDP, Dr. Herbert Schui, DieLinke, Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen, unddie Parlamentarischen Staatssekretärin Dagmar Wöhrl.1)Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/10250 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten BrittaHaßelmann, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDiskriminierende Altersgrenzen im Bereichdes bürgerschaftlichen Engagements aufheben– Drucksache 16/9630 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
RechtsausschussInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sichum folgende Kolleginnen und Kollegen: Markus Grübel,CDU/CSU, Angelika Graf und Sönke Rix,SPD, Sibylle Laurischk, FDP, Elke Reinke, Die Linke,und Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen.2)Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/9630 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-1) Anlage 112) Anlage 12verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zurÄnderung des Energieeinsparungsgesetzes– Drucksachen 16/10290, 16/10331 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sichum folgende Kolleginnen und Kollegen: Volkmar UweVogel, CDU/CSU, Rainer Fornahl, SPD, JoachimGünther , FDP, Hans-Kurt Hill, Die Linke, PeterHettlich, Bündnis 90/Die Grünen und die Parlamentari-sche Staatssekretärin Karin Roth.3)Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-fes auf den Drucksachen 16/10290 und 16/10331 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Dasist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-sen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf:a) Erste Beratung des von den AbgeordnetenGudrun Kopp, Martin Zeil, Rainer Brüderle, wei-teren Abgeordneten und der Fraktion der FDPeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-kung wettbewerblicher Strukturen im Marktfür Postdienstleistungen
– Drucksache 16/8906 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Arbeit und Sozialesb) Beratung des Antrags der Abgeordneten GudrunKopp, Rainer Brüderle, Martin Zeil, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der FDPWettbewerbsintensität im Binnenmarkt fürPostdienstleistungen erhöhen– Drucksache 16/8773 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol-gende Kolleginnen und Kollegen: Alexander Dobrindt,CDU/CSU, Klaus Barthel, SPD, Gudrun Kopp, FDP,Sabine Zimmermann, Die Linke, und Kerstin Andreae,Bündnis 90/Die Grünen.3) Anlage 13
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Vor uns liegt ein wahres Sammelsurium von unter-schiedlichsten Gesetzesänderungen, die sich auf denPostbereich beziehen. Die FDP denkt, damit den Märktenfür Postdienstleistungen neue Impulse zu geben. Die FDPfordert mehr Wettbewerb. Das wollen wir auch. Abermehr Wettbewerb führt nicht immer automatisch zu mehrBeschäftigung, wie wir es begrüßen würden.Darüber hinaus will die FDP eine steuerliche Gleich-behandlung aller Anbieter im lizenzierten Bereich durcheine Einführung der Umsatzsteuerpflicht für die Deut-sche Post AG. Die steuerliche Gleichbehandlung findetmeine Zustimmung, nur die Art der Umsetzung ist sicher-lich streitbar. Hier ist die Bundesregierung auch schonaktiv geworden. Erst gestern hat das Bundeskabinett ei-nen Entschluss zur Mehrwertsteuerfrage bei Postdienst-leistungen gefasst. Die Deutsche Post AG wird damit ihrSteuerprivileg im Geschäft mit Großkunden verlieren.Das ist ein weiterer richtiger Schritt für faire Wettbe-werbsbedingungen im Postmarkt. Für vollkommen rich-tig halte ich, Postsendungen im privaten Bereich weiter-hin von der Mehrwertsteuer zu befreien. Somit habenPrivatleute keine Preiserhöhungen aufgrund der Libera-lisierung zu fürchten.Ein Punkt des gestrigen Beschlusses ist genauso wich-tig: Wettbewerber erhalten zukünftig auch die Steuerbe-freiung, wenn sie ebenfalls in ganz Deutschland flächen-deckend Briefe zustellen und Briefe annehmen. Insgesamthalte ich dies für einen guten Weg bei der Frage derMehrwertsteuergleichbehandlung. Auch die alternativenPostdienstleister begrüßen insoweit diesen Vorschlag.Der Universaldienst wird sich für die Menschen nichtverteuern und die Wettbewerbsbedingungen werden sichweiter verbessern.Beim Lesen Ihrer zahlreichen Gesetzesänderungen fürden deutschen Markt der Postdienstleistungen ist mir einsklar ins Auge gesprungen: Dies alles sind Vorschläge,welche die Entwicklung des Postmarktes in Deutschlandnicht im Geringsten berücksichtigen. Mit der Post-reform I aus dem Jahre 1989 und der Postreform II anno1994 haben wir die Weichen für die Umwandlung derDeutschen Bundespost und damit für die Privatisierungeines ehemaligen Staatsmonopolisten gestellt. Das Leit-motiv der Postreformen war: Wettbewerb als die Regel,staatliches Monopol als die zu begründende Ausnahme.Im Jahre 2000 folgte dann der Börsengang der Deut-schen Post AG.Doch den größten Umbruch haben wir zum Anfangdieses Jahres geschafft: mit der vollständigen Liberali-sierung des deutschen Postmarktes und dem komplettenWegfall des Monopols, also der gesetzlichen Exklusivli-zenz der DPAG. Das Datum 1. Januar 2008 ist der Mei-lenstein für mehr Wettbewerb im Postmarkt. Nichtsdesto-trotz liegt dieser Meilenstein gerade einmal neun Monatezurück. Jetzt muss sich dieser neu und vollständig geöff-nete Markt erst einmal etablieren und festigen.Bei allem gilt, wenigstens drei wesentliche Punkte zubedenken:Erstens. Der Entwicklung von einem ehemaligenstaatlichen Monopolbereich zu einem vollständig privati-Zu Protokollsierten Markt müssen wir bei unserer Postpolitik Rech-nung tragen. Dies bedeutet beispielsweise: Es gibt immernoch circa 27 000 Briefträger im Beamtenstatus bei derDeutschen Post AG. Der letzte Postbeamte wird voraus-sichtlich im Jahr 2040 in Pension gehen. Bis dahin wirddie DPAG die Verbindlichkeiten, die aus dem Beamten-status resultieren, schultern müssen.Zweitens. Wir müssen bei unserer Postpolitik beden-ken: Deutschland ist in Europa einer der Vorreiter bei derÖffnung seines Postmarktes für in- und ausländischeWettbewerber. Viele andere EU-Staaten werden erst ei-nige Jahre später ihre Märkte für den freien Wettbewerböffnen. Ein freier Postmarkt kann aus meiner Sicht nurdann besser sein, wenn es ein europäisch funktionieren-der Markt ist. Wir erleben auch Märkte, bei denen wirgroße Hoffnungen hatten und wo inzwischen Bedenkeneingetreten sind. Ich erinnere an den Strommarkt.Drittens. Schließlich müssen wir auch in Zeiten der Di-gitalisierung – in Zeiten der elektronischen Post – dieEntwicklungen auf dem Postmarkt bedenken und berück-sichtigen. Die Zahl der Paketsendungen steigt bisherjährlich. Hier haben sich auch schon viele Wettbewerberder Deutschen Post AG erfolgreich am Markt etabliertund behauptet. Das ist eine ausdrücklich positive Ent-wicklung. Dagegen bleibt die Zahl der Briefsendungenseit vielen Jahren konstant. Hier ist kein Wachstum zuverzeichnen. Dieser Teilmarkt stagniert.Wollen wir den Übergang von einem ehemals staatli-chen Monopol zu einem freien Wettbewerb positiv beglei-ten, so müssen wir die richtigen Rahmenbedingungen set-zen. Es geht dabei um die Rahmenbedingungen für dieKunden, die Rahmenbedingungen für die betroffenen Un-ternehmen und um die Rahmenbedingungen für die be-troffenen Arbeitnehmer. Wir dürfen nicht vergessen: Indiesem Bereich der Postdienstleistungen sind in Deutsch-land mehr als 200 000 Menschen beschäftigt. Deswegendürfen wir nicht nur von Märkten und mehr Wettbewerbreden; wir sollten vor allem auch über die Menschen undderen berufliche Perspektiven nachdenken. Wir müssendie flächendeckende Versorgung der Menschen mit einfa-chen Postdienstleistungen gewähren und sicherstellen.Dabei sind günstige Preise wichtig, genauso die Nähezum Kunden und eine gute Qualität der Dienstleistung.Besonders die flächendeckende Versorgung mit Brief-dienstleistungen im ländlichen Raum muss an dieserStelle ein besonderes Gewicht haben. Ich befürchte, beieinem Wettbewerb, wie die FDP ihn beschreibt, bleibendie Bedürfnisse dieser Menschen in den ländlichen Re-gionen auf der Strecke. Es reicht mir nicht, zu wissen,dass theoretisch eine Postfiliale in allen RegionenDeutschlands möglich ist. Unsere Aufgabe muss es sein,sicherzustellen, dass die Menschen überall ihre Briefeund Pakete – ohne Tageswanderung – an jedem Werktagverschicken und erhalten können.Den Übergang von einem ehemals staatlichen Mono-pol zu einem freien Wettbewerb positiv begleiten, bedeu-tet für mich daher, einen geregelten Übergang zu schaf-fen, und zwar unter Berücksichtigung der Interessen derKunden und der Beschäftigten der bisherigen Monopol-branche und ebenso unter Berücksichtigung der berech-
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19138 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Alexander Dobrindttigten Interessen der neuen Marktteilnehmer. Ganzgewiss werden wir daher die Post-Universaldienstleis-tungsverordnung an die neuen Marktbedingungen anpas-sen müssen, um für alle Marktteilnehmer die Chance zumErbringen des Universaldienstes zu stärken. Und sicherwerden wir zügig auch eine Lösung in der Frage der glei-chen Umsatzsteuerbehandlung aller Postdienstleistungs-unternehmen angehen. Wichtig ist: Wir arbeiten daranund sind dabei auf einem guten Weg. Und ja, wir wollenden Wettbewerb im Postmarkt; aber wir setzen uns für ei-nen Wettbewerb innerhalb der sozialen Marktwirtschaftein.
Wir sind der FDP sehr dankbar, dass sie in Form dervorgelegten Anträge immer wieder daran erinnert, wel-che verbraucherfeindliche und arbeitsplatzvernichtendePolitik sie auch im Postbereich verkörpert. Dabei geht esgebetsmühlenartig immer wieder um drei Bereiche: dieMehrwertsteuer, den Mindestlohn und den Universal-dienst. Mit der Mehrwertsteuer will sie alle belasten, denMindestlohn will sie wieder abschaffen und den Univer-saldienst will sie zerstören.Zunächst zur Mehrwertsteuer: Wie allgemein bekanntist, wird der Europäische Gerichtshof – voraussichtlichnoch in diesem Jahr – sein Urteil zum Vertragsverlet-zungsverfahren der Europäischen Kommission fällen,das sich auch gegen Deutschland richtet. Dabei geht esum die Frage, inwieweit die im europäischen Recht aus-drücklich vorgesehene Mehrwertsteuerbefreiung für öf-fentliche Postdienstleistungen unter den Bedingungender bevorstehenden völligen Marktöffnung noch gebotenund möglich ist. Meine Fraktion und ich können nur ra-ten, dieses Urteil abzuwarten. Deshalb wollen wir auchdie Beratungen über den Gesetzentwurf der Bundesregie-rung zu diesem Thema erst nach einem solchen Urteil ab-schließen.Unsere inhaltliche Position dazu ist unverändert: Wirwollen die Pflichtleistungen derjenigen Postdienstleister,die die Gesamtpalette eines gesetzlich definierten Uni-versaldienstes erbringen, im Interesse der Kunden vonder Mehrwertsteuer frei halten. Es ist und bleibt ein Un-terschied, ob ein oder mehrere Unternehmen das flächen-deckende Postangebot, wie es nach dem Grundgesetz derBund zu gewährleisten hat, erbringen oder ob sich Unter-nehmen auf bestimmte ertragreiche Marktsegmente oderRegionen konzentrieren.Einmal mehr entpuppt sich die FDP als Steuererhö-hungspartei. Sie will Postdienste für die Kleinverbrau-cher um die Mehrwertsteuer, also 19 Prozent, erhöhenund explizit sogar einen ermäßigten Steuersatz ausschlie-ßen.Da passt es in die ganze Logik nahtlos hinein, dass derFDP-Antrag unter der Überschrift „wettbewerblicheStrukturen“ die Axt an den Universaldienst selbst legenwill. Sie will mindestens folgende Leistungen aus demPflichtangebot streichen:– Briefe zwischen 50 und 2 000 Gramm,– Pakete zwischen 10 und 20 Kilogramm,Zu Protokoll– mindestens 4 000 Filialen durch Streichung der Min-destzahl von 12 000 Filialen,– alle Briefsendungen in einer Zahl von über 50 Stück,– die Laufzeit und Qualität der Briefdienstleistung sowiedie werktägliche Zustellung,– Eilzustellung,– Nachnahme.Was dann noch vom Universaldienst übrig bleibt, magsich jeder selbst ausmalen. Auf jeden Fall würde derGroßteil dessen, was heute Postdienste ausmacht, nichtmehr allen Bürgerinnen und Bürgern zur Verfügung ste-hen. Als Beispiel will ich den Verein oder den mittelstän-dischen Betrieb nennen, die Einladungen oder Rechnun-gen mit einer Zahl von mehr als 50 Stück versendenwollen. Die bisherigen Erfahrungen machen wenig Hoff-nung, dass der Markt aus sich heraus all diese Leistungenerbringen würde – schon gleich gar nicht zu akzeptablenBedingungen. Die Koalition ist sich einig, zwar die ein-zelnen Pflichtleistungen der jetzigen PUDLV zu überprü-fen, insgesamt aber das derzeitige Leistungsniveau inklu-sive der Selbstverpflichtung der Deutschen Post zuerhalten und zu präzisieren. Woher die FDP ihre Erkennt-nisse über einen diesbezüglichen anders lautenden„Gesetzentwurf“ bezieht, bleibt eines der vielen Postge-heimnisse. Die FDP ist also bereit, die Interessen derKundinnen und Kunden sowie des ländlichen Raumes aufdem Altar ihrer pervertierten Wettbewerbsideologie zuopfern.Die Krönung dieser Ideologie lesen wir jedoch im Ka-pitel über die sozialen Aspekte des Postmarktes.Dort lesen wir:Die Berücksichtigung sozialer Belange als Ziel derRegulierung … widerspricht dem wettbewerblichenCharakter der Regulierung ehemals staatseigenerNetzindustrien … Die Sozialklausel …, welche dieErteilung einer Lizenz an die Arbeitsbedingungen… knüpft, ist ein Fremdkörper … Die Einführungeines Mindestlohns für den Briefbereich verhindertdie Entfaltung eines funktionsfähigen Wettbewerbs…Einmal mehr können wir schwarz auf weiß lesen, dassdie FDP die Existenzsicherung von Arbeitnehmerinnenund -nehmern nicht im Einklang mit dem Wettbewerbsieht, sondern als Störfaktoren. Wir stellen den Menschenin den Mittelpunkt und nicht ein längst widerlegtes Sys-temmodell.Sie können sicher sein: Die SPD wird nicht locker las-sen in ihrem Kampf für flächendeckende Mindestlöhne.Gerade im Postbereich haben wir gesehen, was sich anDumping von Arbeitsbedingungen in jeder Hinsicht ent-wickelt hat. Einmal mehr halten wir fest, dass die Be-hauptung, durch Mindestlöhne würden Arbeitsplätze ver-nichtet, durch nichts belegt ist. Der Hinweis auf die Pleiteder PIN AG, der dann vonseiten der FDP und der Min-destlohngegner immer wieder kommt, ist schlichtwegpeinlich.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19139
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Klaus BarthelInzwischen konnte sich jeder davon überzeugen, dassdie PIN AG an ihrem eigenen fehlenden Geschäftsmodell,an ihrer chaotischen Struktur, an ihrer mangelnden Leis-tungsqualität, an Managementversagen und ihrem Groß-aktionär gescheitert ist – längst bevor ein Mindestlohn inKraft trat.Alles in allem freue ich mich darauf, diese Anträge derFDP ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren. Das wird unsGelegenheit geben, einmal mehr die erfolgreiche sozial-demokratische Linie in der Postpolitik aufzuzeigen: Be-zahlbare Leistungsqualität für alle erhalten und verbes-sern, Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen sichern undausbauen. Darüber hinaus ist es überfällig, wenn wirschon über eine Novellierung des Postgesetzes sprechen,die derzeitige Regulierungsdichte und -tiefe zu überprü-fen. Der Universaldienst einschließlich seiner Finanzie-rung, die Zuverlässigkeit der Anbieter, der Daten- undVerbraucherschutz und der Schutz vor Marktmachtmiss-brauch sowie faire Wettbewerbsbedingungen – auch imeuropäischen Kontext – könnten durch schlanke Regulie-rung gesichert werden. Mit Recht wirft zum Beispiel dasDeutsche Institut für Wirtschaftsforschung dieFrage auf, weshalb wir in Deutschland ein Regulierungs-regime im Postsektor aufgebaut haben, das dem der Tele-kommunikations- und der Energiebranche an Komplexi-tät in fast nichts nachsteht.Mit Recht wird dort festgestellt, dass ein postalischesNetz materiell und ökonomisch nicht mit den physikali-schen Netzen der anderen Bereiche vergleichbar ist. Sofehlten hohe Marktzutrittsbarrieren oder „Bottlenecks“,also schwer überwindbare Monopolstrukturen. Deshalbsei auf Netzzugangs- und Entgeltregulierung weitgehendzu verzichten.Hier, meine Damen und Herren von der FDP, wäreeine Überprüfung der Notwendigkeit und Angemessen-heit von Regulierung aller Mühen echter Liberaler wert.Sonst rufen Sie ständig nach Deregulierung und Bürokra-tieabbau. Bei der Post hingegen kann die FDP gar nichtgenug regulieren, wie die beiden heute vorliegenden An-träge erneut beweisen.Ich hoffe jedenfalls, dass wir die Gelegenheit auch nut-zen, jenseits der Einzelfragen und Einzelinteressen dieGesamtkonzeption der Postpolitik wieder in den Mittel-punkt zu rücken.
Die gegenwärtige Finanzmarktkrise hat, zumindesthinsichtlich ihrer Konsequenzen in Deutschland, deutlichgezeigt, wohin es führt, wenn Staatsbanker mit politischerUnterstützung agieren können. Eine Staatsbank nach deranderen hat sich verspekuliert und den Steuerzahler aufden Verlusten sitzen lassen. Das Gleiche erleben wir inmilderer Form seit Jahren auf dem Postmarkt. Auch hierwird ein Monopolunternehmen, das noch immer zu30 Prozent in Staatsbesitz ist, von der Bundesregierungan allen Ecken und Kanten gepäppelt und privilegiert.Die Leidtragenden sind einmal mehr die deutschen Steu-erzahler und Postkunden, die die Steuergeschenke für dieDeutsche Post AG finanzieren dürfen und obendrein nochauf die Früchte des Wettbewerbs im Postwesen verzichtenZu Protokollmüssen, also auch hier wieder höhere Preise als notwen-dig zahlen.Dies belegt, dass Union und SPD die Interessen eineshalbstaatlichen Großkonzerns, dessen Spitzenbelegschaftlieber in Liechtenstein als in Deutschland versteuert, hö-her achten als die Interessen der anderen 80 MillionenBundesbürger. Gerade als der Kunde hoffen konnte, end-lich einen Wettbewerbsmarkt für Post- und Zustelldienstegenießen zu können, mit dem Fall der Exklusivlizenz fürdie Briefbeförderung zum 1. Januar 2008, fiel den Lobby-isten in der Konzernzentrale der Deutschen Post AG wie-der ein neuer Kniff ein, um ihr Unternehmen vor dem bö-sen Wettbewerb zu schützen. Der Post-Mindestlohn wargeboren, und Union und SPD ließen sich von den angeb-lichen Gutmenschen mehr als nur bereitwillig vor ihrenMonopolkarren spannen. Im Ergebnis kann die DeutschePost AG zufrieden sein. Mit einem Postmindestlohn nahezehn Euro und einer Umsatzsteuerbefreiung wird derraue Wind des Wettbewerbs zum milden Lüftchen.Dieses Manöver mag sich bei den Parteispenden fürUnion und SPD auszahlen, den Bürgern in Deutschlandbleibt damit versagt, was längst selbstverständlich seinsollte: nämlich die Wahl zwischen verschiedenen günsti-geren Angeboten und innovativen Lösungen.Damit muss endlich Schluss sein. Die FDP hat deshalbheute ein Gesetz in den deutschen Bundestag einge-bracht, mit dem die wesentlichen Wettbewerbshemmnisseauf dem deutschen Postmarkt endlich zu beseitigen wä-ren.So wäre es wesentlich, dass zum Beispiel das Postge-setz deutlich entschlackt und auf seinen Ursprungszweck,nämlich die Rahmensetzung für einen wettbewerblichenPostmarkt, zurückgeführt wird. Wir brauchen keine Sozi-alklausel und auch keinen Regulierer, der sich um die Ar-beitsbedingungen in Monopolbereichen kümmert. Dieskann der Gesetzgeber an anderer Stelle regeln, und zwarbranchen- und sektorenübergreifend. Die Bundesnetz-agentur sollte sich dagegen auf die Herstellung wett-bewerblicher Rahmenbedingungen konzentrieren. Ichdenke, die Debatte über die Lohnstrukturen bei den Post-wettbewerbern hat sogar den Mindestlohnbefürworterngezeigt, dass die Bundesnetzagentur hier nicht der rich-tige Ansprechpartner ist.In gleicher Weise müssen wir auch die Post-Universal-dienstleistungsverordnung PUDLV, endlich von überflüs-sigem Ballast befreien. Nicht nur die Monopolkommis-sion hat zu Recht darauf hingewiesen, dass zu detaillierteVorschriften hier Innovation und Strukturwandel behin-dern.Entscheidend für den Wettbewerb auf dem Postmarktsind jedoch insbesondere die Frage des Postmindestlohnsund der Umsatzsteuerbefreiung der Deutschen Post AG.Es kann überhaupt keinen Zweifel geben, dass der vonder Bundesregierung zu verantwortende Mindestlohn fürden Postsektor zu einer umfassenden Marktbereinigungzugunsten des Ex-Monopolisten geführt hat. Sie, meineHerren und Damen von den Regierungsfraktionen, tra-gen die Verantwortung dafür, dass die Liberalisierung imKeim erstickt wurde und wenigstens 6 000 Menschen ihre
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19140 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
gegebene Reden
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Gudrun KoppArbeit verloren haben. Vorfahrt für Arbeit sieht andersaus, Frau Bundeskanzlerin!Aber es geht ja auch noch weiter. Der renommierteWettbewerbsrechtler Wernhard Möschel bezeichnet denPostmindestlohn als einen verbotenen und nichtigen Kar-tellvertrag, der gegen deutsches und europäisches Kar-tellrecht verstößt, und fordert das Bundeskartellamt zumHandeln auf. Darüber hinaus sieht er die Bundesregie-rung hier sogar in der Regresspflicht. Das würde dannwirklich dem Fass den Boden ausschlagen. Erst durch ei-nen Rechtsbruch ein Monopol zementieren und dann aufSteuerzahlers Kosten den Schaden reparieren. Hier kannes für den Augenblick jetzt nur eine Handlungsoption ge-ben: Der Postmindestlohn gehört ersatzlos gestrichen,und zwar am besten gestern.Der zweite wichtige Punkt betrifft die Frage der Um-satzsteuerbefreiung der Deutschen Post AG. Hier bahntsich mit der Kabinettsentscheidung von gestern dienächste skandalöse Weichenstellung durch die Bundesre-gierung an. Ausgerechnet der angebliche SparministerPeer Steinbrück möchte freiwillig auf rund 500 MillionenEuro an Einnahmen pro Jahr verzichten, um de facto ander Umsatzsteuerprivilegierung der Deutschen Post AGfestzuhalten. Es ist doch völlig klar, dass auf lange Sichtkein anderes Unternehmen in der Lage sein wird, die An-forderungen für die Erbringung von Universaldienstleis-tungen zu erfüllen. Vollends absurd wird es dann aber,wenn künftig neben der Bundesnetzagentur nun auchnoch das Bundeszentralamt für Steuern postwettbewerb-liche Prüfungen vornehmen soll. Im Übrigen darf nichtunterschlagen werden, dass die Deutsche Post AG durchdie Aufhebung der Umsatzsteuerbefreiung im Gewerbe-kundenbereich bei den vorsteuerabzugsberechtigtenKunden nunmehr sogar Wettbewerbsvorteile gegenüberdem Status quo gewinnt.Es bleibt deshalb dabei, die einfachste Lösung wäreeine Umsatzsteuerpflicht für alle Unternehmen, davonhätte dann auch der Bundeshaushalt etwas.Unter dem Strich kann ich nur an alle Beteiligten ap-pellieren, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen. DerWettbewerb muss endlich Einzug halten, die Monopolesind zu schleifen. Dies ist im Interesse aller Bürger undSteuerzahler, wenn auch vielleicht nicht im Sinne der Mo-nopolisten. Denen sind wir als Abgeordnete aber auchnicht verpflichtet.
„Für mehr Billigjobs und eine schlechtere Versorgung
der Verbraucher“ – das wäre eine ehrliche Überschrift
der FDP-Anträge gewesen, die heute beraten werden.
Denn was verbirgt sich hinter ihrer Forderung nach mehr
Wettbewerb? Die FDP will keine feste Anzahl von Brief-
kästen mehr garantieren und sie will den Post-Mindest-
lohn beseitigen, um nur zwei Punkte zu nennen. Von der
FDP ist man so etwas gewöhnt.
Tragisch ist nur, dass die Bundesregierung dazu keine
wirkliche Alternative bietet. Sicher, wir haben seit diesem
Jahr in Deutschland im Briefdienst einen Mindestlohn.
Dieser war nötig. Schließlich hat die Politik der Regie-
Zu Protokoll
rungen Merkel und Schröder zu der Ausbreitung von Bil-
liglöhnen im Briefdienst beigetragen.
Union und SPD tönen, der Briefmarkt müsse liberali-
siert werden, wir brauchten hier mehr Wettbewerb, wohl-
wissend, dass im Briefgeschäft die Personalkosten einen
Großteil der Unternehmensausgaben ausmachen und
deswegen der Wettbewerb über die niedrigsten Löhne
ausgetragen wird.
Die Bilanz der Privatisierung der Post und der Libe-
ralisierung des Postmarktes in Deutschland ist katastro-
phal: 140 000 Arbeitsplätze hat bisher die Privatisierung
der Post vernichtet – oftmals Vollzeitarbeitsplätze mit or-
dentlichen Einkommen, die nun durch Billigjobs ersetzt
werden. Die Deutsche Post will in diesem Jahr alle ihre
Filialen schließen und zieht sich mit einem kompetenten
und qualifizierten Service aus der Fläche zurück. Die
Preise der Briefbeförderung für den Normalverbraucher
haben sich seit 2005 erhöht. Für Großkunden hat die Post
dagegen Rabatte angekündigt.
Aus dieser katastrophalen Bilanz der Privatisierung
hat die Bundesregierung jedoch keine Konsequenzen ge-
zogen. Im Gegenteil: Sie hat den Briefmarkt in Deutsch-
land 2008 nun völlig für den Wettbewerb geöffnet. Sie ar-
beitet gegenwärtig daran, die Grundversorgung zu
verschlechtern.
Zugleich ist die Deutsche Post ein Global Player auf
dem Weltmarkt. Mit ihrem Abenteuer in den USA hat sie
in den letzten Jahren mehrere Milliarden Euro Verlust ge-
macht. Angesichts dieser Ergebnisse ist ein Kurswechsel
dringend nötig. Die Linke wird hier die Bundesregierung
unter Druck setzen. Schließlich zeigen die Nachbarländer
Deutschlands, dass es auch anders geht.
Die Niederlande haben die angekündigte vollständige
Marktöffnung zurückgezogen. In Frankreich zwangen
massive Proteste der Gewerkschaften den französischen
Präsidenten Sarkozy, seine Privatisierungspläne für die
Post auf Eis zu legen. Dort wird nun eine Volksabstim-
mung zur geplanten Börseneinführung der Post gefor-
dert.
Wir sollten uns in Deutschland daran ein Beispiel neh-
men. Der Postdienst ist nicht dafür da, Profite zu machen,
sondern dafür, die Bürgerinnen und Bürger ordentlich mit
Briefdienstleistungen zu versorgen. Dafür steht die Linke.
Die FDP fordert in ihrem Gesetzentwurf eine Stärkungwettbewerblicher Strukturen auf dem Postmarkt. Dashört sich zunächst gut an, und auch wir streben einen fai-ren und funktionierenden Wettbewerb an.Mit Datum 1. Januar 2008 ist die Exklusivlizenz derDeutschen Post AG aufgehoben worden. Wir haben diesunterstützt, weil nur dadurch überhaupt Wettbewerb aufdem Postmarkt entstehen kann. Die privaten Anbieter aufdem teilliberalisierten Postmarkt hatten im Hinblick aufdie angekündigte vollständige Marktliberalisierung be-reits erhebliche Investitionen getätigt.Nach Auskunft der Bundesregierung auf unsere KleineAnfrage auf Drucksache 16/4979 aus dem letzten Jahr
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19141
gegebene Reden
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19142 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Kerstin Andreae
erwartete die Bundesregierung von einer vollständigenLiberalisierung die Entstehung neuer Arbeitsplätze sowieein qualitativ und quantitativ hochwertiges Angebot anPostdienstleistungen bei sinkenden Preisen. Demnachhat die bislang vollzogene Marktöffnung zu einer gestie-genen Dienstleistungsqualität sowie insgesamt tendenzi-ell niedrigeren Preisen bei Briefen und Paketen geführt.Zudem hat die Angebotsvielfalt zugenommen. Darüberhinaus betont die Bundesregierung zu Recht, dass auchtrotz einer einseitigen Liberalisierung des deutschenPostmarktes nicht von einem unfairen Wettbewerb ausge-gangen werden kann.Die Arbeitsplätze bleiben auch bei vollständiger Libe-ralisierung im Land – unabhängig davon, wer die Postzustellt. Zudem zeigen die Erfahrungen aus bereits libe-ralisierten Ländern, dass auch bei vollständiger Markt-öffnung keine signifikanten Umsatzeinbrüche für denehemaligen Monopolisten zu erwarten sind.Allerdings besteht trotz der beschriebenen Erfolge dererfolgten Teilliberalisierung berechtigte Kritik an teil-weise unzureichenden Arbeitsbedingungen im teilprivati-sierten Postgewerbe. Diese Kritik trifft sowohl einzelneWettbewerber als auch Subunternehmen, die im Auftragder Deutschen Post AG mit über 20 000 Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmern Dienstleistungen erbringen unddeutlich unterhalb des Lohnniveaus der DPAG bezahlen.Wir von Bündnis 90/Die Grünen sind der Auffassung,dass Deutschland endlich zu verbindlichen Regelungenfür Mindestarbeitsbedingungen kommen muss, die dieLohnspirale nach unten stoppen. Tarifverträge und dieRegelungskraft der Sozialpartner bieten keinen hinrei-chenden Schutz gegen Fehlentwicklungen mehr. In denvergangenen Jahren haben tariflich organisierte Bran-chen mit sehr niedrigen Entgelten genauso zugenommenwie tariflich nicht organisierte Bereiche mit Niedriglöh-nen.Nur umfassende Regelungen für Mindestarbeitsbedin-gungen, die alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmereinbeziehen, sowohl tariflich organisierte wie nicht orga-nisierte Wirtschaftsbereiche erfassen und die Tarifauto-nomie wieder stärken, können weiteres Lohndumpingverhindern und zuverlässig vor Armutslöhnen schützen.80 Prozent der Bevölkerung und eine parlamentarischeMehrheit hier im Bundestag haben sich klar für Mindest-löhne ausgesprochen. Auch das jüngste Urteil des Euro-päischen Gerichtshofs zum Vergaberecht zeigt, wie drin-gend notwendig branchen- und regionalspezifischeMindestlöhne sind, um Lohndumping unmöglich zu ma-chen. Die FDP blendet diese Fakten in Ihrem Gesetzent-wurf leider vollständig aus.Die Sozialklausel im Postgesetz erfüllt eine wichtigeFunktion. Durch einen Wegfall dieser Klausel wäre Lohn-dumping Tür und Tor geöffnet. Die Folgen wären weitereergänzende Leistungen nach ALG II. Diese Art von Wett-bewerb zulasten der Steuerzahler werden wir nicht mit-tragen.Wettbewerbsverzerrungen sind aber auch die Folgeder unterschiedlichen steuerlichen Behandlung vonMarktteilnehmern bei Postdienstleistungen, die bereitsim Wettbewerb erbracht werden. Diese einseitige Steuer-befreiung benachteiligt private Konkurrenten der DPAGim erheblichen Umfang. Mit der vollständigen Marktlibe-ralisierung drohen durch die Steuerbefreiung weitereWettbewerbsverzerrungen. Wir fordern daher schon seitlangem, die ungleiche Umsatzbesteuerung der Marktteil-nehmer auf dem Postmarkt zgunsten der DeutschenPost AG zu beenden und die EU-Rechtsvorschriften ein-deutig anzuwenden.Welche Position die Bundesregierung in dieser Sachevertritt, blieb uns über Monate verborgen. Zunächst warunser Wirtschaftsminister Glos für, FinanzministerSteinbrück gegen die Abschaffung der einseitigen Steuer-privilegierung. Vor wenigen Tagen sprach sichSteinbrück dann überraschend auch für die Abschaffungaus. Seit gestern wissen wir: Es bleibt doch weitgehendalles beim Alten. Dieses Koalitionschaos schadet demWirtschaftsstandort Deutschland. Wir benötigen wiederRechts- und Planungssicherheit für alle Beteiligten.Faire Wettbewerbsbedingungen auf der einen Seite,wirksame Mittel gegen Lohndumping auf der anderenSeite. So lautet unsere Botschaft. Die FDP hat da in ihremGesetzentwurf leider nicht genügend nachgedacht. Ein-fach nur alles dem Markt zu überlassen, das wäre die fal-sche Botschaft und würde zulasten der Steuerzahler ge-hen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/8906 und 16/8773 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Investitionszulagen-
gesetzes 2010
– Drucksache 16/10291 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol-
gende Kolleginnen und Kollegen: Manfred Kolbe, CDU/
CSU, Simone Violka, SPD, Christian Ahrendt, FDP,
Roland Claus, Die Linke, und Peter Hettlich, Bündnis 90/
Die Grünen.
Mit dem Investionszulagengesetz 2010 wollen wir, wie
im Koalitionsvertrag festgelegt und auf der Klausurta-
gung der Bundesregierung in Meseberg im August 2007
nochmals bekräftigt, auch weiterhin Erstinvestitionen auf
dem Gebiet der östlichen Länder unterstützen. Das ist
auch gut so. Auch wenn der gesamtwirtschaftliche Auf-
schwung sehr gute Fortschritte gemacht hat, bleibt den-
noch bis zur Angleichung an die wirtschaftlichen Verhält-
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Manfred Kolbe
nisse in den westlichen Ländern weiterhin viel zu tun.
Aufgrund der immer noch doppelt so hohen Arbeitslosig-
keit in den östlichen Ländern ist die Verlängerung der
Investitionsförderung ein wichtiges Instrument, um in
Deutschland gleiche Wirtschaftsverhältnisse zu schaffen.
Mit diesem Investitionszulagengesetz 2010 legen wir für
das weitere Wirtschaftswachstum einen ordentlichen
Grundstein.
Die faktischen Kennzahlen der schwächeren ostdeut-
schen Wirtschaft sind: Die Arbeitslosenquote ist mit rund
13 Prozent doppelt so hoch wie im Westen. Auch der Ab-
wanderungstrend von Ost nach West sowie ins Ausland ist
nach wie vor ungemindert. Per Saldo verloren die östli-
chen Bundesländer zuletzt jährlich über 50 000 zumeist
junger Fachkräfte. Die gesamtwirtschaftliche Leistung
Ostdeutschland beträgt zurzeit knapp 70 Prozent des
westdeutschen Niveaus. Dieses Investitionszulagengesetz
soll, gemäß dem Entwurf der Bundesregierung, zu Inves-
titionszulagen in Höhe von 550 Millionen Euro im Jahr
2011, 770 Millionen Euro in 2012, 540 Millionen Euro
2013, 315 Millionen Euro 2014 und noch einmal 90 Mil-
lionen Euro 2015 führen. Wie in den vergangenen Jahren
werden dadurch sicherlich Investitionen von mehreren
Milliarden Euro in den östlichen Bundesländern ange-
regt.
Die Investitionszulage ist ein sehr beliebtes Förder-
instrumentarium, das vom Handwerk und vom Mittelstand
sehr gern angenommen wird, weil es eine Rechtssicherheit
bietet, wie es kein anderes Förderinstrumentarium ge-
währt. Auch deshalb sollten wir die Gewährung der In-
vestitionszulage fortsetzen. Sie ist unbürokratisch. Sie ist
nicht mit langen Genehmigungsverfahren verbunden.
