Protokoll:
16179

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 16

  • date_rangeSitzungsnummer: 179

  • date_rangeDatum: 25. September 2008

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  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 23:07 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 16/179 Peer Steinbrück, Bundesminister BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . . Dr. Michael Meister (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Oskar Lafontaine (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Ludwig Stiegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Herbert Schui (DIE LINKE) . . . . . . . . Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: a) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur arbeitsmarktadäquaten Steuerung der Zuwanderung Hochqua- lifizierter und zur Änderung weiterer aufenthaltsrechtlicher Regelungen (Ar- beitsmigrationssteuerungsgesetz) (Drucksache 16/10288) . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Rainder Steenblock, Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Abschottungspolitik beenden – Volle Arbeitnehmerfreizügigkeit ab 2009 her- stellen 18968 D 18978 A 18980 B 18982 D 18986 C 18988 A 18989 B 18991 A 18991 B 18991 C 19006 B Deutscher B Stenografisc 179. Si Berlin, Donnerstag, de I n h a Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Ilse Falk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl der Abgeordneten Marianne Schieder und Karin Binder zu Schriftführerinnen . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung der Tagesordnungspunkte 14 b und 35 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 2: Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister der Finanzen: zur Lage der Finanzmärkte 18967 A 18967 B 18967 B 18968 B 18968 B Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18993 D 18995 B undestag her Bericht tzung n 25. September 2008 l t : Nina Hauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ortwin Runde (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto Bernhardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . Dr. Herbert Schui (DIE LINKE) . . . . . . . . Jörg-Otto Spiller (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 18995 D 18997 B 18998 B 18999 C 19000 D 19001 B 19002 B 19003 C 19003 D 19005 A (Drucksache 16/10237) . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit . 19006 C II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 Zusatztagesordnungspunkt 3: Erste Beratung des von den Abgeordneten Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Gisela Piltz, Dr. Max Stadler, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Auf- enthalts und der Integration von Unions- bürgern und Ausländern (Zuwanderungs- gesetz) (Drucksache 16/9091) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP: EU-Arbeitnehmerfreizügig- keit sofort und unbeschränkt in der Bun- desrepublik Deutschland gewähren (Drucksache 16/10310) . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Altmaier, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Hennrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 38: a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- derung des § 33 des Gerichtsverfas- sungsgesetzes (Drucksache 16/514) . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- derung des § 573 Abs. 2 des Bürger- lichen Gesetzbuchs (Drucksache 16/1029) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- derung der Verwaltungsgerichtsord- nung (Drucksache 16/1345) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines ... Strafrechtsän- derungsgesetzes – § 21 StGB (... StrÄndG) (Drucksache 16/4021) . . . . . . . . . . . . . . . . 19006 C 19006 C 19006 D 19007 D 19009 D 19011 B 19013 A 19014 D 19016 C 19018 C 19019 D 19019 D 19019 D 19019 D e) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Bundeszentralregisterge- setzes (Drucksache 16/4199) . . . . . . . . . . . . . . . f) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Opferschutzes im Straf- prozess (Drucksache 16/7617) . . . . . . . . . . . . . . . g) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur In- tensivierung des Einsatzes von Video- konferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren (Drucksache 16/7956) . . . . . . . . . . . . . . . h) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Re- form des strafrechtlichen Wiederauf- nahmerechts (Drucksache 16/7957) . . . . . . . . . . . . . . . i) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- derung der Bundesnotarordnung und anderer Gesetze (Drucksache 16/8696) . . . . . . . . . . . . . . . j) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Bundeszentralregisterge- setzes (Drucksache 16/9021) . . . . . . . . . . . . . . . k) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Schutzes der Opfer von Zwangsheirat und schwerem „Stal- king“ (Drucksache 16/9448) . . . . . . . . . . . . . . . l) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Modellklausel in die Berufsgesetze der Hebammen, Logopä- den, Physiotherapeuten und Ergothera- peuten (Drucksache 16/9898) . . . . . . . . . . . . . . . m) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- derung des Gesetzes über den Bau und den Betrieb von Versuchsanlagen zur Erprobung von Techniken für den spurgeführten Verkehr (Drucksache 16/9899) . . . . . . . . . . . . . . . n) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Anpassung der Vorschriften des Internationalen Privatrechts an die Ver- ordnung (EG) Nr. 864/2007 (Drucksache 16/9995) . . . . . . . . . . . . . . . 19020 A 19020 A 19020 A 19020 A 19020 B 19020 B 19020 B 19020 B 19020 C 19020 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 III o) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Dün- gegesetzes (Drucksache 16/10032) . . . . . . . . . . . . . . . p) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Drit- ten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Meldungen über Marktordnungs- waren (Drucksache 16/10033) . . . . . . . . . . . . . . . q) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Durchführung des Übereinkom- mens vom 30. Oktober 2007 über die gerichtliche Zuständigkeit und die An- erkennung und Vollstreckung von Ent- scheidungen in Zivil- und Handelssa- chen (Drucksache 16/10119) . . . . . . . . . . . . . . . r) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Abwehr von Gefahren des inter- nationalen Terrorismus durch das Bundeskriminalamt (Drucksache 16/10121) . . . . . . . . . . . . . . . s) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Durchführung gemeinschaftli- cher Vorschriften über das Verbot der Einfuhr, der Ausfuhr und des Inver- kehrbringens von Katzen- und Hunde- fellen (Katzen- und Hundefell- Einfuhr- Verbotsgesetz – KHfEVerbG) (Drucksache 16/10122) . . . . . . . . . . . . . . . t) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes über das Personal der Bundes- agentur für Außenwirtschaft (BfAI- Personalgesetz – BfAIPG) (Drucksache 16/10293) . . . . . . . . . . . . . . . u) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Fünf- ten Gesetzes zur Änderung des Filmför- derungsgesetzes (Drucksache 16/10294) . . . . . . . . . . . . . . . v) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Protokoll vom 15. Oktober 2007 zur Änderung des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutsch- land und der Russischen Föderation zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Ein- kommen und vom Vermögen vom 29. Mai 1996 und des Protokolls hierzu vom 29. Mai 1996 (Drucksache 16/10295) . . . . . . . . . . . . . . . 19020 C 19020 D 19020 D 19020 D 19021 A 19021 A 19021 A 19021 A w) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Vertrag vom 3. März 2008 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- land und dem Zentralrat der Juden in Deutschland – Körperschaft des öffent- lichen Rechts – zur Änderung des Ver- trages vom 27. Januar 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutsch- land – Körperschaft des öffentlichen Rechts – (Drucksache 16/10296) . . . . . . . . . . . . . . x) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Drei- zehnten Gesetzes zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes (Drucksache 16/10297) . . . . . . . . . . . . . . y) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Vier- ten Gesetzes zur Änderung des Allge- meinen Eisenbahngesetzes (Drucksache 16/10298) . . . . . . . . . . . . . . z) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Veröffentlichung von Informa- tionen über die Zahlung von Mitteln aus den Europäischen Fonds für Land- wirtschaft und Fischerei (Agrar- und Fischereifonds-Informationen-Gesetz – AFIG) (Drucksache 16/10299) . . . . . . . . . . . . . . aa) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting- Uhl, Cornelia Behm, Hans-Josef Fell, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Grenz- werte bei Müllverbrennungsanlagen dem technischen Fortschritt anpassen und deutlich absenken (Drucksache 16/5775) . . . . . . . . . . . . . . . bb)Antrag der Abgeordneten Michael Leutert, Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für die Durchset- zung von Mindeststandards humanen Arbeitens in der Volksrepublik China eintreten – Menschenrechte und Sozial- standards bei Konzerngeschäften in und mit China durchsetzen (Drucksache 16/9413) . . . . . . . . . . . . . . . cc) Antrag der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck (Köln), Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Grundrechte schützen – Frauenhäuser sichern (Drucksache 16/10236) . . . . . . . . . . . . . . 19021 B 19021 B 19021 C 19021 C 19021 C 19021 C 19021 C IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 dd)Bericht des Ausschusses für Bildung, For- schung und Technikfolgenabschätzung ge- mäß § 56 a der Geschäftsordnung: Tech- nikfolgenabschätzung (TA) Potenziale und Anwendungsperspektiven der Bio- nik (Vorstudie) (Drucksache 16/3774) . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Bericht des Ausschusses für Bildung, For- schung und Technikfolgenabschätzung ge- mäß § 56 a der Geschäftsordnung: Technikfolgenabschätzung (TA) Politik- Benchmarking: Akademische Spin-offs in Ost- und Westdeutschland und ihre Erfolgsbedingungen (Drucksache 16/4669) . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Bericht des Ausschusses für Bildung, For- schung und Technikfolgenabschätzung gemäß § 56 a der Geschäftsordnung: Technikfolgenabschätzung (TA) Politik- benchmarking: Nachfrageorientierte Innovationspolitik (Drucksache 16/5064) . . . . . . . . . . . . . . . . gg)Bericht des Ausschusses für Bildung, For- schung und Technikfolgenabschätzung ge- mäß § 56 a der Geschäftsordnung: Technikfolgenabschätzung (TA) TA-Vor- studie: Perspektiven eines CO2- und emissionsarmen Verkehrs – Kraftstoffe und Antriebe im Überblick (Drucksache 16/5325) . . . . . . . . . . . . . . . . hh)Bericht des Ausschusses für Bildung, For- schung und Technikfolgenabschätzung ge- mäß § 56 a der Geschäftsordnung: Tech- nikfolgenabschätzung (TA) TA-Projekt: Hirnforschung (Drucksache 16/7821) . . . . . . . . . . . . . . . . ii) Bericht des Ausschusses für Bildung, For- schung und Technikfolgenabschätzung ge- mäß § 56 a der Geschäftsordnung: Technikfolgenabschätzung (TA) Inter- netkommunikation in und mit Entwick- lungsländern – Chancen für die Ent- wicklungszusammenarbeit am Beispiel Afrik (Drucksache 16/9918) . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 5: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Steuerautonomie in den Ländern (Erbschaftsteuerreform- gesetz) (Drucksache 16/10309) . . . . . . . . . . . . . . . 19022 A 19022 A 19022 B 19022 B 19022 C 19022 C 19022 D b) Antrag der Abgeordneten Jürgen Trittin, Kerstin Müller (Köln), Winfried Nachtwei, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kontraproduktive US-Operationen in Pakistan sofort einstellen – Umfassende Strategie zur Stabilisierung Pakistans entwickeln (Drucksache 16/10333) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 39: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Müller (Köln), Winfried Nachtwei, Jürgen Trittin, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Keine mi- litärische Eskalation gegenüber dem Iran – Konflikt um das Atomprogramm mit Verhandlungen lösen (Drucksachen 16/4407, 16/7515) . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des In- nenausschusses zu dem Antrag der Abge- ordneten Wolfgang Wieland, Volker Beck (Köln), Monika Lazar, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Europol-Beschluss rechts- staatlich verbessern (Drucksachen 16/7742, 16/9825) . . . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des In- nenausschusses zu dem Antrag der Abge- ordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Monika Lazar, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Das Parlament bei der Ausgestaltung des Einbürge- rungstests beteiligen (Drucksachen 16/9602, 16/9945) . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 6: Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses: Übersicht 12 über die dem Deutschen Bun- destag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht (Drucksache 16/10321) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- nanzausschusses zu dem Antrag der Abgeord- neten Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE: Entfernungspauschale sofort vollständig anerkennen – Verfas- sungsmäßigkeit und Steuergerechtigkeit herstellen (Drucksachen 16/9167, 16/9569) . . . . . . . . . . 19022 D 19023 A 19023 B 19023 C 19023 D 19023 D Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 V Florian Pronold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU) . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Otto Bernhardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Jahressteuer- gesetzes 2009 (JStG 2009) (Drucksache 16/10189) . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicolette Kressl, Parl. Staatssekretärin BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Eduard Oswald (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Ernst Burgbacher (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Eduard Oswald (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Frechen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Modernisierung des Vergabe- rechts (Drucksache 16/10117) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer, Werner Dreibus, Dr. Diether Dehm, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Tariftreue europarechtlich ab- sichern (Drucksache 16/9636) . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit 19024 A 19024 D 19026 A 19027 B 19029 B 19030 D 19031 C 19032 C 19035 C 19032 C 19032 D 19033 D 19037 B 19039 B 19039 C 19039 D 19040 D 19041 D 19042 B 19043 B 19044 C 19045 C 19045 C Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, Martin Zeil, Birgit Homburger, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der FDP: Novel- lierung des Vergaberechts für Bürokratie- abbau nutzen – Bundesweit einheitliches Präqualifizierungssystem für Leistungen einführen (Drucksache 16/9092) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dagmar Wöhrl, Parl. Staatssekretärin BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul K. Friedhoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD) . . . . . Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Walter Riester (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: a) Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gentech- nikfreie Regionen stärken – Bundesre- gierung soll Forderungen aus Bayern aufnehmen und weiterentwickeln (Drucksache 16/10202) . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- schaft und Verbraucherschutz zu dem An- trag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rahmen- bedingungen für Milchmarkt verbes- sern – Faire Erzeugerpreise für Milch unterstützen (Drucksachen 16/9601, 16/9869) . . . . . . . Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Bleser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . 19045 D 19045 D 19046 C 19047 D 19049 B 19050 A 19051 A 19052 C 19053 B 19053 B 19053 C 19054 D 19055 D 19056 C 19057 B 19057 C 19058 B VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marianne Schieder (SPD) . . . . . . . . . . . . . Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . . Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) . . . . . . . Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . . Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . Julia Klöckner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Gerd Müller (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (zur Geschäftsordnung) . . Tagesordnungspunkt 6: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Absicherung flexibler Arbeitszeitrege- lungen (Drucksache 16/10289) . . . . . . . . . . . . . . . . . Olaf Scholz, Bundesminister BMAS . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU) . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Grotthaus (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales – zu dem Antrag der Abgeordneten Jörg Rohde, Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Altersvorsorge für Geringverdiener attraktiv gestalten – zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der 19058 D 19059 A 19060 A 19061 C 19061 D 19061 D 19062 D 19063 D 19064 D 19065 D 19066 B 19067 A 19067 C 19068 A 19068 D 19070 B 19070 B 19072 A 19073 B 19075 A 19076 C 19077 C 19078 A 19079 A Fraktion DIE LINKE: Riesterrente auf den Prüfstand stellen (Drucksachen 16/7177, 16/8495, 16/10356) . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Jörg Rohde (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . Jörg Rohde (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lydia Westrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE) . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, Hartwig Fischer (Göttingen), weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Gregor Amann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Förderung von Bildung und Ausbildung – Entwicklungspolitischen Schlüsselsektor konsequent ausbauen – zu dem Antrag der Abgeordneten Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche, Dr. Diether Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Entwick- lung braucht Bildung – Den deutschen Beitrag erhöhen (Drucksachen 16/9424, 16/8812, 16/10360) . Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Hellmut Königshaus (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE) . . . . . . Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE) . . . . . . Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christel Riemann-Hanewinckel (SPD) . . . . . 19080 B 19080 C 19081 D 19082 A 19082 B 19084 A 19085 A 19086 B 19087 B 19088 D 19090 D 19091 A 19092 B 19092 C 19093 A 19094 D 19096 A 19097 D 19098 D 19099 A 19099 B 19099 C 19100 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 VII Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Keine Lobbyisten in den Ministerien (Drucksache 16/9484) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Ralf Göbel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Friedrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Tourismus – zu der Unterrichtung durch die Bun- desregierung: Tourismuspolitischer Bericht der Bundesregierung – 16. Legislaturperiode – – zu dem Entschließungsantrag der Ab- geordneten Ernst Burgbacher, Jens Ackermann, Christian Ahrendt, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Tourismuspoliti- scher Bericht der Bundesregierung – 16. Legislaturperiode – (Drucksachen 16/8000, 16/8194, 16/10187) . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Tourismus zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Annette Faße, Brunhilde Irber, Renate Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Messen und Ge- schäftsreisen als Chance für den Touris- musstandort Deutschland (Drucksachen 16/5958, 16/9255) . . . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Tourismus – zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Bernward Müller (Gera), Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU sowie der Abge- ordneten Annette Faße, Renate Gradistanac, Bettina Hagedorn, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Chancen des demographischen Wandels im Tourismus nutzen 19101 D 19102 A 19102 D 19103 D 19104 B 19105 C 19106 C 19107 B 19107 C – zu dem Antrag der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Britta Haßelmann, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Barrierefreiheit und de- mografischer Wandel – Auf die He- rausforderungen für den Tourismus reagieren (Drucksachen 16/8777, 16/9315, 16/10073) . d) Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Uda Carmen Freia Heller, Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Annette Faße, Engelbert Wistuba, Dr. Carl-Christian Dressel, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Reformationsjubiläum 2017 als welthistorisches Ereignis würdigen (Drucksache 16/9830) . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Anita Schäfer (Saalstadt), Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Annette Faße, Gabriele Hiller-Ohm, Renate Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Bauernhofurlaub und Landtourismus weiter fördern – Ländliche Räume nachhaltig stärken (Drucksache 16/10320) . . . . . . . . . . . . . . f) Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Barrierefreier Tourismus für alle in Deutschland (Drucksache 16/10317) . . . . . . . . . . . . . . Ernst Hinsken, Beauftragter der Bundes- regierung für Tourismus . . . . . . . . . . . . . . Ernst Burgbacher (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brunhilde Irber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uda Carmen Freia Heller (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Engelbert Wistuba (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Montag, Volker Beck (Köln), Monika Lazar, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes – Be- 19107 B 19108 A 19108 A 19108 B 19108 C 19110 B 19111 C 19112 D 19114 B 19115 A 19116 B 19117 B VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 stechung und Bestechlichkeit von Abge- ordneten – (... StrÄndG) (Drucksache 16/6726) . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Stünker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Bilanzrechts (Bilanz- rechtsmodernisierungsgesetz – BilMoG) (Drucksache 16/10067) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Elke Hoff, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP so- wie der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Kerstin Müller (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: NSG-Aus- nahmeregelung für Indien beschädigt das nukleare Nichtverbreitungsregime – Zu- stimmung der Bundesregierung ist Beleg einer falschen Abrüstungspolitik (Drucksache 16/10355) . . . . . . . . . . . . . . . . . Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eckart von Klaeden (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . . Dr. h. c. Gernot Erler, Staatsminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eckart von Klaeden (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bundesbericht zur Förderung des Wis- senschaftlichen Nachwuchses (Drucksache 16/8491) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Priska Hinz (Herborn), Krista Sager, wei- 19118 D 19119 A 19120 A 19121 B 19122 A 19123 B 19125 B 19125 C 19125 D 19127 A 19128 C 19129 C 19130 A 19131 B 19131 C 19131 D 19133 A terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wissen- schaft als Beruf attraktiver machen – Den wissenschaftlichen Nachwuchs bes- ser unterstützen (Drucksache 16/9104) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: Antrag der Abgeordneten Katja Kipping, Katrin Kunert, Klaus Ernst, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: So- zialticket für die Deutsche Bahn AG (Drucksache 16/10264) . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Hofbauer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Uwe Beckmeyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Nationales Reformprogramm Deutschland 2008 bis 2010 Umsetzungs- und Fortschrittsbericht 2008 (Drucksache 16/10250) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: Antrag der Abgeordneten Britta Haßelmann, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Diskriminierende Altersgrenzen im Bereich des bürgerschaftlichen Engage- ments aufheben (Drucksache 16/9630) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Geset- zes zur Änderung des Energieeinsparungs- gesetzes (Drucksachen 16/10290, 16/10331) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Gudrun Kopp, Martin Zeil, Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung wettbe- werblicher Strukturen im Markt für Postdienstleistungen (PostWettG) (Drucksache 16/8906) . . . . . . . . . . . . . . . 19133 A 19133 B 19133 C 19134 B 19135 A 19135 D 19136 B 19137 A 19137 B 19137 C 19137 D Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 IX b) Antrag der Abgeordneten Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, Martin Zeil, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der FDP: Wettbewerbsintensität im Binnen- markt für Postdienstleistungen erhöhen (Drucksache 16/8773) . . . . . . . . . . . . . . . . Alexander Dobrindt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Klaus Barthel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gudrun Kopp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Investitionszu- lagengesetzes 2010 (InvZulG 2010) (Drucksache 16/10291) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Kolbe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Simone Violka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: Antrag der Abgeordneten Frank Spieth, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Das Gesundheitssystem nachhaltig und pa- ritätisch finanzieren – Gesundheitsfonds, Zusatzbeiträge und Teilkaskotarife stop- pen (Drucksache 16/10318) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Peter Friedrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konrad Schily (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Spieth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Geset- zes zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (Drucksache 16/10145) . . . . . . . . . . . . . . . . . 19137 D 19138 A 19139 A 19140 B 19141 B 19141 D 19142 D 19142 D 19143 C 19144 C 19145 B 19146 B 19147 A 19147 B 19148 B 19149 B 19149 C 19150 C 19151 C Tagesordnungspunkt 26: Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Winfried Nachtwei, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für klare menschen- und völkerrechtliche Bin- dungen bei Auslandseinsätzen der Bundes- wehr (Drucksache 16/8402) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Holger Haibach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Toncar (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Norman Paech (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gert Winkelmeier (fraktionslos) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung von Vorschriften auf dem Ge- biet des ökologischen Landbaus an die Ver- ordnung (EG) Nr. 834/2007 des Rates vom 28. Juni 2007 über die ökologische/biologi- sche Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnis- sen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 2092/91 (Drucksache 16/10174) . . . . . . . . . . . . . . . . . Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Gustav Herzog (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . . Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 28: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Leutert, Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für die soziale Re- habilitation von Kindersoldaten eintreten (Drucksachen 16/6358, 16/8789) . . . . . . . . . . Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . . Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . . Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) . . . . . . . . . Michael Leutert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19151 D 19152 A 19153 A 19155 A 19156 A 19156 D 19157 C 19158 C 19158 C 19159 C 19160 C 19160 C 19161 D 19162 C 19162 C 19163 B 19164 A 19165 A 19165 D X Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 Tagesordnungspunkt 27: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neufassung des Raumordnungsgesetzes und zur Änderung anderer Vorschriften (GeROG) (Drucksachen 16/10292, 16/10332) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 29: Antrag der Abgeordneten Monika Lazar, Volker Beck (Köln), Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verbot der Nazi-Jugendorganisation „Heimattreue Deutsche Jugend e.V.“ prüfen (Drucksache 16/9801) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gert Winkelmeier (fraktionslos) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 30: Antrag der Abgeordneten Rainder Steenblock, Winfried Nachtwei, Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die Zeit- bombe der Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee entschärfen (Drucksache 16/9103) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Detlef Müller (Chemnitz) (SPD) . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . Lutz Heilmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 31: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- trag der Abgeordneten Markus Kurth, Brigitte Pothmer, Irmingard Schewe-Gerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Arbeitslosengeld II unbürokratisch berechnen und auszahlen – Rechts- und Planungssicherheit für Leis- tungsbeziehende schaffen (Drucksachen 16/7838, 16/8445) . . . . . . . . . . 19166 B 19166 C 19166 D 19167 C 19168 C 19169 C 19170 B 19171 A 19171 D 19172 A 19173 C 19174 D 19175 D 19176 D 19177 C Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . Dirk Niebel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Entfernungspauschale sofort vollständig anerkennen – Verfassungsmäßig- keit und Steuergerechtigkeit herstellen (Ta- gesordnungspunkt 5) Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Veronika Bellmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Klaus Brähmig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Alexander Dobrindt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU) . . . . . . Eberhard Gienger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Robert Hochbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU) . . . . . . Dr. Peter Jahr (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hans-Heinrich Jordan (CDU/CSU) . . . . . Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) . . . . . Henning Otte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . . Marco Wanderwitz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ingo Schmitt (Berlin), Kai Wegner, Karl- Georg Wellmann und Monika Grütters (alle CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem An- trag: Entfernungspauschale sofort vollständig anerkennen – Verfassungsmäßigkeit und Steu- 19177 D 19178 C 19179 D 19180 C 19181 A 19182 C 19182 A, C 19183 A 19183 C 19184 A 19184 B 19184 D 19185 A 19185 A 19185 C 19185 D 19186 A 19186 B 19186 C 19186 D 19187 C 19187 D 19188 A 19188 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 XI ergerechtigkeit herstellen (Tagesordnungs- punkt 5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Monika Brüning und Rita Pawelski (beide CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem An- trag: Entfernungspauschale sofort vollständig anerkennen – Verfassungsmäßigkeit und Steu- ergerechtigkeit herstellen (Tagesordnungs- punkt 5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Dr. Klaus W. Lippold, Dr. Georg Nüßlein, Daniela Raab und Dr. Andreas Scheuer (alle CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem An- trag: Entfernungspauschale sofort vollständig anerkennen – Verfassungsmäßigkeit und Steu- ergerechtigkeit herstellen (Tagesordnungs- punkt 5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Martin Burkert, Dr. Carl-Christian Dressel, Petra Ernstberger, Gabriele Fograscher, Günter Gloser, Angelika Graf (Rosenheim), Frank Hofmann (Volkach), Brunhilde Irber, Dr. h. c. Susanne Kastner, Dr. Bärbel Kofler, Walter Kolbow, Anette Kramme, Heinz Paula, Florian Pronold, Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Marianne Schieder, Ewald Schurer, Ludwig Stiegler und Jella Teuchner (alle SPD) zur namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem An- trag: Entfernungspauschale sofort vollständig anerkennen – Verfassungsmäßigkeit und Steu- ergerechtigkeit herstellen (Tagesordnungs- punkt 5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Peter Ramsauer, Ilse Aigner, Dorothee Bär, Alexander Dobrindt, Maria Eichhorn, Herbert Frankenhauser, Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof), Norbert Geis, Josef Göppel, Dr. Wolfgang Götzer, Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Gerda Hasselfeldt, Ernst Hinsken, Klaus Hofbauer, Bartholomäus Kalb, Alois Karl, Hartmut Koschyk, Dr. Max Lehmer, Paul Lehrieder, Eduard Lintner, Stephan Mayer (Altötting), Dr. h. c. Hans Michelbach, Marlene Mortler, 19189 A 19189 B 19189 D 19190 A Dr. Gerd Müller, Stefan Müller (Erlangen), Dr. Georg Nüßlein, Franz Obermeier, Eduard Oswald, Daniela Raab, Hans Raidel, Kurt J. Rossmanith, Dr. Christian Ruck, Albert Rupprecht (Weiden), Christian Schmidt (Fürth), Dr. Andreas Scheuer, Marion Seib, Johannes Singhammer, Thomas Silberhorn, Max Straubinger, Dr. Hans-Peter Uhl, Dagmar Wöhrl, Wolfgang Zöller und Carsten Müller (Braunschweig) (alle CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über die Be- schlussempfehlung zu dem Antrag: Entfer- nungspauschale sofort vollständig anerkennen – Verfassungsmäßigkeit und Steuergerechtig- keit herstellen (Tagesordnungspunkt 5) . . . . . Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgeset- zes – Bestechung und Bestechlichkeit von Abgeordneten – (... StrÄndG) (Tagesord- nungspunkt 14) Wolfgang Nešković (DIE LINKE) . . . . . . . . . Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisie- rung des Bilanzrechts (Bilanzrechtsmoderni- sierungsgesetz – BilMoG) (Tagesordnungs- punkt 13) Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Klaus Uwe Benneter (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Mechthild Dyckmans (FDP) . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Unterrichtung: Bundesbericht zur Förde- rung des Wissenschaftlichen Nachwuch- ses – Antrag: Wissenschaft als Beruf attraktiver machen – Den wissenschaftlichen Nach- wuchs besser unterstützen (Tagesordnungspunkt 15 a und b) Marion Seib (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Dieter Grasedieck (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Uwe Barth (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19190 C 19191 A 19191 D 19194 A 19195 A 19196 A 19197 B 19198 A 19199 A 19199 D 19200 C XII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Storm, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Unterrichtung: Nationales Reformpro- gramm Deutschland 2008 bis 2010 Umset- Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Rainer Fornahl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Günther (Plauen) (FDP) . . . . . . . . . Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Roth, Parl. Staatssekretärin BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19201 D 19202 D 19203 D 19217 A 19218 B 19219 C 19220 A 19220 D 19221 D zungs- und Fortschrittsbericht 2008 (Tages- ordnungspunkt 17) Doris Barnett (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Brüderle (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Herbert Schui (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dagmar Wöhrl, Parl. Staatssekretärin BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Diskriminierende Altersgrenzen im Bereich des bürgerschaftlichen Engage- ments aufheben (Tagesordnungspunkt 20) Markus Grübel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . . Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Elke Reinke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Än- derung des Energieeinsparungsgesetzes (Ta- gesordnungspunkt 19) 19205 B 19206 D 19207 C 19208 B 19209 A 19210 B 19212 C 19213 C 19214 A 19215 A 19216 C Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Ände- rung des Gesetzes gegen den unlauteren Wett- bewerb (Tagesordnungspunkt 23) Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Dirk Manzewski (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 15 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neufassung des Raumordnungsgesetzes und zur Ände- rung anderer Vorschriften (GeROG) (Tages- ordnungspunkt 27) Enak Ferlemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Petra Weis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19222 C 19223 D 19224 B 19225 B 19226 A 19226 C 19227 D 19229 A 19229 D 19231 B 19232 D 19233 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 18967 (A) (C) (B) (D) 179. Si Berlin, Donnerstag, de Beginn: 9
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    Berichtigung 178. Sitzung, Seite 18948 (D), erster Absatz: Der dritte Satz ist wie folgt zu lesen: „Mir scheint wichtig zu sein, dass wir Pakistan nicht mehr nur als Helfer und Un- terstützer im Kampf gegen die Taliban in Afghanistan se- hen.“ (D) (B) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19183 (A) (C) (B) (D) * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung der NATO zu einer Entlastung der Menschen in unserem Lande führen sollen, dürfen dem Linksextremismus nicht in die Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Beck (Reutlingen), Ernst-Reinhard CDU/CSU 25.09.2008* Bollen, Clemens SPD 25.09.2008 Brand, Michael CDU/CSU 25.09.2008 Brunnhuber, Georg CDU/CSU 25.09.2008 Dr. Bunge, Martina DIE LINKE 25.09.2008 Dreibus, Werner DIE LINKE 25.09.2008 Grindel, Reinhard CDU/CSU 25.09.2008 Gruß, Miriam FDP 25.09.2008 Gutting, Olav CDU/CSU 25.09.2008 Hänsel, Heike DIE LINKE 25.09.2008 Hintze, Peter CDU/CSU 25.09.2008 Kipping, Katja DIE LINKE 25.09.2008 Klug, Astrid SPD 25.09.2008 Lenke, Ina FDP 25.09.2008 Möller, Kornelia DIE LINKE 25.09.2008 Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 25.09.2008 Schauerte, Hartmut CDU/CSU 25.09.2008 Schily, Otto SPD 25.09.2008 Schmidt (Nürnberg), Renate SPD 25.09.2008 Scholz, Olaf SPD 25.09.2008 Staffelt, Grietje BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 25.09.2008 Dr. Troost, Axel DIE LINKE 25.09.2008 Wieczorek-Zeul, Heidemarie SPD 25.09.2008 Zeil, Martin FDP 25.09.2008 Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über die Be- schlussempfehlung zu dem Antrag: Entfer- nungspauschale sofort vollständig anerkennen – Verfassungsmäßigkeit und Steuergerechtigkeit herstellen (Tagesordnungspunkt 5) Dorothee Bär (CDU/CSU): Ich bin für die Wieder- einführung der Pendlerpauschale ab dem ersten Kilome- ter. Mein Wahlkreis Bad Kissingen besteht aus den Landkreisen Haßberge, Rhön-Grabfeld und Bad Kissin- gen. Eine Wiedereinführung der Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer würde allein in dieser Region 34 000 Menschen entlasten. Tausende unserer Bürger haben sich an der Unterschriftenaktion zur Wiederein- führung der Pendlerpauschale der Jungen Union Bayern beteiligt. Sie haben damit deutlich gemacht, dass sie ent- lastet werden müssen. Im ländlichen Raum ist es für viele selbstverständlich, dass sich der Arbeitsplatz nicht vor der Haustür befindet. Oftmals werden lange Stre- cken in Kauf genommen, um einer Arbeit nachzugehen und die Sozialkassen dieses Landes nicht zu belasten. Der Staat hat sich diesen Menschen an die Seite zu stel- len. Darüber hinaus stärkt eine Entlastung dieser Men- schen durch die Wiedereinführung der Pendlerpauschale auch den ländlichen Raum. Denn Menschen, die sich ei- nen langen Weg zur Arbeit nicht leisten können, werden mittelfristig in die Ballungszentren ziehen, sodass sich der ländliche Raum weiter entvölkert. Die CSU führt derzeit intensive Verhandlungen mit ihren Koalitions- partnern, um eine Wiedereinführung zum 1. Januar 2009 zu erreichen. Unterstützt werden wir bei unserem Anlie- gen durch einen entsprechenden Antrag des Freistaates Bayern im Bundesrat, der von der CSU-geführten baye- rischen Staatsregierung auf den Weg gebracht wurde. Diese Initiative verfolgen wir konsequent und erwarten am Ende der Verhandlungen, dass eine Entlastung der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland mehrheitsfähig wird. Davon wollen wir auch die Kolleginnen und Kol- legen aus den Reihen von SPD und CDU überzeugen, die sich bisher unserer Forderung nach einer Entlastung der Bürgerinnen und Bürger bereits ab dem 1. Januar 2009 entziehen. Unehrliche, wahlkampfmotivierte Schaufensteran- träge der Fraktion Die Linke bin ich jedoch nicht bereit zu unterstützen. Ich kann und werde keinem Antrag ei- ner Partei zustimmen, die die Gesellschaftsordnung un- seres Landes nicht akzeptiert, sich gegen diese wendet und die Grundlagen unseres Zusammenlebens wie die soziale Marktwirtschaft ablehnt. Die Partei Die Linke wird zu Recht vom Verfassungsschutz beobachtet. Sie ist die direkte Nachfolgerin der SED, die für die Verbrechen in der DDR und den Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze verantwortlich ist. Wichtige Entscheidungen, die 19184 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 (A) (C) (B) (D) Hand gegeben werden. Unterstützung von Anträgen ei- ner solchen Partei kann daher von Demokraten nicht er- wartet werden. Veronika Bellmann (CDU/CSU): Das Politikspek- takel, das SED/PDS/Die Linke mit ihrem Antrag be- zweckt, lehne ich entschieden ab. Die programmatischen Eckpunkte von SED/PDS/Die Linke fordern eine Poli- tik, die Deutschland international isoliert, die Funda- mente des Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft gefährdet und eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands massiv bedroht. Von dieser Partei grenze ich mich ausdrücklich ab. Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur Abstimmung stellt, geht es ihr ganz offensichtlich nicht um die Sache. Im Gegenteil, alle Sachargumente dienen der SED/PDS/Die Linke lediglich für ein durchsichtiges taktisches Manöver, insbesondere im unmittelbaren Vor- feld der bayerischen Landtagswahl. Das ist meines Er- achtens ein Missbrauch und eine Instrumentalisierung des demokratischen Abstimmungsverfahrens zu populis- tischen Zwecken. Aus diesem Grund lehne ich den An- trag ab. Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes- tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir deutlich zurückführen können. Der Wegfall der steuerli- chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome- ter des Weges zur Arbeit war 2006 der Versuch eines Beitrags zur Konsolidierung. Die Entspannung der Lage der öffentlichen Haushalte, die 2007 erstmals wieder schwarze Zahlen schrieben, macht aus unserer Sicht eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich – auch ohne den Vorrang der Sanierung der Haushalte des Bun- des und der Länder, der Kommunen und Sozialversiche- rungen aufzugeben. Angesichts der konjunkturellen Lage und der seit der damaligen Entscheidung deutlich gestiegenen Treibstoffpreise halte ich eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale für geboten und gerecht. Dies umso mehr, solange es aus Gleichbehandlungs- grundsätzen gegenüber Selbstständigen und Freiberuf- lern geboten erscheint, dass auch Arbeitnehmer die notwendigen Aufwendungen zur Erzielung von Einkom- men steuerlich absetzen können. Insofern wiegt dieses verfassungsrechtliche Argument meines Erachtens nach schwerer als die notwendige Haushaltskonsolidierung. Solange also das sogenannte Werkstorprinzip keine ge- nerelle Gültigkeit für alle hat bzw. es keine Steuerreform zur Vereinfachung insbesondere im Sinne des Wegfalls aller derartigen steuerlichen Absetzungsmöglichkeiten gibt, ist die Wiedereinführung der Fahrtkostenpauschale ab dem ersten Kilometer gerechtfertigt. Klaus Brähmig (CDU/CSU): Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundestagswahl ihren Koalitions- vertrag geschlossen und Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt haben, klaffte im Bundeshaus- halt eine strukturelle Lücke von 60 Milliarden Euro jähr- lich. Diese Lücke haben wir deutlich zurückführen kön- nen. Der Wegfall der steuerlichen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilometer des Weges zur Arbeit war 2006 ein unvermeidbarer Beitrag zur Konsolidie- rung. Die Entspannung der Lage der öffentlichen Haus- halte, die 2007 erstmals wieder schwarze Zahlen schrie- ben, macht aus meiner Sicht eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich – auch ohne den Vorrang der Sanierung der Haushalte des Bundes und der Länder, der Kommunen und Sozialversicherungen aufzugeben. Persönlich hege ich eine große Sympathie für die For- derung nach der Wiedereinführung der Pendlerpau- schale. Denn aufgrund der Reformen am Arbeitsmarkt haben wir den Arbeitern und Angestellten auch ein deut- lich höheres Maß an Flexibilität bei der Arbeitsplatzsu- che abgefordert. Die Wiedereinführung der vollen Pend- lerpauschale würde die Einnahmen des Staates derzeit um 2,4 Milliarden Euro senken. Diese Mindereinnah- men des Staates müssen dann an anderer Stelle durch Einsparungen, zusätzliche Steuern oder Neuverschul- dung erwirtschaftet werden. Angesichts der konjunkturellen Lage und der seit der damaligen Entscheidung deutlich gestiegenen Treib- stoffpreise halte ich also eine Rückkehr zur alten Pend- lerpauschale für geboten und gerecht. Eine sofortige Umsetzung scheitert aber am Koalitionsvertrag, der ver- pflichtet, einheitlich abzustimmen. Außerdem möchte ich daran erinnern, dass das Bun- desverfassungsgericht im September 2008 die Verhand- lungen zu diesem Themenkomplex aufgenommen hat und für Dezember 2008 ein Urteil in Aussicht stellt. In- sofern halte ich es für richtig, dass wir das Urteil des BVG abwarten und uns bis dahin Gedanken darüber ma- chen, wie eine Rückkehr zur Pendlerpauschale solide fi- nanziert werden soll. Das ist meine Vorstellung von ver- antwortlicher Politik und deswegen stimme ich heute gegen den populistischen Antrag der Linkspartei. Alexander Dobrindt (CDU/CSU): Ich bin für die Wiedereinführung der Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer. Um dieses Ziel in der Großen Koalition zu erreichen, führt die CSU derzeit intensive Verhandlungen mit ihren Koalitionspartnern, um eine Wiedereinführung zum 1. Januar 2009 zu erreichen. Unterstützt werden wir bei unserem Anliegen durch einen entsprechenden Antrag des Freistaates Bayern im Bundesrat, der von der CSU- geführten Bayerischen Staatsregierung auf den Weg ge- bracht wurde. Diese Initiative verfolgen wir konsequent und erwarten am Ende der Verhandlungen, dass eine Entlastung der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland mehrheitsfähig wird. Davon wollen wir auch die Kolle- ginnen und Kollegen aus den Reihen von SPD und CDU überzeugen, die sich bisher unserer Forderung nach ei- ner Entlastung der Bürgerinnen und Bürger bereits ab dem 1. Januar 2009 entziehen. Unehrliche, wahlkampfmotivierte Schaufensteran- träge der Fraktion Die Linke bin ich jedoch nicht bereit zu unterstützen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19185 (A) (C) (B) (D) Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur Abstim- mung stellt, geht es ihr nicht um die Sache, sondern um ein durchsichtiges taktisches Manöver. Als CDU/CSU und SPD nach der letzten Bundestags- wahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir deutlich zurückführen können. Der Wegfall der steuerli- chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome- ter des Weges zur Arbeit war 2006 ein Beitrag zur Kon- solidierung. Die Entspannung der Lage der öffentlichen Haushalte, die 2007 erstmals wieder schwarze Zahlen schrieben, und die inzwischen aufgekommenen rechtli- chen Zweifel, ob die Abschaffung mit dem Netto-Prin- zip im Steuerrecht vereinbar ist, machen aus meiner Sicht eine Überprüfung der Abschaffung erforderlich. Das Politikspektakel, das die Linken mit ihrem An- trag bezwecken, lehne ich entschieden ab. Die program- matischen Eckpunkte der Linken fordern eine Politik, die Deutschland international isoliert, die Fundamente des Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft ge- fährdet und eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands massiv bedroht. Ich grenze mich eindeutig von dieser Partei ab. Eberhard Gienger (CDU/CSU): Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur Abstimmung stellt, geht es ihr nicht um die Sache, sondern um ein durch- sichtiges taktisches Manöver. Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes- tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir deutlich zurückführen können. Der Wegfall der steuerli- chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome- ter des Weges zur Arbeit war 2006 ein unvermeidbarer Beitrag zur Konsolidierung. Die Entspannung der Lage der öffentlichen Haushalte, die 2007 erstmals wieder schwarze Zahlen schrieben, macht aus meiner Sicht eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich – auch ohne den Vorrang der Sanierung der Haushalte des Bun- des und der Länder, der Kommunen und Sozialversiche- rungen aufzugeben. Angesichts der konjunkturellen Lage und der seit der damaligen Entscheidung deutlich gestiegenen Treibstoffpreise halte ich eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale für geboten und gerecht. Das Politikspektakel, das die Linken mit ihrem An- trag bezwecken, lehne ich entschieden ab. Die programmatischen Eckpunkte der Linken fordern eine Politik, die Deutschland international isoliert, die Fundamente des Rechtsstaats und der sozialen Markt- wirtschaft gefährdet und eine gute Zukunft für die Bür- gerinnen und Bürger Deutschlands massiv bedroht. Ich grenze mich eindeutig von dieser Partei ab. Robert Hochbaum (CDU/CSU): Die Koalitions- fraktionen haben nach der Bundestagswahl im Koali- tionsvertrag beschlossen, den Weg zurück zu solider öffentlicher Haushaltspolitik zu finden. Bei Regierungs- übernahme der Union klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke von 60 Milliarden Euro jährlich. Fak- tisch gilt zweierlei – der Staat darf und kann zum einen nicht dauerhaft mehr ausgeben, als er einnimmt. Zum anderen sind auch die Einnahmen nicht unbegrenzt zu steigern. Die Haushaltskonsolidierung bei gleichzeitig steigenden Investitionen ist einer der zentralen Punkte dieser Koalition. Die Haushaltslücke haben wir in den nunmehr rund drei Regierungsjahren deutlich zurückführen können. Der Wegfall der steuerlichen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilometer des Weges zur Arbeit war 2006 dabei ein unvermeidbarer Beitrag zu dieser Konsolidie- rung. Die Entspannung der Lage der öffentlichen Haus- halte, die 2007 insgesamt erstmals wieder schwarze Zah- len schrieben, ermöglicht nun gewisse Spielräume. Da- bei darf der Vorrang der Sanierung der Haushalte des Bundes und der Länder, der Kommunen und Sozialversi- cherungen nicht aufgegeben werden. Angesichts der gu- ten konjunkturellen Lage und der seit der damaligen Ent- scheidung deutlich gestiegenen Kraftstoffpreise, deren Steigerungen nicht bzw. kaum von der Politik veranlasst sind, halte ich eine Entlastung der beruflich veranlassten Mobilität wie auch der gewerblichen Verkehre für drin- gend nötig und geboten. Eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale wäre aber der falsche Weg. Sicher würden damit auch die ersten 20 Kilometer des Arbeitsweges wieder berücksichtigt – auch die alte Kappungsobergrenze bei 100 Kilometer würde aber wieder eintreten. Letzteres wäre aber für die vielen Fernpendler, die es vor allem im Osten Deutsch- lands gibt, eine massive Benachteiligung. Bei genauem Hinsehen kommt hinzu, dass es sich ei- gentlich bei der Pendlerpauschale um eine unsoziale Maßnahme handelt. Einkommensschwache Pendler un- terliegen häufig nur der beschränkten Einkommensteuer- pflicht und können somit keine Pendlerpauschale über Werbungskosten anrechnen. Wir brauchen stattdessen eine differenzierte Rege- lung, die allen Arbeitnehmern und dem gewerblichen Verkeher gerecht wird. Die Senkung der Lohnnebenkos- ten, so wie es bei der Arbeitslosenversicherung vorgese- hen ist, wäre zudem ein entschieden besserer Weg, Ar- beitnehmer zu entlasten. Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU): Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur Abstim- mung stellt, geht es ihr nicht um die Sache, sondern um ein durchsichtiges taktisches Manöver. Der Wegfall der steuerlichen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilometer des Weges zur Arbeit war 2006 ein unvermeidbarer Beitrag zur Konsolidie- rung des Bundeshaushaltes. Die Entspannung der Lage der öffentlichen Haushalte macht aus meiner Sicht die 19186 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 (A) (C) (B) (D) Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich. Vor dem Hintergrund der seit der damaligen Entscheidung deut- lich gestiegen Treibstoffpreise halte ich die Rückkehr zur alten Pendlerpauschale gerade für die Menschen im ländlichen Raum für geboten. Ich halte aber nach wie vor daran fest, zunächst das im Dezember dieses Jahres zu erwartende Verfassungs- gerichtsurteil abzuwarten und auf dessen Basis zu einer entsprechenden Veränderung der Pendlerpauschale zu kommen. Das Politspektakel der Fraktion Die Linke lehne ich entschieden ab. Deshalb stimme ich heute gegen diesen Antrag. Dr. Peter Jahr (CDU/CSU): Dem Antrag der Frak- tion Die Linke „Entfernungspauschale sofort vollständig anerkennen – Verfassungsmäßigkeit und Steuergerech- tigkeit herstellen“ kann ich nicht zustimmen. Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes- tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir deutlich zurückführen können. Der Wegfall der steuerli- chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome- ter des Weges zur Arbeit war 2006 ein unvermeidbarer Beitrag zur Konsolidierung. Die Entspannung der Lage der öffentlichen Haus- halte, die 2007 erstmals wieder schwarze Zahlen schrie- ben, macht aus meiner Sicht eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich – auch ohne den Vorrang der Sanierung der Haushalte des Bundes und der Länder, der Kommunen und Sozialversicherungen aufzugeben. An- gesichts der konjunkturellen Lage und der seit der dama- ligen Entscheidung deutlich gestiegenen Treibstoffpreise halte ich eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale für geboten und gerecht. Diese Auffassung wollen die Be- fürworter der Wiedereinführung der Pendlerpauschale in der Koalition mit Nachdruck durchsetzen. Auch wenn die Mehrheit in der Koalition für diese Auffassung noch nicht gewonnen ist, werde ich mich weiter dafür einset- zen. Dr. Hans-Heinrich Jordan (CDU/CSU): Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur Abstim- mung stellt, geht es ihr nicht um die Sache, sondern um ein durchsichtiges taktisches Manöver. Der Wegfall der steuerlichen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilometer des Weges zur Arbeit war 2006 ein unvermeidbarer Beitrag zur Konsolidie- rung des Bundeshaushaltes. Die Entspannung der Lage der öffentlichen Haushalte macht aus meiner Sicht die Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich. Vor dem Hintergrund der seit der damaligen Entscheidung deut- lich gestiegenen Treibstoffpreise halte ich die Rückkehr zur alten Pendlerpauschale gerade für die Menschen im ländlichen Raum für geboten. Ich halte aber nach wie vor daran fest, zunächst das im Dezember dieses Jahres zu erwartende Verfassungs- gerichtsurteil abzuwarten und auf dessen Basis zu ei- ner entsprechenden Veränderung der Pendlerpauschale zu kommen. Das Politspektakel der Fraktion Die Linke lehne ich entschieden ab. Deshalb stimme ich heute gegen diesen Antrag. Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): Das Politikspektakel, das SED/PDS/Die Linke mit ihrem An- trag bezweckt, lehne ich entschieden ab. Die program- matischen Eckpunkte von SED/PDS/Die Linke fordern eine Politik, die Deutschland international isoliert, die Fundamente des Rechtsstaats und der sozialen Markt- wirtschaft gefährdet und eine gute Zukunft für die Bür- gerinnen und Bürger Deutschlands massiv bedroht. Von dieser Partei grenze ich mich ausdrücklich ab. Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur Abstimmung stellt, geht es ihr ganz offensichtlich nicht um die Sache. Im Gegenteil: Die Sachargumente dienen der SED/PDS/Die Linke lediglich für ein durchsichtiges taktisches Manöver, insbesondere im unmittelbaren Vor- feld der bayerischen Landtagswahl. Das ist meines Er- achtens ein Missbrauch und eine Instrumentalisierung des demokratischen Abstimmungsverfahrens zu populis- tischen Zwecken. Aus diesem Grund lehne ich den An- trag ab. Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes- tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir deutlich zurückführen können. Der Wegfall der steuerli- chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome- ter des Weges zur Arbeit war 2006 der Versuch eines Beitrags zur Konsolidierung. Die Entspannung der Lage der öffentlichen Haushalte, die 2007 erstmals wieder schwarze Zahlen schrieben, macht aus unserer Sicht eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich – auch ohne den Vorrang der Sanierung der Haushalte des Bun- des und der Länder, der Kommunen und Sozialversiche- rungen aufzugeben. Angesichts der konjunkturellen Lage und der seit der damaligen Entscheidung deutlich gestiegenen Treibstoffpreise halte ich eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale für geboten und gerecht. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Der Vorstand der CSU hat am 5. Mai 2008 einstimmig das neue Steuerkonzept der Partei beschlossen. In diesem Paket war unter ande- rem – dies erkennt die Linkspartei mit ihrem zur Abstim- mung gestellten Antrag an – die Wiedereinführung der Entfernungspauschale für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zum 1. Januar 2009 vorgesehen. Zwi- schenzeitlich hat die CSU im Bundesrat einen entspre- chenden Antrag eingebracht, welcher jedoch mit den an- deren Bundesländern noch abzustimmen ist. In gleicher Weise verhält es sich mit der Meinungsbildung mit den Kolleginnen und Kollegen der CDU-Fraktion wie auch mit den Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion. Zum jetzigen Zeitpunkt ist eine Mehrheit in der Koali- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19187 (A) (C) (B) (D) tion, so sehr das Anliegen aus meiner Sicht auch berech- tigt ist, bedauerlicherweise noch nicht zu erkennen. Ein entsprechender Antrag der Linkspartei wurde im Finanzausschuss am 16. Juni 2008 lediglich mit den Stimmen der FDP und der Linken befürwortet bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Selbst für den Fall, dass neben der Linkspartei auch die FDP dem Antrag der Linkspartei zustimmen würde, ergibt dies auch unter gedachter Einbeziehung der CSU- Stimmen im günstigsten Fall circa 150 Stimmen. Somit würde allenfalls ein Viertel der Mitglieder des Bundesta- ges zustimmen. Der Antrag ist zum jetzigen Zeitpunkt von einer Mehrheit im Bundestag noch viel zu weit ent- fernt, um diesen bereits jetzt einzubringen. Insofern muss der Antrag der Linkspartei schlicht als populistisch und als Versuch einer Meinungsdifferenz zwischen den CSU-Kollegen im Bayerischen Landtag und den CSU-Bundestagsabgeordneten angesehen wer- den. Nachdem zudem das Finanzministerium und auch die SPD-Fraktion Bewegung erst für den Zeitpunkt des Vorliegens der Entscheidung des Bundesverfassungsge- richts, welche zum Jahresende zu erwarten ist, signali- siert hat, ist ein entsprechender Antrag auf Wiederein- führung der Pendlerpauschale erfolgversprechend wohl erst zum Jahresende im parlamentarischen Verfahren sinnvoll auf den Weg zu bringen. Nachdem bereits Max Weber zutreffend den Spruch geprägt hat, dass Politik das Bohren harter Bretter mit Leidenschaft und Augen- maß ist, ist dem hier vorliegenden Antrag der Linkspar- tei das entsprechende Augenmaß bedauerlicherweise ab- zusprechen. So sehr das Anliegen in der Sache richtig ist – zum jetzigen Zeitpunkt ist es zum Scheitern verurteilt. Des- halb ist ohne entsprechende Meinungsbildung und Über- zeugungsarbeit in der Schwesterpartei sowie beim Koalitionspartner der Antrag zum jetzigen Zeitpunkt ab- zulehnen. Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur Abstimmung stellt, geht es ihr nicht um die Sache, son- dern um ein durchsichtiges taktisches Manöver. Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes- tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir deutlich zurückführen können. Der Wegfall der steuerli- chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome- ter des Weges zur Arbeit war 2006 ein unvermeidbarer Beitrag zur Konsolidierung. Die Entspannung der Lage der öffentlichen Haushalte, die 2007 erstmals wieder schwarze Zahlen schrieben, macht aus unserer Sicht eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich – auch ohne den Vorrang der Sanierung der Haushalte des Bun- des und der Länder, der Kommunen und Sozialversiche- rungen aufzugeben. Angesichts der konjunkturellen Lage und der seit der damaligen Entscheidung deutlich gestiegenen Treibstoffpreise halten wir eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale für geboten und gerecht. Diese Auffassung wollen wir in der Koalition mit Nach- druck durchsetzen. Die Bayerische Staatsregierung hat hierzu eine Gesetzesinitiative beschlossen, die im Bun- desrat beraten wird. Auch wenn wir die Koalition für unsere Auffassung noch nicht gewonnen haben, den Ko- alitionsvertrag halten wir ein. Er verpflichtet uns, ein- heitlich abzustimmen. Das Politikspektakel, das die Linken mit ihrem Antrag bezwecken, lehnen wir entschieden ab. Die pro- grammatischen Eckpunkte der Linken fordern eine Poli- tik, die Deutschland international isoliert, die Funda- mente des Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft gefährdet und eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands massiv bedroht. Wir grenzen uns eindeutig von dieser Partei ab. Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Ich bin für die Wiedereinführung der Pendlerpauschale ab dem ers- ten Kilometer. Um dieses Ziel in der Großen Koalition zu erreichen, führt die CSU derzeit intensive Verhandlungen mit ihren Koalitionspartnern, um eine Wiedereinführung zum 1. Januar 2009 zu erreichen. Unterstützt werden wir bei unserem Anliegen durch einen entsprechenden Antrag des Freistaates Bayern im Bundesrat, der von der CSU- geführten Bayerischen Staatsregierung auf den Weg ge- bracht wurde. Diese Initiative verfolgen wir konsequent und erwarten am Ende der Verhandlungen, dass eine Entlastung der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland mehrheitsfähig wird. Davon wollen wir auch die Kolle- ginnen und Kollegen aus den Reihen von SPD und CDU überzeugen, die sich bisher unserer Forderung nach ei- ner Entlastung der Bürgerinnen und Bürger bereits ab dem 1. Januar 2009 entziehen. Normalverdiener und Familien in Deutschland brau- chen eine solche Entlastung und erwarten von der Politik entsprechende Entlastungsschritte. Dies zeigt sich auch an der Beteiligung Zehntausender Bürgerinnen und Bür- ger an der Unterschriftenkampagne der Jungen Union Bayern für die Wiedereinführung der alten Pendlerpau- schale. Unehrliche und wahlkampfmotivierte Schaufens- teranträge, die keine Aussicht auf eine Mehrheit im Deutschen Bundestag haben, helfen den Betroffenen al- lerdings nicht. Derartige Anträge der Fraktion Die Linke bin ich nicht bereit, zu unterstützen. Ich kann und werde keinem Antrag einer Partei zustimmen, die die Gesellschaftsord- nung unseres Landes nicht akzeptiert und die Grundla- gen unseres Zusammenlebens wie die soziale Marktwirt- schaft ablehnt. Die Partei Die Linke wird zu Recht vom Verfassungsschutz beobachtet. Unterstützung von Anträ- gen einer solchen Partei kann daher von Demokraten nicht erwartet werden. Henning Otte (CDU/CSU): Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur Abstimmung stellt, geht es ihr nicht um die Sache, sondern um ein durchsichtiges taktisches Manöver. Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes- tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und 19188 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 (A) (C) (B) (D) Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir deutlich zurückführen können. Der Wegfall der steuerli- chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome- ter des Weges zur Arbeit war 2006 ein unvermeidbarer Beitrag zur Konsolidierung. Die Entspannung der Lage der öffentlichen Haushalte, die 2007 erstmals wieder schwarze Zahlen schrieben, macht aus meiner Sicht eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale oder eine andere steuerliche Kompensation möglich – auch ohne den Vor- rang der Sanierung der Haushalte des Bundes und der Länder, der Kommunen und Sozialversicherungen auf- zugeben. Angesichts der konjunkturellen Lage und der seit der damaligen Entscheidung deutlich gestiegenen Treibstoffpreise halte ich eine Rückkehr zur alten Pend- lerpauschale oder eine andere steuerliche Kompensation für geboten und gerecht. Diese Auffassung möchte ich in der Koalition durchsetzen. Das Politikspektakel, das die Linken mit ihrem An- trag bezwecken, lehne ich entschieden ab. Die program- matischen Eckpunkte der Linken fordern eine Politik, die Deutschland international isoliert, die Fundamente des Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft ge- fährdet und eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands massiv bedroht. Ich grenze mich eindeutig von dieser Partei ab. Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): Mit Beginn der Legislaturperiode hat die Koalition aus CDU/CSU und SPD ein strukturelles jährliches Haushaltsdefizit von rund 60 Milliarden Euro übernommen. Aus dieser Haus- haltssituation heraus war es sowohl aus der gesamtstaat- lichen Verantwortung als auch aus Gründen der Genera- tionengerechtigkeit geboten, diese fortschreitende Verschuldung nicht nur zu bremsen, sondern zu stoppen. Das Ziel eines ausgeglichenen Haushaltes hat sich die Koalition für 2011 gesetzt, und wir sind durch die Konso- lidierungsleistungen der Koalition mittlerweile auf ei- nem guten Weg dorthin. Vor dem Hintergrund der verfassungswidrigen Haus- haltssituation am Ende der vergangenen Legislaturperi- ode war damit neben anderen Maßnahmen der Wegfall der steuerlichen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfer- nungskilometer des Weges zur Arbeit ein unvermeidba- rer Beitrag zur Konsolidierung. Heute stellt sich die Situation verändert dar. Die Entspannung der Lage der öffentlichen Haushalte, die 2007 erstmals wieder schwarze Zahlen schrieben, eröffnet aus meiner Sicht die Möglichkeit, zur alten Pendlerpauschale zurückzukeh- ren, ohne den Vorrang der Sanierung der Haushalte des Bundes und der Länder, der Kommunen und Sozialversi- cherungen aufzugeben. Angesichts der konjunkturellen Lage und der seit der damaligen Entscheidung deutlich gestiegenen Treibstoffpreise halte ich dabei eine Rück- kehr zur alten „Pendlerpauschale“ für geboten und ge- recht. Wenngleich auch ich demnach eine Rückkehr zur al- ten Pendlerpauschale befürworte, lehne ich den vorlie- genden Antrag der Linken entschieden ab. Er entspringt nicht sachpolitischen Erwägungen, sondern erhebt pla- kativ Forderungen, die zum Beispiel hinsichtlich der angesprochenen Verfassungsmäßigkeit im Bereich des Nettoprinzips nicht schlüssig sind. Die jetzige Forde- rung, vor der endgültigen Klärung der verfassungsrecht- lichen Lage, entlarvt damit den Antrag als ein rein poli- tisch-taktisches Manöver. Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Im Angesicht der deutlich gestiegenen Kraftstoffpreise bin ich für die Ent- lastung beruflich veranlasster Mobilität. Insbesondere Familien in den ländlichen Räumen, die ihren Arbeits- platz nicht in jedem Falle in der unmittelbaren Umge- bung finden, brauchen Entlastung. Die Koalitionsfraktionen haben nach der Bundestags- wahl im Koalitionsvertrag vereinbart, den Weg zurück zu solider öffentlicher Haushaltspolitik zu gehen. Bei Regierungsübernahme der Union klaffte im Bundes- haushalt eine strukturelle Lücke von 60 Milliarden Euro jährlich – die Bilanz von sieben Jahren rot-grüner Haus- haltspolitik, die nicht nachhaltig war und Lasten in die Zukunft wälzte. Auch der Staat kann und darf nicht dau- erhaft mehr ausgeben, als er einnimmt, und die Einnah- men sind nicht unbegrenzt steigerungsfähig – weder tat- sächlich, noch ist die Steigerung der Staatsquote mein politischer Anspruch. Die Haushaltskonsolidierung bei gleichzeitig steigenden Investitionen ist einer der zentra- len Punkte dieser Koalition, in seiner Wichtigkeit kaum zu überschätzen. Diese Haushaltslücke haben wir in den nunmehr rund drei Regierungsjahren deutlich zurück- führen können. Der Wegfall der steuerlichen Absetzbar- keit für die ersten 20 Entfernungskilometer des Weges zur Arbeit war 2006 ein unvermeidbarer Beitrag zu die- ser Konsolidierung. Unter den damaligen Rahmenbedin- gungen war die Entscheidung richtig. Die Entspannung der Lage der öffentlichen Haus- halte, die 2007 insgesamt erstmals wieder schwarze Zah- len schrieben, ermöglicht nun gewisse Spielräume. Da- bei darf der Vorrang der Sanierung der Haushalte des Bundes und der Länder, der Kommunen und gesetzli- chen Sozialversicherungen aber nicht infrage gestellt werden. Angesichts der guten konjunkturellen Lage und der seit der damaligen Entscheidung deutlich gestiege- nen Kraftstoffpreise, deren Steigerungen kaum von der Politik veranlasst sind, halte ich eine Entlastung der be- ruflich veranlassten Mobilität wie auch des gewerbli- chen Verkehrs für dringend nötig und geboten. Die Rückkehr zur alten Pendlerpauschale wäre der falsche Weg. Sicher würden damit auch die ersten 20 Ki- lometer des Arbeitsweges wieder berücksichtigt – die alte Kappungsobergrenze bei 100 Kilometern würde aber ebenfalls wieder zurückkehren. Das wären für die Fempendler meiner Heimat Steine statt Brot. Wir brau- chen eine differenzierte Regelung, die Arbeitnehmern und gewerblichem Verkehr gerecht wird. Ohne eine solide haushälterische Gegenfinanzierung, die – fast bin ich geneigt, zu sagen natürlich – von der PDS auch hier wie immer nicht angeboten wird, ist eine Lösung für mich nicht denkbar. Die PDS aber setzt lei- der auch mit diesem Antrag ein weiteres Mal einseitig Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19189 (A) (C) (B) (D) auf populistisches Spektakel, auf leere unfinanzierbare Versprechungen. Ein Antrag einer extremistischen Partei, rechts- wie linksextremistisch, ist für mich zudem generell nicht zustimmungsfähig. Die SED-Nachfolgepartei stellt per- manent den gesellschaftlichen Grundkonsens der Demo- kraten, Grundlagen unseres Zusammenlebens wie die soziale Marktwirtschaft infrage. Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Monika Grütters, Ingo Schmitt (Berlin), Kai Wegner, und Karl-Georg Wellmann (alle CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Entfernungspauschale sofort vollständig aner- kennen – Verfassungsmäßigkeit und Steuerge- rechtigkeit herstellen (Tagesordnungspunkt 5) Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur Abstimmung stellt, geht es ihr nicht um die Sache, son- dern um ein durchsichtiges taktisches Manöver. Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes- tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir nach und nach schmaler werden lassen. Der Wegfall der steuerlichen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfer- nungskilometer des Weges zur Arbeit war 2006 ein un- vermeidbarer Beitrag zur Konsolidierung. Die Entspan- nung der Lage der öffentlichen Haushalte, die 2007 erstmals wieder schwarze Zahlen schrieben, macht aus unserer Sicht eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich – ohne den Vorrang der Sanierung der Haus- halte des Bundes und der Länder, der Kommunen und Sozialversicherungen aufgeben zu müssen. Angesichts der konjunkturellen Lage und der seit der damaligen Entscheidung deutlich gestiegenen Treibstoffpreise hal- ten wir eine veränderte Pendlerpauschale für geboten und gerecht. Diese Auffassung wollen wir in der Koali- tion durchsetzen. Auch wenn uns dies noch nicht ge- glückt ist – den Koalitionsvertrag halten wir ein, der ver- pflichtet, einheitlich abzustimmen. Das Politikspektakel, das die Linken mit ihrem Antrag bezwecken, lehnen wir entschieden ab. Die programma- tischen Eckpunkte der Linken fordern eine Politik, die Deutschland international isoliert, die Fundamente des Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft gefährdet und eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands massiv bedroht. Wir grenzen uns eindeutig von dieser Partei ab. Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Monika Brüning und Rita Pawelski (beide CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Entfernungspauschale sofort voll- ständig anerkennen – Verfassungsmäßigkeit und Steuergerechtigkeit herstellen (Tagesordnungs- punkt 5) Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur Abstimmung stellt, geht es ihr nicht um die Sache, son- dern um ein durchsichtiges taktisches Manöver. Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes- tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke von 60 Milliarden Euro jährlich. Dieses Defizit konnte deutlich zurückgeführt werden. Der Wegfall der steuerli- chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome- ter des Weges zur Arbeit war 2006 ein unvermeidbarer Beitrag zur Konsolidierung. Die Entspannung der Lage der öffentlichen Haushalte, die 2007 erstmals wieder schwarze Zahlen schrieben, macht aus unserer Sicht eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich – auch ohne den Vorrang der Sanierung der Haushalte des Bun- des und der Länder, der Kommunen und Sozialversiche- rungen aufzugeben. Angesichts der konjunkturellen Lage und der seit 2005 deutlich gestiegenen Treibstoff- preise halten wir eine Rückkehr zur alten Pendlerpau- schale für angemessen. Das Politikspektakel, das die Linken mit ihrem Antrag bezwecken, lehnen wir entschieden ab. Die programma- tischen Eckpunkte der Linken fordern eine Politik, die Deutschland international isoliert, die Fundamente des Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft gefährdet und eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands massiv bedroht. Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Dr. Klaus W. Lippold, Dr. Georg Nüßlein, Daniela Raab und Dr. Andreas Scheuer (alle CDU/CSU) zur namentlichen Ab- stimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Entfernungspauschale sofort voll- ständig anerkennen – Verfassungsmäßigkeit und Steuergerechtigkeit herstellen (Tagesord- nungspunkt 5) Ich bin für die Wiedereinführung der Pendlerpau- schale ab dem ersten Kilometer. Um dieses Ziel in der Großen Koalition zu erreichen, führt die CSU derzeit intensive Verhandlungen mit ihren Koalitionspartnern, um eine Wiedereinführung zum 1. Januar 2009 zu erreichen. Unterstützt werden wir bei unserem Anliegen durch einem entsprechenden Antrag des Freistaates Bayern im Bundesrat, der von der CSU- geführten bayerischen Staatsregierung auf den Weg ge- bracht wurde. Diese Initiative verfolgen wir konsequent und erwarten am Ende der Verhandlungen, dass eine Entlastung der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland mehrheitsfähig wird. Davon wollen wir auch die Kolle- 19190 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 (A) (C) (B) (D) ginnen und Kollegen aus den Reihen von SPD und CDU überzeugen, die sich bisher unserer Forderung nach ei- ner Entlastung der Bürgerinnen und Bürger bereits ab dem 1. Januar 2009 entziehen. Unehrliche, wahlkampfmotivierte Schaufensteran- träge der Fraktion Die Linke bin ich jedoch nicht bereit zu unterstützen. Ich kann und werde keinem Antrag ei- ner Partei zustimmen, die die Gesellschaftsordnung un- seres Landes nicht akzeptiert und die Grundlagen unse- res Zusammenlebens wie die soziale Marktwirtschaft ablehnt. Die Partei Die Linke wird zu Recht vom Verfas- sungsschutz beobachtet. Unterstützung von Anträgen ei- ner solchen Partei kann daher von Demokraten nicht er- wartet werden. Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Martin Burkert, Dr. Carl- Christian Dressel, Petra Ernstberger, Gabriele Fograscher, Günter Gloser, Angelika Graf (Rosenheim), Frank Hofmann (Volkach), Brunhilde Irber, Dr. h. c. Susanne Kastner, Dr. Bärbel Kofler, Walter Kolbow, Anette Kramme, Heinz Paula, Florian Pronold, Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Marianne Schieder, Ewald Schurer, Ludwig Stiegler, Jella Teuchner (alle SPD): zur namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Ent- fernungspauschale sofort vollständig anerken- nen – Verfassungsmäßigkeit und Steuergerech- tigkeit herstellen (Tagesordnungspunkt 5) Beim Antrag der Fraktion Die Linke zur Anerken- nung der Pendlerpauschale handelt es sich um einen Schaufensterantrag, um die CSU vorzuführen, dessen es aber gar nicht mehr bedarf. Die SPD-Bundestagsfraktion und die Bayern-SPD haben sich von Anbeginn der Diskussion an für den Er- halt der Entfernungspauschale ab dem ersten. Kilometer eingesetzt, während die CDU/CSU schon 2005 mit der Forderung nach deren Kürzung in die Bundestagswahl und die Koalitionsverhandlungen zogen. Im Koalitions- vertrag hat die Union die Kürzung der Pendlerpauschale durchgesetzt. Wir haben im Gegenzug die Steuerfreiheit der Nacht-, Schicht- und Sonntagsarbeit erhalten. Alle Versuche der SPD-Bundestagsfraktion danach, die Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer wieder einzuführen, hat die CSU in der Koalition abgelehnt. Die Initiative der bayerischen Staatsregierung auf Rückkehr zur alten Pendlerpauschale jetzt im Bundesrat ist reine Wahlkampfshow, denn sie ist zeitlich so gesetzt, dass sie nicht mehr vor der Landtagswahl in Bayern ins Gesetzblatt kommen kann. Wir bayerischen Sozialdemokraten fordern zusätz- lich die Einführung eines bayerischen Pendlergeldes aus dem Landeshaushalt nach österreichischem Vorbild, das aber von der CSU abgelehnt wird. Es kommt gerade den Pendlerinnen und Pendlern zugute, die von der steuerli- chen Regelung nicht profitieren, weil sie niedrige Ein- kommen haben. Zur Entfernungspauschale wird es in Bälde ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts geben, das abgewartet werden sollte. Es ist nicht auszuschließen, dass auf Grund dieses Urteils eine für die Pendlerinnen und Pend- ler vorteilhaftere Regelung erforderlich ist als die ur- sprüngliche Rechtslage, zum Beispiel die volle Anerken- nung der tatsächlichen Kosten. Deshalb stimmen wir dem Schaufensterantrag der Fraktion Die Linke nicht zu. Anlage 7 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Peter Ramsauer, Ilse Aigner, Dorothee Bär, Alexander Dobrindt, Maria Eichhorn, Herbert Frankenhauser, Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof), Norbert Geis, Josef Göppel, Dr. Wolfgang Götzer, Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Gerda Hasselfeldt, Ernst Hinsken, Klaus Hofbauer, Bartholomäus Kalb, Alois Karl, Hartmut Koschyk, Dr. Max Lehmer, Paul Lehrieder, Eduard Lintner, Stephan Mayer (Altötting), Dr. h. c. Hans Michelbach, Marlene Mortler, Dr. Gerd Müller, Stefan Müller (Erlangen), Dr. Georg Nüßlein, Franz Obermeier, Eduard Oswald, Daniela Raab, Hans Raidel, Kurt J. Rossmanith, Dr. Christian Ruck, Albert Rupprecht (Weiden), Christian Schmidt (Fürth), Dr. Andreas Scheuer, Marion Seib, Johannes Singhammer, Thomas Silberhorn, Max Straubinger, Dr. Hans-Peter Uhl, Dagmar Wöhrl, Wolfgang Zöller und Carsten Müller (Braunschweig) (alle CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Entfernungspauschale sofort vollständig aner- kennen – Verfassungsmäßigkeit und Steuerge- rechtigkeit herstellen (Tagesordnungspunkt 5) Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur Abstimmung stellt, geht es ihr nicht um die Sache, son- dern um ein durchsichtiges taktisches Manöver. Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes- tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir deutlich zurückführen können. Der Wegfall der steuerli- chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome- ter des Weges zur Arbeit war 2006 ein unvermeidbarer Beitrag zur Konsolidierung. Die Entspannung der Lage der öffentlichen Haushalte, die 2007 erstmals wieder schwarze Zahlen schrieben, macht aus unserer Sicht eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich – ohne den Vorrang der Sanierung der Haushalte des Bundes und der Länder, der Kommunen und Sozialversicherun- gen aufzugeben. Angesichts der konjunkturellen Lage und der seit der damaligen Entscheidung deutlich gestie- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19191 (A) (C) (B) (D) genen Treibstoffpreise halten wir eine Rückkehr zur al- ten Pendlerpauschale für geboten und gerecht. Diese Auffassung wollen wir in der Koalition mit Nachdruck durchsetzen. Die Bayerische Staatsregierung hat hierzu eine Gesetzesinitiative beschlossen, die im Bundesrat beraten wird. Auch wenn wir die Koalition für unsere Auffassung noch nicht gewonnen haben – den Koali- tionsvertrag halten wir ein, der verpflichtet, einheitlich abzustimmen. Das Politikspektakel, das die Linken mit ihrem Antrag bezwecken, lehnen wir entschieden ab. Die programma- tischen Eckpunkte der Linken fordern eine Politik, die Deutschland international isoliert, die Fundamente des Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft gefährdet und eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands massiv bedroht. Wir grenzen uns eindeutig von dieser Partei ab. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines ... Strafrechts- änderungsgesetzes – Bestechung und Bestech- lichkeit von Abgeordneten – (... StrÄndG) (Ta- gesordnungspunkt 14) Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Zurzeit gibt es zwei Gesetzentwürfe, die darauf abzielen, die Beste- chung und die Bestechlichkeit von Abgeordneten end- lich wirkungsvoll unter Strafe zu stellen: einen Entwurf der Linksfraktion und einen Entwurf der Grünen, der heute beraten wird. Beide verfolgen das gleiche Ziel. Ich möchte noch einmal aus der Sicht der Linksfrak- tion hervorheben, von welchen Überlegungen beide Ge- setzentwürfe getragen sind. Es sind die Gründe, die dazu geführt haben, dass die Bundesrepublik Deutschland Übereinkommen der Vereinten Nationen und des Euro- parates unterzeichnet hat, die dazu auffordern, die Beste- chung und Bestechlichkeit auch von Abgeordneten kon- sequent unter Strafe zu stellen. Es sind die Gründe, die den Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 9. Mai 2006 bewegt haben, eine gleichlautende Auffor- derung an den Gesetzgeber zu richten. Es sind die Gründe, denen der aktuelle Korruptions-Paragraf des Strafgesetzbuches in keiner Weise genügt. Die Bestechung und Bestechlichkeit von Abgeordne- ten untergräbt die Grundprinzipien der Demokratie und beschädigt in krasser Weise das Vertrauen der Bürgerin- nen und Bürger in die Demokratie. Das sind schwere Verletzungen, die kein äußerer Feind der Demokratie zu- fügen könnte. Diese Art der Beschädigung kann sich die Demokratie nur selbst zufügen. Das sollten die Regie- rungsfraktionen in den Zeiten einer überbordenden Si- cherheitspolitik einmal zur Kenntnis nehmen. Die hier angesprochenen Beschädigungen unserer Gesellschaft sind hausgemacht. Eine Grundidee der De- mokratie ist die Freiheit des Mandates, das auf der Gleichheit der Wählerstimmen beruht. Die Gleichheit der Stimmen wird ad absurdum geführt, wenn zwischen den Wahlen ein kleiner Teil des Wahlvolkes politische Entscheidungen vergoldet. Die Freiheit des Gewissens wird ad absurdum geführt, wenn das Gewissen dem ge- wissen Vorteil zugeneigt ist. Das Parlament ist kein Marktplatz und politische Ent- scheidungen sind keine Waren. Bestechung und Bestech- lichkeit beginnen nicht erst beim Stimmenkauf, den das Strafgesetzbuch bereits unter Strafe stellt. Diese Vor- schrift ahndet nur die ganz schlecht eingefädelte Beste- chung; sie bestraft nur den ganz dummen Mandatsträger. Die klugen Bestochenen und die cleveren Bestecher sind aber das viel größere Problem. Jeder erhebliche geld- werte Vorteil, der für jedes politische Tun oder Unterlas- sen eines Mandatsträgers gewährt oder angenommen wird, gehört unter Strafe gestellt, wenn er der rechtlichen Stellung des Abgeordneten widerspricht. Bestechlichkeit liegt vor, wenn das Abgeordneten- mandat und seine politischen Handlungsmöglichkeiten zum Handelsgut werden. Dazu gehört der Beratervertrag ohne Beratung. Dazu gehört der gut bezahlte Stuhl im Aufsichtsrat, auf dem der Mandatsträger nahezu nie Platz nimmt. Dazu gehört die All-inklusive-Einladung zu einer Konferenz, bei der man sich unter südlicher Sonne am Swimmingpool bespricht. Was für jede Richterin, jeden Richter, jeden Amtsträ- ger in jeder Behörde dieses Landes gilt, muss grundsätz- lich auch und gerade für Abgeordnete gelten: Entschei- dungen im Namen der Allgemeinheit dürfen weder gekauft, noch verkauft werden. Dieses Ziel verfolgt un- ser Antrag. Dieses Ziel verfolgt der Antrag der Grünen. Deswegen verdienen diese Anträge eine ernsthafte Dis- kussion und im Ergebnis Zustimmung. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Bilanzrechts (Bilanzrechts- modernisierungsgesetz – BilMoG) (Tagesord- nungspunkt 13) Antje Tillmann (CDU/CSU): In den letzten Jahr- zehnten wurde das deutsche Bilanzrecht grundlegend ge- ändert. Ein Meilenstein wurde für die Geschäftsjahre ab 2005 gesetzt, weil seither kapitalmarktorientierte Kon- zerne ihren Konzernabschluss nach internationalen Rech- nungslegungsstandards aufstellen. Angestrebt wurde eine einheitliche Weltsprache der Bilanzierung, die eine län- derübergreifend vergleichbare Bilanzanalyse ermöglicht. Diese sogenannten IFRS werden in mehr als 100 Län- dern angewendet und gelten verbindlich für die rund 8 000 börsennotierten Unternehmen in der EU. Die sich daraus ergebene Vergleichbarkeit erleichtert den interna- tionalen Firmen die Suche nach Kapitalgebern. Die internationalen Rechnungslegungsstandards sind auf kapitalmarktorientierte Unternehmen und die Be- dürfnisse der Investoren zugeschnitten. Für den Mittel- stand, das Rückgrat der europäischen Wirtschaft, sind diese Regeln viel zu komplex. Ihre Interessen wurden 19192 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 (A) (C) (B) (D) beim Erarbeiten der bestehenden Regeln auch nicht be- rücksichtigt. Es ist daher auf keinen Fall zu rechtfertigen, alle Un- ternehmen, die zur Rechnungslegung verpflichtet sind, auch auf diese komplexen IFR-Standards zu verpflich- ten. Der vom International Accounting Standards Board veröffentlichte Entwurf eines internationalen Rech- nungslegungsstandards für kleine und mittelgroße Un- ternehmen ist ebenfalls keine Alternative. Er beinhaltet Regelungslücken, bei denen wiederum auf die vollen IFR-Standards und somit auf 2 400 Seiten Regelungsin- halt verwiesen wird. Zudem ist der Entwurf äußerst um- stritten und der demokratischen Kontrolle durch uns, das Gesetzgebungsorgan, entzogen. Darüber hinaus haben die Vertreter der Praxis in Deutschland den Entwurf scharf kri- tisiert, weil seine Anwendung – im Verhältnis zum HGB- Bilanzrecht – immer noch viel zu kompliziert und kos- tenträchtig wäre. Aus diesen Gründen kann es nur ein Ziel für uns ge- ben, nämlich den kleinen und mittelständischen Unterneh- men – im Verhältnis zu den internationalen Rechnungsle- gungsstandards – eine gleichwertige, aber einfachere und kostengünstigere Alternative zu bieten. Dabei soll der handelsrechtliche Jahresabschluss Grundlage der Ge- winnausschüttung bleiben. Die Vorzüge der Einheitsbi- lanz sollen so weit wie möglich bewahrt werden. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir den Infor- mationsgehalt der HGB-Bilanz ausbauen und verbes- sern, denn der Wettbewerb um Kapital beschäftigt auch den Mittelstand. Wie erfolgreich ein Unternehmen in diesem Wettbewerb ist, hängt auch davon ab, wie aussa- gekräftig seine Bilanzen sind. Dabei müssen wir aber sehr behutsam vorgehen und von den Unternehmen nicht mehr verlangen, als für die Erreichung der Ziele erfor- derlich ist. Was sind diese Ziele? Sie können in drei Gruppen un- terteilt werden: Erstens: die Deregulierung und Kosten- senkung, insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen. Zweitens: die Verbesserung der Aussage- kraft der HGB-Jahresabschlüsse. Drittens: die Umset- zung der EU-rechtlichen Vorgaben. Zum ersten Ziel: Deregulierung und Kostensenkung. Einzelkaufleute, die nur einen kleinen Geschäftsbetrieb unterhalten, sollen von der handelsrechtlichen Buchfüh- rungs- und Bilanzierungspflicht befreit werden. Der Mit- telstand soll so um Bürokratiekosten in Höhe von etwa 1 Milliarde Euro pro Jahr entlastet werden. Alle sprechen von Deregulierung und Bürokratieab- bau; sobald wir als Gesetzgeber aber Ernst machen, gibt es Bedenken. So auch hier: Die doppelte Buchführung sei aus Gründen des Gläubigerschutzes, der Vorbeugung der Insolvenzgefahr und als Warnzeichen auch im Be- reich der kleinen Unternehmen nötig. Wir sollten hier trotzdem den Mut zum Bürokratieab- bau haben. Kein Unternehmer ist daran gehindert, aus den oben genannten Gründen trotzdem eine Bilanz auf- zustellen oder ein sonstiges Risikomanagement einzu- führen. Ich bin optimistisch, dass Steuerberater auch bei einer Einnahmen- bzw. Überschussrechnung auf Risiken in der Gewinnermittlung hinweisen. Ganz im Gegenteil glaube ich, wir sollten prüfen, ob wir die Erleichterung nicht wieder auf Personenhandels- gesellschaften ausweiten, wie es der Referentenentwurf vorgesehen hatte. Bei Personenhandelsgesellschaften stellt sich im Gegensatz zu Einzelkaufleuten unter ande- rem die Frage der Gewinnverteilung auf Basis der Kapital- konten. Ich stimme hier der Auffassung des Bundesrates zu, dass möglicherweise verbundene gesellschaftsrecht- liche Folgefragen auch in Bezug auf die Gewinnvertei- lung in den betroffenen Personenhandelsgesellschaften auf der Grundlage zumeist dispositiver gesetzlicher Re- gelungen regelmäßig einer Lösung durch die Gesell- schaften selbst zugeführt werden können. Die kom- mende Anhörung wird Klarheit bringen. Bei Kapitalgesellschaften sollen die Schwellenwerte für Veröffentlichung und Prüfung um 20 Prozent ange- hoben werden. Es sind also Befreiungen und Erleichte- rungen bei der Bilanzierung vorgesehen, indem die Größenklassen, die darüber entscheiden, welche Infor- mationspflichten ein Unternehmen treffen, angehoben werden. Beispielsweise sollen rund 7 400 Kapitalgesell- schaften künftig nicht mehr mittelgroß, sondern klein sein. Diese Kapitalgesellschaften brauchen dann unter anderem ihren Jahresabschluss nicht von einem Ab- schlussprüfer prüfen zu lassen. Insgesamt soll aufgrund dieser Maßnahmen mit einer Senkung der Gesamtkosten der Buchführung, Ab- schlussaufstellung, -prüfung und -offenlegung in Höhe von ungefähr 1,3 Milliarden Euro pro Jahr zu rechnen sein. Zum zweiten Ziel: Verbesserung der Aussagekraft der HGB-Abschlüsse. Es muss für den Mittelstand weiterhin möglich bleiben, ohne großen Aufwand von der Han- delsbilanz zur Steuerbilanz zu kommen. Daher begrüße ich es – wie auch die Wirtschaft – sehr, dass eine Reihe von Wahlrechten gestrichen werden sollen, die aus be- triebswirtschaftlicher Sicht angreifbar sind und steuer- rechtlich sowieso nicht anerkannt werden. Hierzu zählen unter anderem die Streichung des Wahlrechts zur Akti- vierung der Aufwendungen für die Ingangsetzung und Erweiterung des Geschäftsbetriebes, die Abschaffung der fakultativen Aufwandsrückstellungen und die Auf- hebung des Aktivierungswahlrechts für Material- und Fertigungsgemeinkosten. Eine Anhebung des Informationsniveaus des handels- rechtlichen Jahresabschlusses soll zudem durch die Akti- vierungspflicht aktiver latenter Steuern und durch die bessere Ablesbarkeit der wirtschaftlichen Situation von Zweckgesellschaften in der Konzernbilanz erreicht wer- den. Zukünftig gilt im Zuge eines Unternehmenserwerbs der entgeltlich erworbene Geschäfts- und Firmenwert als ein zeitlich begrenzter nutzbarer Vermögensgegenstand, der in der Bilanz ausgewiesen werden muss. Mit dieser Einführung geht eine Verbesserung der Vergleichbarkeit des handelsrechtlichen Jahresabschlusses einher, da nach aktueller Rechtslage die Unternehmen wählen können, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19193 (A) (C) (B) (D) ob sie den Firmenwert aktivieren. Darüber hinaus wird die Darstellung der Vermögens-, Finanz- und Ertrags- lage stärker als bisher an die tatsächlichen Verhältnisse, den tatsächlichen Werteverzehr angenähert. In steuerli- cher Hinsicht ist der entgeltlich erworbene Geschäfts- und Firmenwert ebenfalls zu aktivieren. Zudem sieht der Gesetzentwurf vor, dass Finanzin- strumente wie Aktien, Fondsanteile und Derivate, so- weit sie zu Handelszwecken erworben sind, künftig bei allen Unternehmen zum Bilanzstichtag mit dem Markt- wert – Fair Value – bewertet werden. Dadurch soll sich die Aussagekraft des Jahresabschlusses im Hinblick auf jederzeit realisierbare Gewinne und Verluste erhöhen; die noch nicht realisierten Gewinne werden jedoch grundsätzlich mit einer Ausschüttungssperre verbunden. Die Fair-Value-Bewertung ist ja aufgrund der Ban- kenkrise sehr in die Kritik geraten. Hier wird deshalb ein Schwerpunkt in der Anhörung liegen. Wir werden hin- terfragen, ob diese Regelung tatsächlich im allgemeinen Teil des HGB implementiert werden soll oder besser un- ter den Spezialvorschriften. Bei den Rückstellungen von Unternehmen für Ver- pflichtungen sollen Entwicklungen künftig – wie Lohn-, Preis- und Personalentwicklungen – berücksichtigt wer- den. Rückstellungen mit einer Laufzeit von mehr als ei- nem Jahr sollen mit dem ihrer Laufzeit entsprechenden durchschnittlichen Marktzinssatz der vergangenen sie- ben Geschäftsjahre abgezinst werden. Die Art, wie Rückstellungen gegenwärtig bilanzrechtlich behandelt werden, wird in der öffentlichen Diskussion immer wie- der als Schwachstelle der handelsrechtlichen Rech- nungslegung bezeichnet. Steuerrechtlich bleiben dage- gen die Wertansätze am Bilanzstichtag maßgebend. Viele Verbände unterstützen das Vorhaben, bei der Rückstellungsbewertung erwartete Preiseffekte zu be- rücksichtigen. Bezüglich der geplanten Abzinsungsrege- lung gibt es jedoch auch kritische Stimmen, die zum Beispiel hohe Kosten darin sehen, dass Unternehmen verschiedene Bewertungsansätze für die Steuer- und Handelsbilanz bilden müssen. Die Anhörung wird die Vor- und Nachteile abwägen. Für viel Unruhe hat der Ansatz gesorgt, das Prinzip der wirtschaftlichen Zurechnung von Vermögensgegen- ständen einer gesetzlichen Verankerung zu unterziehen. Wenn auch in der Begründung darauf hingewiesen wird, dass sich „keine Veränderungen des bisherigen Rechts- zustandes“ ergeben, so führt die neue Formulierung trotzdem zu Verunsicherung. Der Vorschlag des Bun- desrates, indem für die Zurechnung auf die aus dem Steuerrecht bekannte und bewährte Formulierung zur Zurechnung von Wirtschaftsgütern des § 39 der Abga- benordnung zurückgegriffen werden soll, sollte in Erwä- gung gezogen werden. Immaterielle selbstgeschaffene Vermögensgegen- stände des Anlagevermögens wie zum Beispiel Patente oder Know-how sind künftig in der HGB-Bilanz anzu- setzen. Das ist vor allem für innovative Unternehmen wichtig, die intensiv forschen und entwickeln, beispiels- weise die chemische oder pharmazeutische Industrie oder die Automobilindustrie nebst ihren Zulieferern. Ins- besondere profitieren auch kleine und sogenannte Start- Up-Unternehmen von der Vorschrift. Auch sie können ihre Entwicklungen – ihr Potenzial – künftig in der Han- delsbilanz zeigen. Dadurch können die Unternehmen ihre Eigenkapitalbasis ausbauen und ihre Fähigkeit ver- bessern, sich am Markt kostengünstig weiteres Kapital zu beschaffen. Steuerlich bleiben die Aufwendungen aber nach wie vor abzugsfähig; sie stehen auch nicht für die Gewinnausschüttung zur Verfügung. Das fördert die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands als Standort für in- novative Unternehmen. Dieses Instrument ist bei dieser Reform aber auch das am heftigsten diskutierte. Die Bedenken gegen diese Ak- tivierung, unter anderem, dass dem Gut nur schwer ein objektiver Wert zugewiesen werden könne, dass die Ab- grenzung zwischen Forschungs- und Entwicklungskos- ten schwierig sei oder dass eine Abweichung der Han- dels- von der Steuerbilanz vorliege, werden wir in einer Anhörung versuchen auszuräumen. Ein hinreichender Gläubigerschutz und eine Anhebung des Informationsni- veaus soll erreicht werden, indem die Aktivierungs- pflicht mit einer Ausschüttungssperre gekoppelt wird. Das Wahlrecht der Kapitalgesellschaften, ihren Jah- resabschluss nach den IFR-Standards aufzustellen, wird im Gesetzentwurf nicht weiter verfolgt. Kapitalgesell- schaften können – anders als im Referentenentwurf vor- gesehen – nun doch keinen befreienden Jahresabschluss nach den internationalen Rechnungslegungsstandards aufstellen. Ursprünglich sollte dies möglich sein, sofern die Unternehmen im Anhang zum Jahresabschluss wei- ter eine Bilanz sowie eine Gewinn- und Verlustrechnung nach HGB vorlegen. Viele Unternehmen haben diese Möglichkeit abge- lehnt, weil sie darin keine wirkliche Entlastung sahen, solange sie die HGB-Bilanz trotzdem im Anhang auf- führen müssen. Andere Verbände betrachteten kritisch, dass durch diese Regelung faktisch der Druck auf kleine Unternehmen erhöht wird, internationale Rechnungsle- gungsstandards anzuwenden. Ich begrüße die Entscheidung des Justizministeriums, das Wahlrecht – entgegen dem Referentenentwurf – nicht einzuführen. Die IFRS sind umstritten, und wir ha- ben als Gesetzgebungsorgan der Bundesrepublik Deutschland keinen Einfluss auf ihre Entwicklung. Wir brauchen eine gangbare Alternative zu den internationa- len Rechnungslegungsstandards, die keinesfalls dadurch erreicht wird, dass wir weitere Wahlrechte schaffen. Zum dritten Ziel: Umsetzung weiterer Änderungen, die aus EU-rechtlichen Vorgaben resultieren. Mit der Re- form sollen auch die EU-rechtlichen Vorgaben unter an- derem zum Unternehmensführungsbericht und zur Er- richtung eines Prüfungsausschusses umgesetzt werden. Dabei ist es für uns überaus wichtig, dass die Vorgaben mit einer möglichst geringen Belastung für die Unter- nehmen umgesetzt werden. Abschließend möchte ich noch auf zwei weitere we- sentliche Punkte hinweisen. 19194 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 (A) (C) (B) (D) Erstens: Die Bilanzreform darf keine steuerliche Be- lastungswirkung haben. Wir wollen durch die Deregulie- rung eine Entlastung für die Unternehmen erreichen und sie nicht dadurch zunichte machen, dass wir an anderer Stelle steuerliche Mehrbelastungen produzieren. Die Verwirklichung dieses Ziels werden wir auch im weite- ren Gesetzgebungsverfahren verfolgen. Zweitens: Die erstmalige Anwendung der Vorschrif- ten muss praxisgerecht ausgestaltet werden. Die Über- gangszeiträume müssen in Anbetracht des Umstellungs- aufwands, gerade im IT-Bereich, so ausgestaltet sein, dass jedes betroffene Unternehmen genug Zeit hat, sich darauf einzustellen. Bei einigen Vorschriften, die auf der Umsetzung von EU-Richtlinien beruhen, unter anderem zum Risikobericht und zu Aufsichtsratskompetenzen, ist eine frühzeitige Anwendung erforderlich, andere könn- ten für 2009 wahlweise und erst 2010 verpflichtend ein- geführt werden. Das BilMoG ist die größte Bilanzrechtsreform seit über 20 Jahren mit weitreichenden Auswirkungen für alle bilanzierenden Unternehmen. Deshalb ist im Einzel- nen zu prüfen, ob die Zielsetzungen des Gesetzentwurfs eingehalten werden. Ich freue mich auf diese Diskussio- nen. Klaus Uwe Benneter (SPD): Der vorgelegte Ent- wurf befreit Einzelkaufleute mit einem Gewinn unter 50 000 Euro oder einem Jahresumsatz unter 500 000 Euro von der handelsrechtlichen Buchführung und Bilanzie- rung. Das ist eine enorme Deregulierung und eine gute Sache. Auch der Nationale Normenkontrollrat begrüßt diese Regelung als Abbau von Bürokratie in nennens- werter Größe. Der Normenkontrollrat hat in seiner Stel- lungnahme sehr viel dazu ausgeführt, dass er diesen Bü- rokratieabbau gerne in seine eigene Erfolgsbilanz aufnehmen möchte, das Justizministerium diese Ansicht aber nicht teile. Wichtig ist aus meiner Sicht aber vor al- lem, dass unnötige Bürokratie verschwindet. Ob sich der Normenkontrollrat oder die Justizministerin diese Ent- bürokratisierung auf die Fahnen schreiben wollen, ist mir egal. Jedenfalls sind wir es als Parlament, die das Leben einfacher machen. So weit, so gut. Jetzt kommen wir allerdings zum schwierigeren Teil des Gesetzentwurfs; denn die Bilanz- rechtsmodernisierung ist ein schwieriges Vorhaben. Wir wollen den Jahresabschluss nach dem Handelsgesetz- buch behalten, der auf den bewährten Grundsätzen ord- nungsgemäßer Buchführung beruht. Darunter fallen so schöne Grundsätze wie Bilanzwahrheit, Bilanzklarheit, Bilanzvollständigkeit und Bilanzkontinuität – und über allem schwebt der Grundsatz der Vorsicht. Grundsätze, die altmodisch klingen. In Zeiten des nicht für möglich gehaltenen Zusammenbruchs der Finanzmärkte erhalten diese Grundsätze jedoch neuen Glanz. Der Jahresabschluss nach dem HGB ist in Gefahr; denn er wird zunehmend verdrängt, verdrängt durch in- ternationale Rechnungslegungsregelungen, die soge- nannten IFRS – International Financial Reporting Stan- dard –, die ohne irgendeine demokratische Kontrolle von einem internationalen, privatrechtlich organisierten Nor- mungsgremium namens IASB – International Accoun- ting Standards Board – erarbeitet werden. Solche ein- heitlichen internationalen Rechnungslegungsregeln werden in einer globalisierten Wirtschaft gebraucht und verlangt; denn natürlich sind internationale Rechnungs- legungstandards attraktiv. Jede Bank, jeder Geldgeber weltweit kann eine Rechnungslegung nach diesem Sys- tem verstehen. Die Bilanzen der Unternehmen und Ban- ken werden so weltweit miteinander vergleichbar. Die globalisierte Wirtschaft hat deshalb kein Interesse an lauter verschiedenen nationalen Bilanzierungsregeln. Wer international agiert, muss international verständlich bilanzieren. Das ist die einfache Regel einer globalisier- ten Wirtschaft. Die Europäische Union hat dementsprechend bereits festgelegt, dass kapitalmarktorientierte Unternehmen ihre Konzernabschlüsse nach diesen IFRS aufstellen müssen. Allerdings gibt es doch noch eine Überlebens- chance für unser HGB; denn die Anforderungen an die Rechnungslegung sind bei kapitalmarktorientierten Un- ternehmen sehr hoch. Die IFRS haben deshalb – um die- sen Anforderungen gerecht zu werden – einen enormen Regelungsumfang. Entsprechend den Wünschen der Wirtschaft nach einer weniger komplexen internationa- len Regelung für kleine und mittlere Unternehmen gibt es zwar inzwischen einen Entwurf für eine abgespeckte IFRS-Version für KMU. Diese „IFRS-light“ haben aber immer noch eine enorme Regelungsdichte und enthalten außerdem zahlreiche Verweise auf die „großen“ IFRS. Wir glauben, dass auch diese „IFRS-light“ unsere Un- ternehmen zu unnötig kostenintensiver Rechnungsle- gung zwingen würden. Wenn wir aber nichts unterneh- men, werden wir einen faktischen Zwang zur IFRS- Bilanzierung bekommen, zunächst für den gehobenen Mittelstand und nach und nach für immer mehr Unter- nehmen. Denn unser HGB ist zu weit entfernt von den internationalen Rechnungslegungsstandards. Das liegt unter anderem daran, dass HGB und IFRS anderen Prin- zipien folgen. Während das HGB das Vorsichtsprinzip hochhält, verfolgen die IFRS den Fair-Value-Grundsatz. Danach soll der wahre Wert des Unternehmens in der Bilanz sichtbar werden. Deshalb werden eben nicht nur die Risiken, sondern auch die möglichen Chancen eines Unternehmens in der Bilanz bewertet. Dieses Auseinan- derlaufen von HGB und IFRS führt dazu, dass die HGB- Abschlüsse für Banken und potenzielle Geldgeber zu wenig Aussagekraft haben und einen echten Vergleich mit anderen Unternehmen nicht ermöglichen. Ich sehe deshalb unsere Aufgabe darin: Wir müssen das Handelsgesetzbuch so modernisieren, dass die HGB- Abschlüsse in ihrer Aussagekraft mit IFRS-Abschlüssen vergleichbar sind, aber mit deutlich geringerem Auf- wand erstellt werden können. Wir müssen also unser HGB an die IFRS annähern. Wir müssen aber gleichzei- tig berücksichtigen, dass die HGB-Bilanz maßgeblich ist für die Gewinnausschüttung, und wir müssen weiter be- denken, dass die HGB-Bilanz im Grundsatz maßgeblich für die Steuerbilanz sein soll und Steuererhöhungsef- fekte nicht eintreten sollen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19195 (A) (C) (B) (D) Unser Mittelstand baut auf die Bilanzrechtsmoderni- sierung; das wurde uns Abgeordneten schnell klar. Schon die Veröffentlichung des Referentenentwurfs ist auf reges Interesse gestoßen und hat zu vielen Gesprä- chen, Stellungnahmen und Fachveranstaltungen geführt, die wiederum bei der Abfassung des Regierungsent- wurfs eingearbeitet wurden. Tenor der Stellungnahmen zum Kabinettsentwurf: Das Bundesministerium der Jus- tiz hat einen sehr gut durchdachten Entwurf vorgelegt. Über Einzelheiten werden wir aber noch beraten müs- sen. Deshalb werden wir zügig eine Sachverständigen- anhörung durchführen und danach entscheiden. Es ist unsere Aufgabe, die Bilanzrechtsmodernisierung erfolg- reich abzuschließen. Auf der Grundlage eines ausge- zeichneten Regierungsentwurfs wird uns das auch gelin- gen. Mechthild Dyckmans (FDP): Heute beraten wir parlamentarisch das erste Mal die Modernisierung des deutschen Bilanzrechts. Über diese Reform wird bereits seit vielen Jahren diskutiert. Von interessierter Seite wurden mehrfach Vorschläge vorgelegt. Der Mittelstand wartet auf ein entrümpeltes und zukunftstaugliches HGB-Bilanzrecht. Der erstmals für Sommer 2004 angekündigte Refe- rentenentwurf wurde immer wieder verschoben. Nicht zuletzt die Notwendigkeit der Umsetzung einiger EU- Richtlinien hat nun dazu geführt, dass wir seit Mai 2008 endlich den Kabinettsentwurf und jetzt auch den Regie- rungsentwurf vorliegen haben. Der Regierungsentwurf hat im Vergleich zum Refe- rentenentwurf – und da sind wir sehr froh – einige ent- scheidende Änderungen erfahren. Während es zunächst den Anschein hatte, als sollten die internationalen Bilan- zierungsregeln ganz entscheidenden Einfluss auf das HGB nehmen, hat man dies im Regierungsentwurf weit- gehend aufgegeben. Wir begrüßen, dass die Aussage- kraft der HGB-Abschlüsse durch den Entwurf gestärkt und der Versuch unternommen wird, durch eine mode- rate Annäherung an internationale Vorschriften ein ein- facheres, praktikableres Regelwerk zu schaffen. Zu Recht hatten gerade mittelständische Unternehmen Bedenken, dass sie durch die Hintertür gezwungen wer- den sollten, sich auf die komplizierten und umfangrei- chen internationalen IFRS einzustellen. Die zahlreichen Verweise auf die IFRS, insbesondere bei der Definition von Begriffen, sind weggefallen. Der Gesetzentwurf ent- hält jetzt eigene Begriffsbestimmungen. Das HGB wird dadurch verständlicher und leichter handhabbar. Bei der Überarbeitung des Gesetzentwurfs wurden je- doch auch Änderungen vorgenommen, über die wir noch einmal reden müssen. Sah der Referentenentwurf noch die an Schwellen- werte gebundene Befreiung von der Buchführungs- und Bilanzierungspflicht sowohl für Einzelkaufleute als auch für Personenhandelsgesellschaften vor, so soll diese Be- freiung nach dem Regierungsentwurf nur noch für Ein- zelkaufleute gelten. Der Bundesrat spricht sich dafür aus, auch Personenhandelsgesellschaften zu befreien. Dies macht sowohl im Hinblick auf eine weitere Deregu- lierung als auch hinsichtlich einer Kostenentlastung für die betroffenen Unternehmen Sinn. Auch wenn wir Un- ternehmen von der Buchführungs- und Bilanzierungs- pflicht befreien, dürfen sie immer noch nach HGB bilan- zieren. Die Entscheidung hierüber würden wir dann der Eigenverantwortung der Unternehmen überlassen. In den parlamentarischen Beratungen sollten wir alle Argu- mente noch einmal sorgfältig abwägen. Der Gesetzentwurf räumt begrüßenswerterweise mit einigen Wahlrechten auf. Hierdurch fördern wir unter anderem die Annäherung von Handels- und Steuerbilanz hin zur sogenannten Einheitsbilanz – in erstrebenswertes Ziel. Wenn ich eben erwähnt habe, dass zu Recht zahlrei- che Verweise auf die IFRS und einige Wahlrechte weg- gefallen sind, so sollten wir aber doch noch einmal da- rüber nachdenken, ob es bei der Streichung des Wahl- rechts hinsichtlich eines befreienden IFRS-Abschlusses für Kapitalgesellschaften, das der Referentenentwurf vorsah, bleiben muss. Wir sollten versuchen, auch für diejenigen Unternehmen, die bereits heute ihren Kon- zernabschluss nach IFRS bilanzieren, Deregulierungs- möglichkeiten zu finden. Das Bundesjustizministerium ging im Referentenentwurf diesbezüglich von einer messbaren Kostensenkung um immerhin 18 Millionen Euro aus. Ich weiß um die Befürchtung kleiner und mitt- lerer Unternehmen, dadurch mittelfristig doch zur IFRS- Bilanzierung gezwungen zu werden. Wir sollten uns im Rahmen einer Sachverständigenanhörung erläutern las- sen, wo Vorteile und Nachteile eines entsprechenden Wahlrechts liegen, und dann über weitere Schritte ent- scheiden. Soweit möglich, sollte – ich habe es schon erwähnt – versucht werden, die Einheit von Handels- und Steuerbi- lanz zu erreichen. Daher ist zu überdenken, ob nicht hinsichtlich der selbstgeschaffenen immateriellen Ver- mögensgegenstände und der Entwicklungskosten ein Aktivierungswahlrecht eingeführt werden könnte. Zusätzlich könnte man sich der Einheitsbilanz nähern, wenn hinsichtlich der Pensionsverpflichtungen nur ein Verfahren zur Bewertung von Rückstellungen anzuwen- den ist. Damit ließe sich zusätzlicher Aufwand für die Unternehmen vermeiden. In diesem Zusammenhang wäre es sicher für alle Be- teiligte hilfreich, zu wissen, ob die Bundesregierung plant, ein eigenes Steuerbilanzrecht zu erlassen, und wie weit die Planungen und Arbeiten im dafür zuständigen Finanzministerium sind. Der diesbezügliche Hinweis in der Gesetzesbegründung, dass zu analysieren sei, ob zur Wahrung einer nach der individuellen Leistungsfähigkeit ausgerichteten Besteuerung eine eigenständige steuerli- che Gewinnermittlung notwendig sei und wie sie erfor- derlichenfalls zu konzipieren sei, hat uns alle hellhörig gemacht. Hier sollte mit offenen Karten gespielt werden, da die Unternehmen bei Verabschiedung des BilMoG wissen sollten, ob auf sie noch eine neue Bilanz mit all den damit zusammenhängenden Kosten zukommt oder nicht. 19196 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 (A) (C) (B) (D) Lassen Sie mich zum Schluss noch einen ganz wichti- gen Punkt ansprechen: die Frist des Inkrafttretens. Nach dem Regierungsentwurf sollen die Regelungen erstmals auf die nach dem 31. Dezember 2008 beginnenden Ge- schäftsjahre Anwendung finden. Dies ist jedoch insbe- sondere aufgrund des hohen Umstellungsaufwands bei den Unternehmen nicht mehr denkbar. Ich hoffe, dass wir uns zumindest diesbezüglich zügig einigen können, um den Unternehmen ein entsprechendes Signal zu ge- ben. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Mit dem vorliegen- den Gesetzentwurf diskutieren wir die umfassendste Re- form des Handelsbilanzrechts seit 1965. Der ursprüngli- che Referentenentwurf datiert im November 2007. Ein Jahr wird seither zwischen Justizministerium sowie Ex- perten und Expertinnen aus der Wirtschaftswissenschaft und der Beratungsbranche diskutiert, und das aus gutem Grund – immerhin handelt es sich beim Bilanzrecht um eine komplexe, hochkomplizierte und gewachsene Ma- terie. Dazu kommt, dass die Änderung eines Satzes oder Halbsatzes wesentliche materielle Auswirkungen bei der Ermittlung des – auch steuerlichen – Gewinns haben kann. Worum geht es? Der handelsrechtliche Jahresab- schluss soll – so das Ziel der Bundesregierung – den in- ternationalen Rechnungslegungsvorschriften IFRS ange- passt werden. Gleichzeitig sollen Buchführung und Bilanzierung billiger und weniger bürokratisch werden. Durch die Übernahme internationaler Rechnungsle- gungsvorschriften sollen auch bei kleinen Unternehmen internationale Standards in die Bilanz einfließen, ohne dass diese gleich eine Bilanz nach den International Fi- nancial Reporting Standards (IFRS) erstellen müssen. Dies stärkt zweifellos deren Position, wenn es bei Kre- ditinstituten darum geht, kreditfähig zu sein. Bürokratieabbau, Kostensenkung und Anpassung an die Internationalisierung sind als Ziele einer Reform des Bilanzrechts sicherlich nicht abzulehnen. Allerdings sind die Grundsätze der Handelsbilanz, nämlich der Gläubi- gerschutz sowie die Transparenz gegenüber den Gläubi- gern und der Öffentlichkeit, aus unserer Sicht zu wahren. Vor diesem Hintergrund steht für uns hinter einigen Neuregelungen ein großes Fragezeichen. Nur zwei Bei- spiele: So sollen Kaufleute von der Buchführungspflicht befreit werden, wenn sie in zwei aufeinanderfolgenden Geschäftsjahren einen Jahresüberschuss von 50 000 Euro und einen Umsatzerlös von 500 000 Euro nachweisen. Allein bezogen auf die Umsatzgröße wäre damit übri- gens die Mehrheit der Unternehmen vom Jahresab- schluss befreit: bei den Einzelunternehmern rund 90 und den Offenen Handelsgesellschaften 80 Prozent. Wir halten die Befreiungsvorschrift aus verschiede- nen Aspekten für ein Problem: Die doppelte Buchfüh- rung ist ein wichtiges Zahlenwerk für Unternehmer und Unternehmerinnen, um Forderungen und Verbindlich- keiten und den Status bei Anlage- und Umlaufvermögen oder etwa auch eine Überschuldung festzustellen. Sie ist damit ein wichtiges Instrument für die Führung von Un- ternehmen mit einem – wie es im Handelsgesetzbuch so schön heißt – „voll eingerichteten Geschäftsbetrieb“. Aus unserer Sicht sollte deshalb die Befreiungsvorschrift nicht an quantitativen, sondern qualitativen Maßstäben ausgerichtet sein. Das heißt, nicht die Höhe des Jahres- überschusses und Umsatzes, sondern der Umfang des Betriebes entscheidet über die Buchführungspflicht – wie derzeit auch. Aus unserer Sicht ist diese Befreiungsvorschrift auch keine tatsächliche Entlastung, da zahlreiche Unterneh- men zum Beispiel für Verhandlungen mit Banken ohne- hin Bilanzen erstellen müssen. Fragen entstehen auch, wenn man sich diese Vorschrift in der Praxis vorzustel- len versucht: Der Gewinn ist – kurz gesagt – bei Bilan- zierenden immer der Unterschiedsbetrag zwischen dem Betriebsvermögen am Schluss des aktuellen Wirtschafts- jahres und dem Betriebsvermögen am Schluss des vo- rangegangene Wirtschaftsjahres. Was aber, wenn in den vorangegangenen Wirtschaftsjahren aufgrund der Befrei- ung gar keine Bilanz erstellt werden musste, im aktuellen jedoch schon? Wo knüpft die Ermittlung des Gewinns an? Muss das Unternehmen dann eine Eröffnungsbilanz erstellen? Unverständlich ist uns – damit komme ich zum zwei- ten Beispiel –, weshalb an einigen Stellen von dem im Handelsrecht bewährten Vorsichtsprinzip abgegangen wird: So sollen zukünftig selbst geschaffene immate- rielle Vermögensgegenstände, wie zum Beispiel Patente, im Anlagevermögen der Unternehmen aktiviert werden können. Zwar werden diese Posten mit einer Ausschüt- tungssperre belegt, die Eigenkapitalbasis des Unterneh- mens verbreitert sich aber trotzdem. Dies soll – so die Begründung der Regierung – deren Fähigkeit verbes- sern, sich Eigen- und Fremdkapital zu beschaffen. Dies ist aber aus meiner Sicht bedenklich: In der Begründung des Gesetzentwurfes selbst wird darauf hingewiesen, dass die Posten selbst geschaffener immaterieller Ver- mögenswerte kaum objektiven Werten entsprechen. Das ist richtig. Sie sind abhängig von der internen Kosten- rechnung des Unternehmens. Um so fragwürdiger ist, dass Unternehmen auf einer so unsicheren, schwer ob- jektivierbaren Basis mehr Kapital beschaffen können sollen. Aus unserer Sicht ist der Ausweis der selbst er- stellten Vermögenswerte im Anlagevermögen hierfür auch nicht nötig, denn im Rahmen einer Kreditgewäh- rung können Unternehmen über die Bilanz hinaus Unter- lagen beibringen, die einen Überblick über zum Beispiel das Vorhandensein von Patenten und ähnlichem geben. Fragwürdig ist hier auch, weshalb bei der Erstellung der Handelsbilanz das Vorsichtsprinzip aufgegeben wird – nicht aber bei der Steuerbilanz. Bei letzterer ist eine Ak- tivierung selbst erstellter immaterieller Wirtschaftsgüter auch zukünftig nicht zulässig. Der Aufwand für die Her- stellung dieser Vermögensgegenstände mindert weiter- hin den steuerlichen Gewinn. Die Kritik zahlreicher Sachverständiger, dass unter anderem durch die letztgenannte Regelung Handels- und Steuerbilanz weiter auseinanderdriften, teilen wir expli- zit nicht. Im Gegenteil: Wir haben im Rahmen der Re- form der Unternehmensbesteuerung die Aufhebung der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz gefordert, da mit Handels- und Steuerbilanz zwei unter- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19197 (A) (C) (B) (D) schiedliche Ziele verfolgt werden: Entsprechend dem bereits erwähnten Vorsichtsprinzip sind die Ansätze in der Handelsbilanz niedrig angesetzt. Ergebnis ist damit – aufgrund des Prinzips der Maßgeblichkeit – ein niedri- ger steuerbilanzieller Gewinn. Dies ist aber problema- tisch, denn Adressat der Steuerbilanz sind die Finanzbe- hörden. Die steuerliche Bemessungsgrundlage soll die reale wirtschaftliche Leistungsfähigkeit in einem kon- kreten Veranlagungszeitraum widerspiegeln. Das Durch- schlagen des handelsbilanzrechtlichen Vorsichtsprinzips auf die Höhe von Ertragsteuern ist also nicht sachge- recht. Im Rahmen der internationalen Rechnungslegung existiert eine derartige Verknüpfung zwischen handels- und steuerbilanziellen Vorschriften auch nicht. Im Übri- gen geben uns wissenschaftliche Arbeiten der Professo- ren Spengel und Herzig darin auch Recht. Fragen ergeben sich für uns auch bezüglich der zu- künftigen Zurechnung wirtschaftlichen und nicht mehr zivilrechtlichen Eigentums zum Unternehmensvermögen – was heißt dies für die Gewinnrealisierung? Wie werden selbst erstellte immaterielle Vermögenswerte – also „Alt- fälle“ –, die aber im Unternehmen permanent weiterent- wickelt werden, behandelt – weiterhin als Aufwand oder als Aktivposten? Ein Beispiel hierfür ist selbst entwi- ckelte Software. Wie verträgt sich das Abzinsungsgebot von Rückstellungen mit dem Realisationsprinzip? Wa- rum geht die Bundesregierung bei der Vorschrift über die Bildung von Bewertungseinheiten bei Sicherungsge- schäften weit über die Richtlinien der internationalen Rechnungslegung hinaus? Und nicht zuletzt: Wie schla- gen die handelsbilanziellen Änderungen auf den steuerli- chen Gewinn durch? Zwar wird die Steuerneutralität der Reform betont. Geklärt werden müsste jedoch zum Beispiel wie sich der Wegfall der umgekehrten Maßgeblichkeit zum Beispiel auf die Bildung steuerfreier Rücklagen auswirkt. Gerade bei der Frage der Auswirkungen der Reform auf das steuerliche Ergebnis ist uns die Zurückhaltung des Fi- nanzministeriums bei diesem Thema auch völlig unver- ständlich. Für den weiteren Gesetzgebungsprozess, die Anhörung und Beratung im Ausschuss, bleiben aus un- serer Sicht also noch wesentliche Fragen zu klären, Un- genauigkeiten klarzustellen und Korrekturen vorzuneh- men. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kleine und mittelständische Unternehmen in Deutsch- land sind das Rückgrad der Wirtschaft. Sie garantieren Millionen von Arbeitsplätzen und tragen Verantwortung für die Berufsausbildung. Es ist deshalb ein Anliegen meiner Fraktion, besonders diese Unternehmen von un- nötigem Bürokratieaufwand und Bürokratiekosten zu entlasten. Wir begrüßen deshalb im Grundsatz den von der Bundesregierung eingebrachten Vorschlag zur Mo- dernisierung des Bilanzrechts. Ein wichtiger Punkt des Reformvorhabens ist die Be- freiung von Einzelkaufleuten, die innerhalb von zwei Geschäftsjahren nicht mehr als 500 000 Euro Umsatzer- löse und 50 000 Euro Jahresüberschuss aufweisen, von den bisherigen handelsrechtlichen Buchführungspflich- ten. Diese Regelung entbindet also von dem kostenauf- wendigen Erstellen einer handelsrechtlichen Bilanz. Das kann gerade Betriebsgründerinnen und Betriebsgründern zugutekommen. Hinter den handelsrechtlichen Buchfüh- rungspflichten steht das Interesse der Handelspartner an Offenlegung der wirtschaftsrelevanten Daten. Zudem dienen die Buchführungspflichten auch den Unterneh- men selbst, weil sie veranlasst werden, eine betriebswirt- schaftlich sinnvolle Mindestkontrolle der eigenen Be- triebstätigkeit auszuüben. Das kann sie auch vor Insolvenzgefahr schützen. Einzelkaufleute, die von den handelsrechtlichen Buchführungspflichten befreit sind, bleiben jedoch zur Einnahme-Überschuss-Rechnung nach dem Einkom- mensteuergesetz verpflichtet. Zwar ist eine Überschuss- rechnung nicht im gleichen Maße wie ein handelsrechtli- cher Bestandsvergleich zur Kontrolle der betrieblichen Situation eines Unternehmens geeignet. Wir halten sie aber dennoch für kleine und mittlere Unternehmen für ausreichend. Hier überwiegt für uns der positive Aspekt der Kosten- und Aufwandserleichterung für diese Unter- nehmen. Im Handelsgesetzbuch – konkret in § 241 a HGB – sollte aber klargestellt werden, dass die Pflicht zum Erstellen einer Überschussrechnung weiterhin be- steht. Ein weiter Punkt ist mir an dieser Stelle wichtig: Buchführungspflichten haben, wie gesagt, eine Schutz- funktion sowohl für die Unternehmen selbst als auch für Gläubiger und Handelspartner. Wenn die Buchführungs- pflichten erleichtert werden, sind damit gewissen Risi- ken verbunden. Denen kann und muss mit einem verbes- serten Insolvenzrecht begegnet werden. Die Bundesregierung ist in der Pflicht, eine kohärente Re- form des Insolvenzrechts vorzulegen. Mit dem Bilanz- rechtsmodernisierungsgesetz wird deutschen Unterneh- men eine einfachere und kostengünstigere Alternative zu den internationalen Rechnungslegungsstandards angebo- ten. Auch diesen Punkt des Gesetzesvorhabens begrüßen wir. Die internationalen Rechnungslegungsstandards be- trachten wir weiterhin kritisch, weil diese Standards nicht in einem demokratisch legitimierten Gesetzge- bungsverfahren oder wenigstens in der gebotenen Trans- parenz und Mitwirkung parlamentarischer Gremien zu- stande kommen. Vielmehr werden sie von dem IAS- Board, einem privaten Gremium mit Sitz in London, das von Industrieunternehmen, Banken, Versicherungsunter- nehmen und Wirtschaftsprüfern finanziert wird, erarbei- tet. Ein solches Vorgehen führt zu einem Verlust von Transparenz und Demokratie. Darauf haben wir bereits 2004 bei der Debatte um das Bilanzkontrollgesetz und das Bilanzrechtsreformgesetz hingewiesen. Insofern se- hen wir es positiv, wenn den mittelständischen und nicht kapitalmarktorientierten Unternehmen eine Alternative zu den internationalen Rechnungslegungsstandards an- geboten wird. Dennoch verlieren auch für diese Unter- nehmen die Internationalen Rechnungslegungsstandards nicht an Relevanz; denn für die Unternehmen, die inter- national agieren, kann ein wirtschaftlicher Druck beste- hen, gemäß den internationalen Regeln zu bilanzieren. Zudem enthält das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz 19198 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 (A) (C) (B) (D) zumindest mittelbare Bezüge zu den Internationalen Rechnungslegungsstandards. Wir fordern deshalb die Bundesregierung heute zum wiederholten Male auf, sich zumindest auf europäischer Ebene nachhaltig für ein demokratisch legitimiertes Zu- standekommen der Internationalen Rechnungslegungs- standards einzusetzen. Diese dürfen von der EU nicht blind übernommen werden, sondern müssen unter Mit- wirkung des Europäischen Parlaments und der nationa- len Parlamente erarbeitet und beschlossen werden. Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin der Justiz, Die Bundesregierung hat den Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Bi- lanzrechts vorgelegt. Wir wollen mit diesem Gesetz da- für sorgen, dass mittelständische Unternehmen noch bes- sere Rahmenbedingungen in Deutschland vorfinden. Die Wirtschaft braucht moderne und effiziente Bilanzie- rungsregeln. Nur dann bleibt das notwendige Vertrauen in die Finanzinformationen der Unternehmen erhalten. Dabei muss man unterscheiden: Die großen, börsennotierten Unternehmen orientieren sich an den internationalen Rechnungslegungsstan- dards, den sogenannten IFRS. 2004 haben wir daher mit dem Bilanzrechtsreformgesetz vor allem der IFRS-An- wendung im Konzernabschluss kapitalmarktorientierter Unternehmen aufgrund der europäischen IAS-Verord- nung Rechnung getragen. Für kapitalmarktorientierte Unternehmen haben sich die IFRS inzwischen zu den weltweiten Rechnungsle- gungsstandards entwickelt. Eine Erfolgsgeschichte, die nur wenige für möglich gehalten haben. Und Europa war von Anfang an mit dabei und hat mit der IAS-Verord- nung eine wichtige Vorreiterrolle eingenommen. Für die kleinen und mittelständischen Unternehmen, also für das Gros der deutschen Kapitalgesellschaften, sind die IFRS hingegen zu kompliziert und deshalb nicht brauchbar. Daran werden auch die als Entwurf vorlie- genden „IFRS für KMU“ nichts ändern. Diese Unterneh- men richten sich nach dem deutschen HGB-Bilanzrecht, das ihnen ein bewährtes und kostengünstiges Regelwerk an die Hand gibt. Allerdings sehen sich die kleinen und mittleren Un- ternehmen vermehrt unter einem gewissen Druck, auf die internationalen Standards umschwenken zu müssen. Dieser Druck kommt teils von den Banken teils von aus- ländischen Unternehmen. Wir wollen diesen Druck von den Mittelständlern nehmen und müssen deshalb dafür sorgen, dass die Handelsbilanz noch aussagekräftiger wird und das HGB-Bilanzrecht im Wettbewerb mit den internationalen Rechnungslegungsstandards bestehen kann. Das HGB-Bilanzrecht soll eine vollwertige Alter- native zu den internationalen Standards bieten, ohne de- ren Nachteile übernehmen. Stichworte sind hier: die Aktivierung selbstgeschaffe- ner immaterieller Vermögensgegenstände des Anlage- vermögens; die Zeitwertbewertung von Finanzinstru- menten, die zu Handelszwecken erworben worden sind; die zukunftsgerichtete Rückstellungsbewertung und die Abschaffung nicht mehr zeitgemäßer Bilanzierungs- wahlrechte und der umgekehrten Maßgeblichkeit. Zur Verbesserung der Aussagekraft gehört auch, dass die wirtschaftlichen Risiken bei den sogenannten Zweck- gesellschaften künftig besser aufgedeckt werden müssen – eine Lehre aus der Finanzmarktkrise der letzten Mo- nate. Daneben wollen wir deregulieren und den Bilanzie- rungsaufwand für kleinere und mittlere Unternehmen re- duzieren. Mittelständische Einzelkaufleute, die nur einen kleinen Geschäftsbetrieb unterhalten, werden von han- delsrechtlichen Buchführungs- und Bilanzierungspflich- ten befreit. Und durch die Anhebung der Schwellen- werte für kleine und mittlere Kapitalgesellschaften können in Zukunft mehr Unternehmen in den Genuss der entsprechenden Erleichterungen bei Buchführung, Bi- lanzierung, Abschlussprüfung und Offenlegung kom- men. Für die betroffenen Unternehmen bedeutet das 1,3 Milliarden Euro weniger Kosten pro Jahr! Die bisherigen Stellungnahmen von Verbänden, Wis- senschaft und Praxis haben gezeigt, dass wir mit der Grundlinie des BilMoG richtig liegen: Verbesserung der Aussagekraft der HGB-Abschlüsse so weit notwendig; Deregulierung so weit möglich; Erhaltung des HGB-Bi- lanzrechts als eigenständige Regelung; Beibehaltung der Maßgeblichkeit sowie Steuerneutralität des BilMoG. Diese Bilanzrechtsmodernisierung ist weder Anlass für Steuergeschenke, noch sollen zusätzliche Steuerbe- lastungen auf die betroffenen Unternehmen zukommen. Einige Punkte, deren Prüfung auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme angeregt hat, werden wir im wei- teren Verfahren nochmals diskutieren. Dabei wird es bei- spielsweise darum gehen, ob sich die Regelungen noch klarer fassen lassen – zum Beispiel im Hinblick auf die Zeitwertbewertung von Finanzinstrumenten, Bewer- tungseinheiten oder das Prinzip der wirtschaftlichen Zu- rechnung. Es ist jedoch zu berücksichtigen: Wir wollen uns be- wusst nicht in die Hände der internationalen Standards begeben. Unterschiede zu IFRS werden bleiben, um im Interesse der kleinen und mittleren Unternehmen Rege- lungen zu schaffen, die möglichst einfach zu handhaben sind, die aber auch genügend Rechtssicherheit bieten. Dem dient unter anderem auch die Beibehaltung der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die steuerliche Gewinnermittlung: Die Unternehmen sollen grundsätz- lich weiterhin in der Lage sein, eine Einheitsbilanz auf- zustellen. Der handelsrechtliche Jahresabschluss bleibt Grundlage der Gewinnausschüttung und Besteuerung. Ich hoffe, dass wir die Beratungen hier im Bundestag zügig abschließen können. Dies ist nicht nur im Interesse unserer Unternehmen, die möglichst bald Rechtssicher- heit wollen. Wir setzen mit dem BilMoG auch zwei EU- Richtlinien mit Regelungen zur Corporate Governance von Kapitalmarktunternehmen und zur Abschlussprü- fung um, deren Frist gerade abgelaufen ist. Die Bundesregierung wird sich in jedem Fall für eine praxisgerechte Ausgestaltung der Übergangsvorschriften Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19199 (A) (C) (B) (D) des BilMoG einsetzen. Es ist klar, dass die Unternehmen eine ausreichende Umstellungszeit brauchen. Anlage 10 Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung: – Unterrichtung: Bundesbericht zur Förde- rung des Wissenschaftlichen Nachwuchses – Antrag: Wissenschaft als Beruf attraktiver machen – Den wissenschaftlichen Nach- wuchs besser unterstützen (Tagesordnungspunkt 15 a und b) Marion Seib (CDU/CSU): Deutschlands wichtigste Ressource sind – und darüber sind wir uns alle einig – die Menschen. Der Innovationsstandort Deutschland braucht exzellenten wissenschaftlichen Nachwuchs und beste Bedingungen. Sie sind das Fundament, auf denen die Zukunft Deutschlands entsteht. Ziel der Nachwuchs- förderung ist es, die besten Bedingungen zu schaffen, damit gut qualifizierte Menschen ihre Chancen in Wis- senschaft und Forschung in Deutschland wahrnehmen können. In Deutschland wird auf höchstem Niveau ge- forscht und gelehrt. Das ist nur möglich, wenn Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftler exzellente Bedingun- gen vorfinden und sich die Klügsten für eine Karriere in Wissenschaft und Forschung entscheiden. Wir brauchen auch in Zukunft wissenschaftlichen Nachwuchs. Das heißt, dass wir unbedingt die Weichen dafür stellen müssen, dass die Abiturientenquote dras- tisch erhöht wird. Dies soll nicht auf dem Weg der An- forderungsabsenkung, sondern auf dem Weg der Indivi- dualförderung geschehen. Die Zeit drängt. Das, was wir heute regeln und entscheiden, wird erst in zehn bis zwölf Jahren zum Tragen kommen. Deshalb sind alle an dieser Aufgabe Beteiligten aufgerufen, hier mitzuwirken. Die Diskussion um die Schulstruktur, ob gegliedert oder nicht gegliedert, ist dabei eine vollkommen über- holte Diskussion. Mit der Föderalismusreform haben wir das entschieden. Die Länder sind zuständig. Sie sind da- bei auch zuständig, die Konkurrenzsituation um die bes- ten Schulen zu organisieren. Viel wichtiger ist, dass wir uns darum kümmern, „was“ an Lerninhalten und „wie“ diese vermittelt wer- den. Kreativität und Begeisterungsfähigkeit, gepaart mit breitem Allgemeinwissen und sicherem mathematischen Denken und naturwissenschaftlichen Grundkenntnissen, sind die Grundlage für künftige berufliche Erfolge im akademischen und nichtakademischen Bereich. Hierauf unser Augenmerk zu legen, halte ich für ungeheuer wichtig. Einiges wurde in der Programm- und Projektförde- rung bereits geleistet, wie beispielsweise die Mittelbe- reitstellung für die Begabtenförderung in Höhe von 113 Millionen Euro für das Jahr 2008, sodass wesentlich mehr junge Menschen in ihrem Studium und im Rahmen ihrer Promotion finanziell unterstützt werden können, die Erhöhung der Promotionsstipendien auf 1 050 Euro monatlich, das Programm „Zeit gegen Geld“, das dazu beiträgt, dass Familie und Karriere für Begabte im Hochschulbereich besser vereinbar werden, das Wissen- schaftszeitvertragsgesetz, das die Sonderregelungen für die Qualifizierungsphase von jungen Wissenschaftlerin- nen und Wissenschaftlern um eine familienpolitische Komponente ergänzt, damit zur Familiengründung er- mutigt wird, die ins Leben gerufene Alexander-von- Humboldt-Professur, mit der ausländische Wissenschaft- ler und Wissenschaftlerinnen aller Fachgebiete in Deutschland und deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Ausland mit hervorragenden Leis- tungen angeworben werden können. Wichtig ist der Hochschulpakt, mit dem sichergestellt wird, dass bis 2010 insgesamt über 90 000 zusätzliche Studienanfängerinnen und Studienanfänger an den Hochschulen aufgenommen werden können. Auch der Pakt für Forschung und Innovation, der den drei großen Forschungs- und Wissenschaftsorganisationen einen jährlichen Mittelzuwachs von mindestens 3 Prozent ga- rantiert, ist von entscheidender Bedeutung. Für Interes- sierte aus dem In- und Ausland wurde ein Kommunika- tions- und Informationssystem Wissenschaftlicher Nach- wuchs, KISSWIN, eingerichtet, das schnell und pro- blemlos über Karrierewege und Fördermöglichkeiten informiert. Auch die Exzellenzinitiative, durch die ins- gesamt bisher 39 Graduiertenschulen mit jährlich rund 1 Million Euro gefördert werden, ist zu begrüßen. Die Nachwuchsförderung wird damit nachhaltig gestärkt, und ein derartiges Exzellenznetzwerk zwischen den Hochschulen trägt dazu bei, dass die Hochschulfor- schung mit den übrigen Säulen der deutschen For- schungslandschaft Schritt halten kann. Wissenschaftli- cher Nachwuchs braucht attraktive Rahmen- und Arbeitsbedingungen, um exzellent, effizient und interna- tional wettbewerbsfähig arbeiten zu können. Daher brau- chen wir das Wissenschaftsfreiheitsgesetz. Die Förde- rung des wissenschaftlichen Nachwuchses ist in unser aller Interesse und im Interesse unseres Landes. Die Zu- kunft unserer Kinder und Enkel ist unmittelbar betrof- fen. Daher ist eine verstärkte Förderung des wissen- schaftlichen Nachwuchses unabdingbar. Dieter Grasedieck (SPD): „Ich habe mich in den USA und in Europa beworben. Das beste Angebot be- kam ich aus Deutschland“, sagte Professor Seifert von der Universität Bochum Anfang September auf der GAIN-Tagung in Boston, USA. Professor Seifert forschte an einer amerikanischen Universität und bekam dann eine Forschungsförderung von der Deutschen For- schungsgemeinschaft, DFG. Nach dem Emmy-Noether- Programm können sich die Wissenschaftler mit dem Programm an deutschen Universitäten bewerben. Als Ju- niorprofessor arbeitet der junge Wissenschaftler jetzt in Bochum und kann natürlich auch Doktoranden betreuen: „Es hat sich etwas bewegt in Deutschland. Ideen haben in Deutschland eine Zukunft“, sagte er in seinem Vor- trag. 19200 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 (A) (C) (B) (D) Es hat sich etwas bewegt in Deutschland: Das Promo- tionsstipendium ist auf 1 050 Euro erhöht worden. Jähr- lich werden zehn weltweit führende Wissenschaftler al- ler Fachrichtungen aus dem Ausland angeworben. Diese Professoren sollen langfristig in Deutschland forschen. Bis 2004 wurden vom Bund 850 Stellen für Juniorpro- fessoren eingerichtet. Gefördert werden 40 Graduierten- schulen und 30 Exzellenzcluster mit 1,9 Milliarden Euro von 2006 bis 2011. Ein Professorinnenprogramm ist vom Bund und von den Ländern beschlossen worden. In den nächsten fünf Jahren sollen 200 neue Stellen für Professorinnen eingerichtet werden. Der Bund zahlt 75 Millionen Euro. Die Zusammenarbeit von Hoch- schule und Wirtschaft für anwendungsorientierte For- schung und Entwicklung wird durch den Bund mit 319 Millionen Euro gefördert. Fachhochschulen, Uni- versitäten und mittelständische Unternehmen forschen gemeinsam anwendungsorientiert. Der Bundesbericht zur Förderung des wissenschaftli- chen Nachwuchses weist aber auch auf zukünftige Ver- besserungen hin: So benötigen wir an unseren Hoch- schulen eine längerfristige Karriereplanung. Deshalb wird in der Zukunft eine differenzierte Feststellung der jährlichen, neu zu besetzenden Professorenstellen für Nachwuchswissenschaftler zusammengestellt. In Zu- kunft muss die Anerkennung von Studien und Beschäfti- gung im Ausland verbessert werden. Wir müssen unseren deutschen und auch ausländi- schen Wissenschaftlern deutlich machen: Die Universi- tätstüren in Deutschland sind weit geöffnet. Junge Ta- lente sind in Deutschland willkommen. Wir brauchen Akademiker. Die Zahl der Studienanfänger steigt im Jahr 2012 um circa 22 Prozent gegenüber 2004; bis 2014 steigt die Zahl bis zu 36 Prozent. Deutsche Universitäten benötigen junge Wissenschaftler. Bis zum Jahre 2013 gehen 330 000 Akademiker in Pension. Und schon heute suchen wir 100 000 Ingenieure. Junge Menschen haben eine gute Chance. Unsere Industrie und das Handwerk suchen Ingenieure, auf der anderen Seite sind viele ältere Ingenieure arbeitslos. Das Wissen verändert sich drama- tisch, deshalb ist es wichtig, dass unsere Ministerin Annette Schavan auf dem Bildungsgipfel einen Hoch- schulwettbewerb für intelligente Weiterbildungskon- zepte startet und ab 2010 200 Millionen Euro bereitstel- len will. Wir brauchen lebenslanges Lernen sowohl für jeden Facharbeiter, für jeden Akademiker, für jeden Po- litiker und für jeden Spitzenmanager. Einige Universitä- ten wie die Elite Universität in Aachen bieten für Akade- miker aus aller Welt Managementseminare an. „Hier in Aachen können die Teilnehmer mit Experten über die wichtigen Themen der nächsten 50 Jahre diskutieren und Szenarien entwickeln“, sagte ein Inder am Ende der Ta- gung. Nur so können wir in der Gesellschaft die Wis- sensexplosion meistern. Auch für diese wichtige Auf- gabe benötigen unsere Universitäten junge Professoren. 