Nach Art. 87 EG-Vertrag sind staatliche Beihilfen an
Unternehmen mit dem gemeinsamen Markt nur aus-
nahmsweise vereinbar. Solche Ausnahmen liegen – wie
beim Investitionszulagengesetz 2010 – vor, wenn es einen
entsprechenden zeitlichen und regionalen Bezug gibt.
Seitens der Europäischen Kommission wurde dies ent-
sprechend für die östlichen Länder Deutschlands bestä-
tigt. Lassen Sie mich im Folgenden einige Anmerkungen
zum Gesetzentwurf der Bundesregierung machen:
Erstens. Fördergebiet sind weiterhin die Länder Bran-
denburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-
Anhalt, Thüringen und nun auch ganz Berlin.
Zweitens. Begünstigte Investitionen sind Erstinvesti-
tionen, die mindestens fünf Jahre zum Anlagevermögen
eines Betriebs des verarbeitenden Gewerbes, der produk-
tionsnahen Dienstleistungen oder des Beherbergungsge-
werbes gehören. Erstinvestitionen bzw. Erstinvestitions-
vorhaben sind die Errichtung einer neuen Betriebsstätte,
die Erweiterung einer bestehenden Betriebsstätte, die Di-
versifizierung der Produktion und die Vornahme einer
grundlegenden Änderung des gesamten Produktionsver-
fahrens. Die Investition muss mindestens fünf Jahre im
Betrieb verbleiben, um einen tatsächlich nachhaltigen
Beitrag zur Regionalentwicklung zu leisten. Begünstigte
Wirtschaftszweige sind wie bisher das verarbeitende Ge-
werbe, die produktionsnahen Dienstleistungen und das
Beherbergungsgewerbe.
Zu Protokoll
Drittens. Investitionszeitraum ist die Zeit nach dem
Tage der Verkündung des Gesetzes bis zum 31. Dezember
2013.
Viertens. Der Fördersatz beträgt im Jahr 2009 12,5 Pro-
zent, 2010 10 Prozent, 2011 7,5 Prozent, 2012 5 Prozent
und im Jahr 2013 2,5 Prozent.
Meiner persönlichen Meinung nach sollte diese
scharfe Degression nochmals überprüft werden. Die
Wirtschaft im Osten wächst seit 2003 langsamer als die
im Westen, und vor diesem Hintergrund ist ein Auslaufen
der Investitionszulage problematisch. Außerdem wäre im
letzten Förderjahr der Verwaltungsaufwand für die Be-
triebe und die öffentliche Hand dann höher als die eigent-
liche Förderung. Hier erhoffe ich mir im Gesetzgebungs-
verfahren die Prüfung der Einführung eine Veränderung
der Degression der Fördersätze, damit das Verhältnis von
Aufwand und Nutzen gewahrt bleibt.
Alles in allem setzt der vorliegende Entwurf der Bun-
desregierung für ein Investitionszulagengesetz 2010 ein
richtiges Signal an die Wirtschaft in den östlichen Län-
dern. Eine entsprechend schnelle Gesetzesberatung ist im
Sinne der dortigen Wirtschaft notwendig, um weitere Pla-
nungssicherheit zu erhalten. Hierfür sollten wir im Bun-
destag einen Beitrag leisten.
Obwohl wir uns bereits im Jahr 19 nach der Wende be-finden und dank dem Engagement von Unternehmerinnenund Unternehmern, aber auch von Mitarbeiterinnen undMitarbeitern und der Gewerkschaften, viele gut amMarkt etablierte Unternehmen im Osten entstanden sind,ist der Aufbau Ost noch lange nicht abgeschlossen. Vier-zig Jahre geplante Misswirtschaft lassen sich eben leidernicht von heute auf morgen beseitigen, und der Nachhol-bedarf war ja auch riesig. Bevor die Wirtschaft richtig inSchwung kommen konnte, mussten erst umfangreiche In-frastrukturmaßnahmen erfolgen. Nicht zu vergessen dieRückstände bei Umwelt- und Arbeitsschutz und bei derInfrastruktur der Versorgungsträger. Hier wurde in weni-gen Jahren unglaubliches geleistet.Als ein gutes und wirksames Instrument beim AufbauOst hat sich dabei die Investitionszulage erwiesen. Daherist es sehr zu begrüßen, dass es für das Investitionszula-gengesetz 2007, welches Ende des Jahres 2009 ausläuft,mit dem jetzt einzubringenden Investitionszulagengesetz2010 ein Nachfolgegesetz gibt, welches die Förderungauch nach 2009 möglich macht und die geförderten Maß-nahmen bis 2013 sicherstellt.Bereits beim Investitionszulagengesetz 2007 waren in-tensive Verhandlungen mit den zuständigen Stellen inBrüssel notwendig, die diesem Förderinstrument eherskeptisch gegenüberstanden und nach wie vor -stehen.Deshalb geht an dieser Stelle auch mein Dank an die, wel-che durch intensive Gespräche und Verhandlungen inBrüssel dieses heute einzubringende Gesetz erst möglichgemacht haben. Das ging aber nicht, ohne auf Forderun-gen der Gesprächspartner einzugehen. Eine Forderungwar die Festsetzung eines Endpunktes der Förderung undein degressiver Verlauf der Fördersätze bis zu diesem
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19143
gegebene Reden
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Simone ViolkaEndpunkt. Dieser Forderung wird mit der vorliegendenAusgestaltung des Investitionszulagengesetzes 2010Rechnung getragen, auch wenn ich als Ostdeutsche mirgewünscht hätte, dass die Ausgestaltung weniger degres-siv wäre und es auch keinen Endpunkt 2013 gäbe. Aber daich aus eigener Erfahrung die negative Einstellung derBrüssler Kommission zu diesem Gesetz kenne, weiß ich,wie gering dabei der Verhandlungsspielraum war. Ohnediesen Kompromiss wäre bereits 2009 Schluss mit diesemFörderinstrument.Wir haben damit für den Osten viel gewonnen, und an-statt den Zugeständnissen nachzuweinen, sollten wir bis2013 das Beste daraus machen. Nach wie vor fehlt es imOsten nicht an Menschen mit innovativen Ideen, sondernan finanziellen Mitteln, um diese Ideen in Arbeitsplätzeund Wirtschaftswachstum umzuwandeln.Aufgrund der momentan herrschenden internationa-len Finanzkrise kann man ja kaum glauben, dass die Ban-ken häufig Kredite wegen zu hohen Risikos und fehlenderbzw. nicht ausreichender Sicherheiten verwehrten undverwehren. Ich kann nur hoffen, dass diese Krise auch fürdeutsche Banken heilsam ist und man sich dort einmalüberlegt, ob die Geschäftsphilosophie noch stimmt. Dennwenn man in Banken Kredite für Firmenerweiterungenwegen erhöhter Auftragseingänge für zu risikoreich hält,gleichzeitig aber bei hochspekulativen Geldgeschäftenkräftig zuschlägt ohne auch nur den Hauch einer Absi-cherung, dann komme nicht nur ich ins Grübeln.Neben anderen Förderinstrumenten wollen wir mitdiesem Gesetz weiter Unterstützung leisten. Die Beträgezeigen, dass es sich bei dieser Unterstützung um ganzschöne Brocken handelt. Durch den vorliegenden Gesetz-entwurf wird es zu folgenden Förderungen kommen: ImJahr 2011 sind es 550 Millionen Euro, im Jahr 2012770 Millionen Euro, 2013 540 Millionen Euro, 2014315 Millionen Euro und um Jahr 2015 wegen der degres-siven Ausgestaltung noch einmal 90 Millionen Euro. Dasist eine gute Nachricht für die Unternehmer, vor allemaus Mittelstand und Handwerk, die in der Vergangenheitbereits diese Förderung gern in Anspruch genommen ha-ben, nicht zuletzt, weil sie rechtssicher, schnell und un-bürokratisch ist. Das kann leider nicht jede Fördermög-lichkeit von sich behaupten.Dank dem Entgegenkommen von Brüssel konnte mitdem Investitionszulagengesetz 2010 auch die Förderlü-cke abgeschafft werden. Möglich wurde das, weil dieEuropäische Kommission am 6. August 2008 eine allge-meine Gruppenfreistellungsverordnung verabschiedethat, wonach eine Förderung von kleinen und mittlerenUnternehmen im D-Fördergebiet, also Berlin, weiterhinmöglich ist. Vorher war eine Förderung in diesem Gebietauf bis Ende 2008 begonnene Investitionsvorhaben be-schränkt.Dadurch wurde ein nahtloser Übergang der Förde-rung für alle Gebiete ermöglicht. Neu ist auch, dasskleine Unternehmen jetzt stärker gefördert werden. FürErstinvestitionen bei kleinen Unternehmen beträgt die In-vestitionszulage 20 Prozent der Bemessungsgrundlagen,und für mittlere Unternehmen beträgt sie zukünftigZu Protokoll10 Prozent. Auch damit wird einer Forderung aus BrüsselRechnung getragen.Wir werden uns im Ausschuss sicher noch ganz genaumit diesen Veränderungen beschäftigen. Allerdings musses unser aller Ziel sein, dass ein Investitionszulagenge-setz 2010 das Plenum verlässt, welches auch in Brüsselseine Zustimmung findet. Denn wir sind auf diese Zustim-mung angewiesen, wenn wir auch für die nächsten Jahreden wirtschaftlichen Aufbau im Osten mit Fördermittelnunterstützen wollen.
Die Fortführung von Investitionszulagenförderungnach 2009 bis zum Ende des Jahres 2013 ist begrüßens-wert. Die FDP-Fraktion wird der Verlängerung des In-vestitionszulagengesetzes daher erneut zustimmen.Auch heute noch stellt die Förderung von betriebli-chen Investitionen in den neuen Ländern ein zentralesund vor allem verlässliches Instrument für die kleinenund mittelständischen Unternehmen dar. Die degressiveAusgestaltung der Fördersätze berücksichtigt hingegendie Interessen der öffentlichen Haushalte und hat zumZiel, dass kontinuierlich eine Basis für eine selbsttra-gende wirtschaftliche Entwicklung geschaffen wird. DieAbsicht, die Investitionszulage langfristig auslaufen zulassen, ist daher grundsätzlich erstrebenswert. Es bleibtnur zu hoffen, dass die errechneten Staffelsätze für denbenötigten Wirtschaftsaufschwung ausreichen, um vor al-lem der Abwanderung und der hohen Arbeitslosigkeitentgegenzuwirken.Das noch geltende Investitionszulagengesetz 2007 haterstmals das Beherbergungsgewerbe berücksichtigt, wasim Hinblick auf die Attraktivität vieler Gebiete als Reise-ziel ein wichtiger Schritt war. So konnte sich insbesondereMecklenburg-Vorpommern in den letzten Jahren zu einemTopstandort im Deutschlandtourismus entwickeln. In An-betracht dessen, dass Übernachtungsgäste und Tagesaus-flügler jedes Jahr fast 100 Millionen Aufenthaltstage inMecklenburg-Vorpommern verbringen und der Tourismusdamit mit einem Bruttoumsatz von über 3,5 MilliardenEuro einen der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren darstellt,wird die überragende Bedeutung von Investitionszulagenklar. Daher freue ich mich ganz besonders, dass dieseBranche auch nach dem Investitionszulagengesetz 2010weiterhin unterstützt wird.Aus aktuellem Anlass möchte ich jedoch auf einen ne-gativen Umstand bei Investitionszulagen hinweisen.Wenn Kontrollmechanismen versagen, ist leider überalldort, wo es um Rechtsansprüche auf Geld oder geldwerteVorteile geht, kriminellen Gemütern Tür und Tor geöff-net. Im konkreten Beispiel geht es um den Missbrauchvon Investitionszulagen. Wie dubios Mitarbeiter der Ge-meindebehörden handeln können, zeigt der neue alteSubventionsskandal im Finanzministerium Mecklenburg-Vorpommerns.Nach dem Investitionszulagengesetz 1999 galten dieAnschaffung und Herstellung neuer Gebäude als begüns-tigte Investitionen, wenn sie sich in besonders förderfähi-gen Gebieten befanden. Eine traurige Berühmtheit er-langten in diesem Zusammenhang die sogenannten
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19144 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
gegebene Reden
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Christian AhrendtKerngebiete. Diese dienen vorwiegend der Unterbrin-gung von Handelsbetrieben. Für die Überprüfung desTatbestandsmerkmals „Kerngebiet“ genügt ein Blick inden entsprechenden Bebauungsplan. Leider neigten inden vergangenen Jahren einige Sachbearbeiter der Bau-ämter zur Bescheinigung solcher Kerngebiete, obgleichdies nicht zutraf. Auf diese Weise erbrachte der vermeint-lich Anspruchsberechtigte die erforderliche Bescheini-gung der Gemeindebehörde und erwarb damit die Vo-raussetzungen für eine Investitionsmaßnahme. So gilt alssicher, dass den Verantwortlichen im Finanzministeriumseit längerem bekannt ist, dass es überwiegend von 2000bis 2003 insgesamt 48 Veranlagungen gab, die – diplo-matisch ausgedrückt – Anlass zu Nachfragen gaben. Inmindestens drei Fällen wurde die Investitionszulage un-rechtmäßig ausgezahlt. Weil sich hier die Aufklärung derBetrugsfälle aus verschiedenen Gründen äußerst schwie-rig gestaltet, beschränke ich mich auf die obige Schilde-rung.Man kann nur hoffen, dass diese Fälle zu den Ausnah-men gehören. Daher möchte ich gerne erläutern, warumes auch 2008, 18 Jahre nach der Wiedervereinigung, er-forderlich ist, die Förderungsdauer zu verlängern.Die neuen Bundesländer sind auf ihrem Weg zu einerwettbewerbsfähigen Wirtschaft seitdem ein beträchtli-ches Stück vorangekommen. Trotz dieser Erfolge sindweiterhin offensichtliche Defizite vorhanden. Um An-schluss an das Niveau in den alten Bundesländern zu er-reichen, ist ein mühsamer Weg zu durchschreiten, mit demkaum jemand zu Beginn des Umstrukturierungsprozessesgerechnet hatte. Insbesondere die hohe Arbeitslosigkeitist zu einer Belastungsprobe für die neuen Bundesländergeworden, die es auch mittels Investitionszulagen abzu-bauen gilt. Weitere Probleme stellen die mangelnde Ei-genkapitaldecke der Kleinunternehmen, die gerade diemittelständische Landschaft in den neuen Bundesländernprägen, und der damit mittelbar zusammenhängendeRückzug der Geschäftsbanken aus der Kreditwirtschaftinsbesondere in Ostdeutschland dar. Ohne eine ausrei-chende Eigenkapitaldecke ist es schwierig, Erweite-rungsinvestitionen vorzunehmen, die gerade in Zeiten ei-ner wirtschaftlichen Erholung wichtig sind, umMarktpositionen zu behaupten und selbstverständlichauch auszubauen. Die Investitionszulage bleibt weiterhinein zentraler Bestandteil ihrer Finanzierbarkeit, weil dieZulage den Anteil benötigter Fremdmittel reduziert. Nunverbessert die Investitionszulage zwar nicht die Kredit-versorgung, sie verbessert aber als direkte Unterneh-mensförderung die Kapitaldienstfähigkeit der Unterneh-men. Auch unter diesem Gesichtspunkt kommt derVerlängerung des Investitionszulagengesetzes weiterhineine hohe Bedeutung zu.Alles in allem ist die Verlängerung des Investitionszu-lagengesetzes für den Aufbau Ost unerlässlich und damitzwingend geboten.
Das Gesetz regelt eine Fortführung der Investitions-förderung in den neuen Bundesländern über das Jahr2009 hinaus. Das begrüßen wir. Der Bundesrat hat in sei-ner Stellungnahme zutreffend hervorgehoben:Zu ProtokollDer Bundesrat begrüßt den vorliegenden Gesetz-entwurf. Er trägt den immer noch bestehendenDefiziten der ostdeutschen Wirtschaft Rechnungund ermöglicht daher auch in den nächsten Jahrennoch eine Fortsetzung der intensiven Investitions-förderung. Gleichzeitig aber wird ein Endpunkt fürdieses Förderinstrument festgelegt, indem ein de-gressiver Verlauf der Fördersätze nach 2009 festge-schrieben wird, der das endgültige Auslaufen derInvestitionszulage nach 2013 zum Ziel hat.Weiterhin merkt der Bundesrat dazu an, dass die Ge-meinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirt-schaftsstruktur“
für ganz Deutschland eine hohe Bedeutung hat.Dies gilt natürlich vor allem für einen großen Teilder ostdeutschen Regionen, aber auch für Regionenin Westdeutschland – auch hier gibt es viele Städteund Gemeinden, die auf Grund struktureller Um-brüche mit hoher Arbeitslosigkeit und geringenSteuereinnahmen kämpfen. Die Folge sind Haus-haltsnotlagen und immer neue Schulden, die keineSpielräume für dringend notwendige Maßnahmen,insbesondere im Bereich der Infrastruktur, lassen.Die GRW bietet das in Ost- und Westdeutschlanddringend benötigte Instrumentarium für die Verbes-serung der wirtschaftsnahen Infrastruktur und dieSchaffung von Anreizen für Unternehmensansied-lungen und -erweiterungen und damit die Schaffungneuer Arbeitsplätze.Dies setzt aber auch eine angemessene und demausgeweiteten Aufgabenspektrum angepasste Mit-telausstattung voraus. Der Bundesrat erwartet vonder Bundesregierung, dass ein überwiegender Teilder durch den vorliegenden Gesetzentwurf entste-henden Steuermehreinnahmen durch eine nachhal-tige Aufstockung der GRW für die Instrumente derRegionalen Strukturpolitik wieder zur Verfügunggestellt wird.Die Mittelausstattung der GRW ist seit 1998 dras-tisch verringert worden, obwohl sie durch die unmit-telbare Abhängigkeit der Förderhöhe von der Anzahlder neu geschaffenen oder gesicherten Arbeitsplätzenachweisbar zielgenaue Effekte erzielt …“Der vorliegende Entwurf verstetigt also die Trennungzwischen Ost und West. Solange jedoch im Grundgesetzdie Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse postuliertwird, ist es politisch nahezu fahrlässig, die Investitions-zulage für die neuen Länder ab 2009 kontinuierlich abzu-senken, um sie dann nach 2013 auslaufen zu lassen. Na-türlich unterstützt Die Linke die weitere Förderung,gleichzeitig setzt sie sich jedoch gegen die Einstellung derInvestitionszulage nach 2013 und damit eines Instrumen-tes zur Förderung des Mittelstandes in den neuen Län-dern ein. Denn niemand wird bezweifeln wollen, dass diebesondere Förderung gerade des ostdeutschen Mittel-standes notwendig ist, um den neuen Ländern zu demselbsttragenden Aufschwung zu verhelfen, der ihnen vonder Großen Koalition immer versprochen wird. Eine dop-pelt so hohe Arbeitslosigkeit, kaum Forschung und Ent-
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19145
gegebene Reden
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Roland Clauswicklung, die Verfestigung prekärer Arbeitsverhältnisse,ein geringeres Lohn- und Rentenniveau sprechen eine an-dere Sprache. Nun trifft es ja zu, dass aufgrund des öko-nomischen Wandels auch in den alten Bundesländernstrukturschwache Regionen entstanden sind, die staat-licher Hilfe bedürfen. Dies aber zulasten der ostdeut-schen strukturschwachen Regionen zu machen, spottet je-der nachhaltigen Politik Hohn. Hier wird offensichtlichOst gegen West bei der Wirtschaftsförderung ausgespielt.Apropos sozial: Sie glauben doch nicht ernsthaft, dassdurch die Kürzung der Investitionszulage und der Auftei-lung der Gelder zwischen Ost und West irgendeine Struk-turschwäche behoben werden kann? Wie sollen denndurch die allgemeine Ausdünnung des Förderniveausdie bestehenden und anwachsenden Probleme sinnvollund nachhaltig bekämpft werden? 49 der 50 struktur-schwächsten Landkreise Deutschlands befinden sich lautdem Prognos-Zukunftsatlas in den neuen Ländern. An-stelle den Osten erfolgreich zu fördern, wie es Die Linkeimmer fordert, und die strukturschwachen Regionen imWesten ebenso nachhaltig zu unterstützen, helfen Sie we-der den Menschen im Osten noch im Westen. Dass dieseRegierung jedoch statt langfristig und finanzpolitischsinnvoll zu agieren, jeden finanzökonomischen Unsinnmitmacht, ist den Steuerzahler leider schon mehr alsteuer zu stehen gekommen. Dass diese Regierung dieschwächeren Regionen – gleich ob Ost oder West – per-spektivisch ihrem Schicksal überlässt, wird die Menschendarin ebenfalls noch teuer zu stehen kommen. Dass Siedann jedoch versuchen, diesen von ihrer Politik mehrfachbenachteiligten Menschen ein X für ein U vorzumachen,zeugt schlichtweg von schlechtem politischem Stil.Die Fraktion Die Linke wird in den Ausschussberatun-gen Vorschläge zur nachhaltigen Verbesserung des Ge-setzentwurfes einbringen.
Der wirtschaftliche Aufholprozess Ostdeutschlandsstagniert seit Mitte der 1990er-Jahre. Das Wirtschafts-wachstum in den neuen Bundesländern lag selbst mittenim konjunkturellen Aufschwung 2007 um 0,3 Prozent hin-ter dem Wachstum in den alten Bundesländern zurück.Und auch für 2008 wird ein Wachstumsrückstand pro-gnostiziert. Damit findet trotz aufwendiger Wirtschafts-förderung und rückläufiger Bevölkerungszahlen inOstdeutschland keine Angleichung des Bruttoinlandspro-duktes pro Einwohner zwischen Ost und West statt. DasInstitut für Wirtschaftsforschung Halle errechnete, dassbei diesem Tempo die Angleichung der Pro-Kopf-Ein-kommen noch 320 Jahre dauern wird.Den neuen Ländern stehen nur noch bis 2019 überpro-portionale Finanzmittel aus dem Solidarpakt II zur Ver-fügung. Im sogenannten Korb 2 des Solidarpakts II sinddie überproportionalen Leistungen des Bundes an dieneuen Länder und Berlin zusammengefasst. Von dem zu-gesagten Gesamtvolumen in Höhe von 51 MilliardenEuro bis 2019 sind im Zeitraum 2005 bis 2007 bereitscirca 16 Milliarden Euro abgeflossen.Angesichts dieser ernüchternden gesamtwirtschaftli-chen Erfolgsbilanz fordert Bündnis 90/Die Grünen schonZu Protokollseit langem, dass die Wirtschaftsförderung des Bundes inden neuen Bundesländern auf den Prüfstand gehört. Dasbedeutet, dass die uns noch verbleibenden 35 MilliardenEuro des Korbes 2 des Solidarpakts II zielgerichteter undwirksamer eingesetzt werden müssen.Die Investitionszulage ist die volumenmäßig größteEinzelmaßnahme innerhalb des Korbes 2. AnerkannteWirtschaftsinstitute und der Sachverständigenrat hattenbereits vor der letzten Verlängerung der Investitionszu-lage im Jahr 2006 kritisiert, dass die Investitionszulageaufgrund des Rechtsanspruchs zu geringe Steuerungs-möglichkeiten aufweist und zu viele Mitnahmeeffekte er-zeugt. Einen erheblichen Missbrauch bei dieser Steuer-subvention belegten die Nachschauen der Finanzämter inBrandenburg und Thüringen. In Brandenburg fordertendie Finanzämter 24,2 Millionen Euro Investitionszulagezurück – ein Viertel der beantragten Summe. In Thürin-gen waren es 13 Millionen Euro. Die anderen Bundeslän-der verzichten lieber auf derartige Nachschauen und neh-men den Missbrauch damit billigend in Kauf.Geradezu skandalös ist, dass die Investitionszulageweder statistisch erfasst noch evaluiert wird. Die Bundes-regierung weiß weder, wer die Förderung beansprucht,noch wie viel Unternehmen gefördert wurden, ob die För-dervoraussetzungen eingehalten oder die Förderungenmissbräuchlich in Anspruch genommen wurden.Das ist ein verantwortungsloser Umgang mit Steuer-geldern!Mit der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung derregionalen Wirtschaftsstruktur – GA – steht den neuenBundesländern dagegen ein Förderprogramm mit identi-schem Wirkungsmechanismus wie bei der Investitionszu-lage zur Verfügung. Auch bei der GA werden Investitio-nen in das Sachanlagevermögen bezuschusst.Aber im Gegensatz zur Investitionszulage können dieLänder mit der GA regionale und sektorale Schwerpunktesetzen und somit zielgerichtet fördern. Eine Verlängerungder Investitionszulage, wie im vorliegenden Gesetzent-wurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD gefordert,geht bei feststehenden Gesamtvolumen des Korbes 2 desSolidarpakts II zulasten anderer, für die wirtschaftlicheEntwicklung in den neuen Bundesländern weitaus be-deutsamerer Maßnahmen.Die noch zur Verfügung stehenden 35 Milliarden Euromüssen vor allem in das ebenfalls im Korb 2 definiertePolitikfeld „Innovation, Forschung und Entwicklung,Bildung“ fließen. Darüber hinaus müssen mit den Korb-2-Mitteln verstärkt innovative Konzepte für die Entwick-lung in peripheren Regionen Ostdeutschlands gefördertwerden.Wir schlagen vor, dass zum Beispiel revolvierendeFonds eingerichtet werden, aus denen zinsgünstige Dar-lehen mit Eigenkapital ersetzendem Charakter – Mezza-nine-Finanzierungen – ausgereicht werden. Dadurchkönnen Mittel für eine nachhaltige Wirtschaftsforschungauch über das 2019 hinaus sichergestellt werden.Die Investitionszulage muss in eine Innovationszulageumgewandelt werden. So werden statt verlängerter Werk-
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19146 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19147
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Peter Hettlichbänke Unternehmen mit strategischen Unternehmens-funktionen in Ostdeutschland gefördert.Wir fordern darüber hinaus die Einrichtung eines ziel-und wirkungsorientierten Controllings der eingesetztenFördermittel und endlich die Fortschreibung der Fort-schrittsberichte wirtschaftswissenschaftlicher Forschungs-institute.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 16/10291 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Spieth, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Das Gesundheitssystem nachhaltig und paritä-
tisch finanzieren – Gesundheitsfonds, Zusatz-
beiträge und Teilkaskotarife stoppen
– Drucksache 16/10318 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol-
gende Kolleginnen und Kollegen: Dr. Rolf Koschorrek,
CDU/CSU, Peter Friedrich, SPD, Dr. Konrad Schily,
FDP, Frank Spieth, Die Linke, Birgitt Bender, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Seit 1989 gab es in Deutschland sechs Gesundheitsre-
formgesetze, deren Ziel es war, die Kosten bzw. den Kos-
tenanstieg im Gesundheitswesen zu begrenzen. Darüber
hinaus gab es von 2001 bis 2006 fünf Gesetze zur Begren-
zung der Arzneimittelkosten.
Das jüngste Reformgesetz, das GKV/WSG, das wir An-
fang 2007 beschlossen haben, ist die bislang erste Reform
in unserem Gesundheitswesen, die für die Patienten statt
Leistungseinschränkungen sogar eine Erweiterung der
Leistungen, zum Beispiel im Bereich der Rehabilitation
und Palliativmedizin, bringt. Diesmal steht nicht die Kos-
tenbegrenzung im Zentrum der Reform. Im Mittelpunkt
des GKV/WSG steht vielmehr der Wettbewerb unter den
GKV-Kassen und der Gesundheitsfonds mit dem Umbau
der gesamten Finanzierung, der Einnahmen- und Ausga-
benseite unseres Gesundheitssystems.
Richtig ist: Die Union favorisiert nach wie vor das
Konzept der Gesundheitspauschale und die Abkopplung
der Gesundheits- von den Lohnkosten. Wir akzeptieren
den Gesundheitsfonds als Kompromiss und Wegmarke.
Der bundeseinheitliche Beitragssatz, den die Versicher-
ten und ihre Arbeitgeber in den Fonds einzahlen, trägt
dazu bei, einen Finanzausgleich zwischen den Bundes-
ländern und einen Ausgleich der bisherigen regionalen
Unterschiede in der medizinischen Versorgung zu schaf-
fen. Nicht zuletzt machen wir mit dem Gesundheitsfonds
den Anfang zu einer Steuerfinanzierung von gesamtge-
sellschaftlichen Aufgaben in der Krankenversicherung.
Der im vorliegenden Antrag kritisierte Zusatzbeitrag
wird in Form einer Nachzahlung oder Rückerstattung er-
hoben. Soweit sollten auch die Kollegen von der Fraktion
Die Linke das Gesetz und das Konzept des Gesundheits-
fonds kennen und verstanden haben. Dieser Betrag sorgt
dafür, dass die GKV-Kassen in einen Wettbewerb unterei-
nander treten. Er veranlasst die Kassen zur Reduzierung
ihrer Verwaltungskosten und bietet den Versicherten eine
erheblich höhere Transparenz bei den Kosten und Leis-
tungen der Kassen, als wir sie jetzt im System haben.
Seine Höhe, das heißt, ob ein Plus oder ein Minus unterm
Strich steht, ist ganz wesentlich davon abhängig, wie
wirtschaftlich eine Kasse zu arbeiten vermag und welche
Leistungen sie den Versicherten bietet.
Der Zusatzbetrag, das heißt Nachzahlung oder Rück-
erstattung, ist unabhängig von dem Einkommen des Ver-
sicherten, und damit haben wir zumindest eine partielle
Abkopplung der Gesundheits- von den Lohnkosten.
Darüber hinaus sorgt der Zusatzbetrag zusammen mit
der ebenfalls im GKV/WSG neu geschaffenen Möglich-
keit der Wahltarife dafür, dass die Versicherten sich die
Kasse verstärkt nach ihren persönlichen Prioritäten aus-
suchen können und werden. Das heißt, sie können unter
finanziellen Kriterien die kostengünstigste Kasse wählen
oder unter qualitativen Kriterien eine Kasse, die ihren in-
dividuellen Anforderungen und Bedürfnissen am besten
entspricht. Dies ist ein wichtiger, nach meiner Überzeu-
gung schon lange überfälliger Schritt, mit dem der Versi-
cherte im GKV-System vom pauschalen Beitragszahler
und Leistungsempfänger zum selbstbestimmten und ver-
antwortlichen Akteur wird, der seine individuelle Ent-
scheidung treffen und Einfluss nehmen kann. Umfragen
unter GKV-Versicherten zeigen seit einigen Jahren schon,
dass diese sich mehr Flexibilität und Gestaltungsmög-
lichkeiten für ihren Krankenversicherungsschutz wün-
schen. Dabei geht es nicht nur um die in dem vorliegen-
den Antrag der Linken kritisierten Selbstbeteiligungs-
oder Kostenerstattungstarife. Neben einer ganzen Reihe
von anderen Wahltarifen, können die gesetzlichen Kassen
jetzt zum Beispiel eben auch spezielle Tarife mit einer Er-
stattung für Naturarzneimittel anbieten. Früher gab es
solche Tarife lediglich in der privaten Krankenversiche-
rung und war den privat Versicherten vorbehalten. Ein
solches Angebot stößt vor allem bei Frauen unter den
GKV-Versicherten auf Interesse, die zum Beispiel bei der
Techniker-Krankenkasse rund 90 Prozent der Versicher-
ten in diesem Tarif ausmachen.
Ein weiterer zentraler Faktor im Konzept des Gesund-
heitsfonds ist die Erweiterung des bisherigen RSA zum
MorbiRSA. Durch ihn erhalten die Krankenkassen für die
chronisch Kranken unter ihren Versicherten einen finan-
ziellen Ausgleich für den krankheitsbedingten erhöhten
Versorgungsbedarf. Der neue MorbiRSA erfüllt im Zu-
sammenhang mit dem Gesundheitsfonds zwei zentrale
Funktionen: zum Einen schafft er faire und soweit als
möglich gleiche und gerechte Voraussetzungen für den
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Dr. Rolf Koschorrek
Wettbewerb unter den Kassen, zum Zweiten verlagert er
das Gesundheitsrisiko der Versicherten von den Ärzten
auf die Kassen, auch dies ist ein Schritt, der lange über-
fällig ist.
Schwierig ist die Frage der konkreten Ausgestaltung
des MorbiRSA, der laut Gesetz 50 bis 80 schwerwiegende
und kostenintensive Krankheiten umfassen soll, bei denen
die durchschnittlichen Ausgaben der betroffenen Versi-
cherten um 50 Prozent höher liegen als bei den nicht be-
troffenen Versicherten.
Der „einfache“ RSA wurde 1994 im Zusammenhang
mit der Ausweitung des Kassenwahlrechts eingeführt.
Auch damals war es das Ziel, mit dem RSA Wettbewerbs-
verzerrungen zwischen den GKV-Kassen abzubauen. Er
berücksichtigte die Höhe der beitragspflichtigen Einnah-
men der Mitglieder, die Zahl der beitragsfrei mitversi-
cherten Familienmitglieder sowie das Alter und Ge-
schlecht der Versicherten und die Zahl derjenigen, die
eine Erwerbsminderungsrente beziehen. Diese über-
schaubare Anzahl konkreter Kriterien wurde 2002 er-
gänzt durch einen „Risikopool“ der Krankenkassen für
Versicherte mit besonders teuren Krankheiten und für
Versicherte, die zum Beispiel als Diabetiker an Disease-
Management-Programmen teilnehmen.
Zurzeit arbeitet das BVA an der Gewichtung und Be-
wertung einer Auswahl von 80 Krankheitsgruppen mit
Hunderten von Einzeldiagnosen, die als Grundlage des
Finanzausgleichs unter den Krankenkassen dienen wird.
Es ist dringend erforderlich, dass alle Kriterien einer wis-
senschaftlichen Evaluation der Daten und Verteilungs-
mechanismen erfüllt sind, um zielgenau die Finanzmittel
der einzelnen Kasse vorausberechnen zu können.
Es wäre wünschenswert, dass auch die Fraktion Die
Linke im Interesse eines dauerhaft leistungsfähigen Ge-
sundheitssystems einmal ihre ideologische Vorurteile und
linken Reflexe hintanstellt. Wer die Fakten kennt und
weiß, dass bei Fortbestehen des heutigen Systems der
Beitragssatz im Jahr 2050 auf 25 bis 29 Prozent anstei-
gen würden, der weiß auch, dass wir eine grundlegende
Reform in unserem Gesundheitswesen brauchen.
Wer den Gesundheitsfonds vorurteilsfrei und mit einer
gewissen Bereitschaft, auch einmal etwas Neues zu ak-
zeptieren, betrachtet, der wird zu dem Fazit kommen: Der
Fonds enthält vernünftige, zukunftsweisende und tragfä-
hige Regelungen für unser Gesundheitssystem. Er stellt
richtige Weichen für ein zukunftsfähiges System mit mehr
Eigenverantwortung und der Abkoppelung der Gesund-
heitskosten von den Lohnkosten. Der Gesundheitsfonds
wurde bereits – und das nicht ganz zu Unrecht – als „wohl
größte Veränderung seit dem Weltkrieg“ im Bereich der
Sozialpolitik bezeichnet. Unter organisatorischen Ge-
sichtspunkten bedeutet dies eine große Herausforderung
für alle Beteiligten. Wir arbeiten auf Hochtouren daran.
Heute diskutieren wir im Deutschen Bundestag einenAntrag der Linksfraktion, in dem der Gesundheitsfondsabgelehnt wird, da er angeblich die „Entsolidarisierungder Versichertengemeinschaft“ und eine „PrivatisierungZu Protokollvon Gesundheitsrisiken“ betreibe, wie es in dem vorlie-genden Papier heißt. Morgen debattieren wir an gleicherStelle über einen Antrag der FDP, der mit dem Gesund-heitsfonds den angeblichen „Einstieg in ein staatlich zen-tralistisches Gesundheitswesen“ verbindet. Wie so häufigin den Debatten um die Gesundheitsreform dieser Legis-laturperiode trifft keines der populär klingenden Argu-mente beider Fraktionen zu. Im Gegenteil: Wir stärkenSolidarität und Wettbewerb im Gesundheitswesen zumWohle der Patientinnen und Patienten.Zumindest die Linksfraktion weiß dies auch. Herr Kol-lege Spieth hat mehrfach an dieser Stelle den Gesund-heitsfonds gelobt. Das System der einheitlichen Beitrags-sätze in der gesetzlichen Krankenversicherung, das wirmit dem Gesundheitsfonds begründen wollen, haben Siein der Plenardebatte vom 24. April 2008 im DeutschenBundestag als „einen der wenigen positiven Punkte derletzten Gesundheitsreform“ bezeichnet. Und am 18. Ja-nuar 2008 haben Sie den Fonds sogar gegenüber den Ver-treterinnen und Vertretern der FDP-Fraktion verteidigt.Sie sagten damals – laut Plenarprotokoll –:Der Gesundheitsfonds ist nicht das Problem.Und weiter:Unter anderem die FDP schlägt jetzt aus nachvoll-ziehbaren Gründen auf den Sack Gesundheitsfonds.Eigentlich meint sie etwas ganz anderes: Der FDPgeht es im Kern um die Stärkung von Privilegien– das ist meine feste Überzeugung – und nicht da-rum, etwas mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen.Genau um die Herstellung von mehr sozialer Gerech-tigkeit geht es uns mit der Einführung des Fonds, meineDamen und Herren von der Linkspartei. Wir wollen mitdem Gesundheitsfonds die Gerechtigkeit unter den Bei-tragszahlerinnen und Beitragszahlern stärken. Schonheute leistet jede Krankenkasse beinahe identische Leis-tungen, der Beitragssatz variiert aber erheblich. Dies istunter Solidaritätsaspekten nicht länger hinzunehmen.Auch nicht länger hinzunehmen ist die bisherige Risiko-selektion der Krankenkassen, weshalb wir mit der Ein-führung des Gesundheitsfonds auch den Risikostruktur-ausgleich verbessern. Dies wird die Solidarität inunserem Gesundheitssystem ebenfalls spürbar stärken.Mit dem Gesundheitsfonds setzen wir dem Wettbewerbim Gesundheitswesen einen starken, verlässlichen Rah-men, der für mehr Gerechtigkeit unter den Beitragszahle-rinnen und Beitragszahlern führen wird. Bei gleichenBeitragssätzen und nahezu identischen Leistungen imKrankheitsfall verbessern wir für die Menschen die Ver-gleichbarkeit einzelner Krankenkassen spürbar. Heutenoch haben wir einen Wettbewerb um gesunde, möglichstjunge und bestenfalls einkommensstarke Versicherte, dieder Krankenkasse viel Geld einbringen und wenig kosten.Ab dem neuen Jahr werden wir einen neuen Wettbewerbunter den Krankenkassen um möglichst gute Leistungenfür die Versicherten erleben. Wenn die Beitragssätze füralle Kassen gleich sind, wird sich der Wettbewerb unterden Krankenkassen auf möglichst gute Leistungen imKrankheitsfall und zur Vermeidung von Krankheiten so-wie auf eine hohe Kundenorientierung konzentrieren.
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19148 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
gegebene Reden
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Peter FriedrichDer Patient und die Patientin an sich werden im Mittel-punkt der Bemühungen stehen – und nicht ein möglichstjunger, möglichst gesunder oder möglichst zahlungskräf-tiger Versicherter. Heute noch ist die Risikoselektion derKrankenkassen ein Wettbewerbsinstrument. Das ist unso-lidarisch, deshalb beenden wir dieses System.Zudem werden wir einen Wettbewerb um die Vermei-dung des Zusatzbeitrages erleben. Es ist doch ganz lo-gisch, dass keine Kasse den Zusatzbeitrag erheben will,sondern interne Betriebskosten soweit als möglich senkenund die Wirtschaftlichkeitsreserven zu heben versuchenwird, um den Zusatzbeitrag zu vermeiden. Umfragen le-gen nahe, dass ein Drittel der Versicherten von ihrem au-ßerordentlichen Kündigungsrecht Gebrauch machen undzu einer anderen Kasse wechseln werden, sofern ihre bis-herige Kasse einen Zusatzbeitrag erheben möchte. Da istes doch ganz klar, dass alle Kassen sich auf diesen Wett-bewerb um möglichst gute Leistungen für die Versicher-ten und um eine möglichst wirtschaftliche Versorgungeinlassen werden.Für die Versicherten wird bei der Entscheidung füroder gegen eine Krankenkasse viel stärker als bislang dasPreis-/Leistungsverhältnis im Mittelpunkt ihrer Entschei-dung stehen. Ist der Preis bei allen gleich, rückt die Leis-tung in den Vordergrund. Die Krankenkassen überlassenwir aber auch nicht einfach nur sich selbst und dem Wett-bewerb. Vielmehr öffnen wir den Kassen erweitere Hand-lungsmöglichkeiten für eine möglichst wirtschaftlicheVersorgung ihrer Versicherten. Die Kassen können bei-spielsweise Leistungen ausschreiben, Rabattverträge ab-schließen und Wahltarife anbieten. Damit führen wir dieKrankenkassen in eine neue Verantwortung als aktive Ak-teure des Gesundheitssystems.Mit dem Gesundheitsfonds, meine Damen und Herrenvon der Linksfraktion und von der FDP, schaffen wir ei-nen solidarischen Wettbewerb im Sinne der Versicherten.Der Wettbewerb ist solidarisch, weil er für alle Versicher-ten die gleichen Bedingungen schafft. Aber wir schaffentrotzdem einen Wettbewerb der Kassen untereinander, dersich aber nicht negativ auf die Versicherten auswirkenwird. Deshalb bringt uns der Antrag der Linksfraktion,der unserer Debatte zugrunde liegt, nicht voran. Und des-halb kann man auch den Widerstand der FDP gegen denFonds nicht verstehen. Wir verbinden genau die beidenWerte, die ihre beiden Parteien gegeneinander auszuspie-len versuchen. Messen Sie uns am Ergebnis, den die Ein-führung des Fonds mit sich bringen wird.
Der Antrag der Fraktion Die Linke ist völlig einseitig
aufgebaut. Er zielt expressis verbis auf die Einführung ei-
ner Bürgerversicherung, die staatlich administriert wer-
den soll, ab. Auf den Gesundheitsfonds bezogen findet
sich im Antrag ein richtiger Satz: „Der Gesundheitsfonds
löst keine Probleme, sondern schafft nur neue“. Diesem
Satz können wir uns anschließen, allerdings mit völlig an-
derer Begründung.
Es muss Gestaltungsfreiheit geschaffen werden, nicht
staatliche Verwaltung, die meistens eine Mangelverwal-
tung ist. Wir benötigen eine ganzheitliche Souveränität
Zu Protokoll
der Bürger als Versicherte mit voller Eigenverantwortung
und einem Höchstmaß an wirtschaftlicher Transparenz.
Erreichen wir dies nicht, wird die Therapiefreiheit und
Freiberuflichkeit bald auf der Strecke bleiben. Die zu die-
sem Thema unterbreiteten Vorschläge der FDP weisen in
die richtige Richtung.
Wir lehnen den Antrag der Fraktion Die Linke ab.
Vor 125 Jahren wurde die gesetzliche Krankenversi-cherung in Deutschland geschaffen. Sie war Vorbild fürden Aufbau der Krankenversicherung in vielen europäi-schen Ländern. Dieses Erfolgsmodell wird in seinenGrundfesten seit 20 Jahren erschüttert. Gerade in denletzten fünf Jahren gab es eine Lawine von Leistungskür-zungen. Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz 2004– eineinhalb Jahre vor dem offiziellen Beginn der GroßenKoalition – wälzten SPD und Union zusammen mit denGrünen Gesundheitskosten auf die Versicherten ab. Sowurden einige Leistungen ganz gestrichen und bei ande-ren müssen wir jetzt erheblich zuzahlen. Das Konzept derSchröder’schen Agenda-2010-Politik, „den Armen neh-men, den Reichen geben“, wird auch in der Großen Ko-alition fortgesetzt.Die neue Sozialstaatsdoktrin lautet „Senkung derLohnnebenkosten“. Im GKV-Modernisierungsgesetz istsiebenmal das Wort „Lohnnebenkosten“ zu lesen unddass diese für die Arbeitgeber gesenkt werden sollen. Dielogische Schlussfolgerung ist, dass Arbeitnehmer undRentner alleine zahlen.Konkret wurden das Sterbegeld, das Entbindungsgeldund die Kostenübernahme rezeptfreier Medikamente ausdem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassengestrichen.Nur noch in Ausnahmefällen, bei extrem starken Seh-behinderungen werden die Kosten für Brillen übernom-men. Die künstliche Befruchtung wird nur noch zur Hälftegezahlt und auch maximal mit drei Versuchen statt wie zu-vor vier. Sterilisationen werden nur noch übernommen,wenn sie medizinisch notwendig sind. Die Übernahmeder Kosten für Fahrten zum Arzt oder ins Krankenhauswurde gestrichen und/oder erheblich eingeschränkt.Ganz neu eingeführt wurden Eintrittsgebühren zuArztpraxen, Zahnarztpraxen und zu Notfalldiensten.Diese 10 Euro Praxisgebühr pro Quartal können sichaufsummieren auf bis zu 120 Euro im Jahr.Krankenhausaufenthalte und Kuren kosten seither10 Euro am Tag und bis zu 280 Euro im Jahr. Gleiches giltfür häusliche Krankenpflege. Zuzahlungen für Medika-mente wurden auf 5 bis 10 Euro je Packung angehoben.Für Hilfsmittel und Heilmittel muss man ebenfalls 5 bis10 Euro pro Verordnung hinlegen.Der Durchschnittsverdiener in der gesetzlichen Kran-kenversicherung mit circa 2 600 Euro kann bei Anwen-dung aller vorgenannten Regelungen mit über 600 Euroim Jahr zusätzlich zu seinem Krankenversicherungsbei-trag belastet werden.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19149
gegebene Reden
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Frank SpiethNeu ist auch, dass auch die Geringverdiener nungrundsätzlich Zuzahlungen zahlen müssen. Die Härte-fallregelung wurde abgeschafft. Würde die Regelung vonNorbert Blüm noch gelten, brauchten Menschen mit ei-nem Einkommen bis etwa 1 000 Euro nicht zuzahlen.Dank der Politik der Bundesregierung gibt es ohne Cashheute keine Behandlung mehr.Doch damit nicht genug: Ohne Arbeitgeberbeitrag fi-nanzieren die Arbeitnehmer und Rentner seit Mitte 2005das Krankengeld und den Zahnersatz, Durch einen juris-tischen Kniff wurde es möglich, Rentner de facto fürKrankengeld zahlen zu lassen, obwohl ein Rentner natür-lich niemals Krankengeld bezieht. Dazu wurde ein Son-derbeitrag in Höhe von 0,9 Prozent des Einkommens ein-geführt, den die Versicherten ohne Beteiligung derArbeitgeber zu zahlen haben. Damit wurde der Grundsatzder paritätischen Finanzierung, also das Prinzip halbe-halbe, erstmals direkt abgeschafft.Dieser Sonderbeitrag kostet die Mitglieder der gesetz-lichen Krankenversicherung 9 Milliarden Euro, also je-den Beitragszahler durchschnittlich zusätzlich 180 Europro Jahr.Mit der „Reform“ 2007, dem GKV-Wettbewerbsstär-kungsgesetz, wurde der Weg der einseitigen Belastungkonsequent fortgesetzt. Der geplante Gesundheitsfonds,der zum 1. Januar 2009 in Kraft treten soll, wird es nichtschaffen, dass endlich alle für die gleiche Leistung auchden gleichen prozentualen Anteil ihres Einkommens zah-len.CDU/CSU und SPD haben beschlossen, dass die Kos-tensteigerungen im Gesundheitswesen zulasten der Versi-cherten gehen. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es einkomplexes Konstrukt innerhalb des Gesundheitsfonds:Anfang 2009 sollen die Krankenkassen 100 Prozent ihrerAusgaben aus dem Fonds erhalten. Schon Ende 2009werden die Einnahmen des Fonds dazu nicht mehr aus-reichen. Aber die Beiträge werden erst wieder erhöht,wenn die Kosten zu weniger als 95 Prozent gedeckt sind.Nach unseren Berechnungen wird dies voraussichtlich2012 oder 2013 der Fall sein. Da aber die Kostensteige-rungen bei Ärzten, Krankenhäusern und Medikamentenweiter stattfinden werden, haben die Kassen nur eineAlternative: Sie müssen den sogenannten Zusatzbeitragerheben. Dies kann auch in Form einer „kleinen Kopf-pauschale“ erfolgen. Ab 2010 werden alle Kassen vo-raussichtlich Zusatzbeiträge von ihren Versicherten ver-langen müssen.Und natürlich: Die Lohnnebenkosten-Senkungs-Ideo-logie wirkt weiter: Es zahlt erneut nur der Versicherte!Das sind weitere bis zu 10 Milliarden Euro, die nichtmehr paritätisch finanziert werden. Diese politische Ent-scheidung belastet jeden Beitragszahler mit durchschnitt-lich 200 Euro pro Jahr. Halbe-halbe? Das war einmal!Die Linke ist gegen diesen Gesundheitsfonds, weil erden falschen Weg von Rot-Grün unter Schwarz-Rot fort-setzt. Diese Politik führt zu steigenden Kosten für Arbeit-nehmer, Rentner, Arbeitslose Studenten, aber nicht zu ei-ner besseren Gesundheitsversorgung.Zu ProtokollDie politisch gewollten Mehrbelastungen kosten ins-gesamt jeden Beitragszahler zusätzlich durchschnittlich466 Euro pro Jahr. Die Arbeitgeber freuen sich über satteEntlastungsgeschenke. Die Linke lehnt diese Art der ge-setzlich verordneten Umverteilung von unten nach obenab.Wir wollen stattdessen eine solidarische Bürgerinnen-und Bürgerversicherung. Das heißt: Wir wollen, dassjede und jeder, egal ob angestellt, selbstständig, Rentner,Beamter, Pensionär, arbeitslos, Student oder Politiker inder solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherungabgesichert ist. Jeder zahlt den gleichen Prozentsatz sei-nes gesamten Einkommens als Beitrag. Bei Erwerbsein-kommen zahlt der Arbeitgeber wieder die Hälfte der Bei-träge.Wenn dann alle aus allen Einkommensarten die Ge-sundheitsversorgung finanzieren, und nicht nur Erwerbs-tätige und Rentner, dann kann der Beitragssatz deutlichgesenkt werden. Statt mit 15,5 Prozent unter den Bedin-gungen dieses Gesundheitsfonds, käme das Bürgerversi-cherungsmodell rechnerisch mit 8,6 Prozent Beitragssatzaus und das bei gleichen Leistungen. Da wir die Zuzah-lungserhöhungen und Leistungskürzungen der letztenJahre wieder rückgängig machen und den medizinischenFortschritt für alle gewähren wollen, ist ein Beitragssatzvon etwa 10 Prozent für alle erforderlich. Solidaritätrechnet sich!
Vor vier Wochen hat die Bundesfamilienministerin dengesetzlich Krankenversicherten einen guten Rat auf denFrühstückstisch gelegt. Per Sonntagszeitung teilte sie ih-nen mit, dass sie ihre Krankenkasse verlassen sollen,wenn diese einen Zusatzbeitrag von ihnen verlangt; dennden müssten nur solche Kassen verlangen, die schlechtwirtschaften. Gut wirtschaftende Kassen könnten ihrenVersicherten Geld zurückgeben.Dieser Sonntagsgruß der Ministerin passte sich naht-los in die gewohnte Rhetorik der Koalition ein, wenn dieSprache auf den Zusatzbeitrag kommt. Der wird der Öf-fentlichkeit als Gradmesser für die Wirtschaftlichkeit ei-ner Krankenkasse verkauft.Das ist selbstverständlich Unsinn, weil die Konstruk-tion des Zusatzbeitrags dessen Höhe von ganz anderenFaktoren abhängig macht als vom verantwortungsvollenUmgang einer Krankenkasse mit Versichertengeldern.Der Koalition wurde schon während des Gesetzgebungs-verfahrens durch von ihr selbst bestellte Gutachter ge-zeigt, dass durch die Kombination von Zusatzbeitrag und1-prozentiger Belastungsobergrenze die Höhe des Zu-satzbeitrags bzw. der Beitragsrückerstattung davon be-stimmt wird, wie viel oder wenig die Mitglieder einerKasse verdienen. Eine Kasse mit vielen Geringverdienernmuss einkalkulieren, dass viele ihrer Mitglieder den Zu-satzbeitrag nicht vollständig bezahlen können. Diese Bei-tragsausfälle muss sie dann durch einen höheren Zu-schlag – und damit durch die Belastung ihrer besserverdienenden Mitglieder – wieder ausgleichen. DiesenZusammenhang kann sie auch durch noch so gutes Wirt-schaften nicht außer Kraft setzen. Von diesen Erkenntnis-
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19150 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19151
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Birgitt Bendersen hat sich die Koalition aber nicht beirren lassen unddie Gutachten einfach in den Schreibtisch gesteckt.Unsinn ist das Gerede vom Zusatzbeitrag als Grad-messer der Wirtschaftlichkeit aber vor allem, weil für dieKoalition dieser Zuschlag ein zentraler Bestandteil derkünftigen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversi-cherung ist. Ab dem Jahr 2010 soll der Gesundheitsfondsnur noch 95 Prozent der Leistungsausgaben der Kranken-kassen finanzieren müssen. Die restlichen 5 Prozent – dasentspricht nach heutigem Stand einem Betrag von7,5 Milliarden Euro – soll dann über Zusatzbeiträge auf-gebracht werden.Das heißt, weil die Koalition keine vernünftige Finanz-reform der Krankenversicherung hinbekommen hat,greift sie den Versicherten tief in die Tasche. Damit esaber niemand merkt, ruft sie selbst am lautesten: „Haltetden Dieb!“ Dabei werden die Versicherten die Auswir-kungen des Zusatzbeitrags nicht nur in ihren Geldbeutelnspüren. Durch ihre Ratschläge, sich bei der Kassenwahlvor allem an Zusatzbeitrag und Rückerstattung zu orien-tieren, fördert die Bundesregierung eine Schnäppchen-mentalität, die in der Gesundheitsversorgung nichts zusuchen hat. Die Krankenkassen setzt sie damit wiederumunter Druck, die Erhebung des Zusatzbeitrags so langewie nur irgend möglich hinauszuzögern. In den nächstenbeiden Jahren werden die Kassen vor allem darum kon-kurrieren, wer den längsten Atem hat und möglichst langeohne Zuschlag auskommt. Das wird zu einem rigidenSparregime in den Kassen führen. Patientinnen und Pa-tienten, die auf besonders teure Therapien angewiesensind, werden das zu spüren bekommen. Für innovativeVersorgungsformen, die erst einmal Anlaufkosten verur-sachen, wird kein Geld übrig sein.Eine veränderte Grenzziehung zwischen eigenverant-wortlich und solidarisch zu tragenden Lasten kann keinTabu sein. Das gilt auch, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der Linken, für die Reduzierung der Lohnnebenkos-ten. Allerdings muss es dafür gute Gründe geben und diedafür verantwortlichen Politikerinnen und Politiker müs-sen auch bereit sein, für diese Gründe und die von ihnenergriffenen Reformmaßnahmen einzustehen. Das ist beider Gesundheitsreform 2004 der Fall gewesen. Ange-sichts der Situation auf dem Arbeitsmarkt haben wir unsdamals bewusst dafür entschieden, die Parität zu ver-schieben und Selbstbeteiligungen auszubauen. Und wirdhaben diese Reformen damals auch offen vertreten. VielesWeitere ist im Rahmen der Agenda 2010 dazugekommen.Ein Blick auf die Arbeitslosenzahlen zeigt, dass diese Po-litik erfolgreich war.Allerdings ist die Situation heute eine sehr viel andere.Gesundheitsfonds und Zusatzbeitrag sind nicht zustandegekommen angesichts steigender Arbeitslosenzahlen undzu hoher Arbeitskosten. Mit Problemen im Gesundheits-wesen oder in anderen gesellschaftlichen Bereichen ha-ben sie nichts zu tun. Tatsächlich sind sie Ausdruck einerKoalition, die so in ihren inneren Widersprüchen gefan-gen ist, dass sie sich nur noch mit sich selbst beschäftigt.Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass diese Re-form der Koalition so peinlich ist, dass sie es nicht gewe-sen sein will.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 16/10318 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Gesundheit und zur Mitberatung an
den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie sowie an
den Ausschuss für Arbeit und Soziales zu überweisen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren
Wettbewerb
– Drucksache 16/10145 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Dr. Günter Krings, CDU/CSU, Dirk Manzewski, SPD,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP, Ulla Lötzer,
Die Linke, Nicole Maisch, Bündnis 90/Die Grünen, und
des Parlamentarischen Staatssekretärs Alfred
Hartenbach.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/10145 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck , Winfried Nachtwei, Marieluise
Beck , weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für klare menschen- und völkerrechtliche
Bindungen bei Auslandseinsätzen der Bundes-
wehr
– Drucksache 16/8402 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Holger
Haibach, CDU/CSU, Christoph Strässer, SPD, Florian
Toncar, FDP, Dr. Norman Paech, Die Linke, Volker Beck
, Bündnis 90/Die Grünen, und des fraktionslosen
Gert Winkelmeier.
1) Anlage 14
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(D)
Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr leisten seitvielen Jahren in Auslandseinsätzen einen wichtigen Bei-trag nicht nur für die Sicherheit Deutschlands, sondernauch für den Schutz der Menschenrechte. Sie nehmen teilan humanitären und friedenssichernden Missionen undsorgen durch ihre Präsenz für den notwendigen Schutz,der in einer Krisenregion erst die unabdingbaren Voraus-setzungen für den Wiederaufbau schafft: Stabilität und Si-cherheit! Dafür gebührt ihnen unser tief empfundenerDank.Militärisches Handeln findet allerdings nicht im luft-leeren Raum statt. Das bedeutet, dass das Handeln vonSoldatinnen und Soldaten von verschiedenen Faktorenabhängig ist: vom Einsatzgebiet, von der Aufgabenstel-lung und nicht zuletzt von den anderen Akteuren vor Ort –ob feindlich, freundlich oder neutral. Militärisches Han-deln wird schließlich nicht alleine von der Bundeswehrgeleistet, sondern in der Regel in Zusammenarbeit mitanderen Partnern im Rahmen der UN, der EU oder derNATO.Vor diesem Hintergrund entstehen neue Fragestellun-gen und Probleme, die der Antrag, den wir heute debat-tieren, aufgreift. Diese Fragestellungen sind auch des-halb wichtig, weil die Bundeswehr über mehr als vierJahrzehnte nicht in Auslandseinsätze eingebunden warund sich somit viele Fragen bis Mitte der 90er-Jahre ein-fach nicht gestellt haben.Ich möchte in diesem Zusammenhang eine Bemerkungvorausschicken: Jeder militärische Einsatz, der auf denSchutz der Menschenrechte zielt, verliert in dem Augen-blick dramatisch an Legitimation, in dem die militärischHandelnden Mittel und Wege nutzen, die den Men-schrechten zuwiderlaufen. Schon aus dieser Erwägungheraus – ohne auf die zwingende moralische Notwendig-keit zur Einhaltung der Menschenrechte einzugehen –muss sich das Handeln der internationalen Staatenge-meinschaft und damit eben auch der Bundeswehr an men-schenrechtlichen Standards orientieren. Ich bin der festenÜberzeugung, dass der Bundesverteidigungsminister, diemilitärische Führung der Bundeswehr und auch die Sol-datinnen und Soldaten sich dieser Tatsache bewusst sindund auch in den allermeisten Fällen danach ihr Handelnausrichten.Es ist jedoch nicht zu bestreiten, dass es in der Vergan-genheit vereinzelt zu nicht hinnehmbaren Verletzungendieser Prinzipien gekommen ist. Diese müssen aufgeklärtund die Ursachen hierfür beseitigt werden. Es ist mir al-lerdings wichtig, darauf hinzuweisen, dass es sich tat-sächlich um Einzelfälle und nicht um ein „Massenphäno-men“ handelt.Dennoch hat der vorliegende Antrag insofern seineBerechtigung, als er die Schwerpunkte anspricht, die fürein an menschenrechtlichen Standards orientiertes Han-deln entscheidend sind: entsprechende Ausbildung, klareBefehlsstrukturen und ebenso klare Vorgaben für das Ver-halten im Einsatz. Allerdings versucht der Antrag, denAnschein zu erwecken, diese Punkte seien bisher ver-nachlässigt oder gar nicht beachtet worden. Und diesenVersuch kann man getrost und mit guten Gründen als ge-scheitert ansehen.Zu ProtokollGehen wir die Punkte im Einzelnen durch: „Klarheitüber die menschen- und völkerrechtlichen Bindungen unddie Grenzen des zulässigen Vorgehens bei Auslandsein-sätzen zu schaffen“, wie es der erste Punkt Ihres Antragsfordert, ist doch mindestens genauso eine Herausforde-rung an den Deutschen Bundestag wie an die Bundesre-gierung. Wenn dem nicht so wäre, dann hätten wir als Ab-geordnete im Rahmen der Mandatsverlängerung, aberauch im Rahmen unserer Mitwirkungsrechte im Wege desParlamentsbeteiligungsgesetzes unsere Arbeit schlechtgemacht. Diesen Eindruck habe ich aber vor dem Hinter-grund der intensiven, oft kritischen Debatten in diesemHaus und der noch intensiveren Arbeit in den beteiligtenAusschüssen nicht.Sie fordern weiterhin, dass Soldatinnen und Soldatenbei Auslandseinsätzen nicht durch Befehle Vorgesetzter ineine Lage gebracht werden sollen, in der sie zu Handlun-gen angehalten werden, die völker- und menschenrechtli-chen Standards widersprechen. Diese Forderung ist, sorichtig sie sein mag, doch ein wenig banal. Das Verbotvon Befehlen, die gesetzlichen Bestimmungen zuwider-laufen, ist ein alt hergebrachter Grundsatz der Bundes-wehr und gilt im In- wie im Ausland. Das soll nicht hei-ßen, dass es solche Fälle nicht hin und wieder gibt. Aberdie Regelungen, die solches verbieten, gibt es eben auch.Ich verweise hier nur auf § 10 Abs. 4 des Soldatengeset-zes, der es deutschen Soldaten verbietet, strafrechtswid-rige Befehle anzunehmen und auszuführen. Konkret heißtes: „Er darf Befehle nur zu dienstlichenZwecken und nur unter Beachtung der Regeln des Völker-rechts, der Gesetze und der Dienstvorschriften erteilen.“Hier wird das Völkerrecht ausdrücklich erwähnt.Im Übrigen will ich an dieser Stelle betonen und deut-lich machen, dass die Bundeswehr schon seit langer Zeitihre Soldatinnen und Soldaten intensiv auf Auslandsein-sätze vorbereitet und dass dabei der Aspekt „Einhaltungvon menschenrechtlichen und völkerrechtlichen Stan-dards“ eine wichtige Rolle spielt. Ich möchte in diesemZusammenhang auf das VN-Ausbildungszentrum derBundeswehr in Hammelburg verweisen. Da diese Ein-richtung über eine Homepage verfügt, kann man sich imInternet über die Aktivitäten informieren, die unternom-men werden, um militärisches und ziviles Personal fürEinsätze im Rahmen der UN zu schulen. Dabei kann manauch feststellen, dass es eine intensive Zusammenarbeitauch mit Institutionen der Zivilgesellschaft und auch mitdem Zentrum für internationale Friedenseinsätze gibt. In-sofern werden hier unter anderem genau die Inhalte ver-mittelt, die in dem vorliegenden Antrag eingefordert wer-den.Darüber hinaus werden die Einsatzkräfte auch mit so-genannten Taschenkarten ausgestattet, die ihnen in Kurz-form im Einsatzfall als Informationsquelle über die Gren-zen ihres Handelns zur Verfügung stehen.Für uns als CDU/CSU-Fraktion ist klar, dass wir dieEinsätze der Bundeswehr und das Verhalten der Soldatin-nen und Soldaten immer im Einklang mit den Standardsdes Völkerrechts und der Menschenrechte sehen wollen.Dass dies, besonders bei dem letztem Punkt, den der An-trag erwähnt, nämlich der Zusammenarbeit mit anderen
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19152 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Holger Haibachmilitärischen Verbänden aus anderen Nationen, manch-mal zu schwierigen Situationen geführt hat und vielleichtauch führen wird, ist klar. Aber auch hier sollten wir unsdavor hüten, Verbündete sozusagen unter Generalver-dacht zu stellen, auch wenn bestimmte Vorfälle in der Ver-gangenheit Besorgnis erregt haben.Die Verantwortung, die Bundeswehr im Rahmen desVölkerrechts und in Übereinstimmung mit menschen-rechtlichen Standards operieren zu lassen, sehen wir ingleicher Weise wie die Antragsteller. Der Eindruck, hierwerde zu wenig getan, wird aber von uns nicht geteilt.Schließlich haben wir als Parlament die Verantwortung,Ja oder Nein zu sagen zu einem Einsatz. Diese Verant-wortung schließt die Prüfung der Frage mit ein, ob der je-weilige Einsatz vertretbar ist und im Einklang mit denoben genannten Grundsätzen steht.
Die Bundesrepublik Deutschland ist seit vielen JahrenVollmitglied der Vereinten Nationen. Mit dem Beitritt ha-ben wir die Geltung der Charta anerkannt, und zwar ins-gesamt und nicht nur in Teilbereichen. Anerkannt habenwir damit auch Kapitel VII, wonach bei „Bedrohung“oder einem „Bruch des Friedens oder einer Angriffs-handlung“ auch militärische Sanktionsmaßnahmen nachArt. 42 durchgeführt werten können, wenn andere Maß-nahmen nach Art. 41 VN-Charta unzulänglich sind odersein würden. Unter diesen Obliegenheiten muss auchDeutschland sich der Verantwortung als Mitglied derVereinten Nationen stellen und bei Vorliegen der völker-rechtlichen Voraussetzungen politisch entscheiden, obund in welchem Umfang nach entsprechender Anforde-rung die Bundeswehr sich an derartigen friedenssichern-den Maßnahmen der Vereinten Nationen beteiligt. Dieeinfache wie populistische Forderung „Keine Auslands-einsätze der Bundeswehr“ ist insofern verantwortungs-los, die Bundeswehr ist fester Bestandteil internationalerBündnissysteme.Sie übernimmt seit Jahren wichtige internationale Ver-antwortung und leistet mit ihren Auslandseinsätzen einenwichtigen Beitrag zur Friedenssicherung in Krisenregio-nen. Sie unterstützt die Vereinten Nationen bei der Wah-rung der Menschenrechte, bei der Herstellung undWahrung der Sicherheit in Krisengebieten und schafft da-mit Räume für zivile Organisationen bei der Auslieferunghumanitärer Hilfsgüter und zum zivilen Wiederaufbau.Dabei finden militärische Einsätze nicht in rechtsfreienRäumen statt. Im Zentrum jedes Einsatzes muss die Wah-rung der Menschenrechte stehen, wie sie sich aus denGrundsätzen des humanitären Völkerrechts, aber auchaus den Wertentscheidungen unseres Grundgesetzes er-geben. Sicherheitspolitik kann nur dann glaubwürdigsein, wenn sie bereit und fähig ist, Freiheit und Men-schenrechte auch durchzusetzen – und vor allem auchselbst danach zu handeln.Deshalb geht die grundsätzliche Stoßrichtung des An-trages auch unter dem Aspekt einer notwendigen sachlichund öffentlich geführten Debatte zu diesem Thema inOrdnung. Wir müssen uns in Zukunft verstärkt die Fragenstellen: Wie weit reichen die Menschenrechtsverpflich-Zu Protokolltungen der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen? Wie wer-den die Soldaten informiert und geschult? Wie kann dieEinhaltung der Verpflichtungen kontrolliert werden? Dassind Fragen, mit denen sich die zuständigen Ressorts undder Deutsche Bundestag weiter zu beschäftigen haben.Vor einigen Monaten berichtete das Magazin „DerSpiegel“ von einem Einsatz der Krisenreaktionkräfte inAfghanistan. Die Einheit sollte einen Taliban-Komman-deur dingfest machen, auf dessen Konto eine Reihe vonSprengfallen ging. Er wurde ausfindig gemacht, die Ope-ration wochenlang geplant. Kurz vor dem Zugriff wurdendie Pläne entdeckt. Der Verdächtige entkam, obwohl erhätte getötet werden können. Deutsche Soldaten beteili-gen sich nicht am Targeting – dem gezielten Ausschaltenvon Feinden. Andere Nationen sehen das anders, wasdurchaus zu Reibungspunkten und Zielkonflikten führt.Die deutschen Soldaten brauchen Klarheit und Rechts-sicherheit für ihr Handeln. Das gilt auch für die Gewahr-sam- und Festnahme von Personen. Wie lange dürfendiese festgehalten werden, wem dürfen sie übergebenwerden, welche Regeln gelten? Nach einem von AmnestyInternational vorgelegten Afghanistan-Report sei zumBeispiel nicht auszuschließen, dass überstellte Personenvon afghanischer Seite misshandelt würden. Aus diesemGrunde wird derzeit auch ein Abkommen zwischenDeutschland und Afghanistan vorbereitet, um sicherzu-stellen, dass an staatliche afghanische Behörden zu über-gebende Personen nach den internationalen und vertrag-lichen menschenrechtlichen Verpflichtungen behandeltwerden und die Todesstrafe nicht an ihnen vollstrecktwird. Dies ist zur Herstellung von Rechtssicherheit drin-gend erforderlich, sogenannte Diplomatische Zusiche-rungen reichen hierfür nach meinem Verständnis nichtaus.Die Verpflichtung auf das Grundgesetz war und ist ei-nes der Gründungsprinzipien der Bundeswehr. Bundes-wehrsoldaten sind wie jeder andere Bürger auch denWerten des Grundgesetzes verpflichtet – auch bei Aus-landseinsätzen. Es gibt keinen begründeten Zweifel da-ran, dass die Bundeswehr nicht alles unternimmt, die Ein-haltung des Völkerrechts und der Menschenrechte zugewährleisten. Die Ausrichtung ihres Handelns an dieEinhaltung der elementaren Menschenrechte gehört zumSelbstverständnis der Soldatinnen und Soldaten. Gleich-zeitig stellt der „Staatsbürger in Uniform“ den demokra-tischen Gegenentwurf zum unkritischen Befehlsempfän-ger dar.Dabei sind zwei Ebenen zu unterscheiden – zum einendie Ebene der dienstrechtlichen Vorgaben, zum anderendie Ebene des höherrangigen Rechts. Die Soldatinnenund Soldaten werden im Rahmen ihrer Ausbildung, ein-satzlandspezifisch vor jedem Auslandseinsatz und auchwährend des Einsatzes über die Grundlagen des Huma-nitären Völkerrechts und des Internationalen Rechts aus-gebildet. Auf die allgemeinen und besonderen Bestim-mungen beim Festhalten oder Festnehmen von Personenwird in den sogenannten Taschenkarten, die den Soldatin-nen und Soldaten zur Verfügung gestellt werden, ein-gegangen. Die Rechtsgarantien für Personen, die beiAuslandseinsätzen der Bundeswehr in Gewahrsam ge-nommen werden, wurden unter anderem in einem Befehl
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19153
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Christoph Strässervom 26. April 2007 im Einzelnen aufgeführt. Doch letzt-lich stellen die zentralen Dienstvorschriften der Bundes-wehr eine untergesetzliche Normbasis ohne Außenwir-kung dar.Deshalb bleibt weiter zu fragen, inwieweit auf derEbene des höherrangigen Rechts Grundrechte aus demGrundgesetz oder völkerrechtliche Verpflichtungen wiedie Europäische Konvention zum Schutz der Menschen-rechte oder der Internationale Pakt über bürgerliche undpolitische Rechte mittelbar oder besser unmittelbar An-wendung finden.Die Bundesregierung erklärt dazu, bei Einsätzen derBundeswehr im Ausland, insbesondere auch im Rahmenvon Friedensmissionen, sichere Deutschland allen Per-sonen, soweit sie der Herrschaftsgewalt der Bundeswehrunterstehen, die Gewährung der im Zivilpakt anerkann-ten Rechte zu. Diese Erklärung stößt bei großen Teilender Nichtregierungsorganisationen zu Recht auf Kritik.Juristisch spitzfindig verberge sich hinter der Erklärungnur eine Zusicherung der Paktrechte. Im Umkehrschlusskönne man daraus schließen, dass die völkerrechtlichenRegelungen eigentlich keine unmittelbare Anwendungfänden, man sich aber freiwillig bereit erkläre, sie anzu-wenden. Außerdem würden die Rechte nur Personenzugesichert, die der deutschen Herrschaftsgewalt unter-stehen. Die Bundesregierung vertrete die Auffassung, dieBundeswehr übe ausschließlich Hoheitsgewalt der Ver-einten Nationen aus, wenn sie im Rahmen eines Mandatsdes Sicherheitsrates handele, sodass die Grundrechte, dieEMRK und der Zivilpakt keine Anwendung fänden. Dennauf Handlungen der Vereinten Nationen finden insbeson-dere internationale Menschenrechtsabkommen keine An-wendung, weil nur Staaten Vertragspartner dieser Über-einkommen sind. In diesem Fall würde nur das zwingendeVölkerrecht gelten, dessen Schutzstandard unter dem derMenschenrechtsabkommen liegt. Eine solche Positionie-rung halte ich für unzureichend, relativiert sie doch denCharakter und die Verbindlichkeit der von uns ratifizier-ten Übereinkommen.Gerade in den Rechtswissenschaften finden auch an-dere Auslegungen Gehör. Für Einsätze der Bundeswehrnach Art. 24 Abs. 2 GG, der für internationale Organisa-tionen wie die Vereinten Nationen gilt, dürfen keine Ho-heitsrechte vollständig übertragen werden. Beim Einsatzmultinationaler Kontingente übertragen die Entsende-staaten nicht die vollständige Kommandogewalt. AuchBundesregierung und Bundestag gehen schließlich davonaus, dass sie das Recht haben, für Auslandseinsätze derBundeswehr nationale Bedingungen und Beschränkun-gen vorzusehen. Neben dem Mandat der Vereinten Natio-nen existiert also auch ein nationales Mandat. Es gelteeine Mehrebenenverantwortlichkeit. Aus diesem Grundbestehe kein Anlass, die Grundrechte des Grundgesetzesauf extraterritoriale Handlungen der Bundeswehr nichtanzuwenden. Die Solange-Entscheidung des Bundesver-fassungsgerichts und die Bosphorus-Entscheidung desEuropäischen Gerichtshofes für Menschenrechte lassenes sogar geboten erscheinen, jeweils zu überprüfen, ob inmaterieller Hinsicht ein vergleichbarer Grundrechts-schutz besteht. Es bleibt zu überprüfen, ob und inwieweitkontextbezogen Modifikationen des Schutzumfanges zu-Zu Protokolllässig sind. Modifikationen können sich im Rahmen derVerhältnismäßigkeitsprüfung oder mit Blick auf diepraktische Konkordanz im Widerstreit mit anderenGrundrechten und Verfassungsgütern ergeben. Doch imErgebnis gilt die Verpflichtung der Gewährleistung deshöchstmöglichen Schutzniveaus, und zwar verbindlichund ausnahmslos.Ein weiterer zentraler Punkt ist die unmittelbare An-wendbarkeit der Europäischen Menschenrechtskonven-tion und des Zivilpaktes. Im Fall Saramati hat der EGMRentschieden, die Menschenrechtskonvention sei nicht an-wendbar, weil nationale Kontingente bei Friedensmissio-nen der Vereinten Nationen ausschließlich deren Hoheits-rechte ausüben wurden. Die Entscheidung wurde zuRecht mit Verwunderung aufgenommen, da das Gerichtzum einen nicht die Frage aufwarf, ob nationale Kontin-gente parallel auch nationale Hoheitsgewalt ausüben,zum anderen weil der Gerichtshof von seiner eigenenRechtsprechung abwich, wonach es bei der Anwendungder Menschenrechtskonvention bleibt, wenn ansonstenkein gleichwertiger Menschenrechtsschutz gewährleistetwäre. Aus der Intension der Konvention heraus dürfe keinschutzloser menschenrechtsfreier Raum geduldet werden.Die aktuelle Debatte in der Zivilgesellschaft undFachöffentlichkeit zeigt, dass noch nicht auf alle Fragenund Herausforderungen die abschließenden Antwortengefunden wurden, weder von juristischer Seite, was auchauf sich widersprechende Urteile der nationalen und in-ternationalen Gerichte zurückzuführen ist, noch vonpolitischer Seite. Richtig ist es, auf konkrete Fragen imRahmen jeden Einsatzes auch pragmatische Antwortenzu suchen, wie die Verhandlungen mit der afghanischenRegierung über ein Abkommen zur Überstellung festge-nommener Personen. In der Fachöffentlichkeit ist in derDiskussion den verfahrensrechtlichen Schwierigkeitenbei vorübergehend festgehaltenen Personen und der ge-gebenenfalls gebotenen Richtervorführung mit einer Zu-ordnung von Richtern im Einsatzgebiet oder der Möglich-keit der Videokonferenz zu begegnen. Gleichzeitig gilt esaber auch, quasi auf der Metaebene die menschen- undvölkerrechtlichen Rahmenbedingungen weiter zu konkre-tisieren. Dazu gehören sicherlich auch die Überlegungeneiner expliziten Verankerung der Menschenrechte in denMandaten der Vereinten Nationen und des Bundestages,ein Weg, den ich vom Ansatz her nachdrücklich befür-worte. Grundsätzlich bin ich auch der Auffassung: je kon-kreter die Mandatierung erfolgt, je mehr Wert auf den zi-vilen Wiederaufbau, auf Nation Building und CapacityBuilding gelegt wird, je konkreter die MenschenrechteVerankerung finden, desto besser.In diesem Zusammenhang möchte ich noch abschlie-ßend darauf hinweisen, dass der Ausschuss für Men-schenrechte und Humanitäre Hilfe anlässlich des 60. Jah-restages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechteplant, im Dezember eine Anhörung zum Thema „Men-schenrechte und extraterritoriale Staatenpflichten“durchzuführen. Das Thema bleibt also auf der politischenAgenda, ich freue mich auf eine sachgerechte und ange-messene Debatte in den Ausschüssen. Alle Beteiligten,insbesondere auch die Soldatinnen und Soldaten, die insolchen Einsätzen viel riskieren müssen, haben Anspruch
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19154 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
gegebene Reden
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Christoph Strässerauf Klarheit und Rechtssicherheit. Den kann nur diePolitik schaffen.