85 Prozent der jungen deutschen Forscher, die in Ame- rika oder in anderen Ländern arbeiten, kommen nach zwei bis drei Jahren nach Deutschland zurück. Diesen Prozentsatz müssen wir steigern und mehr ausländische Forscher müssen davon überzeugt werden. Die besten Forschungsbedingungen finde ich in der deutschen In- dustrie oder an deutschen Universitäten. Unsere Bundesregierungen haben im letzten Jahr- zehnt viel erreicht. Hier müssen wir weitermachen. Deutschlands Hochschulen sollen das Kraftzentrum der Wissensgesellschaft bleiben, und Deutschlands Industrie muss Exportweltmeister bleiben. Wir benötigen dazu weitere finanzielle Förderung. Deshalb war ich begeis- tert, dass unsere Bundeskanzlerin in der vergangenen Woche im Plenum sagte: „Aus der Bundesrepublik muss eine Bildungsrepublik werden. Diese Bildungsrepublik ist der beste Sozialstaat.“ Ich möchte noch ergänzen: Kostenlose Bildung für alle, von der Kita bis zur Uni, damit auch in 20 Jahren deutsche Forscher den Nobel- preis in Schweden erhalten. Hier stehen wir fest an der Seite unserer Bundeskanzlerin. Die Union sollte bei die- ser wichtigen Frage mitmachen. Mehr Mut ist gefragt. Uwe Barth (FDP): Die Bundesregierung legt heute ihren Bericht zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses vor. Auf über 300 Seiten wird im wahrsten Sinne des Wortes berichtet. Zu politischen Überlegungen und Plänen äußert sich die Regierung allerdings nur auf knappen zwei Seiten stichpunktartig in sogenannten Handlungsansätzen. Alleine dieser Umstand spricht Bände! Insgesamt ist der Bericht – vielleicht gerade auf- grund der ausgesparten politischen Prosa – so erhellend wie ausführlich. Er zeichnet ein vielfach positiveres Bild von der ausgerufenen „Bildungsrepublik Deutschland“ als wir es in den vergangenen Jahren gewohnt waren. Es scheint, zumindest auf den ersten Blick, dass es gar nicht so übel um den wissenschaftlichen Nachwuchs bestellt ist. Doch bei genauerer Betrachtung finden sich auch hier Schattenseiten, über die wir nicht leichtfertig hin- weggehen dürfen. Gerade die altbekannten Defizite exis- tieren fort – und die sparsamen Vorschläge der Bundes- regierung geben keinen berechtigten Anlass, um auf eine Lösung dieser Probleme hoffen zu dürfen. Die Zahl der postgradualen Abschlüsse an deutschen Hochschulen lässt aufatmen. Beim Blick auf unsere Pro- motionsquote könnte man sogar geneigt sein, in Jubel auszubrechen: Kein anderes Land schafft es, so viele junge – oder auch nicht mehr ganz so junge Menschen (die meisten sind zwischen 30 und 35 Jahre alt) – zum Doktortitel zu bringen. Während der EU-27-Durch- schnittwert bei 2,73 Promotionen je 100 Hochschulab- schlüssen liegt, kann Deutschland eine Quote von stol- zen 11,7 Prozent vorweisen. Damit liegen wir erheblich über dem Anteil Frankreichs (2,09 Promotionen) oder Großbritanniens (2,63). Doch wer nun meint, dass – in Anbetracht dieser schönen Zahlen und der doch sehr be- eindruckenden Werte – man sich nun getrost zurückleh- nen könne, der irrt gewaltig. Denn der Promotion kommt in Deutschland eine ganz andere Bedeutung zu als in un- seren Nachbarstaaten. Während sie andernorts den ers- ten Meilenstein einer akademischen Karriere darstellt, neudeutsch „Tenure Track“ genannt, ist der Weg zum Doktor in Deutschland häufig eine Verlegenheitslösung, meist markiert er dann auch das Ende des akademischen Werdegangs. Zu häufig wird die Promotion aus Furcht vor Arbeitslosigkeit gewählt (und wird beim Eintritt in Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19201 (A) (C) (B) (D) ein reguläres Beschäftigungsverhältnis aufgegeben), dient der Überbrückung von Wartezeiten, die wiederum überalterten Studienstrukturen geschuldet sind, oder dient der Statussicherung – wohlgemerkt – außerhalb des Wissenschaftssystems. Dies wird besonders deutlich, wenn man sich unsere angehenden Juristen anschaut. 76 Prozent der Studentin- nen und Studenten lehnen eine künftige Tätigkeit an ei- ner Hochschule rundweg ab – nur 2 Prozent dieser Stu- dierenden streben mit Bestimmtheit einer akademischen Tätigkeit entgegen. Dennoch sind 25 Prozent dieser Gruppe gewillt, eine Promotion aufzunehmen. Der 10. Studierendensurvey an Universitäten und Fachhoch- schulen hat diesen Befund nochmals empirisch unter- legt. Denn obwohl die Zufriedenheit der Studierenden mit dem Studienangebot gewachsen ist – 72 Prozent schätzen es als gut oder sehr gut ein –, erscheint den Stu- dierenden der „Verbleib an der Hochschule eher als eine Notlösung“. Im Bericht heißt es, dass „über die Hälfte aller Studierenden beabsichtigt, weiterzustudieren, falls der Berufseinstieg nicht gelingen sollte“ (Seite 54). Ge- rade einmal 3 Prozent eines Jahrganges wollen aber un- bedingt an einer Hochschule arbeiten (Seite 49). Eine solche Entwicklung ist einmalig, für den deut- schen Hochschulraum jedoch leider kennzeichnend. Grundsätzlich muss die Frage erlaubt sein, ob die vom Staat investierten Ressourcen optimal eingesetzt werden oder ob hier nicht mit der Lebenszeit junger Menschen fahrlässig umgegangen wird. Die Promotion sollte nicht regelmäßig den Endpunkt oder Ausstiegspunkt darstel- len, sondern vielmehr einen Zwischenschritt auf der Lei- ter im Wissenschaftssystem markieren. Zu den dafür nö- tigen Voraussetzungen gehört zum Beispiel der Aufbau von Graduiertenkollegs. Durch eine adäquate Betreuung und Austauschmöglichkeiten wird hier den Studierenden ein Arbeitsumfeld geboten, welches Supervision ohne allzu enge Fesseln ermöglicht. Das ist nur ein denkbares Mittel, Promovierende zu unterstützen. Wir müssen jedoch auch zusätzliche Möglichkeiten zur Absicherung des Lebensunterhalts für die Nach- wuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zur Verfügung stellen. Auf der Suche nach geeigneten Bei- spielen lohnt es sich, nach Holland zu schauen. Dort er- halten die an den Graduiertenkollegs eingeschriebenen Studierenden ein Stipendium – als Gegenleistung sind sie dazu verpflichtet, einen gewissen Anteil ihrer Ar- beitszeit (circa 10 Prozent) der Betreuung der Studieren- den in Bachelorstudiengängen zu widmen. So werden Forschung und Lehre zu einem frühen Zeitpunkt in der wissenschaftlichen Karriere verbunden, Studierende und Promovierende profitieren von der Erfahrung gleicher- maßen. Gerade deswegen ist das Ziel der FDP, die Sti- pendienquote auf mindestens 10 Prozent anzuheben, richtig und wird – auch gegen den Widerstand von SPD, der Linken und den Grünen – weiterhin mit Nachdruck verfolgt. Eine erfolgreiche Wissenschaftspolitik hängt jedoch maßgeblich davon ab, inwiefern es uns gelingt, unsere Universitäten konsequent zu stärken. Neben der Einrich- tung der Graduiertenkollegs und der Verankerung des Promotionsrechts müssen wir die Qualität der Lehre ent- sprechend absichern. Wenn Bund und Länder den Hoch- schulpakt verramschen, indem sie die Studienplatzkos- ten auf Billigstniveau veranschlagen, dann geht dies zwangsläufig zulasten der Hochschulqualität. Der zu- ständige Staatssekretär hat in der Ausschusssitzung die- ser Woche bestätigt, dass die veranschlagten 5 500 Euro zu knapp bemessen seien. Dies kann und darf nicht hin- genommen werden, denn durch diesen Selbstbetrug ge- fährden wir den Wissenschaftsstandort Deutschland. Ge- rade deswegen hat die FDP-Bundestagsfraktion eine Initiative verabschiedet, die eine Korrektur der Kalkula- tion vorsieht. Damit würde der Forderung der Hochschu- len entsprochen, und eine 25-Prozent-Erhöhung der Stu- dienplatzpauschale wäre realisierbar. Schließlich will ich das Plädoyer der FDP-Bundestags- fraktion für die Verabschiedung eines Wissenschaftstarif- vertrags abermals erneuern. Wir Liberale setzen uns seit Jahren dafür ein, dass der Wissenschaftsbetrieb die so dringend benötigte Flexibilität bei der Vergütung des Personals erhält. Es ist unfassbar, dass sich hier nichts tut. Denn gerade diese überkommenen Entlohnungs- und Arbeitszeitstrukturen, mit denen wir uns in Deutschland konfrontiert sehen, behindern Vergleichbarkeit, Wettbe- werbsfähigkeit und Mobilität innerhalb und außerhalb Deutschlands. Hier muss die Bundesregierung die Part- ner an einen Tisch bringen und dafür sorgen, dass wir für das Wissenschaftssystem förderliche Lösungen entwi- ckeln. In den kommenden Jahren wird sich entscheiden, ob es uns gelingt, die Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses in Deutschland nachhaltig zu stabilisieren und unsere Vorsprünge zu wahren. Dabei ist es zwin- gend erforderlich, dass wir die Funktionalität der post- gradualen Studiengänge überprüfen, eine Verbesserung der Karriereplanung für Nachwuchswissenschaftler her- beiführen sowie unsere Universitäten – als Zentren der Nachwuchsförderung – adäquat mit Mitteln ausstatten. Die Bundesregierung und die Länder haben diese Auf- gabe bislang nicht in einem ausreichenden Maße erfüllt – und deswegen müssen sie sich nun mit Nachdruck die- sen Problemstellungen widmen! Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Lassen Sie mich mit einer Merkwürdigkeit des deutschen Wissenschaftssys- tems beginnen. Diese dürfte auch Demografen irritieren. Es ist nämlich gar nicht so selten, dass man in Deutsch- land bis zum zarten Alter von gut vierzig Jahren noch zum wissenschaftlichen Nachwuchs zählt. Und das kommt so: Während in anderen Ländern die Qualifizierung for- mal mit Promotion und Lehrberechtigung abschließt, kann man in Deutschland sogar noch mit der Habilitie- rung zum wissenschaftlichen Nachwuchs gehören. Bis dahin sitzt man auf sogenannten Qualifizierungsstellen. Diese sind fast immer befristet. Solange diese Nach- wuchswissenschaftlerinnen nicht den Sprung auf einen Lehrstuhl geschafft haben, hangeln sie sich also durch eine akademische Laufbahn, ohne klare Aussichten, ob sie dort auch jemals richtig ankommen. Zwischenzeit- 19202 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 (A) (C) (B) (D) lich erfüllen sie voll und ganz Aufgaben in Forschung und Lehre. Zudem betreuen und beraten sie Studierende, korrigieren Klausuren, bereiten aufwendige Anträge in- nerhalb diverser Förderprogramme von Bund, Ländern und EU namens ihrer Professorinnen vor, schreiben an Veröffentlichungen mit und anderes mehr. Sie zählen als Nachwuchs, erfüllen mit diesem Beschäftigungsprofil faktisch aber reguläre Aufgaben in Forschung und Lehre. Vor diesem Hintergrund wird klar, dass man im Grunde nur über wissenschaftlichen Nachwuchs reden kann, wenn zugleich die Zukunft des Konzepts „akade- mischer Mittelbau“ thematisiert wird. Damit sind wir mitten in einer Debatte von Beschäfti- gungsbedingungen, Personalstrukturen und Tarifrege- lungen des Wissenschaftssystems. Denn es gibt im deut- schen System nicht nur Merkwürdigkeiten, sondern auch Anachronismen. Die gesamte akademische Laufbahn richtet sich auf die Berufung zum Professor. Da jedoch die Zahl der Professuren um ein Mehrfaches unter der Zahl der Bewerberinnen liegt, müssen zwangsläufig viele aus der Kurve fliegen. Unterhalb von Professuren ist das deutsche Hochschulsystem für Beschäftigte aber ausgesprochen unattraktiv. Nur ein Fünftel der Stellen sind dauerhafte Hochschullehrerstellen. In anderen Staa- ten ist dieser Anteil deutlich höher. Die restlichen vier Fünftel sind in Deutschland großenteils schlecht be- zahlte Stellen oder von Professuren abhängende Zeitverträge – fast die Hälfte davon in Teilzeit, da die Mittel nicht zu mehr reichen. Auf halben Stellen ganz zu arbeiten, wird unterschwellig erwartet und getan. Eine Stelle teilen sich oftmals zwei Nachwuchskräfte. Damit klar wird, welche Einkommenshöhe erreicht wird, sei ein Beispiel angeführt: Diese halben Stellen bringen dem oder der Inhaber/in dann nach Bundesange- stelltentarif etwa 1 000 Euro netto monatlich. Promotion oder Habilitation werden häufig nebenbei geschrieben. Folge: Wissenschaftliche Laufbahnen sind nicht planbar. Es kann passieren, dass man nach Jahren auf diesen Stel- len mit oder ohne Qualifizierung ausscheidet und ar- mutsbedroht ist. Dann ist man nicht mehr wissenschaftli- cher, sondern Hartz-IV-Nachwuchs. Zudem kann die unmittelbar persönliche Abhängigkeit von Professoren die Selbstständigkeit in Lehr-, Forschungs- und Mitbe- stimmungsrechten an der Hochschule erheblich ein- schränken. Nicht unbedingt die hohe Schule für innova- tives, unabhängiges Denken! Daher fordert die Linke: erstens das System so zu ge- stalten, dass Wissenschaft nicht nur als Berufung im Sinne von Hingabe, sondern auch in sozialer Verantwor- tung als Beruf verstanden wird. Entsprechend müssen Bund und Länder endlich für wissenschaftspezifische Regelungen in den Tarifverträgen sorgen, die ein flexib- les Arbeiten mit auf Dauer angelegten Entwicklungs- möglichkeiten der Beschäftigten zum Ziel haben. Das ist eine Grundvoraussetzung, um endlich auch deutlich mehr Frauen Chancen auf Qualifikation und Berufung zu verschaffen. Zur dieser Problematik – mehr Frauen in die Wissenschaft und Gender in der Forschung – liegen aktuell von allen Fraktionen umfangreiche Anträge vor. Zweitens müssen die Stellen für wissenschaftlichen Nachwuchs Qualifizierung in Forschung und Lehre glei- chermaßen ermöglichen. Die Einheit von Forschung und Lehre muss auch personalisiert umgesetzt werden. Drittens müssen im Wissenschaftszeitvertragsgesetz die Endlosschleifen der Befristung von Verträgen und die sogenannte Tarifsperre gelöscht werden. Bevor der Weg für nach oben offene Spitzengehälter für wenige bereitet wird, muss die Bundesregierung dem Nach- wuchs entsprechend der EU-Forschercharta optimale Bedingungen bieten. Viertens bedarf es einer verlässlichen Sockelfinanzie- rung von Wissenschaftseinrichtungen. Der normale Wis- senschaftsbetrieb darf nicht auf Auftragsforschung ange- wiesen sein. Diese Einnahmen machen ja auch nur befristete Beschäftigung und keine verlässlichen Bedin- gungen in Arbeitszeit und Bezahlung möglich. Schon heute wird ein Fünftel der wissenschaftlichen Mitarbei- ter von Hochschulen aus dieser Auftragsforschung be- zahlt. Mit dieser Entwicklung verlieren die Hochschulen Schritt für Schritt die verfassungsrechtlich garantierte Freiheit von Forschung und Lehre. Immer mehr erfolgen Forschungs- und Lehrprofilierung nach nicht wissen- schaftsgeleiteten Kriterien. Vor diesem Hintergrund sollte die Exzellenzinitiative auslaufen und beabsichtigte Finanzierungen in einen Hochschulpakt II überführt werden, um mehr Mittel für grundständige Forschung und Lehre freizumachen. Spezielle Nachwuchspro- gramme außerhalb klassischer Hochschulstrukturen, wie Emmy-Noether-Programm und Heisenberg-Professur, sollten deutlich aufgestockt werden. Fünftens sollte der Wissenschaftsrat mit einer Studie zur Reform der Nachwuchsförderung beauftragt werden. Diese müsste insbesondere konkrete und verlässliche Vorschläge zu Laufbahnplanungen und -beratungen, zu Mentoring- und Personalentwicklungsprogrammen der Hochschulen und Forschungseinrichtungen enthalten. Mein Fazit: Die Bundesregierung sollte die Förde- rung des Nachwuchses in der Breite mindestens genauso wichtig nehmen wie ihre exorbitant teuren Exzellenz- und Hightechinitiativen. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es gibt in Deutschland zu wenige Forscherinnen und Forscher und zu wenige junge Menschen, die sich für eine Karrie- re in der Wissenschaft entscheiden. Über diese Dia- gnose sind wir uns alle einig – und auch darüber, dass angesichts des demografischen Wandels und der Anfor- derungen unserer modernen Wissensökonomie Bund, Länder und die anderen Wissenschaftsakteure dieser zu- kunftsfeindlichen Entwicklung entgegensteuern müssen. Nach dieser Absichtserklärung ist es aber meist auch schon vorbei mit der Einigkeit. Die Bundesbildungs- ministerin scheint die Wissenschaft und vor allem den wissenschaftlichen Nachwuchs gedanklich schon kom- plett aus ihrer Zuständigkeit entlassen zu haben. Das ist aber ein fataler Trugschluss! Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19203 (A) (C) (B) (D) Die Wertschätzung von Wissenschaft, das Wecken von Forscherdrang und das Fördern aller Potenziale und Talente müssen so früh wie möglich ansetzen. Die Wei- chen werden von Anfang an gestellt: durch eine stärkere frühkindliche Bildung, durch eine individuelle Förde- rung und längeres gemeinsames Lernen anstatt Aussor- tierens im mehrgliedrigen Schulsystem. Hier brauchen wir schleunigst Strukturreformen. Aber ich will mich auf die Nadelöhre zu und an den Hochschulen konzentrieren. Fangen wir bei den Studie- renden an: Die Bundesregierung lobt sich in der Unter- richtung selbst, wie deutlich sie die Talentförderung ge- steigert habe. Da muss ich gleich das erste Wasser in den Wein kippen: Der Hochschulpakt I hat das Zeug dazu, sich zum Rohrkrepierer zu entwickeln. Die erste Zwi- schenbilanz zeigt, dass er keine 13 000, sondern nur gut 3 000 zusätzliche Studienanfänger gebracht hat. Wie soll das Potenzial von Zehntausenden Studienberechtigten gefördert werden, wenn sie es nicht einmal auf den Uni- Campus schaffen, und vor verschlossenen Hörsaaltüren stehen bleiben? Dass Sie diesen überaus mageren Start tatsächlich als „Teilerfolg“ bewerten, ist unerhört! Sie müssen beim Bildungsgipfel mit den Ländern alles da- ransetzen, den Pakt I zu retten und nachzuverhandeln. Als Nächstes fällt der Blick auf erfolgreiche Hoch- schulabsolventinnen und -absolventen. Wie werden die finanziellen und strukturellen Promotionsbedingungen umfassend verbessert? Was wird getan, damit mehr Ab- solventinnen und Absolventen eine Promotion als sinn- volle Bildungsinvestition ansehen und als ersten Schritt in die Wissenschaft als Beruf angehen? Ihre Maßnahmen im Rahmen der Exzellenzinitiative reichen nicht aus. Es müssen mehr Promotionsstellen und Graduiertenkollegs geschaffen werden. Daneben muss auch für Promovierende mit Stipendien die Anbin- dung an Hochschulen und Forschungseinrichtungen er- leichtert werden. Auch ist die systematische Weiterbil- dung über das eigentliche Promotionsprojekt hinaus nötig. Hier sollten unserer Auffassung nach die Begab- tenförderungswerke stärker einbezogen werden. Das Promotionsrecht wiederum darf keinesfalls zu einer Statusfrage verkommen. Es muss von den Univer- sitäten nicht nur lautstark reklamiert, sondern auch ver- antwortlich ausgeübt werden. Wir wollen auch die Fach- hochschulen stärker für die Nachwuchsqualifizierung gewinnen. Deswegen sollten Unis und FHs verstärkt ge- meinsame Teams zur Promotionsbetreuung einrichten können. Ein leidiges Thema ist und bleibt die lange wissen- schaftliche und tatsächliche Abhängigkeit deutscher Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler. Warum, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, sperren Sie sich noch immer gegen die Juniorprofessur? Natürlich lässt sich über den Umfang der Lehrverpflich- tung streiten. Aber warum erkennen Sie die Attraktivität dieser Stellen, die darin besteht, nach der Promotion selbstständig forschen zu können, nicht endlich an? Wir fordern Sie auf, beim Hochschulpakt II die Juniorprofes- sur endlich aufzunehmen und sie zu fördern. Dazu müs- sen von Beginn an klare Bedingungen für die weitere Karriereplanung feststehen. Wissenschaft als Beruf kann für junge Frauen und Männer nur attraktiv sein, wenn eine dem angelsächsischen „Tenure Track“ entspre- chende Planbarkeit der Karriereschritte geschaffen wird. Hochschulen und Forschungseinrichtungen müssen in der Lage sein, eine mittel- und langfristige Personalpoli- tik mit transparenten Entscheidungsverfahren zu ma- chen. Wo die Habilitation als Qualifikationsweg beste- hen bleibt, muss gewährleistet werden, dass sie in größerer wissenschaftlicher Unabhängigkeit als bisher durchgeführt werden kann. Warum intensivieren Sie nicht die Förderung von Nachwuchsgruppenleitungen? Was mich ebenfalls umtreibt: Denken Sie ernsthaft, mit dem Professorinnenprogramm sei alles Mögliche und Notwendige für mehr Chancengerechtigkeit für Frauen getan? Sicher nicht! Denn die Gleichstellung der Geschlechter muss umfassend durchgesetzt werden. Dazu müssen sich Hochschulen und Wissenschaftsein- richtungen zu messbaren und realistischen Steigerungs- quoten des Frauenanteils verpflichten. Diese Kaskaden müssen gewährleisten, dass auf allen Ebenen und in al- len Fachbereichen unseres Wissenschaftssystems ein Frauenanteil von mindestens 40 Prozent erreicht wird. Daneben müssen unsere Hochschulen familien- freundlicher werden – andernfalls müssen sich Nach- wuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler weiter- hin zwischen Kind und wissenschaftlicher Karriere entscheiden. Gerade für junge Männer hat die Kombina- tion „Kinder, Küche, Kolloquium“ absoluten Selten- heitswert. Daher brauchen wir einen Aufbruch zu mehr Familienfreundlichkeit. Dies sind im internationalen Wissenschaftsraum wichtige Voraussetzungen für eine hohe Mobilität und eine produktive Brain Circulation der Talente. Gute Arbeitsbedingungen hierzulande ent- scheiden darüber, ob wissenschaftliche Nachwuchs- kräfte im Inland bleiben bzw. nach Auslandsaufenthalten zurückkehren. Dazu gehört übrigens auch eine bessere Bezahlung. Daher müssen wir alles daransetzen, die Ar- beitsbedingungen und Karriereperspektiven in der Wis- senschaft zu verbessern. Unser Ziel muss sein, dass die akademische Laufbahn wieder beliebter wird. Packen wir es endlich an! Andreas Storm, Parl. Staatsekretär bei der Bundes- ministerin für Bildung und Forschung: Wenn wir uns Gedanken machen über die Zukunft Deutschlands, dann müssen wir uns vor allem auch Gedanken machen über die Zukunft des wissenschaftlichen Nachwuchses. Mehr denn je sind wir angewiesen auf Kreativität und fundier- tes Wissen, um die Probleme von morgen erfolgreich be- wältigen zu können. Das bedeutet, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir die klügsten Köpfe für eine Kar- riere in Wissenschaft und Forschung gewinnen und dass wir ihnen bei ihrer wissenschaftlichen Karriere die bes- ten Bedingungen bieten müssen. Beste Bedingungen können wir aber nur schaffen, wenn wir die Belange unseres Forschernachwuchses auch wirklich kennen, wenn wir uns um die Rahmenbe- dingungen ihrer Arbeit an den Universitäten, an den au- ßeruniversitären Forschungseinrichtungen und in der In- 19204 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 (A) (C) (B) (D) dustrie kümmern und die Sorgen der jungen Forscherinnen und Forscher ernst nehmen. Die Bundes- regierung hat daher sehr frühzeitig den Dialog mit dem wissenschaftlichen Nachwuchs gesucht und ein Forum für den Austausch zwischen jungen Forscherinnen und Forschern, Entscheidungsträgern aus Bund und Ländern, Wissenschafts- und Mittlerorganisationen sowie For- schungseinrichtungen geschaffen. Zwei Konferenzen – in Berlin (2006) und in Stuttgart (2007) – haben sich intensiv mit der Lage des wissenschaftlichen Nachwuch- ses beschäftigt und relevante Themen wie beispielsweise Begabtenförderung, intersektorale Mobilität oder Bere- chenbarkeit von Karrierewegen diskutiert. Ein wichtiges Ergebnis dieses Dialogs mit den jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, der durch eine umfassende Studie ergänzt und fundiert wurde, stellt der von der Bundesregierung im Februar 2008 vor- gelegte erste Bundesbericht zur Förderung des Wissen- schaftlichen Nachwuchses, kurz: BuWiN, dar. Der Be- richt analysiert die Situation junger Forscherinnen und Forscher in Deutschland und bietet zum allerersten Mal einen fundierten Überblick über die Maßnahmen und Förderprogramme von Bund, Ländern und Wissen- schaftsorganisationen. Der Bericht bestätigt die Vielfalt und die hohe Quali- tät der Nachwuchsförderung in Deutschland. Mit einer Vielzahl von Maßnahmen fördert die Bundesregierung junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Rahmen der Programm- und Projektförderung sowie in erheblichem Umfang indirekt durch die institutionelle Förderung von Wissenschafts- und Mittlerorganisatio- nen. Exemplarisch verweise ich auf die deutliche Erhö- hung der Mittel für die Begabtenförderung, aber auch auf die Exzellenzinitiative, den Pakt für Forschung und Innovation und den Hochschulpakt, die jeweils einen ge- wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Situation des Forschernachwuchses leisten. Gemeinsam mit den Ländern, Hochschulen und außeruniversitären Forschungsinstitutionen tragen wir Verantwortung dafür, dass Deutschland seinen ausge- zeichneten Ruf als Wissenschafts- und Forschungsstand- ort behält und weiter festigt. Der Bundesbericht zur För- derung des Wissenschaftlichen Nachwuchses zeigt uns aber auch, wo wir noch handeln müssen, um noch bes- sere Bedingungen für eine wissenschaftliche Karriere zu schaffen. In fünf Reformbereichen werden dazu Hand- lungsansätze formuliert. Lassen Sie mich einige zentrale Erfordernisse herausstellen: Es bleibt eine vordringliche Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Nachwuchskräfte aus der ganzen Welt dauerhaft für den Wissenschafts- und Forschungsstandort Deutsch- land gewonnen werden. Wir brauchen dafür ein interna- tional konkurrenzfähiges Wissenschaftssystem, das dem wissenschaftlichen Nachwuchs vor allem berechenbare und attraktive Karrierewege bietet. Alle künftigen Maß- nahmen zur Förderung des wissenschaftlichen Nach- wuchses sind deshalb der Nagelprobe zu unterziehen, ob sie hierzu einen wirksamen Beitrag leisten. Es gilt, wis- senschaftliche Qualifizierung, Exzellenz und ein ange- messenes Maß an Planbarkeit erfolgreich mit mehr Selbstständigkeit und größerer Freiheit in Wissenschaft und Forschung zu verbinden. Der Ausbau von sogenann- ten „Tenure-Track-Stellen“ für den wissenschaftlichen Nachwuchs an den Hochschulen und Forschungseinrich- tungen in ganz Deutschland ist dafür sicherlich ein er- folgversprechender Weg. Einigkeit unter den Experten besteht darüber, dass die Promotionsphase in ihrer Qualität noch weiter verbessert werden muss. Die deutschen Wissenschaftsorganisatio- nen gehen gemeinsam mit den Hochschulen die erkann- ten Defizite bereits entschlossen an. Im Mittelpunkt der Reform steht vielfach eine klarer strukturierte Promo- tion, die unter anderem zu kürzeren Promotionszeiten, mehr Selbstständigkeit und Eigenverantwortung der Doktorandinnen und Doktoranden und zu einer gezielten Qualifizierung auch für die Anforderungen des Arbeits- marktes außerhalb der Wissenschaft führen soll. Das heißt auch, dass es verschiedene Wege zu einer guten Promotion geben kann, da die Bedarfe der Doktoranden und auch der potenziellen Arbeitgeber unterschiedlich sind. Die Hochschulen stellen sich auch hier einem inter- nationalen Wettbewerb um die besten Talente. Bemerkenswert finde ich in diesem Zusammenhang die erst vor wenigen Tagen von acatech, der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften, vorgelegten Emp- fehlungen zur Zukunft der Ingenieurpromotion. Sie hebt die Qualitätsmerkmale der klassischen Ingenieurpromo- tion in Deutschland klar hervor und zeigt zugleich eine ganze Reihe wertvoller Ansätze zur weiteren Verbesse- rung und Modernisierung der Promotion auf. Mehr als bisher müssen wir uns darum kümmern, dass das wissenschaftliche Potenzial von Frauen stärker einbezogen wird. Vor allem muss der Anteil von Frauen in Führungspositionen nachhaltig gesteigert werden. Das von Bundesforschungsministerin Dr. Annette Schavan ins Leben gerufene Professorinnenprogramm leistet dazu einen entscheidenden Beitrag: Bereits in der ersten Runde werden bis zu 140 Stellen für Spitzenwissen- schaftlerinnen an 79 deutschen Hochschulen gefördert. Aber auch das Potenzial behinderter und chronisch kranker Nachwuchswissenschaftler wird noch zu selten erkannt, und es wird höchste Zeit, dass zum Beispiel völ- lig unnötige Barrieren bei der Aufnahme in Fördermaß- nahmen so schnell wie möglich beseitigt werden. Weiterentwicklungsbedarf besteht auch mit Blick auf den internationalen Austausch junger Wissenschaftlerin- nen und Wissenschaftler. Mobilität über Ländergrenzen hinweg kann in ihrem Wert für unsere Hochschul- und Forschungslandschaft kaum überschätzt werden. In die- sem Zusammenhang begrüßt die Bundesregierung die Initiative der EU-Kommission „Better careers and more mobility: A European partnership for researchers“, die von der Bundesregierung intensiv begleitet werden wird. Im Rahmen der geplanten Partnerschaft wird zum Bei- spiel die Verbesserung der Altersversorgung mobiler Forscher ein wichtiges Thema sein. Und noch eines macht der Bundesbericht zur Förde- rung des Wissenschaftlichen Nachwuchses sehr deut- lich: Es besteht erheblicher Informationsbedarf! Kaum Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19205 (A) (C) (B) (D) zu glauben ist zum Beispiel, dass wir noch immer auf Schätzungen angewiesen sind, wenn es um die Gesamt- zahl der aktuell Promovierenden geht. Damit fehlen uns beispielsweise belastbare Daten zu den Abbrecherquoten in diesem für den wissenschaftlichen Nachwuchs so zen- tralen Qualifizierungsabschnitt. Ein wichtiges Hand- lungsfeld für die Zukunft muss daher der Ausbau der Hochschulforschung und der Statistik sein. Neben dem BuWiN wird deshalb künftig auch das neu geschaffene Kommunikations- und Informationssys- tem „Wissenschaftlicher Nachwuchs“, kurz: KISSWiN, dazu beitragen, dass schnell und unkompliziert Informa- tionen zur Situation, zu Karrierewegen und Fördermög- lichkeiten in Deutschland für jeden zugänglich gemacht werden. Der vorgelegte Bundesbericht zur Förderung des Wis- senschaftlichen Nachwuchses schafft die Transparenz, die wir brauchen, um ein effizientes und aufeinander ab- gestimmtes System der Nachwuchsförderung in Deutschland zu etablieren. Wir wollen den Bericht zu ei- nem wirksamen Instrument ausbauen, mit dem künftig regelmäßig und mit unterschiedlicher Schwerpunktset- zung über Erfolge, aber auch über Schwachstellen der Nachwuchsförderung informiert wird. Doch nach den Daten kommen die Taten! Damit der BuWin nicht nur ein Analyseinstrument bleibt, sondern zu einem Instrument des Handelns wird, laden wir die Länder ein, mit uns in der Gemeinsamen Wissenschafts- konferenz (GWK) weitere Schritte zu vereinbaren. Die Bundesregierung jedenfalls wird ihren Teil dazu beitra- gen, dass die Stärkung des wissenschaftlichen Nach- wuchses eine Erfolgsgeschichte wird. Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Unterrichtung: Nationales Reformprogramm Deutschland 2008 bis 2010 Umsetzungs- und Fortschrittsbericht 2008 (Ta- gesordnungspunkt 17) Doris Barnett (SPD): Mit der Lissabon-Strategie ha- ben sich die Mitgliedstaaten der EU verpflichtet, größt- mögliche Anstrengungen zu unternehmen, um Vollbe- schäftigung zu erreichen und die EU zu der Wissensgesellschaft in der globalisierten Welt zu ma- chen. Nach dem ernüchternden Zwischenbericht, den die EU in 2005 ziehen musste, bilden die Nationalen Re- formprogramme das zentrale Gestaltungselement der von den Regierungschefs in 2005 verabschiedeten Neu- ausrichtung eben dieser Lissabon-Strategie. Jeder Staat beschreibt jetzt ausführlich – und zwar so, dass es nicht nur die Kommission in Brüssel weiß, sondern jeder Bür- ger und jede Bürgerin nachlesen kann – wie er gedenkt, Wachstum und Beschäftigung für sein Land voranzu- bringen. Im letzten Jahr konnten wir uns bereits davon über- zeugen, wie das vorangegangene Reformprogramm (2005 bis 2007) umgesetzt worden ist. Die Erfahrung mit dieser Selbstüberprüfung zeigt, wo und mit welchem Tempo bestimmte Politikfelder angegangen werden kön- nen und welche Erfolge auch zu erzielen sind. Wir kön- nen feststellen, dass wir ganz ordentlich die selbst ge- setzten Ziele abgearbeitet haben: Die Strukturreformen waren erfolgreich, und zwar gerade am Arbeitsmarkt. Hier haben wir einen Zuwachs an Arbeitsplätzen erlebt, den viele nicht zu hoffen wagten. Ich will dabei nicht verhehlen, dass ich nicht mit allen neu entstandenen Ar- beitsplätzen zufrieden bin, besonders wenn es nur solche für 400 Euro im Monat sind bzw. mit extrem niedrigen Stundenlöhnen vergütet werden. Dennoch ist uns hier ein wichtiger Schritt gelungen: Arbeitsplätze entstehen, und zwar „im Lichte der Öffentlichkeit“ – nicht im Dun- keln als Schwarzarbeit! Jetzt gilt es, den Fuß, den wir in der Tür haben, nicht zurückzuziehen, sondern die Tür zu einer weiterhin er- folgreichen Wachstums- und Beschäftigungspolitik ganz weit aufzustoßen, damit viele – möglichst alle – hin- durchgehen können! Grundlage dafür – und das ist nun wirklich keine neue Erkenntnis – ist und bleibt die Bildung. Deshalb müssen unsere gemeinsamen Anstrengungen, also die von Bund, Land und Kommunen, darauf gerichtet sein, Bildung als Bestandteil des gesamten Lebens zu betrachten, nicht nur als eine Zeiterscheinung zwischen dem siebten und maximal siebenundzwanzigsten Lebensjahr. Wie aber vermitteln wir das den Eltern? Natürlich werden wir als Bund uns daran beteiligen, dass die Länder mit den Kommunen den unter Dreijährigen eine dem Bedarf ent- sprechende Anzahl von Betreuungsplätzen anbieten kön- nen. Dafür werden wir als Bund uns mit 4 Milliarden Euro bis zum Jahr 2013 beteiligen. Und ab dann wollen wir einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder unter drei Jahren geben. Auch wenn die jungen Menschen die Schulen verlas- sen, werden wir ihnen eine Perspektive geben, weil wir für ein solides Wirtschaftswachstum bei voller Beschäf- tigung einen entsprechenden Fachkräftenachwuchs brau- chen. Deshalb bleibt es dabei: die Unternehmen bleiben nach wie vor in der Pflicht, genügend – auch über Bedarf – Ausbildungsplätze zu schaffen. Schließlich sind fertig ausgebildete Facharbeiter nicht aus den Bäumen zu schütteln. Die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbil- dungsverträge ist erfreulicherweise in 2007 gestiegen, was aber nicht nur den Betrieben zu verdanken ist. Auch die Bundesagentur für Arbeit hat die Anzahl der außer- betrieblichen Berufsausbildungsplätze erhöht und wird dies auch in diesem Jahr fortführen. Gut ausgebildete und qualifizierte Facharbeiter, viele mit Techniker- bzw. Meister-Prüfung, dürfen in ihrer be- ruflichen Weiterentwicklung nicht durch eine gläserne Decke gehindert werden. Deshalb muss an einer Weiter- entwicklung des Hochschulzulassungsrechts gearbeitet werden – und ich darf an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es Ministerpräsident Kurt Beck war, der schon vor vielen Jahren den Zugang zur Hochschule gerade von diesen Bildungswilligen in Rheinland-Pfalz ermöglichte. 19206 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 (A) (C) (B) (D) Um exzellent zu bleiben bzw. die Exzellenz weiter zu steigern, werden wir bis zum Jahr 2010 drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung investieren. Für das kommende Jahr haben wir auch schon rund 7 Milliarden Euro bereitgestellt. Weitere Gelder werden wir für die Infrastruktur und die Ausstat- tung aufbringen. Die Gelder, die wir in Bildung stecken, und zwar von der Kindertagesstätte bis zur Graduierten- Forschung, werden helfen, Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand für die Menschen in unserem Land zu halten. Gut ausgebildete Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- mer sorgen dafür, Mehrwert zu schaffen – die Grundlage also auch zur Finanzierung unseres Landes. Allerdings ist es wichtig, dass der Staat hilft, nicht hindert! Deshalb werden wir uns auch um das Patentrecht zu kümmern haben, nämlich die Möglichkeit der Verwertung von Er- findungen, insbesondere denen, die durch Arbeitnehmer gemacht wurden. Erfindungen nützen niemandem, wenn sie nur in Schubladen schlummern, wie der Präsident des Europäischen Patentamtes im letzten Jahr feststellte. Im Gegenteil – er fordert vielmehr, dass es viel schneller zu einer Verwertung kommen müsste, weil so Innovation, Beschäftigung, Mehrwert für viele entstehen könne – statt geistiges Eigentum verstauben und vergessen zu lassen. Wir haben in unserem Land die Kompetenz für Inno- vation – wir wollen und werden sie auch nutzen. Wir för- dern Kompetenznetze und Kooperationen gerade im Hightech-Bereich. Da die größten Innovationsschübe al- lerdings von den KMU ausgehen, werden wir dort anset- zen und haben das ZIM, das Zentrale Innovationspro- gramm Mittelstand, auf den Weg gebracht. In dieses Programm werden wir im kommenden Jahr auch die ein- zelbetriebliche Förderung in den neuen Ländern inte- grieren. Die derzeitigen hohen Energiepreise dürfen sich nicht zum Bremsklotz unserer wettbewerbsfähigen Wirtschaft entwickeln. Deshalb müssen wir uns langfristig für Ver- sorgungssicherheit bei der Energiebeschaffung einset- zen. Grenzüberschreitende Kooperationen sind dabei ein wichtiger Baustein, wie zum Beispiel das Pentalaterale Energieforum. Bei anderen Dienstleistungen, die der Allgemeinheit jederzeit und kostengünstig zur Verfügung stehen müs- sen, müssen wir ein Auge auf deren Liberalisierungspra- xis werfen. So sind wir bei der Liberalisierung des Post- sektors zwar Vorreiter in der EU – haben also den Postmarkt viele Jahre schon geöffnet, bevor die letzten EU-Mitgliedstaaten das tun werden (Ende 2012). Aller- dings bleibe ich dabei, dass die Absprachen in der PUDLV (Postuniversaldienstleistungsverordnung) – bis auf die Anzahl der posteigenen Filialen – Bestand haben müssen. Im Schienenverkehr haben wir einen breit getragenen Kompromiss zur Teilprivatisierung gefunden. Das ist nicht unerheblich für den Ausbau einer leistungsfähigen Infrastruktur eines erfolgreichen Güterverkehrs- und Lo- gistiksystems. Denn schließlich verfolgen wir mit der Strategie „Güter auf die Bahn“ nicht nur eine erhebliche Entlastung des Straßennetzes, sondern diese Strategie dient auch einer effizienteren und umweltfreundlicheren Gestaltung des Gesamtverkehrssystems. Deutschland behauptet sich damit auch als starker Logistikstandort in Europa. Bei dieser Gelegenheit will ich es nicht versäu- men darauf hinzuweisen, dass trotz aller Begeisterung über die Zuwachsraten der Schienentransporte der Mensch als Nachbar zur Schiene nicht vergessen wird. Hier haben wir auch eine Verantwortung, was den Lärm angeht! Lärmschutz und Lärmvermeidung muss die stär- kere Streckennutzung begleiten, ebenso wie die For- schung auf diesem Gebiet. Ich weiß, wovon ich spreche, da wir in meinem Wahlkreis demnächst den größten Kombi-Terminal und damit Umschlagplatz von Gütern auf die Bahn haben werden. Bei allen Anstrengungen, die wir für ein Wachstum und damit für mehr Beschäftigung unternehmen, dürfen wir die zukunftsfeste Gestaltung unserer sozialen Siche- rungssysteme nicht außer Acht lassen, weil diese Garant für den sozialen Zusammenhalt und sozialen Frieden sind. Dabei werden wir keinesfalls den Blick für reale Entwicklungen, die der demografische Wandel mit sich bringt, verlieren. Zur Demonstration möchte ich fol- gende Zahlen nennen: Im gesamten Bundesland Rhein- land-Pfalz gab es im Jahr 1973 13 Bürgerinnen und Bür- ger die ihren 100. Geburtstag feierten. Heute gratuliert allein der Sozialdezernent meiner Heimatstadt Ludwigs- hafen jährlich 31 Personen, die hundert Jahre und älter sind. Diese Entwicklung lässt sich nicht schönreden oder wegdiskutieren – auf diese Entwicklung haben wir ange- messen zu reagieren: Finanzströme der gesetzlichen Krankenversicherung sind grundlegend neu zu ordnen bei gleichzeitiger Einführung von Versicherungspflicht und -recht für alle; die Finanzierung der Rentenversiche- rung darf nicht zu einer immer höheren dauerhaften Zu- satzbelastung der Beitragszahler führen. Dabei muss die Schutzklausel in der Rentenanpassungsformel unberührt bleiben, was dann allerdings zu einer Anpassungsdämp- fung bei realen Rentensteigerungen führen wird. Was sich da so nüchtern anhört, ist für den Bürger kaum verständlich. Deshalb wird es unsere wichtigste und zugleich vornehmste Aufgabe sein, die wichtige und richtige Politik, die wir für die Menschen in unserem Lande machen, diesen auch zu erklären. Mit dem natio- nalen Reformprogramm, gehen wir in die Offensive. Glücken wird uns das aber nur, wenn die Menschen es verstehen, einverstanden sind und mitmachen. Wir alle werden jetzt unseren Teil dazu beitragen können – pa- cken wir’s an! Rainer Brüderle (FDP): Die Bundesregierung hat uns hier wieder einmal einen Tätigkeitsbericht vorgelegt. Leider ist der Bericht alles andere als eine ehrliche Be- schreibung dessen, was diese Regierung in der Wirt- schafts- und Arbeitsmarktpolitik getan hat. Er ist im bes- ten Falle noch geschönt. Die Regierung möchte mit diesem sogenannten Pro- gramm demonstrieren, wie viel sie für Wachstum und Beschäftigung tut. Sie lässt aber völlig unerwähnt, was Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19207 (A) (C) (B) (D) sie alles tut, um Wachstum und Beschäftigung zu be- schränken. Über die Lissabon-Strategie der Europäischen Union, die ja der Grund für diesen Bericht der Bundesregierung ist, ließe sich vieles sagen – auch viel Kritisches. Es ist ohne Zweifel ehrenwert, den europäischen Wirtschafts- raum wettbewerbsfähiger und dynamischer machen zu wollen. Dagegen hat selbstverständlich niemand etwas. Entscheidend ist aber, mit welchen Mitteln man zum Ziel kommen möchte. Was die europäischen Staats- und Regierungschefs im März 2000 in Lissabon beschlossen haben, lässt weiten Interpretationsspielraum. Man kann die Lissabon-Strate- gie als ein Programm zur Umstrukturierung der EU ver- stehen, als ein Programm für mehr Flexibilisierung und mehr Freiheiten im Binnenmarkt. Das wäre ein hehres Ziel. Man kann den Lissabon-Prozess aber auch als zentra- listischen Aktionismus verstehen: als einen Versuch, mit Zielvorgaben die Wirtschaft zu lenken, als Beitrag zu der Idee, dass Wachstum zentral planbar ist. Jeder kann in der Lissabon-Strategie sehen, was er se- hen will. Die Bundesregierung hat sich, was das betrifft, aber immer noch nicht entschieden. Wenn wir Europa, wenn wir Deutschland weiterbrin- gen wollen, müssen wir ein Europa des Wettbewerbs schaffen. Dazu gehört eine Europäisierung der Wettbe- werbspolitik, dazu gehört weniger Bürokratie beim innereuropäischen Güter- und Dienstleistungshandel, dazu gehört Wettbewerb zwischen den Mitgliedsländern in der Arbeitsmarkt-, Steuer- und Standortpolitik. Man hat sich vom Lissabon-Prozess eine günstige Stimmung für wachstumsfreundliche Reformen in ganz Europa versprochen. Aber in den Bereichen, in denen Europa mehr Wettbewerb im Binnenmarkt schaffen könnte, scheitern die Ansätze kläglich an nationalem Protektionismus. Erinnern wir uns nur an das Schicksal der Dienstleis- tungsrichtlinie. Das gleicht einer Beerdigung zweiter Klasse. Europa – und an entscheidender Stelle auch die Bundesregierung – hat nicht nur an dieser Stelle bewusst auf Wachstum verzichtet. Wir müssen Deutschland als Wirtschaftsstandort stär- ken. Das funktioniert aber nicht, indem man sich als Bundesregierung den Erfolg früherer Arbeitsmarktrefor- men an die Brust heftet, aber selbst mit seiner Arbeits- marktpolitik neue Hürden für mehr Beschäftigung aufbaut. Mit staatlich festgesetzten überhöhten Mindest- löhnen verbessern sich die Zukunftschancen der deut- schen Wirtschaft ganz sicher nicht. Die Bundesregierung stellt sich als Vorreiter der Post- marktliberalisierung dar. Tatsächlich aber verhindert diese Regierung ebenso wie ihre Vorgängerregierung mehr Wettbewerb im Postwesen. Immer noch hat die Deutsche Post Wettbewerbsvorteile durch ihr Mehrwert- steuerprivileg. Das soll auch noch im kommenden Jahr erhalten bleiben. Und der Post-Mindestlohn hat den ein- setzenden Wettbewerb genau in dem Moment wieder be- hindert und verhindert, als die Exklusivlizenz der Deut- schen Post ausgelaufen ist. Wer Monopole stützt, hat noch nicht verstanden, wie die Marktwirtschaft, wie Wettbewerb funktioniert. Wir brauchen bessere Bedingungen für die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Dazu gehört mehr Flexibilität, dazu gehören betriebliche Bündnisse für Arbeit und eine deut- liche Senkung der Lohnnebenkosten. Dann werden un- sere Unternehmen im Wettbewerb beweglicher. Für all das ist keine Koordination auf europäischer Ebene nötig. Auch nationale Tätigkeitsberichte helfen nicht weiter. Europa sollte sich in den wirtschaftsrele- vanten Politikbereichen auf die Durchsetzung von Wett- bewerb konzentrieren, auf die Umstellung seines Haus- halts von Subventionen auf Investitionen. Für alles Übrige ist eine Politikkoordination nicht nötig. Das kann dem Wettstreit um die besten Lösungen und die attrak- tivsten Standorte in den Mitgliedstaaten überlassen blei- ben. Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): In Ihrem Bericht über das Nationale Reformprogramm loben Sie Ihre Po- litik über die Maßen. Dazu allerdings gibt es keinen Grund. Sie behaupten, der Wohlstand der großen Mehr- heit der Bevölkerung steigt. Das trifft nicht zu. Der Le- bensstandard hat sich verschlechtert. Da ist kein Auf- schwung zu sehen. Die Zunahme der Beschäftigung ist nicht höher als beim letzten Aufschwung vor Hartz IV. Und vor allem: Die Beschäftigung steigt deswegen, weil es immer weni- ger Vollzeitbeschäftigung gibt. Der gesamtwirtschaftli- che Bedarf an Arbeitsstunden verteilt sich auf immer mehr Personen. Als Folge der Zunahme von Teilzeitar- beit schrumpfen die Realeinkommen der Beschäftigten während eines Aufschwungs. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Die Lissabon-Strategie führt in die Irre. Die einseitige Ausrichtung auf mehr Wettbewerb, Preisstabilität und Haushaltskonsolidierung macht die Reichen reicher und die Armen ärmer. Dies senkt die Binnennachfrage und damit das Wachstum. Die strikten Vorgaben der Maastricht-Kriterien und des Stabilitäts- und Wachstums- pakts lassen keinen Spielraum für öffentliche Investitio- nen. Die Senkung der Unternehmensteuer entzieht dem Staat die notwendigen Mittel, um konjunkturell gegen- steuern zu können. Die falsche, auf Preisstabilität fi- xierte Geldpolitik der EZB verneint jegliche Verantwor- tung für Wachstum und Beschäftigung. Wettbewerb ist in Ihrer Strategie nichts weiter als Wortgeklingel. Sie fragen nicht, wie der Wettbewerb zu organisieren wäre, um bei den Unternehmen bessere Produktionstechniken und neue Produkte zu fördern. Sie reden viel von Innovationen. Aber sie beantworten nicht die Frage, wie Sie sich den Zusammenhang von Wettbe- werb und Innovation vorstellen. Sie kennen für jede Frage nur eine Lösung: Unternehmensteuern und Löhne senken, die Gewinne steigern. Wettbewerb ist für Sie nur Kostenwettbewerb. Und Kostenwettbewerb nicht etwa durch verbesserte Produk- 19208 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 (A) (C) (B) (D) tionsprozesse, sondern durch Lohn- und Steuersenkung. Da ist selbst Ihr Lissabon-Prozess besser als Sie: Denn Ziel der Lissabon-Strategie war wenigstens noch, die Forschungsausgaben auf 3 Prozent des Bruttoinlands- produkts zu erhöhen. Das haben Sie nicht erreicht. Ihre Forschungspolitik, die Ausrichtung der Forschung, bringt die notwendigen Innovationen – wenn überhaupt – nur schleppend in Gang. Nach einer raschen Steigerung der Energieeffizienz sucht man vergeblich, ebenso nach nen- nenswerten Fortschritten bei der Entwicklung von Moto- ren mit geringem Kraftstoffverbrauch, um wenige Bei- spiele zu nennen. Hier vertrauen Sie auf die privaten Unternehmen, statt der Forschung insgesamt eine politi- sche Richtung zu geben. Zu mehr Wettbewerb wollen Sie kommen durch Pri- vatisierung. Die aber führt in der Regel nicht zu mehr Wettbewerb, sondern häufig genug zur Herausbildung eines privaten Monopols und damit zu steigenden Kos- ten für die Verbraucher. Dies ist bei der Post oder der Bahn der Fall. Die Post investiert international in Logis- tikunternehmen; sie erwirtschaftet dabei Verluste, die sie mit höheren Preisen in Deutschland, niedrigeren Löhnen und schlechterem Service ausgleicht. Die Bahn erhöht über Jahre hinweg die Preise, um den Renditeanforde- rungen der privaten Investoren gerecht zu werden. Sin- kende Preise oder gar bessere Leistungen sind für die Kunden nirgends in Sicht. Von der Privatisierung der Stromversorgung brauche ich gar nicht erst zu reden. Mit dieser Politik werden Sie kein andauerndes Wachstum erreichen. Das erfordert einen gesetzlichen Mindestlohn, weniger prekäre Beschäftigungsverhält- nisse, mehr Sozialstaat. Mit Ihrer Politik geben Sie das Geld bloß denen, die es eh schon haben. Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die europäischen Staaten haben sich vorgenommen, die EU bis 2010 zum weltweit wettbewerbsfähigsten wis- sensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu entwickeln. Zwei Jahre vor dieser Zielmarke kann man sagen: die EU wird es nicht schaffen. Auch Deutschland wird seine Ziele verpassen. Dies ist keineswegs überraschend. Schon vor zwei Jahren haben wir Grüne in einem Antrag, mehr Ehrgeiz bei der Erreichung der Lissabon-Ziele gefordert. Schon damals war absehbar, dass die Lissabon-Ziele nur er- reichbar sind, wenn die Bundesregierung in dieser Le- gislaturperiode hierfür die entscheidenden Weichen stellt. Dies ist nicht geschehen. Mein Hauptvorwurf an die Bundesregierung ist, dass sie den Lissabon-Prozess nie ernst genommen hat. Unter der Bundesregierung funktioniert der Lissabon-Prozess faktisch folgendermaßen: Es wird in den verschiedenen Ministerien abgefragt, was man denn so gemacht habe seit dem letzten Bericht, und irgendein Referent muss das dann rhetorisch so fassen, als sei all dies ein inten- dierter Beitrag zur Erreichung der Lissabon-Ziele gewe- sen. Was von Lissabon übrig geblieben ist, ist ein lästi- ges alljährliches Berichtschreiben. Die Lissabon-Strategie dient jedoch nicht dazu, viel Papier zu produzieren, sondern es geht darum, in der Sa- che voranzukommen. Da ist bei der Bundesregierung leider nichts zu erkennen, und ein Blick in den diesjähri- gen Fortschrittsbericht belegt dies. Wegen der Kürze der Redezeit will ich nur kurz auf zwei Bereiche eingehen: Energie und Bildung. Die Europäische Kommission hat der Bundesregie- rung ins Stammbuch geschrieben, endlich den Wettbe- werb auf den Strom- und Gasmärkten zu stärken. Anstatt diese Mahnung ernst zu nehmen, hat die Bundesregie- rung bekanntlich im letzten Jahr alles dafür getan, dass die großen Energiekonzerne die Netze behalten dürfen und es nicht zu einem sogenannten Unbundling kommt. Selbst als die Konzerne schon eingelenkt haben, hat die Bundesregierung an ihrer wettbewerbsfeindlichen Posi- tion noch festgehalten. Zum wettbewerbsfähigsten wis- sensbasierten Wirtschaftsraum der Welt wird man aber nicht, indem man den Wettbewerb verhindert und einzel- nen Unternehmen Monopole garantiert. In dem Fortschrittsbericht, über den wir heute disku- tieren, schafft es die Bundesregierung, diesen zentralen Konfliktpunkt in diesem zentralen Politikfeld noch nicht einmal in einem Halbsatz zu erwähnen. Ich frage Sie: Was ist denn eine gemeinsame Strategie wert, bei der die Bundesregierung nicht nur den Empfehlungen der Kom- mission nicht nachkommt, sondern dies noch nicht ein- mal begründet, ja nicht einmal erwähnt? Auch bei der Bildung kommt Deutschland nicht voran. Daran ändert auch eine medienwirksame Bil- dungsreise der Kanzlerin nichts. Gerade hat uns der OECD-Bildungsreport bescheinigt, dass Deutschland bei der Ausbildung von Hochqualifizierten den interna- tionalen Anschluss verliert. In keinem anderen EU-Land entscheiden sozialer Status und Bildungsstand der Eltern so sehr über die Bildungschancen des Kindes wie in Deutschland. Diesen Befund haben wir jedes Jahr aufs Neue, ohne Besserung. Die Bundesregierung hat sich mit der Föderalismus- reform I selbst die Hände gebunden. Im vorliegenden Fortschrittsbericht verschweigt sie auch die Bilanz. Laut Benchmarks der EU soll die Schulabbrecherquote auf 10 Prozent gesenkt werden; Deutschland liegt bei 12,7 Prozent. 85 Prozent der Schülerinnen und Schüler sollen einen Abschluss der Sekundarstufe II erreichen. In Deutschland sind es nur 72,5 Prozent und damit deut- lich weniger als im EU-Durchschnitt. Der Anteil der Er- wachsenen, die an Weiterbildungsmaßnahmen teilneh- men, soll auf 12,5 Prozent steigen. Deutschland liegt nur bei 7,8 Prozent und damit deutlich unter dem EU-Durch- schnitt. Und so weiter und so fort. All dies findet sich in dem Bericht nicht wieder. Kritische Zahlen werden lie- ber verschwiegen. So könnte man Punkt für Punkt des Berichts durchge- hen. Was bleibt ist, dass Deutschland seine Ziele verfeh- len wird, und dies trotz der auch von der Bundesregie- rung selbst eingeräumten Reformdividende und des starken Wachstums der letzten Jahre. Schlimm, dass Deutschland bei den Lissabon-Zielen nicht gut dasteht. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19209 (A) (C) (B) (D) Viel schlimmer aber ist, dass diese Regierung weder Konzept noch Ehrgeiz hat, dies zu ändern. Denn: Letztlich geht es bei der Lissabon-Strategie um die Frage: Welches Europa wollen wir? Wir Grüne wol- len ein Europa, das mehr ist als eine große Freihandels- zone mit angeschlossenem Debattierclub. Wir Grüne wollen ein soziales, ökologisches und wettbewerbsfähi- ges Europa. Wenn wir die Menschen für Europa gewin- nen wollen, müssen die Bürgerinnen und Bürger die konkreten Vorteile Europas erfahrbar machen. Deshalb ist auch die Lissabon-Strategie so wichtig, und deshalb ist es so bedauerlich, dass die Bundesregierung das Ganze nur noch als rhetorische Pflichtübung behandelt. Dagmar Wöhrl, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- minister für Wirtschaft und Technologie: Die Bundesre- gierung hat am 20. August 2008 den vom Bundesmi- nister für Wirtschaft und Technologie vorgelegten Entwurf des Nationalen Reformprogramms Deutsch- lands 2008 – 2010“ beschlossen. Wir werden ihn unmit- telbar nach der Behandlung in Bundestag und Bundesrat nach Brüssel senden. Wir wissen: Nationale Reformprogramme sind ein zentrales Element der Neuausrichtung der Lissabon- Strategie, die im Jahr 2005 vom Europäischen Rat ver- abschiedet wurde. Die Mitgliedstaaten haben ihre natio- nalen Beiträge zur Erreichung der Lissabon-Ziele erst- mals im Herbst 2005 dargestellt, und zwar für den Zeitraum 2005 bis 2008. In den Jahren 2006 und 2007 hat die Bundesregierung dann über den Stand der Um- setzung und Fortschritte bei den Reformen berichtet. In diesem Jahr steht nun ein neues strategisches Nationales Reformprogramm auf der Tagesordnung. Die Bundesre- gierung informiert damit über die Schwerpunkte ihrer Reformpolitik für den Zeitraum von 2008 bis 2010. Auf Basis der Umsetzungs- und Fortschrittsberichte in den vergangenen beiden Jahren hatte der Europäische Rat integrierte Leitlinien für Wachstum und Beschäftigung beschlossen. Unser Bericht berücksichtigt die Empfeh- lungen an Deutschland. Er richtet sich an die EU, die Legislative in Deutsch- land sowie an die europäische und deutsche Öffentlich- keit. Die Bundesregierung hat außerdem die Kommuni- kation mit denen gesucht, die zur Erreichung der Lissabon-Ziele beitragen: Wir haben die Länder beteiligt sowie die Verbände und Gewerkschaften angehört. Zum Inhalt: Der Titel des aktuellen NRP lautet „Auf den Erfolgen aufbauen – die Reformen für mehr Wachs- tum und Beschäftigung fortsetzen.“ Damit macht die Bundesregierung deutlich: Die Strukturreformen der vergangenen Jahre waren erfolgreich, insbesondere ge- messen an der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Die deutsche Wirtschaft ist heute flexibler und damit auch widerstandsfähiger gegenüber externen Schocks als noch vor wenigen Jahren; das ist gerade jetzt besonders wichtig. Auch die Wirtschafts- und Finanzpolitik hat dazu bei- getragen: Mit der Unternehmenssteuerreform von 2007 wurde die durchschnittliche Gesamtsteuerbelastung der Unternehmen zum 1. Januar 2008 auf knapp unter 30 Prozent gesenkt. Im Jahr 2007 haben wir das Ziel er- reicht, die Lohnzusatzkosten unter 40 Prozent zu senken. Entscheidend war die Senkung der Beiträge zur Arbeits- losenversicherung von 6,5 Prozent auf 3,3 Prozent. Da- mit wurden Arbeitnehmer und Arbeitgeber gegenüber 2006 um rund 25 Milliarden Euro jährlich entlastet. Richtig ist allerdings auch: Die konjunkturelle Lage hat sich aktuell verschlechtert; die zu Jahresanfang noch positiven Erwartungen haben einen deutlichen Dämpfer erhalten. Denn wir sind keine „Insel der Glückseligen“, die allein den Stürmen der Weltwirtschaft trotzen kann. Die hohe Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen auf den Weltmärkten hilft nicht mehr weiter, wenn die Nachfrage weltweit einbricht. Die Anpassungsprozesse in den USA und auch in Europa werden also nicht spur- los an uns vorübergehen. Umfragen und wirtschaftliche Indikatoren zeigen abwärts. Viele Wirtschaftsinstitute nehmen ihre Wachstumsprognosen für das kommende Jahr zurück. Sicher ist momentan vor allem eines: Es ist Zeit zum Handeln. Das gilt auch angesichts der langfristigen He- rausforderungen wie der Globalisierung, der demokrafi- schen Entwicklung und des Klimawandels. Vor diesem Hintergrund ist es jetzt umso notwendiger, die Reform- politik fortzusetzen. Dementsprechend hält die Bundesregierung inhaltlich an den sechs Reformprioritäten fest. Diese hatte sie be- reits Ende 2005 im ersten NRP auf der Basis des Koali- tionsvertrages gesetzt. Diese Prioritäten lauten: Erstens: Wissensgesellschaft und Innovation voran- bringen. Als ressourcenarmes Land müssen wir auf un- sere wichtigsten Ressourcen setzen: Bildung, Forschung und Innovation. Wir müssen die Chancen der Wissens- gesellschaft besser nutzen; wir werden wettbewerbsfähig bleiben, nur wenn wir wirklich spitze sind. Zweitens: Märkte offen gestalten und Wettbewerb stärken. Wir setzen uns hier für eine Weiterentwicklung des europäischen Binnenmarktes und eine Intensivie- rung des innereuropäischen Wettbewerbs ein. Drittens: Rahmenbedingungen für unternehmerische Tätigkeit verbessern. Wir wollen hier unter anderem die Unternehmensnachfolge mit der Reform der Erbschaft- steuer steuerlich erleichtern und Bürokratie weiter ab- bauen. Viertens: Öffentliche Finanzen tragfähig gestalten, nachhaltiges Wachstum sichern, soziale Sicherheit wah- ren. Bundesregierung und Länder werden weiterhin an ihrem Kurs festhalten, den Staatshaushalt zu konsolidie- ren, aber auch Spielräume zu nutzen, um Impulse für Wachstum und Beschäftigung zu geben. Fünftens: Ökologische Innovation als Wettbewerbs- vorteil nutzen, Energieversorgung sichern, Klimawandel bekämpfen. Schlüsselwort ist hier vor allem: Energieef- fizienz. Wir müssen die Energieeffizienz verbessern, wollen wir die ehrgeizigen Klimaziele erreichen und gleichzeitig die Energieversorgung langfristig sichern. 19210 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 (A) (C) (B) (D) Sechstens: Arbeitsmarkt auf neue Herausforderungen ausrichten, demografischen Veränderungen begegnen. Fakt ist: Der Arbeitsmarkt hat sich schneller und deutli- cher erholt als in früheren Aufschwungphasen. Um Ar- beitslosigkeit weiterhin nachhaltig abzubauen, wird die Bundesregierung unter anderem die arbeitsmarktpoliti- schen Instrumente neu ausrichten. Über diese sechs Prioritäten hinaus gibt es weitere wichtige Handlungsfelder. Die Bundesregierung wird – gemeinsam mit den Ländern – Bildungsanstrengun- gen verstärken, unter anderem in einer Qualifizierungs- initiative. Ziel ist es, mehr Aufstiegschancen zu schaf- fen. Ein weiteres Handlungsfeld sind die Finanzmärkte. Wir müssen die Finanzmärkte krisenfester gestalten, auf europäischer und internationaler Ebene. Der aktuelle NRP für die Jahre 2008 bis 2010 liegt vor. Die Inhalte der deutschen Reformpolitik für Wachs- tum und Beschäftigung stehen voll im Einklang mit der europäischen Strategie. Sie kräftigen Wachstum und Be- schäftigung, wahren die soziale Sicherheit und schützen die Umwelt. Ich bitte Sie, den Bericht zustimmend zur Kenntnis zu nehmen. Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Unterrichtung: Nationales Reformprogramm Deutschland 2008 bis 2010 Umsetzungs- und Fortschrittsbericht 2008 (Ta- gesordnungspunkt 17) Markus Grübel (CDU/CSU): Wir unterhalten uns heute über einen sehr kurzen Antrag der Oppositions- fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der lediglich zwei Sei- ten umfasst, der aber dennoch ein wichtiges und span- nendes Thema, nämlich die Altersgrenzen, thematisiert. Ich denke, es ist an der Zeit, dieses Thema aufzugreifen, denn es bewegt auch die Menschen in unserem Land. Ich vermute, Ihr Antrag wurde motiviert durch die Antwort der Bundesregierung vom 29. Februar 2008 auf Drucksache 16/8823 auf ihre Kleine Anfrage zum Thema „Diskriminierende Altersgrenzen im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements“. Sie haben dann ein- fach Ihrem jetzigen Antrag das Wort „aufheben“ ange- hängt. In diesem Zusammenhang kann ich allen Seniorenpoliti- kern und Ehrenamtspolitikern die Lektüre der Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage der FDP-Bundes- tagsfraktion „Seniorinnen und Senioren in Deutschland“ vom 21. August 2008 auf Drucksache 16/10155 empfeh- len. Dort wird eine umfassende Bestandsaufnahme der Seniorenpolitik vorgenommen. Eine Vielzahl von The- men, unter anderem Altersgrenzen, Altersdiskriminie- rung, demografischer Wandel und bürgerschaftliches Engagement werden aufgegriffen und exakt dargestellt. Von daher gibt allein schon der Inhalt dieser Drucksache einige Antworten auf Ihren Antrag bzw. Ihre Forderun- gen. Es ist schade, dass wir heute über dieses Thema reden und nicht in vier Monaten, denn dann wären wir alle ein wenig schlauer und hätten das lang erwartete Gutachten zum Thema „Altersgrenzen und gesellschaftliche Teil- habe“, welches vom BMFSFJ in Auftrag gegeben wurde und bis Ende November 2008 vorliegen soll, lesen kön- nen. So müssen wir uns noch ein wenig gedulden. Die bisher zum Thema Altersgrenzen vorliegenden Untersu- chungen wie das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages aus dem Jahr 2001 und die Zusammenstellung gesetzlicher Altersgrenzen durch das BMJ im Jahr 2005 sind entweder veraltet oder erfassen nur einen Teilaspekt des Problems. Ziel des Gutachtens ist es, im Lichte des Allgemei- nem Gleichbehandlungsgesetzes, AGG, eine Bestands- aufnahme der in Deutschland bestehenden Altersgrenzen zu erhalten. Dabei sollen nicht nur gesetzliche bzw. rechtlich festgelegte Altersgrenzen erfasst werden, son- dern auch untergesetzliche „weiche“ Altersgrenzen, die älteren Menschen die Teilhabe an der Gesellschaft ver- wehren, zum Beispiel im Hinblick auf freiwilliges und bürgerschaftliches Engagement. Das Gutachten soll eru- ieren, in welchen Bereichen derartige Altersgrenzen be- stehen, die dahinterstehenden Gründe und Motive be- schreiben und die für die Bewertung ihrer Sinnhaftigkeit und fortbestehenden Notwendigkeit erforderlichen Grundlagen liefern. In diese Bewertung sollen Aspekte der demografischen Entwicklung und des Allgemeinem Gleichbehandlungsgesetzes einfließen. Beispielhaft möchte ich auf folgende Altersgrenzen hinweisen: Höchstaltersgrenzen als Zugangsvorausset- zungen zum Beruf, zum Beispiel im öffentlichen Dienst; Schöffen sollen noch nicht das 70. Lebensjahr vollendet haben, § 33 GVG; eine erstmalige Bestellung zum Notar ist nach Vollendung des 60. Lebensjahres nicht mehr möglich, § 6 Abs. 1 BnotO; Banken binden die Vergabe von Darlehen, Vereine die Übernahme von Ehrenämtern häufig an eine Höchstaltersgrenze; Beendigung der kas- senärztlichen Zulassung mit Vollendung des 68. Lebens- jahres, § 95 Abs. 7 SGB V, wobei wir diese Regelung im Rahmen des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Orga- nisationsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversiche- rung streichen werden. Die Regelung soll rückwirkend zum 1. Oktober 2008 in Kraft treten, sodass Ärzte zu- künftig über das 68. Lebensjahr hinaus Patienten behan- deln dürfen. Auch das gesetzliche Renteneintrittsalter ist nichts anderes eine „Regelaltersgrenze“ für das Ausscheiden aus dem Beruf. Menschen, die noch gesund und fit sind und noch weiter arbeiten wollen und können, werden un- gefragt in Rente geschickt. Es gibt einige Ausnahmen, aber die Zahl ist verschwindend klein. In einigen Jahren benötigen wir viele erfahrene und hoch qualifizierte ältere Arbeitnehmer, da immer weni- ger junge Menschen nachkommen. Die Rente mit 67 ist ein richtiger und notwendiger Schritt der Anpassung an die demografische Wirklichkeit. Jedoch sollte man auch über die Individualisierung der Lebensarbeitszeit und Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19211 (A) (C) (B) (D) über flexiblere Ausstiegsmöglichkeiten aus dem Berufs- leben nachdenken. Starre Altersgrenzen sind diskrimi- nierend für diejenigen, die noch länger in ihrem Beruf arbeiten wollen. Bei diesem Personenkreis wird durch gesetzlich normierte Altersgrenzen die Leistungsfähig- keit infrage gestellt und Potenzial vergeudet. Verrentungsgrenzen werden auch von der Wissen- schaft durchaus kritisch und als nicht zukunftsfähig gesehen. So sprach sich die renommierte Altersforsche- rin der Charité Berlin, Frau Professor Dr. Adelheid Kuhlmey, im November 2007 für flexible und indivi- duelle Altersgrenzen aus und forderte ein Überdenken des gängigen Renteneintrittsalters. Sie hält flexible und individuelle Regelungen für sinnvoller, was ich persön- lich nur unterstützen kann. Ähnlich äußerte sich auch der vor zwei Jahren ver- storbene Gerontologe Professor Paul B. Baltes in der FAZ vom 12. Mai 2004: „Je älter die Bevölkerung, um so weniger tragfähig sind altersbezogene Regeln. Dies ist einer der Gründe, warum Wissenschaftler abraten, eine feste Altersgrenze etwa für den Einstieg in das Pensions- alter zu postulieren. Alterspolitik muss variabel und dif- ferenziert sein. Altershomogene Politik ist zum Schei- tern verurteilt.