Der vorliegende Antrag lenkt die Aufmerksamkeit aufdie Frage, welche völker- und menschenrechtlichenGrundsätze die Soldaten der Bundeswehr bei Auslands-einsätzen binden. Damit soll sichergestellt werden, dassdie Soldaten die Menschenrechte der Bevölkerung imEinsatzland achten. Zudem soll die Truppe klare Hand-lungsanweisungen erhalten, um zu verhindern, dass dieSoldaten möglicherweise an Aktionen beteiligt werden,die ihr Mandat überschreiten und für die sie später zurRechenschaft gezogen werden. Die Sicherstellung beiderZiele ist unerlässlich, um die Unterstützung der Bevölke-rungen für die Präsenz der Bundeswehr in Einsatzgebie-ten zu bewahren und so zur Sicherheit der Soldaten bei-zutragen.Auch wenn der vorliegende Antrag sich mit einerwichtigen Thematik befasst, wählen die Grünen leider ei-nen Zungenschlag, der dem engagierten Verhalten derdeutschen Soldaten nicht gerecht wird. Der Antrag im-pliziert ein breites Fehlverhalten der Bundeswehr beiAuslandseinsätzen. Die Formulierungen erwecken denEindruck, als ob die Soldaten ohne menschen- und völker-rechtliche Bindungen bei Auslandseinsätzen vorgehenwürden. Ferner unterstellen sie, dass bei Auslandseinsät-zen grund- und menschenrechtliche Verpflichtungen nichteingehalten werden und Soldaten möglicherweise zuHandlungen angeleitet werden, für die sie später straf-rechtlich belangt werden können. Diese Prämissen treffennicht zu. Richtig ist jedoch, dass der Dienstherr in einigenFällen in seiner Befehlslage Unklarheit für die Soldatengeschaffen hat, die behoben werden müssen.Zur Rechtslage ist zu sagen, dass die Soldaten derBundeswehr wie alle anderen deutschen Bürger an dasdeutsche Grundgesetz gebunden sind, in dem es in Art. 1Abs. 1 GG heißt: „Die Würde des Menschen ist unantast-bar“. Bedeutsam ist auch, dass die Bundeswehr als Teilder deutschen öffentlichen Gewalt bei Handlungen imAusland nicht nur den Verpflichtungen der völkerrecht-lich normierten Menschenrechte unterliegt, sondern auchin die durch Art. 1 Abs. 3 GG normierte Bindung an diedeutschen Grundrechte einbezogen ist.Die Antragssteller führen am Anfang des Begrün-dungsteils treffend aus: „Auslandseinsätze der Bundes-wehr sind zwingend an das Völkerrecht und die Men-schenrechte gebunden“. Seit ihrer Gründung gilt für dieSoldaten der Bundeswehr, dass Befehlen, die das huma-nitäre Völkerrecht verletzen, nicht Folge zu leisten ist.Dabei ist weder die Erteilung solcher Befehle noch ihreAusführung erlaubt.Ich möchte an dieser Stelle unterstreichen, dass dasVerhalten der deutschen Soldaten bei Auslandseinsätzenden grund- und völkerrechtlichen Verpflichtungen ge-recht wird. Vereinzelte Fälle von individuellem Fehlver-halten sind konsequent geahndet worden.In der Befehlslage hat das Bundesministerium der Ver-teidigung jedoch nicht immer die notwendige SorgfaltZu Protokollwalten lassen. Dazu möchte ich Ihnen ein Beispiel geben:Das Bundesverteidigungsministerium stellt den Soldatenwichtige Informationen oder Merksätze in Form von so-genannten Taschenkarten zur Verfügung. Dies sind kom-pakte Faltblättchen, welche die Soldaten griffbereit beisich tragen sollen. In der 2006-er Ausgabe der Taschen-karte mit dem Titel „Humanitäres Völkerrecht in bewaff-neten Konflikten“ wurde die Anweisung, dass die Solda-ten der Bundeswehr die Regeln des humanitärenVölkerrechts zu beachten haben, durch den Zusatz „so-weit praktisch möglich“ eingeschränkt. Solche Fehlerdürfen nicht vorkommen. Das Verteidigungsministeriumersetzte diese Textfassung im Juni 2008 durch eine For-mulierung, die die vorbehaltlose Geltung des humanitä-ren Völkerrechts wieder festschreibt.Der Antrag der Grünen geht auch auf die Behandlungvon festgenommenen Personen durch die Bundeswehrein. Das Bundesministerium der Verteidigung hat letzt-malig durch den Befehl vom 26. April 2007 die Behand-lung von Gefangenen durch die Bundeswehr geregelt.Mit diesem Befehl reagierte die Bundesregierung auf ei-nen Antrag der FDP-Bundestagsfraktion auf Drucksa-che 16/2096 vom 30. Juni 2006. Es waren die Liberalen,die sich bereits vor über zwei Jahren mit diesem Themen-komplex befasst haben. Insofern hinken die Grünen derDebatte deutlich hinterher. Der Befehl des Ministeriumslegt die menschenrechtskonforme Behandlung von Ge-fangenen fest. Da die Bundeswehr in Afghanistan keineGefängnisse betreibt, werden Gefangene bisher an dieörtlichen Behörden überstellt. Der angesprochene Befehllegt dazu fest: „Die Übergabe der in Gewahrsam genom-menen Personen an Sicherheitskräfte aus Drittstaaten istuntersagt, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass dieBeachtung menschenrechtlicher Mindeststandards nichtgewährleistet ist.“ Auch wenn der angesprochene Befehleinen Fortschritt bedeutet, besteht ein Defizit fort. So ver-lässt sich die Bundesregierung bei Überstellungen vonGefangenen weiterhin auf diplomatische Versicherungendes Empfängerstaates, anstatt sich durch regelmäßige,unangekündigte Kontrollbesuche ein eigenes Bild überdie Haftbedingungen von überstellten Gefangenen zu ma-chen. Also besteht hier noch Verbesserungsbedarf. Aufdieses Defizit zielt der vorliegende Antrag der Grünen je-doch leider nicht ab.In der Summe erweckt der Antrag der Grünen den Ein-druck, dass die Einsätze der Bundeswehr nicht in einemklaren menschen- und völkerrechtlichen Rahmen statt-fänden. Ferner seien die Soldaten der Gefahr ausgesetzt,zu Handlungen herangezogen zu werden, für die sie spä-ter strafrechtlich belangt werden könnten. Diese von denAntragsstellern vermutete rechtswidrige Praxis existiertso nicht. Daher zielt der Kern des Antrags ins Leere.Dennoch muss das Bundesministerium der Verteidi-gung weitere Verbesserungen in der konkreten Befehlslagevornehmen. Dies gilt insbesondere für die Sicherstellungder rechtsstaatlichen Behandlung von Gefangenen nachÜberstellungen durch deutsche Stellen im Ausland. DieFDP hat auf diese Lücke bereits vor zwei Jahren aufmerk-sam gemacht.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19155
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Florian ToncarDer in dem Antrag enthaltene Zungenschlag ist einsprachlicher Duktus, der dem pflichtbewussten und enga-gierten Einsatz unserer Soldaten nicht gerecht wird. Da-her lehnen wir diesen Antrag der Grünen ab.
In ihrem Antrag fordert die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen menschen- und völkerrechtliche Standards für
die Einsatzregeln der Bundeswehrsoldaten in Auslands-
einsätzen. Diese müssen aber nicht nur mit dem Men-
schen- und Völkerrecht, sondern auch mit dem Grundge-
setz vereinbar sein. Ebenfalls soll die Bundesregierung
sich verpflichten, ihre Soldatinnen und Soldaten vor Ein-
sätzen, die mit den Menschen- und Völkerrechten sowie
mit dem Grundgesetz nicht kompatibel sind, zu bewahren.
Das findet in vielen Punkten unsere Zustimmung. Al-
lerdings gibt es einen zentralen Punkt, der unserer Auf-
fassung nach fehlt: die generelle Vereinbarkeit von Aus-
landseinsätzen mit dem Völkerrecht. So fordert Die Linke
seit langem, dass Auslandseinsätze nur dann gestattet
werden, wenn sie völkerrechtskonform sind. Leider war
und ist dies bis dato nicht immer der Fall. Sie erinnern
sich nicht gerne daran: Aber die Bombardierung Jugos-
lawiens war ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht.
Der damalige Außenminister Fischer hat seinerzeit mit
dem untauglichen Argument der sogenannten humanitä-
ren Intervention versucht, den Überfall völkerrechtlich zu
rechtfertigen. Es lag jedoch weder ein Fall der Selbstver-
teidigung noch ein Mandat des UN-Sicherheitsrats vor.
Das war eine dreiste Verletzung des Völkerrechts. Die
NATO hat Soldatinnen und Soldaten in einen völker-
rechtswidrigen Krieg geschickt, in dem zudem zahlreiche
Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung begangen
wurden.
Aber auch der gegenwärtige Einsatz im Rahmen des
Antiterrorkampfes der OEF in Afghanistan ist völker-
rechtlich nicht gedeckt. Auch wenn man mit Art. 51 der
UN-Charta argumentiert – nach sieben Jahre Besatzung
in Afghanistan ist der Verteidigungsfall längst hinfällig
geworden.
Und selbst die indirekte Beteiligung der Bundeswehr
am Irakkrieg ist völkerrechtlich nicht gedeckt. Das Bun-
desverwaltungsgericht hat im Fall Pfaff eindeutig bestä-
tigt, dass die Unterstützungsleistung gegen das Völker-
recht verstieß. Das BVerwG sagt in seinen Leitsätzen sehr
deutlich, ich zitiere:
6. … Für den Krieg konnten sich die Regierungen
der USA und des UK weder auf sie ermächtigende
Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates noch auf das in
Art. 51 UN-Charta gewährleistete Selbstverteidi-
gungsrecht stützen.
7. Weder der NATO-Vertrag, das NATO-Truppen-
statut, das Zusatzabkommen zum NATO-Truppen-
statut noch der Aufenthaltsvertrag sehen eine Ver-
pflichtung der Bundesrepublik Deutschland vor,
entgegen der UN-Charta und dem geltenden Völ-
kerrecht völkerrechtswidrige Handlungen von
NATO-Partnern zu unterstützen.
Wenn ein Auslandseinsatz der Bundeswehr völker-
rechtskonform ist, so müssen es auch die Regeln für die
Zu Protokoll
Soldatinnen und Soldaten sein. So wird in dem Antrag
richtig festgestellt, dass es der Bundesregierung bisher
nicht gelungen ist, „die menschen- und völkerrechtlichen
Grenzen und Bindungen bei Auslandseinsätzen klar zu
definieren und erlaubtes von unerlaubtem Handeln deut-
lich abzugrenzen.“ Die Soldatinnen und Soldaten der
Bundeswehr sind zwar mit einer sogenannten Taschen-
karte ausgestattet, aber diese lässt genug Spielräume, das
humanitäre Völkerrecht zu brechen. Deutsche Soldatin-
nen und Soldaten laufen deshalb permanent Gefahr, das
humanitäre Völkerrecht zu brechen: bei Gefangennah-
men und bei der Behandlung von Gefangenen, mit der
Auslieferung von Gefangenen an Dritte und mit den Auf-
klärungsflügen. Die Kriegsführung der USA in Afghanis-
tan hat schon seit langem und in unerträglichem Maße
die Regeln des humanitären Völkerrechts verletzt. Und je
tiefer sich die Bundeswehr in diesen Krieg hineinziehen
lässt, umso stärker läuft sie Gefahr, sich in die gleiche
völkerrechtswidrige Kampfführung zu verstricken.
Nach dem humanitären Völkerrecht sollte bei jedem
Einsatz der Schutz der Zivilbevölkerung oberstes Gebot
sein. Dies ist oft nicht der Fall, wie wir in Afghanistan fast
täglich sehen. Bundesregierung und NATO sprechen von
Kollateralschäden, wenn sie Tote in der Zivilbevölke-
rung, die Zerstörung von Krankenhäusern und wichtiger
Infrastruktur meinen. Dies ist nicht nur eine zynische Ver-
harmlosung, sondern auch eine Verschleierung der Tat-
sache, dass diese Kampfeinsätze sich außerhalb des Völ-
kerrechts bewegen.
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ver-
fehlt zwar unserer Meinung nach das Kernproblem von
Auslandseinsätzen und sogenannten Friedensmissionen.
Dennoch ist es schon ein Fortschritt, dass er sich mit den
Einsatzregeln für Soldatinnen und Soldaten auseinander-
setzt und die Bundesregierung auffordert, hier Klarheit zu
schaffen. Dies verlangt der vorliegende Antrag, und er
findet deshalb unsere Zustimmung.
Es ist schon bemerkenswert, dass wir die Bundesregie-rung auffordern müssen, endlich Klarheit über die men-schen- und völkerrechtlichen Bindungen bei Auslands-einsätzen der Bundeswehr zu schaffen. Auslandseinsätzeder Bundeswehr – auch schwierige und gefahrvolle – fin-den ja schon seit einigen Jahren statt. Erst in den vergan-genen Woche haben wir die Verlängerung der deutschenBeteiligung an den UN-Einsätzen im Sudan und vor derlibanesischen Küste beschlossen. Die Beratung über dieVerlängerung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistansteht im kommenden Monat an.Umso beachtlicher ist es, dass es weiterhin keine Klar-heit über den rechtlichen Rahmen dieser Einsätze gibt.Dies stellt nicht nur der Bundesregierung ein Armuts-zeugnis aus, sondern auch die beteiligten Soldaten vorgroße Probleme.Nach Art. 1 des Grundgesetzes binden die Grund-rechte die vollziehende Gewalt, also auch die Streitkräfte,und zwar auch, soweit die Wirkungen ihrer Betätigung imAusland eintreten. Einen territorialen Vorbehalt kenntdas Grundgesetz nicht. Diese Feststellung ist auch in ei-
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19156 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Volker Beck
nem anderen aktuellen Kontext von Bedeutung: Bei Ein-sätzen außerhalb des deutschen Staatsgebiets, beispiels-weise auf Hoher See im Rahmen von FRONTEX zurAbwehr unerwünschter Zuwanderung.Im Hinblick auf den Einsatz der Bundeswehr im Aus-land geht es um ganz konkrete Sachverhalte von großerpraktischer Relevanz: Dürfen Personen festgenommenund festgehalten werden? Wenn ja, auf welcher Rechts-grundlage und für welche Dauer? Wie steht es mit demGesetzesvorbehalt und dem Richtervorbehalt? DürfenFestgenommene an andere Institutionen überstellt wer-den? Insbesondere letztere Frage stellt sich aktuell in Af-ghanistan, wenn Personen an den afghanischen Geheim-dienst überstellt werden. Wie will die Bundesregierungsicherstellen, dass sie nicht gefoltert werden, ein fairesGerichtsverfahren erhalten und nicht zum Tode verurteiltund hingerichtet werden? Denn eines muss unmissver-ständlich klar sein: Jegliche deutsche Unterstützungs-leistungen – auch unterhalb der direkten Übergabe selbstergriffener Verdächtiger – begründen im Falle von Ver-stößen gegen die Menschenrechte eine Mitverantwor-tung. Deutsche staatliche Gewalt darf keine Beihilfe zurFolter oder unrechtmäßiger Inhaftierung leisten!Der Untersuchungsausschuss zu Murat Kurnaz unddem Einsatz der KSK in Afghanistan im Jahre 2002 hat inder vergangenen Woche seine abschließende Sitzung ab-gehalten. Sein Bericht wird uns hier im Hause noch be-schäftigen. Schon jetzt lässt sich aber sagen: Der Aus-schuss hat die Erkenntnis zu Tage gefördert, dass dieSondereinsatzkräfte damals nach Afghanistan beordertwurden, ohne dass diese Fragen auch nur ansatzweisegeklärt waren. Das hat zu den bekannten Problemen ge-führt, unter anderem dem fragwürdigen Einsatz deut-scher Soldaten bei der Bewachung von Personen, die imUS-Gefangenenlager in Kandahar interniert wurden, be-vor sie widerrechtlich nach Guantanamo verschlepptwurden.Erst im Jahre 2007 wurden durch einen Befehl des Ver-teidigungsministeriums grundlegende Handlungsanwei-sungen an die Soldaten gegeben: Festgenommene sindmenschlich zu behandeln, müssen versorgt und dürfennicht gefoltert werden.So begrüßenswert wie selbstverständlich diese Anwei-sungen sind, fällt doch auf, dass sie jegliche Bezugnahmeauf die Grundrechte des Grundgesetzes, die EuropäischeMenschenrechtskonvention oder Normen deshumanitären Völkerrechts vermeiden. Dadurch wird dieUnsicherheft darüber, welchem Rechtsregime das Han-deln unterliegt, eher noch vergrößert. Gelten die Grund-rechte des Grundgesetzes? Gelten die internationalenAbkommen zum Schutz der Menschenrechte? Unterliegtder Einsatz den Regeln des humanitären Völkerrechts?Der sogenannte bewaffnete Kampf gegen Straftäter,wie der Einsatz von der Bundesregierung bezeichnetwird, findet mangels Festlegung in einer rechtlichenGrauzone statt. Das Konstrukt der „Strafverfolgung mitmilitärischen Mitteln“ führt dazu, die rechtlichen Grund-lagen des Einsatzes zu vernebeln und sich von rechtlichenBindungen zu lösen.Zu ProtokollDer ehemalige Beauftragte der Bundesregierung fürMenschenrechtsfragen im Bundesministerium der Justiz.Stoltenberg, hat jüngst in einer juristischen Fachzeit-schrift erneut den Finger in die Wunde gelegt und gefor-dert, die Bundesregierung solle unmissverständlich zumAusdruck bringen, dass sie bei Auslandseinsätzen derBundeswehr die grundsätzliche Geltung der Grundrechtedes Grundgesetzes sowie die Anwendbarkeit der Euro-päischen Menschenrechtskonvention und desUN-Zivilpakts anerkennt.Denn die Grundrechte des Grundgesetzes finden auchdann Anwendung, wenn Handlungen der deutschen öf-fentlichen Gewalt außerhalb des deutschen Staatsgebie-tes stattfinden. Allein aus der Eingliederung in eine inter-nationale Organisation oder aus der Zusammenarbeit mitSicherheitskräften anderer Staaten folgt keine Verände-rung des grundrechtlichen Prüfungsmaßstabs. Auch fürdie Ausübung von deutscher Hoheitsgewalt im Auslandgibt es keine grundrechtsfreien Räume.Nicht nur der Deutsche Bundestag braucht Klarheitüber den Umfang und die rechtlichen Grenzen eines vonihm zu verantwortenden Auslandseinsatzes. Insbesonderedie beteiligten Soldatinnen und Soldaten benötigenRechtssicherheit. Sie dürfen nicht in rechtlichen Grauzo-nen operieren, und sie dürfen nicht im Unklaren gelassenwerden, ob ihr Vorgehen rechtlich zulässig ist oder einenRechtsverstoß darstellt
Als ich den vorliegenden Antrag von Bündnis 90/DieGrünen durchgelesen hatte, war ich versucht, wie dieGötter in der Odyssee in homerisches Gelächter auszu-brechen.Ich möchte kreativ zitieren:Jetzo standen die Götter, die Geber des Guten, imVorsaal; und ein langes Gelächter erscholl bei denseligen Göttern, als sie die Künste sahn des klugenErfinders Volker Beck.Ich habe mir das Lachen allerdings verkniffen, denndazu ist das Thema viel zu ernst. Schon der erste Satz desAntragsbegehrens hat es in sich. Da ist von der „völker-rechtlich korrekten“ Mandatierung von Auslandseinsätzendie Rede, als ob das bisher alles völlig in Ordnung gewesenwäre: vom gegen die Charta der UNO verabschiedetenVorratsbeschluss am 16. Oktober 1998 zum Luftkrieg ge-gen Jugoslawien bis zur Beteiligung der Bundeswehr ander Operation Enduring Freedom. Demnächst, im No-vember, werden wir wieder erleben, dass alle Befürworterund auch die möglichen grünen Gegner einer OEF-Man-datsverlängerung wahrheitswidrig Stein und Bein be-haupten, die Resolutionen 1368 und 1373 ließen die An-wendung militärischer Gewalt zu. Ich sage hier jetztschon einmal an die Adresse der Bundesregierung: LegenSie dem Deutschen Bundestag nicht zum x-ten Mal einenAntrag vor, der sich auf eine nicht existierende Rechts-grundlage beruft!Zurück zum heutigen Antrag. Es ist einfach unglaub-lich, mit welcher Chuzpe Sie, die Grünen, hier argumen-tieren. Jahrelang haben Sie sich ohne Widerstand von Ih-
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19157
gegebene Reden
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19158 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Gert Winkelmeierrem informellen Anführer „an der Nase der humanitärenIntervention“ – so der vorwurfsvolle Bundestags-Origi-nalton Fischer an die Regierung des BundeskanzlersKohl im Jahre 1995 – in Kriege führen lassen, um die Re-gierungsbeteiligung nicht aufs Spiel zu setzen. Und nunentdecken Sie Mängel bei der Einhaltung der Standardsdes humanitären Kriegsvölkerrechts, die Sie längst hättenabstellen können. Denn Sie trugen doch länger Regie-rungsverantwortung als die jetzige Koalition. Unter Ihreraktiven Mitwirkung hat doch der Kriegskurs dieses Lan-des begonnen. Sie haben doch den NachkriegskonsensDeutschlands aufgekündigt, dass von deutschem Bodennie wieder Krieg ausgehen sollte, weil Herr Fischer sonstnicht hätte Außenminister werden können. Allein aus die-sem Grunde haben Sie den Bürgerkrieg im Kosovo zumGenozid umgelogen und die Basis dafür gelegt, dassArt. 26 des Grundgesetzes, das Verbot des Angriffskrie-ges, droht, zur Worthülse zu verkommen.Damit jetzt keine Missverständnisse aufkommen: DasAnliegen des Antrags unterstütze ich. Selbstverständlichdürfen unsere Soldaten nicht in rechtlichen Grauzonenallein gelassen werden. Und selbstverständlich habenRegierung und Bundeswehrführung alles zu tun, um einvölkerrechtlich einwandfreies Verhalten sicherzustellen.Da gibt es in der Tat Mängel, die abgestellt werdenmüssen. Das gebietet schon allein die Pflicht zur Für-sorge.Aber – das ist doch der entscheidende Punkt –: DieseFürsorge fängt hier im Deutschen Bundestag an. Hierwird über die Auslandseinsätze der Bundeswehr entschie-den. Und dies darf nur auf einer glasklaren Rechtsgrund-lage erfolgen. Das ist jenseits der politischen Beurteilungdes Einzelfalls über die Parteigrenzen hinweg unser allerVerantwortung und Verfassungspflicht. Beidem ist dieMehrheit hier im Parlament seit 1998 nur in Einzelfällengerecht geworden. Das kann natürlich auch nicht gelin-gen, wenn die eigentlichen Gründe für einen militäri-schen Einsatz nicht benannt und stattdessen Vorwändekonstruiert werden. Die erste Lüge gebiert dann automa-tisch die nächste.Die Fraktion der Antragsteller hat 1998 mehrheitlichentschieden, dass sich die Piloten der ECR-Tornados anOperationen beteiligen, die nach den für deutsches Han-deln geltenden Normen nicht zulässig waren. Nun fordernsie, dass dies künftig nicht mehr der Fall sein dürfe; undbegründen Ihren Antrag mit der völlig richtigen Aussage:„Auslandseinsätze der Bundeswehr sind zwingend an dasVölkerrecht ... gebunden.“ Das will ich gerne als Aus-druck eines Lernprozesses in der Opposition werten, undich hoffe, dass ich Sie bei künftigen Entscheidungen nichtmehr daran erinnern muss.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8402 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas-
sung von Vorschriften auf dem Gebiet des öko-
logischen Landbaus an die Verordnung
Nr. 834/2007 des Rates vom 28. Juni 2007 über
die ökologische/biologische Produktion und
die Kennzeichnung von ökologischen/biologi-
schen Erzeugnissen und zur Aufhebung der
Verordnung Nr. 2092/91
– Drucksache 16/10174 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Marlene
Mortler, CDU/CSU, Gustav Herzog, SPD, Hans-
Michael Goldmann, FDP, Dr. Kirsten Tackmann, Die
Linke, Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen.
Wir führen heute zu später Stunde keine Diskussion um
die Henne und das Ei, und wir stellen auch nicht die
Frage, ob Biolebensmittel nun zu einer gesünderen Le-
bensweise führen als konventionell produzierte Lebens-
mittel. Nein, wir befassen uns heute in erster Lesung mit
der Anpassung der Vorschriften des Öko-Landbaugeset-
zes und des Öko-Kennzeichengesetzes an die geänderten
EG-rechtlichen Bestimmungen. Es ist notwendig und er-
forderlich, die Märkte zu beobachten und legislative Rah-
menbedingungen an die Bedürfnisse anzupassen.
Schauen wir uns einmal die Daten an. 2007 konnte der
ökologische Landbau in Deutschland sowohl beim Zu-
wachs der ökologisch bewirtschafteten Flächen als auch
bei der Zahl der ökologisch wirtschaftenden landwirt-
schaftlichen Unternehmen ein deutliches Wachstum er-
zielen. Dies geht aus den Jahresmeldungen der Länder
über den ökologischen Landbau für 2007 hervor. Sehr gut
vertreten war wieder einmal mein Heimatland Bayern.
Für das erste Halbjahr 2008 sieht die Lage etwas ernüch-
ternder aus. Wachsende Kaufunlust und durch Rohstoff-
engpässe gestiegene Lebensmittelpreise kennzeichnen
aktuell den Markt.
Erste Zeitungsartikel fragen nach dem Anfang vom
Ende des Biobooms. So schwarz malen möchte ich hier
nicht, sondern eher von einer Konsolidierungsphase
sprechen. Die Branche holt wohl nur Luft für die nächsten
Erfolgsmeldungen. Warnen möchte ich diejenigen, die re-
volutionäre Neuerungen vom vorliegenden Gesetzent-
wurf erwarten und einfordern. Die vorgesehenen Ände-
rungen sind lediglich aufgrund von EU-Vorgaben
erforderlich. Bewährt hat sich in Deutschland die bun-
desweite Zulassung privater Kontrollstellen. Diese wer-
den jetzt mit der Einführung des Elements der Aufgaben-
übertragung verknüpft.
Die neue Struktur des Ökokontrollsystems der Europäi-
schen Union wird nunmehr in die amtliche Kontrolle der
Einhaltung des Lebensmittel- und Futtermittelrechts so-
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Marlene Mortler
wie der Bestimmungen über Tiergesundheit und Tier-
schutz eingebettet. Begrüßenswert ist die durch die EG-
Öko-Basisverordnung geschaffene neue Möglichkeit, ei-
gene nationale Vorschriften für die Kennzeichnung von
ökologischen Erzeugnissen in Einrichtungen der Außer-
Haus-Verpflegung und deren Kontrolle zu erlassen. Wir
wollen dies schnellstmöglich umsetzen.
Wenn ich schon beim Thema Kennzeichnung bin, muss
ich kritisch hinterfragen, warum die EU unbedingt ein
einheitliches verpflichtendes Biosiegel vorschreiben
möchte. Es soll ab 1. Juli 2010 zusätzlich auf alle Pro-
dukte gedruckt werden. Ich sehe für unsere Verbraucher
keine Vorteile. Wichtig ist für mich, das deutsche Biosie-
gel weiterzuentwickeln, auch gegen den Widerstand des
Deutschen Einzelhandels und einiger Anbauverbände.
Derzeit enthält das Biosiegel lediglich die Information,
dass das entsprechende Ökoprodukt nach den Richtlinien
der EG-Öko-Verordnung produziert und kontrolliert
wurde. Die Transparenz der Herkunft der Ökoprodukte
hat aber eine hohe Bedeutung. Daher ist die ablehnende
Reaktion des Bioland-Verbandes zur geforderten Weiter-
entwicklung des Biosiegels völlig unverständlich.
Der Verbraucher hat ein Recht, von allen Bioproduk-
ten zu erfahren, woher die enthaltenen Nahrungsmittel-
rohstoffe stammen. Deshalb muss die Angabe über die
Herkunft als eigenständige Information in Kombination
mit dem Biosiegel verpflichtend sein. Hiervon würden
alle profitieren: Bauern, Verarbeiter, Handel und Ver-
braucher; denn ein Mehr an Transparenz sorgt nicht nur
für eine bessere Information, sondern letztlich auch für
mehr Sicherheit.
Weiterer Änderungsbedarf im Öko-Landbaugesetz er-
gibt sich aus einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs
über Niederlassungserfordernisse für Kontrollstellen aus
dem EU-Ausland im Öko-Landbaugesetz. Streichungen
sind hierzu erforderlich. Dies trägt auch Anforderungen
der EU-Dienstleistungsrichtlinie Rechnung. Die konzep-
tionellen Überlegungen für die kontinuierliche Überwa-
chung von Kontrollstellen in Drittländern durch die EU-
Kommission mit Unterstützung der Mitgliedstaaten ste-
cken noch in der Anfangsphase. Dessen ungeachtet ist
Deutschland gezwungen worden, die Forderung aufzuge-
ben, nur Kontrollstellen mit Sitz oder Niederlassung im
Inland zuzulassen. Weiter müssen Straf- und Bußgeldvor-
schriften überarbeitet und an die neue EG-Öko-Basisver-
ordnung angepasst werden.
Die Ideen des Bundesrates müssen wir uns in der Aus-
schussberatung sorgfältig ansehen. Eventuell können sie
dann noch in unsere Beschlussempfehlung mit aufgenom-
men werden. Der Agrarausschuss des Bundesrates hat in
seiner Sitzung vom 16. Juni 2008 beispielsweise einen
Antrag Bayerns mit großer Mehrheit beschlossen. Er
sieht vor, dass die Zollbehörden die Kontrollstellen der
Länder über die Einfuhr von Ökowaren aus dem Ausland
informieren. Der Antrag Bayerns wurde maßgeblich vom
Land Hamburg unterstützt, da es Hauptumschlagspunkt
für Importe ist. Die Kontrollstellen würden zeitnah einen
Überblick erhalten und könnten so ein Risikomanage-
ment durchführen. Außerdem würden die Zollbehörden
ab dem 1. Januar 2009 unterstützt, wenn sie klären müs-
Zu Protokoll
sen, ob es sich bei dem Import um ein konformes, also der
EU-Öko-Verordnung entsprechendes Produkt, oder um
ein gleichwertiges, also nicht zu 100 Prozent der EU-
Öko-Verordnung entsprechendes Produkt handelt.
Erfreulich ist, dass die vorgesehenen Änderungen im
Gesetzentwurf keine finanziellen Auswirkungen auf die
allseits belasteten öffentlichen Haushalte haben, und
dass sie mit keiner Ausweitung der behördlichen Tätigkeit
bei Bund und Ländern einhergehen. Die Union meint es
ernst mit dem Thema Bürokratieabbau: Wir sehen daher
den Vorschlag kritisch, eigens einen Beirat zur Interpre-
tation und Umsetzung der EU-Öko-Verordnung zu schaf-
fen. Die Einrichtung eines weiteren Gremiums ist nicht
nötig. Schließlich tauschen sich die zuständigen Referen-
ten der Länder ohnehin bei regelmäßigen Treffen intensiv
über Erfahrungen ihrer Ressorts aus. Ein Mehr an Büro-
kratie ist überflüssig und wird es mit uns nicht geben.
Wir beraten heute über ein neues Gesetz zur Anpas-sung der Vorschriften für den ökologischen Landbau.Hierbei reden wir über einen der kräftigsten Wachstums-märkte, die wir haben – auf der Welt, in Europa und vorallem in Deutschland. Das nach wie vor ungebrocheneWachstum geht auf eine immer größer werdende Anzahlvon Konsumentinnen und Konsumenten zurück, die bereitsind, für Zusatzleistungen höhere Preise zu zahlen.Dass das Umsatzplus im ersten Halbjahr 2008 „nur“noch 3,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr beträgt – wasmanch einer schon gerne als schwächelnden Markt oderdas Ende des Biotraums verkauft – findet seine Ursachenzum großen Teil auch darin, dass wir in diesem Jahrschon Angebotsengpässe am Markt verzeichnen. Es wirdmehr nachgefragt, als nachgeliefert werden kann. Zudemmacht sich der allgemeine Rückgang der Kaufkraft be-merkbar, und das lenkt den Verbraucher auch schon ein-mal in die niederpreisigen, aber gleichen Regale.Deutschland hielt auch 2007 mit einem Umsatz von5,45 Milliarden Euro und einem Bio-Anteil von 3 Prozentam gesamten Lebensmittelmarkt mit Abstand Platz 1 dergrößten Absatzmärkte in Europa. Auch wenn andere Mit-gliedstaaten in Europa große Zuwächse verzeichnen, istund bleibt Deutschland die größte und für viele Impor-teure wichtigste Absatzregion in Europa.Das ist erfreulich, und es ist gewollt. Wir haben dieseEntwicklung nicht nur als Glanzleistung der beteiligtenWirtschaft beobachtet, sondern auch politisch unterstütztund befördert. Das Bundesprogramm Ökolandbau undspeziell das Biosiegel hat durch seine geschaffene Trans-parenz die Nachfrage nach Bioprodukten verstärkt.Das Vertrauen der Verbraucher ist eine der wichtigs-ten Grundlagen für den wachsenden Absatz, Vertrauen indie Annahme, dass Bioprodukte einen Mehrwert an ge-sellschaftlich gewollten Leistungen für unsere Umweltund die Nachhaltigkeit haben. Dieses Vertrauen ist ge-rechtfertigt, und, man darf dabei nicht vergessen, dassder Sektor auch einem strengen Kontrollregime unter-liegt. Vertrauen ist gut, Kontrolle noch besser.Doch ein Nachfrageüberhang bringt nicht nur stei-gende Preise mit sich, sondern auch unerwünschte Tritt-
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19159
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Gustav Herzogbrettfahrer, die mit krimineller Energie den schnellenProfit suchen und damit des Vertrauen in eine ganzeBranche riskieren. Hier brauchen wir eine eng verzahnteKontrolle, nicht nur der Kontrollstellen, sondern auch einbrancheninternes Selbstverständnis, das Trittbrettfah-rern die Luft dünn werden lässt.Auch brauchen wir mehr Landwirte, die auf ökologi-sche Wirtschaftsweise umstellen und so den Nachfrage-druck abfedern. Der Ökolandbau ist ein wichtiger undwachsender Teil der Landwirtschaft. 865 000 Hektar derlandwirtschaftlichen Nutzfläche in Deutschland wurden2007 ökologisch bewirtschaftet. Das sind 5,1 Prozent,Tendenz weiter steigend, da immer mehr Landwirte se-hen, dass wir es hier mit einem stabilen Markt zu tun ha-ben.Wir brauchen mehr Landwirte, die umstellen. Nichtnur, um den Importanteil wieder zu senken und somit dieVorteile der Regionalität zu stärken, sondern auch, umdie gesellschafts- und umweltpolitischen Vorteile nicht zuexportieren. Wir wollen die Mehrbeschäftigung im ökolo-gischen Landbau hier haben, wir wollen unsere natürli-chen Ressourcen hier schonen, wir wollen die Wertschöp-fungskette hier ausschöpfen, und wir wollen unsererUmwelt Schäden ersparen, unsere Biodiversität schützenund die bunte Vielfalt in unseren ländlichen Räumen be-fördern.Aus diesen Gründen stehen wir auch jetzt hier; dennum all dieses zu erreichen, müssen wir auch die rechtli-chen Grundlagen weiterentwickeln. Am 28. Juni 2007 hatder Rat die lange verhandelte EU-Verordnung 834/2007angenommen. Diese löst die lang und gut gediente Öko-basisverordnung 2092/91 ab. Das macht es notwendig,unser Ökolandbaugesetz in verschiedenen, doch zumeistunstrittigen Punkten anzupassen.Die Vorlage der Bundesregierung greift auf, was not-wendigerweise und mit wenig Spielraum umzusetzen ist.Neben den Folgeänderungen aus der neuen Basisverord-nung geht es auch um die Umsetzung des anhängigenEuGH-Urteils zur derzeit vorgeschriebenen Niederlas-sungspflicht ausländischer Kontrollstellen. Die Umset-zung des EuGH-Urteils beschert uns einen sehr engenZeitplan für das parlamentarische Verfahren, das wirpünktlich zum 1. Januar 2009 umgesetzt haben müssen.Das war Grund für mich, schon frühzeitig die Gesprä-che aufzunehmen, nicht nur überfraktionell hier imHause sondern auch mit den Wirtschaftsbeteiligten undder Bundesregierung. Besonderes Augenmerk bekam hierdie vielfach heterogene Umsetzung und Interpretationder Kontrollvorschriften durch die Länder und dieschwierige Lage der beauftragten Kontrollstellen. Beson-ders in verschiedenen Bundesländern tätige Kontrollstel-len berichten von erheblichen Problemen, für die wirnoch nach Lösungen suchen. Auch prüfen wir noch ver-schiedene Möglichkeiten, um die Kontrollqualitäten nochbesser zu machen, als sie heute schon sind, ohne einenZusatzaufwand zu produzieren.Hierüber und über die Vorschläge der Länder werdenwir in den Ausschussberatungen ausführlich beraten, umin der Sache konstruktiv weiterzukommen. Der ZeitdruckZu Protokolllässt uns zwar wenig Spielraum, doch die bisherige guteZusammenarbeit über die Fraktionsgrenzen hinwegmacht mir Hoffnung auf einen guten und schnellen Ab-schluss des parlamentarischen Verfahrens.
Wegen der geänderten Rechtslage in der EU müssen
wir das Öko-Landbaugesetz ändern. Ich hätte mir ge-
wünscht, dass die Regierung die Gelegenheit beim
Schopfe packt, die Mängel, die seit über einem Jahr dis-
kutiert werden, mit dieser Novelle abzuräumen.
Wir dürften uns doch in diesem Hause alle einig sein,
dass es für eine erfolgreiche Zukunft der ökologischen
Landwirtschaft unerlässlich ist, dass die Verbraucher
Vertrauen in die Qualität der Produkte haben. Gerade an-
gesichts steigender Importe ist es wichtig, dass die Kon-
trollen transparent und effektiv sind. Und doch hapert es
in dem Gesetzentwurf gerade in diesem Punkt an der not-
wendigen Klarheit.
Sowohl der Bauernverband als auch der Bundesver-
band Ökologischer Landbau und die Vereinigung der
Kontrollstellen haben bereits im Vorfeld darauf hingewie-
sen, dass die bisherige Rechtspraxis geprägt ist von Zer-
splitterung zwischen den einzelnen Bundesländern. Diese
Zersplitterung wirkt sich natürlich auf die Kontrollstellen
und die auf die Ökobauern umgelegten Kosten aus. Des-
wegen ist es dringend erforderlich, einen bundeseinheit-
lichen Rahmen vorzugeben, um Wettbewerbsnachteile
der deutschen Ökobauern gegenüber der europäischen
Konkurrenz abzubauen. Derzeit haben wir Dreifachprü-
fungen durch unterschiedliche staatliche Stellen oder In-
stitutionen, die staatlich überwacht werden.
Selbstverständlich sind die Lebensmittel- und damit
auch die Ökokontrollen Ländersache. Doch bei allem Be-
kenntnis zum deutschen Föderalismus dürfen die
Ökokontrollen nicht in Kleinstaaterei verharren. Die kos-
tenträchtigen und zeitintensiven Doppel- und Dreifach-
prüfungen müssen endlich ein Ende haben. In diesem
Punkt muss der Gesetzentwurf dringend nachgebessert
werden.
Auch die Forderung des BÖLW nach einem nationalen
Beirat für die Interpretation und Umsetzung der EG-Öko-
Verordnung sollte im Ausschuss noch einmal ernsthaft ge-
prüft werden. Denn die Novelle sollte das Ziel haben, die
Überregulierung abzubauen, die Prüfqualität effizienter
zu erreichen und damit die Kontrollen kostengünstiger
und transparenter zu gestalten.
Im Übrigen muss künftig auch verhindert werden, dass
ungeprüfte angebliche oder tatsächliche Ökoprodukte in
den Markt gelangen; das setzt die Glaubwürdigkeit der
gesamten Branche aufs Spiel.
Im weiteren Verfahren gilt es also noch, intensiv in den
Gesetzestext einzusteigen, um die erkannten Schwächen
auszuräumen. Es bleibt zu hoffen, dass die Große Koali-
tion sich einsichtig zeigt.
Es gab nicht viele Beispiele für einen derart geschlos-senen inner- und außerparlamentarischen Protest gegen
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19160 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
gegebene Reden
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Dr. Kirsten Tackmanneinen Verordnungsvorschlag der EU-Kommission wie voreinem Jahr gegen den Entwurf einer neuen Verordnungzum ökologischen Landbau. Dieser Protest hat zu Verän-derungen geführt, die auch für deutsche Bio-Bäuerinnenund -Bauern sowie Verbraucherinnen und Verbrauchertragbar sind. EU-Verordnungen müssen auf nationalerEbene umgesetzt werden. Der hier vorliegende Gesetz-entwurf dient der Umsetzung der neu gefassten EU-Ver-ordnung zur Kontrolle und Kennzeichnung von Ökopro-dukten.Dass die EU-einheitliche Kennzeichnung von Ökopro-dukten auf das Jahr 2011 verschoben wird, kann man be-dauern. Aber es ist immer noch die bessere Entscheidungangesichts der Situation, dass es noch immer kein einheit-liches Siegel gibt, das in der Lage ist, die Kriterien inSachen Verbrauchervertrauen und Erkennbarkeit zu er-füllen. Die Kommission hat nun vorgeschlagen, der Ent-wicklung eines Siegels mehr Zeit zu geben und diese miteinem EU-weiten Wettbewerb zu verbinden. Wir werdendarauf achten, dass das dann auch zu einem akzeptablenErgebnis führt. Der Markt für Ökoprodukte boomt. Überdie vergangenen Jahre konnten zweistellige Zuwachsra-ten im Verbrauch registriert werden. Es gibt hierzulandeunterdessen kein Unternehmen im Lebensmitteleinzel-handel mehr, das nicht Ökoprodukte anbietet. Das istdurchaus eine erfreuliche Entwicklung und widersprichtso mancher Behauptung, den Menschen wäre es letztlichegal, was sie essen, Hauptsache es ist billig. Wobei dieallgemeine Armutsentwicklung die Entscheidungsspiel-räume vieler Menschen deutlich einschränkt.Dennoch ist es Realität: Nicht zuletzt aufgrund einesstaatlich anerkannten Kontrollsystems genießen Ökopro-dukte ein großes Vertrauen bei den Verbraucherinnen undVerbrauchern. In den vielen Kontrolluntersuchungen, diezum Beispiel für Obst, Gemüse oder Fleisch außerhalbder biointernen Richtlinienkontrollen laufen, fallen Bio-produkte meist positiv auf. Wobei hier nicht nur die Qua-lität der Produkte, sondern die ökologische Erzeugung imMittelpunkt steht.Dieser großen Beliebtheit auf dem Lebensmittelmarkthinkt die einheimische Erzeugung von Bioprodukten hin-terher. Das Wachstum in der landwirtschaftlichen Erzeu-gung und in der Weiterverarbeitung stagniert. Die Folge:Immer mehr Ökoprodukte und auch Rohstoffe werden im-portiert. Das ist bedauerlich, liegt der Flächenanteil bun-desweit doch gerade einmal bei 5 Prozent.Die Linke unterstützt das Ziel, das schon von der rot-grünen-Regierung formuliert wurde, bis 2020 einen An-teil von 20 Prozent Bio auf dem Acker zu haben. Nur mussseitens der Politik mehr getan werden, um dieses Ziel zuerreichen. Als neue Barriere erweisen sich übrigens diespekulativen Pacht- und Bodenpreiserhöhungen, zu de-nen auch der Verkauf ehemals volkseigener Flächendurch die BVVG beiträgt. Gerade der Ökolandbau ist aufeine verlässliche Verfügbarkeit des Bodens angewiesen.Steigende Preise für konventionelle Agrarrohstoffeund die Verdienstmöglichkeiten durch das Energie-Ein-speise-Gesetz haben die Verdienstoptionen für die Land-wirtschaftsbetriebe erweitert, auch wenn die Wirkungdurch explodierende Betriebsmittel- und Pachtpreise teil-Zu Protokollweise wieder zunichte gemacht wird. Wo es dennoch ei-nen Zugewinn gibt, ist das auch in Ordnung. Nur redu-ziert sich damit auch die Bereitschaft, ökologisch zuwirtschaften. Anders gesagt: Die Umstellungsförderungund die Marktanreize für den Ökolandbau haben in derbisherigen Höhe keine ausreichende Wirkung mehr. FürDie Linke bedeutet das, dass positive Potenziale für Ein-kommen und Arbeitsplätze in den ländlichen Räumennicht genutzt werden. Ökolandbau ist auf die Fläche unddie Tierhaltung bezogen arbeitsintensiver und bringt we-gen des höheren Preisniveaus der Erzeugnisse eine hö-here Wertschöpfung. Die betrieblichen Einkommen derBiobetriebe lagen in den Agrarberichten der letzten Jahreimmer deutlich über denen der konventionellen Ver-gleichsbetriebe. Nur reicht das allein offensichtlich nicht,um mehr Betriebe zur Umstellung zu motivieren.Denn die zwei- bis dreijährige Umstellungszeit ist sehrschwierig: Das Ertragsniveau sinkt, die Ernte darf nurals Umstellungsware verkauft werden, und das optimaleund standortangepasste Bewirtschaftungssystem muss ofterst entwickelt werden. Eine schwierige Phase, die mithohen Risiken verbunden ist, auch wegen fehlender Kon-tinuität und Verlässlichkeit der politischen Rahmenbedin-gungen. Auf der anderen Seite wächst die Nachfrage nachÖkoprodukten, und das nicht nur in Deutschland, auchandere EU-Länder ziehen nach, allen voran Skandina-vien, Tschechien, aber auch die Beneluxstaaten undFrankreich. Ökoprodukte werden inzwischen in ganzEuropa produziert und konsumiert. Ein einheitlichesRegelwerk für die Erzeugung und Vermarktung von Öko-produkten in Europa ist daher unumgänglich und eine zü-gige nationale Umsetzung im Interesse aller. MinisterSeehofer muss darüber hinaus dazu beitragen, dass dereinheimische Ökolandbau seine sozialen und ökologi-schen Potenziale erschließen kann.
Der Biomarkt in Deutschland boomt. Das vierte Jahrin Folge wachsen die Umsätze für Bioprodukte zweistel-lig. 2007 waren es 15 Prozent. Ein Segen für unsere Land-wirtschaft? Leider nein. Die Schere zwischen Kunden-nachfrage und Angebot an deutschen Bioprodukten gehtimmer weiter auseinander. Denn die Zahl ökologischwirtschaftender Betriebe erhöhte sich nur um 2,8 Pro-zent.Die ideologische Landwirtschaftspolitik der Unionverschenkt lieber Jahr für Jahr Marktanteile ans Aus-land, anstatt mit einer dringend benötigten Erhöhung derUmstellungs- und Beibehaltungsprämie den deutschenBauern neue Einkommensmöglichkeiten zu sichern.Besonders gravierend sind für die Biobauern die derKompromisspolitik von Bundeskanzlerin Merkel geschul-deten massiven Kürzungen der Gelder für die sogenanntezweite Säule der gemeinsamen Agrarpolitik. Seit 2007fehlen damit für die ländlichen Räume jährlich 300 Mil-lionen Euro EU-Mittel und weitere 100 bis 200 MillionenEuro aus den Etats von Bund und Ländern.Bund und Länder haben den Rotstift bei den Prämienfür Ökolandwirte angesetzt. Ökobetriebe mussten ab2007 auf bis zu 40 Prozent ihrer Förderung verzichten.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19161
gegebene Reden
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19162 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Cornelia BehmDiese drastische Verschlechterung der Wettbewerbsbe-dingungen schreckt nun Landwirte von der Umstellungab, obwohl sie die wachsende Nachfrage gerne bedienenwürden.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, legenSie endlich Ihre ideologischen Scheuklappen ab undschauen Sie auf die Fakten. Die herausragenden Leistun-gen des Ökolandbaus für Klima, Umwelt und Natur, fürdie Entwicklung der ländlichen Räume weltweit sowie fürdie Ernährungssicherung und Lebensmittelqualität sindklar und deutlich belegt. Beenden Sie Ihre Blockade derdringend benötigten finanziellen Aufstockung der zweitenSäule im Rahmen der aktuellen Überprüfung der europäi-schen Agrarpolitik. Beenden Sie endlich Ihre fadenschei-nige Argumentation um die Verlässlichkeit. Denn denLandwirten, die sich mit der Erbringung gesellschaftli-cher Leistungen zum Beispiel im Bereich des Naturschut-zes, ein zweites Standbein erarbeitet hatten, haben Sie mitden Kürzungen bei der zweiten Säule jegliche verlässli-che Grundlage entzogen. Ihre Politik ist keine Bauernpo-litik, sondern Klientelpolitik für rationalisierte Großbe-triebe und die Agrarindustrie, und zwar auf Kosten derbäuerlichen Betriebe und der Landwirte, die im Einklangmit der Natur wirtschaften wollen.Auch das heute vorliegende Öko-Landbaugesetz istkein Ruhmesblatt. Obwohl die Ökobranche uns eindrück-lich auf Probleme mit dem Gesetz hinweist, lehnen Sie esab, gemeinsam mit den Länderagrarministern noch ein-mal nachzubessern.So bestehen in Deutschland seit geraumer Zeit erheb-liche Probleme mit der uneinheitlichen Interpretation derEG-Öko-Verordnung, sei es bei der Biokennzeichnungvon verarbeitetem Fisch aus Wildfang, der Etikettierungvon Ökolebensmitteln oder der Verwendung von Aromen.Entscheidungen hierzu werden auf den Verwaltungsebe-nen der Länder und nicht im Bund und schon gar nicht inZusammenarbeit zwischen Behörden, Branche und Wis-senschaft getroffen. Diese uneinheitliche Interpretationführt jedoch zu enormen Wettbewerbsverzerrungen unddamit zu Nachteilen für die Branche.Im Gesetz wird außerdem versäumt, die Rolle und dieAufgaben der Kontrollstellen sowie die Rechte undPflichten der Unternehmen im Rahmen der Kontrollerechtssicher zu definieren. Dies zementiert die sehr unter-schiedliche Handhabung in den Bundesländern, die inder Branche und bei den Kontrollstellen zu hohen zusätz-lichen Belastungen und Unsicherheiten führt.Ein Problem stellt auch dar, dass es keinen Überwa-chungsmechanismus gibt, um Unternehmen, die ihre Pro-dukte als „Bio“ bezeichnen, obwohl sie nicht nach EG-Öko-Verordnung kontrolliert werden, zu identifizierenund zu sanktionieren.Bessern Sie deshalb nach. Schaffen Sie gleiche Bedin-gungen für die deutschen Ökolandwirte und die Herstel-ler von Bioprodukten in allen Bundesländern.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/10174 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe zu dem Antrag
der Abgeordneten Michael Leutert, Hüseyin-
Kenan Aydin, Monika Knoche, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für die soziale Rehabilitation von Kindersol-
daten eintreten
– Drucksachen 16/6358, 16/8789 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Hartwig Fischer
Christoph Strässer
Burkhardt Müller-Sönksen
Michael Leutert
Volker Beck
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Hartwig
Fischer , CDU/CSU, Angelika Graf (Rosen-
heim), SPD, Burkhardt Müller-Sönksen, FDP, Michael
Leutert, Die Linke, Volker Beck , Bündnis 90/Die
Grünen.
Wir debattieren hier heute über den Antrag der Frak-
tion Die Linke mit dem Titel „Für die soziale Rehabilita-
tion von Kindersoldaten eintreten“. Aber leider steckt in
dem Antrag nicht einmal ansatzweise das drin, was oben
draufsteht.
Nein, vielmehr benutzt die Fraktion Die Linke das
Thema Kindersoldaten, um Ihre antiamerikanischen An-
sichten kundzutun.
Im Antrag wird das Schicksal des jungen Omar Khadr
beschrieben, welcher als 15-jähriger Kindersoldat durch
die amerikanischen Streitkräfte in Afghanistan gefangen
genommen und in Guantánamo inhaftiert wurde. Mehr ist
zu dem Thema „Kindersoldat“ und „Rehabilitierung“ in
dem Antrag nicht zu lesen.
Vielmehr macht die Linke nochmals deutlich, dass sie
noch heute den Ansichten der SED nachhängt, die in den
Vereinigten Staaten von Amerika den Erzfeind gesehen
hat. Aber der Kalte Krieg ist zum Glück vorbei.
Durch den Antrag wird nicht nur das Thema Kinder-
soldaten missbraucht, nein, er ist auch noch schlecht re-
cherchiert. Es wird nämlich einfach nicht erwähnt, dass
der angesprochene Omar Khadr bereits volljährig ist.
Des Weiteren ist Herr Khadr kanadischer Staatsbürger,
und Kanada hat sich bis heute geweigert, Herrn Khadr in
Kanada aufzunehmen. Allein das zeigt, dass dieser An-
trag so schlecht und widersprüchlich ist, dass die Linke
nicht wirklich erwarten kann, dass die Fraktionen dieses
Hauses auf einen solchen populistischen Antrag herein-
fallen.
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Hartwig Fischer
Und ich muss Ihnen sagen, dass das Thema dafür viel
zu wichtig ist. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen
werden weltweit noch immer 250 000 Kinder als Soldaten
missbraucht. Besonders gravierend ist die Situation in
Ländern wie Kolumbien, Burma oder der Demokrati-
schen Republik Kongo. Erst gestern erreichten uns neue
Nachrichten, dass im Osten der Demokratischen Repu-
blik Kongo Hunderte von Kindern verschollen sind. Es
wird berichtet, dass die Kinder durch die Rebellengruppe
von Laurent Nkunda entführt worden sind und nun als
Kindersoldaten oder Sexsklaven missbraucht werden.
Aber Deutschland verschließt seine Augen nicht vor
dieser Tatsache. Ich selber habe im Grenzgebiet zwischen
Ruanda und der Demokratischen Republik Kongo Pro-
jekte der Gesellschaft fürTechnische Zusammenarbeit
– GtZ – besucht, die Kindersoldaten resozialisieren. Das
geht allerdings nur, wenn sich die Anführer der Rebellen
und somit der Kindersoldaten ergeben. Erst dann haben
die Kinder die Möglichkeit, in die Gemeinschaft zurück-
zukehren, aus der sie oft geraubt wurden.
Auf diesem schweren Weg müssen wir die Kinder un-
terstützen. Wir müssen ihnen zeigen, dass es ihnen nicht
besser geht, wenn sie eine Waffe in der Hand halten. Wir
müssen ihnen in ihrer jeweiligen Gesellschaft Wege auf-
zeigen, auf denen sie sich entwickeln können. Und da hilft
uns ein solcher Antrag, wie ihn heute die Linke hier vor-
legt, nicht weiter.
Ich glaube, dass ich hier für fast alle Abgeordneten des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
sagen kann, dass wir eine Position bezüglich der Kinder-
soldaten haben, die weit über diesen Antrag hinausgeht.
Wir verurteilen den Missbrauch von Kindern als Kinder-
soldaten zutiefst. Daher muss es in unserem Interesse
sein, dass Thema ernst zu diskutieren. Wir müssen es auch
bei unseren Besuchen in den Ländern und bei Regie-
rungsgesprächen ansprechen. Nur so und nicht durch sol-
che hetzerischen Anträge wie der der Linken können wir
eine Verbesserung für die Kinder vor Ort erreichen.
Im vorliegenden Antrag geht es nicht, wie der Titelglauben macht, allgemein um die soziale Rehabilitationvon Kindersoldaten. Vielmehr wird das bedauerlicheSchicksal eines minderjährig inhaftierten und aus Afgha-nistan nach Guantanamo verschleppten kanadischenStaatsbürgers herangezogen, um daraus abgeleitet an dieBundesregierung allgemeine Forderungen bezüglich desUmgangs mit den USA zu stellen.Ich bin der Meinung, dass es einer im Parlament ver-tretenen Partei möglich sein muss, einen von ihr formu-lierten Antrag auch mit einem Titel zu versehen, der hältwas er verspricht und nicht in die Irre führt. Ein irrefüh-render Titel ist für mich bereits ein hinreichender Grund,einen Antrag abzulehnen.Warum sehe ich das so hart? Es ist wirklich schwierig,zu Ihrem Antrag Stellung zu nehmen. Denn wozu sollenwir eigentlich Stellung nehmen? Sollen wir zu Ihrer in derÜberschrift geäußerten angeblichen Absicht Stellungnehmen, Kindersoldaten sozial zu rehabilitieren – dafürZu Protokollsind wir sicher alle –, oder zu der im Text geäußerten Auf-forderung, die USA darauf aufmerksam zu machen, dassdie inhaftierten Minderjährigen in Guantanamo entlas-sen werden müssen, oder zur Forderung, dass die Bun-desregierung die Vereinigten Staaten an die Einhaltungdes Fakultativprotokolls zum Übereinkommen über dieRechte des Kindes erinnern soll?Den Eiertanz der Linken, wie er sich während der An-tragsberatungen im Ausschuss für Menschenrechte undhumanitäre Hilfe zugetragen hat, möchte ich gern an die-ser Stelle darlegen: Die Fraktion Die Linke wollte nichtakzeptieren, dass wir den Antrag mit dem Verweis auf ei-nen unpassenden Titel ablehnen würden. Sie meinten, siehätten den Antrag aber ganz bewusst auf Kinder, die inGuantanamo inhaftiert sind, abgestellt. Erinnern Sie sichan den Titel Ihres eigenen Antrages? Guantanamo kommtdarin nicht vor.Weiter argumentierten Sie, dass die Forderung,Guantanamo zu schließen, zu einer Ablehnung des Antra-ges geführt hätte. Als Begründung hätten wir vorgetra-gen, dass dies im Ausschuss schon mehrmals untermauertworden ist. Das ist korrekt. Aber ich frage Sie: Muss manDinge, die man längst festgeschrieben hat, wirklich im-mer wieder beschließen?Lassen Sie mich Folgendes klarstellen: Wir, die Frak-tion der SPD und auch die Bundesregierung, wollen, dassGuantanamo endlich geschlossen wird. Die Bundeskanz-lerin und der Bundesaußenminister haben das in Gesprä-chen mehrfach gegenüber der amerikanischen Regierungdeutlich gemacht. Diese Ansicht teilen wohl alle hier imBundestag vertretenen Fraktionen. Dieses Lager hätteniemals eröffnet werden dürfen. Dort werden alle Men-schenrechte mit Füßen getreten. Guantanamo ist einesdemokratisch gewählten amerikanischen Präsidentenund der Regierung der ältesten Demokratie der Welt un-würdig und schädigt das Ansehen der westlichen Weltnachhaltig immens.Und gerade weil wir uns da alle einig sind, finde ich essehr bedauerlich, dass Sie diese Angelegenheit populis-tisch zweckentfremden, denn die fehlende handwerklicheQualität bei der Erstellung Ihres Antrages zeigt, dass Siedieses Thema leider nicht so ernst nehmen, wie wir alle essollten.Den jungen Mann, Omar Khadr, den Sie in ihrem An-trag erwähnen, hat ein solches Schicksal ereilt, dass wohlkeiner von uns mit ihm tauschen wollte. Sein Beispiel inIhrem Antrag aufzugreifen, ist aus mehreren Gründendennoch schwierig: Er war zum Zeitpunkt seiner Verhaf-tung 15 Jahre alt, also minderjährig. Wäre er als Minder-jähriger entlassen worden, hätte sich seine Rückführungwohl einfacher gestaltet. Doch heute ist er volljährig.Und genau hier liegt das Problem, denn die Kanadierverlangen erst eine gerichtliche Verhandlung, weil sie ei-nen verurteilten Terroristen nicht mehr zurücknehmenwollen, einen unschuldig Verschleppten aber wohl. Einsolches Verfahren scheint aber noch immer in weiterFerne zu liegen.Sie sehen, wie schwierig dieses Feld und jeder Einzel-fall sind. Rechtspolitisch gesehen ist dieser Fall bei-
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19163
gegebene Reden
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Angelika Graf
spielsweise eine Angelegenheit zwischen den Kanadiernund den USA. Deutschland ist sich – der fehlenden for-malen Zuständigkeiten zum Trotz – seiner moralischenVerantwortung bewusst und aus diesem Grunde nicht un-tätig. Der Außenminister und die Bundeskanzlerin brin-gen dieses Thema in diplomatischen Gesprächen immerwieder mit dem Blick fürs Ganze aufs Tableau.Ich hoffe sehr, dass ein neuer US-Präsident die Situa-tion wandelt und dass die USA ihren Verpflichtungen, diesich aus dem Fakultativ-Protokoll zum Übereinkommenüber die Rechte des Kindes ergeben, nachkommen,Guantanamo schließen, den Verschleppten ein rechts-staatliches Verfahren vor einem ordentlichen Gericht er-möglichen, die Unschuldigen entschädigen und die tat-sächlich Schuldigen bestrafen.
Wir sind uns alle darin einig, dass wir Politikerinnenund Politiker uns mit allen zur Verfügung stehenden Mit-teln gegen Menschenrechtsverletzungen jeglicher Arteinsetzen müssen. Dies trifft insbesondere für Kinder alseine besonders schutzbedürftige Gruppe zu. Im Einklangmit der Kinderrechtskonvention der VN von 1990 und denmenschenrechtlichen Grundsätzen der Freien Liberalensetze ich mich neben der Schutzbedürftigkeit auch für dieRechtsansprüche von Kindern ein.Die Fraktion Die Linke greift in ihrem Antrag die Pro-blematik der Kindersoldaten auf. Im Positionspapier derFDP-Bundestagsfraktion „Menschenrechte. Universal,unteilbar, bedroht“ setzen wir uns intensiv mit demThema auseinander:Es ist in vielen Ländern trauriger Alltag, dass Kin-der als Kindersoldaten – darunter bis zu 40 ProzentMädchen – missbraucht werden. Ihre Zahl wird aufweltweit rund 300 000 geschätzt, wobei nicht nurRebellengruppen wie die „Lord’s Resistance Army“
in Uganda,
– aktuelle Anmerkung: Erst am 23. September 2008 be-richtete dpa, dass ugandische Rebellen 90 Kinder inNordostkongo verschleppten und sie mit hoher Wahr-scheinlichkeit zum Kämpfen gezwungen werden –,die „Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colom-bia“ in Kolumbien oder Milizen im KongoKinder rekrutieren, sondern auch einige reguläreArmeen, wie zum Beispiel die Streitkräfte in Burma/Myanmar. Oftmals werden sie vergewaltigt und un-ter dem Einfluss von Drogen zum Kämpfen gezwun-gen. Diese menschenverachtende Praxis einigerBürgerkriegsparteien steht in eklatantem Wider-spruch zur Allgemeinen Menschenrechtserklärungder Vereinten Nationen sowie zum InternationalenPakt für bürgerliche und politische Rechte.Auf dieser Grundlage fordern wir Liberale, dass„der Einsatz von Kindersoldaten von den UN er-fasst und vom Internationalen Strafgerichtshof inDen Haag konsequent verfolgt werden muss. Eineeffektive Prävention gegen ungesetzliche Rekrutie-rung kann durch die Sicherstellung des Schulbe-Zu Protokollsuchs, die Vermeidung von Familientrennungen,Früherkennungs-, Schutz- und Zusammenführungs-programme für Kinder, die von ihren Familien ge-trennt wurden, sowie Bildungs- und Berufsausbil-dungsprogramme erreicht werden.In ihrem Antrag fordert Die Linke, die USA dazu auf-zufordern, ihren Verpflichtungen nachzukommen, die sichaus der Unterzeichnung des Fakultativprotokolls zumÜbereinkommen über die Rechte des Kindes betreffenddie Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konfliktenergeben. Die Linke bezieht sich auf den Fall des kanadi-schen Staatsbürgers Omar Khadr, der 15-jährig von derUS-Armee nach einem Angriff in Afghanistan festgenom-men und später nach Guantánamo gebracht wurde. Dadie USA gemäß Art. 6 Abs. 3 des Fakultativprotokolls zumZeitpunkt der Festnahme Hoheitsgewalt über den Inhaf-tierten ausübten, waren sie verpflichtet, erforderlichen-falls jede geeignete Unterstützung zur physischen undpsychischen Genesung und sozialen Wiedereingliederungzu ergreifen. Omar Khadr soll von den USA freigelassenund als ehemaliger Kindersoldat wieder in die Gesell-schaft integriert werden.Leider ist es der FDP-Bundesfraktion nicht möglich,diesen Antrag zu unterstützen. Lassen Sie mich dies kurzerläutern:Erstens. Wir fordern eine umfassende Auseinanderset-zung bezüglich der Einbeziehung von Minderjährigen inKampfhandlungen, wo auch immer diese geschehen. EineKonzentration auf Einzelfälle, wie sie hier im Antrag derLinken vorgestellt werden, entspricht nicht dem Ausmaßdieser brisanten Menschenrechtsverletzung an Kindernund Jugendlichen. An dieser Stelle verweise ich auf denumfangreichen Bericht „Global Report 2008“ der Coali-tion to Stop the Use of Child Soldiers, einem Zusammen-schluss internationaler Organisationen. Dieser Berichtdokumentiert die Rekrutierungspraxis und den Einsatzminderjähriger Soldaten sowie ihre Entlassung undReintegration in 197 Ländern.Zweitens. In Bezug auf die Kinderrechte in den Verei-nigten Staaten von Amerika fordern wir nachdrücklicheine vorbehaltlose Ratifizierung der Kinderrechtskon-vention der Vereinten Nationen durch die USA. Es ist füruns Liberale in keiner Weise zu akzeptieren, dass die USAals eines der weltpolitisch bedeutendsten Länder die Kin-derrechtskonvention nicht unterstützen und neben Soma-lia zu den beiden letzten Ländern gehören, die dieser fastuniversell unterzeichneten VN-Konvention nicht beige-treten sind.Drittens. Außerdem geht uns der Antrag nicht weit ge-nug. Die FDP steht den Haftgründen und den Haftbedin-gungen in Guantánamo kritisch gegenüber und plädiertschon länger für eine sofortige Schließung des US-Ge-fängnisses auf Kuba. Dieser Aspekt kommt im Antragüberhaupt nicht zur Sprache.Der Antrag der Linken ist für uns Liberale somit ins-gesamt nicht weitgehend genug. Er lässt viele Aspekte un-beachtet und ist deshalb abzulehnen.
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19164 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
gegebene Reden
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Mit der Ablehnung des von der Linken eingebrachten
Antrages, sich für Omar Kahdr einzusetzen, beweist die
Große Koalition einmal mehr, dass sie bei Menschen-
rechtsverletzungen mit zweierlei Maß misst. Gerade vor
dem Hintergrund der Geschichte dieses Guantanamo-
Häftlings erscheint mir eine auch nur irgendwie geartete
juristische wie auch politische Abwägung unangebracht.
Dieser junge Mann hat wahrscheinlich in Afghanistan
an Gefechten gegen Truppen der USA teilgenommen.
Aber dieser junge Mann war zum Zeitpunkt der Kämpfe
gerade einmal 15 Jahre alt. Sieht man sich dazu seine
Biografie etwas genauer an, dann wird auch schnell klar,
warum er da kämpfte, wo er kämpfte.
Es ist gute deutsche Rechtstradition, gerade im Ju-
gendstrafrecht und auch im Jugendstrafvollzug zum einen
den Grundsatz der Resozialisierung und Erziehung in den
Mittelpunkt zu stellen und sich zum anderen im Gerichts-
prozess die Biografie des beschuldigten Minderjährigen
genauer anzusehen, um die Geschichte, wie und warum
er zur Straftat gekommen ist, zu verstehen. Ich denke, Sie
stimmen mir zu, wenn ich behaupte, dass Guantanamo
diese Anforderungen nicht erfüllt.
Natürlich habe ich zur Kenntnis genommen, dass Sie
Guantanamo missbilligen und die Schließung des Lagers
fordern. Nur wird diese allgemeine Forderung genau die-
sem Einzelfall, diesem jungen Mann nicht gerecht. Hier
hätte ich mir gewünscht, dass Sie sich für diesen jungen
Mann stark machen und die Bundesregierung auffordern,
sich für eine schnellstmögliche und rechtsstaatlich ange-
messene Lösung des Falls einzusetzen.
Und dies kann nur heißen:
Erstens. Die USA muss nachdrücklich aufgefordert
werden, alle durch sie in Guantanamo inhaftierten Min-
derjährigen freizulassen und geeignete Maßnahmen zur
sozialen Wiedereingliederung zu ergreifen.
Zweitens. Die USA muss nachdrücklich aufgefordert
werden, ihren Verpflichtungen, die sich aus dem Fakulta-
tivprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des
Kindes betreffend die Beteiligung an bewaffneten Kon-
flikten ergeben, nachzukommen.