“ Wir alle können uns noch an die öffentlich diskutier- ten Beispiele des deutschen Nobelpreisträgers für Phy- sik, Theodor Hänsch, und des Immunologen und Geneti- kers Klaus Rajewsky erinnern. Diese Beispiele führen deutlich vor Augen, dass vor allem deutsche Professo- ren jenseits der gesetzlichen Altersgrenze für Professo- ren in Deutschland, ihr Heil in Amerika suchen, wo allein Leistungskraft und Kreativität zählen. Die Beur- teilung nach dem Lebensalter würde dort als schwerwie- gende Diskriminierung gewertet werden. Die demografische Entwicklung ist eindeutig: Die Zahl der jüngeren Menschen nimmt ab und die der Älte- ren steigt. Das hat verschiedene Ursachen: Seit den 60er- Jahren werden weniger Kinder geboren und die Lebens- erwartung der Menschen steigt weiter an. Die längere Lebenszeit ist in der Regel mit einer besseren Gesund- heit und mehr Vitalität verbunden als in den vergange- nen Jahrzehnten. Ältere Menschen haben zudem mehr Möglichkeiten zur Lebensgestaltung. Der demografische Wandel geht einher mit einem Gewinn an gestaltbarer Lebenszeit für den Einzelnen und bietet damit auch ver- mehrt Chancen und nicht nur Risiken, wie das gerne und oft in der Öffentlichkeit und den Medien dargestellt wird, was mitunter zu einem verzerrten und falschen Bild vom Alter führt. Steigendes Alter wird häufig mit einem Rückgang der Innovationskraft, Produktivität und der Güter- und Dienstleistungsnachfrage assoziiert. Da- bei wird übersehen, dass die Innovationskraft und Pro- duktivität Älterer durch lebenslanges Lernen, eine ange- messene Gestaltung der Arbeitsbedingungen und eine aktive Gesundheitsförderung erhöht werden kann. Der fünfte Altenbericht hat sich mit den Potenzialen des Alters beschäftigt. Wir haben genau vor einem Jahr über das Thema im Parlament gesprochen. Senioren sind eine Bereicherung. Deutschland braucht das Zukunfts- potenzial der Senioren dringender denn je; denn ältere Menschen verfügen über Erfahrungen und Stärken, die unsere Gesellschaft wirtschaftlich benötigt und sozial bereichert. Aufgabe der Politik ist es, den Veränderungsprozess zu fördern und mitzugestalten. Einerseits geht es darum, die erforderliche Absicherung im Alter zu gewährleis- ten, und andererseits darum Partizipation, ehrenamtli- ches- und bürgerschaftliches Engagement zu ermögli- chen bzw. zu erleichtern. Grundlegendes Ziel unserer Senioren- und Altenpoli- tik ist es, die Entwicklung und Verankerung eines neuen Leitbildes des Alters voranzutreiben. Der sechste Alten- bericht wird sich dem Thema Altersbilder widmen. Mit dem sich wandelnden Bild vom Alter nicht vereinbar sind alle Formen der Altersdiskriminierung, verstanden als soziale und ökonomische Benachteiligung von Perso- nen aufgrund ihres Lebensalters. Die Betroffenen wer- den daran gehindert, in angemessener Weise am Arbeits- leben und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. In diesem Zusammenhang rücken Altersgrenzen – ich habe vorhin schon einige Beispiele angeführt – in das Blick- feld, da sie geeignet sind, institutionelle Barrieren und Ausgrenzungen in der gesellschaftlichen Realität zu ver- ankern. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen, unser Ansatz bezüglich der Alters- grenzen ist etwas weitergehender als der Ihrige, auch wenn wir in manchen Punkten sicherlich Übereinstim- mung erreichen können. Fakt ist: Für eine ganze Reihe von Berufen und öffentlichen Tätigkeiten gibt es gesetz- lich normierte oder tarifrechtliche Altersgrenzen. Diese Altersgrenzen sind aber zum Teil unzeitgemäß und dis- kriminierend. Die AG Familie der CDU/CSU-Bundes- tagsfraktion und die zuständigen Berichterstatter zur Se- niorenpolitik haben sich bereits im Januar 2007 zu diesem Thema öffentlich geäußert. Wir halten es für not- wendig, die starren Altersgrenzen zu überprüfen. Dies ergibt sich nicht nur aufgrund der ökonomischen Not- wendigkeit durch den Bevölkerungsschwund, sondern ist auch der Tatsache geschuldet, dass in vielen Staaten das Verbot, Menschen allein aufgrund ihres Lebensalters zu benachteiligen, bereits Verfassungsrang genießt. Zu- dem stellt das Europarecht bindende Vorgaben zum Ver- bot der Altersdiskriminierung auf. Die Senioren- und Familienpolitiker der CDU/CSU- Bundestagsfraktion halten es für berechtigt, dass starre Altersgrenzen durch objektive Kriterien ersetzt werden. Wer körperlich und geistig die nötigen Voraussetzungen mitbringt und sich weiterbildet, muss auch arbeiten dür- fen: Piloten, Statiker, Ärzte, ehrenamtliche Schöffen usw. Wir werden sehen, was das Gutachten hierzu sagt, und dann können wir gerne wieder an dieser Stelle darü- ber diskutieren. Noch einige Ausführungen zum Thema „Ausbau der Beteiligungsmöglichkeiten älterer Bürgerinnen und Bür- ger bzw. Sicherung und Unterstützung des Infrastruktur- ausbaus für das bürgerschaftliche Engagement“: Gerade das unionsgeführte BMFSFJ leistet in diesem Bereich vorbildhafte Arbeit. Natürlich kann man immer mehr machen, und als Oppositionsfraktion gehört es ja auch 19212 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 (A) (C) (B) (D) zu ihren Aufgaben, immer mehr zu fordern, das ist ja auch ganz einfach, denn sie tragen ja auch nicht die fi- nanzielle Verantwortung und ich bin mir sicher, dass auch Sie mir nicht sagen können, wo das zusätzliche Geld herkommen soll. Trotzdem denke ich, dass wie auf einem guten Weg sind. Auch Modellprogramme und Leuchttürme können eine Initialzündung geben und bür- gerschaftliches Engagement verstetigen. Mit der Initia- tive ZivilEngagement fördert das BMFSFJ eine Reihe von Modellvorhaben zur Stärkung des zivilgesellschaft- lichen Engagements. Mit dem Modellprogramm „Gene- rationenübergreifende Freiwilligendienste“ – bis zum 30. Juni 2008 – wurde erstmals ein Freiwilligendienst für alle Generationen angeboten. Die größte Gruppe der Freiwilligen sind Rentnerinnen und Rentner mit 23 Pro- zent. In dem neuen Freiwilligendienst aller Generatio- nen, der ab 1. Januar 2009 startet und mit 22,5 Millionen Euro ausgestattet ist, ist ein Schwerpunkt die Zielgruppe der Älteren. Die positiven Erfahrungen – 42 Prozent der Einsatzstellen möchten den Einsatz von älteren Men- schen weiter steigern – zur Gewinnung und zum Einsatz von Seniorinnen und Senioren sollen durch gezielte Maßnahmen zu einem weiteren Anstieg der Freiwilli- genzahlen in dieser Altersgruppe führen. Auch mit dem Aktionsprogramm „Mehrgenerationen- häuser“ wird das Miteinander der Generationen gestärkt. Mehr als 500 Mehrgenerationenhäuser bundesweit ver- binden bürgerschaftliches Engagement, Selbsthilfe und professionelle Unterstützung zu einem umfassenden Angebot für Menschen jeden Alters. Ziel des Aktions- programms ist es ja gerade, dass alle Generationen in Verbindung kommen und Erfahrungen und Wissen un- tereinander austauschen. Ich kann das aus eigener Erfah- rung bestätigen. In meiner Heimatstadt Esslingen haben wir ein Mehrgenerationenhaus, und da funktioniert dies wunderbar. In gut 75 Prozent der 9 100 Angebote in den Mehrgenerationenhäusern begegnen sich Jung und Alt. Beide Generationen – sowohl Jung als auch Alt – profi- tieren in den Mehrgenerationenhäusern voneinander. Durch die bewusste Verbindung von professioneller und ehrenamtlicher Tätigkeit in den Häusern wird der Wert des gegenseitigen Gebens und Nehmens aktiv gelebt. Das vom BMFSFJ von 2002 bis 2006 geförderte Bun- desmodellprogramm „Erfahrungswissen für Initiati- ven“, EFI, hatte zum Ziel, das Erfahrungswissen älterer Menschen für freiwillige Projekte und Initiativen nutz- bar zu machen. Nach dem Auslaufen der Bundesförde- rung Ende 2006 wird das Programm von den beteiligten Ländern fortgeführt und weiter ausgebaut. EFI ist ein Qualifizierungsprogramm für ältere Menschen zu Se- niortrainerinnen und -trainern. Das Programm dient dem Aufbau einer neuen Verantwortungsrolle für ältere Men- schen in der Kommune. Sie setzen ihr Erfahrungswissen und ihre Kenntnisse zum Beispiel in Projektentwick- lung, Gesprächsführung, Konfliktmanagement und Öf- fentlichkeitsarbeit bei der Begleitung und Beratung von Freiwilligeninitiativen, Einrichtungen, Vereinen, Ver- bänden in Kommunen ein bzw. bauen eigene Projekte gemäß der kommunalen Bedarfslage auf. Seit 2003 ha- ben rund 1 000 Seniortrainerinnen und -trainern mehr als 4 000 Projekte zum Beispiel in Schulen, Altenpflege, In- ternet, Kultur, Sport aufgebaut oder begleitet. Daneben fördert auch das BMZ ehrenamtliches Engagement älte- rer Menschen seit vielen Jahren gezielt über den Senior Expert Service. Ich könnte die Liste noch weiterführen, aber ich denke die Projekte sind Ihnen bekannt. Ich fasse kurz zusammen: Erstens. Bürgerschaftliches Engagement fördern steht ganz vorne auf der Agenda des BMFSFJ und der unionsgeführten Bundesregierung. Zweitens. Auf der Grundlage der Ergebnisse des Gut- achtens sollten wir entscheiden, ob und, wenn ja, welche Maßnahmen zur Veränderung oder Beseitigung beste- hender Altersgrenzen zu ergreifen sind. Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Das Wichtigste vorweg: Ich finde es gut, dass wir hier im Deutschen Bundestag über Alter und Altern reden und auch über die Altersdiskriminierung, die immer noch ein gesell- schaftliches Problem ist. Ziel des Allgemeinen Gleich- behandlungsgesetzes (AGG) war und ist es, für eine Antidiskriminierungskultur in Deutschland zu sensibili- sieren, und dazu kann eine Debatte im Deutschen Bun- destag einen Beitrag leisten. Ich bin wirklich sehr froh, dass es uns Sozialdemokra- tinnen und Sozialdemokraten gelungen ist, das Gleich- behandlungsgesetz im zivilrechtlichen Teil um das Merkmal Alter zu erweitern, und dass wir damit auch ei- nen Beitrag dazu geleistet haben, dass viele möglicher- weise veraltete Regelungen sukzessive auf den Prüfstand kommen werden. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass die Grünen ihren Antrag nicht so eng gefasst hätten und neben der Situation im Ehrenamt auch andere Punkte der Diskriminierung Älterer angesprochen hät- ten, bei der Kreditvergabe zum Beispiel oder im Bereich der Werbung. Und ein kleines Lob für die vielen Älteren, die ehrenamtlich arbeiten, zum Beispiel als Quali-Paten, in der Altenbetreuung oder beim Senior-Expert-Service, hätte wohl auch nicht geschadet. Aber: Wo Menschen sind, „menschelt’s“, und ich be- zweifle nicht, dass es auch im ehrenamtlichen Bereich Altersdiskriminierung gibt. Wir sollten in der Tat überle- gen, ob die eine oder andere Altersgrenze – nach oben und unten übrigens – in einer Reihe von Gesetzen und Verordnungen tatsächlich ihren Sinn erfüllen. Die im Antrag angesprochene Regelung im Gerichtsverfas- sungsgesetz, wonach Personen ab dem 70. Lebensjahr das Ehrenamt des Schöffen nicht mehr ausüben sollen, scheint mir aber nur bedingt für eine solche Kritik geeig- net zu sein. Leider sind – ich weiß nicht, ob der grünen Bundes- tagsfraktion dies bewusst ist – die Regelungen bei den Schöffen kein Bestandteil der Rechtsmaterie des AGG. Auch wenn Sie das AGG nicht explizit nennen, so ist doch das AGG die Basis ihrer Argumentation. Hier hätte ich mir in Ihrem Antrag mehr Klarheit gewünscht. Näher erläutert wird dies auch in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage. Das AGG könne, heißt es dort, im Hinblick auf das Schöffenamt nicht angewendet werden, weil es sich weder um eine Erwerbstätigkeit handelt, noch ein zivilrechtliches Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19213 (A) (C) (B) (D) Schuldverhältnis begründet wird. Zudem handelt es sich bei der Altersregelung nur um eine Sollbestimmung. Der Gesetzgeber hat hier bereits den Zuständigen einen Er- messensspielraum eingeräumt, den ich mir im Übrigen auch für andere Regelungen wünschen würde. Außer- dem ist die Periode für ein Schöffenamt mit Rechtswir- kung zum 21. Dezember 2004 erst auf fünf Jahre verlän- gert worden, womit es praktisch möglich ist, dass auch noch 75-Jährige ein Schöffenamt bekleiden können. Aus diesen genannten Gründen ist der Antrag der Grünen abzulehnen. Vielleicht sollten sie noch mal bes- ser recherchieren und nach Gesetzen Ausschau halten, die tatsächlich ein Verbot zum Inhalt haben. Ich wiederhole aber an dieser Stelle, dass ich Ihr grundsätzliches Anliegen durchaus teile: Wir sind als Gesetzgeber natürlich angehalten, altersdiskriminie- rende Regelungen auf den Prüfstand zu stellen. Insbe- sondere im bürgerschaftlichen Engagement haben diese nichts zu suchen! Ehrenamtliche Arbeit ist ein Stück Teilhabe an der Gesellschaft und an unserer Demokratie. Wer hier ausgrenzt, zeigt, dass er unsere Staatsform, die immer noch die beste der Welt ist, nicht verstanden hat. Das sollte sich auch der aufstrebende Berliner Jungpoli- tiker der Union hinter die Ohren schreiben, der dafür plädiert hat, das Wahlrecht Älterer mit der Begründung zu beschneiden, sie würden keinen aktiven Beitrag für die Gesellschaft leisten. Die Berliner CDU hat mit dieser Meinung allerdings offenbar kein Problem; sie hat ihn nun als Bundestagskandidaten in Berlin-Pankow aufge- stellt. Kommen wir zum AGG zurück: Dass 24,32 Prozent der Anfragen an die Antidiskriminierungsstelle des Bun- desministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Ju- gend das Merkmal Alter betreffen, zeigt nicht nur, dass es richtig war, Alter als Merkmal ins Gesetz aufzuneh- men; es zeigt auch die hohe gesellschaftspolitische Rele- vanz des Themas. Mein ceterum censeo als Seniorenpolitikerin ist, dass wir mit dem AGG ein Gesetz verabschiedet haben, wel- ches viele Bürgerinnen und Bürger – übrigens junge ebenso wie alte – ermächtigt, sich gegen Diskriminie- rung wegen des Lebensalters zu wehren. Dazu sind die Bürgerinnen und Bürger ganz offensichtlich bereit, wenn man der Rechtsprechungsübersicht der Antidiskriminie- rungsstelle im BMFSJ folgt. Mir macht allerdings ein wenig Sorge, dass vor allem Altersgrenzen von jungen Menschen, denen beispiels- weise Höchstaltersgrenzen bei Laufbahnbewerbungen ein Hindernis waren, gerichtlich überprüft wurden und eher selten ältere Menschen, um die es hier heute gehen soll. Auch vor diesem Hintergrund sage ich zu den ande- ren Forderungen Ihres Antrags: Die Bundesregierung kann und muss Vorbild sein. Bei sämtlichen Program- men des Bundes wird deshalb auf die Offenheit für alle Altersgruppen geachtet. Wir müssen selbstverständlich unsere Gesetze und Verordnungen nach diskriminieren- den Regelungen durchforsten. Ich bin mir auch sicher, dass die Länder diesem Beispiel folgen werden. Aber grundsätzlich gilt: Wo kein Kläger, da kein Richter. Im Kleinen muss jeder alte Mensch selbstbewusst sein Recht einfordern, egal ob bei der Feuerwehr oder im Sportverein. Nur so entsteht auch Bewusstsein. Das kann ihm übrigens auch das beste AGG nicht abnehmen. Sönke Rix (SPD): Heute sprechen wir über den An- trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Diskriminierende Altersgrenzen im Bereich des bürger- schaftlichen Engagements aufheben“. Ich glaube, dort wo es gesetzliche Altersgrenzen gibt, beispielsweise im FSJ/FÖJ, weltwärts und bei Schöffen, sind sie sachlich begründet und nachvollziehbar. Aber natürlich müssen die bisher bestehenden Altersgrenzen im Bereich bürger- schaftlichen Engagements überprüft werden. Allein die höhere Lebenserwartung und die Erhöhung des Renten- eintrittsalters machen diese Überprüfung notwendig. Deshalb hat die Bundesregierung ein Gutachten in Auftrag gegeben, um einen umfassenden Überblick über die Altersgrenzen zu erhalten, die auch untergesetzlich in Vereinen und Verbänden bestehen. Die erste Forde- rung Ihres Antrags ist also bereits erfüllt. Außerdem beschäftigen wir uns seit geraumer Zeit mit dem Engagement von älteren Menschen. Mit dem Mo- dellprojekt „Generationenübergreifende Freiwilligen- dienste“ und den „Mehrgenerationenhäusern“ werden explizit auch ältere Bürgerinnen und Bürger angespro- chen. Wohlgemerkt: explizit, nicht exklusiv. Denn das ist mir wichtig beim Thema „Bürgerschaftliches Engage- ment“: dass es generationenübergreifend stattfindet. Ich möchte nicht, dass wir die Generationen anhand von Al- terstabellen in Gruppen einteilen und sie dann unter- schiedlichen Projekten zuteilen. Das Miteinander ist ent- scheidend. So können die Jüngeren von den Älteren lernen, und natürlich ist das auch umgekehrt so. Das soziale Engagement von Menschen für Men- schen ist der eigentliche Kitt unserer Gesellschaft. Ne- ben denjenigen, die soziale Tätigkeiten hauptamtlich ausführen, gibt es zahlreiche freiwillig Engagierte; 2004: 23 Millionen. Ohne die ginge es nicht. Ohne die würde etwas fehlen in unserer Gesellschaft. Zwischenmensch- lichkeit, Aufmerksamkeit und Zuspruch leisten die frei- willig Engagierten, zusätzlich zu dem, was der Staat leis- ten kann. Dieses Engagement brauchen wir, sowohl das der jungen Generation als auch das der älteren. Der Leitgedanke einer idealen generationenübergrei- fenden Engagementpolitik sollte meiner Vorstellung nach lauten: Wer will, der darf. Oder besser noch: Wer will, der soll können. Und es gibt viele Ältere, die wol- len und können. Die Initiative „Alter schafft Neues“ konzentriert sich auf das Potenzial und die Kompetenz von Seniorinnen und Senioren. Mithilfe dieser Initiative sollen ältere Bür- gerinnen und Bürger angesprochen und motiviert werden – auch zum freiwilligen Engagement. Im jetzt gerade auslaufenden Programm „Generatio- nenübergreifende Freiwilligendienste“ hatten Menschen aller Generationen die Möglichkeit, sich zu engagieren; und das in einem geregelten Rahmen zwischen 8 und 20 Stunden pro Woche. Die Erfolge dieses Projektes werden aufgegriffen. Das neue Programm „Freiwilligen- 19214 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 (A) (C) (B) (D) dienste aller Generationen“ gewährleistet Qualitätsstan- dards, Qualifizierungsmöglichkeiten, Verbindlichkeit und passgenaue Angebote für Freiwillige, egal wie alt sie sind oder woher sie kommen. Es gelten keine Alters- grenzen für das bürgerschaftliche Engagement. Und dort, wo es welche gibt, werden sie gerade überprüft. Im Anschluss daran müssen wir entscheiden, ob sie geän- dert oder abgebaut werden. Das Motto der Woche des bürgerschaftlichen Engage- ments lautet: Engagement macht stark. Und das gilt für Jung und Alt. Dass alle Generationen davon profitieren, daran arbeiten wir seit langem und gerade jetzt. Ihr An- trag greift die richtigen inhaltlichen Punkte auf, jedoch werden diese bereits umgesetzt. Somit ist er überflüssig. Sibylle Laurischk (FDP): Solidarität und Verant- wortungsbewusstsein, die Weitergabe von Wissen und Erfahrungen, die Suche nach sozialen Kontakten, der Wunsch, sich neue Erlebniswelten zu erschließen oder einfach das Gefühl, gebraucht zu werden, sind nur einige Motive, sich sozial zu engagieren. Dies gilt in ganz be- sonderem Umfang für den älteren Teil der Bevölkerung. Gerade für Liberale ist bürgerschaftliches Engage- ment Ausdruck einer lebendigen Bürgerkultur. Eine Ge- sellschaft, in der Probleme nicht wie selbstverständlich bei öffentlichen Einrichtungen abgegeben werden, eine Gesellschaft, in der Bürger für Bürger da sind. Der Ein- zelne ist selbst gefordert, in eigener Verantwortung, mit eigener Kraft, mit der Bereitschaft, Risiken zu überneh- men; auch mit der Bereitschaft, den wirklich Schwachen und Benachteiligten solidarisch zur Seite zu stehen. Nur durch einen solchen Bürgersinn wird eine Gesellschaft entstehen, die eher als jede andere in der Lage ist, mit den Herausforderungen der Zukunft fertig zu werden. Eine dieser Zukunftsaufgaben ist der demografische Wandel. Der demografische Wandel bringt es mit sich, dass die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zu- kunftsaufgaben von weniger und im Durchschnitt älteren Menschen bewältigt werden müssen. In der Öffentlich- keit wird allerdings mit dem demografischen Wandel vielfach noch eine verkürzte Debatte über die sozialen Sicherungssysteme verbunden. Die FDP tritt konsequent dafür ein, das gesellschaftliche Altenbild zu entstauben und den Realitäten anzupassen. Die Seniorenpolitik hat nach unserem Verständnis die Aufgabe, dieses neue Leitbild des Alters voranzutreiben. Die Folgen des de- mografischen Wandels sind gestaltbar, aber nur, wenn eine ehrliche und umfassende Analyse der Fakten er- folgt. Politische Fehler, wie das jahrzehntelange Ignorie- ren des längst bekannten demografischen Wandels, dür- fen sich nicht wiederholen. Diese Ignoranz hatte und hat verheerende Auswirkungen auf die Sozialsysteme. Für Liberale bedeutet dies: Alle politischen Zukunfts- betrachtungen müssen die heute bereits bekannten Fak- ten mit einbeziehen. Hierzu gehören auch alle Alters- grenzen. Nicht nur diejenigen des bürgerschaftlichen Engagements, sondern generell alle Altersgrenzen, auch diejenigen zur Ausübung bestimmter Berufe, müssen kritisch hinterfragt und überprüft werden. Ich bin sicher, dass sich der überwiegende Teil dieser Altersgrenzen als verzichtbar erweisen wird. Ich möchte Ihnen hier das Beispiel der KfW-Kredit- vergabe näherbringen, welches von der FDP seit Jahren kritisiert wurde. Für die Kreditvergabe bei den ERP- und KfW-Förderprogrammen existierte für das Programm „ERP-Kapital für Gründung“ eine Altersbegrenzung. Das Darlehen wurde nur vergeben, wenn sichergestellt war, dass es spätestens mit Vollendung des 70. Lebens- jahres getilgt war. Diese Begrenzung wurde mit der durchgeführten Überarbeitung des Programms zum 1. Juli 2008 aufgehoben; ein großer Erfolg auch unserer beharrlichen Politik. Für die FDP ist die Frage der Altersgrenzen, wie be- reits geschildert, seit geraumer Zeit ein wichtiges Thema der Politik, da die Altersgrenzen eine direkte Auswir- kung auf die Wahrnehmung von Alter, also das gesell- schaftliche Altenbild haben. Aus diesem Grund haben wir dieser Fragestellung auch in unserer Großen Anfrage an die Bundesregierung „Seniorinnen und Senioren in Deutschland“, Drucksache 16/10155, thematisiert. Am 18. März des Jahres 2008 hat das Bundesfamili- enministerium einen Forschungsauftrag ausgeschrieben, dessen Ziel es ist, existierende Altersgrenzen zu recher- chieren und zu überprüfen. Die FDP begrüßt dies außer- ordentlich, wenn wir uns auch eine wesentlich frühere Befassung mit der Thematik gewünscht hätten. Das zu erstellende Gutachten zum Thema „Alters- grenzen und gesellschaftliche Teilhabe“ wurde mittler- weile in Auftrag gegeben. Dieses Gutachten soll eine Bestandsaufnahme der in der Bundesrepublik Deutsch- land bestehenden Altersgrenzen enthalten, die ein Aus- schlusskriterium für gesellschaftlich relevante Tätigkei- ten älterer Menschen darstellen könnten. Dabei sollen nicht nur gesetzliche bzw. rechtlich festgelegte Alters- grenzen erfasst werden, sondern auch untergesetzliche „weiche“ Altersgrenzen, die geeignet sind, älteren Men- schen die Teilhabe an der Gesellschaft, auch im Hinblick auf freiwilliges und bürgerliches Engagement in der Zivilgesellschaft, zu verwehren. Das Gutachten soll eruieren, in welchen Bereichen derartige Altersgrenzen bestehen, die dahinterstehenden Gründe und Motive be- schreiben und die für die Bewertung ihrer Sinnhaftigkeit und fortbestehenden Notwendigkeit erforderlichen Grundlagen liefern. In diese Bewertung sollen Aspekte der demografischen Entwicklung und des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes einfließen. Beispielhaft kann auf folgende Altersgrenzen hinge- wiesen werden: Höchstaltersgrenzen als Zugangsvoraus- setzungen zum Beruf, zum Beispiel im öffentlichen Dienst; Beendigung der kassenärztlichen Zulassung mit Vollendung des 68. Lebensjahres – § 95 Abs. 7 SGB V –; Schöffen sollen noch nicht das 70. Lebensjahr vollendet haben – § 33 GVG –; eine erstmalige Bestellung zum Notar ist nach Vollendung des 60. Lebensjahres nicht mehr möglich – § 6 Abs. 1 BnotO –; Banken binden die Ver- gabe von Darlehen, Vereine die Übernahme von Ehren- ämtern häufig an eine Höchstaltersgrenze. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19215 (A) (C) (B) (D) Auf der Grundlage der Ergebnisse dieses Gutachtens soll und wird zu entscheiden sein, ob und, wenn ja, wel- che Maßnahmen zur Veränderung oder Beseitigung be- stehender Altersgrenzen zu ergreifen sind. Ich möchte hier ausdrücklich betonen, dass wir das Grundanliegen des vorliegenden Antrages der Fraktion der Grünen für sehr unterstützenswert halten. Gleichzei- tig ist aber festzustellen, dass der Hauptpunkt ihres An- trages, nämlich der erste Punkt Ihres Forderungskatalo- ges, „sämtliche Gesetze und sonstige Vorschriften des Bundes dahingehend zu überprüfen, ob diskriminierende Altersgrenzen bestehen und diese ggf. zu ändern bzw. Änderungsentwürfe vorzulegen“ von der Bundesregie- rung zumindest angegangen wurde, und – so viel Ehr- lichkeit muss sein – bereits vor der Einbringung Ihres Antrages in den Deutschen Bundestag am 18. Juni 2008. Meine Fraktion hofft sehr, dass die politische Diskus- sion über die Altersgrenzen nun endlich aufgenommen wird und die dringend notwendigen Veränderungen auch vollzogen werden. Dies ist ein wichtiger Schritt, damit der Gedanke von wachsender Eigenverantwortung und Engagements im Alter keine bloße politische Rhetorik bleibt. Elke Reinke (DIE LINKE): Die große Bedeutung des bürgerschaftlichen Engagements wird überall in höchs- ten Tönen angepriesen. Diese große Bedeutung ist auch unbestritten, aber manchmal fehlt dabei schon der Blick fürs Wesentliche: Am vergangenen Freitag wurde die „Woche des bürgerschaftlichen Engagements“ feierlich eröffnet. Doch dort schien Selbstbeweihräucherung wichtiger zu sein als die jungen Menschen mit ihren tol- len Projekten selbst. Von Regierungsseite werden außerdem viele Pro- gramme zur Stärkung ehrenamtlichen Engagements auf- gelegt. Dabei geraten zunehmend auch die Seniorinnen und Senioren in den Blickpunkt. Als Beispiel sei nur die Initiative „Alter schafft Neues“ des Familienministe- riums genannt. Wie in dem Antrag der Grünen zu Recht steht, dehnt sich die Phase des aktiven Alters zunehmend aus. Über eine immer größer werdende Zahl von Jahren bleibt eine selbstständige, eigenverantwortliche Lebensführung mög- lich. Die Fraktion Die Linke möchte die Diskussion um ein positives Altersbild vorantreiben, das die Fähigkeiten der Seniorinnen und Senioren betont. Gleichzeitig dür- fen aber diejenigen, die auf Unterstützung angewiesen sind, nicht ausgegrenzt werden. Eine vorausschauende, moderne Seniorenpolitik muss sich eines vor Augen halten: Die Gruppe der Seniorin- nen und Senioren ist ebenso verschiedenartig wie die an- derer Altersphasen. Und Seniorenpolitik ist eine Quer- schnittsaufgabe, die sehr viele Politikbereiche berührt. Die Linke orientiert sich dabei an einem Leitmotiv: Ältere Menschen sind in allen sie betreffenden Lebens- bereichen als Expertinnen und Experten in eigener Sache einzubeziehen. Wir unterstützen grundsätzlich das Anliegen, bürger- schaftliches Engagement für ältere Menschen – aber eben nicht nur für diese! – attraktiver zu machen und be- stehende Diskriminierungen abzubauen. Wir brauchen deshalb dringend eine verbesserte An- erkennungskultur, regelmäßige Berichterstattung in den Medien, konsequenten Versicherungsschutz, kostenlose Qualifikations- und Fortbildungskurse und auch eine bessere finanzielle Anerkennung bzw. Aufwandsent- schädigung. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen wie auch Die Linke fordern einen Ausbau der Infrastruk- tur, das heißt einen Ausbau der Unterstützung von Verei- nen, Verbänden, Organisationen. Sorgen bereitet mir hingegen die momentane Ent- wicklung, dass Unterstützung und Förderung in man- chen Bereichen abgebaut werden, weil erstens angeblich die Gefahr einer Dauerförderung bestehe, zweitens die haushaltspolitische Handlungsfähigkeit eingeschränkt und drittens zivilgesellschaftliche Akteure an ihrer eige- nen Selbstständigkeit gehindert würden. Als Beispiel sei nur daran erinnert, dass die Förde- rung der NAKOS (Nationale Kontakt- und Informations- stelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfe- gruppen) durch das Familienministerium zum Ende des Jahres eingestellt wird. Die NAKOS ist eine sehr effek- tiv arbeitende, hoch anerkannte zentrale Aufklärungs-, Service- und Netzwerkeinrichtung im Bereich der Selbsthilfe. Hier wird ganz klar am falschen Ende ge- spart! Dem Antrag der Grünen hinsichtlich diskriminieren- der Altersgrenzen im Ehrenamt können wir zustimmen. Allerdings ist der Forderungsteil doch sehr allgemein ge- halten. Es wäre schön gewesen, wenn Sie aus ihrem reichhaltigen Erfahrungsschatz doch noch ein paar mehr Beispiele für diskriminierende Altersgrenzen aufgezeigt hätten. Die einzige einigermaßen konkrete Forderung im Grünen-Antrag betrifft die Aufhebung der oberen Al- tersgrenzen für Schöffinnen und Schöffen. Diesem An- liegen können wir zustimmen, weil es hier genügt, auf den gesundheitlichen Zustand und nicht auf ein mögli- ches Höchstalter abzustellen. Ich habe mal wegen weiterer Beispiele bei der Anti- diskriminierungsstelle nachgefragt: Dort wurden bislang zwei Fälle von diskriminierenden Altersgrenzen im Be- reich des bürgerschaftlichen Engagements gemeldet: Ein Fall betraf die schon erwähnte Altersgrenze für Schöf- finnen und Schöffen, der andere die oberste Altersgrenze für ehrenamtlich Tätige in einer freiwilligen Feuerwehr. Warum aber soll ein 54-Jähriger tätig werden dürfen und ein 56-Jähriger nicht? Ist das nachvollziehbar und ge- recht? Ich möchte die Betroffenen ermutigen, Diskrimi- nierungen zu melden oder anderweitig auf ihre Problem- lage aufmerksam zu machen! Ehrenämter eröffnen nach wie vor viele Kontaktmög- lichkeiten, um die Teilhabe älterer Menschen an der Ge- sellschaft zu sichern. Doch ich halte es für falsch, nur das Engagementpotenzial ausschöpfen zu wollen. 19216 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 (A) (C) (B) (D) Die Linke kritisiert grundsätzlich: Gestiegene Selbst- ständigkeit und eine längere Aktivitätsphase der älteren Menschen gehen nicht mit einer gestiegenen Selbstbe- stimmung und Mitwirkung einher. Die Linke fordert daher für ältere Menschen mehr Mitwirkungsrechte und mehr Selbstbestimmung – nicht nur im Engagementbe- reich! In der Politik sind Seniorinnen und Senioren deutlich stärker einzubeziehen. Ein Mitspracherecht in Gemein- deratssitzungen und Arbeitskreisen der Kommunen muss selbstverständlich werden. Mehr politische Weiter- bildungsangebote sind mit Unterstützung von Bund und Ländern anzubieten. Die Linke tritt dafür ein, gesetzliche Voraussetzungen zu schaffen, um auf allen parlamentarischen Ebenen, vor allem in den Kommunen, selbst gewählte Seniorenver- tretungen bilden zu können. Diesen ist Rede-, Anhö- rungs- und Antragsrecht zu gewähren. Eine Beteiligung älterer Menschen kann auch verstärkt werden durch re- gelmäßig tagende Altenparlamente. Auf Bundes- und Landesebene fordern wir Seniorenmitwirkungsgesetze. Schauen Sie sich als Ausgangspunkt doch beispielsweise das seit 2006 bestehende Berliner Seniorenmitwirkungs- gesetz an. Die Bereitschaft der Seniorinnen und Senioren zu freiwilliger Tätigkeit darf jedoch nicht dazu missbraucht werden, reguläre Arbeitsplätze zu ersetzen und Lücken zu schließen, die durch eine unzureichende öffentliche Daseinsvorsorge entstehen. Mit Schrecken ist festzustel- len, dass Seniorinnen und Senioren immer häufiger in der Kinderbetreuung oder Pflege eingesetzt werden, während qualifizierte Vollzeitstellen abgebaut werden. Altersdiskriminierung, wie sie etwa in der Finanzwirt- schaft zum Beispiel bei der Kreditvergabe betrieben wird, ist ebenfalls strikt zu bekämpfen. Seniorinnen und Senioren werden häufig einerseits als potenzielle Pflege- oder Fürsorgefälle gesehen, die nur satt, sauber, trocken zu sein haben. Im Hinblick auf ihre Verwertbarkeit werden sie andererseits oft nur als Konsumenten, wie in der Initiative „Wirtschaftsfaktor Alter“ vom BMFSFJ, oder zum Teil als billige Arbeits- kräfte, wie in den „Generationsübergreifenden Freiwilli- gendiensten“, gesehen, die es auszuschöpfen gilt. Aber mehr Mitwirkungsrechte will die Bundesregie- rung unseren Seniorinnen und Senioren nicht geben! Ge- rade im politischen Bereich könnten wir gleichfalls von ihrer großen Lebenserfahrung profitieren. Die Linke ver- schließt sich nicht vor Altersweisheit! Genauso ignorieren CDU/CSU und SPD das Problem Altersarmut. Nein! Sie ignorieren nicht nur, sie treiben Altersarmut voran! Wie sonst ist die Rente ab 67 oder die niedrige Grundsicherung im Alter zu verstehen? Sie malen das Schreckgespenst „demografischer Wandel“ an die Wand, zerschlagen damit eine solidarische Renten- versicherung und treiben die Menschen in die private Vorsorge. Sie verriestern und verrüruppen die Men- schen! Es muss meiner Meinung nach darum gehen, die Le- bensqualität zu erhöhen sowie soziale und finanzielle Sicherheit zu gewährleisten. Ältere Menschen sind Bür- gerinnen und Bürger mit einem Anspruch auf selbstbe- stimmtes Leben bei gleichzeitigen Mitgestaltungsmög- lichkeiten. Der Missbrauch des Altersbegriffes, des bürgerschaft- lichen Engagements und auch des Demografiebegriffs führt zu mehr Sozialabbau, Privatisierung sozialer Risi- ken und Entsolidarisierung. Sozialabbau, unter welchem Deckmantel auch immer, ist mit der Linken aber nicht zu machen! Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lassen sie mich ein paar Zahlen an den Anfang meiner Rede stellen: Schon heute leben über 20 Millionen Men- schen im Alter von über 60 Jahren in diesem Land. Rund 80 Prozent der über 70-Jährigen leben weitgehend selbstständig. Die verbesserte Gesundheitsversorgung und die gestiegene Lebenserwartung ermöglichen für immer mehr Menschen für einen immer längeren Zeit- raum ein selbstständiges Leben. Und ein Blick in die Zukunft zeigt, dass dieser Trend sich verstärkt fortsetzen wird: Bereits in 25 Jahren wird der Anteil der Menschen, die das 65. Lebensjahr über- schritten haben, auf über 30 Prozent steigen. Die Le- benserwartung wird für Frauen dann voraussichtlich rund 87 Jahre betragen und für Männer 81 Jahre. Danach beträgt die Altersphase nach der gängigen Einteilung Ausbildung – Erwerbsarbeit – Alter ein Drittel der ge- samten Lebenszeit. Doch trotz dieser beeindruckenden Veränderungen rückt die Zeit nach der beruflichen Phase bisher kaum in das Blickfeld der politischen Aufmerksamkeit. Dabei drängt die Zeit. Denn die Auswirkungen des demografi- schen Wandels sind bereits da. In der Bevölkerungspyra- mide finden enorme Verschiebungen statt. Und lassen sie es mich ganz deutlich sagen: Wir haben einen enor- men Nachholbedarf, dem oberen Drittel dieser Pyramide – den Älteren – Chancen der aktiven gesellschaftlichen Teilhabe einzuräumen. Wer weiterhin an Altersgrenzen im bürgerschaftli- chen Engagement festhält, übersieht die Signale, die diese aussenden. Altern im 21. Jahrhundert ist vielfältig. Es gibt keine magische Altersschwelle, die wir alle ge- meinsam irgendwann überschreiten. Denn altern ist nicht nur vielfältig, sondern auch individuell. Nicht jeder ist noch fit im Alter – aber immer mehr sind es. Und es zeugt von einer ungeheuren Ignoranz, wenn die Bundesregierung, auf den Altersgrenzen für das Schöffenamt beharrt. Die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Kolleginnen und Kollegen der FDP-Fraktion zeigt es schwarz auf weiß: Die Bun- desregierung traut dieses Schöffenamt den älteren Bür- gerinnen und Bürgern ganz einfach nicht zu. Ich frage mich, ob die Bundeskanzlerin bereits an Senator McCain einen Brief verschickt hat, in dem sie ähnliche Bedenken äußert. Denn bei aller Hochachtung für die vielen akti- ven Schöffinnen und Schöffen sind die Anstrengungen, die ein mögliches Präsidentenamt in den USA mit sich bringen werden, wohl höher einzuschätzen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19217 (A) (C) (B) (D) Die Bereitschaft Älterer sich bürgerschaftlich zu enga- gieren, müssen wir stützen, nicht unterbinden. Wir müs- sen positive Signale setzen, dass Engagement gewünscht, Einmischen und Teilhabe Älterer an der Gesellschaft ge- fördert wird. Es liegt an uns, an einem neuen Bild des Al- ters mitzuzeichnen. Deshalb fordere ich sie auf, einen Entwurf des § 33 Gerichtsverfassungsgesetz vorzulegen, in dem die bestehende obere Altersgrenze für Schöffin- nen und Schöffen aufgehoben wird. Den vielen formellen und informellen Altersgrenzen, denen ältere Menschen im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements begeg- nen, will ich entgegentreten. Dafür müssen wir sämtliche Gesetze und Vorschriften des Bundes daraufhin überprü- fen, ob diskriminierende Altersgrenzen bestehen und ge- gebenenfalls Änderungen vornehmen. Denn ohne selber im Farbtopf zu rühren, wird es näm- lich schwer werden, Altersbildern einen neuen Anstrich zu geben. Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Dritten Geset- zes zur Änderung des Energieeinsparungsgeset- zes (Tagesordnungspunkt 19) Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU): Spätestens seit dem Gipfel des Europäischen Rates im März 2007 sind die klimapolitischen Ziele bis 2020 politisch definiert. Wir müssen aus ökologischer Verantwortung heraus Treibhausgas-Emissionen um 20 Prozent reduzieren, deshalb besonders die Energieeffizienz um 20 Prozent steigern und den Anteil erneuerbarer Energien auf 20 Prozent anheben. Daher ist es nur folgerichtig, dass das besondere Au- genmerk auf den Gebäudebereich gerichtet wird. Wir in- vestieren hier immerhin 40 Prozent unseres gesamten Energieverbrauchs. 30 Prozent Energieeinsparung im Gebäudebereich helfen da enorm. Trotzdem darf auch hier die ökonomische Verantwortung, besonders für die Hausbesitzer mit geringem Einkommen, nicht auf der Strecke bleiben. Die Klimaschutz-Ziele müssen erreicht werden – das steht außer Frage –, aber mit möglichst geringem finan- ziellen Aufwand für Staat und Bürger. Mit der heutigen ersten Lesung zum dritten Gesetz zur Änderung des Energieeinspargesetzes betreten wir kein Neuland Wir sind vielmehr hier, um funktionie- rende gesetzliche Elemente, die zur Verwirklichung der ökologischen Verantwortung für unsere Heimat erdacht wurden, auszubauen, anzupassen und auf den neuesten Stand zu bringen. Wir müssen es auch überarbeiten, da nur so die ent- scheidenden und schon diskutierten Veränderungen in der nachgeordneten Heizkosten- und besonders der Energieeinsparverordnung in Kraft treten können. Was soll geändert werden? Und warum? Erstens. Die Anforderungen an die Wärmedämmung und die Außenteile von Gebäuden werden um 30 Pro- zent erhöht. Effizientere Wärmenutzung erspart uns Energiegewinnung, egal ob konventionell oder durch er- neuerbare Energien. Zweitens. Durch eine stufenweise und wirtschaftlich vertretbare Außerbetriebnahme von Nachtstromspei- cher-Heizungen, die älter als 30 Jahre sind und in größe- ren Gebäuden eingesetzt werden, wird diese ineffektive Heizmethode bald der Vergangenheit angehören. Drittens. Ermittlung des energetischen Zustands, die Kontrolle der Anforderungen und die Umsetzung muss mit geringem bürokratischen und finanziellen Aufwand erfolgen. Synergien sind zu nutzen. Zertifizierte Unter- nehmen können das effektiv umsetzen. Der Schornstein- feger kann das auch in Verbindung mit seinen bestehen- den Aufgaben umsetzen. Als Baupolitiker kann ich Ihnen versichern: Dies sind überaus effektive Maßnahmen, unabhängig davon, ob Sie diese nun aus ökologischer, ökonomischer oder bü- rokratischer Sicht betrachten wollen. Bei der Erreichung der Klimaschutz-Ziele ist das richtige Zusammenspiel der einzelnen Elemente, zum Beispiel das des Energieeinspargesetzes, mit der EnEV und der HeizkV, des EEG und des EEWärmeG, kurz ge- sagt das Integrierte Energie- und Klimaprogramm von entscheidender Bedeutung! Alles hängt mit allem zu- sammen. Der Leitsatz wird umgesetzt: Nutze Energie sparsam, dämme unnötige Energieverluste ein, und für den Rest bediene dich, wenn möglich, erneuerbarer Energien. Ich kann Ihnen versichern, wir sind auf dem richtigen Weg, weil so Energie eingespart wird und weil Effi- zienzgewinn und der Einsatz erneuerbarer Energien technologieoffen sind. Das fordert und fördert die Krea- tivität und den Erfindungsreichtum des heimischen Bau- gewerbes in allen Bereichen. Es ist auch deshalb der richtige Weg, weil dem einzel- nen Bauherrn Wahlmöglichkeiten offengehalten werden. Die Verpflichtung zur Energieeffizienzsteigerung am Bau soll die einzige Vorgabe sein. Zur Umsetzung muss der Bauherr vielfältige Mög- lichkeiten haben, und die müssen für ihn wirtschaftlich vertretbar bleiben. Darauf legt die Union besonderen Wert. Daher darf das Wirtschaftlichkeitsgebot an keiner Stelle außer Acht gelassen werden. Aber diese Sorge be- steht, Gott sei Dank, in diesem Bereich nicht. Denn im Zusammenspiel zwischen Vorgaben und den flankieren- den Programmen können Differenzen zwischen Ökolo- gie und Ökonomie abgemildert werden. Dank des CO2-Gebäudesanierungprogramms konnten von 2005 bis 2007 bereits 650 000 Wohneinheiten sa- niert werden. Dies sparte bislang jährlich zwei Millionen Tonnen CO2 und 500 Millionen Euro Energiekosten ein. Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm ist auch aktuell so erfolgreich und gefragt, dass in diesem Jahr zusätzli- che 500 Millionen Euro bereitgestellt wurden, um allen Anträgen gerecht zu werden.Gleichzeitig ist es auch ein 19218 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 (A) (C) (B) (D) Konjunkturprogramm, denn es sorgt für einen Schub in der Bauindustrie, im Mittelstand, beim Handwerk und den Baustoffherstellern. Bitte lassen Sie nicht außer Acht, dass 1 Milliarde Euro an Investitionen 25 000 Arbeitsplätze sichert oder schafft. Anreize schaffen statt Befehle erteilen, finan- zielle Unterstützungen anstatt reiner gesetzlicher Vorga- ben, fördern die Akzeptanz bei allen Akteuren. Für die Union steht fest – die bisherigen Ergebnisse geben uns Recht –: Das ist der richtige Weg! Lassen Sie uns so weitermachen und hier vielleicht noch ein wenig mehr das Potenzial nutzen, beispiels- weise durch verbesserte Steuerabschreibungen für Inves- titionen in Energieeffizienz und erneuerbare Energien. Dabei ist es nicht entscheidend, welche steuerlichen Maßnahmen ins Auge gefasst werden. Wichtig ist nur, dass beispielsweise eine befristete Verdoppelung des Abschreibungssatzes, höhere Abschreibungssätze oder eine sofortige Absetzbarkeit von Aufwendungen den Bürger spürbar entlasten. Aber auch bei der Aufstockung von einmaligen Zu- schüssen, im CO2-Gebäudesanierungsprogramm für die- jenigen Hausbesitzer, die zwar sanieren wollen, es je- doch schwer haben, noch einen weiteren Kredit von der Bank zu bekommen, ist im Sinne der Politik der Union. Es muss auch dem finanziell schwachen Hausbesitzer möglich werden, sein Gebäude klimaverantwortlich um- zubauen und in den Genuss von dauerhaft niedrigeren Energiekosten zu kommen. Außerdem wäre mit diesen zusätzlichen Instrumenten sichergestellt, dass mehr Bestandsgebäude in Deutsch- land vom Klimaschutz erreicht werden. Deswegen bitte ich Sie um Ihre Unterstützung im Allgemeinen zu dem Komplex des Integrierten Klima- und Energiepro- gramms der Bundesregierung und im Speziellen zu dem vorliegenden dritten Gesetz zur Änderung des Energie- einspargesetzes. Rainer Fornahl (SPD): Wer A sagt, der sollte auch B sagen. Das machen wir heute mit der Einbringung des Gesetzentwurfs zur Änderung des Energieeinsparungs- gesetzes. Am 6. Juni 2008 haben wir im Deutschen Bundestag ein Paket von Gesetzen zum Klimaschutz und zur Erhö- hung der Energieeffizienz in Gebäuden verabschiedet (IKEP-I-Umsetzung). Am 18. Juni 2008 hat die Bundes- regierung einen weiteren Teil ihres Klimaschutzpro- gramms verabschiedet (IKEP-II-Umsetzung), darunter die Änderung des Energieeinsparungsgesetzes (EnEG) und damit den Auftrag zur Novellierung der Energieein- sparverordnung (EnEV). Das Änderungsgesetz beraten wir heute in der ersten Lesung und überweisen es an die Ausschüsse, in dringender Erwartung zügiger Verab- schiedung im Hohen Hause. Damit schaffen wir erst die erforderlichen Ermächtigungen zur Änderung der EnEV, in der Einzelheiten im Vollzug des Energieeinsparungs- rechts für Gebäude geregelt sind. Inhaltlich ist die Ände- rung der EnEV also in mehreren Punkten von den Geset- zesänderungen abhängig, wie zum Beispiel für die Außerbetriebnahme von Nachtstromspeicherheizungen oder für Maßnahmen zur Stärkung des Vollzugs der Ener- gieeinsparverordnung. Es geht um einen am Stand der Technik und der Wirtschaftlichkeit orientierten zuverläs- sigen rechtlichen Rahmen für die zahlreichen im Gebäu- debereich beteiligten Branchen und Energieverbraucher. Die Änderung des Energieeinsparungsgesetzes und auf dessen Grundlage der Energieeinsparverordnung sind zentrale Elemente der Energiespar- und Klimapoli- tik der Großen Koalition. Danach werden ab 2009 die Mindestanforderungen an die energetische Qualität von Neubauten und sanierten Altbauten durch eine Überar- beitung der Energieeinsparverordnung (EnEV) ver- schärft. Es geht um die die Anhebung der energetischen Anforderungen an Neubauten um durchschnittlich 30 Prozent; die Anhebung der energetischen Anforde- rungen an wesentliche Änderungen im Gebäudebestand um durchschnittlich 30 Prozent; die Ausweitung einzel- ner Nachrüstpflichten bei Anlagen und Gebäuden, die die Verpflichteten unabhängig von geplanten eigenen Maßnahmen oder Vorhaben erfüllen müssen. Dies ist gut und richtig so, denn dem Gebäudesektor kommt bei dem Bestreben, Energie einzusparen, eine ganz erhebliche Bedeutung zu. Gebäude haben mit mehr als 40 Prozent einen erheblichen Anteil am gesamten Energieverbrauch. Davon entfallen 75 Prozent auf das Heizen, 10 Prozent für Warmwasser und 15 Prozent für mechanische Energie und Strom. Der Anteil des Gebäu- debereichs an CO2-Emissionen beträgt 20 Prozent. Ziel muss es daher sein, bei der Neuerrichtung von Gebäuden mit möglichst sparsamer Energiebilanz zu erstellen und im Gebäudebestand die Möglichkeiten zur Energieein- sparung zu mobilisieren. Gerade im Gebäudebestand liegt die größte Energiesparreserve. Dieser umfasst knapp 19 Millionen Gebäude, davon 17,3 Millionen Wohnge- bäude und 1,5 Millionen Nichtwohngebäude. 75 Prozent des Gebäudebestandes wurden vor 1979 mit zum Teil schlechter energetischer Qualität erreichtet. Ab 1979 stellte die 1. Wärmeschutzverordnung Mindestanforde- rungen an die energetische Qualität der Gebäude. Ziel ist es, dass jährlich 3 Prozent des vor 1979 errichteten Alt- baubestandes grundlegend saniert werden. Derzeit sind es 2,2 Prozent. Das sind jährlich 420 000 Gebäude oder bis 2020 ein Drittel des Altbaubestandes. Es gilt die enormen Einsparpotenziale zu erschließen. Dazu bedarf es auch einer offenen und ehrlichen Dis- kussion über die Verteilung der Kostenbelastungen. Es darf nicht verschwiegen werden, dass es den Einzelnen etwas kosten wird – für Gebäudesanierung, Austausch alter Heizkessel und Fenster, Dämmung von Decken und Wänden. Es muss klar sein, dass es nicht ausreicht, da- rauf zu hoffen, dass die Politik mit Gesetzen und Koh- lendioxid-Zielen es schon richtet, ohne dass der Einzelne in den eigenen vier Wänden selber Hand anlegt. Auf der anderen Seite müssen wir bei den energie- und klima- politischen Zielsetzungen stets im Auge behalten, was den Bürgerinnen und Bürgern abverlangt werden kann. Die Belastungen des Einzelnen dürfen nicht durch neue Verpflichtungen überzogen werden. Nicht jede junge Fa- milie und nicht jedes Rentnerehepaar kann den finanziel- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19219 (A) (C) (B) (D) len Mehraufwand und die Vergrößerung der Baustelle im bewohnten Haus tragen. Nicht jeder Wohneigentümer verfügt über so viele Mittel, um mehr als beabsichtigt zu investieren. Auch wenn sich die Kosten bald rentieren, weil eben auch der Energieverbrauch massiv gesenkt werden kann. Ein weitreichender Modernisierungszwang könnte das Hemmen sinnvoller freiwilliger Investitionen erheblich verstärken. Hier greift die weitere Unterstützung der freiwilligen Entscheidung durch Förderung. CO2-Ge- bäudesanierungsprogramm, Investitionspaket zur ener- getischen Sanierung von Schulen, Kindergärten und sonstigen sozialen Infrastrukturen, Energieeinsparpro- gramm Bundesliegenschaften und Wohngeldnovelle ver- deutlichen diesen Teil der Strategie für mehr Energieeffi- zienz und Klimaschutz im Gebäudebereich. Auf der andere Seite stehen die ordnungsrechtlichen Maßnahmen, das Fordern. Energieausweise für Gebäude und das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz sind bereits verabschiedet. Die Novellierung von Heizkostenverord- nung und Energieeinsparverordnung werden folgen. Mit diesem ausbalancierten Mix aus Fördern und Fordern werden wir die Gesamtemissionen des Wohngebäudebe- standes von 120 Millionen Tonnen CO2 im Jahr 2005 um 20 Millionen Tonnen auf 100 Millionen Tonnen CO2 im Jahr 2020 senken. Dazu trägt auch bei, die Potenziale des Energie-Con- tractings in kluger Abwägung der Interessen von Mie- tern und Vermietern sinnvoll zu nutzen. Alle, die damit befasst sind, sind aufgefordert, zügig nach tragfähigen Lösungen zu suchen. Gerade im Verhältnis von Mieter und Vermieter im laufenden Mietverhältnis sind bei der energetischen Modernisierung noch einige Fragen offen. So sollte der Mieter ein Druckmittel haben, wenn der Vermieter notwendige Modernisierungsmaßnahmen nicht durchführt. Darüber wird noch zu sprechen sein. Ich komme zum Schluss noch zu einem Problem, welches alle Anstrengungen für Klimaschutz und Ener- gieeinsparung konterkariert. Dies betrifft die Qualität der energetischen Sanierung. Eine Untersuchung des Ver- bandes Privater Bauherren lässt auf bedenklich Weise aufhorchen. Hier werden erhebliche Mängel bei energie- sparenden Neubauten festgestellt. So sind in 59,3 Pro- zent aller Fälle die Berechnungen im Nachweis zur EnEV falsch, in 53,0 Prozent der Fälle wird der Bau ge- fördert, obwohl er nicht den Förderbedingungen ent- spricht, in 66 Prozent der Fälle werden falsche oder nicht mit dem Bauherrn abgestimmte Voraussetzungen im Nachweis zur EnEV angenommen, in 54,1 Prozent der Fälle werden die Berechnungen zur EnEV nicht korrekt umgesetzt und in 40,6 Prozent der Fälle entspricht das Haus überhaupt nicht den Anforderungen der EnEV. Deshalb ist ein Controlling-System von öffentlich-recht- lichen Institutionen und Privatwirtschaft unverzichtbar. Hier werden Milliarden Steuermittel ausgegeben – mit dem Ziel die CO2-Emissionen im Gebäudebereich signi- fikant zu reduzieren. Planer und Bauherrn, respektive Baufirmen, müssen konsequent die Vorgaben einhalten und dies verbindlich nachweisen. Schwarzen Schafen müssen wir hart auf die Finger klopfen – wegen des Klimas. Angesichts der weltweit steigenden Energienach- frage, der steigenden Energiepreise und der Herausfor- derungen des Klimawandels dürfen die Anstrengungen, Energie einzusparen, nicht nachlassen. Mit der Ände- rung des EnEG und der Novelle der EnEV treibt die Große Koalition dies ehrgeiziger als sonstwo weiter voran. Das ist auch für die internationale Klimapolitik ein wichtiges Signal. Joachim Günther (Plauen) (FDP): Heute befassen wir uns mit dem Entwurf der Bundesregierung eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Energieeinsparungs- gesetzes. Der Entwurf dient der Schaffung von Ermächtigungs- grundlagen für Änderungen in der Energieeinsparver- ordnung sowie im Schornsteinfegergesetz. Wesentliche Neuregelung in der Energieeinsparver- ordnung sind die Nachrüstungspflichten bei Anlagen und Gebäuden (§ 10 EnEV) sowie die Außerbetrieb- nahme von elektrischen Speichersystemen (§ 10 a EnEV) – dies soll durch § 4 Abs. 3 des oben genannten Entwurfes des EnEG ermöglicht werden. Die FDP steht auch für die Verbesserung der Energie- effizienz im Gebäudebereich und für die Senkung von CO2-Emissionen – sie hat deshalb auch der Einführung eines Energiegebäudeausweises zugestimmt. Die zunächst von der Bundesregierung angekündig- ten radikalen Betriebsverbote für Nachtspeicheröfen zeugten wieder einmal von blindem Aktionismus. Elek- trische Speicheröfen verbieten = Klimaschutz wesent- lich vorangetrieben: Die Formel funktioniert so leider nicht! Der Widerstand vor allem der FDP gegen dieses Vor- haben führte offenbar zu einem Nachdenken bei Schwarz-Rot. Jedenfalls gibt es nun doch sehr deutliche Veränderungen in der Energieeinsparverordnung gegen- über den ursprünglichen Überlegungen: Der Kreis der Betroffenen ist wesentlich kleiner geworden und die Übergangsfristen von 30 Jahren sind moderat. Auch die Härtefallregelung macht den Entwurf insgesamt etwas freundlicher. Auch die Bußgeldvorschriften sollen harmonisiert werden. Die Ankündigung der Bundesregierung vom letzten Jahr, Gebäudeeigentümern Geldbußen von bis zu 50 000 Euro aufzuerlegen, wenn sie nicht bereit sind, künftig erneuerbare Energien zum Heizen zu verwenden, ist mir noch gut in Erinnerung. Die Einsicht, dass „eine Bußgeldbewehrung bereits bei leichter Fahrlässigkeit unangemessen“ sei und dies nun in die Bußgeldvor- schriften so eingebracht wurde, möchte ich begrüßen. Politik mit der Brechstange kann auch eine Große Koalition nicht durchsetzen. Dennoch hält die FDP nichts von solchen Einzellö- sungen, weil diese nicht wirklich einen Sinn machen. Es wird im Laufe des parlamentarischen Verfahrens zu klä- 19220 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 (A) (C) (B) (D) ren sein, wie der in Schwachlastzeiten erzeugte Strom künftig verwendet werden soll. Wie mir die Umweltpolitiker meiner Fraktion bestäti- gen, ist der ökologische Effekt des Verbots von Strom- heizungen unklar. Da beispielsweise für den Stromsektor der Emissionshandel mit einer festen Obergrenze der CO2-Emissionen gilt, bringt das Verbot von Stromhei- zungen keine CO2-Einsparung, dafür aber immense Kos- ten für eine neue Heizungsanlage, die jetzt teilweise mit Steuergeldern aufgefangen werden sollen. Und viele der betroffenen Hausbesitzer werden auf hohen Kosten sit- zen bleiben, obwohl sie über Jahre von der Politik in diese Technologie gelockt wurden. Übrigens ein kleiner Denkanstoß an die Atomstromgegner: Auch Atomstrom wäre CO2-frei. Jetzt wäre die Frage zu klären, in welchem Verhältnis Energieeffizienz und Belastung der Gebäudeeigentümer durch diese Änderungen zueinander stehen. Von der Be- antwortung dieser Frage wird es im Wesentlichen abhän- gen, wie sich die FDP zu diesem Entwurf positionieren wird. Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Wärmeschutz an Ge- bäuden und moderne Heiztechnik entlasten die Mieterin- nen und Mieter deutlich. So bremst wirksamer Klima- schutz die Teuerung der Energie. Denn durch kluge Maßnahmen können die Heizkosten halbiert werden. Die Bundesregierung folgt diesem Grundsatz leider nur halbherzig und lässt die Verbraucherinnen und Verbrau- cher auch weiterhin auf den hohen Heizkosten sitzen. Das Prinzip der Großen Koalition ist auch hier: Poli- tik ist der kleinste gemeinsame Nenner. Das Ergebnis ist nicht nur ein deutliches Verfehlen der Klimaschutzziele, die sich die Bundesregierung selbst gesetzt hat. Das Nichthandeln verschärft auch die soziale Schieflage im Land. Denn die rasant steigenden Energiepreise werden für private Haushalte zunehmend zu einer existenziellen Belastungsprobe. Der Begriff „Energie-Armut“ be- schreibt hier ein immer deutlicher hervortretendes Phä- nomen: Zunehmend können sich Menschen in Deutsch- land eine angemessene Nutzung von Energie nicht mehr leisten, während die Energiekonzerne Rekordprofite ein- streichen. Das ist nicht hinnehmbar. Eines muss gesagt sein: Die Bundesregierung ver- dient bei den gestiegenen Energiepreisen über die Mehr- wertsteuer ordentlich mit. Insgesamt hat Bundesfinanz- minister Steinbrück im letzten Jahr gegenüber 2004 mit der immer teureren Energie 5,3 Milliarden Euro zusätz- lich eingenommen. Die Linke fordert: Geben Sie das Geld an die gebeutelten Verbraucherinnen und Verbrau- cher zurück! Ein Wort auch zum Klimaschutz: Umweltminister Sigmar Gabriel behauptet ja immer gern, die Bundesre- gierung würde den CO2-Ausstoß mit ihren Maßnahmen um 36 Prozent senken. Dazu beruft er sich auf die „Me- seberger Beschlüsse“. Entscheidend ist aber nicht, was die Regierung irgendwann einmal beim Kaffeekränz- chen besprochen hat, sondern was in den Gesetzen steht, die am Ende dabei herauskommen. Und hier wirkt das Gemisch aus Christ- und Sozialdemokraten wie ein Weichspülgang. Das Ergebnis ist dann Klimaschutz light. Die Klimagassenkung wird deshalb nur 25 Prozent betragen. Und weniger Klimaschutz bedeutet eben auch weiter hohe Energiepreise. Sehen wir uns den vorliegenden Gesetzentwurf ge- nauer an: Mit dem geplanten Energieeinsparungsgesetz werden zwar die größten Energiefresser wie Nachtspei- cheröfen und alte Ölheizungen aus Altbauten verbannt, doch machbare Einsparpotenziale werden hier bei wei- tem nicht gehoben. Denn die anspruchsvollen Ziele, die für Neubauten vorgegeben werden, unterliegen beim Ge- bäudebestand weitgehend der Entscheidungsfreiheit der Vermieter – und die reichen die Energiekosten ohnehin an die Mieterinnen und Mieter durch. Das Interesse an einer energetischen Sanierung, die alle Einsparmöglich- keiten ausschöpft, ist deshalb oft gering. Nun ist es aber so, dass der überwiegende Teil der Menschen in älteren Gebäuden zur Miete wohnt. Und gerade da, wo das Einkommen knapp bemessen ist, sind Altbauten in schlechtem Zustand, haben hohe Heizkos- ten. Um auch Menschen mit kleinem Geldbeutel, die un- ter der Energieteuerung am meisten leiden, zu helfen, reichen die Vorschläge von CDU/CSU und SPD bei wei- tem nicht aus. Die Linke fordert deshalb klare Vorgaben und ein- klagbare Rechte für die Mieterinnen und Mieter. Erstens: Ein Energiepass muss aufzeigen, welche Maßnahmen bei einer Energiesanierung machbar sind, und nicht bloß den bisherigen Verbrauch anzeigen. Zweitens: Mieterinnen und Mieter müssen das Recht haben, die Miete zu kürzen, wenn Gebäudeeigentümer machbare Maßnahmen zum Energiesparen nicht umset- zen. Drittens: Die Nutzung erneuerbarer Energien wie So- larkollektoren und Erdwärme muss zur Pflicht werden, um teures Öl und Gas zu ersetzen. Nur so gelingt es, bezahlbare Energie und Klima- schutz unter einen Hut zu bekommen und die Energie- versorgung nachhaltig zu gestalten. Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Änderung des Energieeinsparungs-Gesetzes (EnEG) ist die Grundlage dafür, die groß angekündigte Energieein- sparungs-Verordnung (EnEV) überhaupt novellieren zu können. Neben sinnvollen Ansätzen – so sollen Nacht- stromspeicherheizungen außer Betrieb genommen wer- den – gibt es im Gesetz seltsam verschwiemelte Ansätze, die weit hinter den Notwendigkeiten zurückbleiben. Dazu gehören zum Beispiel die Einführung der privaten Nachweispflicht oder die künftige Selbstausstellung von Fachunternehmer- und Eigentümererklärungen. Zugegeben, im Falle der energetischen Gebäudesa- nierung steckt nicht nur die Bundesregierung in dem Di- lemma, dass sinnvoller Ressourcen- und Klimaschutz oft mit privatwirtschaftlichen Erwägungen kollidiert. Dieses Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19221 (A) (C) (B) (D) klassische Marktversagen nur ordnungsrechtlich zu kor- rigieren, birgt aber Risiken – Risiken, die uns auf Schritt und Tritt im Entwurf des EnEG, aber auch der EnEV be- gegnen. Dazu zwei eklatante Beispiele: Da wird in § 7 a zwar eine Bestätigungspflicht der durchführenden Fach- betriebe festgelegt, aber von einer Kontrolle oder einer Sanktionsmöglichkeit bei Nichteinhaltung der Sanie- rungsziele ist keine Rede. Im Gegenteil, den ausführen- den Firmen wird die Möglichkeit gegeben, die Qualität ihrer Arbeit selbst zu bestätigen. Hier wäscht nicht eine Hand die andere, hier wäscht sich eine Hand selber. Wie dürfte die Praxis aussehen? Nach zwei, drei kälteren Wintern stellt der Auftraggeber fest, dass die Sanie- rungsmaßnahme offensichtlich ihr Ziel verfehlt hat. Falls er sich dann nicht auf Nachbesserungen mit der Baufirma einigen kann, bleibt ihm nur der kostenträch- tige und langwierige Klageweg. Im Neubaubereich sind Versäumnisse besonders gravierend, da die Nutzungs- dauer bis zur nächsten Renovierung – Grundinstandset- zung – besonders lang ist. Analysen des Verbandes Pri- vater Bauherren e. V. – VPB – haben ergeben, dass in mehr als 50 Prozent der untersuchten Fälle Materialien, die auf der Rechnung standen, auf der Baustelle gar nicht verwendet wurden. So wurde oftmals die vorgese- hene Dämmung durch dünnere oder andere Materialien ersetzt. Der Auftraggeber zahlt hier doppelt: für die schlecht ausgeführte Sanierung und die weiterhin hohen Energiekosten. Das gilt auch – und dies ist für uns be- sonders schmerzlich – für Bauten, die mit öffentlichen Mitteln gefördert werden, Stichwort: KfW 60/KfW 40. Wenn hier laut VPB mehr als 50 Prozent der Bauten die Förderbedingungen der KfW nicht erfüllen, ist etwas grundsätzlich faul im System. Da hilft uns auch eine Verschärfung der Randbedin- gungen um 30 Prozent wie jetzt bei der EnEV 2009 nicht weiter. Symbolpolitik nutzt weder dem Klima- und Res- sourcenschutz noch den Mietern und Bewohnern kleiner Häuser. Wir brauchen eine Verstetigung und Verlässlich- keit bei den Rahmenbedingungen, eine funktionierende Qualitätskontrolle und Rechtssicherheit; denn Bauen ist so risikoträchtig, dass Rechtsschutzversicherungen das Baurisiko generell ausschließen. Wenn wir so weitermachen, dann wird es 150 Jahre dauern, bis der Gebäudebestand auf einen vernünftigen energetischen Standard gebracht ist. Das ist unverant- wortlich gegenüber unseren nachfolgenden Generatio- nen. Wir fordern, der Aufklärung und der qualifizierten Beratung der Gebäudenutzer eine stärkere Aufmerksam- keit zu schenken. 20 bis 30 Prozent der Einsparungen lassen sich alleine durch ein verändertes Heizverhalten und mit einem vergleichsweise geringen Mitteleinsatz durch Beratung erreichen. Wir fordern endlich verbindli- che und realistische Gebäude-Effizienzstandards für Be- stands- und Neubauten, deren Wirkungen auf die kurz- fristigen – bis 2020 – und langfristigen – bis 2050 – Klimaschutzziele ausgerichtet sind. Wir fordern ein Recht der Mieter bzw. Nutzer auf Einhaltung dieser Effi- zienzstandards. Dann machen Kürzungsrechte bei den Betriebskosten auch Sinn, wie sie noch im ersten Ent- wurf des EnEG zu finden waren und die auf Betreiben des Bundeswirtschaftsministers offensichtlich herausge- strichen wurden. Wir fordern die stärkere Berücksichti- gung von Lösungsansätzen in der Förderpolitik, mit de- nen die größten Klimaschutz- und Einsparpotenziale bei geringstem Mitteleinsatz gehoben werden können. Wir fordern bauliche und modulare Lösungen in der energe- tischen Gebäudesanierung für heute, die uns bei der Er- reichung der langfristigen Ziele morgen nicht im Wege stehen. Wir fordern zusätzliche Sanierungshilfen und Lösungen für ökonomisch schwache Vermieter oder Hauseigentümer, gerade in den peripheren Regionen Deutschlands. Wir fordern einen Energieausweis, der die energetische Qualität eines Gebäudes tatsächlich abbil- det und nicht als unseriöse Lachnummer im Internet für Dumpingpreise von 1,99 Euro ersteigert werden kann. Und wir fordern einen Energieausweis, der allen Mietern – Bestands- und Neumietern – in schriftlicher Form ohne gesonderte Aufforderung zugänglich gemacht wird. Gut gemeint ist nicht gut gemacht. Das neue EnEG wird in Verbindung mit der EnEV 2009 leider dazu füh- ren, dass die Bundesregierung ihr selbst gestecktes Kli- maziel 2020 auch im Baubereich grandios verfehlen wird. Den Schaden haben nicht nur die kommenden Gene- rationen, den Schaden haben schon die heutigen Bauher- ren, die in gutem Glauben und mit ehrbaren Absichten für untaugliche Vorgaben aus dem EnEG und der EnEV die Zeche zahlen. Denn das, was sie erhalten, ist häufig eine Mogelpackung. Hier wäre die Bundesregierung gefragt gewesen, aber da versagt sie auch mit diesem Gesetzentwurf. Karin Roth Parl. Staatssekretärin beim Bundes- minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Der Klimawandel, die weltweit steigende Nachfrage nach Energie und die steigenden Energiepreise sind Heraus- forderungen, denen wir uns stellen müssen. Hier müssen wir Lösungen finden. Im Gebäudebereich bedeutet dies vor allem, dass Energie so effizient wie möglich genutzt werden muss. Geschieht dies nicht, lässt sich eine be- zahlbare Energieversorgung auf lange Sicht nicht si- chern. Wir wollen bei der Neuerrichtung Gebäude mit möglichst sparsamer Energiebilanz erstellen und im Ge- bäudebestand vorhandene Einsparpotenziale mobilisie- ren. Um dies zu erreichen, setzt die Bundesregierung die Akzente sowohl beim Fördern als auch beim Fordern. Heute geht es um die Novellierung des Energieeinspar- rechts des Bundes. Dies müssen wir in zwei Schritten tun, zum einen, durch die Änderung des Energieeinsparungsgesetzes und zum zweiten durch eine Novellierung der Energieein- sparverordnung. Das Energieeinsparungsgesetz bildet die gesetzliche Grundlage zum Erlass der Energieeinsparverordnung. Seine Verordnungsermächtigungen müssen erweitert werden, damit der Verordnungsgeber sich bei der Novel- 19222 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 (A) (C) (B) (D) lierung der Energieeinsparverordnung, mit der letztlich die inhaltlichen Regelungen im Einzelnen festgelegt werden, auf sicherem Boden bewegen kann. Mit anderen Worten: Es wird hierdurch der Gestaltungsrahmen für den Verordnungsgeber abgesteckt. Mit der Gesetzesänderung werden allerdings noch keine inhaltlichen Entscheidungen im Einzelnen getrof- fen. Ich möchte deshalb nur kurz auf die wesentlichen Er- weiterungen der gesetzlichen Verordnungsermächtigun- gen im Energieeinsparungsgesetz eingehen. Es geht vor allem um die Schaffung der Grundlagen für folgende Maßnahmen: die Außerbetriebnahme von Nachtstrom- speicherheizungen; Regelungen zur Stärkung des Voll- zugs der Energieeinsparverordnung, insbesondere die Einführung privater Nachweispflichten wie etwa Fachun- ternehmer- und Eigentümererklärungen und ihre Vorlage bei Behörden; das Tätigwerden des Bezirksschornstein- fegermeisters bei der Überwachung energieeinsparrecht- licher Anforderungen an haustechnische Anlagen; Har- monisierungen bei den Bußgeldvorschriften. Klimaschutz und Energieeinsparung haben für die Bundesregierung hohe Priorität Wir wollen die hierfür erforderlichen Maßnahmen gemeinsam und im Konsens mit den Bürgerinnen und Bürgern ergreifen. So stehen alle Regelungen des Energieeinsparrechts des Bundes unter dem Grundsatz der wirtschaftlichen Vertretbarkeit Im Rahmen des Integrierten Energie- und Klimapro- gramms setzt die Bundesregierung im Gebäudebereich auf einen notwendigen Instrumentenmix. Energieeinspa- rungsgesetz und Energieeinsparverordnung, also das Ordnungsrecht, sind ein zentraler Bestandteil dieses In- strumentenbündels. Nicht weniger wichtig ist das CO2- Gebäudesanierungsprogramm, also die Förderung von Investitionen zum Einsparen von Energie im Gebäude- bestand. In diesem Jahr führte die sehr erfreuliche Inanspruch- nahme des Programms dazu, dass die für 2008 zur Ver- fügung stehenden Haushaltsmittel bereits Ende Juli aus- geschöpft waren. Die Bundesregierung hat im Wege einer überplanmäßigen Verpflichtungsermächtigung durch Umschichtung von Mitteln aus den Folgejahren, 2010/ 2011, kurzfristige Mittel in Höhe von 500 Millionen Euro bereitgestellt. Dies ermöglicht die Fortführung des Programms. Die Maßnahmen der Bundesregierung sind unerläss- lich, wenn wir beim Klimaschutz vorankommen wollen. Dies ist nicht nur wirtschaftlich für die Eigentümer, son- dern zudem auch gut für unsere Bauwirtschaft zur Siche- rung der Arbeitsplätze in Deutschland. Mit dem Ihnen heute vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des Energieeinsparungsgesetzes legen wir den Grundstein für die Umsetzung der Meseberger Be- schlüsse zum Integrierten Energie- und Klimaprogramm im Gebäudebereich. Ich möchte Sie schon heute um eine breite Unterstützung und eine zügige Beratung dieser Vorlage bitten. Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Ersten Geset- zes zur Änderung des Gesetzes gegen den un- lauteren Wettbewerb (Tagesordnungspunkt 23) Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Bislang zeichnet sich in der Europäischen Union im Wettbewerbsrecht ein sehr uneinheitliches Bild aus. Was unter unlauteren Geschäftspraktiken verstanden wird, ist in den einzelnen Mitgliedstaaten sehr unter- schiedlich. Die Probleme, die sich hier auftun, liegen auf der Hand: Es kommt innerhalb der EU zu deutlichen Wett- bewerbsverzerrungen. Die Leidtragenden einer solchen Situation sind in ers- ter Linie die Verbraucher. Viele Menschen können nicht nachvollziehen, warum für sie in anderen europäischen Ländern jeweils andere Regelungen gelten sollen. Ein europäischer Mindestschutz vor irreführender Werbung ist notwendig. Und mehr sieht die Richtlinie auch nicht vor. Falls der nationale Gesetzgeber Bestimmungen geschaffen hat, die über diesen Mindeststandard hinaus- gehen, kann er diese aufrechterhalten. Dies tut die Bun- desregierung auch mit ihrem Gesetzentwurf zur Richtli- nienumsetzung. Es wird also durch die Richtlinie keinen Abbau von Verbraucherrechten geben, sondern es wird ein Mehr an Verbraucherrechten geben. Ob allerdings gleich das Vertrauen der Verbraucher in den gesamten Binnenmarkt durch die unterschiedliche Handhabung von unlauteren Geschäftspraktiken in Eu- ropa untergraben wird, wie es die Richtlinie in ihren Er- wägungsgründen formuliert, wage ich zu bezweifeln. Bei allen berechtigten Harmonisierungsbedürfnissen sollte man die Ziele der Richtlinie auch nicht zu hoch- hängen und sich nicht in ein falsches EU-Gesetzge- bungspathos hineinsteigern. War nach der Begründung im Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums noch vorgesehen, eine mög- lichst schlanke Umsetzung der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäfts- verkehr zwischen Unternehmern und Verbrauchern in das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vorzuneh- men, hat man sich jetzt doch dazu entschlossen, weite Teile der Richtlinie wörtlich zu übernehmen. Die Bedenken des Bundesrates dagegen sind nicht ganz von der Hand zu weisen. Das Gesetz gegen den un- lauteren Wettbewerb wurde erst 2004 einer Generalüber- holung unterzogen. Nur vier Jahre später müssen das UWG und seine Anwender schon wieder einen größeren Eingriff des Gesetzgebers verkraften. Einen solch weitreichenden Eingriff erfährt das UWG durch die Ersetzung des zentralen Begriffs „Wettbe- werbshandlung“ durch den der „geschäftlichen Hand- lung“. Die Einführung neuer Begriffe bringt in der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19223 (A) (C) (B) (D) Rechtsetzung immer ein großes Maß an Gefahr mit sich, da eine gefestigte Rechtsprechung infrage gestellt wird. Dennoch teile ich die Bedenken nicht. Schließlich geht es bei der Begriffsumwandlung nicht um eine in- haltliche Neubestimmung. Die Umformulierung wird nur vorgenommen, um sich an den Text der Richtlinie anzupassen, der eben von einer geschäftsähnlichen Handlung spricht und nicht von einer Wettbewerbshand- lung. Das ist im Ergebnis nachvollziehbar und rechtspo- litisch vertretbar. Es gibt jedoch auch Punkte in der Novellierung zum Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, die sich leider nicht an der Richtlinie orientieren. Dazu gehört auch die im Gesetzentwurf aufgenommene Vorschrift zur uner- laubten Telefonwerbung. § 7 Abs. 2 Nr. 2 UWG-E sieht nun vor, dass Telefon- werbung verboten werden soll, wenn der Verbraucher dazu nicht seine ausdrückliche Einwilligung erteilt hat. Das ist zwar in der Sache begrüßenswert, aber kein gutes Beispiel systematischer Gesetzgebungsarbeit. Denn dies greift einem zeitlich fast parallelen Gesetz vor, welches erst letzten Freitag durch den Bundesrat gegangen ist. Es handelt sich dabei um den Gesetzentwurf zur Bekämp- fung unerlaubter Telefonwerbung und zur Verbesserung des Verbraucherschutzes bei besonderen Vertriebsfor- men. In diesem Zusammenhang wird auch eine Ände- rung des § 7 Abs. 2 Nr. 2 UWG vorgeschlagen, wobei die Ansichten von Bundesregierung und Bundesrat aus- einandergehen. Bislang wurde diese Vorschrift von den Gerichten so ausgelegt, dass eine Einwilligung schon dann angenom- men wird, wenn sie durch schlüssiges Verhalten des Ver- brauchers erfolgt. Hier hat sich eine Missbrauchslücke aufgetan, die mit dem Gesetzentwurf gegen unerlaubte Telefonwerbung geschlossen werden soll. Während der Bund vorschlägt, eine konkludente Einwilligung nicht mehr ausreichen zu lassen, sondern eine ausdrückliche Einwilligung bei einem Werbeanruf vorliegen muss, schlagen die Länder einen anderen Weg vor. Sie wollen sogar ein schriftliches Einverständnis des Verbrauchers voraussetzen, damit ein Unternehmen bei einem poten- tiellen Kunden für seine Waren oder Dienstleistungen werben kann. Der § 7 UWG ist durchaus für das Gesetzesvorhaben gegen unerlaubte Telefonwerbung zentral. Daher halte ich es nicht für besonders glücklich, ihn in diesem Ge- setzentwurf, der nur der Richtlinienanpassung dient, be- reits einzufügen bzw. zu ändern und damit auf das bevorstehende Gesetzgebungsverfahren gegen Telefon- werbung vorzugreifen. Wir sind im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages gut beraten, beide Gesetzesvor- schläge gemeinsam zu beraten. Wenn sich Bundesregie- rung und Bundesrat in dieser Frage nicht einigen kön- nen, werden wir das gerne im Bundestag für beide Seiten übernehmen! Verhindern werden wir auf jeden Fall das groteske Er- gebnis, dass der § 7 Abs. 2 UWG innerhalb kürzester Zeit zweimal geärgert werden würde. Die Halbwertszeit unserer Gesetze darf sich nicht in Wochen bemessen! Gerade das UWG sollte man nicht im Monatstakt ei- ner Novellierung unterziehen. Und wir kommen bei der unerlaubten Telefonwerbung ohnehin nicht darum he- rum, bald wiederum Änderungen am UWG vorzuneh- men, da die neuen Bußgeldvorschriften ebenfalls einer Regelung, bedürfen. Daher lautet meine Devise: Machen wir aus der Telefonwerbung im UWG keine Dauerbau- stelle, sondern lassen Sie uns ganz zügig alle Aspekte dieses Themas gemeinsam beraten und im Interesse der Verbraucher und ihrer Rechtssicherheit rasch etwas aus einem Guss beschließen. Noch in einem anderen Punkt weicht der Entwurf der Bundesregierung zum Umsetzungsgesetz von der EU- Richtlinie ab. Dies betrifft den Anhang zum § 3 Abs. 3 UWG, in dem es um geschäftliche Handlungen geht, die stets unzulässig sind. Er spricht mit Sicherheit einiges für die Ansicht der Bundesregierung, dass die Neuordnung des Kataloges in sich schlüssig ist. Das will auch niemand in Abrede stel- len, gleichwohl aber ist das Argument des Bundesrates ernst zu nehmen. Hält man sich hier an die Nummern- folge der Richtlinie, erhöht man die Vergleichbarkeit na- tionaler Vorschriften mit dem vorgegebenen Richtlinien- text. Dies sorgt sicherlich für mehr Transparenz, da der Bürger vergleichen kann, wie die Umsetzung ins natio- nale Recht erfolgt ist Daher kann ich der Forderung des Bundesrates einiges an Sympathie abgewinnen und halte sie für durchaus erwägenswert. Insgesamt bleibt abschließend festzuhalten, dass die Bundesregierung einen sehr ordentlichen Gesetzentwurf vorgelegt hat. Er bewegt sich dicht am Richtlinientext und erfüllt daher fast vollständig unser politisches Ziel einer Eins-zu-eins-Umsetzung. An der einen oder ande- ren Stelle mögen wir ihn noch zu verbessern haben. Aber mit etwas guten Willen auf allen Seiten des Hauses werden wir zügig zum Abschluss kommen können. Dirk Manzewski (SPD): Wir debattieren hier heute in erster Lesung die UWG-Novelle. Mit diesem Gesetz setzen wir nicht nur die entsprechende EU-Richtlinie endgültig um. Wir bauen auch weiter das hohe Verbrau- cherschutzniveau im Wettbewerbsrecht weiter aus und führen damit die Politik der letzten Reform des UWG aus dem Jahre 2004 fort. Bei dieser Reform im Jahre 2004 hatten wir schon im Vorgriff auf die damals noch zu erwartende EU-Richtlinie bereits viel von dem umge- setzt, was sich dann letztendlich in der EU-Richtlinie auch wiedergefunden hat. Insofern ist der Umsetzungs- bedarf bei uns nicht mehr so hoch, was es leichter macht, da die Richtlinie den nationalen Parlamenten bei der Umsetzung kaum noch Spielraum lässt. Durch das jetzt hier diskutierte Gesetz wird deshalb aber nicht nur ein weiterer wichtiger Beitrag zur Stärkung des europäi- schen Binnenmarkts geleistet. Vor allem den Verbrau- cherinnen und Verbrauchern wird hierdurch mehr Rechtssicherheit gegeben. Stärkung des europäischen Binnenmarktes und der Verbraucherrechte, das passt hier beides zusammen, und das ist so, weil die Verbraucher den europäischen Bin- nenmarkt nur noch verstärkter annehmen werden, wenn 19224 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 (A) (C) (B) (D) sie keine Angst mehr vor ihm haben. Diese Angst wer- den wir ihnen nur nehmen, wenn es uns gelingt hier Rechtssicherheit schaffen. Die UWG-Novelle leistet hierzu einen wesentlichen Beitrag, da sie zu dieser Rechtssicherheit vor allem durch Rechtsvereinheitli- chung beitragen wird. Das heißt letztendlich, dass die Verbraucher einerseits im Ausland oder auf einer auslän- dischen Webseite die Vorteile des europäischen Binnen- marktes nutzen können, wie ein größeres Produktange- bot oder niedrigere Preise, andererseits dort ebenso vor unlauteren geschäftlichen Handlungen und betrügeri- schen Unternehmen geschützt werden wie bei Käufen im Inland. Ich finde es deshalb richtig, dass das UWG um eine sogenannte schwarze Liste ergänzt wird, also um ei- nen Anhang mit 30 irreführenden und aggressiven ge- schäftlichen Handlungen, die unter allen Umständen verboten sind. Dies wird dem Verbraucher nicht nur die Durchsetzung seiner Rechte erleichtern. Es wird auch zu einer größeren Transparenz darüber führen, welches Ver- halten ihm gegenüber erlaubt ist und welches eben nicht. Wir müssen uns allerdings darüber im Klaren sein, dass es gleichwohl Sachverhalte geben wird, die diese Handlungen zumindest in ihrem genauen Wortlaut so nicht umfassen werden und auch ein Problem darin liegt, dass bestimmte Verhalten nun zunächst immer gleich un- lauter sein werden und unsere Rechtsprechung gefordert sein wird, durch die Frage nach der Erheblichkeit des Verstoßes durch dieses Verhalten korrigierend und aus- füllend tätig zu sein. Gut ist auch, dass das UWG künftig ausdrücklich auch für das Verhalten der Unternehmen während und nach Vertragsschluss gilt. Macht zum Beispiel der Ver- braucher gegenüber einem Versicherungsunternehmen mehrfach schriftlich einen Anspruch geltend und wird auf dieses Schreiben systematisch nicht geantwortet, um den Verbraucher von der Ausübung seiner Rechte abzu- halten, so ist dieses Verhalten unzulässig. Zu begrüßen ist zudem, dass Unternehmen Verbrau- chern solche Informationen nicht vorenthalten dürfen, die sie für ihre wirtschaftliche Entscheidung benötigen. Wird zum Beispiel etwas verkauft, dessen Einbau, Ein- pflanzung oder Nutzung in Deutschland verboten ist, und wurde hierüber nicht entsprechend informiert, so ist dieses Verhalten unlauter. Ehrlicherweise muss darauf hingewiesen werden, dass aufgrund unseres vorzüglichen Lauterkeitsrechts vieles von dem, was ich eben angeführt habe, bereits Eingang in unsere Rechtsprechung gefunden hat und in Deutschland auch dementsprechend bereits so gehand- habt wird. Die Vorteile liegen daher insoweit eher in Klarstellungen und eben in den Anpassungen der EU- Richtlinie im Ausland. Wir werden jedenfalls zügig an das Gesetzgebungs- verfahren herangehen. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich hieran konstruktiv beteiligen würden. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Erst vier Jahre ist es her, dass die Neufassung des Geset- zes gegen den unlauteren Wettbewerb, UWG, mit dem Ziel einer Deregulierung und europaverträglichen Re- form des Lauterkeitsrechts beschlossen wurde. Seit ei- nem Monat liegt der Gesetzentwurf der Bundesregierung vor. In der umzusetzenden Richtlinie – RL 2005/29/ EG – ist vorgesehen, dass diese bis zum 12. Juni 2007 umzusetzen war. Dass der Gesetzentwurf dem Deut- schen Bundestag endlich vorliegt, ist erfreulich; denn die Regelungen zum UWG betreffen alle Bürgerinnen und Bürger, die am Wettbewerb in unserer Gesellschaft teil- nehmen, angefangen bei Zeitungswerbung bis zu Ver- steigerungen bei ebay. Der Zweck der genannten Richtlinie besteht in der Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über unlautere Geschäftspraktiken. Beim Einkauf im europäischen Ausland werden Ver- braucher endlich ebenso geschützt wie im Inland; der einheitliche europäische Binnenmarkt rückt dadurch wieder ein Stück näher. Die Richtlinie gilt für alle Ge- schäftspraktiken, die Unternehmen mit Verbrauchern tä- tigen, nicht jedoch für Geschäftspraktiken zwischen zwei Unternehmen. Das bisherige deutsche UWG kennt einen weiteren Anwendungsbereich, in dem auch Mitbe- werber, sonstige Marktteilnehmer sowie das Interesse der Allgemeinheit an einem unverfälschten Wettbewerb geschützt werden. Dieser Schutzbereich hat sich bewährt und bleibt zu Recht erhalten. Die deutlichste Änderung stellt die Einführung der sogenannten schwarzen Liste dar. Durch sie werden Tat- bestände, die unter allen Umständen als unlauter einzu- stufen sind, in einem Anhang zum UWG-E aufgezählt. Problematisch erscheint nur die Nr. 28 dieses Anhangs, in der auf den Begriff „Kinder“ Bezug genommen wird. Welche Altersgruppe unter diesen Begriff fällt, lassen das Gesetz und auch die Richtlinie offen. Es ist deshalb notwendig, dass der Gesetzgeber der Wirtschaft eine De- finition des Begriffs Kinder an die Hand gibt, die eine nachvollziehbare Altersangabe enthält. Der Verweis in der Gesetzesbegründung, dass die Definition der Recht- sprechung überlassen bleiben soll, ist nicht ausreichend. Zu groß wäre das Risiko unlauteren Verhaltens für alle Wettbewerbsteilnehmer. Ein zweiter Punkt, den die FDP für verbesserungs- würdig hält, sind die Informationspflichten. Nach § 5 a Abs. 3 UWG-E zählen dazu unter anderem die wesentli- chen Merkmale der Ware, die Identität des Unterneh- mers, der Endpreis und die Zahlungs- und Lieferbedin- gungen. Im Interesse der Verbraucher sind diese Angaben grundsätzlich zu unterstützen. Der Gesetzent- wurf verweist aber darüber hinaus allgemein auf die im gesamten Gemeinschaftsrecht festgelegten Informa- tionsanforderungen in Zusammenhang mit kommerzieller Kommunikation. Diese vorgeschlagene Regelung birgt für die deutsche Wirtschaft eine große Rechtsunsicher- heit. Insbesondere kleine und mittelständische Unterneh- men werden mit dieser Regelung stark belastet; denn für den Rechtsanwender ist in keiner Weise erkennbar, wel- che Richtlinien mit der Formulierung gemeint sind. Ich stelle mir allen Ernstes die Frage, wer alle diese europa- rechtlichen Informationsanforderungen kennt. Die dem Gesetzentwurf zugrunde liegende Richtlinie enthält in ihrem Anhang zumindest eine, wenn auch nicht ab- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19225 (A) (C) (B) (D) schließende, Aufzählung. Über eine solche Aufzählung sollte auch im deutschen Recht nachgedacht werden, wobei nur eine vollständige Aufzählung den Unterneh- men wirklich helfen würde. Sollte der Gesetzgeber dazu nicht in der Lage sein, ist es bedenklich, die Rechtsunsi- cherheit den Unternehmen aufzubürden. In der Geset- zesbegründung wird darauf verwiesen, die Einzelheiten würden sich durch die Rechtsprechung und deren Ausle- gung der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsakte ergeben. Das ist nach Auffassung der FDP-Fraktion nicht ausrei- chend. Gesetze sollten dann abstrakt sein, wenn Einzel- falllösungen in der Praxis besser gefunden werden kön- nen. Der Praxis wäre aber in diesem Fall besser geholfen, wenn sie wüsste, was sie künftig unter Kosten- risiko unterlassen soll und was nicht. Im Gegensatz zum Referentenentwurf hat der vorlie- gende Gesetzentwurf zahlreiche Änderungen erfahren. Insgesamt ist der Wortlaut des Gesetzentwurfes viel nä- her an den Richtlinientext angepasst worden. Von der grundsätzlich richtigen Idee einer möglichst schlanken Umsetzung hat sich die Bundesregierung damit bedauer- licherweise ein großes Stück entfernt. So wird der zen- trale Begriff der Wettbewerbshandlung durch den Be- griff der geschäftlichen Handlung ersetzt. Der An- wendungsbereich des UWG würde sich dadurch be- trächtlich vergrößern. Was das für die Praxis bedeuten würde, wird noch in einer Expertenanhörung geklärt werden müssen. Dass sich mit diesem Gesetzentwurf nun endlich auch etwas in dem Bereich Telefonwerbung bewegt, wird von der FDP-Bundestagsfraktion unterstützt. Die FDP-Bun- destagsfraktion hat zu diesem Thema bereits im März 2008 mit einem eigenen Antrag – Bundestagsdrucksache 16/8544 – Stellung bezogen. Darin macht die FDP-Frak- tion klar, dass es zur Lösung des Problems mehr bedarf als einer Änderung im UWG. Dazu zählt die Verpflich- tung zur Rufnummernanzeige, die Verwendung einer einheitlichen Vorwahl zur Identifizierung, die Auswei- tung des Widerrufsrechts und die Verpflichtung neuer Telekommunikationsanbieter, dem bisherigen Telekom- munikationsanbieter den Nachweis einer Kündigung bzw. Bevollmächtigung zur Kündigung vorzulegen. Von Verbraucherschutzseite werden weitere Forde- rungen vorgetragen, die in das vorliegende Gesetzesvor- haben aufgenommen werden sollen. Dazu zählt unter an- derem die Ausdehnung der Gewinnabschöpfung. Das im UWG für die Gewinnabschöpfung vorgesehene Vor- satzerfordernis sollte beibehalten werden. Die Gewinn- abschöpfung stellt eine Ausnahme im deutschen Recht dar; denn mit dieser Norm erhält das Zivilrecht eine quasi strafende Funktion. Aus diesem Grunde müssen auf der Tatbestandsebene strenge Maßstäbe angelegt werden. Ulla Lötzer (DIE LINKE): Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird sich der Verbraucherschutz in Deutschland verbessern. Dies ist jedoch nicht der Erfolg einer guten Verbraucherschutzpolitik der Bundesregie- rung. Ganz im Gegenteil. Bereits im Juni 2007 hätte die EU-Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt sein müs- sen. Über ein Jahr sind Sie zu spät, Herr Glos, und dann nutzen Sie nicht einmal die Ermessensspielräume, die die Richtlinie zugunsten der Verbraucherinnen und Ver- braucher einräumt. Ja sogar die zwingenden Vorgaben der Richtlinie werden mit diesem Gesetzentwurf nicht erfüllt. Die Richtlinie sieht eindeutig vor, dass die Mitglied- staaten sicherstellen, dass geeignete und wirksame Mit- tel zur Bekämpfung unlauterer geschäftlicher Handlun- gen zu Verfügung stehen müssen. Die Erfahrungen haben eindeutig gezeigt, dass die derzeitigen rechtlichen Regelungen in Deutschland zahnlos sind und die irrefüh- renden und betrügerischen Geschäftspraktiken von Un- ternehmen nicht wirksam bekämpfen können. Solange den Unternehmen kein wirtschaftlicher Schaden droht, wenn sie die Kunden irreführen und betrügen, so lange wird sich an ihren Methoden nichts ändern – das liegt doch auf der Hand. Das Erste wäre deshalb, den Unternehmen ihren Ge- winn, den sie durch solche sittenwidrige Praktiken er- zielt haben, zu entziehen. Doch auch nach der Novelle bleibt die Beweislast bei den Verbraucherschutzverbän- den. Sie müssen weiterhin nachweisen, dass die Unter- nehmen vorsätzlich gehandelt haben. Beweisen Sie das mal! Bisher kommen die Unternehmen jedenfalls in der Regel vor den Gerichten ganz gut damit durch, dass sie sich darauf berufen, dass es sich um einen Irrtum, ein Missverständnis oder bloße Fahrlässigkeit gehandelt habe. Das heißt, sie dürfen die Gewinne aus ihren unlau- teren Praktiken behalten. Das wirkt doch geradezu wie ein Anreiz, damit weiterzumachen. Selbst wenn ein Verbraucherverband eine Unterlas- sungsklage gewinnt, bewirkt dies nur, dass dieses eine Unternehmen seine irreführende Werbung in genau der- selben Form nicht mehr weiterführen darf. Ändert dieses Unternehmen seine Werbung nur ein kleines bisschen, muss eine erneute Unterlassungsklage eingereicht wer- den. Andere Unternehmen sind von dem Gerichtsurteil gar nicht betroffen. Dass dieVerbraucherverbände im diesem „Hase und Igel“-Spiel nur der Igel sein können, liegt auf der Hand. Außerdem wirkt die Unterlassungs- klage nur in die Zukunft. Das heißt, Verträge, die in der Vergangenheit geschlossen wurden, bleiben bestehen, mit allen Pflichten für den Kunden, auch wenn er belo- gen und in die Irre geführt wurde. Und daran ändern Sie nichts. Zur Telefonwerbung. Das ist ein wirklich großes Är- gernis, das schon viele Menschen teuer zu stehen ge- kommen ist. Besonders ältere Menschen sind solchen Praktiken oft hilflos ausgeliefert. Hier führen Sie zwar Verbesserungen ein. Aber das einfache Mittel, das end- lich die Abzocke über Telefon stoppen würde, ergreifen Sie wieder nicht. Wir fordern – übrigens gemeinsam mit Verbraucherschutzverbänden und der Verbraucher- schutzministerkonferenz –, dass ein Vertrag, der am Te- lefon scheinbar abgeschlossen worden ist, erst dann wirksam ist, wenn der Kunde ihn schriftlich bestätigt. Die EU-Richtlinie hat zum Ziel, den Schutz für Ver- braucherinnen und Verbraucher zu stärken; Sie schützen mit Ihrem Gesetzentwurf soweit wie möglich die Unter- 19226 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 (A) (C) (B) (D) nehmen vor den Verbrauchern. Da ist der Titel des Ge- setzes Programm. Eigentlich müsste es „Gesetz gegen unlautere Geschäftspraktiken“ heißen und im Verbrau- cherministerium angesiedelt sein. Dann gäbe es viel- leicht eine größere Chance, dass der dringend notwen- dige Schutz der Verbraucherinnen vor aggressiven, irreführenden und betrügerischen Geschäftspraktiken besser umgesetzt würde. Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heute steht erneut eine Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb zur Debatte. Mit dieser Re- form soll die EU-Richtlinie über unlautere Geschäfts- praktiken umgesetzt werden. Verbraucherinnen und Ver- braucher sollen damit besser vor unlauterem Verhalten von Unternehmen geschützt werden. Das begrüßen wir ausdrücklich. Bereits bei der Reform des Gesetzes gegen unlauteren Wettbewerb aus dem Jahr 2004 hat die grüne Bundestagsfraktion maßgeblich zu einem verbesserten Verbraucherschutz beigetragen. Erstmalig sind durch die damalige Reform Vorschriften zum Schutz der Verbrau- cherinnen und Verbraucher in das UWG aufgenommen worden. Die jetzt von der Bundesregierung vorgeschlagenen Änderungen des Gesetzes gehen uns aber nicht weit ge- nug. Defizite sehen wir vor allem bei den Sanktionsmög- lichkeiten gemäß Art. 13 der EU-Richtlinie. Denn nach wie vor kann die Möglichkeit zur Gewinnabschöpfung nicht effektiv umgesetzt werden. Es können zwar Ge- winne von Unternehmen abgeschöpft werden, die durch unlauteres Verhalten erlangt wurden. Aber dazu muss den Unternehmen zunächst nachgewiesen werden, dass sie auch vorsätzlich gehandelt haben. Das ist in der Pra- xis kaum realisierbar. Der Nachweis einer „grob fahrläs- sigen Zuwiderhandlung“ der Unternehmen muss deshalb ausreichen, um Gewinne abschöpfen zu können. Darü- ber hinaus sind Verbraucherinnen und Verbraucher noch immer nicht effektiv gegen untergeschobene Verträge und Abzocke am Telefon geschützt. Hier schafft auch der von der Bundesregierung lange verschleppte und im Juli 2008 endlich vorgelegte Gesetzentwurf zur Be- kämpfung unerlaubter Telefonwerbung keine Abhilfe. Vielmehr sind wirksame Sanktionen gegen rechtswidrig vorgehende Unternehmen erforderlich. Bündnis 90/Die Grünen fordern deshalb schon lange eine schriftliche Be- stätigung von Verträgen, die vermeintlich am Telefon abgeschlossen wurden, damit niemand einen Vertrag un- tergeschoben bekommt, den er gar nicht haben wollte. Also: Ohne Unterschrift kein Vertrag – das ist einfach und schützt die Verbraucherinnen und Verbraucher ef- fektiv vor Abzocke. Ein weiterer Kritikpunkt am vorliegenden Entwurf ist, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher keinen Anspruch darauf haben, dass sie sich von Verträgen, die durch wettbewerbswidriges Verhalten zustande kamen, auch wieder lösen können. Wir fordern deshalb ein Recht auf Vertragsauflösung nach festgestellter Wettbe- werbswidrigkeit. Wir stehen für eine Reform des unlauteren Wettbe- werbsrechts ein. Aber die Reform muss für die deut- schen Verbraucherinnen und Verbraucher auch einen verbesserten Schutz gegen unlautere Geschäftspraktiken bieten. Deshalb setzten wir uns im weiteren parlamenta- rischen Verfahren dafür ein, dass weitergehende Schutz- vorschriften in das Gesetz aufgenommen werden. Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister der Justiz: Das deutsche Lauterkeitsrecht wird zunehmend von europäischen Einflüssen geprägt. Deshalb ist auch das Gesetz gegen den unlauteren Wett- bewerb – UWG – vor vier Jahren grundlegend reformiert worden. Dies geschah bereits in Erwartung der Richtli- nie des Europäischen Parlaments und des Rates über un- lautere Geschäftspraktiken, die am 11. Mai 2005 dann auch erlassen worden ist. In zahlreichen Punkten ist die Richtlinie komplexer und detaillierter ausgefallen als erwartet. Dies muss nun durch eine weitere Novellierung des UWG nachvollzo- gen werden. Es geht hier nicht um grundlegende Ände- rungen, wohl aber um zahlreiche Neuerungen im Detail. Unser Ziel bleibt es, keine unnötige Bürokratie zu schaffen. Auf der anderen Seite bedarf es aber einer voll- ständigen und transparenten Umsetzung. Die Richtlinie sieht eine vollständige Rechtsangleichung – eine soge- nannte Vollharmonisierung – der innerstaatlichen Rechts- ordnungen in der Europäischen Union vor, soweit es um den Schutz der Verbraucher vor unlauterem Verhalten von Unternehmen geht. II. Um der Systematik des deutschen Rechts gegen den unlauteren Wettbewerb Rechnung zu tragen, macht der Gesetzentwurf von einer wichtigen Gestaltungsmöglich- keit Gebrauch, die sich aus dem beschränkten Anwen- dungsbereich der Richtlinie ergibt. Diese ist nämlich auf das Verhältnis der Unternehmen zu Verbrauchern – busi- ness to consumer oder B to C bzw. B2C – beschränkt, während in Deutschland von jeher eine ganzheitliche Betrachtungsweise maßgebend war. Nach unserem Ver- ständnis sind marktbezogene Lauterkeitsstandards im Allgemeinen unteilbar, das heißt sie gelten auch für den Mitbewerberschutz, business to business oder B to B bzw. B2B. Dass das Wettbewerbsgeschehen insgesamt „lauter“ zu sein hat, ist eine gute Tradition des UWG, die wir beibehalten wollen. Aus Sicht der Bundesregierung wäre es sogar wün- schenswert gewesen, wenn das Lauterkeitsrecht europa- weit für Verbraucher und Mitbewerber harmonisiert worden wäre. Diesem Anliegen, das Deutschland schon seit Jahrzehnten verfolgt, hat sich die Europäische Kom- mission leider stets verschlossen. Wir können es jedenfalls besser. Deshalb wird die be- währte „Schutzzwecktrias“ des UWG, die dem Schutz der Mitbewerber, der Verbraucher und auch bestimmter Allgemeininteressen dient, beibehalten. Dass das UWG weiterhin sowohl für B to B als auch für B to C gilt, schließt Differenzierungen im Einzelfall nicht aus. Be- stimmte Vorschriften, die im Interesse des Verbraucher- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19227 (A) (C) (B) (D) schutzes besonders streng ausgefallen sind, kommen ge- genüber Geschäftsleuten nicht zur Anwendung. III. Was aber bringt die Umsetzung der Richtlinie für den Verbraucherschutz? Ich meine, wir leisten mit dieser Umsetzung nicht nur einen Beitrag zur Stärkung des europäischen Binnen- markts, sondern verbessern auch den Verbraucherschutz. Ein Vorteil für Verbraucher liegt darin, dass sie nun- mehr beim Einkauf im Ausland – sei es in einem Geschäft oder beim Einkauf über eine ausländische Website – vor unlauteren geschäftlichen Handlungen und betrügeri- schen Unternehmern genauso wie im Inland geschützt werden. Das wird ihr Vertrauen in grenzüberschreitende Transaktionen stärken und ihnen damit eine bessere Nut- zung der Vorteile des Binnenmarkts – wie ein größeres Produktangebot und niedrigere Preise – ermöglichen. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass das UWG den Verbraucher künftig auch gegen unlautere geschäftliche Handlungen während und nach Vertragsschluss schützt, ohne dass hiervon allerdings das deutsche Vertragsrecht betroffen wäre. Verbraucherinnen und Verbraucher wer- den nun beispielsweise davor geschützt, dass Schreiben, mit denen sie ihre Forderungen gegenüber Versicherun- gen geltend machen, systematisch nicht beantwortet werden, um so die Geltendmachung ihrer Rechte fak- tisch zu verhindern. Ferner wird ausdrücklich festgeschrieben, dass dem Verbraucher solche Informationen nicht vorenthalten werden dürfen, die dieser für eine geschäftliche Entschei- dung benötigt. Hier geht es um das Thema „Irreführung durch Unterlassen“. Ein Katalog von Informationsanfor- derungen schafft zukünftig Transparenz und Rechtssi- cherheit. Darüber hinaus wird das UWG um eine „schwarze Liste“ mit 30 irreführenden und aggressiven geschäftli- chen Handlungen ergänzt, die unter allen Umständen verboten sind. Diese absoluten Verbote werden es dem Verbraucher erleichtern, seine Rechte zu erkennen und zu verteidigen. Denn bislang waren zahlreiche Fallgrup- pen nur durch die Rechtsprechung als unlauter eingestuft worden. Diese einschneidenden Verbote bleiben aber auf geschäftliche Handlungen gegenüber Verbrauchern be- schränkt. Geschäftliche Handlungen, die nicht von der „schwar- zen Liste“ erfasst werden, unterliegen dem allgemeinen Lauterkeitsgebot und müssen sich vor allem auch an der Generalklausel des UWG messen lassen. Weitere Verbesserungen des Verbraucherschutzes ent- hält der Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung uner- laubter Telefonwerbung und zur Verbesserung des Ver- braucherschutzes bei besonderen Vertriebsformen, den das Bundeskabinett am 30. Juli 2008 beschlossen hat. Dort geht es allerdings nicht um die Umsetzung dieser Richtlinie. Die europaweite Vereinheitlichung des Lauterkeits- rechts macht sich auch für die Unternehmer bezahlt. Denn aufgrund des EU-weit einheitlichen Rechtsrah- mens können sie nun mit ein und demselben Marketing- konzept, durch das sie bisher Kunden in ihrem Her- kunftsland angesprochen haben, gleich 450 Millionen Verbraucher in der gesamten EU erreichen. Lassen Sie mich abschließend zusammenfassen, wo- rum es bei der Richtlinie und ihrer Umsetzung im Kern geht In erster Linie geht es darum, für alle 27 Mitglied- staaten einen einheitlichen Rechtsrahmen zu schaffen. Nationale Traditionen können dabei naturgemäß nicht in vollem Umfang aufrechterhalten bleiben. Die bei uns zur Umsetzung erlassenen Vorschriften sind die Richtschnur für die Rechtsanwendung in Deutschland. Es müssen sich aber auch Verbraucher und Mitbewerber anderer Mitgliedstaaten, die bezogen auf das hiesige Wettbe- werbsgeschehen geschäftliche Handlungen vornehmen oder von ihnen betroffen sind, an diesem Gesetz orien- tieren und es beachten. In diesem Sinne soll das novel- lierte UWG in der gesamten EU als richtlinienkonforme Umsetzung europäischen Rechts wahrgenommen und respektiert werden. Anlage 15 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Neufas-sung des Raumordnungsgesetzes und zur Änderung anderer Vorschriften (GeROG) (Tagesordnungspunkt 27) Enak Ferlemann (CDU/CSU): Mit der Föderalis- musreform I ist die Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes zur Raumordnung ganz entfallen. Die Raumordnung fällt jetzt in die konkurrierende Gesetzge- bung. Das alte, aufgrund der Rahmengesetzgebung erlas- sene Raumordnungsgesetz kann nicht mehr auf Dauer weiter gelten. Ich bin der Bundesregierung daher für ihr Bemühen sehr dankbar, das parlamentarische Verfahren mit der Vorlage der Neufassung des Raumordnungsge- setzes nun in Gang gesetzt zu haben. Das Ziel der Regierungskoalition ist, das Gesetz zü- gig und konstruktiv zu beraten, damit es zum Jahres- wechsel 2008/2009 verkündet werden und noch in dieser Legislaturperiode in Kraft treten kann. Auf Grund der verfassungsrechtlichen Lage hat der Bund nunmehr die Kompetenz, die Raumordnung in den Ländern umfassend zu regeln. Allerdings sollen durch bundesrechtliche Vollregelungen nur die Bereiche der Raumordnung geregelt werden, in denen eine bundes- einheitliche Regelung aus fachlichen Gründen angezeigt ist. Ansonsten soll gesetzgeberische Zurückhaltung zu- gunsten des Landesrechts geübt werden. Gesetzestechnisch betreten wir also Neuland. Denn die Raumordnung wird in den neu geschaffenen Kompe- tenztyp der umfassenden Bundesgesetzgebung mit Ab- weichungsmöglichkeiten der Länder überführt. Meiner Fraktion ist es wichtig, eine Balance zwischen der Rege- 19228 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 (A) (C) (B) (D) lung weitgehender bundeseinheitlicher Standards und der gesetzgeberischen Zurückhaltung des Bundes hin- sichtlich landesspezifischer Besonderheiten zu finden. Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Beteiligten aufseiten des Bundes, dass mit den Ländern im Vorfeld intensiv zusammengearbeitet worden ist und einige An- liegen der Länder nach der Vorstellung des Entwurfs im Frühjahr noch aufgegriffen worden sind. Wenn die Län- der wenig Anlass haben, ihren Spielraum für ergänzen- des Landesrecht zu nutzen, haben wir das Ziel, eine bundesweite Rechtseinheit im Raumordnungsrecht zu schaffen, erreicht. Ich bin daher froh über das Signal der Länder, grund- sätzlich mit dem Gesetzentwurf im Konsens zu sein. Aber klar geworden ist auch, dass noch Einwendungen der Länder im Raum stehen, über die wir im parlamenta- rischen Verfahren reden werden. Denn Gegensätzlich- keiten, so ergibt die Stellungnahme des Bundesrates, ha- ben wir unter anderem gerade da, wo der Bund die Koordination übernehmen will. Betroffen sind das Flug- hafenkonzept, das Seehafenkonzept wie auch die im Ge- setzentwurf enthaltenen Veränderungen, die den Bundesverkehrswegeplan betreffen oder die Rohstoffla- gerstätten. Damit werden wir uns in den Ausschüssen zu befassen haben. Die Neufassung des Raumordnungsgesetzes muss vor allem eins sein: zukunftsfähig. Denn wir brauchen es als eine moderne Grundlage für eine effiziente und zu- kunftsfähige koordinierende Raumentwicklung in Deutschland. Mit der Neuordnung der Raumordnung wollen wir verschiedene Aspekte in Einklang bringen. Wir wissen, dass uns der demografische Wandel vor große strukturverändernde Herausforderungen stellt. Unsere Aufgabe ist es, vorausschauende Lösungen zu finden, zum Beispiel für den Bevölkerungsrückgang. Aber auch die absehbaren Folgen des Klimawandels for- dern uns heraus. Wir müssen unsere Ressourcen schonen und Entwicklungspotenziale erkennen und nutzen. Wir müssen zukunftsweisende Wirtschaft unterstützen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Daseinsvorsorge gesichert bleibt. Auch deshalb möchte ich ausdrücklich begrüßen, dass wir in den anstehenden Ausschussberatungen einen Be- richt über das Planspiel erhalten werden, dass das Ge- setzgebungsverfahren begleitet hat. An anderer Stelle, es ging um das Baugesetzbuch, haben wir ebenfalls die Praktikabilität des Gesetzes vor der Verabschiedung auf diese Weise vorab überprüft. Das war ein ausgezeichne- tes Vorgehen, wie wir heute feststellen können, nachdem seit einiger Zeit mit dem Baugesetzbuch erfolgreich ge- arbeitet wird. Worum geht es bei der Raumordnung? Sie soll für ei- nen Ausgleich der vielfältigen Ansprüche an den Raum sorgen, indem sie den Gesamtraum der Bundesrepublik Deutschland und seine Teilräume durch das Aufstellen zusammenfassender, übergeordneter Raumordnungs- pläne und durch Abstimmung raumbedeutsamer Planun- gen und Maßnahmen entwickelt, ordnet und sichert. Mit den Raumordnungsplänen sollen die gesetzlichen Grundsätze für ein bestimmtes Gebiet konkretisiert und festgelegt werden. Diese sind dann für die nachfolgen- den raumbedeutsamen Projekte bindend. In der Neufassung setzt die Bundesregierung Schwer- punkte. Insbesondere werden die gesetzlichen Grund- sätze der Raumordnung überarbeitet, die Regelungen über die Planerhaltung genauer gefasst, die Regelungen über die Möglichkeiten des raumordnerischen Zusam- menwirkens von Regionen, Kommunen und Personen des Privatrechts und die informelle Planung erweitert, die Regelungen über den Planungs- und Koordinierungs- auftrag des Bundes geändert. Die EU-Richtlinie zur stra- tegischen Umweltprüfung wird im neuen Gesetz unmit- telbar und vollständig umgesetzt. Das hat sich auch beim Baugesetzbuch bewährt und als Erleichterung erwiesen. Raumordnung muss vor allen Dingen eines sein, näm- lich praktikabel und koordiniert, um aus vielen Einzel- bausteinen ein sinnvolles Ganzes zu formen. Dafür, wel- che Bedeutung die Raumordnung hat, liefert der Raumordnungsplan für die deutsche Ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) nach § 18 des jetzigen ROG, der im Oktober in die Erörterung geht, aktuell ein gutes Bei- spiel. Bei der AWZ handelt es sich um das Meeresgebiet seewärts des Küstenmeeres, also zwischen der 12-See- meilen-Zone bis maximal zur 200-Seemeilen-Zone. Auf diesem Teil des Meeres haben wir es zunehmend mit Nutzungskonflikten zu tun. Hier müssen wir die Off- shore-Windenergienutzung, den Meeresumweltschutz, die herkömmliche Nutzung für Schifffahrt und Fischerei koordinieren. In der AWZ sind Ziele und Grundsätze der Raumord- nung hinsichtlich der wirtschaftlichen und wissenschaft- lichen Nutzung, der Gewährleistung der Sicherheit und Leichtigkeit der Seeschifffahrt sowie zum Schutz der Meeresumwelt aufzustellen. Es müssen koordinierte Festlegungen für die einzelnen Nutzungen und Funktio- nen Schifffahrt, Rohstoffgewinnung, Rohrleitungen und Seekabel, wissenschaftliche Meeresforschung, Wind- enenergiegewinnung, Fischerei und Marikultur sowie den Meeresschutz getroffen werden. Alles hat seine Wichtigkeit und seine Berechtigung. Aber nicht alles kann gleichzeitig an gleichem Ort statt- finden. Durch die Raumordnung werden deshalb Vor- ranggebiete geschaffen, damit Konflikte, die durch sich ausschließende gleichzeitige Nutzungen entstehen und zum Nachteil würden, vermieden werden. Für die Realisierung der klimapolitischen Ziele der Bundesregierung braucht Deutschland die Offshore- Windenergie. Das heißt, mit der Raumordnung müssen wir der Windenergiebranche Möglichkeiten eröffnen, dieses politische Ziel zu erreichen. Mir ist bekannt, dass die Unternehmen umfangreiche Planungen projektiert haben. Meine Erwartung an den Entwurf des Raumordnungsplanes AWZ für das Gebiet der Nordsee ist deshalb, dass bei der Festlegung der Vor- ranggebiete mit politischem Weitblick vorgegangen wird. Die Branche braucht langfristige Zukunftsperspek- tiven, damit die Investitionen sich lohnen. Vergessen wir Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19229 (A) (C) (B) (D) auch eines nicht: diese Branche schafft viele neue Ar- beitsplätze. Ich freue mich auf eine interessante Diskussion über die Neufassung des Raumordnungsgesetzes in den kom- menden Ausschusssitzungen. Es gibt genügend Aspekte, die eine lebendige Debatte erwarten lassen. Wichtig für die Regierungskoalition ist, dass wir den Gesetzentwurf zur Neufassung des Raumordnungsgesetzes zügig bera- ten, damit die Raumordnungsgesetzgebung am Jahres- ende verkündet werden kann. Dazu sind alle herzlich eingeladen. Petra Weis (SPD): Mit dem vorliegenden Gesetzent- wurf für die Neufassung des Raumordnungsrechts rea- giert die Bundesregierung auf die 2006 in Kraft getre- tene Föderalismusreform I. Der dort festgeschriebene Wegfall der Rahmengesetzgebungskompetenz hat zur Folge, dass das Raumordnungsrecht in seiner bisherigen Form reformiert werden muss. Die Raumordnung fällt nun in die konkurrierende Gesetzgebung. Der Bund braucht daher zukünftig nicht mehr nachzuweisen, dass ein Bundesgesetz erforderlich ist, die Länder haben ein Abweichungsrecht. Der Koalition ist es mit der Vorlage dieses Gesetzent- wurfes für ein neues Raumordnungsrecht gelungen, den Anforderungen an eine zukunftsgerichtete Raumord- nung in Deutschland gerecht zu werden. Um weiterhin eine möglichst große bundesweite Einheitlichkeit im Raumordnungsrecht zu erhalten, gibt das neue Raum- ordnungsgesetz den Ländern möglichst wenig Anlass zur Abweichungsgesetzgebung. Die bewährten, von Bund und Ländern gemeinsam getragenen Regelungen wurden weitgehend in das neue Gesetz überführt. Die Länder haben weiterhin Spielraum für ergänzendes Landesrecht. Gleichzeitig berücksichtigt das künftige Raumordnungsgesetz neue Entwicklungen und nimmt praktische Erfahrungen mit dem bisherigen Raumord- nungsrecht auf. Aus unserer Sicht ist es erforderlich, eine bundespoli- tische Planung und Koordinierung mit Blick auf die neu entstandenen Herausforderungen an die Raumordnung in einer globalisierten Welt herzustellen – den Klima- wandel und den Bevölkerungsrückgang möchte ich hier nur beispielhaft anführen. Und so begrüßen wir es, dass die „Grundsätze der Raumordnung“ überarbeitet und an die aktuellen Leitbilder und Handlungsstrategien für die Raumentwicklung in der Bundesrepublik angepasst wer- den. Was sind die herausragenden Ziele des Gesetzent- wurfs? Da sind neben dem schon erwähnten Klima- schutz und der Sicherung der Daseinsvorsorge vor dem Hintergrund einer rückläufigen Bevölkerungsentwick- lung vor allem die Betonung der Innenentwicklung der Städte und damit einhergehend die Reduzierung der Flä- cheninanspruchnahme zu nennen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch an unsere Diskussionen im Rah- men der Novellierung des Baugesetzbuches. Aber natür- lich sind auch die interkommunale Zusammenarbeit – insbesondere zwischen Städten und ländlichem Raum – und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. Und selbstverständ- lich ist in diesem Zusammenhang auch darauf hinzuwei- sen, dass die EU-Richtlinie zur strategischen Umwelt- prüfung im neuen Gesetz vollständig umgesetzt wird. Damit wird die Rechtsanwendung, wie schon beim Bau- gesetzbuch, erleichtert. Die Raumordnung hat die Aufgabe, für einen nach- haltigen Ausgleich der vielfältigen ökonomischen, öko- logischen und sozialen Ansprüche an den Raum sorgen. Sie ist damit die Basis einer nachhaltigen Infrastruktur- politik und damit gleichzeitig unverzichtbare Vorausset- zung für eine moderne Wirtschafts- und Gesellschafts- politik. Ich betone das deswegen an dieser Stelle ausdrücklich, um die besondere Bedeutung dieses ja kei- neswegs „populären“, weil in der Öffentlichkeit manch- mal geradezu unbekannten Themas, herauszustellen. Die Raumordnung ermöglicht somit also die unverzichtbare raumordnerische Abstimmung raumbedeutsamer Pla- nungen und Maßnahmen und die raumordnerische Zu- sammenarbeit der verschiedenen Ebenen und Akteure. Sie ermöglicht darüber hinaus die Entwicklung länder- übergreifender Standortkonzepte von nationaler und in- ternationaler Bedeutung, und sie tut das mit Blick auf wirtschaftliche Entwicklung und nachhaltige Mobilität gleichermaßen. Sie tut es auch mit Blick auf eine koordi- nierte Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern zur Stärkung des Wirtschaftsstandortes Deutschland unter Berücksichtigung der Nachhaltigkeitsziele. Sie ist eine gesellschaftliche und politische Gemeinschaftsaufgabe, und sie gelingt auch nur als solche. Um diesen zweifellos ambitionierten Anforderungen gerecht zu werden, muss die Raumordnung in Zukunft von Anfang an und flexibel auf besondere Entwicklun- gen reagieren können. Dem trägt der vorliegende Ge- setzentwurf in besonderem Maße Rechnung. Die Raumordnung in der Bundesrepublik ist und bleibt eine wichtige öffentliche Aufgabe mit einer lan- gen Tradition. Ihre Bedeutung wird angesichts der be- schriebenen Herausforderungen noch zunehmen. Nach wie vor gilt das Ziel der Raumordnungspolitik, den ein- zelnen Räumen und Regionen optimale Entwick- lungschancen zu ermöglichen. Dies gilt für die Ballungs- räume wie für die ländlichen Räume gleichermaßen. Ich bin mir sicher, dass die Neufassung des Raumordnungs- gesetzes dazu in besonderer Weise beitragen wird. Abschließend bleibt mir noch der Hinweis, dass wir die Ergebnisse des Planspiels, das den Gesetzentwurf auf seine Praxistauglichkeit hin überprüft hat, in die nun folgenden Ausschussberatungen mit einbeziehen wer- den. Ich freue mich auf eine konstruktive Diskussion. Patrick Döring (FDP): In den zehn Jahren, die seit der Verabschiedung des geltenden ROG vergangen sind, ist nicht nur viel Wasser den Rhein hinuntergeflossen, sondern es haben sich auch in Deutschland viele Dinge verändert, die eine Anpassung des Raumordnungsrechts notwendig machen. Vor allem der demografische Wan- del stellt uns in vielen Regionen Deutschlands vor He- rausforderungen: Auf der einen Seite haben wir schrumpfende und alternde Regionen in Ost wie West 19230 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 (A) (C) (B) (D) – und auf der anderen Seite gibt es auch, oft in unmittel- barer Nähe, Wachstumsregionen mit ihren ganz eigenen Problemen. Auch die Raumordnung muss auf solche Probleme reagieren. Hier liefert der vorliegende Gesetz- entwurf einige richtige Ansätze. Die Erhaltung dezentra- ler Siedlungsstrukturen etwa ist in Zukunft nicht mehr Grundsatz der Raumordnung. Damit wird es uns erleich- tert, die Zersiedlung ländlicher Räume und den Flächen- verbrauch zu reduzieren – und umgekehrt eine vorsich- tige Stärkung lokaler Zentren vorzunehmen. Wohnen, Arbeiten und Einkaufen an einem Ort – das ist nicht nur aus Gründen des Klimaschutzes ein Zukunftskonzept, sondern auch ein Rezept, um insbesondere in sich ent- leerenden Räumen die Infrastruktur- und Lebenshal- tungskosten auf einem vertretbaren Niveau zu halten. Es ist daher richtig, wie hier geschehen, die Kooperation von Regionen, die räumliche Konzentration der Sied- lungstätigkeit und den Vorrang der Nachverdichtung und Entwicklung von Innenstädten zu Grundsätzen der Raumordnung zu machen. Für zukunftsweisend halte ich auch das Vorhaben, dem Bund eine Zuständigkeit für bundesweite Raumord- nungspläne zu geben. Damit können in Zukunft auch großräumigere Bezüge einfacher als bisher angemessen berücksichtigt werden. Insbesondere die Anbindung von See- und Flughäfen, deren verkehrliche Wirkung in vie- len Fällen weit über eine Region oder ein Bundesland hi- nausgeht, begrüße ich außerordentlich. Allerdings muss darauf geachtet werden, dass dies in der Praxis nicht un- erwünschte Folgen hat, wie wir sie leider gerade bei den Planungen für die Ausschließliche Wirtschaftszone beobachten müssen. Dort liegt das Planungsrecht ja schon seit längerem beim Bund – der nun einen Entwurf für einen Raumordnungsplan vorlegt, der das Ende für die sich gerade entwickelnde Offshore-Windenergie be- deuten könnte. Denn wie das so ist: Die Bürokratie hat an der Wirklichkeit vorbei geplant, sodass viele Areale, in denen Windkraftanlagen geplant sind, demnächst au- ßerhalb der Vorranggebiete liegen werden. Das spricht allerdings natürlich nur gegen die gegen- wärtige Bundesregierung, die mal wieder das eine sagt und das andere tut, und nicht pauschal gegen die Schaf- fung einer solchen Bundeskompetenz. Wir sollten uns nur des Umstands gewahr sein, dass durch Raumord- nungspläne des Bundes bestehende Probleme nicht wirk- lich gelöst werden. Das Gesetz schafft nur einen Rah- men, der durch die Bundesregierung und die Länder ausgefüllt werden muss. Auch darf dies keinesfalls bedeuten, dass der Bund über seine Raumordnungspläne und Standortkonzepte quasi planwirtschaftliche Vorgaben für die Entwicklung einzelner See- oder Flughäfen entwickelt. Die Infra- strukturentwicklung muss sich auch in Zukunft an den tatsächlichen Bedürfnissen und nicht an politischen Wünschen orientieren. Dies muss im Rahmen der Ge- setzgebung meines Erachtens eindeutig klargestellt wer- den, um entsprechende – nicht gänzlich unberechtigte – Bedenken der Länder auszuräumen. Die Raumordnungs- pläne des Bundes sollen dazu dienen, zentrale Verkehrs- achsen für die Zukunft zu definieren und ihre weitere Entwicklung zu ermöglichen und zu vereinfachen. Sie dürfen nicht zu einer Aushebelung des bedarfsorientier- ten Bundesverkehrswegeplans führen. Sosehr ich die Schaffung von Raumordnungsplänen des Bundes und die Berücksichtigung des demografi- schen Wandels im Grundsatz begrüße – der hier vorlie- gende Gesetzentwurf kann dennoch in dieser Form nicht die Zustimmung der FDP-Fraktion finden. Denn ich be- fürchte, dass mit diesem Entwurf die Belange des Um- weltschutzes in einem Maße aufgewertet werden, das in Zukunft die Infrastruktur- und Wirtschaftsentwicklung in Deutschland in erheblichem Maße einschränken und behindern wird. Nun werden die Abgeordneten der Koalition wahr- scheinlich darauf hinweisen, dass in diesem Gesetzent- wurf die Belange der Wirtschaft erstmalig in einer ge- sonderten Ziffer ausgewiesen werden. Das ist richtig und an sich auch begrüßenswert. Doch komme ich nicht um- hin, festzustellen, dass zugleich wichtige Elemente für eine positive Entwicklung unserer Wirtschafts- und In- frastrukturen fehlen – und auf der anderen Seite neue Tatbestände eingeführt werden, die in der Abwägung die Belange des Umweltschutzes in vielen Fällen nahezu un- überwindlich machen. Das gilt insbesondere für die von der Koalition gefor- derte Schaffung eines, ich zitiere, „großräumig übergrei- fenden, ökologisch wirksamen Freiraum-Verbundsys- tems“. Die bestehenden Freiräume sollen dabei durch übergreifende Siedlungs- und weitere Fachplanung ge- schützt und die weitere Zerschneidung freier Flächen vermieden, die Flächeninanspruchnahme im Freiraum begrenzt werden. Auch unabhängige Experten sehen dies nicht eben als einen Beitrag zur Deregulierung und Vereinfachung an. Auf der anderen Seite entfällt gegenüber dem alten Raumordnungsgesetz der Grundsatz, dass zur Verbesse- rung der Standortbedingungen in erforderlichem Um- fang Flächen vorzuhalten, die wirtschaftsnahe Infra- struktur auszubauen sowie die Attraktivität der Standorte zu erhöhen sind. Auch das bisherige Strukturbekenntnis zur bäuerlich strukturierten Land- und Forstwirtschaft hat in dem vorliegenden Regierungsentwurf keinen Platz mehr gefunden – ebenso wie der alte Grundsatz, dass dem Wohnbedarf der Bevölkerung Rechnung zu tragen ist. Es befriedigt mich nicht, dass es dafür jetzt heißt, in der Raumordnung sei dafür Sorge zu tragen sei, dass Städte und ländliche Räume ihre vielfältigen Aufgaben für die Gesellschaft erfüllen könnten. Nach dieser Logik könnte man zugunsten dieses einen Satzes auf das ge- samte Gesetz verzichten. Denn letztlich geht es bei diesem ganzen Unterfangen doch eben nur um das eine: dass unsere Städte und länd- lichen Räumen ihre vielfältigen Aufgaben für die Gesell- schaft erfüllen können. Ein bisschen konkreter darf man daher schon formulieren, was wir unter „vielfältigen Aufgaben“ verstehen, meine Damen und Herren in den Regierungsfraktionen! Mit solchen wohlklingenden, aber inhaltsleeren Formulierungen brauchen wir jeden- falls gar nicht erst ein Gesetz zu machen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19231 (A) (C) (B) (D) Überhaupt hätte ich mir ein wenig mehr Mut zur Be- stimmtheit gewünscht. Die erwähnten „vielfältigen Auf- gaben“ sind zwar ein trauriger Höhepunkt – aber auch insgesamt sind die Formulierungen des Gesetzentwurfs, wie schon das alte Raumordnungsgesetz, hinreichend unkonkret. Feste Handreichungen, wie einzelne Belange der Raumordnung und Landesplanung zu bewerten sind, vermisse ich auch in dieser Novelle völlig. Die Folge ist, dass die Behörden wieder von vorne damit beginnen können, im Trial-and-Error-Verfahren herauszufinden, welche Bewertungen und Abwägungen am Ende vor den Gerichten Bestand haben, ich befürchte, dass wir zumin- dest in der Anfangsphase daher keine Beschleunigung, sondern im Gegenteil eine Verlangsamung der Planungs- verfahren erleben werden. Um dies zu verhindern, könnte ich mir zum Beispiel vorstellen, in einer Anlage zu dem Gesetz einen Krite- rienkatalog zu schaffen, der hier den Verwaltungen und Gerichten eine konkrete Orientierungshilfe gibt. Was für die Umweltprüfung möglich ist, wäre ja vielleicht auch für das gesamte Verfahren vorstellbar. In jedem Fall bin ich für jeden Versuch dankbar, der den Bestimmungen dieses Gesetzes einen konkreteren Charakter verleiht. Eine weitere Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens wäre auch zu erreichen, indem man bei raumordnungsrelevanten Vorhaben im Rahmen des Raumordnungsgesetzes Fristen für die prüfenden Behör- den verankert. Auch das System von Umweltprüfung, Umweltbericht, landespflegerischem Begleitplan und grundstücksbezogenem Grünordnungsplan – man lasse sich den Bürokratiesprech hier noch einmal fein auf der Zunge zergehen! – könnte man, wenn man wirklich wollte, durchaus weiter vereinfachen. Zumindest könnte festgesetzt werden, dass das Ergebnis der Umweltprü- fung im Rahmen des Raumordnungsverfahrens für ein Projekt auch für alle nachfolgenden Verfahren Geltung hat – etwa bei einer Änderung des Flächennutzungs- plans. Kurz und gut: Den großen Wurf haben Sie, meine Da- men und Herren auf den Regierungsbänken, in jedem Fall verpasst. Im Gegenteil! Mit diesem Gesetzesvor- schlag gehen Sie zwar in einigen Punkten in die richtige Richtung – doch auf der anderen Seite setzen Sie die Prioritäten sehr einseitig für die Belange des Umwelt- schutzes. Dessen Bedeutung will ich keineswegs in Ab- rede stellen. Doch auch in Zukunft muss die Raumord- nung auch die Wirtschafts- und Infrastrukturentwicklung unserer Gesellschaft gewährleisten können. Denn nur dann wird aus einer Landschaft auch eine Heimat – wenn die Menschen dort Arbeit und Wohnung finden können. Dieser zentrale Aspekt der Raumordnung droht in meinen Augen durch diese Gesetzesnovelle zu ver- kümmern. Von daher sehe ich noch einigen Änderungs- bedarf in den kommenden Ausschusssitzungen, bevor ich diesem Gesetz meine Zustimmung geben werde. Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Hintergrund für den jetzt von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzent- wurf zur Neufassung des Raumordnungsgesetzes sind nach eigener Darstellung im Zuge der Föderalismusre- form geänderte Gesetzgebungskompetenzen. Dabei seien zum einen die „bewährten, von Bund und Ländern gemeinsam getragenen bisherigen Regelungen weitge- hend übernommen“ worden, und zum anderen sei in der Gesetzesnovelle gleichzeitig „den praktischen Erfahrun- gen mit dem bisherigen Raumordnungsgesetz“ Rech- nung getragen worden. Demnach dürfte uns offenbar ein nahezu perfekter Gesetzentwurf vorliegen, der bewährte Regelungen und praktische Erfahrungen miteinander verbindet. Nach dem bewährten Grundsatz gesunden Menschenverstandes, das Alte und das Neue gründlich zu prüfen und das Beste von Beidem zu behalten, sollte die Raumordnungsgesetznovelle also gründlich geprüft werden – ob wirklich das Beste bewährter Regelungen und praktischer Erfahrungen in diese Neufassung einge- flossen ist, wie es im Vortext zu dem eigentlichen Gesetz heißt. Insgesamt gesehen stellt sich der vorliegende Gesetz- entwurf als ein Werk dar, das der Nachhaltigkeit der Raumentwicklung und der Kontinuität der Raumord- nung sowohl landesweit als auch regional angemessen Raum gibt. Aus Sicht der Linken geht es vor allem um drei wich- tige Fragen: Welchen raumordnerischen Spielraum ha- ben künftig die Länder, und wie flexibel können sie das Gesetz für ergänzendes Landesrecht nutzen? Wie soll künftig mit natürlichen Ressourcen umgegangen wer- den? Welche Möglichkeiten haben Vereine, Verbände und Bürger, sich früher als bisher an planerischen Über- legungen zu beteiligen, damit nicht immer schon alle Messen gesungen sind? Heute kommen sie oft erst sehr spät und oft zu spät zum Zuge. Diese Passagen des Gesetzentwurfs lassen den Län- dern auch künftig Spielraum, ihre eigenen raumordneri- schen Vorstellungen zu verwirklichen und vom Bund ab- weichende landesgesetzliche Regelungen zu treffen, ohne dass es dazu im Sinne einer möglichst großen bun- desweiten Rechtseinheit viel Anlass geben sollte. Das gilt insbesondere für bisherige Regelungen zum Natur- schutz, der auch künftig eine hohe Priorität behalten muss. Ein wichtiges Thema für die Raumordnung sind „schrumpfende Regionen und Städte“, mit denen wir uns in Zukunft noch weit mehr als bisher angenommen aus- einandersetzen müssen. Vor dem Hintergrund des demo- grafischen Wandels ist in Deutschland – besonders in seinem östlichen Teil – ein weiterer Bevölkerungsrück- gang zu erwarten. Zugleich wächst die Zahl der älteren Menschen und ihrer Ansprüche an Wohnung und Versor- gung. Um adäquat auf diese zu erwartenden Veränderun- gen reagieren zu können, muss die Raumordnung für die einzelnen Länder flexible und damit durchaus unter- schiedliche Lösungsansätze zulassen. Diesem Grundsatz trägt das neue Gesetz Rechnung. Oberste Priorität in der Planung hat die Nachhaltig- keit. Es geht um das Schützen und Schonen natürlicher Ressourcen, damit die kommenden Generationen mög- lichst unbelastet von Sünden der – aus ihrer Sicht – Ver- gangenheit leben können. Nachhaltigkeit bedeutet im 19232 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 (A) (C) (B) (D) Kern das Wahrnehmen von Zukunftsverantwortung, und zwar ganz genau in dem Sinne wie es der „Vater der Nachhaltigkeit“, der sächsische Forstmann Carl von Carlowitz 1713 – also vor nunmehr fast 300 Jahren – in seinem Werk Sylvicultura oeconomica, oder haußwirth- liche Nachricht und Naturmäßige Anweisung zur wilden Baum-Zucht formuliert hatte: Wird derhalben die größte Kunst/Wissenschaft/ Fleiß und Einrichtung hiesiger Lande darinnen be- ruhen / wie eine sothane Conservation und Anbau des Holtzes anzustellen / daß es eine continuierliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe / weiln es eine unentberliche Sache ist / ohne welche das Land in seinem Esse nicht bleiben mag. Das Wort „Esse“ steht in diesem Zitat im heutigen Sprachgebrauch für Wesen oder Dasein. In diesem Zusammenhang ist auch anzumerken, dass ein vereinfachtes Raumordnungsverfahren nur dann möglich sein sollte, wenn keine erheblichen Umweltaus- wirkungen zu erwarten sind und keine Pflicht zum Durchführen einer FFH-Verträglichkeitsprüfung entspre- chend dem Bundesnaturschutzgesetz besteht. Allerdings sollte immer die Balance zwischen zu viel und zu wenig Regelung gewahrt werden. Ob das mit dem neuen Ge- setz gelingt, muss sich in der Praxis erweisen. In diesem Zusammenhang sollte uns eine Einschätzung des Publi- zisten Wolfgang Kil zu denken geben: Um viele, vor allem regional wirkende Schrump- fungsprobleme offensiv als fantasieforderndes poli- tisches Projekt anzugehen, hat sich ein Hinderungs- grund bislang als besonders hartnäckig erwiesen: Das im deutschen Raumordnungsgesetz und abge- wandelt sogar im Grundgesetz fixierte Gebot zur Gewährleistung gleichartiger anstatt gleichwertiger Lebensbedingungen im ganzen Land. Ein weiteres sehr wichtiges Anliegen der Linken ist das zugegebenermaßen schwierige Thema der „Flä- cheninanspruchnahme“ oder einfacher und deutlicher formuliert des Flächenverbrauchs. Wie aus einer aktuel- len Antwort der Bundesregierung auf eine Große An- frage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu Instru- menten zur Reduzierung des Flächenverbrauchs hervorgeht, soll der Flächenverbrauch in Deutschland bis 2020 auf 30 Hektar pro Tag gesenkt werden. 2006 betrug er 113 Hektar pro Tag. 30 Hektar pro Tag wären also schon eine deutliche Reduzierung, aber dennoch keineswegs ausreichend. Denn die wachsende oder zu- mindest nicht in genügendem Maße zurückgehende Zer- siedelung hat laut Umweltbundesamt Konsequenzen für Klimaschutz und Ressourcenschonung: Mehr Siedlungs- und Verkehrsflächen bedeuteten mehr Gebäude, die zum Beispiel gewartet, beheizt oder gekühlt werden müssten, weitere Entfernungen verursachten mehr Verkehr und ein höheres Fahrzeugaufkommen. Das absehbare Ergeb- nis seien höhere Treibhausgasemissionen sowie ein hö- herer Energie- und Materialverbrauch, so das Umwelt- bundesamt. Das unterstreicht den Zusammenhang von Raumordnung und Klimawandel. Es gilt auch hier, rechtzeitig zu reagieren. Gerade die Raumordnungspoli- tik hat im Sinne eines gesamtheitlichen Politikansatzes eine aktiv steuernde und koordinierende Rolle zu über- nehmen, wie es Bundesminister Wolfgang Tiefensee im April dieses Jahres zur Eröffnung der Ministerkonferenz in Stuttgart sagte. Diesen richtigen Worten müssen die richtigen Taten folgen. Im Übrigen muss nicht jede Straße, die einmal im Bundesverkehrswegeplan aufge- führt wird und für die theoretisch genügend Geld vor- handen wäre, tatsächlich auch gebaut werden. Ein wichtiger Aspekt der Novelle ist das frühzeitige und aktive Einbinden der zentralen Akteure. Vereine, Verbände und Bürger sind demnach nicht nur zu infor- mieren, sondern bereits zu einem frühen Zeitpunkt in die Planungen miteinzubeziehen. Das hat zwei Vorteile: Zum einen wird mehr gedanklicher Reichtum gesichert. Zum anderen wächst die Akzeptanz raumordnerischer Ideen und Entscheidungen. Es bleibt eine Aufgabe der Zukunft, nicht nur gesetz- liche Grundlagen zu schaffen, sondern diese durchaus positiven Absichten in praktische Politik umzuwandeln: Wie kann zum Beispiel der Bürgerwille bei komplexen Großvorhaben tatsächlich berücksichtigt werden? Wel- che Instrumente für eine erfolgreiche Kommunikation gibt es bereits? Welche müssten entwickelt, ausprobiert und weiterentwickelt werden? Es geht um nicht mehr, aber auch nicht weniger als um die demokratischen Rechte von Bürgerinnen und Bürgern sowie von Natur- schutzverbänden und Umweltschutzorganisationen. Es geht insbesondere in Ostdeutschland darum, immer wie- der den Ordnungsrahmen zu überprüfen, ob er denn genü- gend Kreativität und unternehmerischen Handlungsspiel- raum zulässt. Auch daran ist die Zukunftsverantwortung der Raumordnung zu messen. Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Novellierung des Raumordnungsrechts steht seit langem an, einerseits formell, denn die Förderalismusreform er- fordert eine Neufassung des Gesetzes, andererseits in- haltlich, denn das Gesetz ist verstaubt und bedarf einer Modernisierung. Nach drei schwarz-roten Jahren befas- sen wir uns nun – kurz vor dem Ende der Legislatur- periode – mit der Neufassung des Raumordnungsgeset- zes. Das zeigt auch, welchen geringen Stellenwert die Raumplanung für diese Bundesregierung hat. Offenbar ist die Raumordnung für Schwarz-Rot ein ungeliebtes Stiefkind. Zunächst das Erfreuliche. Richtig ist, dass aktuelle Entwicklungen und sich daraus ableitende Handlungs- bedarfe im Gesetzentwurf berücksichtigt wurden. Die Raumplanung muss zum Klimaschutz beitragen; sie muss helfen, Energie zu sparen; sie muss auf die demo- grafische Entwicklung reagieren, den fortschreitenden Flächenverbrauch begrenzen, zum Lärmschutz beitra- gen. Ansätze für diese Zielrichtungen kann man im Ge- setzentwurf finden. Wichtig ist auch, dass künftig Raumordnungspläne des Bundes möglich sind. Diese Regelung ist längst überfällig; denn in zahlreichen Fachgebieten planen die Länder aneinander vorbei oder – schlimmer noch – kon- kurrieren miteinander, und das geht häufig auf Kosten ihrer Haushalte. Insbesondere im Infrastrukturbereich ist eine bundesweite Raumplanung dringend erforderlich; denn der Tellerrand, über den Landesregierungen bei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19233 (A) (C) (B) (D) spielsweise bei Flughafenplanungen oder vielen überre- gionalen Fernverkehrsverbindungen blicken müssten, scheint häufig zu hoch. Die ohnehin notwendige Novellierung des Raumord- nungsgesetzes gibt die Möglichkeit zu zahlreichen wei- teren Klarstellungen und zeitgemäßen Regelungen. Schlaglichtartig will ich Punkte benennen, bei denen ich Änderungsbedarf sehe. Da kann ich gleich bei der eben angesprochenen Kompetenzzuweisung an Bund und Länder anknüpfen. Keiner Bürgerin und keinem Bürger, der von raumbe- deutsamen Maßnahmen betroffen ist, kann man erklären, dass sich die Transparenz von Planungen nach Landes- zugehörigkeit richtet. Warum kann beispielsweise ein Verkehrsprojekt in einem Bundesland ein Raumord- nungsverfahren erfordern und in einem anderen Bundes- land ein gleichartiges Vorhaben nicht? Oder warum kann in einem Bundesland ein Raumordnungsverfahren mit und im benachbarten Bundesland ohne Öffentlichkeits- beteiligung ablaufen? Die parallele Erarbeitung des Um- weltgesetzbuches sollte Anlass sein, diese beiden Ge- setze miteinander zu verzahnen. Mir fehlen im Gesetzentwurf die Ziele der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie. Das Raumordnungsgesetz ist beispielsweise hervorragend als Grundlage für eine Re- duzierung des täglichen Landschaftsverbrauches in Deutschland auf 30 Hektar geeignet. Ebenfalls vermisse ich in dem vorliegenden Gesetzentwurf die Konsequen- zen aus der Biodiversitätsstrategie. Warum werden bei- spielsweise nicht Biotopverbundsysteme – insbesondere das Netz Natura 2000 – im Gesetz als verbindliche Fest- legungen in Raumordnungsplänen benannt? Der Vergangenheit muss die Aufgabenstellung der Raumordnung angehören, „die räumlichen Vorausset- zungen für die Aufsuchung und Gewinnung von stand- ortgebundenen Rohstoffen“ zu schaffen; vergleiche § 2 Abs. 2 Nr. 3. Mit solchen Regelungen unterstützt die Raumordnung das bürgerferne und umweltunverträgli- che Bergrecht aus Kaiser- und Nazizeiten. Es wird Zeit, dass sich die Bundesregierung von solchen undemokrati- schen gesetzlichen Regelungen verabschiedet. Woran unser Planungsrecht im Allgemeinen krankt, ist die mangelnde Transparenz. Ein wertvoller Schritt in Richtung Transparenz wäre die obligatorische Beteili- gung von Naturschutz- und Umweltverbänden bei der Aufstellung von Raumordnungsplänen des Bundes. Sinnvoll wäre auch die Festlegung, dass diese Planwerke im Internet zur Verfügung gestellt werden. Ich begrüße, dass die Bundesregierung nun endlich einen Entwurf eines Gesetzes zur Raumordnung vorlegt; mir erscheint auch die Zielrichtung vieler Festlegungen richtig. Allerdings wünsche ich mir, dass die Bundesre- gierung nicht so halbherzig ans Werk geht und dass das zuständige Ministerium das Raumordnungsgesetz als Chance für eine ressortübergreifende Planungsgrundlage begreift. In diesem Sinne wird sich meine Fraktion in den folgenden Beratungen einbringen. Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Als Folge der Umsetzung der Föderalismusreform I im Jahre 2006 und vor dem Hintergrund der derzeitigen struktur- fördernden Herausforderungen, insbesondere hinsicht- lich des demografischen Wandels und des Klimawan- dels, soll das Raumordnungsgesetz neu gefasst werden. Im Zuge der Föderalismusreform wurde die Raumord- nung in den neu geschaffenen Kompetenztyp einer (um- fassenden) konkurrierenden Gesetzgebung mit Abwei- chungsmöglichkeit der Länder überführt. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zum Raumordnungsrecht wird somit gesetzgeberisches Neuland betreten. Um trotz des Abweichungsrechts der Länder die Rechtsein- heit möglichst zu wahren, zielt der Gesetzentwurf auf eine Balance zwischen der Regelung weitgehender bun- deseinheitlicher Standards und der gesetzgeberischen Zurückhaltung des Bundes hinsichtlich landesspezifi- scher Besonderheiten. Inhaltliche Schwerpunkte und Zielsetzungen der Ge- setzesnovellierung sind: Erstens. Die bewährten Regelungen des geltenden Raumordnungsgesetzes werden übernommen. Dies gilt insbesondere für das klassische Instrument der Raum- ordnung, den Raumordnungsplan. Damit besteht auch weiterhin die rechtliche Grundlage für eine effiziente raumordnerische Steuerung von aktuell und zukünftig sensiblen raumwirksamen Projekten wie zum Beispiel Factory-Outlet-Centern oder Windenergieanlagen. Zweitens. Praktischen Erfahrungen mit dem gelten- den Raumordnungsrecht wird Rechnung getragen. Stich- worte sind hier Rechtsvereinfachung und Deregulierung. Drittens. Die gesetzlichen Grundsätze der Raumord- nung werden aktualisiert: Der demografische Wandel wird berücksichtig. Die interkommunale Zusammenar- beit wird gestärkt. Die Erhaltung der Innenstädte wird betont. Erstmalig wird der Schutz kritischer Infrastruktu- ren in das Raumordnungsgesetz aufgenommen. Die Wiedernutzung von Flächen und die Reduzierung der Flächeninanspruchnahme sind ebenfalls wichtige Anlie- gen des neuen Gesetzes. Zudem werden die Erforder- nisse des Klimaschutzes berücksichtigt. Die bisherigen Grundsätze für den ländlichen Raum sowie für die Land- und Forstwirtschaft werden in die Grundsätze für Raum- strukturen, Infrastrukturen, Wirtschaft, Kulturlandschaf- ten und Umwelt/Klimaschutz integriert. Viertens: Die Regelungen über die Planerhaltung werden präzisiert. Dies ist ein Beitrag zur Rechtssicher- heit von Raumordnungsplänen. Fünftens: Die Regelungen über den Planungs- und Koordinierungsauftrag des Bundes werden ergänzt. Da- mit kann den neuen Herausforderungen an die Raumord- nung durch länderübergreifende und europäische Ent- wicklungen begegnet werden. Bei der Raumordnung des Bundes sieht § 17 Abs. l des Gesetzes – gewissermaßen als Service für die Länder – die Möglichkeit vor, die ge- setzlichen Grundsätze auch in Raumordnungsplänen zu konkretisieren. Der nachfolgende Absatz 2 ermöglicht dem Bund, Raumordnungspläne als Beitrag für eine integrierte Ver- kehrsplanung aufzustellen, die den Bund binden sollen (A) (C) (B) (D) und länderübergreifende Standortkonzepte für Häfen und Flughäfen als Grundlage für deren Anbindung, das heißt Erschließung mit Bundesverkehrswegen darstel- len. § 17 Abs. 3 stellt die gesetzliche Grundlage dar, um den auch im Integrierten Energie- und Klimaprogramm (IEKP) der Bundesregierung angesprochenen Plan zur Raumordnung in Nord- und Ostsee, in der sogenannten ausschließlichen Wirtschaftszone Deutschlands, aufzu- stellen. Der Gesetzentwurf wurde in enger Abstimmung mit den für die Raumordnung zuständigen Landesministe- rien und den kommunalen Spitzenverbänden entwickelt. Zudem wird der Gesetzentwurf im Rahmen eines beglei- tenden Planspiels von sieben Landes- und Regionalpla- nungen aus allen Teilen Deutschlands auf seine Praxis- tauglichkeit, insbesondere hinsichtlich der Verzahnung mit dem bestehenden Verfahrens- und Organisations- recht der Länder, überprüft. sellschaft mbH, Amsterdamer Str. 19 19234 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 nd 91, 1 2, 0, T 22 179. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7 Anlage 8 Anlage 9 Anlage 10 Anlage 11 Anlage 12 Anlage 13 Anlage 14 Anlage 15
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1617900000

Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolle-

ginnen und Kollegen!

Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, gibt es
wieder einige Mitteilungen und Veränderungen. Ich
beginne mit dem Hinweis, dass die Kollegin Ilse Falk
am vergangenen Sonntag ihren 65. Geburtstag gefeiert
hat. Wir alle übermitteln ihr auf diesem Weg gute Wün-
sche.


(Beifall)


Nicht ganz so erfreulich ist, dass die SPD-Fraktion
mitgeteilt hat, dass die Kollegin Gabriele Groneberg ihr
Amt als Schriftführerin niedergelegt hat. Als Nachfolge-
rin wird die Kollegin Marianne Schieder vorgeschla-
gen. Auch die Fraktion Die Linke bittet um einen Wech-
sel bei den Schriftführerinnen und Schriftführern. Für
die Kollegin Sabine Zimmermann soll die Kollegin
Karin Binder das Amt der Schriftführerin übernehmen.
Ich stelle fest, dass wir außer dem allgemeinen Bedauern
über das Ausscheiden der Kolleginnen mit den vorge-
schlagenen Veränderungen einverstanden sind. – Das ist
offenkundig der Fall. Dann sind die Kolleginnen
Marianne Schieder und Karin Binder zu Schriftführerin-

Rede
nen gewählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, dass die ver-
bundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste
aufgeführten Punkte erweitert werden soll:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:

Pakistan stabilisieren – Völkerrecht beachten

(siehe 178. Sitzung)


ZP 2 Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister der Finanzen

zur Lage der Finanzmärkte

ZP 3 Erste Beratung des von den A
Hartfrid Wolff (Rems-Murr), G
Dr. Max Stadler, weiteren Abgeordneten und der
tzung

n 25. September 2008

.00 Uhr

Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur
Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung
und zur Regelung des Aufenthalts und der In-
tegration von Unionsbürgern und Ausländern

(Zuwanderungsgesetz)


– Drucksache 16/9091 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid
Wolff (Rems-Murr), Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk
Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP

EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit sofort und un-
beschränkt in der Bundesrepublik Deutsch-
land gewähren

– Drucksache 16/10310 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

text
ZP 5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren


(Ergänzung zu TOP 38)


a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Jens Ackermann,
Dr. Karl Addicks, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Stärkung der Steuerautono-

(Erbschaftsteuerreformgesetz)


– Drucksache 16/10309 –
isungsvorschlag:
usschuss (f)

usschuss
ss für Wirtschaft und Technologie
bgeordneten
isela Piltz,

Überwe
Finanza
Rechtsa
Ausschu

Haushaltsausschuss






(A) (C)



(B) (D)


Präsident Dr. Norbert Lammert
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Kerstin Müller (Köln), Winfried
Nachtwei, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Kontraproduktive US-Operationen in Pakis-
tan sofort einstellen – Umfassende Strategie
zur Stabilisierung Pakistans entwickeln

– Drucksache 16/10333 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 6 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache


(Ergänzung zu TOP 39)


Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-
ausschusses (6. Ausschuss)


Übersicht 12
über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-
ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-
gericht

– Drucksache 16/10321 –

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Martin Zeil, Birgit Homburger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Novellierung des Vergaberechts für Bürokra-
tieabbau nutzen – Bundesweit einheitliches
Präqualifizierungssystem für Leistungen ein-
führen

– Drucksache 16/9092 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Rechtsausschuss

Aufgrund der Aufsetzung der Regierungserklärung
zur Lage der Finanzmärkte verschieben sich die übrigen
Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen jeweils
nach hinten. Zusätzlich werden die Tagesordnungs-
punkte 6 und 7 getauscht. Die Tagesordnungspunkte 14 b
und 35 werden abgesetzt. Von der Frist für den Beginn
der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen
werden.

Ich mache außerdem auf die nachträgliche Aus-
schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-
merksam:

Der in der 172. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-
lich dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre
Hilfe (17. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen wer-
den.

Erste Beratung des von den Abgeordneten
Joachim Stünker, Michael Kauch, Dr. Lukrezia
Jochimsen und weiteren Abgeordneten einge-
brachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Betreuungsrechts

– Drucksache 16/8442 –
überwiesen:
Rechtsausschuss (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Sind Sie mit diesen vorgeschlagenen Änderungen ein-
verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
das so beschlossen.

Ich rufe nun den Zusatzpunkt 2 auf:

Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister der Finanzen

zur Lage der Finanzmärkte

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung zwei Stunden vorgesehen. Sind Sie damit einver-
standen? – Darüber besteht offenkundig Einvernehmen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung er-
hält nun der Bundesminister der Finanzen, Peer
Steinbrück.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1617900100

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Immer mehr Unsicherheiten, ja
Ängste machen sich bei den Menschen breit, nicht nur in
unserem Land, sondern fast weltweit. Viele fragen sich:
Stehen wir vor dem Kollaps des Finanzsystems? Folgt
aus der Krise an den Finanzmärkten eine globale Wirt-
schaftkrise nach einigen guten Jahren? Was heißt das für
mich persönlich? Deshalb will ich am Anfang meiner
Regierungserklärung zwei wichtige Feststellungen tref-
fen: Erstens. Bislang hat das internationale Krisenma-
nagement funktioniert. Es ist nicht zu einem Kollaps des
Weltfinanzsystems gekommen – und das, obwohl wir in
den letzten Wochen an den Finanzmärkten eine weitere
Zuspitzung der schlimmsten Bankenkrise seit Jahrzehn-
ten erleben. Zweitens. Die Bürgerinnen und Bürger müs-
sen keine Angst um ihr Erspartes haben.

Ich möchte feststellen: Was wir erleben, ist ein Erdbe-
ben in der internationalen Finanzarchitektur mit un-
vorstellbaren Wertberichtigungen bei einer ganzen Reihe
von Banken. Schätzungen gehen davon aus, dass bisher
Wertberichtigungen oder Abschreibungen in der Dimen-
sion von über 550 Milliarden US-Dollar erfolgt sind.
Diesen steht eine Kapitalzufuhr von ungefähr 350 Mil-
liarden US-Dollar gegenüber. Einzelne Banken sind da-
rüber in den Abgrund oder an den Rand des Abgrunds
geraten. Bei einigen Banken wird schonungslos aufge-
deckt, dass sie keine tragfähigen Geschäftsmodelle ha-
ben.






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Peer Steinbrück
Ich habe in einer Regierungserklärung zur Lage auf
den Finanzmärkten am 15. Februar 2008 etwas gesagt,
was ich gerne wiederholen möchte:

Es ist richtig, dass wir es in weiten Teilen der Welt
und zulasten weiter Teile der Welt mit einer ernst-
haften … Finanzmarktkrise zu tun haben … Sie
wird uns das ganze Jahr 2008 beschäftigen. Sie ist
kein deutsches Spezifikum. Sie birgt weitere, noch
nicht behobene Risiken. Infektionsgefahren für die
weltweite Konjunktur und die weltweite Wachs-
tumsentwicklung sind nicht zu übersehen.

Leider sind diese von mir damals beschriebenen Risi-
ken eingetreten. Diese ernste globale Finanzmarktkrise
wird tiefe Spuren hinterlassen. Sie wird das Weltfinanz-
system tiefgreifend umwälzen. Niemand sollte sich täu-
schen: Die Welt wird nicht wieder so werden wie vor
dieser Krise. Wir müssen uns in nächster Zeit weltweit
auf niedrigere Wachstumsraten und – zeitlich verscho-
ben – auch auf eine ungünstige Entwicklung auf den Ar-
beitsmärkten einstellen. Die Fernwirkungen dieser Krise
sind derzeit nicht absehbar, aber eines scheint mir
höchstwahrscheinlich: Die USA werden ihren Status als
Supermacht des Weltfinanzsystems verlieren, nicht ab-
rupt, nicht plötzlich, aber erodierend. Das Weltfinanz-
system wird multipolarer. In der neuen Finanzmarktwelt
werden Handelsbanken und Staatsfonds aus Asien, ins-
besondere aus der Golfregion, ebenso ihren Anteil haben
wie europäische Banken mit ihrem Universalbankenmo-
dell – übrigens ein Modell, das sich derzeit gegenüber
dem amerikanischen Trennbankenmodell als sehr über-
legen erwiesen hat.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Seit dem Platzen der Immobilienblase – Sie erinnern
sich an den Sommer letzten Jahres – sind vier Erschütte-
rungswellen buchstäblich durch das Weltfinanzsystem
gerollt. Im Juli/August 2007 kam es ausgehend von der
US-Subprime-Krise zu massiven Verlusten bei Bear
Stearns und der britischen Bank Northern Rock. Gleich-
zeitig mussten in Deutschland Rettungsaktionen für die
IKB und die Sachsen LB mit dem Ziel organisiert wer-
den, einen weitergehenden Schaden auch für den Finanz-
platz Deutschland zu vermeiden. Das ist uns gelungen.
Ende 2007 meldeten US-Banken Milliardenabschrei-
bungen. Zugleich ergaben sich ernste Liquiditätseng-
pässe für Banken, worauf Staatsfonds als Kapitalgeber
einspringen mussten. Wir stellen plötzlich fest, dass sich
die Debatte über die Aktivitäten von Staatsfonds inner-
halb von zwölf Monaten ziemlich geändert hat.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ohne die Bereitschaft dieser Staatsfonds, insbesondere
Schweizer und amerikanische Banken zu rekapitalisie-
ren, hätten wir es nicht mit einem Rand des Abgrunds zu
tun, sondern wir wären tief drin.

Im März 2008 rettet die amerikanische Zentralbank,
die Fed, Bear Stearns – nach den größten Marktpreisver-
lusten, die es je in einem Monat gab –, und in diesem
– ich nenne es so – schwarzen September 2008 geht
schließlich die viertgrößte amerikanische Investment-
bank, die über 150 Jahre alte Bank Lehman Brothers, in
die Insolvenz. Wenige Tage später wird der zweitgrößte
Versicherer der Welt, die US-amerikanische AIG, mit
85 Milliarden US-Dollar ebenso quasi verstaatlicht wie
zuvor die beiden US-Hypothekenfinanziers Fannie Mae
und Freddie Mac mit 200 Milliarden US-Dollar. Als das
alles nicht ausreicht, legt die US-Regierung mit dem un-
glaublichen Volumen von 700 Milliarden US-Dollar das
größte Rettungsprogramm in der Geschichte der interna-
tionalen Finanzmärkte auf. Wir alle schauen gespannt in
die USA, um zu erfahren, wie die beiden Häuser des
Kongresses mit diesem Vorschlag der amerikanischen
Regierung umgehen. Die steht unter einem erheblichen
Zeitdruck. Das letzte Mal in der laufenden Legislatur-
periode werden beide Häuser morgen tagen.

Insgesamt tritt die US-Regierung mit über 1 Billion
US-Dollar ein, um die Finanzmarktkrise zu bewältigen.
Vieles habe ich noch gar nicht mitgezählt, nämlich wenn
die amerikanische Regierung Hypotheken von Fannie-
Mae- und Freddie-Mac-Kunden aufkaufen sollte. Ich
will darauf hinweisen, dass das ein ungeheures Ausmaß
ist, auch wenn Sie daran denken, dass es vor ungefähr
zwölf Monaten noch 24 Institute in den USA gab, die in-
zwischen entweder pleitegegangen sind, aufgekauft wor-
den sind, verheiratet worden sind oder schlicht und ein-
fach verschwunden sind – 24 Finanzdienstleister. Bis vor
einem halben Jahr gab es an der Wall Street fünf, viel-
leicht sechs große Investmentbanken; heute gibt es da
keine mehr.

Der Blick darauf, was die Amerikaner an Steuergeld
bereitstellen, darf gelegentlich auch einen Vergleich mit
dem erlauben, was wir in Deutschland gemacht haben.
Wenn wir die 1 Billion Dollar, die der Steuerzahler in
den USA aufbringen muss, in Bezug setzen zu den
1,2 Milliarden Euro Steuergeldern aus dem Bundesetat
für die IKB, dann gerät vielleicht manche Debatte, die
wir in den letzten Monaten geführt haben, in eine grö-
ßere Balance.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich darf auch daran erinnern, dass es die britische Regie-
rung im Fall von Northern Rock wahrscheinlich mit Be-
lastungen in der Größenordnung von 80 bis 100 Milliar-
den Pfund zu tun haben wird.

Trotz aller Vorhersagen, dass die Krise nicht rasch
vorüber sein werde, war ein solcher Reigen von Not-
übernahmen und Quasiverstaatlichungen – und das in
den USA, dem Hort der Marktwirtschaft und einer laut-
stark vorgetragenen neoliberalen Grundüberzeugung –
oder Insolvenzen nicht zu erwarten. Die USA – darauf
lege ich gesteigerten Wert – sind der Ursprung der Krise,
und sie sind der Schwerpunkt der Krise. Es ist nicht
Europa, und es ist nicht die Bundesrepublik Deutsch-
land.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dort wurden Hypothekenkredite an nicht kreditwür-
dige Kreditnehmer ohne jegliche Sicherheiten vergeben.
Dort wurden die immensen Kreditrisiken anschließend
durch Verbriefungsgeschäfte unkenntlich gemacht. Dort






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Peer Steinbrück
nahm das Rennen nach Rendite seinen Anfang. Von dort
aus hat sich die Finanzmarktkrise wie ein giftiger Öltep-
pich weltweit ausgebreitet, zunehmend auch in Richtung
Europa, wenngleich das Volumen der bislang bekannten
Verluste in Europa in keiner Weise mit den Zahlen ver-
gleichbar ist, die ich, bezogen auf die USA, nur andeu-
tungsweise schon genannt habe.

Dennoch: Auch namhafte europäische Banken
mussten milliardenschwere Wertberichtigungen vorneh-
men, nicht nur in Deutschland, zum Beispiel Crédit
Agricole in Frankreich, Société Générale in Frankreich
und – sehr stark getroffen – UBS in der Schweiz mit Ver-
lusten von sage und schreibe 44 Milliarden US-Dollar.
Damit hat die UBS europaweit mit Abstand die größten
Verluste.

Die Krise hat inzwischen Finanzdienstleister in ganz
Europa erfasst. Das zeigen weitere Beispiele, die ich
jetzt gar nicht benennen will.

Was heißt das alles für Deutschland? Der deutsche
Bankensektor wird von den krisenhaften Entwicklun-
gen nicht verschont. Viele Institute sind betroffen, nicht
nur die IKB, sondern auch eine Reihe von Landesban-
ken. Aber es wäre ein Fehler, anzunehmen, dass aus-
schließlich oder vornehmlich öffentlich-rechtliche Ban-
ken von dieser Entwicklung betroffen sind. Es sind alle
drei Säulen betroffen, allerdings mit einem großen Un-
terschied, nämlich dass es eine ganze Reihe privater Ge-
schäftsbanken und auch anderer Banken, gerade unter
den Genossenschaftsbanken, gibt, die mit Blick auf ihre
Ertragskraft und ihre Eigenkapitalbasis die Entwicklung
sehr viel besser verkraften können als die von mir zuvor
genannten Institute.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Zum Glück halten sich die Engagements deutscher
Banken bei Lehman Brothers in einem überschaubaren
Rahmen und sind nach Aussage der BaFin und auch
nach Aussage der Bundesbank verkraftbar. Ich füge al-
lerdings hinzu: Wenn der zweitgrößte Versicherer in den
USA, den ich schon genannt habe, die AIG, von der
amerikanischen Regierung und der amerikanischen Zen-
tralbank nicht stabilisiert worden wäre, dann hätten wir
sehr viel düstere Zeiten, weil sich auch viele deutsche
und europäische Institute dort versichert haben.

Insgesamt zeigt sich, dass das deutsche Dreisäulen-
system im internationalen Vergleich relativ robust ist.
Die deutsche Aufsichtsbehörde, die BaFin, ist sich si-
cher, dass die in den letzten Jahren gesteigerte Risiko-
tragfähigkeit der deutschen Institute ausreicht, Verluste
auszugleichen und die Sicherheit der privaten Erspar-
nisse zu gewährleisten. Deshalb sollten wir in diesem
Bereich nicht durch eine falsche Wortwahl eine Panik
auslösen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Mit Blick auf die Realwirtschaft sind wir in Deutsch-
land in der vorteilhaften Lage, dass sich unsere Unter-
nehmen, insbesondere der auf Kreditfinanzierungen an-
gewiesene Mittelstand, trotz Abschwungs und sich
verschärfender Kreditkonditionen bisher nicht einer Kre-
ditklemme gegenübersehen. Das denke ich mir nicht aus.
Wenn Sie den Eindruck haben, das sei die Passage, die
meine Abteilung für Agitation und Propaganda aufge-
schrieben hat, sage ich Ihnen: Dies ist die Einschätzung
des Bundesbankpräsidenten, und dies ist auch die Ein-
schätzung des BDI-Präsidenten. Zumindest die beiden
Koalitionsfraktionen konnten dies vor wenigen Tagen im
Originalton vom Bundesbankpräsidenten, Herrn Weber,
hören.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Dass es in Deutschland nicht zu einer Kreditklemme
gekommen ist, haben wir – das will ich unterstreichen –
wesentlich dem Sparkassensektor zu verdanken.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dieser Sparkassensektor hat im ersten Halbjahr 2008
mehr Kredite vornehmlich an den Mittelstand gegeben
als im ersten Halbjahr 2007.

In dieser größten Krise seit Jahrzehnten zeigt sich,
dass das zu unserem Wirtschaftsmodell der sozialen
Marktwirtschaft passende Universalbankensystem mit
seinen drei Säulen der privaten Geschäftsbanken, der
kommunalen Sparkassen und der regionalen Genossen-
schaftsinstitute wesentlich robuster ist, als es das anglo-
amerikanische Trennbankensystem mit seiner überzoge-
nen Renditefixierung war und ist.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die vergleichsweise breite geschäftspolitische Aufstel-
lung bewährt sich in der Krise. Vor allem bewährt es
sich, dass wir in Deutschland nicht nur auf die kurzfris-
tige Rendite geschaut haben. Wir haben uns der aus-
schließlichen Fixierung auf kurzfristige Renditen und
auf immer weiter gesteigerte Quartalsgewinne in weiten
Teilen unseres Bankensystems entzogen.

Gerade dies ist einer der Gründe, meine Damen und
Herren, warum wir auch gegenüber der Brüsseler Kom-
mission dieses Dreisäulensystem für den Fall verteidigen
sollten, dass es dort andere ordnungspolitische Vorstel-
lungen gibt.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Gelegentlich habe ich die Befürchtung, dass eines Tages
im Fokus dieser Brüsseler Kommission und der dortigen
ordnungspolitischen Vorstellungen nicht nur das öffent-
lich-rechtliche Bankensystem, sondern auch der öffent-
lich-rechtliche Rundfunk und die Sozial- und Wohl-
fahrtsverbände stehen könnten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn nach den Ursachen der Krise gefragt wird, dann
lautet die Standardantwort, die US-Hypothekenmarkt-






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Peer Steinbrück
krise, wie ich sie weiterhin nennen möchte, sei der klare
Ursprung der gesamten Entwicklung. Einige weisen
auch darauf hin, dass es nach den fürchterlichen An-
schlägen vom 11. September 2001 eine Überversorgung
mit Liquidität aufgrund der Zentralbankpolitik in den
USA gegeben habe. Vordergründig ist dies alles richtig.
Ich will aber darauf hinaus, dass die eigentlichen Ursa-
chen tiefer liegen: in einer aus meiner Sicht unverant-
wortlichen Überhöhung des Laisser-faire-Prinzips ge-
rade im angloamerikanischen Bereich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit dem Laisser-faire-Prinzip meine ich im Hin-
blick auf das Finanzmarktsystem ein von staatlichen Re-
gulierungen möglichst vollständig befreites Spiel der
Marktkräfte. Die Argumentation der Laisser-faire-Ver-
treter war genauso falsch wie gefährlich: Lasst den
Markt mal machen; er ist am effizientesten, wenn sich
der Staat heraushält und auf Regulierungen vollständig
verzichtet. – Der kurzfristige – vielleicht sollte ich bes-
ser sagen: kurzsichtige – Erfolg in Form zweistelliger
Renditen und milliardenschwerer Boni für Investment-
banker und -manager schien ihnen recht zu geben. Da-
rauf wollte man weder in New York noch in London ver-
zichten.

Kritische Hinterfragungen dieses Systems sowie Lö-
sungsvorschläge, wie sie die Bundesregierung maßgeb-
lich unter ihrer G-7-Präsidentschaft angestellt hat, wur-
den während dieser Präsidentschaft, aber auch während
unserer EU-Präsidentschaft gelegentlich müde belächelt,
wenn wir Glück hatten, ansonsten aber als typisch deut-
sche Regulierungswut abgetan.

Von angloamerikanischer Seite wurde das dortige
System mit einer Art Absolutheitsanspruch vertreten.
Noch vor kurzer Zeit wurde ziemlich vehement auf die
möglichst globale Übernahme dieses Modells gedrängt.
Verhängnisvolle Folge war, dass die USA bei der Imple-
mentierung der stabilisierenden Basel-II-Bankenregeln
sehr zögerlich vorgegangen sind, obwohl sie eigentlich
das Copyright darauf hatten.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Die USA haben dies bis heute noch nicht umgesetzt,
während die europäischen Banken es zum 1. Januar die-
ses Jahres taten.

Eine weitere Folge war, dass die USA wegen ihrer
langen Weigerung erst zehn Jahre nach Einführung der
Financial-Stability-Assessment-Programme beim IWF
eine Untersuchung ihres Finanzsystems haben wollten.
Des Weiteren war die Folge, dass die USA anders als
zum Beispiel Deutschland bislang die Investmentbanken
nicht ausreichend reguliert und beaufsichtigt haben. Dies
ändert sich jetzt gerade.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Schließlich war die Folge, dass, anders als in den meis-
ten europäischen Ländern, in den USA keine Allfinanz-
aufsicht, sondern eine sehr stark zersplitterte Finanzauf-
sicht besteht, die jetzt von meinem amerikanischen
Kollegen seit wenigen Monaten Gegenstand von sehr
ambitionierten Reformanstrengungen ist.

Dieses in weiten Teilen unzureichend regulierte Sys-
tem bricht gerade zusammen – nicht nur mit weitrei-
chenden Folgen für den US-Finanzmarkt, sondern auch
mit erheblichen Ansteckungseffekten für die übrige
Welt. Einmal mehr scheint es in der Geschichte so zu
sein, meine Damen und Herren, dass sich ein System,
das maßlose Übertreibungen ermöglicht und geduldet
hat, letztlich seine eigene Antithese schafft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wie bei einem Patienten, der unter akuten Kreislauf-
problemen leidet, kommt es auch bei einer Finanzmarkt-
krise im Rahmen des akuten Krisenmanagements zual-
lererst darauf an, einen Kollaps zu verhindern. Dazu
müssen lebenserhaltende Prozesse und Funktionen stabi-
lisiert werden, die in Stresssituationen nur noch einge-
schränkt oder gar nicht mehr ablaufen. Angesichts der in
den letzten Tagen zugespitzten Situation in den USA hat
die US-Regierung eine Reihe von Stabilisierungsmaß-
nahmen beschlossen, die ich ausdrücklich begrüße –
jenseits meines kritischen Blicks zurück, was in der Ver-
gangenheit versäumt worden ist. Diese waren richtig, da
sie das Ziel verfolgten, den Kollaps des US-Finanzmark-
tes und damit Schlimmeres auch für andere Länder und
Regionen zu verhindern.

An oberster Stelle steht das bereits von mir erwähnte
700 Milliarden Dollar schwere staatliche Rettungspro-
gramm. Es dient zum Aufkauf illiquider hypothekenbe-
zogener Aktiva der Finanzinstitute. Wenn Sie so wollen,
ist das eine riesige nationale „Bad Bank“, die dort in den
USA eingerichtet worden ist. Jetzt muss allerdings der
amerikanische Steuerzahler dafür zahlen, dass das Fi-
nanzmarktsystem trotz immer undurchsichtigerer Inno-
vationen nicht ausreichend reguliert wurde. Ich bin sehr
froh, dass der deutsche Steuerzahler bisher deutlich
niedriger belastet worden ist und auch belastet wird. Die
Kosten, die bisher bei der Stabilisierung der in Schwie-
rigkeiten geratenen Banken entstanden sind, sind weit-
aus niedriger als die Kosten, die für unsere Wirtschaft
entstanden wären,


(Widerspruch des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])


wenn wir diese Stabilisierung nicht vorgenommen hät-
ten.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wie groß die Probleme in den USA aktuell sind, zeigt
ein Vergleich mit dem Programm zur Beilegung der sei-
nerzeitigen sogenannten Savings-and-Loans-Krise.
Diese war Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre. Das
damalige Rettungsprogramm der amerikanischen Regie-
rung hatte einen Umfang von 3 Prozent des amerikani-
schen Bruttoinlandsproduktes. Das, was die jetzt ma-
chen, verursachte bereits Kosten in Höhe von 5 Prozent
des amerikanischen Bruttoinlandsproduktes.






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Peer Steinbrück
Ich habe darauf hingewiesen: Die Wall Street wird nie
wieder so sein, wie sie war. Bis vor wenigen Tagen gab
es noch diese zwei Mohikaner unter den Banken: die In-
vestmentbanken Goldman Sachs und Morgan Stanley.
Beide haben sich gerade zu Instituten gewandelt, die wir
als Universalbank bezeichnen würden.

Meine Damen und Herren, die Entwicklungen bei den
US-Investmentbanken Bear Stearns, Lehman Brothers,
bei den beiden großen Hypothekenfinanzierern Fannie
Mae und Freddie Mac und zuletzt bei dem Versiche-
rungsunternehmen AIG spiegeln ein schwieriges Abwä-
gungsproblem wider, das auch wir in Deutschland ken-
nen. Vor allem die staatlichen Autoritäten stehen vor der
schwierigen Abwägung zwischen dem Erhalt der Funk-
tionsfähigkeit des Finanzmarktes auf der einen Seite und
der Vermeidung einer Ausnutzung staatlicher Unterstüt-
zung durch Marktteilnehmer auf der anderen Seite.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Für Anhänger der sozialen Marktwirtschaft ist es
selbstverständlich, dass der Marktmechanismus in beide
Richtungen greifen muss: den Tüchtigen und denjeni-
gen, die schnell Innovationen umsetzen, ihre Pionierge-
winne zu überlassen und eine gute Entwicklung zu er-
möglichen, aber diejenigen, die sich verzockt haben,
auch zu bestrafen. Die Abwägung beginnt dann, wenn
diejenigen, die man gerne durch den Marktmechanismus
bestraft sehen möchte, eventuell so laut umfallen, dass
andere in Mitleidenschaft gezogen werden. Staatliche
Autoritäten müssen immer abwägen, und zwar unter Un-
gewissheit und bei unvollständiger Informationsbasis.
Es ist etwas anderes, ob man ein halbes Jahr später
schlau vom Rathaus herunterkommt oder ob man teil-
weise innerhalb von 24 oder 36 Stunden, wie ich es er-
lebt habe, zwischen der Gefahr systemischer Krisen für
den gesamten Finanzmarkt und der Gefahr, von Markt-
teilnehmern ausgenutzt zu werden, abwägen muss – von
solchen Marktteilnehmern, die darauf spekulieren, dass
der Staat mit Steuergeldern oder die Notenbanken mit
frischem Geld schon bereitstehen und intervenieren
– will sagen: das Schlimmste verhindern – und somit das
riskante Geschäftsgebaren dieser Marktteilnehmer quasi
im Nachhinein noch belohnen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich kritisiere die staatlichen Stellen in den USA für
ihr spätes Vorgehen, aber ich begrüße ihr differenziertes
Vorgehen. Staatliche Autoritäten in den USA haben
nicht jedes Institut gerettet, aber sie haben dann einge-
griffen, wenn es nicht nur im US-Interesse notwendig
war, sondern auch um die Wahrnehmung von Verant-
wortung für das weltweite Finanzsystem ging.

Dabei entbehren die Diskussionen um Rettungsaktio-
nen diesseits und jenseits des Atlantiks nicht einer ge-
wissen Pikanterie; ich könnte auch sagen: Scheinheilig-
keit.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Oskar Lafontaine [DIE LINKE])

Da werden im Fall der USA die milliarden- und billio-
nenschweren Rettungsaktivitäten der Regierung als Be-
leg für Tatkraft, tüchtiges Regierungsmanagement und
Handlungsfähigkeit der Regierung gelobt. In Deutsch-
land werden dagegen die eingesetzten Steuergelder und
die Aktivitäten von Landesregierungen und der Bundes-
regierung als Versagen des Staates beklagt.


(Zurufe von der SPD: Sehr wahr!)


Das ist eine gewisse Beliebigkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Da wird mein amerikanischer Kollege „Hank“ Paulson
als „King Henry“ – ich gönne ihm das von Herzen – auf
dem Titelblatt des Magazins Newsweek dargestellt. Da-
mit möchte ich nicht suggerieren, mir müsse Gleiches
widerfahren.


(Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU – Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Auf die Idee wäre niemand gekommen!)


– Ich würde es auch nicht ablehnen.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1617900200

Herr Minister, vielleicht kann ich Ihnen zwischenzeit-

lich mit einer Sonderausgabe der Zeitschrift Das Parla-
ment weiterhelfen.


(Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1617900300

Dann müssten wir darüber diskutieren, Herr Präsi-

dent, wie viel von der Auflage ich aufkaufen dürfte.


(Heiterkeit im ganzen Hause)


Verstehen Sie mich jenseits dieses ironischen Ausflu-
ges nicht falsch: Wir brauchen in der Tat keine Titelbil-
der. Was ich aber einfordere oder – das ist etwas beschei-
dener – erbitte, sind etwas mehr Ausgewogenheit und
etwas weniger Beliebigkeit in der politischen Diskus-
sion.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Das, was die Amerikaner im Großen machen, haben
wir, bezogen auf die Banken, die in Deutschland in Ver-
legenheit gekommen sind, im Kleinen gemacht: die Lan-
desregierungen in ihren Verantwortungen, was die Lan-
desbanken betrifft, der Bund mit Blick auf seine
indirekte, aber bestehende Verantwortung über die KfW
bei der IKB. Deshalb und weil die Verhältnisse bei uns
anders sind, ist ein Programm, das dem ähnlich ist, das
die Amerikaner aufgelegt haben, in Deutschland oder in
Europa nicht sinnvoll und auch nicht notwendig. Das ist
der Grund dafür gewesen, warum wir im Namen der
Bundesregierung über dieses Wochenende – bis hin zu
einer großen Telefonkonferenz der G-7-Finanzminister
und Notenbankgouverneure – für Deutschland die Über-
nahme eines solchen Programms und die Beteiligung ab-
gelehnt haben.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Peer Steinbrück
Das bedeutet nicht, dass die deutsche Politik untätig
ist. Im Gegenteil: Das Bundesfinanzministerium, die
Aufsichtsbehörde BaFin und die Deutsche Bundesbank
stehen in einem sehr engen Kontakt mit ihren jeweiligen
internationalen Partnerbehörden und den Spitzen der
deutschen Kreditwirtschaft. Das Krisenmanagement in
Deutschland hat bisher funktioniert. Ich wiederhole das,
was ich in einer meiner beiden Haushaltsreden gesagt
habe: Ich bedanke mich namentlich bei der Deutschen
Bundesbank und der BaFin – an ihrer jeweiligen Spitze
bei Herrn Weber und Herrn Sanio – für das bisher ent-
wickelte Krisenmanagement.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Für den heutigen Nachmittag habe ich die wichtigsten
Vertreter der deutschen Finanzwirtschaft zu einem Mei-
nungsaustausch eingeladen. Ich möchte nicht, dass dies
zu einem Krisengipfel hochstilisiert – mein Sohn würde
„hochsterilisiert“ sagen – wird. Vielmehr ist es ein ganz
normales Gespräch, in dem es darum geht, wie die Lage
ist und welche Schlussfolgerungen wir zu ziehen haben.
Ich möchte mich in diesem Gespräch mit den Vertretern
von Banken und Versicherungen insbesondere auf mei-
nen wichtigen Termin am 10. und 11. Oktober in Wa-
shington vorbereiten; dann werden nämlich im Rahmen
des G-7-Finanzministertreffens und des IMFs all diese
Themen auf der Tagesordnung stehen.

Zum wirksamen aktuellen Krisenmanagement ge-
hört auch, dass die BaFin ein Veräußerungs- und Zah-
lungsverbot zur Sicherung der Vermögenswerte gegen-
über der Lehman Brothers Bankhaus AG hier in
Deutschland erlassen hat. Das ist konkretes Krisenma-
nagement. Außerdem hat die BaFin in Abstimmung mit
anderen Aufsichtsbehörden einen sehr wichtigen Schritt
vollzogen: Sie hat am vergangenen Freitag ein sofortiges
Verbot von Leerverkäufen von Aktien führender Unter-
nehmen der Finanzbranche erlassen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


In meinem Schlussteil, in dem es darum geht, wie das
zukünftige Krisenmanagement aussieht, werde ich
meine Position dahin gehend erläutern, ob wir nicht ge-
nerell ein solches Verbot von Leerverkäufen verabreden
sollten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Eines scheint mir völlig klar zu sein: Um das in den
und gegenüber den Finanzmärkten und ihren Akteuren
massiv verloren gegangene Vertrauen wieder zurückzu-
gewinnen, wird es bei weitem nicht ausreichen, nur ein
Krisenmanagement zu entwickeln.


(Beifall des Abg. Oskar Lafontaine [DIE LINKE])


Krise bewältigen und dann wieder zur Tagesordnung
übergehen – das wird nicht reichen.

Es geht um zwei Seiten einer Medaille: Zum einen
müssen wir jetzt Krisenmanagement betreiben. Zum an-
deren geht es darum, wie wir eine Wiederkehr einer ähn-
lich oder sogar gleichgearteten Krise vermeiden – ohne
genau zu wissen, wie diese aussieht.

Es geht um nicht mehr und nicht weniger, als die Fi-
nanzmärkte sozusagen neu zu zivilisieren und auf die-
sem Wege vergleichbare Krisen in Zukunft möglichst zu
verhindern oder zumindest in ihrer Schärfe zu be-
grenzen. Wie können wir das erreichen? Sicherlich nicht
allein durch moralische Appelle gegen exzessive Über-
treibungen und eine spekulative Zügellosigkeit. Eine
wirksame mittel- bis langfristige Antwort auf die Krise
kann deshalb nicht allein in erneuten Selbstverpflich-
tungserklärungen oder Selbstregulierungen der Finanz-
marktindustrie liegen. Das reicht nicht.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Die mir wichtige Antwort ist eine stärkere Regulierung
auf internationaler Ebene, weil sie sich weitgehend der
nationalstaatlichen Reichweite entzieht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dabei müssen wir – das ist eine weitere häufig in Ver-
gessenheit geratene Nachricht – keineswegs bei Null an-
fangen, sondern wir können auf bereits erreichten Fort-
schritten aufbauen. Dies ist nicht zuletzt – das sei mit
einem gewissen Stolz, aber auch im Brustton der Über-
zeugung gesagt – das Verdienst dieser Bundesregierung.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich will dabei nicht unerwähnt lassen, dass Bundeskanz-
ler Schröder damals bei dem Weltwirtschaftsgipfel in
Gleneagles dieses Thema mit auf die Tagesordnung ge-
setzt hat.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Aber wir waren es, unter unserer G-7- und EU-Präsi-
dentschaft, die im ersten Halbjahr 2007 das Thema einer
stärkeren Regulierung der Finanzmärkte auf die interna-
tionale Agenda gesetzt haben, immerhin mit dem Erfolg,
dass in einem mühsamen Lernprozess internationale
Gremien jetzt – natürlich in dem Entsetzen über die Fi-
nanzmarktkrise – weitreichenden Maßnahmen zur Kri-
senprävention zugestimmt haben und sehr zielstrebig
auch die Umsetzung dieser Maßnahmen betreiben, um
Krisen dieser Art zukünftig zu vermeiden.

Weil das so ist, macht es überhaupt keinen Sinn, wenn
Experten oder diejenigen, die sich dafür halten, nun täg-
lich eine Kakofonie an zusätzlichen Vorschlägen darüber
anstimmen. Es kommt auf die Umsetzung der Maßnah-
men an, die wir beschlossen haben. Das ist die Heraus-
forderung.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich höre jetzt, ich müsste mit Blick auf die Bewältigung
der derzeitigen Krise so schnell wie möglich die Eigen-
kapitalregeln verschärfen. Das kann jedoch absolut kon-
traproduktiv sein, weil ich damit noch weitere Institute
in den Orkus werfen würde.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Peer Steinbrück
Sauber wird die Treppe natürlich nur dann, wenn wir
sie mit dem regulatorischen Besen von oben nach unten
kehren. Das heißt, zuallererst sind regulierende Maßnah-
men notwendig, die weltweit gelten. Auf der nächsten
Ebene brauchen wir ein gemeinsames Spielfeld in Eu-
ropa. Dann erst steht an, dass wir das auf nationalstaatli-
cher Ebene, kompatibel mit dem, was auf internationaler
Ebene verabredet worden ist, auch in Rechtsetzungs-
schritten vollziehen müssen.

Bereits kurz nach Beginn der Finanzmarktturbulen-
zen hat Deutschland im September 2007 das Forum für
Finanzmarktstabilität – das ist das Financial Stability
Forum – gebeten, nicht nur eine Analyse vorzunehmen,
sondern Empfehlungen an uns zu adressieren, wie ähnli-
che Krisen in Zukunft verhindert werden können. Mir
war wichtig, dass es zu einer Stärkung der Eigenkapi-
talanforderungen, einer Verbesserung des Liquiditäts-
und Risikomanagements, einer Erhöhung der Transpa-
renz sowie zu Reformen bei den Ratingagenturen
kommt, die bei der Entstehung dieser Krise nun wahrlich
eine wenig rühmliche Rolle gespielt haben.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


In meinem Schreiben an meinen japanischen Amts-
kollegen, der den Vorsitz der G-7-Finanzminister An-
fang dieses Jahres von uns übernahm, habe ich diese Be-
reiche, in denen wir Verbesserungen brauchen, weiter
ausgeführt. Vor allem habe ich mehr generelle Eigenka-
pitalpuffer als Stoßdämpfer für das Finanzmarktsystem
vorgeschlagen. In der Tat war ich angenehm überrascht,
dass im April 2008 unter dem Vorsitz des italienischen
Notenbankpräsidenten Mario Draghi das Financial Sta-
bility Forum bemerkenswerte Empfehlungen nicht nur
vorgelegt hat, sondern sie anschließend auch beschlos-
sen worden sind, unter Einbeziehung der angloamerika-
nischen Freunde.

Inzwischen hat die Umsetzung der Empfehlungen
gute Fortschritte gemacht. Die Bundeskanzlerin hat dies
während des Weltwirtschaftsgipfels in Heiligendamm
weiter mit vorangebracht. Das ist eine Abfolge von Ter-
minen gewesen. Die vom Financial Stability Forum aus-
gearbeiteten 100-Tage-Prioritäten sind weitgehend um-
gesetzt. Sie umfassen wichtige Maßnahmen wie zum
Beispiel die Offenlegung der Risiken durch die Banken,
die Vorlage einer überarbeiteten Leitlinie für das Liqui-
ditätsmanagement durch den Baseler Bankenausschuss
sowie die Überarbeitung des Verhaltenskodex für Ra-
tingagenturen durch eine Einrichtung, die IOSCO heißt.
Aber die Umsetzung dieses Verhaltenskodex wird von
Externen zu überprüfen sein, nicht von ihr selber.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Auch mit der Umsetzung der übrigen Empfehlungen
geht es planmäßig voran. So hat beispielsweise der Ba-
seler Bankenausschuss ein Konsultationspapier zur Be-
rechnung des spezifischen Risikos im Handelsbuch der
Banken vorgelegt. Der Ausschuss hat zudem angekün-
digt, noch in diesem Jahr eine Leitlinie für eine Stärkung
der Eigenkapitalanforderungen für bestimmte struktu-
rierte Finanzprodukte und Liquiditätslinien an Zweckge-
sellschaften vorzulegen. Eine überarbeitete europäische
Bankenrichtlinie wird eines Tages von Ihnen beraten
werden müssen bei der Übertragung in nationalstaatli-
ches Recht.

Verständlicher ausgedrückt: Was wir bisher erlebt ha-
ben, ist, dass es viele Banken gibt, die sehr komplizierte
Produkte außerhalb der Bilanzen geführt haben. Die
Hauptanstrengung geht dahin – ganz banal ausgedrückt –,
ihnen dies nicht mehr zu erlauben, sondern dieses
Engagement in die Bilanzen zurückzuholen


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


mit der Anforderung, dass dann Eigenkapitalunterle-
gungen notwendig sind. Das ist die disziplinierende
Klammer für Bankmanager, mit dem Geld vorsichtiger
umzugehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Bei dem schon erwähnten nächsten Treffen in Wa-
shington Mitte Oktober werden wir einen umfangreichen
Bericht über den Stand der Umsetzung der Empfehlung
des Financial Stability Forums erhalten, und gleichzeitig
werden wir beraten, welche weiteren Maßnahmen ergrif-
fen werden müssen, unter anderem durch eine verbes-
serte Zusammenarbeit des Internationalen Währungs-
fonds und des Financial Stability Forums im Sinne einer
Art Frühwarnsystem, wie wir es jüngst vorgeschlagen
haben. Größe und Tiefe der Krise verlangen, nicht bei
dem stehen zu bleiben, was wir bereits im Frühjahr rich-
tig erkannt und beschlossen haben.

Auch in der Europäischen Union setzt sich Deutsch-
land schon seit einigen Monaten energisch und erfolg-
reich für eine Stärkung der Finanzstabilität ein. Nach
Ausbruch der Krise im Bankensektor vor einem Jahr hat
der ECOFIN-Rat am 9. Oktober 2007 ein Arbeitspro-
gramm zur Stärkung der Effizienz und zur Stabilität be-
schlossen. Diese sogenannte ECOFIN-Roadmap ent-
hält zahlreiche Maßnahmen, um Schwachstellen der
internationalen Finanzmärkte zu beseitigen. Bei diesen
Maßnahmen geht es darum, die Aufsicht über die Finanz-
märkte und das grenzüberschreitende Krisenmanagement
zu stärken, die Transparenz an den Finanzmärkten zu er-
höhen, Aufsichtsregeln zu Kapitalanforderungen und das
Risikomanagement zu stärken. Ich werde gerne über den
Finanzausschuss und den Haushaltsausschuss eine Vor-
lage liefern, damit alle Parlamentarier in der Lage sind,
diesen Maßnahmenkatalog im Einzelnen nachzuvollzie-
hen.

Auch bei der Umsetzung dieser Roadmap gibt es
Fortschritte. Einige grenzüberschreitende Gruppen der
Aufsichtsbehörden sind bereits eingerichtet. Ein Memo-
randum of Understanding zwischen den europäischen
Aufsichtsbehörden, Zentralbanken und Finanzministe-
rien ist bereits unter der slowenischen Präsidentschaft
beschlossen worden.

In Deutschland – um jetzt auf die nationale Ebene zu
kommen – hat das dreisäulige Universalbankensystem
wichtige Stabilisierungsfunktionen übernommen; ich






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Peer Steinbrück
sagte es bereits. Je fragiler die Situation auf den interna-
tionalen Finanzmärkten wird, desto mehr sollten wir
dankbar sein, dass wir im dreigliedrigen deutschen
Bankensystem Sparkassen haben, die eben nicht, wie es
Mark Twain einmal formuliert hat, bei schönem Wetter
Regenschirme ausgeben, die sie bei den ersten Regen-
tropfen wieder zurückhaben wollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auch und gerade vor dem Hintergrund dieser wichti-
gen realwirtschaftlichen Funktion der Sparkassen und
auch der Genossenschaftsbanken, die ich in diesem Zu-
sammenhang nicht vergessen will, als Stabilitätsanker
und angesichts der extremen Nervosität auf den Märkten
kann ich der EU-Kommission nur dringend raten, das
laufende Beihilfeverfahren mit einer solchen Verantwor-
tung zu führen, die die derzeitigen Schwierigkeiten auf
den Finanzmärkten insgesamt berücksichtigt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Das heißt nicht, dass bei den Landesbanken alles
beim Alten bleiben soll. Ich will das deutlich sagen. Wer
es bis heute noch nicht wahrhaben wollte, dem hat spä-
testens die Finanzmarktkrise mit aller Wucht gezeigt,
dass das traditionelle Geschäftsmodell der Landesban-
ken nicht mehr den Anforderungen der heutigen Zeit
entspricht.

Deshalb muss es jetzt darum gehen, für einen konsoli-
dierten Landesbankensektor neue Geschäftsmodelle zu
definieren, mit denen die Landesbanken übermäßig hohe
Risiken von hoch volatilen Kapitalmarktgeschäften ver-
meiden – ich habe nie verstanden, warum das ihr eigent-
liches Geschäft sein sollte –, nachhaltig angemessene
Erträge erwirtschaften und die Sparkassen in ihrem Leis-
tungsspektrum für die Kunden wirksam unterstützen
können.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Dazu bedarf es nicht sieben selbstständiger Landesban-
ken in Deutschland.