Schaut man sich jedoch Beschlussempfehlung und Be-
richt des Ausschusses zum Antrag genauer an und ver-
sucht man, die Argumente, die SPD und Grüne im Aus-
schuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe gegen
den Antrag vorbringen, nachzuvollziehen, dann kann
man nur verwundert den Kopf schütteln. Zum einen argu-
mentiert die SPD, dass sie generell für die Schließung von
Guantanamo ist und deshalb keine Einzelforderungen
aufgestellt werden dürfen, die man nicht überblicken
kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
traue ihnen ohne Weiteres zu, diesen konkreten Fall zu
überblicken.
Der dem Antrag zugrunde liegende Sachverhalt ist so
klar und eindeutig, dass die Gegenargumente seitens der
SPD nur vorgeschoben sein können.
Ein weiteres Argument, welches von der SPD vorge-
bracht worden ist, um dem Antrag nicht zuzustimmen, ist,
Zu Protokoll
dass sich der Antrag der Linken auf Minderjährige be-
zieht, der im Antrag benannte Mensch nunmehr jedoch
volljährig sei. Hier aber übersieht die SPD Punkt zwei
unseres Antrages.
Wir sind uns wohl darüber einig, dass die Pubertät ein
einschneidender Abschnitt im Leben eines Menschen ist.
Wenn man diese Zeit dann auch noch in Guantanamo ver-
bringen muss, ist dies wohl nicht sehr förderlich.
Da Omar Kadhr nun in Guantanamo volljährig ge-
worden ist, glaubt die SPD nunmehr, den Antrag ableh-
nen zu können. Durch den Fall Omar Kadhr wird exem-
plarisch gezeigt, wie im Kampf gegen den sogenannten
internationalen Terrorismus Menschenrechte keinerlei
Beachtung mehr finden und selbst auf besonders Schutz-
bedürftige keine Rücksicht mehr genommen wird. Die
Intention hinter diesem Antrag bleibt aber, zum einen
Minderjährige sofort freizulassen, und zum anderen Men-
schen, die zur Zeit ihrer Inhaftierung minderjährig wa-
ren, die Hilfe und Unterstützung zukommen zu lassen, die
sie ohne Zweifel benötigen und zu denen sich die Völker-
rechtsgemeinschaft im benannten Fakultativprotokoll
verpflichtet hat.
Es ist und bleibt Aufgabe des Parlamentes, die Regie-
rung hierzu zu verpflichten.
Dass dies nicht geschehen ist, dass Koalition, FDP
und Grüne diesem jungen Mann die ihm zustehende Hilfe
versagten, bleibt rätselhaft. Ich habe dafür keine Erklä-
rung. Die vorgebrachten Gegenargumente können nicht
überzeugen. Sie sind zynisch.
Die Zahl der Kindersoldaten wird weltweit auf250 000 geschätzt. Minderjährige werden dabei sowohlvon regulären Armeen als auch von Rebellengruppen re-krutiert. In den meisten Fällen handelt es sich umZwangsrekrutierungen. Größte Anstrengungen sind not-wendig, um den Minderjährigen, die heute in bewaffnetenKonflikten als Soldaten eingesetzt werden, die Rückkehrin ein ziviles Leben zu ermöglichen.Auch in der Bundesrepublik leben Kindersoldaten. Seit1991 hält die Bundesregierung ihren Vorbehalt gegen dieUN-Kinderrechtskonvention aufrecht und verweigert da-durch Flüchtlingskindern international anerkannte Min-destrechte. Der mehrfachen Aufforderung durch den Bun-destag, diese Vorbehaltserklärung zurückzunehmen,verweigert sich die Bundesregierung. Damit bleibt dieMöglichkeit, Flüchtlingskinder weiter drangsalieren zukönnen, bestehen.Der Umgang der deutschen Behörden mit geflüchtetenKindersoldaten ist beschämend. Dies gilt selbst dann,wenn die Kinder schlimmste körperliche und seelischeVerletzungen erlitten haben, bei der Rückkehr in ihr Landverfolgt würden und unter Lebensgefahr stünden. Siewerden in Deutschland bis auf wenige Ausnahmen nichtals Flüchtlinge anerkannt, sondern erhalten eine Dul-dung, also eine ausgesetzte Abschiebung.Auf die Große Anfrage unserer Fraktion zum ThemaKinderrechtskonvention antwortete die Bundesregierung
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19165
gegebene Reden
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19166 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Volker Beck
im Juli 2007, dass sie eine Rücknahme dieses Vorbehaltsgegen die UN-Kinderrechtskonvention zum einen fürnicht erforderlich, zum anderen für „migrationspolitischbedenklich“ halte, „da sie zu einem Anstieg der Einreiseunbegleiteter minderjähriger Ausländer“ führen könne.Dies ist zynisch und inhuman. Wer aufgrund des Titels desAntrages der Linken „Für die soziale Rehabilitation vonKindersoldaten eintreten“ erwartet hat, der Antragwürde sich mit Kindersoldaten und den Herausforderun-gen ihrer Rehabilitation beschäftigen, wird enttäuscht.Eines ist klar: Omar Khadr und auch die anderen in-haftierten Minderjährigen müssen endlich aus Guanta-namo freigelassen und bei ihrer Rehabilitation unter-stützt werden. Es wäre gut, wenn die Bundesregierungdies gegenüber den USA deutlich machen würde. Das Vi-deo der Befragung von Omar Kahdr, das vor kurzem ver-öffentlicht wurde, zeigt, dass in Guantanamo nicht nurgegen geltendes US-Recht verstoßen wird, sondern auchgegen jegliches internationales Recht zum Schutz vonKindern.Gleichwohl präsentiert die Linke mit ihrem Antrageinmal mehr eine Mogelpackung. Man nimmt Ihnen IhrEngagement für Omar Khadr nicht ab. Das Thema Kin-dersoldaten wird von Ihnen nur benutzt, um die USA zukritisieren. Das ist schäbig. Bei aller Anteilnahme amSchicksal von Omar Khadr findet sich in dem Antrag keineinziges Wort der Verurteilung der Taliban für deren Ein-satz jugendlicher Kämpfer. Kein einziges Wort geht aufdie 250 000 Kindersoldaten ein, die übrigens auch in ehe-mals sozialistischen Bruderstaaten wie Angola oderBirma zum Einsatz gekommen sind, kein Wort geht auf dieskandalöse Haltung der Bundesregierung zur Kinder-rechtskonvention ein.Meine Fraktion wird sich bei der Abstimmung überdiesen Antrag enthalten. Offenbar war der Drang der al-ten Kader bei den Linken, den USA eins auf die Mütze zugeben, wieder einmal stärker. Sie sollten sich für ihren in-strumentellen Umgang mit Menschenrechtsthemen schä-men.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8789, den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/6358 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU
und FDP bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen
und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenom-
men.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neufas-
sung des Raumordnungsgesetzes und zur Än-
derung anderer Vorschriften
– Drucksachen 16/10292, 16/10332 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Enak Ferlemann, CDU/CSU, Petra Weis, SPD, Patrick
Döring, FDP, Heidrun Bluhm, Die Linke, Peter Hettlich,
Bündnis 90/Die Grünen, und des Parlamentarischen
Staatssekretärs Uli Kasparick.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf den Drucksachen 16/10292 und 16/10332 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Lazar, Volker Beck , Kai Gehring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Verbot der Nazi-Jugendorganisation „Heimat-
treue Deutsche Jugend e.V.“ prüfen
– Drucksache 16/9801 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Kristina
Köhler, CDU/CSU, Gabriele Fograscher, SPD, Christian
Ahrendt, FDP, Ulla Jelpke, Die Linke, Monika Lazar,
Bündnis 90/Die Grünen, und des fraktionslosen Kolle-
gen Gerd Winkelmeier.
Halten wir zunächst fest: Die Heimattreue Deutsche
Jugend ist ein neonazistischer Verein mit engen Verknüp-
fungen ins rechtsextremistische Spektrum. Daran gibt es
nach den veröffentlichten Erkenntnissen der Verfassungs-
schutzämter keinen Zweifel. So wurden bundesweit so-
wohl Verbindungen zur NPD als auch zu der neonazisti-
schen Kameradschaftsszene festgestellt. Nicht umsonst
gilt die HDJ vielen Experten zumindest als in der Tradi-
tion der 1994 verbotenen rechtsextremistischen „Wiking-
Jugend“ stehend.
Zielsetzung der HDJ ist es – ich zitiere aus dem neues-
ten Bericht des Verfassungsschutzes –, „über zunächst
unpolitisch erscheinende Aktivitäten Jugendliche und
Kinder an rechtsextremistisches Gedankengut heranzu-
führen“. Die Indoktrination und die Aufhetzung von Kin-
dern und Jugendlichen ist eine der Hauptaktionsfelder al-
ler Formen des Extremismus; sie ist wahrscheinlich
1) Anlage 15
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Kristina Köhler
zugleich die widerlichste. Als die Polizei vor wenigen
Monaten ein HDJ-Zeltlager in Mecklenburg-Vorpom-
mern aufgelöst hatte, fand man dort nicht nur verbotene
NS-Symbole, sondern auch unterschiedliche Medien wie
Kassetten und Landkarten, die klar dafür sprechen, dass
hier die Kindern mit rechtsextremen Inhalten auf einen
tiefbraunen Weg gebracht werden sollen.
Ein Kamerateam, welches eines dieser Zeltlager
filmte, zeigt Bilder, auf denen Zelte mit dem Schild „Füh-
rerbunker“ beschriftet waren und auf denen sich Kinder
mit dem Hitlergruß begrüßten. Über die Gesinnung, wel-
che dort verbreitet wird, kann es also kaum Zweifel ge-
ben.
Gleiches gilt für das HDJ-Magazin „Funkenflug“,
welches das Motto „Jung – stürmisch – volkstreu“ trägt.
In diesem Heft fanden die Verfassungsschutzämter anti-
semitische und den Nationalsozialismus verherrlichende
Inhalte.
Die HDJ ist also kein harmloser Pfadfinderverein,
auch wenn sie immer wieder versucht, sich als solcher
darzustellen. Die HDJ ist vielmehr ein rechtsextremisti-
scher Verein, der unter Vorspiegelung jugendpflegeri-
scher Tätigkeit Kinder und Jugendliche ideologisiert.
Umso wichtiger ist die öffentliche Aufklärung über die
HDJ. Auf ihrer Homepage versucht der Verein nämlich,
gezielt auch Kinder und Jugendliche zu werben, die au-
ßerhalb des rechtsextremistischen Spektrums stehen. Er
sucht gezielt nach Grundstücken, auf denen Lager statt-
finden können, nach Räumen für Heimatabende etc. Je-
dem, der diesen Verein unterstützt, muss klar sein, was er
da tut. Er unterstützt keine demokratische Jugendarbeit
und er unterstützt auch keine heimatverbundene Jugend-
arbeit. Denn die dort propagierte Heimat ist eine andere,
als wir sie alle kennen und uns wünschen.
Wenn wir über den Neonazismus in der HDJ reden,
muss eines freilich auch deutlich gemacht werden: Der
Rechtsextremismus-Vorwurf zielt auf die Köpfe dieses
Vereins, nicht auf die Kinder. Das möchte ich für meine
Fraktion klarstellen. Zumindest die 8- bis 14-Jährigen,
die in solche Zeltlager gesteckt werden, sind keine Täter,
sondern Opfer. Sie sind keine Rechtsextremisten, sondern
sie werden von Rechtsextremisten missbraucht. Sie wer-
den auf ein Leben jenseits dieser Gesellschaft vorbereitet.
Auch wenn Sie es aus anderen Zusammenhängen kennen:
Was hier passiert, ist nichts anderes als der Versuch, eine
Parallelgesellschaft aufzubauen und die Kinder und Ju-
gendlichen aus unserer freiheitlich-demokratischen Ge-
sellschaft zu desintegrieren. Das können und das dürfen
wir nicht zulassen.
Dabei sollten wir uns auch nicht von der scheinbar ge-
ringen Größe dieser Organisation blenden lassen. Die
Zahlen variieren hier deutlich, aber in jedem Fall reden
wir von 100 bis 400 Mitgliedern. Es muss aber klar sein:
Jedes Kind, welches neonazistisch ideologisiert wird, ist
eines zu viel. Und jede Familie, die ihr Kind auf solche
Lager schickt, ist eine zu viel, zumal die Zahlen eher da-
für sprechen, dass es gewisse Wanderungsbewegungen
aus der rechtsextremen Szene hin zur HDJ gibt. Die HDJ
scheint also zurzeit im organisierten Rechtsextremismus
Zu Protokoll
sogar eher noch wichtiger zu werden. Das ist umso
schlimmer.
In den letzten Wochen und Monaten hat es von einigen
Seiten den Ruf nach einem Verbot der HDJ gegeben. Das
ist legitim, denn das Verbot ist und bleibt nun mal das
schärfste Schwert in der Auseinandersetzung mit extre-
mistischen Vereinen. Deshalb liegt die Latte hier aber
auch um einiges höher, als das hier oftmals durchklingt.
Ich warne deshalb davor, wenn hier mancher Kollege aus
übertriebenem Geltungsbedürfnis so tut, als müsste der
Bundesinnenminister doch einfach nur par ordre de Mufti
entscheiden, die HDJ zu verbieten. Ein solches Verbot
muss aber – das wissen wir alle – hundertprozentig ge-
richtsfest sein. Ansonsten droht ein Propagandaerfolg für
den extremistischen Verein vor Gericht. Wie schwer ein
solcher Propagandaerfolg wirken kann, wissen wir alle.
Für die CDU/CSU kann ich sagen: Wir haben auch in
dieser Frage vollstes Vertrauen in das Bundesinnen-
ministerium und in den Bundesinnenminister.
Die SPD-Bundestagsfraktion ist der Meinung, dass in-zwischen ausreichend Gründe vorliegen, den Verein„Heimattreue Deutsche Jugend e.V.“ zu verbieten. DerVerein „Heimattreue Deutsche Jugend – Bund zumSchutz für Umwelt, Mitwelt und Heimat e. V.“ – HDJ – isteine bundesweit tätige Jugendorganisation, die ein ras-sistisches Weltbild vertritt und durch eine rechtsextremis-tische Ideologie geprägt ist.Mit mehreren Hundert Mitgliedern ist die HDJ, die imJahr 2001 aus dem 1990 gegründeten „Bund Heimat-treuer Jugend“ hervorging, fester Bestandteil des rechts-extremen Spektrums in Deutschland und verfügt über um-fangreiche szeneübergreifende Kontakte. Zudem gibt esenge personelle Verflechtungen mit der NPD und derneonazistischen Kameradschaftszene.Ähnlich wie die im Jahre 1994 verbotene „Wiking Ju-gend“, man könnte die HDJ ebenso als deren Nachfolge-organisation bezeichnen, zielt auch die HDJ mit ihrem so-genannten Lebensbund-Konzept darauf ab, Freizeit-angebote für Familien und Kinder anzubieten, die derVerbreitung antisemitischer und völkischer Ideologie die-nen. Die HDJ ist bestrebt, ganze Familien an die rechts-extreme Szene zu binden, denn nach Eigendarstellung derHDJ sollen bereits „Kleinstkinder“, aber auch Jugendli-che für den Rechtsextremismus rekrutiert und nach Fami-liengründung ein Ausscheiden aus der rechtsextremisti-schen Szene verhindert werden.Besonders durch die im Internet zum Beispiel auf„youtube“ veröffentlichten Werbefilme versucht die Or-ganisation gezielt, neue junge Mitglieder zu werben. DerVerein veranstaltet Zeltlager, Fahrten und Wanderungenmit dem Zweck einer paramilitärischen Ausbildung derKinder und Jugendlichen. Durch ideologische Schulun-gen und die Ausübung militärischer Rituale wird für dieKinder eine völkisch-nationalistische Parallelwelt ge-schaffen.Nach Einschätzung des Bundesamtes für Verfassungs-schutz betreibt die HDJ – ich zitiere – „unter Vorspiege-
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Gabriele Fograscherlung einer jugendpflegerischen Tätigkeit … eine gezielteIdeologisierung ihrer Mitglieder“. Weiterhin weist derVerfassungsschutz darauf hin, dass die HDJ versucht,ihre rechtsextremistische, nationalistische Ideologie hin-ter einer Selbstcharakterisierung als traditionsbewusstund wertorientiert zu verbergen.Als die Polizei im August 2008 erstmals ein Zeltlagerder HDJ im Landkreis Güstrow in Mecklenburg-Vorpom-mern in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt auflöste,wurden bei den allesamt uniformierten Teilnehmern zahl-reiche Gegenstände mit Symbolen der rechten Szene si-chergestellt. Die Polizei erklärte dazu, dass die bei derDurchsuchung aufgefundenen und sichergestellten Un-terlagen belegen würden, dass die gezielte Verbreitungrechtsextremistischer Inhalte den Tagesablauf der Teil-nehmer bestimme und die Kinder im Zeltlager mit natio-nalistischem Gedankengut regelrecht beschult würden.Trotz des 2007 erlassenen Uniformierungsverbotesdurch das Bundesministerium des Innern zeichnen sichdie Auftritte der HDJ durch Uniformen oder uniformähn-liche Pflichtkleidung, oftmals mit Verbands- und Sonder-zeichen, aus. Im Stile militärischer Abzeichen erkenntman das Führungspersonal durch farbige Balken amOberarm der Hemden. Fahnenappelle, das Marschierenin Reih und Glied sowie Fanfarenzüge konstituieren zu-dem den paramilitärischen Charakter der HDJ. Eine vonder HDJ beim Bundesministerium des Innern beantragteAusnahmegenehmigung vom in Deutschland geltendengenerellen Uniformierungsverbot ist mit der Begründungabgelehnt worden, dass „eine Gesamtschau der Aktivitä-ten ergibt, dass die politische gegenüber der jugendpfle-gerischen Betätigung überwiegt.Ungeachtet des Verbotes und unbeeindruckt posierendie Mitglieder der HDJ weiterhin in Uniformen oder uni-formähnlichen Kleidungsstücken in Werbefilmen, Kalen-dern oder im Verbandsorgan „Funkenflug“. In Ausgabe4/2007 dieses Verbandsorgans wurden alle Mitgliederdazu aufgefordert, sich nicht an das Uniformierungsver-bot zu halten. Das ist ein Zeichen dafür, dass sich die HDJnicht an die Einhaltung von Recht und Gesetz hält. Au-ßerdem finden sich in dieser Zeitung stark geschichtsre-visionistische, rassistische und antisemitische Inhalte.Die HDJ lehnt unsere freiheitlich demokratischeGrundordnung strikt ab. Auch tolerantes Verhalten ge-genüber Schwächeren wird im „Funkenflug“ 2/2006 alsniedere Charaktereigenschaft eingestuft. Laut Bundes-amt für Verfassungsschutz werden in dem Verbandsorgander HDJ Texte publiziert, „in denen der Nationalsozialis-mus verherrlicht wird sowie antisemitische Einstellungs-muster deutlich werden.“Inzwischen ermittelt auch die Staatsanwaltschaft zumwiederholten Male wegen Volksverhetzung, Verwendungverfassungsfeindlicher Symbole, Verstoßes gegen dasUniformverbot, Körperverletzung sowie Bildung bewaff-neter Gruppen.Ich meine, es ist Zeit, das längst überfällige Verbotauszusprechen. In diesem Zusammenhang begrüße ichden Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Jahressteu-ergesetz 2009, der in § 51 Abgabenordnung neu regelt,Zu Protokolldass extremistische Vereine von der Gemeinnützigkeitausgeschlossen werden sollen. Eine Steuervergünstigungsetzt voraus, dass die Körperschaft nach ihrer Satzungund ihrem tatsächlichen Handeln keine Bestrebungen ge-gen unsere freiheitlich demokratische Grundordnung för-dert oder dem Gedanken der Völkerverständigung zuwi-derläuft.Durch diese längst überfällige Regelung in der Abga-benordnung wird ein wichtiger Beitrag geleistet, denrechtsextremistischen Organisationen finanziellen Spiel-raum zu nehmen. Solche rechtsstaatlichen Schritte sindneben repressiven und präventiven Maßnahmen wichtigim Kampf gegen den Rechtsextremismus und extremisti-sche Bestrebungen. Doch wo Verbote von extremistischenVereinen nötig sind, sollte der Bundesinnenminister nichtzögern, diese auch zügig auszusprechen.
Die Forderung nach einem Vereinsverbot der Heimat-treuen Deutschen Jugend, HDJ, die die Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen mit dem heute zur Debatte stehendenAntrag stellt, zeigt das Bedürfnis, aber auch die Notwen-digkeit, rechtsextremistische Aktivitäten und Bestrebun-gen konsequent und nachhaltig zu bekämpfen. Diese For-derung hat die FDP-Fraktion als Gegenstand einerlaufenden parlamentarischen Initiative ebenfalls zumAusdruck gebracht. Es besteht Einigkeit darüber, dass dieHDJ verboten gehört.Positiv hervorzuheben ist, dass das gegen die HDJausgesprochene Uniformverbot im Falle des Zuwider-handelns im Benehmen mit den zuständigen Landes-behörden durchgesetzt wird. Fast wäre der Antragallumfassend, beinhaltete er die Prüfung des Gemeinnüt-zigkeitsstatus – dies ändert aber nichts an dessen Zustim-mungswürdigkeit.Auf der Homepage der HDJ ist nämlich zu lesen, dasssich der Verein über Spenden finanziert. Daher liegt dieVermutung nahe, dass der rechtsextremistische Verein alsgemeinnützig anerkannt ist und dadurch steuerliche Vor-teile erlangt. An dieser Stelle möchte ich nur an den Ver-ein Collegium Humanum erinnern, der über Jahre vomzuständigen Finanzamt als gemeinnützig eingestuftwurde. Für diejenigen, die es nicht mehr wissen: Colle-gium Humanum war ein rechtsextremistischer Verein, dererst durch massiven politischen und medialen Druck imMai dieses Jahres nach über 40 Jahren seines Bestehensverboten worden ist. Mir drängt sich daher die Frage auf,ob rechtsextremistische Vereine in Deutschland eine ArtBestandschutz genießen.Neben der HDJ gibt es noch weitere Vereine, die imVerfassungsschutzbericht aufgeführt werden und bei de-nen der Verdacht besteht, dass sie mit ihren Aktivitätendie freiheitliche demokratische Grundordnung bedrohen.Wie erklärt man sich, dass Extremisten ganz besondersaus dem rechten, aber auch aus dem linken Lager unge-hindert ihr Unwesen treiben? Dieser Zustand ist in einemdemokratischen Rechtsstaat schlichtweg inakzeptabel.Der Jugendverein „für alle deutschen Mädel und Jungenim Alter von 7 bis 29 Jahren“ ist hochgefährlich, nicht zu-letzt weil er über zunächst unpolitisch erscheinende Akti-
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Christian Ahrendtvitäten Jugendliche und Kinder an rechtsextremistischesGedankengut heranführt. Dabei wird eine jugendpflege-rische Tätigkeit vorgespiegelt, in Wahrheit jedoch einegezielte Ideologisierung im Sinne einer nationalsozialis-tischen Gesinnung betrieben.Eine der Haupttätigkeiten der HDJ ist die Organisa-tion von Freizeitcamps im Sinne einer „paramilitärischenAusbildung der Jugend.“ So wurde beispielsweise An-fang August ein von der HDJ organisiertes Ferienlagerbei Hohen Sprenz in Mecklenburg-Vorpommern polizei-lich aufgelöst. Hakenkreuze, uniformierte Kinder und na-tionalsozialistische Lehrinhalte sprachen dort eine deut-liche Sprache. In diesen Freizeitcamps wird offenbar dieNS-Zeit durch Anlehnung an nationalsozialistische Insig-nien und Flaggenspiele als „selbstbewusster und unver-krampfter“ Umgang mit der Vergangenheit belebt.Mit mehreren Hundert Mitgliedern ist die HDJ ein fes-ter Bestandteil der rechtsextremistischen Szene. Dabeihat die Heimattreue Deutsche Jugend, HDJ, nach Er-kenntnissen des Bundesamtes für Verfassungsschutz ihreWurzeln in der Wiking-Jugend, WJ. Es bestehen nebengemeinsamen Themen auch personelle Verbindungen zuder verbotenen Jugendorganisation, die erst nach 42 Jah-ren ihres Bestehens verboten wurde.Wie die Historie aufzeigt, lässt sich die Bundesregie-rung in diesen Angelegenheiten öfter Zeit. Wie bereits er-wähnt, hat es beim Collegium Humanum ähnlich langegedauert. Dies ist genau der Dreh- und Angelpunkt fürdie Unzulänglichkeit der Bundesregierung bei der Be-kämpfung des Radikalismus. Anstatt sich auf das rechts-extremistische Umfeld zu konzentrieren, befasste sie sichviel zu lange mit einem aussichtslosen NPD-Verbotsver-fahren.Die HDJ wird bereits vom Verfassungsschutz beobach-tet und ein Vereinsverbot vom Bundesministerium des In-nern hoffentlich konsequent vorbereitet. Jedoch muss ichbetonen, dass das rechtsstaatliche Instrument des Ver-einsverbotes nicht das Allheilmittel darstellt. Die Politikmuss auch mit vollem Engagement an der Bekämpfungder Ursachen von Rechtsradikalismus arbeiten. Einwichtiges Ziel soll daher ebenfalls sein, über Rechts-extremismus nicht mit dem erhobenen Zeigefinger zuinformieren, sondern auf Aufklärung und nachhaltigePrävention zu setzen. So muss der Populismus, der vonden „Rechten“ praktiziert wird, entlarvt werden.Was Rechtsextreme vor Ort machen, ist nichts anderes,als die Sorgen der Bürger für die Durchsetzung ihrer de-mokratiefeindlichen Ziele auszunutzen. Es ist daher diePflicht der Demokraten, die Probleme in unserem Landoffen anzusprechen. Nur durch einen ehrlichen Dialog,ehrliche Lösungen und Konzepte können wir den Bürgerndie Absurdität der „rechten“ Scheinlösungen klarma-chen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Bürger dieseOffenheit langfristig honorieren werden. Die Bürger müs-sen das Bewusstsein dafür entwickeln, dass sie auch fürden Bestand der freiheitlichen demokratischen Grund-ordnung verantwortlich sind.Der Verherrlichung des Nationalsozialismus musskonsequent entgegengetreten werden, und MaßnahmenZu Protokollzur Prävention und Strafverfolgung müssen vollumfäng-lich ausgeschöpft werden.
Dieser Sommer hat wieder einmal gezeigt, dass dieHeimattreue Deutsche Jugend ein wichtiger Teil des or-ganisierten Neofaschismus ist. Ein von ihr veranstaltetesSommerlager wurde von der Polizei aufgelöst, nachdemdie Neofaschisten dort gegen das Uniformierungsverbotverstoßen hatten. Doch nicht immer sind aufmerksameBürgerinnen und Bürger zur Stelle, die gegen ein solchesTreiben vorgehen. Von einzelnen Strafverfahren wird sichdie Heimattreue Deutsche Jugend nicht in ihren Umtrie-ben abbringen lassen. Auch die Fraktion Die Linke setztsich deshalb mit einem Antrag für das Verbot dieser neo-faschistischen Organisation ein.Mit mehreren hundert Mitgliedern und einem bundes-weiten Organisationsnetz stellt die HDJ eine der größtenund wichtigsten Nachwuchs- und Rekrutierungsorgani-sationen der neofaschistischen Szene in Deutschland dar.Es liegen längst ausreichende Beweise dafür vor, dass dieHDJ eine Nachfolgeorganisation der 1994 vom Bundes-innenministerium verbotenen Wiking-Jugend darstellt.So war der „Bundesführer“ der HDJ, Sebastian Räbiger,bis zum Verbot der Wiking-Jugend Leiter von „Gau Sach-sen“. Auch weitere Spitzenfunktionäre der Wiking-Ju-gend finden sich heute an führender Stelle in der HDJwieder.Schon die neonazistische Wiking-Jugend, die sich ganzbewusst an ihr Vorbild, die SS-Division „Wiking“ an-lehnte, war seit ihrer Gründung 1952 jahrzehntelang inder BRD unbehelligt geblieben. Doch schließlich musstedie Bundesregierung zugeben, dass die Wiking-Jugenddas Ziel verfolgte, die verfassungsmäßige Ordnung zu be-seitigen. Viel zu lange haben die staatlichen Behörden an-schließend das braune Treiben der HDJ als Nachfolgeor-ganisation der Wiking-Jugend schlicht ignoriert. NichtPolizei und Verfassungsschutzbehörden, sondern enga-gierte Einzelpersonen haben die Aktivitäten der HDJ indiesem Sommer öffentlich gemacht.Die HDJ bietet einen wichtigen Anlaufpunkt für neo-faschistische Familien, die bei ihr im Freizeit- und Ju-gendbereich umfassende Angebote finden. Des Weiterenwird somit der Etablierung einer rechtsextremen Paral-lelwelt Vorschub geleistet. Kinder und Jugendliche ausneonazistischen Elternhäusern werden dort bei Lagerfeu-erromantik mit der menschenverachtenden Ideologie derNeonazis, mit rassistischem und antidemokratischem Ge-dankengut indoktriniert. Paramilitärische Ausbildung,die von der HDJ sogenannte soldatische Erziehung, istwichtiger Bestandteil ihrer Kinder- und Jugendcamps.Selbst Scheinhinrichtungen werden in Wehrsportübungenvollzogen.Die HDJ operiert in enger Verbindung mit der NPDund den Neonazikameradschaften sowie anderen recht-extremen Gruppierungen. Immer wieder treten führendeFunktionäre der NPD als Schulungsleiter bei der HDJauf. Der inzwischen zum stellvertretenden NPD-Vorsit-zenden aufgestiegene Jürgen Rieger stellte jahrelang sei-nen Hof in der Lüneburger Heide für Versammlungen der
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Ulla JelpkeHDJ zur Verfügung. Im Gegenzug übernehmen ältereHDJ-Mitglieder immer wieder Ordnerfunktionen beiNPD-Veranstaltungen oder treten dort mit Kulturbeiträ-gen auf.Das Vorbild der HDJ ist eindeutig die Hitlerjugend.Jahreskalender der HDJ verzeichnen den Geburtstag vonHitler-Stellvertreter Rudolf Heß. Die HDJ beteiligt sichan einem jährlichen Gedenkmarsch, der dem Nazi-Idol,SA-Mann Horst Wessel, gewidmet ist. Ihre Zelte tragenNamen wie „Führerbunker“ und selbst Hakenkreuzsym-bole wurden bei der Durchsuchung eines Zeltlagers ge-funden. Bei den Lagern und Veranstaltungen der HDJwird im Sinne ihres „soldatischen Erziehungsideals“Uniform getragen. Über das allgemein geltende Uni-formverbot im Versammlungsgesetz setzt sich die Grup-pierung hinweg.Ein Verbot allein ist selbstverständlich nicht ausrei-chend. Gesellschaftliches Engagement ist weiterhin diezentrale Säule des Kampfs gegen rechts. Vorbildlich sindin diesem Zusammenhang eine Elterndemonstration inDetmold gegen die Verführung von Kindern und Jugend-lichen durch die HDJ-Einheit Hermannsland, oder Hin-weise aufmerksamer Bürger, die zur raschen Auflösungeines HDJ-Camps in Hohen Spenz führten. Begrüßens-wert ist zudem die Entfernung eines HDJ-Führers ausdem Technischen Hilfswerk in Greifswald. Denn geradebei der politischen Jugendarbeit gilt die antifaschistischeLosung „Wehret den Anfängen“.Ich will am Schluss aber auch noch auf das Verhaltender Regierungskoalition zu sprechen kommen. Von allendrei Oppositionsfraktionen lagen dem Innenausschuss inseiner gestrigen Sitzung Anträge zu diesem Thema vor.Eine Entscheidung wurde aber vertagt. Offensichtlich istden Regierungsfraktionen das Thema „Kampf gegenRechtsextremismus“ nicht wichtig genug, um einmal dieparlamentarischen Spielchen sein zu lassen und einemAntrag der Opposition zuzustimmen. Dieses Verhalten istwirklich ungeheuerlich. Die Beratungen über ein Verbotder HDJ müssen jetzt zügig zu einem Ende geführt wer-den. Dafür wird sich meine Fraktion weiter entschiedeneinsetzen.
Nazi-Kinderlager haben in unserem Land nichts zu su-chen. Darin besteht sicher bei allen demokratischen Po-litikerinnen, und Politiker Einigkeit. Dennoch gibt es denVerein Heimattreue Deutsche Jugend e. V. Unter seinemVereinsdach haben sich Rechtsextreme zusammengetanund umgarnen Kinder und Jugendliche. mit Freizeitange-boten wie zum Beispiel Zeltlagern, Kanufahrten, Wande-rungen und Lagerfeuern. Das weckt Gemeinschaftssinn,bringt Spaß und Abenteuer. Langsam werden Heran-wachsende in die Gruppe integriert und geraten soschleichend in den Dunstkreis aggressiver Nazi-Ideologiehinein.Der Verein Heimattreue Deutsche Jugend e. V., kurzHDJ genannt, verfügt über .eine feste Einbindung in die.rechtsextreme Szene und hält Kontakt zu Kameradschaf-ten, Parteien und anderen Vereinen. Die HDJ ist bundes-weit aktiv und gut organisiert. Ihre BundesgeschäftsstelleZu Protokollbefindet sich in Berlin; koordiniert wird die Arbeit übervier sogenannte Leitstellen, welche sich wiederum inmehrere sogenannten Einheiten unterteilen.Ideologisch bekennt sich die HDJ zum sogenanntenNeuheidentum, welches teilweise ein rassistisches Welt-bild und nationalistische „Blut- und Bodenmythen“ ver-herrlicht. Der Bezug zum Nationalsozialismus lässt sichnicht leugnen. Dies belegen auch Fotos und Filmaufnah-men mutiger Journalistinnen und Journalisten. Dort siehtman zum Beispiel HDJ-Zelte mit Aufschriften wie „Füh-rerbunker“ und „Germania“. Kinder begrüßen einanderund ihre Ausbilder mit dem Hitlergruß. Fahnenappelle,Wehrsportübungen, Fackelmärsche bereiten auf parami-litärische Schulungen und Nazi-Propaganda vor.Bei ihren gemeinsamen Veranstaltungen tragen dieHDJ-Mitglieder eine uniformartige Kleidung mit militä-risch anmutenden Verbands- und Sonderabzeichen. Diesist im Versammlungsrecht verboten; im Jahr 2007 unter-sagte das Bundesinnenministerium der HDJ ausdrück-lich das Tragen von Uniformen. Die Organisation nimmtdas jedoch nicht ernst. In ihrem Kalender „Unser Leben2008“ sowie einem Internet-Werbefilm sind weiterhinuniformierte Mitglieder zu sehen.Die HDJ selbst beschreibt sich auf ihrer Internetseiteals „traditionsbewusst und werteorientiert“. Ihr Selbst-verständnis wird in folgendem Zitat deutlich:Wir sind uns unserer eigenen Herkunft und der Ge-schichte unseres Volkes bewusst Als junge Deutschekönnen wir so manches aus den Erfahrungen unse-rer Vorfahren lernen. Dies gelingt aber nur, wennwir uns selbstbewusst und unverkrampft der eige-nen Vergangenheit stellen.Völlig „unverkrampft“ knüpfen sie denn auch an dieTraditionen der Hitlerjugend an. Gegen einen ihrer Füh-rer ist zum Beispiel ein Verfahren anhängig wegen Vor-führung des antisemitischen NS-Propagandafilms „Derewige Jude“ in einem Freizeitlager. Ewiggestrige Werteund Geschichtsverfälschung verbreiten sie zudem in ihrervierteljährlichen Broschüre „Funkenflug – jung – stür-misch – volkstreu“. Dort wird auch über das staatlicheUniformverbot gespottet und betont, dass man trage, wasman wolle.Die HDJ muss als eine Nachfolgeorganisation der1994 verbotenen Wiking-Jugend angesehen werden. Essind personell und inhaltlich deutliche Kontinuitäten zubeobachten, wie auch die Bundesregierung bestätigte. Esgab schwerwiegende Gründe, die Wiking-Jugend zu ver-bieten. Dass ihre Anhänger heute unter anderem Vereins-namen wieder auf Seelenfang gehen, können wir nicht ak-zeptieren. Deshalb fordert die grüne Bundestagsfraktionin ihrem Antrag die Bundesregierung auf, die Vorausset-zungen eines HDJ-Verbotes zu prüfen und bei positivemPrüfergebnis – wovon wir ausgehen – den Verein zu ver-bieten. Zu lange hat der Staat diesen Neonazis freie Handgelassen. Das ist verschenkte Zeit, in der Kindern und Ju-gendlichen eine gefährliche Gehirnwäsche verpasst wird.Ziel der HDJ ist es, genügend Hass gegen unser demo-kratisches System, zu schüren, um dieses schließlich stür-zen zu können. Bei ihren Treffen und Ferienlagern rekru-
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Monika Lazartieren sie dazu gezielt eine „Nachwuchsarmee“. Wirdürfen diesem Treiben nicht länger zusehen! Der VereinHeimattreue Deutsche Jugend e. V. muss schnellstmög-lich verboten werden Es freut mich persönlich sehr, dassauch FDP und Linksfraktion in ihren Anträgen gleichlau-tende Forderungen erheben und auch aus der GroßenKoalition positive Signale zu hören sind. Im Fall der HDJist ein Konsens aller demokratischen Kräfte im Bundes-tag also sogar zwischen Opposition und Koalition er-reicht.Einen solchen Konsens wünschte ich mir auch bei derAusgestaltung der Bundesprogramme gegen Rechts-extremismus. Verböte sind ja nur geeignet als Mittel zurSchadensbegrenzung. Repressive Maßnahmen, wie zumBeispiel Verbote, bringen nicht automatisch mehr Demo-kratie mit sich. Dafür brauchen wir attraktive demokra-tische Angebote für Kinder, Jugendliche und deren El-tern. Denn wo die Menschen sozial und kulturelleingebunden werden und sich vom Staat wertgeschätztfühlen, können Nazis gar nicht erst landen.