Schon seit langem sind hier die Bundesländer gefor-
dert. Sie müssen regionale politische Egoismen überwin-
den und sich endlich überregionalen Zusammenschlüssen
öffnen, um den Verbund der Sparkassen-Finanzgruppe
und damit das deutsche Bankensystem insgesamt nach-
haltig zu stärken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will an dieser Stelle deutlich sagen: Ich warne alle
Beteiligten vor Planspielen mit falschen Annahmen.
Vom Bund ist bei der Bereinigung der Probleme im Lan-
desbankenbereich keine finanzielle Unterstützung zu er-
warten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Hausaufgaben müssen diejenigen machen, die An-
teilseigner oder – als Großväter – immer noch die Ge-
währträger dieser Institute sind.
Um mehr Rationalität in den Finanzmarkt zu bringen
und um den Risiken entgegenzuwirken, die mit Finanz-
investitionen für Unternehmen und die Gesamtwirtschaft
einhergehen, meine Damen und Herren, hat die Bundes-
regierung vor einigen Monaten das sogenannte Risiko-
begrenzungsgesetz eingeführt. Ich erinnere daran: Dies
ist eine Reaktion auf das gewesen, was wir seit dem letz-
ten Sommer erleben. Ich will das nicht im Einzelnen aus-
führen, weil mir die Zeit davonläuft, aber ich wäre sehr
dankbar, wenn mit Ihrer Unterstützung die wesentlichen
inhaltlichen Bestandteile dieses Risikobegrenzungsgeset-
zes noch einmal, und zwar im Sinne des Konsumenten-
schutzes und übrigens auch des Arbeitnehmerschutzes
sowie einer erhöhten Transparenz, an die Beschäftigten
und ihre Arbeitnehmervertreter in Form von Daten und
Informationen weitergegeben werden, die ihnen mehr
Sicherheit für ihren Arbeitsplatz geben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, es gibt nichts zu beschöni-
gen: Wir befinden uns mitten in der schwersten Finanz-
krise seit Jahrzehnten, in der wir allerdings den Super-
GAU, den Kollaps des Weltfinanzsystems bisher verhin-
dern konnten. Niemand – kein Ökonom, kein Finanzmi-
nister, kein Zentralbankchef dieser Welt – wird Ihnen
mit Bestimmtheit sagen können, wie lange wir noch mit
dieser Krise und ihren Begleiterscheinungen leben müs-
sen. Wenn jemand behauptet, er sehe Licht am Ende des
Tunnels, dann kann es ihm passieren, dass es die Lichter
des entgegenkommenden Zuges sind.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Ich appelliere, auch angesichts des bislang erfolgrei-
chen Krisenmanagements, an alle Verantwortlichen in
der Politik und in den drei Säulen des deutschen Banken-
systems: Dies ist nicht der Zeitpunkt für kleinliche Dis-
kussionen und kleinteilige Hakeleien, mit denen man
versucht, auf Kosten des vermeintlichen Wettbewerbers
kurzfristige Geländegewinne zu erzielen.

Ich bin sehr an einer geschlossenen Aufstellung des
deutschen Finanzsektors in Brüssel interessiert.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Es ist der Zeitpunkt, um gemeinsam, mit vereinten Kräf-
ten durch die Krise durchzukommen und gleichzeitig das
globale Finanzsystem stabiler zu machen, nicht nur im
Interesse der Finanzwirtschaft, sondern viel mehr noch
im Interesse der Verbraucher, der Wirtschaft, aller Men-
schen in unserem Land.

Eine Erkenntnis aus der Krise lässt sich jetzt ziehen:
Die Wall Street, das Epizentrum dieser Krise, wird nicht
mehr das sein, was sie in den letzten Jahrzehnten war.
Eine weitere Erkenntnis ist, dass wir nach der Bankrott-
erklärung des in weiten Teilen des Finanzmarktes in den
letzten Jahrzehnten dominierenden Laisser-faire-Kapita-
lismus neue „Verkehrsregeln“ brauchen, wie Helmut
Schmidt es jüngst formuliert hat. Er macht darauf auf-
merksam, dass wir für den internationalen Luftverkehr






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Peer Steinbrück
Verkehrsregeln haben, aber für die internationalen Fi-
nanzmärkte nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Diese neuen „Verkehrsregeln“, an denen wir im G-7-
wie auch im europäischen Bereich intensiv arbeiten,
können nur handlungsfähige staatliche Institutionen
schaffen und durchsetzen, die sich international koordi-
nieren, und zwar zum Wohle aller, der strauchelnden Fi-
nanzinstitutionen genauso wie der Privatanleger, die sich
zu Recht nach mehr staatlicher Sicherheit auf den Fi-
nanzmärkten sehnen.

Ich teile deshalb dezidiert die Auffassung von Herrn
Röttgen, dass die Finanzmarktkrise die Idee der sozialen
Marktwirtschaft auf lange Sicht weltweit stärken
könnte.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Auch ich sehe in den Turbulenzen auf den Finanzmärk-
ten nicht das Ende der marktwirtschaftlichen Ordnung,
aber die Krise zeigt eindeutig die Notwendigkeit und
Aktualität von staatlichem Handeln, das den Märkten
Spielregeln geben und damit auch Grenzen setzen muss.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In den vergangenen Jahren wurde viel über Staatsver-
sagen geredet und geschrieben, manches zu Recht. Ich
weiß aus eigenem Erleben, dass staatliches Handeln kei-
neswegs immer effizient abläuft. Aber es wurde zu we-
nig über Marktversagen geredet.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr wahr!)


Dass es dies real gibt, und zwar mit gravierenden Aus-
wirkungen auf das Leben aller, erleben wir gerade.

Weder der bloße Ruf nach mehr Staat noch der simple
Glaube an den wettbewerblichen Markt wird der Auf-
gabe gerecht, vor der wir stehen, nämlich Wirtschaft so
zu gestalten, dass alle an einem stabilen, möglichst kri-
senfreien Wachstum teilhaben können.

Staatliche Institutionen müssen im internationalen
Verbund Rahmen setzen, Regeln definieren und für ihre
Einhaltung sorgen. Die Marktteilnehmer müssen diesen
Rahmen kreativ ausfüllen, nicht getrieben von Gier und
Kurzatmigkeit, sondern von Verantwortung für die Ge-
sellschaft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist unser, das ist mein Verständnis von sozialer
Marktwirtschaft. Das grenzt sich ab von jedem Neolibe-
ralismus und jedem Neoetatismus.

Neue „Verkehrsregeln“ für den Finanzmarkt sind
notwendig. Was heißt das konkret? Damit will ich mit
einigen Punkten zum Schluss kommen.

Erstens. Wir müssen zukünftig verhindern, dass Risi-
ken durch Finanzinnovationen außerhalb der Bilanz
platziert werden können; davon sprach ich schon.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Wir wollen, dass die Banken Risiken eingehen können
– das ist prägend für das Bankengeschäft –, aber nur sol-
che, die sie mit ausreichend Eigenkapital unterlegt und
in der Bilanz aufgeführt haben. Nur solche Transparenz
schützt vor Krisen wie der gegenwärtigen. Das bedeutet
nicht, in Zukunft Finanzinnovation zu verhindern, aber
es bedeutet, sie transparent zu machen, und zwar auch
den Prozess ihrer Entstehung.

Zweitens. Wir brauchen höhere Liquiditätsvorsorge
bei den Banken. Eines der Hauptprobleme ist der Man-
gel an Liquidität gewesen. Diejenigen, die Liquidität ha-
ben, sitzen darauf wie eine Glucke, und diejenigen, die
keine haben, japsen und kriegen kaum noch Luft, weil
ihnen im Interbankenverkehr diese Liquidität nicht gege-
ben wird.

Drittens. Es muss internationale Standards für eine
stärkere persönliche Haftung der verantwortlichen Fi-
nanzmarktakteure geben.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Viertens. Wir müssen wieder zu einem engeren Zu-
sammenhang zwischen Risiko und Rendite kommen.
Das heißt auch, es muss endlich Schluss sein mit dem
wahnsinnigen Streben nach immer höheren Renditen –
ein Quartal nach dem anderen. Allen Beteiligten muss
klar sein, dass sich Renditen von 25 Prozent nicht erzie-
len lassen, wenn nicht unverhältnismäßig hohe Risiken
eingegangen oder andere Marktteilnehmer vorsätzlich
beschädigt werden.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ein solches Renditerennen führt früher oder später zum
Zusammenbruch der Märkte, weil es nur auf Kosten an-
derer geht. Es ist schizophren,


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


wenn die Anreiz- und Vergütungssysteme der Banken
die Jagd nach Umsatzvolumen und Renditen befeuern,
ohne die dabei eingegangenen Risiken zu berücksichti-
gen. Das wollen wir ändern. Das ist auch eine Aufgabe
der Beteiligten selbst. Solange weiterhin zunehmend
variable Gehaltsbestandteile in Wirklichkeit das Volu-
men der Vergütung von Bankmanagern ausmachen, so
lange wird die Jagd weitergehen, so lange werden sie
weiter versuchen, so viel Volumen wie möglich zu ak-
quirieren, weil davon ihre Boni, ihre variablen Vergü-
tungsbestandteile, abhängig sind, so lange werden sie
den Blick nicht darauf lenken, welche Risiken sie sich
damit gleichzeitig an den Hals ziehen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Fünftens. Wir brauchen eine deutlich engere Zusam-
menarbeit zwischen dem Financial Stability Forum und
dem Internationalen Währungsfonds. In meinen Augen
sollte der IWF – er ist neben der Weltbank die letzte In-
stitution, die vom Bretton-Woods-System übrig geblie-
ben ist – die Kontrollinstanz für die Einhaltung weltwei-
ter Finanzmarktstandards werden. Wir haben diese
Institution. Vor dem Hintergrund des Rückgangs ihrer
traditionellen Aufgaben läuft sie zunehmend ein biss-
chen ins Leere. Die Überwachung, die Kontrolle welt-






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Peer Steinbrück
weiter Finanzmarktstandards wäre eine neue Aufgabe
für diese bestehende, geachtete Institution.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Sechstens. Im Sinne von mehr Transparenz und Stabi-
lität auf den Finanzmärkten müssen wir gemeinsam auf
internationaler Ebene zu einem Verbot rein spekulativer
Leerverkäufe kommen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Siebtens. Um wieder ein nachhaltiges Risikobewusst-
sein bei den Banken zu erreichen, werde ich mich bei
dem bevorstehenden G-7-Treffen in Washington dafür
einsetzen, dass Kreditrisiken, die die Banken eingehen,
von diesen nicht mehr zu 100 Prozent verbrieft und da-
mit weitergereicht werden können.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Das ist eine Maßnahme, die schwer zu erklären ist, die
aber ihre Auswirkungen hat. Aus meiner Sicht sollte das
veräußernde Institut verpflichtet werden, zukünftig im-
mer bis zu 20 Prozent der eingegangenen Kreditrisiken
in den eigenen Büchern zu führen, und nicht berechtigt
sein, sie in Form von irgendwelchen Derivaten weiterzu-
reichen.

Achtens. Ich werde mich bei den europäischen Part-
nern für eine weitere europäische Harmonisierung der
Aufsicht stark machen. Ich warne aber davor, zu glau-
ben, dass man mit einem riesigen Wurf, quasi mit einem
Urknall eine europäische Aufsichtsbehörde schaffen
könnte, nach dem Motto: Wenn wir ein Problem haben,
gründen wir einen neuen Club. Das wird ein eher evolu-
tionärer Vorgang sein müssen: ausgehend von dem, was
wir schon in Gang gesetzt haben, über die Colleges of
Supervisors und die Gruppenaufsicht. Dass vielleicht in
zehn Jahren eine gemeinsame europäische Institution
ähnlich der EZB steht, will ich nicht ausschließen. Ei-
nige in diesem Saal kommen vielleicht zu dem Ergebnis:
Es ist die EZB.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau!)


Das könnte sein. Ich bitte aber darum, in dieser Situation
nicht gleich wieder mit Vorschlägen zu kommen, die er-
kennbar übers Knie gebrochen wurden.

Ich bin zuversichtlich, dass diese acht erwähnten
Punkte, die im Wesentlichen „Verkehrsregeln“ enthalten,
dazu führen können, dass zukünftige Finanzkrisen nicht
die Sprengkraft entwickeln, wie das aktuell der Fall ist.

Lassen Sie mich abschließend einige Bemerkungen
bezogen auf die deutsche Wirtschaft und die öffentlichen
Haushalte machen. In Übereinstimmung mit dem Bun-
desbankpräsidenten sehe ich keine Kreditklemme, aber
ich sehe eine Verschärfung von Kreditkonditionen, die
sich natürlich auch auf die Realwirtschaft auswirken
werden. Die Bürger müssen keine Angst um ihr Erspar-
tes haben. Unsere Realwirtschaft wird in Mitleidenschaft
gezogen. Die Abwärtsrisiken für die Konjunktur sind
nicht zu ignorieren.
In welchem Ausmaß die öffentlichen Haushalte da-
von betroffen sind, liegt allerdings an mehreren Fakto-
ren. Es liegt weniger an der realen Wachstumsrate und
sehr viel mehr an der nominalen Wachstumsrate. Es liegt
vornehmlich auch an der Entwicklung des Arbeitsmark-
tes. Davon ist abhängig, wie die tatsächlichen Steuerein-
nahmen sind. Ich darf Ihnen berichten: Bisher – jeden-
falls im laufenden Jahr – sind diese Steuereinnahmen
von diesen Abwärtsrisiken für die Konjunktur nicht be-
rührt. Es ist auch davon abhängig, wie die Elastizitäten
sind. Es geht um die Effekte einer abnehmenden Wachs-
tumsrate auf die staatlichen Einnahmen und auf die Ar-
beitsmärkte. Wir sind dort als Volkswirtschaft in den
letzten Jahren besser geworden. Es liegt auch daran, wie
flexibel wir sind, wieder Fahrt aufzunehmen, wenn sich
die Rahmendaten wieder etwas verbessern.

Wir sind immer noch, aber immer weniger von der
Entwicklung in den USA abhängig. Andere dynamische
Weltregionen tragen mehr und mehr dazu bei, dass die
deutschen Exportaktivitäten sehr viel differenzierter in
der Welt laufen und wir deshalb gegenüber den Ein-
schlägen, die über den Atlantik kommen, unabhängiger
sind.

Die neue Wachstumsprojektion der Bundesregierung
erfolgt Mitte Oktober. Die Steuerschätzung kommt An-
fang November. Ich sage: Diese bleiben abzuwarten, ehe
jemand versucht, mit eigenen Schätzungen Schlagzeilen
zu machen. Die Bundesregierung wird ihren Kurs beibe-
halten, ihren Planungen keine zweckoptimistischen Eck-
punkte zugrunde zu legen. Damit sind wir in den letzten
drei Jahren gut gefahren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Das wird natürlich Einfluss auf die Haushaltsberatun-
gen haben und auch manche Wunschzettel oder eil-
fertige Versprechen aushebeln. Der Kurs der Bundes-
regierung, die Konsolidierung fortzusetzen, die
automatischen Stabilisatoren zur Geltung zu bringen, ge-
genfinanzierte Entlastungen für die Bürgerinnen und
Bürger zu finanzieren und Zukunftsinvestitionen zu täti-
gen, bleibt richtig.

Die Tugenden, die Max Weber vor hundert Jahren für
einen Politiker beschrieben hat, sind aktueller denn je:
Leidenschaft, Verantwortungsbewusstsein und Augen-
maß.

Vielen Dank für Ihr Zuhören.


(Anhaltender Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1617900400

Liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder wird für ange-

messen halten, dass ich bei der außerordentlich kompli-
zierten und gleichzeitig besonders wichtigen Materie
erst gar nicht den Versuch unternommen habe, auf die
Differenz zwischen der angemeldeten und der tatsächli-
chen Redezeit aufmerksam zu machen. Ich will darauf
hinweisen, dass ich das für die erste Runde der jeweili-
gen Fraktionsredner ähnlich halten möchte, mit der aus-






(A) (C)



(B) (D)


Präsident Dr. Norbert Lammert
drücklichen Bitte, das jetzt nicht als Generalgenehmi-
gung für beliebige Festansprachen misszuverstehen.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Nun eröffne ich die Aussprache und erteile als Erstes
das Wort dem Kollegen Dr. Hermann Otto Solms für die
FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1617900500

Herr Präsident! Ich glaube, das Thema gibt keinen

Anlass zu Festansprachen; dazu ist es zu ernst. Deswe-
gen möchte ich sagen, Herr Bundesfinanzminister
Steinbrück: Ihrer Analyse insbesondere im ersten Teil
der Rede, aber auch Ihren Bemühungen, zu internationa-
len Standards der Regulierung im Finanzmarkt zu kom-
men, stimmt die FDP-Opposition ausdrücklich zu. Daran
ist keine Kritik zu äußern.


(Zurufe von der SPD: Hört! Hört!)


Enttäuscht sind wir allerdings, dass Sie kein Wort der
Selbstkritik dazu geäußert haben, dass es auch hier Fehl-
verhalten und Staatshaftung gibt.


(Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Die spannende Frage, ob das nun eigentlich Staats-
versagen oder Marktversagen ist, beantworte ich völ-
lig anders als Sie. Wenn Sie Ihre Analyse noch einmal
durchlesen würden, kämen Sie zu demselben Ergebnis
wie ich. Denn Sie haben gesagt, dass es gerade in den
Vereinigten Staaten ein völlig unzureichendes Regulie-
rungssystem gegeben hat. Das ist ein Fehler des Staates
und nicht des Marktes.


(Beifall bei der FDP)


Wenn Sie sich anschauen, was die Ursache dieser
Krise in den Vereinigten Staaten – da liegt die Ursache –
war, dann erkennen Sie: Es war eindeutig Staatsversa-
gen. Das Wichtigste war, dass die amerikanische Zen-
tralbank unter Greenspan zu lange zu viel zu billiges
Geld zur Verfügung gestellt hat, sodass diese spekula-
tiven Blasen finanziell überhaupt erst möglich geworden
sind.


(Beifall bei der FDP)


Ein Weiteres war, dass das Programm der amerikani-
schen Bundesregierung unter Bush, Häuser für jeder-
mann erschwinglich zu machen – es wurde angekurbelt
durch Subventionen, durch Steuerbegünstigungen und
durch den Zwang, Freddie Mac und Fannie Mae zu gro-
ßen Finanzierungskartellen zusammenzuschließen – erst
dazu geführt hat, dass diese verrückte Finanzierungssitua-
tion in den USA entstehen konnte: Menschen, die nie-
mals in der Lage waren, auch nur 1 Dollar für ein Haus
zu bezahlen, geschweige denn Zinsen zu tilgen, wurden
Häuser übereignet. Das wäre in Deutschland, auch recht-
lich, überhaupt nicht möglich gewesen. Was in den Ver-
einigten Staaten geschehen ist, war eindeutig Staatsver-
sagen.


(Beifall bei der FDP)

Was hat uns dann in diese Probleme hineingezogen?
Man hat schöne Pakete, in denen schlechte Kredite mit
guten Krediten vermischt worden sind, geschnürt. Die
amerikanischen Ratingagenturen – wir haben leider nur
amerikanische Ratingagenturen – haben darauf
„Triple A“ gestempelt. Dann sind diese Pakete den An-
legern in der ganzen Welt angeboten worden, und die ha-
ben natürlich zugegriffen. Wenn das im privaten Bereich
geschehen ist, dann müssen sie dafür eben geradestehen.
So ist das in Deutschland auch. Damit bin ich schon bei
der deutschen Situation.

Wenn aber deutsche Staatsbanken dieses Geschäft be-
treiben, dann haben wir als Opposition die Aufgabe, uns
vor den Steuerzahler zu stellen, der da in Haftung ge-
nommen wird.


(Beifall bei der FDP)


Herr Finanzminister, Sie betonen immer wieder, Ihr
Haushalt sei bis jetzt nur um 1,2 Milliarden Euro belas-
tet worden. Das ist zwar rechnerisch und buchhalterisch
richtig; aber in Wirklichkeit haben Sie – das geben Sie
auch zu – einen Schutzschirm von mindestens
10 Milliarden Euro aufgespannt, wofür der Steuerzahler
geradestehen muss.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Weil Sie das nicht Ihrem Haushalt entnehmen wollen,
haben Sie mittlerweile buchhalterische Kunstgriffe vor-
genommen: Bei der KfW haben Sie etwas getan, was
nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Bilanzierung in
Deutschland überhaupt nicht zulässig wäre. Wenn ich
bei meiner Kaufmannsgehilfenprüfung als Bankkauf-
mann 1964 das geraten hätte, wäre ich mit Pauken und
Trompeten durchgefallen. Sie haben nämlich gesagt: Die
jetzt eingetretenen Verluste werden mit möglichen Ge-
winnen in der Zukunft verrechnet. Das widerspricht dem
Vorsichtsprinzip total. Das ist nicht zulässig. Das ist ein
Buchhaltertrick, den Sie anwenden, damit Sie das alles
vorerst aus Ihrem Haushalt heraushalten können.


(Beifall bei der FDP)


Nun will ich noch einmal auf die Punkte zu sprechen
kommen, bei denen die Bundesregierung in der Haftung
ist. Angefangen hat es damit, dass sie die Beteiligung an
der IKB überhaupt eingegangen ist. Das ist 2001 unter
Hans Eichel, Ihrem Vorgänger, geschehen. Damals ge-
schah dies mit der interessanten Begründung, man wolle
abwehren, dass eine ausländische Bank die IKB in Be-
sitz nehmen könne. Damals ging es um die Royal Bank
of Scotland, immerhin eine europäische Bank. Im End-
effekt haben Sie doch – auch auf Druck aus dem Parla-
ment hin – die IKB verkaufen, das heißt quasi verschen-
ken müssen, und zwar an wen? An Lone Star, an eine
amerikanische Heuschrecke, und das, obwohl Sie nur
eine Woche vorher ein Gesetz erlassen haben, durch das
die Beteiligung an solchen Fonds eingeschränkt werden
soll. Auch das ist ein Widerspruch, den der Betrachter
überhaupt nicht auflösen kann.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE])







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Hermann Otto Solms
2005 hätten Sie die Chance gehabt, die IKB zu ver-
kaufen. Wir haben es Ihnen empfohlen. Sie hätten einen
Milliardengewinn einstreichen können. Nun haben Sie
10 Milliarden Euro Verlust gemacht.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Der Steinbrück hört gar nicht zu!)


Herr Präsident, ich bitte darum, dass diese Privatge-
spräche auf der Regierungsbank aufhören. Wenn das
Parteipräsidium der SPD tagen will, dann kann es das
außerhalb des Parlaments machen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das ist hier ein Haus für alle Parteien.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nicht für alle!)


Was haben Sie seitdem getan? Die Krise ist nicht erst
im Juni/Juli letzten Jahres aufgeschienen, sondern die
ersten Anzeichen dafür gab es schon im Februar 2007,
als die HSBC-Bank – für die, die sie nicht kennen:
Hongkong and Shanghai Banking Corporation – die ers-
ten Gewinnwarnungen herausgegeben hat. Es folgten je-
den Monat weitere Warnungen. Ein vorsichtiger Banker
und eine vorsichtige Aufsicht hätten natürlich schon in
diesem Moment geschaut: Können auch wir betroffen
sein? – Erst im Juli 2007, als die Bude bereits gebrannt
hat, sind Sie aufgewacht.

Danach hat es verschiedene Abschirmungsrunden ge-
geben. Nach jeder Runde war klar, dass man nicht
wusste, wie hoch das Risiko wirklich ist. Selbst bis heute
weiß man das nicht richtig, sonst hätte nicht das eintre-
ten können, was jetzt gerade in diesem Monat eingetre-
ten ist, nämlich die Überweisung an Lehman Brothers in
Höhe von 350 Millionen Euro, obwohl sie schon pleite
waren. Das sind doch ein drastisches Versäumnis und ein
Fehler der Aufsicht.


(Beifall bei der FDP)


Ich habe bewusst den Bericht des Rechnungshofes
nicht eingesehen, den wir Abgeordnete nur unter Auf-
sicht lesen dürfen. Ich möchte mir nicht vorwerfen las-
sen, aus einem geheimen Bericht zu zitieren, und ich
wusste: Am nächsten Tag steht es sowieso in der Zei-
tung. Schauen Sie heute in die Zeitung, da steht alles
drin. Der Rechnungshof hat schon im Jahre 2003 auf die
Organisations- und Aufsichtsprobleme bei der KfW hin-
gewiesen. Diese Vorwürfe wiederholt er jetzt. Seit seiner
Warnung 2003 hat sich nichts geändert. Was aber viel
schlimmer ist: Seit dem Eintreten der Krise – spätestens
im Juli 2007 – hat sich ebenfalls nichts geändert. Die
Aufsicht ist weiterhin so dilettantisch wie zuvor betrie-
ben worden.


(Beifall bei der FDP)


Es sind immer dieselben Personen, die das machen.
Auch darauf weist der Rechnungshof hin. Da heißt es
ganz klar: Gibt es keine Interessenkonflikte, wenn für
die Aufsicht der KfW und für die Aufsicht der BaFin
dieselbe Person aus dem Finanzministerium zuständig
ist, die auch im Aufsichtsrat der IKB sitzt? Das kann
doch nicht gut gehen. Diese Person überwacht sich ja
selbst. Sie kann ja gar nichts aufdecken. Wie soll sie das
machen? Das müsste dann ein Wunderkind sein.

Die Frage ist: Was haben Sie in dieser Zeit getan? Ich
habe darauf hingewiesen: Sie haben die IKB verkauft.
Sie haben nicht gesagt, was Sie mit der IPEX machen,
mit der Sie die gleichen Probleme haben. Auch diese
müsste privatisiert werden.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!)


Sie haben bis heute nicht gesagt, was Sie mit der KfW
machen. Bleibt das eine Behörde, oder wird das eine
Bank, die der Bankenaufsicht – das wäre dringend not-
wendig –, insbesondere der unabhängigen Aufsicht der
Deutschen Bundesbank unterstellt wird? Wie werden die
Aufsichtsstrukturen verändert? Die Antworten auf all
diese Fragen sind Sie schuldig geblieben. Aber auch das
gehört zur Abrechnung und zur Analyse. Deswegen sage
ich: Da sind Fehler passiert, die nicht hätten passieren
dürfen und längst hätten korrigiert sein müssen.


(Beifall bei der FDP)


In der heutigen Ausgabe der FAZ schreibt Bettina
Schulz aus London:

Aber die Kritik muss an der Aufsicht ansetzen. Das
ist für Politiker freilich ein brenzliges Thema: Die
Banken- und Marktaufsicht hat an jedem einzelnen
Finanzplatz katastrophal versagt. Weder die deut-
sche Bafin noch die britische FSA, die amerikani-
sche Federal Reserve oder die SEC haben erkannt,
dass es Geschäftsmodelle gab, die gefährliche
Schneeballeffekte auslösen könnten.

Ich kann dem nur zustimmen. Das ist das Staatsversagen
der Bundesregierung und des Bundesfinanzministers,
der nach KfW-Gesetz im Benehmen mit dem Bundes-
wirtschaftsminister für die Aufsicht der KfW zuständig
ist.


(Peer Steinbrück, Bundesminister: Ganz vorsichtig, nur für die Rechtsaufsicht!)


– § 12 des KfW-Gesetzes – ich zitiere –:

Das Bundesministerium der Finanzen übt die Auf-
sicht über die Anstalt im Benehmen mit dem Bun-
desministerium für Wirtschaft und Technologie aus.


(Beifall bei der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Erwischt!)


Dies sind Sie bei Ihrer Arbeit schuldig geblieben.

Ich will zum Abschluss noch etwas zur Verantwor-
tung sagen. Einige Landesbanken und die dazugehörigen
Regierungen haben in diesem Bereich drastisch versagt.
Sachsen hat dadurch einen Schaden von um die 5 Mil-
liarden Euro verursacht. Als Folge sind immerhin der
Finanzminister und schließlich auch der Ministerpräsi-
dent Milbradt zurückgetreten, nicht nur deshalb, aber
auch deshalb. Ein anderes Beispiel ist die Bayerische
Landesbank. In der Bayerischen Landesbank setzt sich
die Hälfte des Verwaltungsrates aus Mitgliedern der
bayerischen Landesregierung zusammen. Der Kohorten-
führer ist Finanzminister Erwin Huber. Vor der Kommu-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Hermann Otto Solms
nalwahl hat er versucht, zu vertuschen, welcher Schaden
im März dieses Jahres entstanden ist;


(Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist leider wahr!)


bei der Kommunalwahl hat er natürlich eine Niederlage
erlitten. Jetzt, vor der Landtagswahl, wird wieder nicht
klar gesagt, welche zusätzlichen Belastungen durch die
Beteiligung an Lehman Brothers auf die Bayerische
Landesbank zukommen werden.


(Dirk Niebel [FDP]: Wo ist eigentlich Herr Seehofer?)


Am kommenden Sonntag muss er sich erneut dem Wäh-
ler stellen. Warten wir einmal ab, welches Urteil die
bayerischen Wähler sprechen werden.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist aber sehr klein, Herr Kollege Solms! Sehr, sehr klein!)


Schließlich frage ich die Bundesregierung: Wie ste-
hen Sie zu Ihrer Verantwortung? Was sagen Sie dazu?
Zumindest ein Wort der Entschuldigung beim Steuerzah-
ler wäre angemessen gewesen. Das erwarten wir von Ih-
nen.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1617900600

Dr. Michael Meister ist der nächste Redner für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Michael Meister (CDU):
Rede ID: ID1617900700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich

möchte für die Unionsfraktion zunächst einmal sagen:
Ich halte es für richtig und begrüße es ausdrücklich, dass
der Bundesfinanzminister heute Morgen für die Bundes-
regierung eine Regierungserklärung zu diesem Thema
abgegeben hat und dass wir die Gelegenheit haben, über
diese wichtigen und bewegenden Ereignisse eine Aus-
sprache zu führen. Ich halte es auch für richtig, dass wir
das an diesem Ort und sehr zeitnah tun.

Wie wir heute Morgen gehört haben, haben wir es mit
Sicherheit mit einer der größten Finanzkrisen der Welt-
geschichte zu tun. Wenn man sich andere Finanzkrisen
der vergangenen 400 Jahre vor Augen führt, wird aller-
dings deutlich, dass die Mechanismen, über die wir
heute verfügen, besser sind als in früheren Zeiten. Des-
halb können wir mit dieser Diskussion auf einem ganz
anderen Niveau starten, als man es in den 30er-Jahren
– Stichwort: Schwarzer Freitag – oder in den 80er-Jah-
ren hätte tun können. Das sollten wir zur Kenntnis neh-
men, damit wir wissen, wovon wir bei dieser Diskussion
ausgehen.

Viele Menschen in unserem Land machen sich ver-
ständlicherweise Sorgen, was mit ihren Spareinlagen
geschieht. Ich glaube, wir haben in allen drei Säulen un-
seres Bankensystems Vorkehrungen getroffen, die ge-
währleisten, dass diese Sorgen unbegründet sind. Auch
das sollten wir klar und deutlich sagen, um nicht für Ver-
unsicherung zu sorgen.
In der Realwirtschaft macht man sich im Hinblick auf
die Kreditfinanzierungen von Unternehmen Sorgen.
Ich stimme dem Finanzminister ausdrücklich zu, dass
sich die Kreditversorgung unserer mittelständischen
Wirtschaft trotz Krise verbessert hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


An dieser Stelle möchte ich den Akteuren in diesem Be-
reich, die natürlich auch den Eigenkapitalvorschriften
Rechnung tragen müssen, dafür meinen Dank sagen.

Da mit AIG auch ein großer Versicherer von der Fi-
nanzkrise betroffen ist, will ich noch eine Bemerkung
zur Altersversorgung machen. Möglicherweise werden
nicht alle Renditeerwartungen erfüllt, die man in der
Vergangenheit hatte. Aber auch hier besteht kein Anlass
zur Sorge. Wir können den Menschen sagen: Neben der
gesetzlichen Rente gibt es sowohl im betrieblichen als
auch im privaten Bereich Altersvorsorgeinstrumente, die
auch in der Krise funktionieren. Diese Instrumente dür-
fen wir in der aktuellen Debatte nicht diskreditieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Ludwig Stiegler [SPD])


In der jetzigen Situation heißt es, wir müssten die
soziale Marktwirtschaft hinterfragen. Ich glaube, dass
die soziale Marktwirtschaft durch diese Krise bestätigt
wird. Wir treten für Märkte ein, auf denen klare Rah-
menbedingungen und Regelwerke gelten. Was wir nicht
wollen, ist die Beseitigung der Märkte. Was wir auch
nicht wollen, ist die Beseitigung der Regeln.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Ja!)


Vielmehr müssen wir über die Fragen diskutieren: Wie
können wir diese Regeln vor dem Hintergrund der Pro-
bleme, mit denen wir es jetzt zu tun haben, neu adjustie-
ren, und wie können wir die vorhandenen Regelwerke
internationalisieren? Denn als nationaler Gesetzgeber
würden wir uns überheben, wenn wir versuchen würden,
diese Probleme allein zu lösen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich plädiere dafür, dass wir versuchen sollten, unser
Modell der sozialen Marktwirtschaft bzw. zumindest
seine Grundprinzipien in andere Länder und internatio-
nale Organisationen zu exportieren, um im Hinblick auf
die Herausforderungen auf den Märkten ein etwas grö-
ßeres Sicherheitsnetz zu schaffen. Insofern glaube ich,
dass in dieser Krise auch eine Chance zu sehen ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich denke, heute diskutieren wir über die Herausfor-
derungen der internationalen Finanzkrise unter wesent-
lich besseren Konditionen, als es zu Beginn der Amtszeit
dieser Bundesregierung möglich gewesen wäre. Wir ha-
ben ein deutlich größeres Wirtschaftswachstum als in
den Jahren zuvor. Wir haben eine deutliche Besserung
am Arbeitsmarkt zu verzeichnen. Wir haben eine viel
entspanntere Haushaltssituation, wenngleich sie noch
nicht in Ordnung ist. Und unsere Wirtschaft befindet






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Michael Meister
sich in struktureller Hinsicht in einer deutlich besseren
Verfassung, als es früher der Fall war.

Man muss sich einmal die Frage stellen, was gesche-
hen wäre, wenn uns eine solche Krise im Jahre 2005 er-
eilt hätte, als die Konditionen unserer Wirtschafts- und
Arbeitsmarktverfassung noch anders aussahen. Ich
glaube, die Probleme und die Auswirkungen im Lande
wären wesentlich größer gewesen. An dieser Stelle sind
wir ein Stück weit besser geworden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich möchte auch ausdrücklich unterstreichen, dass wir
nicht erst nach Auftreten der Krise damit begonnen ha-
ben, über die Krise zu diskutieren, sondern dass wir vor-
her gehandelt haben. Die Tagung in Heiligendamm und
die Vorbereitungen dafür lagen vor Beginn der Krise.

Wenn wir uns das Hauptphänomen der Krise an-
schauen, dann stellen wir fest, dass es eine Vertrauens-
krise zwischen den Akteuren ist. Deshalb muss man
sich die Frage stellen, wie man neues Vertrauen erzeu-
gen kann. Das kann man durch Offenheit und Transpa-
renz erreichen. Deshalb ist der Ansatz, für mehr Trans-
parenz in den Märkten zu werben – das war der Ansatz
der Bundesregierung, Herr Finanzminister und Frau
Bundeskanzlerin –, die zentrale Aussage, um neues Ver-
trauen in den Märkten zu erzeugen und damit die Ak-
teure wieder handlungsfähig zu machen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ludwig Stiegler [SPD])


Ich hoffe, dass durch diese Krise auch die Chance er-
öffnet wird, die Reserviertheit, die wir in Großbritannien
und den USA damals verspürt haben, ein wenig zu ver-
ringern, damit wir damit vorankommen, das, womit da-
mals begonnen wurde, dauerhaft zu implementieren und
damit mehr Transparenz und Vertrauen zu erreichen.

Ich will ausdrücklich sagen: Finanzmärkte sind für
sich genommen nichts Böses. Sie tragen wesentlich zum
Wohlstand unserer Gesellschaft bei: zum einen direkt
über diejenigen, die dort beschäftigt sind – wir reden im-
merhin über 1,5 Millionen Menschen in Deutschland,
die in diesem Sektor beschäftigt sind; diese Arbeits-
plätze und den Anteil am Bruttoinlandsprodukt können
wir nicht einfach wegdiskutieren –, und zum anderen na-
türlich, indem dadurch Geschäfte in der Realwirtschaft
möglich sind und sich finanzieren lassen. Deshalb brau-
chen wir die Finanzmärkte, aber wir müssen aufpassen,
dass diese Finanzmärkte dauerhaft, nachhaltig und funk-
tionsfähig sind. Darüber müssen wir diskutieren – und
nicht gegen die Finanzmärkte.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Eine Reihe von Schwächen sind erkennbar geworden.
Ich will ausdrücklich darauf hinweisen: Es gäbe das Pro-
blem mit der IKB nicht in dieser Weise, wenn Basel II
bei uns in Deutschland nicht erst zum 1. Januar 2008
umgesetzt worden wäre; denn das, was bei der IKB ge-
macht wurde und keinen Niederschlag in der Bilanz ge-
funden hat, wäre nicht möglich gewesen, wenn Basel II
schon gegolten hätte. Wir müssen uns dabei auch einmal
selbst fragen, ob wir dafür nicht ein paar Tage zu lang
gebraucht haben.


(Beifall des Abg. Oskar Lafontaine [DIE LINKE])


Vor diesem Hintergrund will ich aber auch sagen,
dass es eine ganze Reihe von Akteuren gibt – insbeson-
dere in den USA –, die Basel II immer noch nicht umge-
setzt haben. Deshalb ist es dringend notwendig, dass da-
rauf gedrungen wird, diese Regeln hinsichtlich der
Anforderungen an das Eigenkapital umzusetzen und die
Möglichkeit aufzuheben, etwas zu tun, was sich nicht in
der Bilanz niederschlägt. Auch dafür müssen wir diesen
Anlass direkt nutzen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich will die Rolle der Europäischen Zentralbank
ansprechen. Ich glaube, dass dort richtigerweise eine
Doppelstrategie verfolgt wird. Aus meiner Sicht blenden
wir die Inflation gegenwärtig zu stark aus. Damit liegt
auch eine weltweite Herausforderung vor uns, weil es sie
nicht nur in einigen Ländern, sondern insgesamt – um
den Globus herum – gibt und weil sie nicht mehr über
niedrige Lohnangebote in einigen Entwicklungs- oder
Schwellenländern bekämpft wird. Deshalb werden wir
uns mit der Herausforderung Inflation beschäftigen müs-
sen. Es ist hochgradig gefährlich, das Ziel der Inflations-
bekämpfung in der Krise aufzugeben.

Ich möchte ausdrücklich hervorheben: Die Europäi-
sche Zentralbank tut das nicht.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig!)


Sie versucht, die Inflation zu bekämpfen und die Märkte
gleichzeitig mit der notwendigen Liquidität zu versor-
gen. Diese Doppelstrategie – beide Ziele im Auge zu
haben und zu verfolgen – ist zu loben. Deshalb unterstüt-
zen wir diese Strategie unserer Zentralbank ausdrück-
lich.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich möchte an dieser Stelle sagen: Wir möchten uns
auch herzlich für den Rat und die Unterstützung unserer
beiden Aufsichtsinstitutionen – Notenbank und BaFin –
bedanken. Man kann sehr wohl die Frage stellen, ob dort
im Detail alles richtig gemacht wird. Meine Erfahrung
ist: In dieser Krisensituation waren sowohl der Rat als
auch die Handlungsfähigkeit wertvoll. Dadurch wurde
geholfen, die eine oder andere Verschlimmerung der
Krise zu vermeiden. Das sollte man bei aller Kritik, die
an der einen oder anderen Stelle vorgetragen wird, auch
einmal positiv hervorheben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Lieber Kollege Solms, ich schätze Sie im Finanzaus-
schuss sehr als Finanzfachmann. Ich rate aber sehr wohl
dazu, die Frage zu stellen, wie die Rolle der KfW in
Deutschland in Zukunft aussehen wird. Was ist die Auf-
gabe der KfW? Beschränkt sie sich auf das Förderge-
schäft, oder gibt es noch weitere Aufgaben?






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Michael Meister
Wir müssen auch die Frage stellen, unter welchem
Aufsichtsregime die Aufgaben nach dem Kreditwesen-
gesetz wahrgenommen werden. Wir müssen auch fragen,
ob die derzeitigen Regelungen im KfW-Gesetz dem ent-
sprechen, was wir als künftige Rolle der KfW sehen. Das
ist aus meiner Sicht wichtig und richtig, und wir sollten
es in Ruhe bedenken. Weil daraus neue Erkenntnisse er-
wachsen, wird es Veränderungen geben müssen.

Ich rate aber dringend dazu, nicht so zu tun, als hätten
die internationale Finanzkrise und ihre Auswirkungen
nur mit der KfW zu tun. Wir werden dem Thema nicht
gerecht, wenn wir es nur auf diesen einzelnen Punkt ver-
engen. Ich bitte deshalb darum, dass wir die Aufgaben
lösen, uns aber gleichzeitig auch darum kümmern, wie
wir die Finanzkrise insgesamt vernünftig aufarbeiten
können.

Ich bin der Meinung – darin teile ich ausdrücklich die
Position von Herrn Steinbrück –, dass uns die Auswir-
kungen auf das Einlagensicherungssystem, auf andere
Banken, die dort Einlagen hatten, und auf die Finanzie-
rung der Realwirtschaft deutlich mehr Steuergelder für
die Rettungsaktion gekostet hätten, wenn wir die IKB
nicht in der jetzigen Form erhalten hätten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb ist in der Gesamtabwägung vielleicht ein einzel-
ner Detailschritt kritikfähig, aber die gesamte Richtung
ist aus meiner Sicht ausdrücklich zu unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das Thema Landesbanken ist bereits angesprochen
worden. Ich glaube, dass es für die Zukunft dringend
notwendig ist, nachhaltige und tragfähige Geschäfts-
modelle zu entwickeln, und dass es dazu anderer Struk-
turen bedarf. Ich rate aber dazu, dass wir als Bundestags-
abgeordnete und als Bund diesen Prozess dort, wo wir
gefordert sind, wohlwollend begleiten und unterstützen.
Ich weise aber darauf hin, dass diese Institute keine Bun-
desbanken, sondern Landesbanken sind. Deshalb sollten
bitteschön zunächst einmal die Eigentümer ihre Verant-
wortung wahrnehmen, bevor wir Fragen und Probleme
diskutieren, für deren Lösung wir gar nicht direkt zu-
ständig sind, sondern bei denen wir höchstens Hilfestel-
lung leisten können. Insofern sollten wir unsere Rolle an
dieser Stelle richtig verstehen.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Aber nicht so! Aber nicht finanziell!)


– Dieser Zwischenruf mag ein guter Beitrag zum bayeri-
schen Landtagswahlkampf sein. Ob er uns in der Krise
hilft, bezweifele ich.

Ich will noch einmal die Frage der Bankenaufsicht
aufgreifen. Ich glaube, dass es richtig ist, dass wir eine
engere Zusammenarbeit der nationalen Aufseher brau-
chen. An der Stelle müssen auch Vorkehrungen für Kri-
sensituationen getroffen werden. Wenn freitagnachmit-
tags eine Krisensituation eintritt, dann geht es nicht an,
dass man erst montagmorgens beginnt, zu recherchieren,
wer die zuständigen Gesprächspartner sind. Es muss
Pläne geben, wie man in solchen Krisenfällen vorzuge-
hen hat.
Es sind auch Überlegungen notwendig – darin unter-
stütze ich Herrn Steinbrück ausdrücklich –, welche Rolle
die Europäische Zentralbank in der Finanzaufsicht auf
europäischer Ebene spielen kann. Auch diese Aufgabe
müssen wir lösen.

Ich unterstütze für meine Fraktion ausdrücklich, dass
wir beim Rating verbindliche Spielregeln brauchen. Es
geht nicht an, dass jemand Produkte kreiert und gleich-
zeitig in diesem Bereich die Bewertungen vornimmt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das ist nicht akzeptabel. Deswegen brauchen wir ver-
bindliche und überwachbare Kontrollmechanismen.

Ich teile auch ausdrücklich die Auffassung in der
Frage der Eigenkapitalunterlegung: Es kann nicht sein,
dass Finanzprodukte risikofrei gehandelt werden kön-
nen. Notwendig ist vielmehr eine Eigenkapitalunterle-
gung, durch die derjenige, der Finanzprodukte auf den
Markt bringt, ein Eigenrisiko trägt.

Insofern hoffe ich, dass wir heute die Chance nutzen,
unser System nicht kleinzureden. Wir sollten vielmehr
die Chance nutzen, die in dieser Krise liegt, Erkenntnisse
zu gewinnen, um die Märkte für die Zukunft weiter zu
stabilisieren. Ich würde mich freuen, wenn auch diese
Debatte dazu einen Beitrag leisten würde.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1617900800

Nächster Redner ist Oskar Lafontaine für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Oskar Lafontaine (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617900900

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Ich glaube, dass mit dem Wort „Finanzmarktkrise“
die Krise, über die wir heute reden, nicht ausreichend be-
schrieben ist. Nach unserer Auffassung geht es nicht um
eine ökonomische Krise, sondern um eine Krise der
geistigen und moralischen Orientierung der westlichen
Industriegesellschaften.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Um verständlich zu machen, was ich damit meine, will
ich zuerst darlegen, wie das Ganze begonnen hat und
wie vor einigen Jahren die Auffassung der großen Mehr-
heit derjenigen, die an der Diskussion teilgenommen ha-
ben, war. Im Jahre 1996 hat der Bundesbankpräsident
Tietmeyer vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos ge-
sprochen. Dort sagte er, gerichtet an die Politiker und
Wirtschaftsführer, die dort versammelt waren: Meine
Herren, Sie alle sind jetzt der Kontrolle der internatio-
nalen Finanzmärkte unterworfen. – Wenn heute ein
Bundesbankpräsident so etwas sagte, würde er wahr-
scheinlich gleich in eine Heilanstalt eingeliefert werden.
Aber damals wurde diese Aussage mit großem Beifall
von allen Versammelten aufgenommen. Sie fand auch
großen Anklang in der deutschen Öffentlichkeit. Man






(A) (C)



(B) (D)


Oskar Lafontaine
sieht: Die damalige Überzeugung und Auffassung war
tatsächlich, dass die internationalen Finanzmärkte alles
richtig regeln, dass sie die richtigen Findungsprozesse in
Gang setzen werden, während die Politik nichts anderes
zu tun hat, als diesen Findungsprozessen Rechnung zu
tragen und ihnen zu folgen.

Wer ein Zeugnis von einem relativ kritischen Politiker
von der linken Seite haben will, dem möchte ich Joschka
Fischer zitieren, der in den damaligen Auseinanderset-
zungen gesagt hat: Ihr glaubt doch wohl nicht, dass ihr
Politik gegen die internationalen Finanzmärkte machen
könnt! – Wenn Sie nur diese zwei Aussagen als Beispiel
nehmen, dann stellen Sie fest, in welchem Ausmaß man
sich damals geirrt hat und wie sehr die Fehlorientierung
der Politik durch die internationalen Finanzmärkte er-
zwungen wurde. Für uns war dies ein Prozess, den ich
wie folgt beschreiben möchte: Das war eine Verabschie-
dung von der Demokratie und vom Sozialstaat. Die
Folgen tragen wir alle heute.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Wenn ich von der Verabschiedung von der Demokra-
tie durch die internationalen Finanzmärkte spreche, dann
will ich auf die Definition der Demokratie zurückkom-
men, die entscheidend ist, um das beurteilen zu können.
Demokratie ist nicht nur ein formaler Prozess. Viele
glauben, es sei Demokratie, wenn man regelmäßig zur
Wahlurne gehen könne. Ich wiederhole, dass die klassi-
sche Definition der Demokratie von den Ergebnissen her
kam. Wir bezeichnen eine gesellschaftliche Ordnung
dann als demokratisch, wenn die Entscheidungen so ge-
troffen werden, dass die Interessen der Mehrheit bei den
Entscheidungen berücksichtigt werden. Genau dies ist
nicht eingetreten, sondern das glatte Gegenteil. Deshalb
ist die Demokratie nachweislich verabschiedet worden.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Das glatte Gegenteil besteht in dem, was Sie, Herr
Bundesfinanzminister, offensichtlich nicht zur Kenntnis
nehmen wollen, nämlich dass die Reallöhne, die Renten
und die sozialen Leistungen – das ist ein einmaliger Vor-
gang – trotz einer wachsenden Wirtschaft und der Pro-
zesse, die ich hier nur kurz ansprechen kann, fallen. Ge-
nau das ist eingetreten. Inhaltlich wird die große
Mehrheit der Menschen nicht mehr an der wachsenden
Wirtschaft beteiligt. Wir haben aufgrund des Regimes
der internationalen Finanzmärkte keine soziale Markt-
wirtschaft mehr.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Dummes Zeug!)


– Jemand hat gerade „dummes Zeug“ dazwischengeru-
fen. Am Schluss seiner Ausführungen hat der Bundes-
finanzminister genau das, was ich beschrieben habe,
gesagt. Das sei seine Vorstellung von sozialer Markt-
wirtschaft. Wenn das aber seine Vorstellung von sozialer
Marktwirtschaft ist, dann müsste er zumindest zur
Kenntnis nehmen, dass es ihm bisher nicht gelungen ist,
diese zu realisieren.
Nun stellt sich die Frage, wie man die geistig-morali-
sche Umorientierung der Gesellschaft – das ist immer
ein ganz schwieriger Prozess – überhaupt in Gang setzen
kann. Niemand wird darauf eine Antwort geben können,
die weiter trägt als von hier bis zur nächsten Festveran-
staltung. Aber im Grunde genommen muss man zuerst
die Frage aufwerfen: Ist beispielsweise die Forderung
nach Transparenz geeignet, den Prozessen zu begegnen?
Ich sage: Transparenz hat nur dann einen Sinn, wenn aus
ihr irgendwelche Konsequenzen abgeleitet werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Wenn man feststellt, dass alles ganz schlimm sei,
dann mag Transparenz herrschen. Aber dann macht
Transparenz keinen Sinn. Man muss auch nicht die groß-
artigen Finanzinnovationen verstehen, um zu erkennen,
was eigentlich los war.

Ganz zum Schluss haben Sie leise etwas zu den Ren-
diteerwartungen gesagt. Aber wir alle wussten seit vie-
len Jahren das, was fast täglich auf den Wirtschaftsseiten
der Zeitungen stand: Wir, der Betrieb oder die Bank,
wollen eine Kapitalrendite von 25 Prozent. – Sie haben
das jetzt als schizophren bezeichnet. Herr Bundesfinanz-
minister, Sie hätten früher sagen müssen: Das ist ver-
rückt.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Das einfache Beherrschen der Prozentrechnung hätte
zu der Überlegung führen können, dass dann, wenn der
ganze Kuchen nur um 2 bis 3 Prozent größer wird, nicht
manche Kuchenstücke um 25 Prozent größer werden
können. –


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Dies ist das, was ich als geistig-moralische Dimension
bezeichne und was hier eben sichtbar geworden ist. Dass
man eine Elite hatte, die völlig durchdrehte, kann man
sich an folgendem Beispiel klarmachen: Stellen Sie sich
vor, ein älterer Mann oder eine ältere Frau wäre zu einer
Bank oder Sparkasse gegangen, hätte gesagt, er bzw. sie
habe 2 000, 3 000 Euro gespart und wolle jetzt 25 Pro-
zent Zinsen. Die Bankangestellten hätten einen Knopf
gedrückt und irgendeinen hilfreichen Geist aus dem
Hause gebeten, diesem Mann bzw. dieser Frau zu helfen,
weil er bzw. sie geistig verwirrt sei und nach Hause oder
in ein Altersheim gebracht werden müsse. Wenn aber
Herr Ackermann oder sonst jemand so etwas sagt, dann
wird Beifall gespendet. Dies ist Ausdruck der morali-
schen Verwerfung unserer Gesellschaft.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Diese Verwerfung ist aber nicht nur festzustellen, son-
dern sie hatte auch erhebliche Implikationen für die ge-
sellschaftliche Entwicklung in den letzten Jahren. Die
gesellschaftliche Entwicklung in den letzten Jahren habe
ich doch beschrieben. Was bedeutete denn die Aussage
„Sie sind alle der Kontrolle der internationalen Finanz-
märkte unterworfen, und wir haben keine Möglichkeit,






(A) (C)



(B) (D)


Oskar Lafontaine
irgendetwas dagegen zu tun“? Es wurde doch auch hier
in diesem Parlament immer wieder gesagt: Wer nicht so
oder so handelt, den bestrafen die Märkte. – Man müsste
einmal googlen, um herauszufinden, wie viele von Ihnen
oder wie viele frühere Kolleginnen und Kollegen immer
wieder gesagt haben: Wer nicht Sozialabbau betreibt,
den bestrafen die internationalen Finanzmärkte. – Das
war die ständige Rede in vielen Parlamenten, auch im
Deutschen Bundestag.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Deshalb gibt es nicht nur Folgen für die Sicherheit
der Einlagen der Bankkundinnen und Bankkunden – ich
will gar nicht von der Immobilienentwicklung sprechen,
übrigens auch der hier in Berlin –, von denen hier ge-
sprochen wird; vielmehr sind die Hauptbetroffenen die
Bürgerinnen und Bürger, die Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer, die Rentnerinnen und Rentner und die Emp-
fänger sozialer Leistungen, die aufgrund dieser Unter-
werfung unter die internationalen Finanzmärkte mit
fallenden Löhnen, fallenden Renten und sinkenden so-
zialen Leistungen bezahlen müssen. Das ist der gesell-
schaftliche Zusammenhang.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Dass Sie, Herr Bundesfinanzminister, immer noch
keine Lehren daraus gezogen haben, haben Sie in Ihrer
Haushaltsrede zu Protokoll gegeben. Dort reden Sie in
einer Situation – man fasst es nicht –, in der der amerika-
nische Finanzminister – Sie haben das richtig dargestellt –
5 Prozent des Sozialproduktes einsetzen muss, um die
Märkte zu stabilisieren, von einer weiter sinkenden
Staatsquote. Man fasst es manchmal nicht!


(Lachen des Bundesministers Peer Steinbrück – Peer Steinbrück, Bundesminister: Doch! – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie nicht!)


– Das Lachen wird Ihnen noch vergehen, Herr Bundes-
finanzminister. Sie werden sich mit dieser Prognose lä-
cherlich machen. Das bitte ich zu Protokoll zu nehmen
und dick zu unterstreichen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Eine weiter sinkende Staatsquote – das ist die Sprache
der internationalen Finanzmärkte, die Sie in Ihrer Haus-
haltsrede gebrauchten; denn deren Credo ist: Je weiter
die Staatsquote sinkt, umso besser geht es den internatio-
nalen Finanzmärkten. –


(Widerspruch bei der CDU/CSU)


Das haben Sie jetzt selbst zu Protokoll gegeben. Sie ha-
ben zu Protokoll gegeben, dass dann, wenn wir eine
Staatsquote wie vor einigen Jahren hätten, die jährlichen
Ausgaben 114 Milliarden Euro höher wären. Wissen Sie
jetzt, warum wir andere Leistungen für Sozialhilfeemp-
fänger haben, warum die Renten nicht steigen und wa-
rum wir keine Investitionen in die öffentliche Infrastruk-
tur tätigen?

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Genau diese fehlerhafte Philosophie ist die Ursache für
diese schlimme Fehlentwicklung.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wie war es in der DDR? Nichts gelernt!)


Das Hauptproblem ist aufgrund des Imperativs der in-
ternationalen Finanzmärkte die Privatisierung der So-
zialversicherungssysteme. Ich wiederhole hier: Privare
heißt berauben. Die Privatisierung der Sozialversiche-
rungssysteme hat dazu geführt, dass die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer und die Rentnerinnen und Rent-
ner erhebliche Verluste in Kauf nehmen müssen. Wie
man auf so etwas stolz sein kann, entzieht sich unserer
Kenntnis.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Reden Sie mal von den positiven Dingen! – Thomas Oppermann [SPD]: Wer will die privatisieren?)


In dem gleichen Zuge hat man dann die Sicherheit, nach
der jetzt wieder gerufen wird, nämlich die staatlich ga-
rantierte Rente immer mehr in Misskredit gebracht und
erzählt: Nur dann, liebe Rentnerinnen und Rentner,
wenn ihr den internationalen Finanzmärkten vertraut und
wenn ihr euch privat versichert, werdet ihr die Kapital-
renditen haben, mit denen ihr euren Lebensabend gestal-
ten könnt. – Das war doch die Philosophie, nach der hier
die Rentengesetzgebung erfolgt ist. Sie wollen alles das
heute nicht mehr wahrhaben, aber es ist eine Tatsache.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Thomas Oppermann [SPD]: Das haben wir gar nicht gemacht! Wovon reden Sie eigentlich?)


Wenn Sie das nicht wahrhaben wollen, dann schauen Sie
sich die Ergebnisse Ihrer Rentenformel an. Die Ergeb-
nisse Ihrer Rentenformel werden wir hier immer wieder
vortragen, bis Sie irgendwann einmal akzeptieren, dass
die Ergebnisse zum Handeln zwingen. Die Ergebnisse
der Rentenformel sind, dass jemand, der 1 000 Euro im
Monat verdient, also im Niedriglohnsektor beschäftigt
ist – dieser wird aufgrund der Unterwerfung unter die in-
ternationalen Finanzmärkte in Deutschland immer grö-
ßer; er ist mittlerweile der größte aller Industriestaaten –,
eine Rentenerwartung von 400 Euro hat. Das ist eine
Schande. Diese Rentenformel darf nicht bestehen blei-
ben, auch wegen der internationalen Finanzmärkte nicht.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Der OECD-Durchschnitt ist nicht 400 Euro, sondern
730 Euro. In unserem Nachbarstaat Dänemark, der auch
auf diesem Globus liegt, also ebenfalls den Zwängen der
Globalisierung unterworfen ist, sind es 1 200 Euro. Man
muss das dreimal lesen. Man glaubt es ja gar nicht.


(Zuruf von der SPD)


– Der Zwischenruf war richtig. Lest es nach!






(A) (C)



(B) (D)


Oskar Lafontaine
Die Frage ist, warum wir in Deutschland eine solche
Sonderentwicklung haben. Immer mehr Menschen mer-
ken, dass das Unterwerfen unter die internationalen
Finanzmärkte ein Fehler war. Sie, meine sehr geehrten
Damen und Herren, werden dafür bei den nächsten Wah-
len die Quittung bekommen. Warten Sie nur ab!


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Dasselbe gilt natürlich auch für die Lohnentwick-
lung. Sinkende Löhne bei steigendem Sozialprodukt,
das gab es noch nie. Die Unterwerfung unter die interna-
tionalen Finanzmärkte mit dem Imperativ „Deregulie-
rung, Flexibilisierung und Privatisierung“ führte dazu,
dass die Löhne immer weiter ins Rutschen kamen. Wir
haben jetzt Leiharbeit: Deregulierung. Wir haben jetzt
befristete Arbeitsverträge: Deregulierung. Wir haben
jetzt Minijobs und Midijobs: Deregulierung. Wir fum-
meln am Kündigungsschutz herum: Deregulierung. Wir
fummeln an den Tarifverträgen herum: Deregulierung.
Wir haben auch die Finanzmärkte dereguliert. Die Parole
der Zeit ist nicht mehr Deregulierung – der Irrglaube des
Neoliberalismus –, sondern ein Staat, der reguliert, im
Interesse der Menschen, der Bürgerinnen und Bürger.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist Kommunismus!)


– Ach Gott, wie erbärmlich! Ich muss das wiederholen.
Hier schreit ein Kollege, Herr Hinsken, glaube ich, da-
zwischen, das sei Kommunismus. Gerade hat der
Finanzminister doch gesagt, man müsse regulieren. Ja
sitzt denn ein Kommunist auf der Regierungsbank?


(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Machen Sie sich doch nicht lächerlich! Die ganze Welt
erkennt jetzt, dass Regulierung auf den internationalen
Finanzmärkten notwendig ist, und Sie diffamieren oder
diskreditieren die Forderung nach Regulierung als Kom-
munismus. Man fasst es wirklich nicht mehr.

Zu der Frage, was zu tun ist, möchte ich jetzt einige
Punkte ansprechen.

Erstens zu einem Punkt, von dem Sie, Herr Bundes-
finanzminister, nicht gesprochen haben. Wir sind der
Überzeugung – das möchte ich hier für meine Fraktion
noch einmal erklären –, dass das Wechselkursregime
heute völlig falsch ist, da es zu Spekulation verleitet, und
dass daher ein seit 20 Jahren auf dem Tisch liegender
Vorschlag aufgegriffen werden muss, nämlich die Stabi-
lisierung der Wechselkurse der Leitwährungen, wozu
mittlerweile auch die chinesische Währung gehört. Es
geht um Zielzonen, die international bereits seit vielen
Jahren gefordert werden. Der Nobelpreisträger Robert
Mundell hat sie kürzlich in einem Interview der Frank-
furter Allgemeinen Zeitung wieder gefordert. Solange
Sie dazu nichts sagen, so lange werden Sie den ersten
Einbruch nach dem Zusammenbruch des Bretton-
Woods-System nicht in Angriff nehmen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Das Zweite ist die Regulierung des internationalen
Kapitalverkehrs. Das hatte der Herr Schmidt gemeint,
Herr Bundesfinanzminister. Er hat schon vor 20 Jahren
gesagt, dass man wie im Autoverkehr, wie im Schiffs-
verkehr und wie im internationalen Flugverkehr Regeln
braucht. Oder nehmen Sie einen Spekulanten wie Soros,
der gesagt hat: Wenn schon das Kapital in wenigen Mo-
naten in eine kleine Volkswirtschaft hineinfließen kann
– das war damals die Krise in Thailand –, dann muss
man zumindest Ventile haben, damit das flüchtige Kapi-
tal nicht von einem Tag auf den anderen wieder abfließt
und so die ganze Volkswirtschaft ruiniert. – Also, die
Kontrolle des internationalen Kapitals ist die zweite For-
derung, die ich hier vortragen möchte.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Die dritte Forderung ist das Austrocknen der Steuer-
oasen. Sie glauben doch nicht, dass Sie die Dinge in den
Griff bekommen, dass Sie Ordnung in die internationa-
len Finanzmärkte bekommen, wenn sich viele Industrie-
staaten augenzwinkernd weiter Steueroasen halten, in
denen Geld gewaschen wird und sich nicht versteuertes
Geld immer mehr anhäuft.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Zu begrüßen ist, dass jetzt endlich erkannt ist: Man
muss die Ratingagenturen zumindest kontrollieren. Wir
sagen: Die Ratingagenturen gehören in gesellschaftliche
Verantwortung. So wie es nicht sinnvoll wäre, die Zulas-
sung von Medikamenten der Pharmaindustrie zu über-
lassen, so wenig ist es sinnvoll, die Zulassung von
Finanzprodukten der Finanzindustrie zu überlassen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Das ist eine unmögliche Vorgehensweise. Es ist anerken-
nenswert, dass man das jetzt wenigstens erkannt hat.

Natürlich brauchen wir internationale Regeln der
Bankenaufsicht. Die sind schon seit Jahrzehnten in Ar-
beit. Es sind einige Verbesserungen erreicht worden.
Aber sie haben offensichtlich nicht ausgereicht; sonst
hätten wir die Fehlentwicklungen jetzt nicht. Solche Re-
geln haben nur dann Sinn, wenn sich alle daran halten;
davon – das muss ich fairerweise sagen – war schon die
Rede.

Kommen wir zu der eigenen Verantwortung. Es ist
immer wunderbar, dass man auf die internationale
Finanzregulierung zeigt und die eigene Verantwortung
nicht gelten lassen will. Da kann ich den Redner der
FDP unterstützen. Sie hätten einmal über Ihre eigene
Verantwortung sprechen müssen. Ich möchte anführen,
dass im Koalitionsvertrag genau das gefordert worden
ist, was Sie hier kritisieren. Ich lese Ihnen einmal vor,
was im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SDP unter
dem Stichwort Finanzmarktpolitik steht:

Produktinnovationen und neue Vertriebswege müs-
sen nachdrücklich unterstützt werden.






(A) (C)



(B) (D)


Oskar Lafontaine
Wenn man beim Geldhandel schon von Produktinnova-
tionen spricht, dann ist höchste Vorsicht geboten.

Dazu wollen wir die Rahmenbedingungen für neue
Anlagenklassen in Deutschland schaffen. Hierzu
gehören … der Ausbau des Verbriefungsmarktes …


(Lachen bei der LINKEN)


Das ist genau der Schrott, der bei der IKB gehandelt
wurde, wo auch noch ein Staatssekretär dabei saß. Sie
haben es doch ermöglicht, dass dieser Schrott gehandelt
wurde.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Das steht hier im Koalitionsvertrag. Wieso sagen Sie
dazu nichts? Sie stehen hier völlig mit in der Verantwor-
tung.

Dasselbe gilt natürlich für die Hedgefonds, die aller-
dings unter der Vorgängerregierung zugelassen worden
sind. Nachdem Sie die Folgen von Hebelwirkungen er-
kannt haben, hätten Sie längst etwas unternehmen müs-
sen, um dieses Treiben zu beenden, dass man sich zu
1 Euro 40 Euro hinzu leiht und damit Finanzmärkte oder
ganze Unternehmen in Unordnung bringt.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Warum haben Sie nichts unternommen? Es ist ja jetzt so
passend, auf die USA zu zeigen und zu sagen, dort sei
alles ganz schlimm gewesen. Nein, packen Sie sich an
die eigene Nase; dann haben Sie genug in der Hand,
Herr Bundesfinanzminister! Stellen Sie sich einmal Ihrer
eigenen Verantwortung!


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Zuruf von der CDU/CSU: Das gilt auch für Sie, Herr Kollege!)


Was die Zweckgesellschaften angeht, ist es ja gut,
dass über Basel irgendetwas gekommen ist. Sie saßen
die ganze Zeit über dabei, vertreten durch Ihren Staats-
sekretär, als die Risiken in den Zweckgesellschaften ver-
steckt worden sind. Machen Sie deswegen hier nicht den
Clown, Herr Bundesfinanzminister. Sie tragen die Ver-
antwortung für diese Fehlentwicklung und können nicht
immer so tun, als säßen Sie zwar dabei, hätten aber keine
Verantwortung. Ihr Name ist doch nicht Hase; so viel ich
weiß, ist er immer noch Steinbrück.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir stellen
jetzt fest, dass die Formel von der Überlegenheit freier
Märkte an die Wand gefahren wurde und dass wir jetzt
nicht mehr der Kontrolle der internationalen Finanz-
märkte unterworfen sind, sondern dass die internationalen
Finanzmärkte uns zwingen, aufgrund der Fehlentwicklun-
gen Entscheidungen zu treffen, die kontraproduktiv sind
und die wir gar nicht treffen wollten, weil sie mit großen
Verlusten verbunden sind, deren Ausmaß noch niemand
absehen kann. Wir haben jetzt gelernt, dass die Aussage,
wir könnten nicht gegen die internationalen Finanz-
märkte regieren, umgedreht werden muss: Wir müssen
gegen die internationalen Finanzmärkte regieren, um
endlich wieder Ordnung in das System zu bringen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Im Grunde genommen geht es bei dieser Fragestellung
zunächst natürlich um die Stabilisierung der internatio-
nalen Finanzmärkte. In Bezug darauf ist eine Reihe von
Entscheidungen der letzten Zeit richtig gewesen; nicht
alle, aus Zeitgründen kann ich darauf nicht weiter einge-
hen.

Das Thema, um das es hier geht, fasse ich in einem
Satz zusammen: Es geht hier um die Wiederherstellung
der Demokratie und des Sozialstaats.


(Anhaltender Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1617901000

Der nächste Redner ist Ludwig Stiegler für die SPD-

Fraktion.


Ludwig Stiegler (SPD):
Rede ID: ID1617901100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als wir

jetzt diese Zelebration von Selbstgerechtigkeit erlebt ha-
ben,


(Zurufe von der Linken: Oh!)


habe ich mir im Stillen gedacht: Oh, Oskar!


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Oh, Ludwig!)