Man spreche nicht über Verbote, man spreche sie aus.
Aber warum passiert dann nichts? Seit Jahren liegen die
Beweise offen, aber die rechtsextreme Heimattreue Deut-
sche Jugend kann weiterhin ungestört ihr Unwesen
treiben. Es reicht eigentlich schon, bei Wikipedia die per-
sonellen Übereinstimmungen zwischen der 1994 verbote-
nen „Wiking-Jugend“ und der HDJ zu lesen, um zu er-
kennen, dass sie de facto deren Nachfolgeorganisation
ist. Genau das aber war mit dem Verbot ebenfalls unter-
sagt worden.
Ich verstehe das Zögern des Herr Minister nicht. Ob
nun im ARD-Magazin „Panorama“ oder in den im Inter-
net abrufbaren Werbefilmen für die HDJ: Es lassen sich
ausreichend Gründe finden, diesen rechten Hetzern das
Handwerk zu legen. Die Opfer, über die wir hier spre-
chen, sind Kinder. Sechsjährige werden schon zum
Strammstehen gezwungen, auch bei Schnee und Kälte,
wie es, ein Jugendherbergsbetreiber in Franken beobach-
tet hat. Einer der Propagandafilme wurde im Übrigen in
dieser Burg in Wunsiedel gedreht, ohne Wissen des oder
Genehmigung durch den Hausherren.
Seit Mitte 2007 besteht wenigstens ein Uniformverbot
für die HDJ, das diese allerdings alles andere als ernst
nimmt: „Wir entscheiden immer noch selbst, welche Klei-
dungsstücke wir tragen.“ Es wäre an den Ländern, dem
Verstoß gegen das Verbot nachzugehen, aber es passiert
nichts. Dabei liegen inzwischen ausreichend Beweise vor,
dass die HDJ in mehreren Fällen gegen das Verbot ver-
stoßen hat.
So berichtet beispielsweise ein Herbergsvater aus dem
rheinland-pfälzischen St. Goarshausen, in der Nähe von
Koblenz, dass in seiner Herberge zum Jahreswechsel
2007/2008 114 mehr oder weniger gleich gekleidete Kin-
der ihr Winterlager abgehalten hätten. Veranstalter war
die Heimattreue Deutsche Jugend. Ist das keine Unifor-
mierung?
Dieser Herbergsvater schildert zudem seine Eindrü-
cke einer paramilitärischen Atmosphäre; eine andere
Mitarbeiterin spricht von Straf-Liegestützen gegen ein-
zelne Teilnehmer des Lagers. Wir sprechen hier weiterhin
über Kinder. Inzwischen liegen nämlich auch Bilder vor,
die zeigen, wie Ausbildungslagers eine Hinrichtung
nachstellen.
Es ist schlicht nicht mehr verantwortbar, dass die Or-
ganisation ungehindert Kinder zu strammen Neonazis he-
ranzieht. Hier muss der Rechtsstaat endlich eingreifen;
denn es geht um die freiheitliche demokratische Grund-
ordnung dieses Landes, die von derartigen Vereinen un-
tergraben wird. Intern machen die Mitglieder doch gar
kein Hehl aus ihrer Einstellung. Als inhaltlicher Bezugs-
punkt dient dabei der Nationalsozialismus, dessen Ideo-
logieelemente sich wie ein roter Faden durch die Aktivi-
täten der HDJ ziehen. Ein völkischer Nationalismus ist
ebenso zu erkennen wie die Verherrlichung des Todes
oder die Kritik an der Gleichheit der Menschen.
Wenn sich aber die Justiz – in diesem Fall die Staats-
anwaltschaft Rostock, die die Ermittlungen wegen der
Vorfälle in dem im August aufgelösten HDJ-Sommerlager
einstellte – darauf zurückzieht, dass es gegen privat ge-
nutzte verbotene Symbole keine Handhabe gebe, dann
muss das lnnenministerium endlich handeln.
Irgendwann muss jeder Prüfvorgang ein Ende haben.
Der Verfassungsminister Dr. Schäuble sollte der HDJ
endlich das Handwerk legen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache16/9801 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Winfried Nachtwei, Alexander
Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Zeitbombe der Munitionsaltlasten in
Nord- und Ostsee entschärfen
– Drucksache 16/9103 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Ingbert
Liebing, CDU/CSU, Detlef Müller, SPD, Dr. Christel
Happach-Kasan, FDP, Lutz Heilmann, Die Linke, und
Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.
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Die Problematik, mit der wir uns heute beschäftigen,ist seit Jahren in vielen Variationen Thema in den Medien.Besonders in den Sommermonaten reicht die Bandbreiteder Berichterstattung von der eindringlichen Warnung,sich überhaupt der Nord- oder Ostsee zu nähern, bis hinzur völligen Entwarnung. Was also sind die Fakten, wennwir von Munitionsaltlasten vor der deutschen Küste spre-chen?Fakt ist, dass tatsächlich Grund zur Sorge besteht. Un-bestritten ist, dass es in regelmäßiger Folge zu Unfällenkommt, die auf versenkte Kriegsmunition zurückzuführensind. Dies sind bis heute auch an der Ostsee, die beson-ders betroffen ist, glücklicherweise Einzelfälle. Dennoch:Gerade vor ein paar Tagen haben Mitarbeiter eines Bau-ernhofs in Timmendorf erst wieder ein 4 Meter langesTorpedoteil aus dem Wasser gefischt. Der Strand musstevon der Polizei abgesperrt werden, und es dauerte meh-rere Stunden, bis der Kampfmittelräumdienst Entwar-nung geben konnte.Die Wissenschaft ist sich hingegen nicht einig, wie dasGefahrenpotenzial einzuschätzen ist. Grundsätzlich las-sen sich in der Betrachtung der Thematik drei wesentli-che Probleme definieren:Erstens. Unmittelbar nach dem Ende des ZweitenWeltkriegs wurde im großen Stil Kriegsmunition in Küs-tengewässern versenkt. Zuweilen geschah dies chaotisch,was angesichts der Gesamtsituation im Nachkriegs-deutschland nicht verwundert. Die genaue Lage dieserAltlasten ist in den seltensten Fällen bekannt. Wenn es zurdamaligen Zeit Aufzeichnungen gegeben hat, stimmendiese aufgrund der Meeresströmung kaum noch mit derRealität überein. Größere Mengen Munition sind zudemnicht wie vorgesehen an besonders tiefen Stellen versenktworden. Entsprechend verstreut liegen heute die Kampf-stoffe am Meeresboden. Zusätzlich besteht Gefahr durchim Krieg verlegte Minen und auch durch gesunkeneKriegsschiffe, deren Waffen- und Munitionsbestand in derRegel nicht erfasst ist.Zweitens. Der Forschungsstand zur Gefährdung vonMensch und Natur ist niedrig. Für die Küsten bestehe imMoment kaum eine Bedrohung, weil sich viele Gifte imWasser schnell verflüchtigten, sagt etwa der finnischeForscher Tapani Stipa vom Finnish Institute of MaritimeResearch in Helsinki. Er betont aber, auch sein Kenntnis-stand sei gering. Hingegen hält der MeeresforscherStefan Nehring, der eine viel beachtete Studie zum Themaherausgegeben hat, die verklappte Munition für eine Zeit-bombe. Toxikologen der Universität Kiel befürchten, dasssich Gifte aus Brandbomben und Gasmunition über dieNahrungskette in Tieren anreichern könnten. Aber auchdie kritischen Stimmen bestätigen schlussendlich, dassdie bisherigen Erkenntnisse vollkommen unzureichendsind.Drittens. Die oftmals erhobene Forderung, die Muni-tion umgehend zu bergen, könnte das Problem verschär-fen, statt es zu lösen und zu einer erheblichen Gefährdungsowohl für das Ökosystem Meer als auch für den Men-schen führen. Führende Experten haben wiederholt aufdie Gefahren einer möglichen Bergung hingewiesen.Zu ProtokollNach 60 Jahren sind viele der Ummantelungen durchge-rostet, ein Einsammeln birgt daher im Zweifel unkalku-lierbare Risiken. Und eine mögliche Sprengung kannwiederum wegen des damit verbundenen Lärms mögli-cherweise gravierende Gefahren für die insbesondere inder Ostsee ohnehin gefährdeten Meeressäuger haben.Die vordringlichste Aufgabe besteht also zunächst inder Erfassung der Menge und Lage der versenkten Muni-tion sowie in der wissenschaftlichen Bewertung der mög-lichen Gefährdung. Was wir brauchen, ist eine verlässli-che Gefährdungsabschätzung.Unabhängig von der Sache selbst stellt sich aber zu-nächst die Frage der Zuständigkeit. Die Beseitigung vonKampfmitteln aus der Zeit der Weltkriege ist als Gefah-renabwehr nach der föderalen Kompetenzverteilung desGrundgesetzes eine Aufgabe der Länder. Für das Aufspü-ren und die Bergung von Kampfmitteln im Meer ist dahergrundsätzlich das jeweilige Küstenland zuständig. DerBund veranlasst die Beseitigung von Kampfmitteln, wenndiese die Sicherheit des Schiffsverkehrs beeinträchtigen.Ungeklärt ist, wie mit Kampfmitteln verfahren wird, dieaußerhalb der deutschen Hoheitsgewässer liegen – diestrifft auf den größten Teil der bekannten Munitionsaltlas-ten zu. Einerseits ist die Gefahrenabwehr also Sache desBundes. Andererseits ist der Schutz für Badende, Sport-taucher und Fischer, die sich außerhalb der Seewasser-straßen bewegen, Ländersache, obwohl es sich um diegleiche Gefahr, nämlich Kampfmittel aus dem ZweitenWeltkrieg, handelt. Dieser Wirrwarr an Zuständigkeitenund zu beachtender Gesetze muss beendet werden. Hiergab es in der Vergangenheit Versäumnisse, und hier be-steht Handlungsbedarf. Insbesondere trifft dies auf dieKoordination von Maßnahmen des Bundes mit denen derLänder zu.Dieses Problem ist keineswegs neu. Schon 1999 gab esErgebnisse einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe. Aber of-fensichtlich sind Probleme ungelöst geblieben. Aber Sieals grüne Antragsteller müssen sich schon an Ihre eigeneVergangenheit erinnern lassen: Im November 2001 kamdie damalige rot-grüne Bundesregierung zu der Ein-schätzung, dass angesichts der Menge der versenktenMunition und ihrer weiten Verbreitung eine Bergung we-der technisch durchführbar noch finanziell realisierbarsei. Eine unmittelbare Gefahr – so der Bericht – gehe vonder Munition auch grundsätzlich nicht aus, da sie regel-mäßig mit einer bis zu mehreren Metern starken Sedi-mentschicht überdeckt sei. Nachzulesen ist dies in derDrucksache 14/7277. Der Tenor des heute vorliegendenAntrages, dass hier ein vergleichsweise neues Problemvorliegt und die jetzige Bundesregierung etwa versäumthat, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, wird mirangesichts der Faktenlage nicht ganz verständlich. Schonim Jahr 2000 hatte die CDU-Fraktion im schleswig-hol-steinischen Landtag eine Anfrage an die damalige rot-grüne Landesregierung gestellt. Die Antwort des damali-gen grünen Umweltministers Klaus Müller: „In den deut-schen Hoheitsgewässern der Ostsee wurde keine Kampf-munition versenkt, so dass hier auch keine Bedrohungvorhanden ist.“ Aus den verschiedenen Antworten ausdem Hause Müllers ergibt sich, „dass hier kein Hand-
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Ingbert Liebinglungsbedarf gegeben ist“. Nachzulesen ist das in derLandtagsdrucksache 15/479.Es passt nicht zusammen, wenn die Grünen heute zumHandeln drängen, während Sie in Ihrer eigenen Regie-rungsverantwortung das Thema unter den Teppich ge-kehrt haben. Dazu passt auch nicht, dass Sie heute einen20 Punkte umfassenden Maßnahmenkatalog vorlegen,obwohl doch eine Ihrer sicherlich berechtigten Forderun-gen nach Gefährdungsabschätzung ausdrücklich sagt,dass wir noch deutlich mehr Erkenntnisse brauchen, be-vor wir falsche Maßnahmen ergreifen. Wir brauchen einegemeinsame Lösung – in der Sache selbst genauso wie imKompetenzgerangel. Es gibt viele Versuche einer ver-nünftigen Lösung, zum Beispiel auch durch die schles-wig-holsteinische Landesregierung in Verantwortung vonUmweltminister Christian von Boetticher. Wir brauchenlangfristig tragfähige Lösungen, aber keine unausgego-renen Schnellschüsse.Einige Forderungen aus dem vorliegenden Antragsind daher zum Teil bereits Realität, andere illusorischund mit den Mitteln des Bundes kaum zu verwirklichen:Das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie hatBestandsaufnahmen über Munitionsversenkungsgebietein Nord- und Ostsee durchgeführt. Die bekannten Versen-kungsgebiete sind seit langem in den amtlichen Seekartengekennzeichnet. Darüber hinaus wird bei Baumaßnah-men an Seewasserstraßen der Baustellenbereich regel-mäßig untersucht, um Personen- und Sachschäden vorzu-beugen. Innovative Methoden im Umgang mit denMunitionsaltlasten werden längst erfolgreich angewandt –etwa im vergangenen April durch Probesprengungen öst-lich der Kieler Außenförde. Eine Offenlegung sämtlicherKoordinaten oder auch nur eine annähernd verlässlicheDatenbasis über Art und Umfang versenkter Giftstoffeaus Zeiten der Sowjetunion einzufordern, brächte kaumverwertbare Ergebnisse, ebenso wie einseitige Vor-schläge an die Russische Föderation zur „Entsorgungmilitärischer Altlasten im Raum Kaliningrad“. Vielmehrbrauchen wir gemeinsame Lösungen aller Ostseeanrai-ner etwa im Rahmen von HELCOM oder dem Ostseerat.Ich denke, wir alle stimmen darin überein, dass dasProblem der versenkten Munitionsaltlasten aus demZweiten Weltkrieg auf die Tagesordnung gehört. Die öko-logischen und im Übrigen auch die wirtschaftlichen Fol-gen einer Vernachlässigung dieser Thematik wären äu-ßerst bedenklich. Daher muss das Kompetenzgeflechtaufgelöst und der Meeresboden langfristig zentral koor-diniert nach versenkter Munition abgesucht werden.Ganz wesentlich ist, dass Sanierungskonzepte für die amstärksten belasteten Seegebiete entwickelt und umgesetztwerden. Nicht zuletzt die touristische Wirtschaft unsererKüste, aber auch die Fischerei ist an einer Lösung diesesThemas interessiert.Der Antrag der Grünen ist einerseits scheinheilig, weilSie Ihre eigenen Versäumnisse in Ihrer Regierungszeitverschweigen. Andererseits handelt es sich um ein objek-tives Problem, das gelöst werden muss. Es ist eine kom-plexe Thematik, die nicht mit Schnellschüssen zu erledi-gen ist. Wir brauchen eine Schrittfolge: erstens Klärungder Kompetenzen, zweitens Gefährdungsabschätzung,Zu Protokolldrittens Maßnahmenkatalog, viertens internationale Ver-ständigungen.Ich hoffe, dass wir in den Ausschussberatungen einerLösung einen deutlichen Schritt näherkommen können.
Seit mehr als 60 Jahren bergen Nord- und Ostsee eingefährliches Sprengstoffpotenzial, denn an zahlreichenStellen liegen auf dem Meeresgrund oftmals stark giftigeMunitionsreste aus dem Zweiten Weltkrieg.In der Hektik der letzten Kriegstage hatten deutscheSoldaten die Munition versenkt, damit sie nicht den Alli-ierten in die Hände fällt. Weil die Kapitäne früher nachder Anzahl der Entsorgungsfahrten bezahlt wurden, wa-ren diese sehr engagiert und kippten deshalb die gefähr-liche Fracht häufig schon auf dem Weg zum Versenkungs-gebiet über Bord.Wer damit gerechnet hätte, dass diese Praxis nachEnde des Krieges der Vergangenheit angehört hätte,wurde bitter enttäuscht. Die unkontrollierte Entsorgungs-praxis wurde von den Alliierten einfach übernommen undin noch viel größerem Maße durchgeführt. Bis 1948 be-zahlten die Alliierten einfache Fischer dafür, Munitions-reste in ausgewiesenen Seegebieten zu versenken. Dabeihandelte es sich um Bomben, Granaten und ganze Con-tainer – gefüllt mit einer tödlichen Fracht aus Senfgas,Phosgen oder Sarin. Allein auf dem Meeresgrund derOstsee sollen in Fässern, Bomben etc. bis heute mindes-tens 65 000 Tonnen chemischer Kampfstoffe wie Senfgas,Tabun, Zyklon B und Sarin lagern.Hinzu kommt, dass nach Meinung von Experten nachdem letzten Krieg zusätzlich mehrere hunderttausendTonnen konventioneller Munition in der Nord- und Ostseeversenkt wurden. Diese verklappten Kampfmittel führenbis heute vereinzelt bei der Schleppnetzfischerei zu Pro-blemen.Die Problematik wird noch zusätzlich dadurch ver-schärft, dass die Giftladungen, wie bereits erwähnt, häu-fig weit vor Erreichen der angeordneten Versenkungsstel-len über Bord gelassen wurden, sodass heute niemandmehr weiß, wo sich die Altlasten wirklich befinden. Hinzukommt, dass seit Jahren durch die Grundschleppnetz-fischerei die Munitionsreste immer weiträumiger verteiltwerden.Auch existieren bis zum heutigen Zeitpunkt keine ver-lässlichen Schätzungen darüber, wie viele Minen, Torpe-dosprengköpfe, Bomben und Giftgasgranaten sich inKüstennähe wirklich auf dem Meeresboden befinden.Dies alles stellt ein bedrückendes Szenario dar, und ichhalte es für gut, dass der Antrag der Grünen das Themader Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee wieder in un-ser Blickfeld rückt. Ich halte auch die Forderung der Grü-nen für richtig, dass wir eine klare Regelung der Zustän-digkeiten zwischen Bund und Ländern brauchen, weilsich Bund und Länder oftmals gegenseitig die Verantwor-tung für die Entsorgung der Altlasten zugeschoben ha-ben.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19173
gegebene Reden
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Detlef Müller
Allerdings, und das sage ich auch deutlich, halte ichauch nichts von übertriebener Panikmache. Wir haben esja nicht mit einer plötzlich aufgetretenen Gefahr zu tun,sondern das Problem ist schon lange bekannt. Die Bun-desregierung ist in dieser Angelegenheit nicht untätig ge-wesen. Und viele Forderungen, die im Antrag der Grünenenthalten sind, werden in der Praxis bereits umgesetzt. Soist Deutschland als Mitglied des OSPAR-Abkommens sei-nen Verpflichtungen nachgekommen. Die Abfrage undBewertung erfolgt dazu alle drei Jahre, zuletzt in diesemJahr, unter anderem als Beitrag zu einer Bewertung imRahmen des OSPAR-Qualitätszustandsberichts 2010.Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, be-vor Sie nach einer gesetzlichen Meldepflicht für alle Un-fälle mit Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee rufen,hätten Sie sich lieber mal kundig gemacht. Bei den Län-dern bestehen längst etablierte Meldewege. Im Falle vonNiedersachsen erfolgt dies zum Beispiel über die Behör-den der Gefahrenabwehr. Die Ordnungsverwaltungender Städte und Gemeinden oder die Polizei werden bei ei-nem Fund von Munition tätig. Die Beseitigung der Muni-tion obliegt dann der Verantwortung des Kampfmittelbe-seitigungsdienstes. Im Bereich der niedersächsischenKüste gibt es sogar noch einen zweiten Meldeweg – eineDirektmeldung durch Küstenfischer direkt an den Kampf-mittelbeseitigungsdienst.Sie fordern in Ihrem Antrag auch gründliche Untersu-chungen. Wir haben ja bereits Forschungsberichte vor-liegen, die nach bisherigem Stand keine unmittelbareGefahr für Menschen, die Meeresumwelt oder die Küs-tenregion befürchten. Diese sind im Rahmen der vonHELCOM und OSPAR zusammengetragenen Informatio-nen auch öffentlich zugänglich.So haben zum Beispiel Untersuchungen für das Born-holm- und Gotlandbecken ergeben, dass in den Beckender Ostsee Munitionsaltlasten weitgehend mit Sedimentbedeckt wurden, soweit sie nicht schon beim Einbringenin das weiche Oberflächensediment eingesunken sind.Aufgrund der geringen Bodenströmungen sind Freile-gungen der Munitionsaltlasten hierbei nicht zu erwarten.Auch die Gefahr des Durchrostens der in der Ostsee la-gernden und mit chemischen Kampfstoffen gefüllten Fäs-ser wurde untersucht. Aufgrund der physikalisch-chemi-schen Eigenschaften der versenkten Kampfstoffe und derhydrographischen Gegebenheiten in den Versenkungsge-bieten kann man davon ausgehen, dass für das Wasserkeine großräumige Gefährdung entsteht. Die schwer ab-baubaren Verbindungen sind nämlich meist sehr schlechtwasserlöslich, sodass sie im Sediment – also am Boden –verbleiben. Nur in der Nähe der Versenkungen ist lokalbegrenzt mit höheren Konzentrationen zu rechnen. Diebesser löslichen Verbindungen wie Phosgen oder Lostwerden relativ schnell im Wasser zu unschädlichen Ver-bindungen abgebaut. Daher sind im Wasser keine höhe-ren Konzentrationen zu erwarten.Auch sind die gefährlichen Gebiete in allen Seekartenvermerkt. In den amtlichen Seekarten sind im deutschenTeil der Ostsee zum Beispiel dreizehn Gebiete als „Un-rein “ eingezeichnet. Eine Eintragung erfolgt,wenn als zuverlässig angesehene Quellen das für die Er-Zu Protokollstellung der Seekarten zuständige Bundesamt für See-schifffahrt und Hydrographie auf Munitionsfundehinweisen. Die Kennzeichnung in den Seekarten und er-gänzende Warnhinweise, zum Beispiel, dass Ankern undFischen verboten sind, warnt die Schifffahrtstreibendenund insbesondere die Fischer und soll somit das Unfall-risiko reduzieren. Auch die Bundesmarine ist angewie-sen, die zuständigen Stellen kontinuierlich über Munitionund Kampfmittel, die zum Beispiel im Rahmen des jährli-chen multinationalen Ostseemanövers „Open Spirit“ ge-ortet werden, zu informieren.Trotzdem, und auch das gehört auch zur Wahrheit, fah-ren einige Fischer in diese eigentlich gesperrten Berei-che, um dort zu fischen, weil sich in diesen BereichenRückzugsgebiete der Fische befinden und sie deshalb aufeine höhere Fangquote hoffen. Diese Fischer verhaltensich illegal, sie gehen bewusst ein hohes Risiko ein, weiles natürlich passieren kann, dass sich Granaten in denSchleppnetzen verfangen können.Zusammenfassend kann man feststellen, dass nach denuns vorliegenden Berichten zumindest hinsichtlich derMunitionsaltlasten keine großräumige Gefährdung in Re-lation zur gesamten Schadstoffbelastung zu erwarten ist.In diesem Zusammenhang verweise ich auf die Antwortder Bundesregierung in der Drucksache 16/353. Nachdem HELCOM-Abschlussbericht besteht nach den vor-liegenden Kenntnissen demnach kein weitreichendes Ri-siko durch im Wasser gelöste Kampfstoffe für die Umweltder Ostsee.Außerdem möchte ich darauf hinweisen, dass vieleForderungen im Antrag der Grünen bereits längst Reali-tät und deshalb überflüssig sind. Sie dienen nur der Pa-nikmache, dies können wir allerdings bei diesem zugege-ben sensiblen Thema nicht gebrauchen.Trotzdem bedarf es in Zukunft vor allem einer besserenVerzahnung und Kompetenzzuweisung zwischen Bundund Ländern, es darf kein Kompetenzwirrwarr mit even-tuellen Sicherheitsrisiken für die Bürger geben. Der Fö-deralismus in unserem Land darf uns an dieser Stellenicht behindern!
Die Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee sind seitJahrzehnten ein schwer abschätzbares Risiko für Umweltund Gesundheit von Menschen. Fischer können bei Mu-nitionsfunden, Urlauber durch die Verwechselung vonPhosphor mit Bernstein gefährdet werden. In der letztenWoche wurde auf dem Timmendorfer Strand ein mehrereMeter langes Mittelteil eines Torpedos angespült. DieBeispiele zeigen: Wir werden mit diesen Hinterlassen-schaften des Zweiten Weltkriegs noch viele Jahrzehnte le-ben müssen.Die FDP-Bundestagsfraktion hat in dieser wie auch inder vorletzten Legislaturperiode die Bundesregierung inKleinen Anfragen nach ihren Kenntnissen, Bewertungenund Maßnahmen befragt .Doch weder die jetzige schwarz-rote, noch die vorherigerot-grüne Regierung erwiesen sich als besonders aus-kunftsfreudig. Wenn Nord- und Ostsee betroffen sind, hal-
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19174 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
gegebene Reden
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Dr. Christel Happach-Kasanten sich die jeweiligen Bundesregierungen für nicht zu-ständig. Jüngstes Beispiel: Drei Wochen hat es gedauert,bis das illegale Versenken von Felsblöcken auf dem Au-ßenriff von Sylt beendet wurde. Jeder in der Regierungwusste, es ist illegal, doch gegen den ZustandsstörerGreenpeace wollte keiner tätig werden, obwohl derRechtsbruch offensichtlich war und der Schutz von FFH-Gebieten durch die Duldung eines solchen Rechtsbruchsein Präzedenzfall wäre, der den Schutz von FFH-Gebie-ten erschwerte.Im vergangenen Sommer fand in Berlin die 16. Ost-seeparlamentarierkonferenz statt. Im Juli haben wir aufder Grundlage zweier Anträge der Koalition sowie einesumfassenden Antrags der FDP mit dem Titel „Zukunfts-chancen des Ostseeraums – Wirtschaft; Ökologie; Kultur
selbstverständlich auch das Thema Munitionsaltlasten,das von uns auch berücksichtigt wurde.Ein Jahr später nun spricht Bündnis 90/Die Grünenvon der „Zeitbombe der Munitionsaltlasten in Nord- undOstsee“, so der Titel des Antrags. Vor einem Jahr war dieOstsee den Grünen nicht einmal einen eigenen Antragwert, und jetzt auf einmal sind die seit über 60 Jahren aufdem Grund der Ostsee liegenden Munitionsaltlasten eineZeitbombe. Als Herr Trittin Umweltminister war, hatdiese sogenannte Zeitbombe wohl auch schon getickt,aber der damalige Umweltminister hat dennoch absolutnichts unternommen. Dafür stellen die Grünen jetzt einenKatalog mit 20 Forderungen auf. Das ist entweder dasEingeständnis, dass sie selbst auf dem Gebiet nichts ge-leistet haben, oder ein weiteres Beispiel für die bei denGrünen zum Politikstil gehörende Panikmache. Wir soll-ten uns nichts vormachen: Wir können auch bei hohemMitteleinsatz das Problem nicht aus der Welt schaffen,aber auch wir als FDP haben Vorschläge für einen bes-seren Umgang mit dem Problem.Nach offiziellen Unterlagen des Munitionsbergungs-dienstes Mecklenburg-Vorpommern verfehlten über600 Tonnen Sprengbomben und etwa 110 Tonnen Brand-bomben bei der Bombardierung der Heeresversuchsan-stalt für Raketenforschung in Peenemünde ihr Ziel und
bergungsdienstes ergaben, dass sich circa 60 Tonnenweißer Phosphor in dieser Bombenfracht befunden ha-ben. Weißer Phosphor ist im Meer persistent, das heißt, erwird nicht natürlich abgebaut und ist auch nach Jahr-zehnten noch vollständig vorhanden. Der Schwerpunktfür Unfälle mit Phosphor liegt an den Stränden im nord-östlichen Bereich von Usedom, wo phosphorhaltigeBrandmittel regelmäßig angeschwemmt und mit Bern-stein verwechselt werden, was zu schweren Verbrennun-gen führen kann.Nach dem Krieg haben die Alliierten chemischeKampfmittel in großen Mengen in der Ostsee verklappt.In Fässern, Bomben etc. lagern bis heute mindestens65 000 Tonnen chemischer Kampfstoffe wie Senfgas, Ta-bun, Zyklon B und Sarin auf dem Meeresgrund der Ost-
Krieg zusätzlich mehrere Hunderttausend Tonnen kon-ventioneller Munition in der Ostsee versenkt. Diese ver-klappten Kampfmittel führen bis heute besonders bei derSchleppnetzfischerei zu Problemen.Die Bundesregierung ist bisher von der Einschätzungausgegangen, dass von den Munitionsaltlasten keine Ge-fahr ausgehe. Sie stützt sich dabei auf Angaben derHELCOM von 1994, dass ein Großteil der in der Ostseeversenkten Munitionsaltlasten in Wassertiefen zwischen70 und 120 Metern, im Skagerrak zwischen 200 und700 Metern liege. In diesen Wassertiefen herrscht meisteine stabile Wassermassenschichtung mit einer nurschwachen Bodenströmung, weshalb der vertikale Stoff-transport sehr gering ist, sodass keine direkte Gefahr vonder Altmunition ausgeht.Die Bergung von Munitionsaltlasten aus dem Meer istmit einem sehr hohen Risiko für das Ökosystem verbun-den, da durch mechanische Beschädigungen größereMengen der Kampfstoffe freigesetzt werden könnten, sodas Sondergutachten des Rates von Sachverständigen fürUmweltfragen aus dem Jahr 2004.Die Bundesregierung bezeichnet die Kennzeichnungengefährdeter Gebiete als ausreichend. Verletzungen vonTouristen zeigen jedoch, dass diese besser über das Ri-siko informiert werden müssen, das in der Verwechselungvon Phosphor mit Bernstein liegt. Die Bundesregierungist außerdem in der Pflicht, für mehr Aufklärung undTransparenz im Zusammenhang mit der möglichen Ge-fährdung der Ostsee durch Munitionsaltlasten zu sorgen.Angesichts der regelmäßig wiederkehrenden öffentlichenDiskussion über die Altlasten in der Ostsee wäre eine ab-gestimmte Informationspolitik von Bund und Ländernüber das Thema sinnvoll und vertrauensbildend. Auch dieEinführung einer deutschlandweiten Meldepflicht fürUnfälle mit Munitionsaltlasten an Stränden und in der Fi-scherei ist sinnvoll und überfällig. Dänemark hat einesolche Meldepflicht.Es drängt sich der Gedanke auf, dass die Bundesregie-rung die Sorgen von Bevölkerung und Fachleuten nichternst nimmt. Hier besteht Handlungsbedarf, den die Bun-desregierung entweder bisher nicht gesehen hat odernicht sehen will. Da die Bundesregierung sich bisher alsweitgehend handlungsunwillig erwiesen hat, ist es gut,dass jetzt immerhin in Schleswig-Holstein eine Arbeits-gruppe gebildet wurde, die sich mit den Munitionsaltlas-ten im Meer beschäftigt und dabei hoffentlich zu befriedi-genden Ergebnissen kommen wird.
Vergraben, Versenken und Vergessen ist das Rezept al-ler bisherigen Bundesregierungen für unseren Sonder-müll. Seit kurzem hält das Endlager Asse II die Öffent-lichkeit in Atem. Wie hier gepfuscht und vertuscht wurde,ist atemberaubend. Aber auch „gewöhnlicher“ Müll be-schäftigt uns immer wieder, wenn Wohnungen auf altenMüllkippen gebaut wurden. Eine besondere Gefahr stelltdie halbe Million Tonnen Altmunition dar, die seit Jahr-zehnten auf dem Grund von Nord- und Ostsee verfallen.Die haben entweder im Krieg ihr Ziel verfehlt. Oder sie
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19175
gegebene Reden
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Lutz Heilmannwurden nach dem Krieg von Ost wie West einfach imMeer entsorgt. Sieht ja keiner, war wohl die Devise.Atommüll sieht man auch nicht. Aber dass der gefährlichist, bestreitet nicht einmal die Atompartei CSU.Minen, Torpedos, Granaten und ungezählte Bombender Kategorie „Großkampfstoffe“ sind extrem gefähr-lich. Das, was die Bomben im Krieg zum Glück nicht ge-schafft hatten, nämlich Schiffe zu versenken, das kannaber heute jederzeit passieren. Außer durch spontane De-tonationen explodieren Bomben auch dann, wenn amMeeresboden schleifende Schiffsanker dagegenstoßen.Da kann auch mal ein Schiff untergehen.Besonders gefährdet sind Fischer, die mit ihren Netzendie Bomben an Bord holen. Erst im Frühjahr starben dreiniederländische Fischer, als eine Bombe an Deck ihresSchiffes explodierte. Wenn sie nicht explodieren, dannzerfallen die Bomben an Deck. Atemnot, Erstickungenund Verätzungen sind die Folge, wenn Giftstoffe, die inden Bomben sind, freigesetzt werden.Für Badende und Erholungssuchende besteht die Ge-fahr von Verbrennungen durch an Strände gespülte Phos-phorteilchen alter Brandbomben. Diese sind leicht mitBernstein zu verwechseln. Sobald der Phosphor jedochgetrocknet ist, verursacht er starke Verbrennungen.Das Ökosystem ist ebenso betroffen. Fische und Pflan-zen nehmen die Gifte auf, viele Fische verenden daran.Insbesondere die am Meeresboden lebenden Flundernsind betroffen. Und wer isst nicht gerne einmal die Ost-seescholle? Sie sollte aber nicht vergiftet sein.Seit dem Zweiten Weltkrieg sind bislang 581 Menschenzu Schaden gekommen. 283 Todesfälle sind zu beklagen.Wir reden hier also nicht über irgend so ein spinnertesÖkothema, wie das manche vielleicht abtun wollen. Wirreden hier ganz konkret über die Rettung von Menschen-leben. Und was passiert? Nichts. Dabei sind viele Lager-stätten bekannt. Und technisch ist die Bergung, wennauch aufwendig, möglich. Aber statt Menschenleben zuretten erleben wir seit Jahren einen kleinkarierten Streitzwischen Bund und Ländern. Dabei geht es – worum auchsonst – ums Geld.Offiziell geht es natürlich um die formale Zuständig-keit. Aber wer die hat, muss eben auch die Bergung derMunition zahlen. Derzeit ist nur die Gefahrenabwehr fürden Schiffsverkehr dem Bund zugewiesen. Die Abwehrvon Gefahren für Badende, Sporttaucher und Fischer au-ßerhalb der Seewasserstraßen hingegen ist Ländersache.Den Verletzten oder den Angehörigen der Toten ist esaber völlig egal, ob nun der Bund oder die Länder Schuldhaben, dass eine Bombe auf einem Schiff explodiert. Eskann nicht sein, dass für jede Bombe die Zuständigkeit er-neut geprüft werden muss. Dann passiert nämlich langeerst einmal gar nichts. Ich fordere deshalb, dass dieeinheitliche Zuständigkeit des Bundes hergestellt wird.Warum? Es handelt sich überwiegend um ehemals reichs-eigene Munition aus dem Zweiten Weltkrieg. Der Rechts-nachfolger des deutschen Reiches ist unbestritten derBund. Der Bund ist Eigentümer der Gewässer vor denKüsten. Und die Länder sind damit schlicht finanziellüberfordert. Deshalb unterstütze ich den Antrag der Grü-Zu Protokollnen. Der ist zwar etwas schwammig formuliert, aber inder Sache richtig.Deswegen meine konkreten Forderungen an die Bun-desregierung:Erstens. Innerhalb des nächsten halben Jahres soll derBund die alleinige Zuständigkeit für Munitionsaltlastenin Nord- und Ostsee übernehmen.Zweitens. Es ist innerhalb des nächsten Jahres eineumfassende öffentliche Meldepflicht für Sprengstoff-funde, Munitionsunfälle sowie Munitionsverluste einzu-führen.Drittens. Spätestens in einem Jahr ist mit der umfas-senden und einheitlichen Katalogisierung und Kartogra-fierung aller Munitionsfunde zu beginnen.Viertens. Sofort ist mit der raschen und systematischenBergung und dem Unschädlichmachen der Altmunitionzu beginnen.Meine Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,Sie könnten hier noch einmal Tatkraft demonstrieren.Oder wollen Sie sich bis zum Ende der Legislaturperiodenur noch streiten?Last but not least frage ich die Bundesregierung:Wurde die Ortung und Bergung von Munition bei denKosten der Fehmarnbelt-Querung eingerechnet? Im Feh-marnbelt liegt meines Wissens jedenfalls eine Menge da-von rum.60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sollte neben demgeschichtlichen Aspekt endlich auch damit begonnenwerden, die äußerst realen explosiven Hinterlassenschaf-ten der Nazi-Diktatur aufzuarbeiten. Es muss Schlusssein mit dem Verbrennen, dem Vergraben und dem Ver-gessen.
Auf den Böden von Nord- und Ostsee rosten noch im-mer mindestens 700 000 Tonnen Munition und Kampf-stoffe aus dem Zweiten Weltkrieg und der Zeit danach.Seit 1945 sind mindestens 581 Menschen Opfer von Un-fällen geworden, 283 Menschen verloren ihr Leben.Heute geht von den tickenden Zeitbomben eine erheblicheGefahr für Mensch, Umwelt, Fischerei und Tourismusaus. Regelmäßig werden Munitionsrückstände an deut-sche Strände gespült. Dort stellen sie nicht nur eine er-hebliche Gefahr für Urlauber und Badegäste, sondernauch für die touristische Attraktivität ganzer Regionendar.Auch die Schifffahrt ist in erheblichem Maße betrof-fen: Fischer finden in ihren Netzen nach Angaben desUmweltgutachters Dr. Stefan Nehring durchschnittlich3 000 Kilogramm Munitionsrückstände im Jahr, mehrereFischkutter sanken bis heute. Der letzte große Unfall er-eignete sich 2005, als drei niederländische Fischer getö-tet wurden. Große Fanggebiete in der Nordsee sind be-reits für die Fischerei gesperrt. Kartierungen – wennüberhaupt vorhanden – erlauben es nur bedingt, Rück-schlüsse auf die tatsächliche Gefährdung von Gebieten zu
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19176 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19177
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Rainder Steenblockziehen: Durch Meeresströmungen kommt es zu teilweiseerheblichen Abweichungen zwischen angegebenen Ge-fährdungsgebieten und tatsächlichen Fundstellen.In einer der meist frequentiertesten Wasserstraßen derWelt, der Kadetrinne, liegt das Wrack eines Kriegsschif-fes mit mindestens drei Bomben an Bord. Rund 200Schiffe passieren täglich die schwer schiffbare Passage,die durch ein ökologisch hoch sensibles Gebiet führt, da-runter viele Öltanker. Ein Unfall an dieser Stelle hätte ka-tastrophale Folgen für die Meeresumwelt.Die Antwort auf meine Kleine Anfrage „Munitionsalt-lasten in der Kadetrinne“ vom 27. Juni 2008 ist bezeich-nend für das bisherige Vorgehen der Bundesregierung inSachen Munitionsrückstände: Mit dem Hinweis darauf,dass die Kadetrinne innerhalb der deutschen Ausschließ-lichen Wirtschaftszone läge, dort InternationalesSeerecht gelte, welches die Rechte und Pflichten nichtklar regele, weist die Bundesregierung jede Zuständigkeitvon sich.Sollte von den Bomben eine Gefahr für die Schifffahrtausgehen, was zum heutigen Zeitpunkt keinesfalls ausge-schlossen werden kann, wäre die Bundesregierung jedochdurch die von ihr geschlossenen internationale Verträgezwingend zum Handeln verpflichtet. Zu diesem Ergebniskommt eine von mir in Auftrag gegebene Untersuchungdes wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages.Die Bundesregierung hat sich in der Vergangenheit alsunfähig erwiesen, sich dem Problem der Munitionsaltlas-ten in einem Maße anzunehmen, welches der Risiken undGefahren auch nur ansatzweise gerecht wird: Nach wievor sind die Kompetenzenregelungen zwischen Bund,Ländern und Behörden auf der einen Seite, zwischen derBundesrepublik Deutschland, anderen Meeresanrainernund der Europäischen Union auf der anderen Seite völligunzureichend geregelt. Grundlegende Daten für die Be-wertung der von den Munitionsrückständen ausgehendenGefahren und Risiken sowie offizielle Statistiken über Un-fälle fehlen noch immer. So ist unklarer denn je, welchereellen Gefahren von den Munitionsaltlasten für die Mee-resumwelt und den Menschen, für die Fischerei und Un-terwasserbauvorhaben wie der Ostseepipeline tatsäch-lich ausgehen. Anstatt endlich zu handeln, betreibt dieBundesregierung frei nach dem Motto „Aus den Augen,aus dem Sinn“ ein gefährliches Spiel.Meine Fraktion fordert die Bundesregierung seit lan-gem dazu auf, endlich klare Zuständigkeiten zu benennen,Statistiken als Grundlage einer seriösen Bedrohungsana-lyse für Mensch und Umwelt zu erstellen, eine deutlichverbesserte Informationspolitik zu betreiben und effektiveSicherungsmaßnahmen, die die größten Risiken einzu-dämmen in der Lage sind, vorzunehmen.Die Zeit drängt: Die Durchrostung der Kampfmittelschreitet weiter voran, Spreng- und Kampfstoffe werdenverstärkt freigesetzt. Kürzlich stellten Kieler Toxikologeneine zunehmende Konzentration von Arsen in Ostsee-schollen fest. Sowohl der Mensch, der diese Giftstoffeüber die Nahrungskette aufnimmt, als auch die Meeres-umwelt sind zunehmend gefährdet.Mit unserem Antrag, der eine Reihe ganz konkreterMaßnahmen enthält, fordern wir die Bundesregierungnochmals entschieden dazu auf, sich der Problematik dertickenden Zeitbomben in unseren Meeren – sowohl aufdeutscher als auch auf europäischer Ebene – endlich an-zunehmen. Die Bundesregierung muss sich gegenüberder Europäischen Kommission im Rahmen der Europäi-schen Meerespolitik für effektive Managementkonzepteund klare Kompetenzzuweisungen einsetzen. Ein Aktions-programm unter Einbeziehung aller Ost- und Nordsee-Anrainerstaaten ist lange überfällig. Die Sanierung derOst- und Nordsee ist nur als Gemeinschaftsaufgabe derAnrainerstaaten zu realisieren. Weitere Untersuchungenund wissenschaftliche Forschungen müssen dringenddurchgeführt werden. Wenn vier Meter lange Torpedos andeutsche Strände gespült werden, muss selbst die Bundes-regierung endlich begreifen, dass die Zeit des Wegguckensein für allemal vorbei ist.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache16/9103 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordneten
Markus Kurth, Brigitte Pothmer, Irmingard
Schewe-Gerigk, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Arbeitslosengeld II unbürokratisch berech-
nen und auszahlen – Rechts- und Planungs-
sicherheit für Leistungsbeziehende schaffen
– Drucksachen 16/7838, 16/8445 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Stefan Müller
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol-
gende Kolleginnen und Kollegen: Karl Schiewerling,
CDU/CSU, Angelika Krüger-Leißner, SPD, Dirk Niebel,
FDP, Katja Kipping, Die Linke, und Markus Kurth,
Bündnis 90/Die Grünen.
Mit diesem Antrag spricht sich die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen grundsätzlich für die Beibehal-
tung des Prinzips pauschalierter Sozialleistungen aus.
Die Pauschalierung ist ein wichtiges Prinzip im SGB II.
Auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat dies gefor-
dert und in die Reform der Sozialhilfe und der Arbeitslo-
senhilfe mit hineingeschrieben; zum einen deshalb, weil
die pauschalierte Regelleistung mehr Selbstständigkeit
für Leistungsbeziehende bedeutet, zum anderen, weil So-
zialverwaltungen von aufwendigen Einzelfallprüfungen
verschont bleiben.
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Karl Schiewerling
Soweit abweichend von der Pauschalisierung der Re-
gelleistung die Schaffung individueller Sonderbedarfe,
insbesondere auch für Kinder und Jugendliche, gefordert
wird, lehnen wir das grundsätzlich ab. Man kann indivi-
duellen Einzelfällen nicht durch eine gesetzliche Verord-
nung gerecht werden, ohne ein System aufbauen zu müs-
sen, das hinterher kaum noch zu durchblicken ist. Zudem
kann man nicht gleichzeitig bürokratische Einzelfallprü-
fungen bemängeln und auf der anderen Seite einen An-
spruch auf individuelle Mehraufwandsentschädigung
fordern. Diese Ansprüche müssten ebenfalls durch die
Jobcenter überprüft werden, die bereits mit bürokrati-
schen Einzelfallprüfungen überfrachtet sind.
Sie kritisieren in ihrem Antrag die Arbeitslosengeld-II-
Verordnung. Die Berücksichtigung von Sachleistungen,
etwa der unentgeltlich bereitgestellten Verpflegung, ist
erforderlich, weil die Betroffenen insoweit Leistungen er-
halten, die den Lebensunterhalt teilweise sichern und
dem gleichen Zweck wie die Leistungen zum Lebensun-
terhalt nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch dienen.
Würde keine Anrechnung erfolgen, würden die Betroffe-
nen insoweit doppelte Leistungen erhalten.
Die Neuregelung enthält aber auch eine Bagatell-
grenze, die Härten vermeiden und die Verwaltung von der
Rückforderung kleinerer Beträge entlasten soll: Erst
wenn das Einkommen aus dem Sachbezug der bereitge-
stellten Verpflegung in einem Monat einen Betrag in
Höhe von derzeit 83,28 Euro monatlich übersteigt, wird
es nach Abzug der Zuzahlungen als notwendige Ausga-
ben als Einkommen berücksichtigt.
Da die durchschnittliche Dauer eines Krankenhaus-
aufenthaltes in Deutschland bei 8,5 Tagen liegt, wird für
die überwiegende Zahl der Betroffenen mit der Rechts-
verordnung die Klarheit geschaffen, dass es zu keiner
Minderung der Leistungen der Grundsicherung für Ar-
beitsuchende kommt.
Mit der Bagatellgrenze ist auch sichergestellt, dass
beispielsweise ein kostenloses Mittagessen in der Schule
oder im Kindergarten nicht als zusätzliches Einkommen
angerechnet wird.
Die Forderung der Grünen nach einer Nichtanrech-
nung karitativer Zuwendungen wie beispielsweise Le-
bensmittel- oder Möbelspenden ist bereits geltende
Rechtslage und ist somit erfüllt.
Ich finde die ganze Diskussion um Sonderbedarfe und
die Höhe des Regelsatzes überflüssig. Immer wieder heißt
es, die Kinderregelsätze seien unzureichend und ihre Be-
messung nicht sachgerecht, und deshalb sei eine Erhö-
hung notwendig. Derzeit beziehen etwa 2,1 Millionen
Kinder bis 17 Jahren Leistungen nach dem SGB II und
etwa 16 000 nach dem SGB XII. Fälschlicherweise wer-
den diese Kinder immer als arm bezeichnet. Würde man
der Forderung nachkommen und die Kinderregelsätze er-
höhen, würde wegen der steigenden Zahl der Anspruchs-
berechtigten die Zahl der so definierten „Armen“ nicht
sinken sondern steigen. Im Übrigen ist das Sozialgeld für
Kinder in der Grundsicherung deutlich höher als das
Kindergeld, das die Familien erhalten, die knapp über
den Sätzen des SGB II liegen.
Zu Protokoll
Wir müssen vielmehr dafür Sorge tragen, dass allen
erwerbsfähigen Menschen – und somit den Eltern dieser
Kinder – eine Chance auf Erwerbsarbeit eröffnet wird.
Dahinter steht auch die Grundüberzeugung, wie sie unter
anderem auch in der katholischen Soziallehre deutlich
wird, dass staatliche monetäre Zuwendungen allein nicht
zum Zustand sozialer Gerechtigkeit führen. Bloße Ali-
mentation stellt menschenwürdige Lebensbedingungen
und gerechte Verwirklichungschancen noch nicht sicher.
Sie kann sogar das Gegenteil bewirken, wenn sie zu Pas-
sivität führt.
Die Menschen brauchen verlässliche, langfristig an-
gelegte Hilfestrukturen und Personen, die sie begleiten.
Das verlangt gesicherte Finanzen und Rahmenbedingun-
gen. Bund, Länder und Kommunen sind gefordert.
Statt Leistungsausweitung ist es zielgerichteter, den
Langzeitarbeitslosen eine Perspektive dahingehend zu
eröffnen, dass sie einen Job bekommen und am Erwerbs-
leben teilnehmen können. Das ist und muss das Ziel der
Grundsicherung für Arbeitsuchende sein.
Im Mittelpunkt der Grundsicherung steht die Aktivie-
rung der Hilfeempfänger. Das große Ziel ist, nicht vom
Staat finanziell abhängig zu sein, sondern aus eigener
Kraft das Leben zu finanzieren. Das ist auch menschen-
würdiger.
Zunächst das Positive: Die Grünen stehen weiterhinzur Pauschalierung der Regelleistungen. Das ist erfreu-lich, schließlich haben wir das mal zusammen beschlos-sen.Früher mussten die Betroffenen wegen jeder noch sokleinen Kleinigkeit beim Sozialamt um Bewilligung bit-ten. Dieser Praxis haben wir gemeinsam einen Riegelvorgeschoben. Die Vorteile unserer Entscheidungen, dasArbeitslosengeld II stärker zu pauschalieren als die alteSozialhilfe, sind offensichtlich: geringerer Verwaltungs-aufwand und damit Bürokratieabbau, größere Entschei-dungsfreiheit der Betroffenen und Transparenz.Das war es dann aber auch schon mit den positiven As-pekten im Antrag der Grünen. Denn ansonsten zeichnetder Antrag ein unvollkommenes Bild. Zum einen bemän-geln Sie bürokratische Einzelfallprüfungen und forderneine stärkere Pauschalierung. Zum anderen fordern Sieaber die Berücksichtigung individueller Mehrbedarfe.Ihr Beispiel verdeutlich das: Mögliche Mehrbedarfekönnten durch den Kauf von Kleidung in Übergröße ent-stehen. Da frage ich Sie, was gilt als Übergröße? WollenSie festlegen, ob nun XL oder XXL als Übergröße gilt? Istes nicht so, dass manchmal XL passt und manchmal XXL?Gilt das eine Sweatshirt dann als Mehrbedarf und das an-dere nicht? Stellen Sie sich vor, die Fallmanager müsstensich jeden Kassenzettel zeigen lassen, um zu kontrollie-ren, in welcher Größe Kleidungsstücke gekauft wurden.Dieser Vorschlag trägt mit Sicherheit nicht zum Bürokra-tieabbau bei. Bereits heute schon äußerst knappe perso-nelle Ressourcen in den Arbeitsgemeinschaften und Op-tionskommunen würden zusätzlich gebunden. Der Auftrag,Menschen Alternativen zum ALG-II-Bezug aufzuzeigen
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19178 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Angelika Krüger-Leißnerund sie in Arbeit zu vermitteln, würde vernachlässigt. Ichmöchte nicht, dass wir Arbeitslosigkeit verwalten, son-dern wir müssen sie aktiv bekämpfen.Lassen Sie mich in dem Zusammenhang etwas zu denBedarfen von Kindern sagen. Ich unterstelle mal, dass je-der hier in diesem Saal sich der Bedeutung von Kindernin unserer Gesellschaft bewusst ist. Ich unterstelle auch,dass jeder sich der Bedeutung von Kinderarmut bewusstist. Keine Frage, Kinderarmut gründet sich in der Regelin der Armut der Eltern. Aber es ist nicht nur ein finan-zielles Problem. Es ist auch ein Problem fehlender Chan-cengleichheit in der Bildung und der gesellschaftlichenTeilhabe. Die Auffassung, dass allein monetäre Anreizedas Problem der Kinderarmut lösen, halte ich für falsch.Wir müssen andere Wege beschreiten.Die SPD – als treibende Kraft in dieser Koalition – istda auf dem richtigen Weg. Denn entgegen den Widerstän-den aus der konservativen Ecke haben wir mit dem El-terngeld zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Be-ruf beigetragen. Und bereits nach einem Jahr können wirsagen: Das Eltergeld kommt gut an.Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Kinderbetreuung.Mit dem Kinderförderungsgesetz, das wir am morgigenFreitag in erster Lesung behandeln, haben wir einenRechtsanspruch für jedes Kind auf einen Betreuungsplatzdurchgesetzt. Das gilt ab 2012. Auch die Zusage von PeerSteinbrück einer Beteiligung des Bundes an den Betriebs-kosten der Kitas macht deutlich: Wir meinen es ernst mitunseren Kindern. Wir haben in diesem Bereich viel getan.Und wenn Sie mich jetzt fragen, ob wir genug getan ha-ben, dann sage ich Ihnen, man kann nie genug tun! Den-noch bin ich froh über das, was wir erreicht haben.Ein Wort noch zum Kindergeld. Für uns Sozialdemo-kraten ist klar: Jedes Kind ist uns gleich viel wert. EineStaffelung des Kindergeldes nach erstem, zweitem oderdrittem Kind, wird es mit uns nicht geben. Darüber hi-naus ist es nur richtig, den Existenzminimumbericht derBundesregierung in die Entscheidungsfindung mit einzu-beziehen. Warten wir ihn ab – diskutieren dann und han-deln zielorientiert.Lassen Sie mich zurückkommen zum Antrag. Es ist är-gerlich, wie Sachverhalte einfach falsch dargestellt wer-den. Der Antrag zeichnet nicht nur ein unvollständigesondern auch ein falsches Bild. Fakt ist, mit der Arbeits-losengeld-II-Verordnung ist eine Klarstellung der gelten-den Rechtslage erfolgt. Mit anderen Worten, die Verord-nung bedarf keiner Klarstellung, sie ist die Klarstellung!Und insbesondere bei dem von Ihnen angesprochenenProblem der Anrechnung von Verpflegung wurde Rechts-klarheit geschaffen. Grundsätzlich gilt Verpflegung alsEinkommen bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes II.Damit ist klar, dass es sich hier nicht um eine Absenkungder Regelleistung handelt oder ein Bedarf abweichendfestgesetzt wird. Die Berücksichtigungen von Einkommenund Vermögen sind Grundprinzipien des Leistungsbezu-ges im SGB II. Einkommen und Vermögen sind Ausdruckder eigenen Leistungsfähigkeit und daher zu berücksich-tigen. Ein doppelter Leistungsbezug wird verhindert. Dasist auch eine Frage der Gerechtigkeit.Zu ProtokollTrotz dieser prinzipiellen Überlegungen gilt unserBlick immer den Betroffenen, insbesondere bei der vonIhnen angesprochenen Verpflegung bei einem Kranken-hausaufenthalt. Wir haben mit der Einführung der Baga-tellgrenze von derzeit 83,28 Euro soziale Härten vermie-den. Diese gilt grundsätzlich pro Monat. Das heißt in derPraxis, für einen Patienten, der ein Jahr lang denHöchstregelsatz an Arbeitslosengeld II bezieht, wird dieVollverpflegung erst ab dem 21. Tag des Aufenthaltesangerechnet. Bei einer durchschnittlichen Krankenhaus-aufenthaltsdauer von 8,5 Tagen ist ein Großteil von derAnrechnung gar nicht betroffen.Lassen sie mich abschließend noch zur Anpassung derRegelsätze etwas sagen. Als Grundlage für Anpassungender Regelsätze brauchen wir valide Daten, die nach ei-nem verlässlichen und transparenten Verfahren bestimmtwerden. Willkür ist hier nicht geboten. Richtig ist, dasssich das Verfahren der Einkommens- und Verbrauchs-stichprobe zur Ermittlung der Regelsätze bewährt hat.Richtig ist aber auch, dass der Zeitraum, diese Daten nuralle 5 Jahre zu erheben, zu lang ist. Ein Zeitraum von ma-ximal 3 Jahren ist denkbar. Die Veränderungen vollzie-hen sich einfach schneller als zu früheren Zeiten.Zum Ende des Jahres erwarten wir die Ergebnisse derEinkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008. Darüberhinaus prüft das BMAS derzeit die Auswirkungen der ak-tuellen Preisentwicklung für Empfänger von ALG II. AufGrundlage der Ergebnisse werden wir dann über eine An-passung der Regelsätze reden und entsprechend handeln.
Die Grundsicherung für Arbeitsuchende sollte den bü-rokratischen Aufwand bei der Antragsbearbeitung vonArbeitslosen- und Sozialhilfe eindämmen und Verwal-tungskosten einsparen. Dennoch steigt die Klageflut anden Sozialgerichten seit Jahren, weil viele Details im Ge-setz ungeklärt geblieben sind. Die meisten Fälle drehensich um die Bedarfsberechnung, die Anrechnung von Ein-kommen und Vermögen, angemessene Wohnungskostenund Sanktionen. Diese Verfahren kosten die Zeit und dasGeld aller Beteiligten. Die Gerichte geben bei ähnlichenFallgestaltungen in Einzelfällen den Betroffenen Recht,in anderen machen sie eine Ablehnung nachvollziehbar.Das zeigt, wie groß die Unsicherheit ist.In diesem Antrag wird gefordert, die Arbeitslosen-geld II-Sozialgeld-Verordnung des Arbeitsministeriums,die seit 1. Januar 2008 in Kraft ist, nach dem Grundsatzpauschalierter Regelleistungen zu überarbeiten. Außer-dem sollen Verpflegungsleistungen bei stationären Auf-enthalten grundsätzlich nicht als Einnahme auf die Re-gelleistung angerechnet werden.Die FDP hat sich für die Pauschalierung von Sozial-leistungen eingesetzt. Die pauschalierten Regelsätze ge-ben den Menschen die Freiheit, ihr Geld so einzusetzen,wie sie es brauchen. Deshalb unterstützen wir auch diegrundsätzliche Forderung, bedürftigkeitsabhängige So-zialtransfers weitgehend zu pauschalieren. Das ist eineMaßnahme zur Schaffung größerer Transparenz undRechtsklarheit.Leider weicht der Antrag von dieser Forderung wiederab. Er hebt hervor, dass das Prinzip der individuellen Be-
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Dirk Niebeldarfsdeckung durch die Pauschalierung nicht ausgehe-belt werden darf. Dabei scheint es auch wieder wenigerum Entbürokratisierung und Vereinfachung zu gehen alsdarum, einen höheren Leistungsumfang bei den Arbeits-losengeld-II-Beziehern zu erreichen. Dies wird belegtdurch die Formulierung, dass die Bundesregierung esversäumt, durch die Festlegung bedarfsgerechter Regel-sätze das soziokulturelle Existenzminimum sicherzustel-len, und die Forderung, bereitgestellte Verpflegungsleis-tungen grundsätzlich nicht auf die Regelleistung alsEinnahme anzurechnen.Die gute Arbeitsmarktlage ist an den ALG-II-Empfän-gern vorbeigegangen. Ihre Situation hat sich nicht we-sentlich verbessert. Eine schnellere Vermittlung in Be-schäftigung hat nicht stattgefunden. Das Personal ist mitVerwaltungs- statt Vermittlungsaufgaben befasst. Wederwurden neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätzefür Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose geschaf-fen, noch wurden die Anreize zur Arbeitsaufnahme attrak-tiv gesetzt. Statt einen geregelten Niedriglohnsektor ein-zuführen, der auch diesen Menschen die Chance aufBeschäftigung gibt, werden weitere Arbeitsplätze durchdie geplante Einführung von flächendeckenden Mindest-löhnen gefährdet. Mindestlöhne werden Arbeitsplätze indie Schwarzarbeit verdrängen und dadurch die Chancenvon Langzeitarbeitslosen verschlechtern.Auch das Chaos bei der Betreuung von Langzeitar-beitslosen durch Arbeitsagenturen, Kommunen und Ar-beitsgemeinschaften muss beendet werden. Wir wollen,dass alle Arbeitslosen in kommunalen Jobcentern betreutund beraten werden, weil die Kommunen besser auf indi-viduelle Problemlagen und den regionalen Arbeitsmarktreagieren können. In dieser Auffassung werden wir vonvielen Optionskommunen unterstützt; nur die Bundesre-gierung weigert sich, dies zur Kenntnis zu nehmen.Das Arbeitslosengeld soll und kann durch Hinzuver-dienste aufgestockt werden. Statt ständig einen höherenLeistungsbezug zu fordern, sollte alles unternommenwerden, um den Betroffenen eine Perspektive auf Be-schäftigung zu geben. Die Aufnahme einer auch nur ge-ring entlohnten Beschäftigung muss gegenüber der allei-nigen Inanspruchnahme staatlicher Transferleistungenattraktiver werden. Dazu müssen auch die bestehendenRegelungen zur sozialen Absicherung vereinfacht und un-bürokratischer ausgestaltet werden.Unser Bürgergeld-Konzept bedeutet den notwendigenSystemwechsel. Unser Bürgergeld-Konzept ist ein trans-parentes Steuer- und Transfersystem aus einem Guss undbietet einen gleitenden und lohnenden Übergang in dieErwerbstätigkeit. Das Bürgergeld stellt ein Mindestein-kommen für jeden sicher, und zugleich schafft es zusätzli-che Anreize, durch Arbeit ein höheres Netto-Einkommenzu erzielen. Damit ist es gerechter und wirksamer als jedeMindestlohnregelung. Das Bürgergeld muss individuellausgestaltet werden, je nach Lebenssituation. Das Bür-gergeld muss so berechnet werden, dass es bezahlbarbleibt und eine hinreichende Versorgung gewährleistet.Leistungsbezieher brauchen eine andere Perspektiveals mehr Anträge für mehr Leistung, sie brauchen einePerspektive auf einen Arbeitsplatz. Wir brauchen auchZu Protokollfür diejenigen, die die finanzielle Grundlage des Leis-tungsbezuges sichern, eine andere Perspektive. Die Men-schen in der Mitte der Gesellschaft müssen entlastet stattimmer weiter belastet werden. Sie fragen sich zu Recht,warum der Aufschwung bei ihnen nicht angekommen ist,wo der Abschwung schon vor der Tür steht.
Sowohl die grundsätzlichen Erwägungen als auch diekonkreten Forderungen des Antrags 16/7838 werden vonmeiner Fraktion geteilt. Insbesondere bedarf es einerdringenden und gründlichen Überarbeitung der ALG-II-Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zurNichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen imSinne des Grundsatzes pauschalierter Leistungen, die wiraktuell als vollkommen falsch konzipiert betrachten.Auch sind wir nach wie vor der Auffassung, dass Ver-pflegungsleistungen bei stationären Aufenthalten oderTeilverpflegungen in Kindertagesstätten und Schulengrundsätzlich nicht auf die Regelleistung angerechnetwerden dürfen. Dahin gehende Forderungen hat meineFraktion ja auch immer wieder in eigenen Anträgen er-hoben, so bereits mehrfach die deutliche Anhebung desRegelsatzes, die Berücksichtigung kinder- und ju-gendspezifischer Bedarfe und zuletzt die Nichtanrech-nung von Verpflegung bei stationärem Aufenthalt auf dieRegelleistung. Hier teilen wir die Sicht der Grünen, dasseine solche Anrechnung – auch jenseits einer Bagatell-grenze – dem Grundsatz der Pauschalierung wider-spricht, und weisen die Interpretation des Ministeriums
, dass
mit der Verordnung dem Votum des Petitionsausschussesweitgehend entsprochen wurde, aufs Schärfste zurück.Insbesondere möchte ich noch einmal hervorheben,dass wir eine Ermessensentscheidung durch die Grundsi-cherungsträger bei der Überprüfung der Betriebsausga-ben von Selbstständigen, die ergänzendes ALG II bezie-hen, ablehnen. Statt noch mehr unangemessenenbürokratischen Aufwand zu erzeugen, indem ein Streit umjeden Bleistift und jede Druckerkartusche stattfindet,sollte bei der Berechnung von Einkommen und der Abset-zung von Betriebsausgaben von selbstständig Tätigen dasSteuerrecht zum Maßstab gemacht werden und nicht, wiein der Verordnung vorgesehen, eine zweite Prüfung durchdas Jobcenter vollzogen werden.So hätten die Jobcenter auch mehr Freiraum, um sichauf eine deutlich verbesserte Beratung und Vermittlungvon Hilfesuchenden zu konzentrieren. Denn aktuell lässtdie Beratungsqualität in staatlichen bzw. amtlichen Stel-len immer noch sehr zu wünschen übrig.In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf unsereForderungen nach der Stärkung von unabhängigen Bera-tungsstellen aufmerksam machen; denn sehr viele Hilfe-suchende wenden sich in ihrer Not an solche Einrichtun-gen und suchen dort Rat und Unterstützung. Einerunserer Vorschläge dazu ist, zum Beispiel diese Einrich-tungen mit qualifiziertem Personal zu verstärken. Dashätte zudem die Konsequenz, dass die Jobcenter etwasentlastet würden.Weitere positive und weitreichende Effekte kann dieBundesregierung aber vor allem dadurch erzielen, indem
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Katja Kippingals erster Schritt die Regelsätze bei Hartz IV endlich inRichtung einer armutsfesten Grundsicherung und inÜbereinstimmung mit dem geltenden Recht auf 435 Europro Monat angehoben werden. In einem zweiten Schrittmuss dann eine repressionsfreie soziale Grundsicherungeingeführt werden, die diesen Namen auch wirklich ver-dient.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales
hat zum 1. Januar 2008 eine neue Verordnung
zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberück-sichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeits-losen II/Sozialgeld, kurz: ALG-II-Verordnung, auf denWeg gebracht. Diese Verordnung klingt nicht nur büro-kratisch, sie enthält auch Regelungen, die selbstständi-gen Leistungsbeziehern eigene unternehmerische Ent-scheidungen nahezu unmöglich machen. Seit dem1. Januar 2008 soll der Abzug von Betriebsausgabennicht mehr nach den Maßstäben des Steuerrechtes erfol-gen, sondern weitgehend dem Ermessen der Fallmanagerin den Jobcentern unterliegen. Mit dieser Vorgabe wer-den nicht nur die Leistungsbehörden, sondern auch dieSelbstständigen im ALG-II-Bezug über Gebühr belastet.Zum einen sind die Fallmanager für unternehmerischesHandeln nicht ausgebildet. Zum anderen sind Selbststän-dige aufgrund der neuen Regelung gezwungen, eine dop-pelte Buchführung ganz eigener Art aufzustellen: eine fürdas Finanzamt und eine für die Sozialbehörde.Die Zahl der Selbstständigen ist seit Einführung desArbeitslosengeld II kontinuierlich gestiegen. Allein imZeitraum von Januar 2007 bis April 2008 stieg die Zahlder selbstständig tätigen Leistungsbeziehenden, die nichtohne ein ergänzendes ALG II über die Runden kommen,von 56 250 auf 96 940 Personen. Ohne das Abschre-ckungsinstrument der ALG-II-Verordnung wäre die Zahlder selbstständig tätigen Leistungsbeziehenden voraus-sichtlich deutlich höher. Das Arbeitslosengeld II hat dem-nach für Selbstständige eine zunehmende Bedeutung undwichtige Unterstützungsfunktion. Gleichwohl gängelt dasBMAS den unternehmerischen Geist. Wieder einmal wirddas überbordende Kontrollbedürfnis des BMAS getragenvom Gedanken des Sozialmissbrauchs. Dabei kann vonSozialmissbrauch im großen Stil keine Rede sein. Tat-sächlich sind die aufgedeckten Missbrauchsfälle rapidezurückgegangen. In 2005 waren es noch 206 000 Fälle,2007 wurden 87 000 Fälle nachgewiesen. Bis Juli diesesJahres hat die Bundesagentur für Arbeit nur noch9 000 ungerechtfertigte Zahlungen erfasst. Bundes-arbeitsminister Scholz wäre deshalb gut beraten, wenn erdie Selbstbestimmungsrechte der ALG-II-Beziehenden– hier der Selbstständigen – stärken würde, damit diesedie notwendige Handlungsfreiheit gewinnen, sich selbstaus dem Leistungsbezug zu befreien.In dem hier zur Diskussion stehenden Antrag betonenBündnis 90/Die Grünen die Notwendigkeit einer pau-schaliert ausgezahlten Regelleistung. Das Prinzip pau-schalierter Regelleistungen wurde erstmals mit den soge-nannten Hartz-Reformen eingeführt. Unserer Meinungnach ist es nach wie vor sinnvoll, Sozialtransfers wie dasArbeitslosengeld II als pauschalen Betrag auszuzahlen.Zu ProtokollDies schafft Planungssicherheit für die Leistungsbezie-henden und entlastet die Leistungsbehörden von bürokra-tischen Einzelentscheidungen, vorausgesetzt, die Regel-leistungen sichern das soziokulturelle Existenzminimum.Vor diesem Hintergrund wurde zum 1. Januar 2005 dasArbeitslosengeld II eingeführt. Bedauerlicherweise istdie Bundesregierung auch im dritten Jahr nach Einfüh-rung dieser Leistung nicht in der Lage, die notwendigenAnpassungen vorzunehmen. Weder wurden die Regelleis-tungen auf ein existenzsicherndes Niveau angepasst,noch werden sie unbürokratisch ausgezahlt. So hat dasBMAS trotz einer Vielzahl anderslautender Sozialge-richtsentscheidungen die Verrechnung von Krankenhaus-kost auf den Regelsatz in der hier zur Debatte stehendenALG-II-Verordnung festgeschrieben. Zwischenzeitlichhat das Bundessozialgericht mit dem Urteil vom 18. Juni2008 jedoch grundsätzlich dieMöglichkeit verneint, die Regelleistung bei Gewährungvon Krankenhauskost zu kürzen. Das Bundessozialge-richt hebt ausdrücklich den Grundsatz der Pauschalie-rung des Arbeitslosengeld II hervor und verneint dieRechtsauffassung der Bundesregierung, dass das Be-darfsdeckungsprinzip Grundlage für die Kürzung der Re-gelleistung bei Gewährung von Krankenhauskost sei.Die hier zur Debatte stehende Verordnung zur Berech-nung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigungvon Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosen II/Sozialgeld stellt nicht nur eine bürokratische Gängelungen détail dar, sie hält auch nicht, was ihr Titel verspricht.Der Gesetzgeber hat das BMAS in seiner Verordnungser-mächtigung lediglich dazu ermächtigt, zu regeln, „wel-che weiteren Einnahmen nicht als Einkommen zu berück-sichtigen sind“ . Genau deshalb heißt es imTitel der Verordnung auch: „Nichtberücksichtigung vonEinkommen und Vermögen“. Gleichwohl regelt dasBMAS ohne die nötige Rechtsetzungskompetenz, welcheEinnahmen als Einkommen zu berücksichtigen sind, soauch bei der Regelung zur Verrechnung von Kranken-hauskost mit dem Regelsatz. Eine Vielzahl von Sozialge-richten hat in diesem Jahr wenige Monate nach Inkraft-treten der ALG-II-Verordnung dem BMAS die nötigeRechtsetzungskompetenz in dieser Frage abgesprochen.Dieser Eingriff in die Leistungsauszahlung müsse durchein Gesetz geregelt werden. Auch das Bundessozialge-richt hat in der genannten Entscheidung deutliche Zwei-fel an der Rechtsetzungskompetenz des BMAS geäußert,obwohl es in seiner Entscheidung nicht über die neueALG-II-Verordnung zu entscheiden hatte.Trotz dieser erdrückenden juristischen Niederlage istdas BMAS offenbar nicht bereit, sich die schweren hand-werklichen Mängel der Verordnung einzugestehen unddie rechtswidrige Verordnungsregelung zurückzunehmen.Aufgrund der nach wie vor bestehenden Rechtslagemusste die Bundesanstalt für Arbeit in der Geschäftsan-weisung Nr. 28 vom 20. Juli 2008 die Leistungsbehördenanweisen, die Entscheidung des Bundessozialgerichtsnicht anzuwenden. Die Sozialgerichte werden weiterhinmit Klagen überhäuft, obwohl schon heute abzusehen ist,dass das Bundessozialgericht in letzter Instanz auch dieneue Regelung zur Verrechung von Krankenhauskost auf
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19181
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Markus Kurthden Regelsatz in der zum 1. Januar 2008 gültigen ALG-II-Verordnung verwerfen wird.Ich bitte Sie, mit uns der Uneinsichtigkeit von Arbeits-minister Scholz ein Ende zu bereiten. Ich fordere Sie auf,unserem Antrag, die ALG-II-Verordnung im Sinne desGrundsatzes unbürokratischer, pauschalierter Leistungs-gewährung zu überarbeiten, zuzustimmen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/8445, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/7838 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD, CDU/CSU bei Gegenstimmen von
Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei
Enthaltung der Fraktion der FDP angenommen.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 26. September 2008,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen und al-
len Mitarbeitern noch einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.