Denn der Herr war einmal ein mächtiger Mann in dieser
Republik: Bundesfinanzminister und Parteivorsitzender
der SPD. Er hat damals schon Ansätze gehabt, sich um
die internationalen Märkte zu kümmern, und auch erste
robuste Gespräche geführt. Nachdem er nicht über Nacht
zum Erfolg kam, ist er abgehauen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der Linken)


Peer Steinbrück hat an Max Weber erinnert. Max
Weber hat einmal gesagt, Politik ist das Bohren harter
Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich. Oskar
Lafontaine hat damals geglaubt, es sei ein Soufflé. Als er
dann auf Granit oder auf hartes Holz gestoßen ist, ist er
geflüchtet. Der alte Cicero hätte gesagt: effugit, evasit,
wie der alte Catilina, abgehauen. Aber hier jetzt selbst-
gerechte Reden halten! Er hätte der Sankt Michael eines
guten Finanzsystems werden können. Stattdessen ist er
der Luzifer der PDS geworden.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der CDU/ CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist wirklich schade; denn nur wenige hier in diesem
Hause hatten jemals eine solche Chance wie er, in Regie-
rungsverantwortung die Welt so zu korrigieren, wie es
dem eigenen Weltbild entspricht. Dazu gehören aber
Marathonqualitäten: Ausdauer, Geduld und die Fähig-
keit, wieder aufzustehen, nachdem man, wie jetzt die






(A) (C)



(B) (D)


Ludwig Stiegler
Amerikaner, ganz gewaltig auf die Nase gefallen ist. Wer
aus der Verantwortung, die er übernommen hat, flüchtet
– Gysi ist übrigens vom selben Typ –, sollte anderen
keine Predigten halten, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Natürlich stimmt es auch mich heiter, wenn ich sehe,
wie hier in Deutschland manche Liberale in und außer-
halb der FDP


(Joachim Poß [SPD]: Auch der Union! – Dr. Karl Addicks [FDP]: Mancher Huber!)


vom Deregulierer zum Regulierer werden, wie plötzlich
die Bremser der Regulierung, nachdem das Kind in den
Brunnen gefallen ist, vom Bremserhäuschen auf den
Führerstand der Lokomotive drängen. Das erinnert mich
direkt an Bond-Filme; das ist Bond-like. Es passt auch
zu den Geschehnissen auf den Finanzmärkten, auf welch
abenteuerliche Weise hier versucht wird, sich an die
Spitze zu setzen.

Es waren Gerhard Schröder, Hans Eichel, Peer
Steinbrück, die letzte und die derzeitige Bundesregierung,
die im internationalen Gespräch mit den Engländern und
den Amerikanern auf die Probleme hingewiesen haben.
Nachdem Peer Steinbrück in der Haushaltsdebatte noch
gemeint hat, ich hätte die Engländer vielleicht zu hart
angegangen, habe ich mich gefreut, dass er mir heute ein
Vorbild gegeben hat, wie heftig man auftreten und zu-
gleich auf dem internationalen Parkett verkehren kann.
Das hielt ich schon für eine tolle Sache.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, die Marktteilnehmer ha-
ben versagt. Die Marktdisziplin war verschwunden.
Oskar Lafontaine hat wiederum nicht recht, wenn er
sagt, Transparenz alleine würde nicht helfen. Vielmehr
ist es so: Die Marktdisziplin hängt von der Transparenz
ab. Wenn die Leute wissen, welche faulen Eier jemand
im Nest hat, dann werden sie zögern, ihm noch Geld für
den Kauf zusätzlicher fauler Eier zu geben. Deshalb ist
Transparenz das Erste und das Notwendigste.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nun zur Regulierung: Ich war mit dem Kollegen Poß
seit etwa zehn Jahren jährlich bei der amerikanischen
Community. Wenn ich mir überlege, was die uns erzählt
haben! Wenn wir schüchtern und diplomatisch zurück-
haltend Regulierungsprobleme angesprochen haben,
dann wurde uns entgegnet: Alles sei bestens. Ich habe
mir nun gestern Nacht die Anhörung von Paulson und
Bernanke vor dem Senat angetan. Da sagte der Paulson
plötzlich: Wir haben ein völlig überaltertes, kaputtes, mit
vielen Löchern versehenes Regulierungssystem, das sei-
ner Aufgabe nicht mehr gerecht geworden ist. Sie hatten
aber damals die Macht, all dies zu vertuschen. Jetzt,
nachdem sie auf die Nase gefallen sind, lassen sie end-
lich die Hosen herunter. Was man da sieht, ist nicht sehr
schön.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, diese Eingeständnisse sind
hilfreich, wenn wir mit den Amerikanern darüber reden,
in welcher Form die europäischen Banken, die in Ame-
rika aktiv waren, an der Rettungsaktion, die da jetzt ab-
läuft, beteiligt werden. Ich denke, eine Regierung, unter
deren Augen sich die Subprime-Krise bis 2007 entwi-
ckeln konnte und die zugeschaut hat, wie Betrüger Kre-
dite ausgegeben und dann gebündelt weiterverkauft
haben, sollte darüber nachdenken, wie alle Marktteilneh-
mer in der Welt, die man so hinters Licht geführt hat,
entschädigt werden können. Das wäre die richtige Ant-
wort und nicht die Behauptung, es sei eine Gnade, dass
die europäischen Banken mit Niederlassungen in Ame-
rika an der Bewältigung der Krise teilhaben könnten.

Stichwort Ratingagenturen: Ich kann mich erinnern,
welche Aufregung von gewisser Seite kam, als Joachim
Poß und Jörg-Otto Spiller dieses Thema hier im Parla-
ment zur Sprache gebracht haben, und wie viele sich als
Schirmherren für die Ratingagenturen aufspielten. Jetzt
ist endlich klar, dass diese Position unhaltbar ist.

Oskar Lafontaine hat die Verbriefung angegriffen.
Ich möchte ausdrücklich sagen, dass dies wieder so ein
Irrtum ist. Eine anständige Verbriefung wie zum Beispiel
der deutsche Pfandbrief oder die Standardisierung durch
die TSI in Frankfurt, die es auf dem deutschen Banken-
platz gibt, ist ein Segen für die Finanzindustrie, weil die
Menschen wissen, was sie einzahlen und zurückbekom-
men. Es geht also nicht um die Verbriefung als solche,
sondern um betrügerische Aktivitäten im Umfeld der
Verbriefung. Deshalb schlage ich vor, dass wir uns Ge-
danken über ein deutsches Verbriefungsgesetz und eine
DIN-Norm über die Verbriefung machen, damit wieder
Vertrauen in die Märkte zurückkehrt.


(Beifall bei der SPD – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das Gesetz gibt es schon!)


Dieses Originate to distribute Model ist in der jetzi-
gen Phase gescheitert. Es ist übrigens bereits 2007 ge-
scheitert. Denn wer die Indizes betrachtet, stellt fest,
dass erst die Vintage 2007 zu diesen Problemen geführt
hat.

Meine Damen und Herren, der Finanzminister hat die
Bilanzierungsregeln nicht angesprochen. Ich denke,
auch um die Bilanzierungsregeln werden wir uns zu
kümmern haben. Wenn die jetzige Situation unter dem
Bilanzregime des soliden HGB erfolgt wäre, dann hätte
die Beute in der Spitze nicht so groß und dann hätten die
Abschreibungen in der Flaute nicht so groß sein können.

Das jetzige sogenannte Fair Value Accounting ist we-
der fair noch beschreibt es einen Value. Es ist vielmehr
das Ergebnis derer, die in Quartalen denken und schnelle
Beute wegschaffen wollen. Darüber hinaus müssen wir
uns darum kümmern, dass nicht private Standardsetzer
die Buchführungsregeln bestimmen, sondern dass die
Staaten da wieder ein maßgebliches Wort mitreden.
Auch die Europäische Union darf sich ihre Bilanzregeln
nicht von der Wall Street diktieren lassen, sondern muss
eigene Bilanzregeln aufstellen.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Ludwig Stiegler
Meine Damen und Herren, zum Stichwort Markt und
Staat. Hier haben wir eben gelernt, dass all die Heldin-
nen und Helden, die in guten Zeiten keinen Staat sehen
wollen, in schlechten Zeiten in die sicheren Häfen flüch-
ten. Wenn bei ihnen die Angst die Gier verdrängt, dann
kaufen sie Dollaranleihen, selbst wenn diese nur Promil-
lesätze an Rendite abwerfen. Deshalb haben wir auf-
grund dieser Krise das moralische Recht, dass wir eine
klare Neuordnung auf den Märkten vornehmen. Schließ-
lich hat bereits Kant gesagt, dass die Freiheit durch die
Grenze definiert wird. Diesen Auftrag lassen wir uns
nicht mehr nehmen. Uns steht in Amerika, in England
und überall da, wo die Deregulierer gesiegt haben, nun
ein Fenster der Gelegenheit offen; selbst unsere Libera-
len und die Liberalen außerhalb der FDP sind regulie-
rungsfromm geworden. Lasst uns dieses Fenster nutzen,
damit wir zu Finanzmärkten kommen, die der Realwirt-
schaft und nicht der Spekulation dienen!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1617901200

Das Wort erhält nun Fritz Kuhn für die Fraktion von

Bündnis 90/Die Grünen.


Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617901300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Vorstellung, dass man ungezügelt Risiken eingehen
kann, um persönliche Gewinne zu erzielen und volks-
wirtschaftliches Wachstum zu erzeugen, also dieses ver-
meintliche Perpetuum mobile einer finanzmarktgetriebe-
nen Ökonomie unendlicher Renditen, ist gescheitert. Ich
glaube, dass man das so nüchtern und klar sagen muss.
Es ist natürlich nicht nur – das ist mir wichtig – ein tech-
nisches Problem von Regeln, sondern es ist auch ein mo-
ralisches und grundlegendes Problem von Gesellschaf-
ten, die sich dieser Vorstellung und Ideologie
verschrieben haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie in der Realökonomie einer Industriegesell-
schaft zum Beispiel im Industriebereich im langjährigen
Schnitt Renditen zwischen 8 und 12 Prozent erreichen
können, dann ist die Vorstellung, dass Sie auf den
Finanzmärkten Renditen von 25 Prozent erreichen kön-
nen, eine Illusion. Was geschehen wird, wenn man dies
glaubt, ist, dass die Risiken zurückschlagen, und das ha-
ben sie getan. Das eigentliche politische Problem besteht
allerdings darin, dass die Risiken nicht bei denen zu-
rückschlagen, die sie eingegangen sind – jedenfalls nicht
in erster Linie –, sondern bei vielen Leuten, die mit den
Risiken gar nichts zu tun hatten, zum Beispiel bei uns,
den Steuerzahlern und Steuerzahlerinnen, die die Zeche
zahlen müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich nenne einmal Zahlen, die die Dimension deutlich
machen: Gerade wird in den Vereinten Nationen darüber
diskutiert, dass zur Erreichung der Millennium Develop-
ment Goals 70 Milliarden US-Dollar für ganz Afrika
notwendig wären, also 10 Prozent von den 700 Milliar-
den US-Dollar, die jetzt zum Management der Finanz-
marktkrise in den Vereinigten Staaten notwendig sind.
Ich glaube, dieses Verhältnis sagt alles: Wir bringen die
70 Milliarden US-Dollar für Afrika anscheinend nicht
auf – jedenfalls ist man nicht gewillt –, aber die 700 Mil-
liarden US-Dollar bringt man auf; man muss sie aufbrin-
gen, weil sonst alles zusammenbricht. Über dieses mora-
lische Missverhältnis müssen wir in der Tat reden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Gescheitert ist eine neoliberale Konzeption einer
Marktwirtschaft, die staatliche Regeln als Wachstums-
bremsen versteht. Ich finde es übrigens interessant, dass
sich zwei Parteien in Deutschland, nämlich die CDU und
die FDP, anschicken, die nächste Regierung zu bilden,
die sich genau dieser Ideologie immer verschrieben ha-
ben. Das muss an dieser Stelle auch einmal gesagt wer-
den.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Früher war es, wenn es um Regeln oder gar Regulie-
rungen für die Märkte ging, bei der CDU üblich, zu sa-
gen, dies seien Fesseln für die Wirtschaft. Ich erinnere
an eine Situation im Jahr 2001, als die Riester-Rente
eingeführt wurde, und zwar mit strengen Kriterien – wir
haben damals darüber gestritten – in Bezug auf Riester-
fähige Produkte, weil wir verhindern wollten – das hat
Lafontaine gerade vor lauter Aufregung übersehen –,
dass das Geld der Leute, die für das Alter ansparen, in
unregulierte, hochriskante Finanzanlagen gesteckt wird.
Walter Riester hat damals Regeln und die entsprechende
Zertifizierung gefordert, und wir haben das unterstützt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Damals hat Frau Merkel, die jetzige Bundeskanzlerin,
die sich heute für Regulierungen einsetzt, im Bundestag
gesagt:

Wir werden durch Ihre Reform ein bürokratisches
Monstrum erleben mit einem zusätzlichen Zertifi-
zierungsgesetz, mit Kriterien, von denen noch nie-
mand weiß, wie sie erfüllt werden sollen, mit
Fondsstrukturen, über die das „Wall Street Journal“
gestern nur einen einzigen Satz schreibt: „Die Aus-
gestaltung dieser Fonds geht in die total falsche
Richtung.“ Das ist die Bewertung der internationa-
len Finanzwelt über das, was Sie hier vorgelegt ha-
ben.

Das war Frau Merkel 2001: gegen den Versuch, privat
für das Alter angespartes Geld in Deutschland durch
klare Regulierung und Regeln zu schützen. Ich finde,
Frau Merkel, da sollten Sie einmal einen Irrtum einge-
stehen, denn da lagen Sie völlig falsch. Heute reden Sie
von Regulierungen, wir haben sie schon damals notwen-
digerweise gefordert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich finde aber, Herr Lafontaine, was Sie hier veran-
staltet haben, ist ein starkes Stück. Sie werfen alles in ei-






(A) (C)



(B) (D)


Fritz Kuhn
nen Topf. Das ist übrigens das Grundschema Ihrer politi-
schen Rhetorik: Alles hängt mit allem zusammen, und
deswegen muss alles in einen Topf.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie sagen, weil die Finanzmärkte – da sind wir nicht aus-
einander – jetzt versagt haben, sind auch alle anderen so-
zialen Reformen einfach nicht richtig, und deswegen
muss man sie alle einkassieren. Was hat denn, bitte
schön, das Problem in unserem Rentensystem, das auch
ein Demografieproblem ist, da der Altersaufbau der Ge-
sellschaft die Rentensysteme in der Zukunft instabil
macht, mit der Finanzmarktkrise zu tun? Es hat gar
nichts damit zu tun!


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Na, na, na!)


Deswegen werden wir die private Säule der Alterssiche-
rung in Deutschland nicht zurücknehmen, nur damit Sie
Ihre billigen populistischen Reden halten können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten SPD)


Wir haben in Bezug auf den demografischen Wan-
del – so der OECD-Bericht zur Rente, den Sie einmal
zur Kenntnis nehmen müssten – in Deutschland viel er-
reicht; aber was wir noch nicht erreicht haben, ist eine
Prävention gegen aufwachsende Altersarmut. Da muss
man tatsächlich etwas tun. Die richtige Antwort wäre ge-
wesen, sich die Frage zu stellen, mit welcher weiteren
Rentenreform wir es schaffen können, Renten über das
Grundsicherungsniveau aufzuwerten; denn es kann in
der Tat nicht sein, dass jemand, der sein Leben lang voll
erwerbstätig war, nur das Grundsicherungsniveau der
Rente erreicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1617901400

Herr Kollege Kuhn, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Schui?


Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617901500

Ja.


Dr. Herbert Schui (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617901600

Herr Kollege Kuhn, ist Ihnen Folgendes bekannt:

Wenn man 25 Prozent Rendite einfährt, dann steigt der
Gewinnanteil am Volkseinkommen. Wenn der Gewinn-
anteil am Volkseinkommen steigt, muss notwendiger-
weise der Anteil sinken, der für soziale Zwecke ausgege-
ben wird, oder es müssen die Löhne sinken oder beides.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist so ein Quatsch! So einen Quatsch haben noch nicht einmal Sie gesagt, Herr Lafontaine!)


Infolgedessen muss man das eine mit dem anderen ver-
binden.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)

Würden Sie mir da recht geben?


(Beifall bei der LINKEN)


Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617901700

Sie können sich wieder setzen; Ihre Frage ist schön,

aber sie hat mit meiner Rede und mit meiner Argumenta-
tion nichts zu tun.


(Lachen bei der LINKEN)


Deswegen werde ich darauf nicht weiter eingehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Man muss natürlich die Frage stellen – da höre ich
von Herrn Steinbrück überhaupt nichts –, wer für die
Kosten, die im Zuge der Bewältigung der internationalen
Finanzmarktkrise auf uns zukommen, eigentlich auf-
kommt. Die Antwort „Es kann nur der Steuerzahler
sein“ – der Steuerzahler ist nämlich Leidtragender der
Bankabschreibungen, weil dadurch die Steuereinnahmen
des Staates zurückgehen – ist mir zu fatalistisch.

Deshalb sagen wir Grünen: Jetzt ist die Stunde der
Einführung einer Börsenumsatzsteuer oder Finanz-
umsatzsteuer,


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


weil wir die Finanzspekulationen damit begrenzen kön-
nen und weil wir damit ein geeignetes Finanzinstrumen-
tarium für notwendige Maßnahmen haben.


(Zuruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


– Herr Dehm, für Ihr Leiden gibt es in jeder Apotheke
ein Zäpfchen mit Baldrian zur Beruhigung. Ich glaube,
die richtige Strategie für Sie wäre: Schicken Sie jeman-
den hin, oder gehen Sie selbst!

Es wird hier streitig darüber diskutiert, ob es Markt-
versagen oder Politikversagen ist. Ich finde diesen Streit,
mit Verlaub gesagt, müßig. Marktversagen ist immer
auch eine Form von Politikversagen,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


weil in einer funktionierenden Marktwirtschaft die Poli-
tik die Aufgabe hat, den Rahmen so zu setzen, dass die
Finanzmärkte nicht so leicht versagen können, wie dies
heute der Fall ist.

Im Unterschied zu Herrn Lafontaine sagen wir: Da
wir solide Finanzmärkte brauchen – ohne Finanzmärkte
sind keine Investitionen möglich; dieser Aspekt kam bei
Ihnen nicht vor und das scheint Ihnen schnurzpiepegal
zu sein –, brauchen wir ein neues System klarer Regeln
für diese Finanzmärkte, um ein Versagen, wie wir es
jetzt erlebt haben, in der Zukunft ausschließen zu kön-
nen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich will es kurz machen. Dazu gehören eine effektive
Rahmenordnung für die Ratingagenturen, eine europäi-
sche Finanzkontrolle, die Unterlegung von Risiken bei
Verbriefungen mit ausreichendem Eigenkapital sowie
die aufsichtsrechtlich und handelsrechtlich adäquate Er-
fassung von Zweckgesellschaften, was heute noch nicht
der Fall ist, und schließlich die Begrenzung der Anzahl






(A) (C)



(B) (D)


Fritz Kuhn
der Aufsichtsratsmandate. Angesichts der Situation bei
der KfW und bei anderen haben wir schon den Eindruck,
dass zu einer Aufsichtsratkultur eine größere Qualifika-
tion, ein besserer Überblick und mehr Zeit für die Aus-
übung des Mandates, als dies heute der Fall ist, gehören.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Bundesregierung hat zwar wichtige Themen in-
ternational auf die Tagesordnung gesetzt – Herr
Steinbrück, das wollen wir nicht bestreiten –, aber mit
Blick auf KfW, IKB und die Landesbanken muss man
sagen, dass sie auf nationaler Ebene die Finanzkontrolle
nicht richtig koordiniert hat. Angesichts der Tatsache,
dass im Zusammenhang mit der IKB insgesamt
10,7 Milliarden Euro in den Sand gesetzt wurden, wer-
den Sie, Herr Finanzminister, verstehen, dass meine
Fraktion genau untersuchen will, woran dies lag, wer da-
für die Verantwortung trägt und wie die Verantwortlich-
keiten zwischen KfW, IKB, Wirtschaftsministerium,
Finanzministerium, BaFin und Bundesbank hin- und
hergeschoben worden sind. Denn es ist kein normaler
Vorgang in einer Demokratie wie der unsrigen, dass ein-
fach 10,7 Milliarden Euro in den Sand gesetzt werden
und dann nur gesagt wird, dass dies Gegenstand einer
Diskussion auf einem G-7-Treffen ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Finanzminister, da der Leiter der Abteilung 7 Ih-
res Hauses Mitglied im Verwaltungsrat der BaFin und im
Aufsichtsrat der IKB ist und er für die Rechtsaufsicht
über die BaFin, die Bundesbank und die KfW zuständig
ist – er bereitet auch die Sitzungen des Verwaltungsrates
der KfW vor –, müssen wir uns fragen, ob da nicht eine
systematische und organisierte Unverantwortlichkeit
statt notwendiger Verantwortung vorliegt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Obwohl die IKB ihre außerbilanzlichen Aktivitäten
im Geschäftsbericht dargelegt hat, haben weder BaFin
noch Bundesbank noch BMF das davon ausgehende
Risikopotenzial adäquat eingeschätzt. Ich stelle die
Frage, ob sich diese Bundesregierung unter Ihrer Verant-
wortung und auch unter der von Herrn Glos, der sich bei
diesen Fragen immer verdrückt, der Verantwortung beim
Beteiligungscontrolling überhaupt bewusst war. Diese
Frage werden und müssen wir stellen. Wir hoffen darauf,
dass die FDP sich besinnt und einem Untersuchungsaus-
schuss zustimmt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich will zum Abschluss noch etwas zu der Rolle der
Landesbanken sagen. Es ist völlig klar, dass wir nach
der bayerischen Landtagswahl erneute Diskussionsrun-
den und wahrscheinlich auch die entsprechenden Fi-
nanzprobleme bei einigen Landesbanken, vor allem bei
der bayerischen und bei der WestLB, erfahren werden.
Ich finde, dass es notwendig ist, dass in diesen beiden
Bundesländern dann die Verantwortung, zum Beispiel
auch für unterlassene Reformen bei den Landesbanken,
offen auf den Tisch gelegt wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Landesbanken haben im Zusammenhang mit
hoch spekulativen Finanzmarktprodukten ein viel zu
großes Rad gedreht. Ich finde, dass dies klar auf den
Tisch muss, weil darin Risiken, übrigens auch für die
Sparkassenwelt, die jetzt zu Recht so gelobt worden ist,
verborgen sind.

Ein oder zwei Landesbanken sind nach unserer Über-
zeugung für die Bundesrepublik Deutschland ausrei-
chend. Sie haben die Aufgabe, passgenaue Finanzpro-
dukte zu entwickeln, sodass die dezentrale Struktur der
Sparkassen ihnen im internationalen Finanzmarkt nicht
zum Nachteil wird. Außerdem haben sie eine Zentral-
institutsfunktion sowie eine Refinanzierungsfunktion,
und sie müssen gerade für den Mittelstand Währungs-
risiken absichern können. Das entscheidende Problem,
das wir haben, ist doch, dass mittelständische Unterneh-
men nicht ungeschützt in die Exporte und in die Globali-
sierung gehen können.

Die sächsische Landesregierung, Herr Finanzminis-
ter, hat sich bei der Aufklärung im Untersuchungsaus-
schuss und während der Krise bei der sächsischen
Landesbank darauf berufen, dass sie selbst nur die
Rechtsaufsicht habe, aber die Fachaufsicht bei der BaFin
und beim Bundesfinanzministerium liege. Diese Rechts-
auffassung ist zwar umstritten, aber ich möchte schon
die Frage stellen: Warum hat eigentlich, als die BaFin in
der Kritik an der sächsischen Landesbank nicht weiter-
kam, niemand vom Bundesfinanzministerium eingegrif-
fen und klargemacht, dass das Gebaren der sächsischen
Landesbank nicht funktioniert?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Frank Schäffler [FDP])


Ich will damit sagen: Die Finanzmarktkontrolle in
Deutschland ist insgesamt ein Problem, und deswegen
erwarten wir als produktives Ergebnis eines Untersu-
chungsausschusses auch, dass danach ein klares Bild
entsteht, wie die Instrumente zu schärfen sind und eine
kluge Aufteilung der Finanzaufsicht in Deutschland
stattfindet, die wir bislang nicht haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Damit komme ich zum Schluss, liebe Kolleginnen
und Kollegen. Es ist ein schwieriges Thema, es ist ein
wichtiges Thema. Man darf durch die internationale Dis-
kussion nicht von den Hausaufgaben ablenken, die man
in Deutschland machen muss. Deswegen werden wir das
Ganze untersuchen. Ich hoffe, die FDP kann sich noch
dazu durchringen. Den Entwurf des Rechnungshofsbe-
richts werden Sie inzwischen gelesen haben. Auch die-
ser macht deutlich, dass es ein Finanzaufsichtsproblem
in Deutschland gab.

Deswegen sollte jetzt jeder an seiner Stelle die Haus-
aufgaben machen, und dann wird es in der Zukunft mit
mehr Regeln eine Erneuerung der sozialen Marktwirt-
schaft geben können, aber nicht – das sage ich Ihnen vo-
raus –, wenn wir jetzt zwei Monate diskutieren. Dann in-
teressiert dieses Thema niemanden mehr. Es ist ein
Problem, das wir oft in Deutschland haben, dass die The-
men hochgehypt werden, und wenn es um neue Regeln
geht, dann schwindet das Interesse. Arbeiten Sie deswe-






(A) (C)



(B) (D)


Fritz Kuhn
gen alle daran mit, dass wir bessere Regeln bekommen,
als wir sie in der Vergangenheit hatten.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1617901800

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle-

gen Diether Dehm von der Fraktion Die Linke.


Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617901900

Herr Kuhn, Sie haben eben gesagt, es sei jetzt an der

Zeit, zur Devisenumsatzsteuer zu kommen. Das ist si-
cher richtig, aber Sie hatten diese Devisenumsatzsteuer
– genannt Tobin-Tax, nach dem Nobelpreisträger James
Tobin – vor Ihrer rot-grünen Koalition bereits gefordert,
und Sie haben, als Sie in der Koalition waren, nicht das
Mindeste dafür getan, dass eine solche Tobin-Tax, wie
von SPD und Grünen vor der vorletzten Bundestagswahl
gefordert, eingeführt und umgesetzt wird.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE] – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Hätten wir die Tobin-Tax, wäre diese Krise nicht mit sol-
cher Schwere über uns hereingebrochen. Es ist jetzt auch
an der Zeit. Nachdem James Tobin die Devisenumsatz-
steuer gefordert hat, wäre es aber schon damals und
immer an der Zeit gewesen. Sie haben versagt und ver-
suchen, mit wohlfeilen Phrasen darüber hinwegzutäu-
schen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1617902000

Kollege Kuhn, bitte.


Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617902100

Ich will es ganz kurz machen. Selbstverständlich ha-

ben wir in der Koalition über die Tobin-Tax, die es in-
zwischen übrigens in 25 Varianten in der internationalen
Diskussion gibt, gesprochen.


(Zuruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


– Sie haben doch eine Frage gestellt, Herr Dehm.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ich habe eine Kurzintervention gemacht!)


Haben Sie ein Cholerikerproblem, oder was ist hier los?
Hören Sie doch zu. Kurzinterventionen haben doch nur
einen Sinn, wenn einen auch die Gegenmeinung interes-
siert.

Wir haben uns mit der Tobin-Tax beschäftigt. Ich will
Ihnen aber eine Illusion nehmen: Zu glauben, mit der
Einführung einer Börsenumsatzsteuer oder einer Tobin-
Tax, egal nach welchem Modell, wäre die jetzige Fi-
nanzmarktkrise zu verhindern gewesen, ist einfach dum-
mes Zeug und zeigt, dass Sie das Instrument, das Sie for-
dern, selbst überhaupt nicht verstehen. Sie sollten sich
noch einmal darüber informieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD – Widerspruch bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1617902200

Das Wort hat nun Kollege Hans-Peter Friedrich,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hans-Peter Friedrich (CSU):
Rede ID: ID1617902300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Was Sie, Herr Lafontaine, hier abgeliefert ha-
ben, war ein Beweis für Ihre große rhetorische Fähigkeit,
mit der Sie die Wahrheit konsequent verbiegen.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Weil sie Ihnen nicht passt!)


Sie haben vor allem bewiesen, dass Sie sich Ihrer Ver-
antwortung entziehen und das hinterher verschleiern
können. Ich finde es schäbig, dass Sie 1999 nach sechs
Monaten Amtszeit aus dem Amt geflohen sind und ge-
sagt haben: Das ist mir alles zu schwierig.


(Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Wenn ihr Anstand hättet, würdet ihr reihenweise zurücktreten!)


Ich will aber auch etwas Inhaltliches sagen. Die Sach-
verständigen sind sich heute einig, dass der Auslöser für
die Finanzmarktkrise die seit 2003 in den USA betrie-
bene Politik der niedrigen Zinsen ist. Ich möchte Sie da-
ran erinnern, dass Sie als Bundesfinanzminister damals
in mindestens jeder zweiten Rede nach einer Politik des
billigen Geldes gerufen haben. Sie haben gesagt: Die
Zinsen müssen gesenkt werden. – Wären wir Ihnen ge-
folgt, wären wir heute arm dran.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Das stimmt! Das ist richtig, was Sie sagen!)


Die Finanzmarktkrise macht zwei Dinge deutlich:

Erstens. Finanzmärkte brauchen Spielregeln, um ihre
dienende Funktion für die Marktwirtschaft zuverlässig
ausfüllen zu können. Damit ist noch nicht gesagt, wer
diese Spielregeln aufstellt. Damit ist auch noch nicht ge-
sagt, wie flexibel diese Spielregeln sind. Damit ist nur
gesagt, dass sie gelten müssen und eingehalten werden
müssen.

Herr Kuhn, ich sage Ihnen eines: Völlig sinnlos ist es,
die eigenen, die nationalen Akteure auf den Finanzmärk-
ten mit Fesseln zu belegen, sodass sie ihre internationale
Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Was wir in der Vergan-
genheit wollten und in der Gegenwart wollen, sind
Spielregeln für den internationalen Bereich. Mit Basel II
hat sozusagen eine Ausweitung auf die globalen Finanz-
märkte begonnen. Wir wollen aber auch verhindern
– das wollten wir in der Vergangenheit, das wollen wir in
der Gegenwart und in der Zukunft –, dass unsere natio-
nalen Finanzmarktakteure gegenüber den Wettbewer-
bern in anderen Ländern benachteiligt werden. Dazu ste-
hen wir.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)

Ich denke, wir sollten der Bundesbank bei der Frage,
wer die Einhaltung der Spielregeln überwacht, eine be-
sondere Bedeutung beimessen. Die Bundesbank hat in
der schwierigen Situation der letzten zwölf Monate im-
mer wieder bewiesen, dass sie die Dinge mit sehr viel
Sachverstand und Expertise in den Griff bekommen
kann. Ich denke, wir sollten unbedingt über eine Stär-
kung der Rolle der Bundesbank nachdenken.

Das Zweite, was die Finanzmarktkrise deutlich
macht, ist, dass die deutsche Bankenlandschaft, die oft
als renditeschwach, verstaubt und altmodisch verspottet
wurde – der Minister hat das heute Morgen sehr deutlich
ausgeführt –, viel besser ist als ihr Ruf. Sie trägt dazu
bei, dass wir heute, in dieser schwierigen Situation, bes-
ser dastehen als andere Länder. Das kann aber nicht da-
rüber hinwegtäuschen, dass die Finanzmarktkrise auf-
grund ihres Ausmaßes Auswirkungen auf die Wirtschaft,
auf die Konjunktur, auf die Situation in Deutschland ins-
gesamt haben wird, und zwar in erster Linie über das
Nachlassen der Nachfrage aus dem Ausland, also über
den außenwirtschaftlichen Kanal. Denn diejenigen Im-
mobilienbesitzer in den USA, in Spanien und in Groß-
britannien, die noch vor wenigen Monaten glaubten, sie
seien reich, weil sie eine teure Immobilie haben, und
jetzt wissen, dass sie es nicht sind, fragen auch nicht
deutsche Produkte nach. Insofern werden wir natürlich
eine Nachfragedelle bekommen.

In dieser Situation ist es wichtig, dass die deutsche
Wirtschaft in den letzten drei Jahren, in der Zeit der Gro-
ßen Koalition, gegen externe Schocks und gegen nach-
lassende Konjunktur widerstandsfähiger geworden ist.
Die Unternehmen haben zusammen mit den Arbeitneh-
mern ihre Hausaufgaben gemacht. Zum Teil waren
schmerzhafte Anpassungsprozesse notwendig, die jetzt
von der Linken genutzt werden, um gegen die Markt-
wirtschaft zu agitieren. Ich sage aber: Diese Anpas-
sungsprozesse haben dazu beigetragen, dass die soziale
Marktwirtschaft gestärkt wird und dass unsere Wirt-
schaft heute diesen Herausforderungen der internationa-
len Krise wettbewerbsfähig und stark begegnen kann.

Insgesamt hat die gute Ertragslage in den vergange-
nen Jahren dazu beigetragen, dass die Eigenkapitalaus-
stattung der Unternehmen, die notwendig ist, bis heute
verbessert wurde, dass eine gewisse Innenfinanzierung
der Unternehmen möglich wird und dass sie weniger auf
Kredite angewiesen sind als Unternehmen in Volkswirt-
schaften anderer Länder. Dennoch bleiben Kredite in ei-
ner Wirtschaft wichtig. Es ist erfreulich und erstaunlich
zugleich, wie attraktiv die Kreditbedingungen für die
Kreditnehmer trotz alledem in der aktuellen Situation
geblieben sind. Der Grund ist – auch ich möchte das
wiederholen, weil es wahr ist und nicht oft genug gesagt
werden kann –, dass wir ein Sparkassen- und Genos-
senschaftssystem haben, das stabil und gesund ist und
sich über Privateinlagen relativ leicht finanzieren kann.
Die drei Säulen – private, öffentliche und genossen-
schaftliche Banken – haben sich auch in turbulenten Zei-
ten bewährt. Herr Minister, ich sage Ihnen unsere Unter-
stützung zu, wenn es darum geht, in Brüssel bei der
Europäischen Kommission für diese drei Säulen der Sta-
bilität unseres Finanzwesens zu kämpfen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Das deutsche System der Universalbanken zeigt, dass
in der Krise am Ende die Solidität entscheidend ist. Die
Moden, die hin und wieder zu unsolidem Handeln verlo-
cken mögen, wurden von dieser Bundesregierung in den
letzten drei Jahren richtigerweise zurückgewiesen. Das
gilt im Übrigen auch, wenn ich das sagen darf, für das
deutsche Versicherungswesen. Die deutschen Versiche-
rer haben traditionell einen Anlageanteil, der sehr wenig
risikoreich ist. Insofern haben wir auch hier einen stabi-
len Anker für die Finanzsituation in Deutschland.

Dennoch hat die Eigenkapitalausstattung der deut-
schen Banken in den letzten Monaten gelitten. Mancher
Banker in Deutschland hat sich von der Euphorie anste-
cken lassen und ist Risiken eingegangen, die er selber
nicht überblickt. Aber auch hier gilt: In jeder Krise liegt
eine Chance. Diese Finanzkrise bietet die Chance, dass
sich Banken in Deutschland auf die heimischen Kredit-
märkte besinnen, auf die Märkte, die man überblicken
kann und denen die solide Substanz des deutschen Mit-
telstandes zugrunde liegt. Jeder von uns hat in seiner
Praxis als Abgeordneter schon erlebt, dass deutsche
Banken bzw. Kreditinstitute Mittelständlern Kredite ver-
weigert haben, weil sie nicht genügend Sicherheiten bie-
ten konnten. Dieselben Kreditinstitute haben sich nicht
abhalten lassen, internationale Finanzprodukte zu kau-
fen, deren Risiko sie aufgrund der Komplexität über-
haupt nicht überblicken konnten. Der schnelle Gewinn
auf den anonymen Finanzmärkten war verlockender als
die mühsamen Kreditverhandlungen mit den mittelstän-
dischen Unternehmen. Das sollte Warnung und Lehre für
unsere Banken in Deutschland sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der Direktor des Instituts für Wirtschaft, Professor
Michael Hüther, hat dazu am 19. September im Handels-
blatt geschrieben:

Banken brauchen einen festen Anker im heimi-
schen Markt, das klassische Geschäft mit Privat-
kunden und Unternehmen wird seine Bedeutung si-
chern. Jeweils steht das hohe Gut Vertrauen im
Mittelpunkt, das eine Anonymisierung nur in Gren-
zen verträgt.

Ja, das Risiko einer Kreditgewährung im eigenen
Umfeld ist erfassbar. Es ist besser erfassbar als die
anonymen Risiken irgendwo jenseits des Atlantiks, die
in irgendwelchen Verbriefungen gebündelt werden und
deren Risiko überhaupt nicht mehr zuordenbar war.

Es bleibt deswegen in der Krise die Hoffnung, dass
die Banken an die Realwirtschaft in Deutschland wieder
näher heranrücken und sich auf die Solidität und die
Substanz des deutschen Mittelstandes besinnen. Eines ist
klar: Kurzfristig mag man an den Finanzmärkten traum-
hafte und verlockende Gewinnchancen haben; aber lang-
fristig zählt nur die Substanz dessen, was auf der Welt
wirklich erwirtschaftet und erarbeitet wird.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Ludwig Stiegler [SPD]: Die Arbeit ist die Quelle allen Reichtums!)


Deswegen tun alle Akteure im Finanz- wie im Wirt-
schaftsbereich gut daran, zwischendurch immer wieder
einmal zu fragen: Wo ist eigentlich die Substanz all des-
sen, was sich da an Gewinnen und Erträgen aufbaut?
Hätte man die Frage „Wo ist die Substanz?“ schon 2000/
2001 in der Dotcom-Krise gestellt, wären so manche
Enttäuschung und so manches Desaster vielleicht ausge-
blieben.

Je komplexer die Finanzinstrumente werden, umso
mehr sind Aufklärung, Information und Vertrauen not-
wendig. Dennoch: Jedes Kreditgeschäft ist ein Risikoge-
schäft, und es muss auch Kreditgeschäfte mit hohen Ri-
siken geben. Denken Sie an den jungen Mann, den
Existenzgründer, der eine Geschäftsidee, eine Innova-
tion, eine Erfindung hat, aber kein Geld, kein Eigenkapi-
tal. Er muss jemanden finden, der das Risiko eingeht,
ihm dieses Geld zu geben, mit der Aussicht, entweder
mit ihm reich zu werden oder alles zu verlieren. Er findet
nur dann jemanden, wenn der Betreffende in der Lage
ist, dieses hohe Risiko in kleine Scheiben aufzuteilen
und auf viele Schultern zu verteilen.

Deswegen sind innovative, moderne Finanzinstru-
mente an den Finanzmärkten notwendig, um Risiko zu
streuen. Manches große Projekt ist nur realisierbar, wenn
Risiken auf die Schultern vieler verteilt werden. Diese
Spielräume müssen wir den Finanzmärkten lassen. Ich
sage das im Hinblick auf die Regulierungseuphorie, die
jetzt als Reaktion auf die Deregulierungseuphorie, die
wir vorher hatten – das Pendel schlägt sozusagen in die
Gegenrichtung aus –, folgt.

Wir brauchen strengere Anforderungen an die Rating-
agenturen, ohne Frage.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es kann nicht sein, dass diejenigen, die Risiken beurtei-
len und Kategorien von Risiken bilden, auf die andere
vertrauen, an den Finanzprodukten, die sie beurteilen
sollen, selber mitverdienen; deswegen müssen wir die
Interessenkonflikte, die sich bei den Ratingagenturen
aufbauen, beseitigen. Das ist eines der wichtigen The-
men.

Aber täuschen wir uns nicht: Ein Kredit bleibt immer
eine Frage von Risiko, von Vertrauen. Beide Kategorien,
„Risiko“ und „Vertrauen“, können nicht durch Gesetze
und nicht durch Verordnungen ersetzt werden. Auch da-
rüber sollten wir uns im Klaren sein. Deswegen wäre es
ein verheerender Fehler, wenn wir, wie das gefordert wird,
staatlich autorisierte oder staatliche Ratingagenturen ein-
richten würden. Kein Mensch kann nämlich wirklich
ernsthaft daran denken, dass wir mit solchen staatlichen
Ratingagenturen, mit denen wir quasi ein Qualitätssiegel
für Finanzprodukte schaffen würden, den Managern, den
hochbezahlten Akteuren am Finanzmarkt, ihr Risiko und
ihr Geschäft abnehmen. Dieses Risiko und dieses Ge-
schäft müssen sie schon selber betreiben; denn dafür
werden sie gut und hoch bezahlt.
Wir brauchen – auch das ist ein Appell vieler Sach-
verständiger in dieser Frage und in dieser Zeit – mehr
Langfristorientierung an den Finanzmärkten. Das Wort
„Nachhaltigkeit“ aus dem Bereich des Umwelt- und Kli-
maschutzes muss, auch als Kategorie, noch mehr Ein-
gang in die Finanz- und Wirtschaftspolitik finden.

Langfristiges Denken hat in Deutschland, sowohl im
Wirtschafts- als auch im Finanzbereich, Tradition. Den-
ken wir gemeinsam an den Mittelstand und die deut-
schen Familienunternehmen: Sie denken langfristig, sie
denken über Generationen, sie denken nachhaltig. Sie
sind der stabile Faktor in unserem wirtschaftlichen Ge-
schehen. Ich appelliere an den Koalitionspartner, in die-
sem Zusammenhang bei der Diskussion um die Erb-
schaftsteuer


(Ludwig Stiegler [SPD]: Mach keinen Wahlkampf! Ich habe mich auch zurückgehalten!)


diesen Gesichtspunkt nicht zu unterschätzen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Krise ist nicht ausgestanden. Aber Deutschland,
die deutsche Wirtschaft und die deutschen Finanzakteure
sind gut aufgestellt und können die Krise besser verkraf-
ten als andere. Es besteht wahrlich kein Grund zum Ju-
bel, aber auch kein Grund zum Pessimismus.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1617902400

Das Wort hat nun Rainer Brüderle, FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1617902500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die dra-

matische Entwicklung auf den internationalen Finanz-
märkten hat gravierende Auswirkungen. Keiner kann sie
abschließend bewerten. Niemand hat angesichts der
komplizierten Lage einfache und perfekte Lösungen zur
Hand.

Aber ganz so überraschend kam das alles nicht – außer
für die Bundesregierung. Die internationale Finanzkrise
musste erst deutliche Spuren in Deutschland hinterlassen,
bevor auch der Finanzminister endlich aufgewacht ist.
Als die Finanzmärkte beim G-7-Finanzministertreffen
im Frühjahr letzten Jahres international zum politischen
Thema wurden, war er auf Safari. Die Europäische Zen-
tralbank hat seit über einem Jahr vor dieser Entwicklung
gewarnt. Der Sachverständigenrat hat im letzten Jahr
den Risiken auf dem Finanzmarkt ein ganzes Kapitel ge-
widmet. Nichts ist geschehen, um sich auf diese Risiken
vorzubereiten.

Aber Sie haben auch schon als Landesminister im
Kreditausschuss der WestLB nicht an den Sitzungen teil-
genommen und sich für derartige Fragen nicht besonders
engagiert. Im Zusammenhang mit der IKB-Krise ist die
Beförderung Ihres Stellvertreters im Aufsichtsrat zum
Staatssekretär bemerkenswert. Es wird nicht genügen,






(A) (C)



(B) (D)


Rainer Brüderle
bei der KfW zwei Vorstände als Bauernopfer hinauszu-
werfen. Die KfW hat ein Strukturproblem. Die Struk-
tur ist nicht stimmig. Sie muss geändert werden.


(Beifall bei der FDP)


Ich sage hier nur: Wenn es dem Esel zu wohl wird,
geht er aufs Eis. Es ist fatal, wenn ein solches Institut an-
fängt, Banker zu spielen. Der Einkauf bei der IKB und
die Führung dieser Bank kennzeichnen eine Misere, für
die der Steuerzahler hart bezahlen muss. Der Unter-
schied zwischen der Entwicklung in den Vereinigten
Staaten und der in Deutschland ist: In den Vereinigten
Staaten wurde auf den Finanzmärkten ohne Schiedsrich-
ter gespielt. In Deutschland haben die Schiedsrichter
mitgespielt. Das ist das Fatale.


(Beifall bei der FDP)


Es ist auffällig, wie die Marktstrukturen verteilt sind.
Die Sparkassen haben einen Marktanteil von 50 Prozent
und die Genossenschaftsbanken von 15 Prozent: Zwei
Drittel der deutschen Banken sind also staatlich oder
vergesellschaftet.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Gott sei Dank!)


– Dagegen habe ich nichts. Aber auffällig ist, dass bei
den Landesbanken, die politisch determiniert sind – die
Vorstände werden nicht nach Qualität, sondern nach der
Farbenlehre rekrutiert – und deren Aufsichtsgremien po-
litisch besetzt werden, der größte Mist geschehen ist. Es
wurde gestern von Frau Professor Müller auf einer Ta-
gung in der Humboldt-Universität gesagt, dass an den
internationalen Finanzmärkten die Regel galt: If you
can’t sell it, sell it to the Landesbank. – Das ist eine trau-
rige Entwicklung.

Die Konsequenz kann aber nicht sein, dass der Staat
sich noch mehr in das Bankengeschäft einmischt. Die
geniale Lösung der sozialen Marktwirtschaft ist, den
Wettbewerb als Entmachtungsinstrument funktionsfähig
zu halten. Es sind in der Tat keine entsprechenden Re-
geln geschaffen worden, und diejenigen, die es gibt, sind
nicht eingehalten worden. Grundlegende Prinzipien
müssen beachtet werden. Schon einer der Gründungsvä-
ter, Walter Eucken, hat gewarnt, dass etwas schief läuft,
wenn zwei Dinge eintreten: Kartellierung, sprich eine
ungesunde Konzentration, und Punktualismus, also das,
was die Amerikaner machen. Bei der einen Bank greifen
sie ein, die andere lassen sie Konkurs gehen. Nach wel-
chen Kriterien das geschieht, ist nicht nachvollziehbar.
Bei Bear Stearns übernimmt man einen Notenbankkredit
von 35 Milliarden Dollar, also auf gut Deutsch: Man
druckt Geld. Die Lehman Brothers Bank lässt man in
Konkurs gehen. Wer entscheidet das? Der heilige Pries-
terrat, der Senatsführer? Genau das ist der Verstoß gegen
die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft.


(Beifall bei der FDP)


Die Gegner der sozialen Marktwirtschaft von links
außen wie von rechts außen wittern jetzt Morgenluft:
Die Finanzmärkte sollen kontrolliert und Familienunter-
nehmen verstaatlicht werden. – Ja, Kontrollen müssen
sein, Regeln müssen verändert und auch strikter formu-
liert werden. Es kann aber kein Ersatz sein, die Dinge,
statt sie der Marktentwicklung zu überlassen, durch neue
staatliche Behörden zu gestalten. Das wäre genau die
falsche Schlussfolgerung.


(Beifall bei der FDP)


Die soziale Marktwirtschaft verträgt viele rostige Nä-
gel. Man kann aber auch so viele in sie hineinschütten,
dass sie sich übergeben muss. Man muss die Grund-
strukturen in Ordnung bringen. Das gilt nicht nur hier.
Man muss sich auch fragen, ob die Verfassung in den
Betrieben funktioniert, ob die Aufsichtsräte nicht zu
groß sind bzw. ob sie in der Lage sind, ihre Funktionen
auszuüben. Ich war immer für eine Begrenzung der Zahl
der Mandate auf maximal fünf, wobei ein Aufsichtsrats-
vorsitz doppelt zählen sollte. Ich kenne niemanden, der
nebenbei 20 Mandate wahrnehmen kann.


(Beifall bei der FDP)


Früher wurde die Zahl der Aufsichtsratsmandate durch
die Lex Abs begrenzt. Bis heute hat die Häufung von
Aufsichtsratsmandaten allerdings stark zugenommen.
Funktioniert denn die paritätische Mitbestimmung in den
Betrieben?


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Ja! Gute Frage!)


Stimmen die Verfassungen in den Betrieben? Ist das in
Ordnung?

Wurde nicht auch in anderen Bereichen, etwa im
Energiesektor, eine so große Konzentration zugelassen,
dass man sagen kann: Auch hier funktioniert der Wettbe-
werb nicht richtig? Beispiele sind Eon Ruhrgas mit ei-
nem Marktanteil von mehr als 80 Prozent, und die
Stromversorger, die quasi abgezirkelte Versorgungsge-
biete haben. In all diesen Fällen handelt es sich um Ver-
stöße gegen Prinzipen der sozialen Marktwirtschaft.

Ich bin dafür, dass wir auch wieder über die Grundla-
gen von Wirtschaftsordnungen diskutieren. Diejenigen,
die immer wieder nach Gutsherrenart eingreifen wollen,
dürfen es nicht leicht haben. Denn solche Eingriffe sind
die rostigen Nägel, von denen ich eben sprach. Die Prin-
zipien der sozialen Marktwirtschaft müssen wieder mehr
beachtet werden, damit sie funktioniert und damit die
Feinde der sozialen Marktwirtschaft nicht die Oberhand
gewinnen. Marktwirtschaft ist allemal besser als Plan-
wirtschaft. Wir dürfen nicht jeden Unsinn der deutschen
Geschichte wiederholen!


(Beifall bei der FDP)


Meine Damen und Herren, der entscheidende Punkt
ist, dass jetzt auch die Politik Konsequenzen zieht. Wir
müssen die Situation in Ordnung bringen. Der Staat
muss sich aus den Landesbanken zurückziehen. Dort
hat er nämlich nichts zu suchen. Sie haben kein Ge-
schäftsmodell.


(Joachim Poß [SPD]: Ihnen hat man heute wohl die falsche Platte eingesetzt!)


– Meine Platte ist richtig, Herr Poß. Sie haben das nur
noch nicht genug inhaliert. Seien Sie doch einmal ehr-
lich! Auch Sie wissen doch, wie traurig die WestLB ist,
weil sie das Geld des Steuerzahlers verbrannt hat. In






(A) (C)



(B) (D)


Rainer Brüderle
Rheinland-Pfalz müssten Sie mir eigentlich ein Denkmal
setzen. Denn die Landesbank Rheinland-Pfalz habe ich
rechtzeitig verkauft. Sie hat sogar noch Geld einge-
bracht.


(Beifall bei der FDP)


Alle anderen Länder müssen jetzt Geld nachschießen.
Sie müssen dafür zahlen, dass der eine oder andere, der
Banker spielen wollte, unfähig war.


(Joachim Poß [SPD]: Sagen Sie das lieber mal Herrn Rüttgers, aber nicht mir!)


Dafür müssen die Steuerzahler, die für die Steuergro-
schen hart arbeiten, zahlen.


(Beifall bei der FDP)


Hier wurde Misswirtschaft betrieben. Es werden aber
keine Konsequenzen gezogen. Ich frage mich manch-
mal: Wie viele Milliarden muss man in Deutschland ei-
gentlich verdummbeuteln, bevor endlich Konsequenzen
gezogen werden?


(Beifall bei der FDP – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn mit Rüttgers?)


Es gibt weitere Maßnahmen, die ergriffen werden
müssen. Die Ratingagenturen müssen unabhängig sein.
Wenn derjenige, der einen Test bestellt, dafür bezahlt,
bekommt er das Ergebnis, das er bestellt hat. Ich frage
Sie: Wer hat die Banker daran gehindert, selbst zu den-
ken, anstatt mechanisch nach Ratings vorzugehen?


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)


In den Banken arbeiteten viele 30-Jährige – nichts ge-
gen 30-Jährige! –, die nicht viel Lebenserfahrung hatten,
die aber meinten, die Welt anhand von Computermodel-
len steuern zu können. Sie haben aber nur herumgespielt.
Sie haben Casino gespielt. Die Vorstände der Banken ha-
ben sie spielen lassen, weil sich das lange Zeit rentiert
hat. Es ist eine Frage des Formats der Führungspersön-
lichkeiten, wie sie ihre Aufgaben wahrnehmen.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Da sind übrigens auch viele Liberale dabei!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1617902600

Kollege Brüderle, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Kuhn?


Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1617902700

Sehr gern; denn meine Redezeit ist fast abgelaufen.


Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617902800

Herr Brüderle, ich teile Ihre Auffassung zur rhein-

land-pfälzischen Landesbank. Allerdings habe ich ge-
rade vergessen, wie die Partei heißt, die in Nordrhein-
Westfalen gegenwärtig mit der CDU koaliert und dort et-
was verändern könnte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Rainer Brüderle (FDP):
Rede ID: ID1617902900

Lieber Herr Kuhn, auch Ihnen wird nicht entgangen

sein, dass die Geschehnisse bei der WestLB, das Fehl-
verhalten und das Fehlsteuern, lange Zeit vor dem An-
tritt der neuen Landesregierung stattgefunden haben.


(Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mit dem, was sie vorgefunden hat, musste sie ver-
nünftig umgehen. Die vorherigen Landesregierungen in
NRW haben Industriepolitik gespielt und sich überall
eingekauft. Das ging schief. Ich traue der neuen Landes-
regierung zu, dass sie dieses Problem bald löst und sich
endlich aus der Umklammerung befreit; denn alle müs-
sen drauflegen. Es wird kein Geld verdient, sondern es
wird Geld verbrannt. Dieses Geld könnten wir für Bil-
dung, für Schulen, für die Umwelt und viele andere Be-
reiche sinnvoll verwenden.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dem müssten selbst Sie zustimmen, auch wenn Sie jetzt
schreien, weil Sie das nicht verstehen.


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Partei, nach der ich gefragt habe, heißt übrigens „FDP“!)


– Wir stellen nicht den Wirtschaftsminister in NRW, was
sicherlich ein Fehler ist.


(Dr. Hans-Ulrich Krüger [SPD]: Aber den Zukunftsminister!)


Zurück zu den Kernpositionen. Wir müssen diese Ge-
legenheit ergreifen, eine Systemdebatte zu führen, damit
denjenigen, die, sich in einem Kostüm verbergend, et-
was anderes wollen, das Handwerk gelegt wird. Die
Schwachstellen müssen beseitigt werden, die Mechanis-
men müssen wieder wirken können, und die Grundprin-
zipien müssen wieder beachtet werden. Dann funktio-
niert das auch.

Alles andere wäre eine schlechtere Lösung. Haben
wir den Mut, diese Debatte offensiv zu führen!


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1617903000

Das Wort hat nun Nina Hauer für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Nina Hauer (SPD):
Rede ID: ID1617903100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Herr Brüderle, aufgrund Ihrer Regierungszugehö-
rigkeit in Nordrhein-Westfalen hatten Sie drei Jahre lang
Zeit, bei der WestLB aufzuräumen. Ich glaube, das ist
Ihnen nicht mehr rechtzeitig eingefallen. Deswegen ha-
ben Sie sich hier vergaloppiert.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – CarlLudwig Thiele [FDP]: Wer ist von der SPD? – Dr. Volker Wissing [FDP]: Das ist ja unglaublich!)







(A) (C)



(B) (D)


Nina Hauer
Ich sehe schon, dass Opposition für Sie ein schwieri-
ges Geschäft ist; denn sonst würden Sie hier ja nicht
verzweifelt versuchen, eine Krise, die in den USA ent-
standen ist und dort ihre Auswirkungen hat, der Bundes-
regierung in die Schuhe zu schieben. Sie erwecken damit
bei den Menschen nicht nur den Eindruck, dass die Poli-
tik das alles hätte verhindern können, sondern Sie lenken
damit auch vom Versagen und von Fehleinschätzungen
der Bankmanager und einem Verhalten ab, mit dem ohne
jedes Maß an Verantwortung Risiken eingegangen wur-
den.


(Beifall bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: Und von den eigenen Positionen! Die Könige des Neoliberalismus!)


Herr Minister, ich teile das, was Sie hier zu den Rating-
agenturen gesagt haben. Man muss doch einmal sagen:
Wenn ich jemandem Geld leihe, dann lasse ich nicht nur
die Ausfallwahrscheinlichkeit des Kredits durch eine
Ratingagentur berechnen, sondern dann prüfe ich doch
auch, wem, in welchem Marktumfeld und für was ich
ihm das Geld gebe. Deswegen ist ein Instrument wie das
Votum einer Ratingagentur immer nur so gut wie der
Manager, der dieses Instrument nutzt. Da das in diesem
Fall nicht geprüft wurde, finde ich, dass man schon sa-
gen muss, dass in dieser Branche ein komplettes Versa-
gen vorliegt. Das ist dafür verantwortlich, dass wir jetzt
in dieser Situation sind. Wir können froh sein, dass wir
in Deutschland nicht in diesem Maße betroffen sind.

Der Minister hat ja einiges dazu gesagt: Das liegt an
unserem Bankensystem und an unserem Wirtschaftssys-
tem, aber auch daran, dass wir für mehr Transparenz
und Verantwortung auf den internationalen Finanz-
märkten in den letzten zehn Jahren sozialdemokrati-
scher Verantwortung in diesem Ministerium einiges er-
reicht und auf den Weg gebracht haben.


(Beifall bei der SPD)


Einige Voten und Beiträge der Opposition dazu sind
mir noch gut in Erinnerung. Wir haben hier Basel II um-
gesetzt; dazu gab es ja eine internationale Vereinbarung.
Man sieht in den USA jetzt das Missverhältnis zwischen
dem Risiko, der Eigenkapitalunterlegung und der Er-
tragslage. Die außerbilanziellen Geschäfte, die auch in
der IKB getätigt worden sind, sind mit Basel II nicht
ohne Weiteres möglich. Diese Regeln waren damals aber
noch nicht in Kraft. Es hat offensichtlich auch einen
Hintergrund, dass sich die USA bisher geweigert haben,
Basel II in ihre nationale Gesetzgebung zu implementie-
ren.

Die PDS hat sich damals übrigens enthalten. Ihnen
geht ja immer alles nicht weit genug. Damit haben Sie
aber nicht viel zu mehr Sicherheit, Stabilität und Trans-
parenz auf den Finanzmärkten beigetragen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gar nichts! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wenn Sie unsere Vorschläge nicht zur Kenntnis nehmen, dann tut es mir leid!)

Ich erinnere einmal an die Umsetzung der Transpa-
renzrichtlinie, mit der die Meldepflicht für Stimmrechte
ab einer Schwelle von 3 Prozent eingeführt wurde. Seit
der Übernahme von Continental durch die Schaeffler-
Gruppe ist es in der FDP diesbezüglich ruhig geworden.
Sie waren damals dagegen und haben gesagt, 3 Prozent
seien zu wenig. Heute sehen wir, dass wir mit 3 Prozent
schon gut gefahren wären. Nachdem später das Risiko-
begrenzungsgesetz hinzugekommen ist, wäre eine sol-
che Übernahme zwar auch noch möglich gewesen, aber
sie wäre viel früher deutlich geworden. Dadurch wäre
dem Zielunternehmen die Chance gegeben worden, sich
entsprechend dazu zu verhalten.

Die Berichtspflichten für börsenorientierte Unterneh-
men haben wir durch die Umsetzung der Transparenz-
richtlinie ebenfalls eingeführt. Diese gibt es in den USA
zwar auch, aber nicht in dem Maße, wie es sie nach der
Umsetzung der europäischen Richtlinie hier in Deutsch-
land gibt.

Durch das Risikobegrenzungsgesetz haben wir dafür
gesorgt, dass Aktien und vergleichbare Positionen hin-
sichtlich der Meldeschwellen zusammengerechnet wer-
den. Das heißt, wenn dieses Gesetz schon früher in Kraft
getreten wäre, dann wäre das, was die Schaeffler-Gruppe
geplant hatte, klarer erkennbar gewesen. Das gilt auch
für Fälle in der Zukunft. Das „acting in concert“ – also
Absprachen zum gemeinsamen Vorgehen von Aktionä-
ren – wird transparenter. Verbotene Absprachen werden
leichter nachweisbar. Die FDP hat im Ausschuss mit der
Begründung dagegen gestimmt, dass neue Transparenz-
regelungen zum damaligen Zeitpunkt noch nicht vom Fi-
nanzmarkt verkraftet würden.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Jetzt hört’s auf! – Joachim Poß [SPD]: Brandstifter geriert sich als Biedermann!)


Dann sollten Sie aber jetzt nicht behaupten, dass der
deutsche Gesetzgeber für das, was in den USA angerich-
tet worden ist, irgendeine Verantwortung hat.


(Beifall bei der SPD)


Dann hätten Sie sich an der Einführung von mehr Trans-
parenz an den Finanzmärkten beteiligen müssen. Das
hätte besser zu Ihrer Rolle gepasst.

Es ärgert mich, dass die Bürgerinnen und Bürger in
den USA, die ihre Kredite nicht zurückzahlen können, in
der Debatte keine Rolle spielen. Auch das wäre bei uns
anders. Wir haben in den letzten Jahren einiges vorange-
bracht, damit sich auch private Anleger, die wenig Ka-
pital am Finanzmarkt anlegen, darauf verlassen können,
dass klare Regeln gelten. Ein Beispiel ist die Haftung für
falsche Wertpapierprospekte. Produkte, deren Zinsen
nach drei, vier Jahren ins Astronomische steigen, sind in
Deutschland offenlegungspflichtig. Jeder, der in diese
Produkte investiert, hätte das nachlesen können.

Wir haben über die Verbriefungen gesprochen. Die
Verbriefungen können von vielen Mittelständlern als
Ausweg genutzt werden, wenn sie von den Banken keine
Kredite bekommen. Das betrifft übrigens nicht die Spar-
kassen, sondern vor allem die vornehmen Geschäfts-






(A) (C)



(B) (D)


Nina Hauer
banken – ich komme ja aus der Nähe von Frankfurt –,
die lieber Investmentgeschäfte gemacht haben, als klei-
nen Mittelständlern Geld zur Verfügung zu stellen. Die
Verbriefungen waren eine Chance, diese Situation zu än-
dern. Deswegen haben wir das vorangetrieben. Es ist
vorhin kritisiert worden, dass das im Koalitionsvertrag
vereinbart wurde. Dass das, was verbrieft wird – das gilt
auch für das, was nicht in Aktien verbrieft wird –, offen-
legungspflichtig ist und nicht am grauen Kapitalmarkt
untergeht, verdanken Sie den Aktivitäten dieser Bundes-
regierung. Damit sind wir, finde ich, für die kleinen An-
leger auf unserem Finanzmarkt – nicht nur für die Ban-
ken – gut aufgestellt.


(Beifall bei der SPD)


Beim Investmentmodernisierungsgesetz haben wir
den Begriff des totalen Verlustes eingeführt, den es auf
dem Finanzmarkt schon lange gibt. Das heißt, dass je-
mand, der in ein Hebelprodukt, ein synthetisches Pro-
dukt oder eine Option investiert, darüber informiert wird
– je nach seiner finanziellen Leistungskraft oder auch
seinen Kenntnissen des Finanzmarktes –, wann ein To-
talverlust eintreten kann. Diese Regeln gelten in Europa.
Wir haben sie auf unsere Situation in Deutschland zuge-
schnitten. Sie gelten nicht in den USA. Das Ergebnis se-
hen wir jetzt.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1617903200

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Höll?


Nina Hauer (SPD):
Rede ID: ID1617903300

Ja.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617903400

Kollegin Hauer, Sie haben eben die Verbriefung ange-

sprochen. In diesem Zusammenhang möchte ich eine
Frage an Sie richten.

Es ist von vielen neuen Instrumenten die Rede, deren
Einführung Sie für notwendig hielten. Ich zitiere aus ei-
ner Ihrer Reden, und zwar aus der vom 19. Mai 2006:

Wir haben die Hedgefonds vor einigen Jahren in
Deutschland zugelassen, weil wir deren Funktion
für den Finanzmarkt kennen. Wir brauchen diese
Fonds nicht nur im internationalen Vergleich und
Wettbewerb, sondern auch, weil sie eine Rolle er-
füllen, die kein anderes Finanzprodukt übernehmen
kann.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Hört! Hört!)


Sie sind in der Lage, Währungsrisiken und Speku-
lationsrisiken aufzufangen …

Ich glaube, wir wurden inzwischen eines Besseren be-
lehrt.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Was die Verbriefung angeht, haben wir seit 2002 eine
sehr rege Gesetzgebung. Aber wir sollten ehrlicherweise
zur Kenntnis nehmen, dass es erst durch die letzte
KWG-Novelle möglich wurde, dass bei einem Übergang
der Grundschuld der Kreditnehmer nicht einmal mehr
informiert werden muss. Dass heute sogenannte faule
Kredite – also aus irgendwelchen Gründen nicht mehr
rechtzeitig bediente Kredite – von der Bank einfach wei-
tergegeben und die Kreditnehmer nicht einmal mehr in-
formiert werden, haben Sie zu verantworten. Auch das
ist ein wesentlicher Bestandteil der Verbriefung, die Sie
jetzt wieder loben.


(Beifall bei der LINKEN – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wo ist eigentlich die Frage?)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1617903500

Frau Kollegin, Sie wollten doch eigentlich eine Frage

stellen.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ob das denn zutrifft!)



Nina Hauer (SPD):
Rede ID: ID1617903600

Frau Höll, was in Ihrer Fraktion konsequent geleugnet

wird, ist, dass das, was auf einem internationalen Markt
zu kaufen ist, nicht vor unseren Grenzen haltmacht. Was
wir aber tun können, ist, dafür zu sorgen, dass hier Re-
geln gelten, die nach unseren Kriterien aufgestellt wer-
den. Dasselbe gilt auch für die Hedgefonds. Dass man
als Privatanleger hier nicht in Hedgefonds investieren
kann oder dass diese Fonds bestimmte Finanzierungs-
instrumente nicht enthalten dürfen, haben Sie unserer
Gesetzgebung zu verdanken. Im Übrigen gilt das auch
für die Umsetzung der europäischen Richtlinie für Bera-
tungsleistungen bei Finanzdienstleistungen insgesamt.
Wir haben diese zum Teil entsprechend unseren nationa-
len Gegebenheiten verändert. Aber Sie haben sich im
Finanzausschuss enthalten. Sie verweigern sich konse-
quent und tun so, als ob man das, was es auf den interna-
tionalen Finanzmärkten gibt, fernhalten könnte. Sie ha-
ben nicht den Mumm, zu sagen: Wenn es das schon gibt,
dann soll das hier in Deutschland nach unseren Regeln
funktionieren. In diesem Zusammenhang sind die Bei-
spiele zu sehen, die Sie genannt haben.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wie war das mit den Hedgefonds?)


– Das habe ich eben gesagt. Sie müssen zuhören!

Ähnlich war es bei der Finanzaufsicht. Wir haben
nun eine Allfinanzaufsicht in Deutschland. Das war da-
mals ein großer Schritt. Für manche ist dabei das Abend-
land fast untergegangen. Aber es war richtig, die unter-
schiedlichen Aufsichtsgremien zusammenzuschließen.
Wir haben in regelmäßigen Abständen die Aufsicht den
Anforderungen der Finanzmärkte angepasst. Sie haben
sich daran nicht beteiligt. Ich finde, dass wir heute eine
Aufsicht haben, die den Herausforderungen gewachsen
ist und in der Lage ist, die vorhandenen Risiken einzu-
schätzen. Dem sind parlamentarische Prozesse voraus-
gegangen, die noch nicht zu Ende sind; denn wir sehen,
wie innovativ und schnell die Finanzmärkte voranschrei-
ten. Aber wir müssen uns nicht von anderen, erst recht






(A) (C)



(B) (D)


Nina Hauer
nicht von der Opposition, sagen lassen, dass unsere Auf-
sicht in den zur Rede stehenden Fällen versagt habe.


(Beifall bei der SPD)


Für die SPD-Fraktion sage ich, dass wir vielen Vor-
schlägen zur Deregulierung der Finanzmärkte in den
letzten Jahren widerstanden haben. Wir haben vielen von
Verbänden geäußerten Einwänden – die Aufsicht werde
den Markt kaputtmachen, oder die BaFin verursache
eine Kreditklemme – widerstanden. Wir hatten dabei
wenig Unterstützung von den Oppositionsfraktionen, die
heute gern für sich in Anspruch nehmen, dass unser Fi-
nanzmarkt so robust aufgestellt ist.


(Joachim Poß [SPD]: Das war auch in der Koalition nicht immer einfach!)


Ich denke, dass wir einen Erfolg erzielt haben. Deutsch-
land befindet sich aufgrund der internationalen Finanz-
marktkrise zwar in einer schwierigen Situation. Wir kön-
nen aber den Anlegern auf den Finanzmärkten, gerade
denjenigen, die geringe Einkommen haben, sagen: Sie
müssen sich nicht beunruhigen. Sie haben ihr Geld dort
angelegt, wo Regeln gelten, die den Anleger schützen
und die Finanzmärkte stabil halten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1617903700

Das Wort hat nun Gerhard Schick, Fraktion Bünd-

nis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man sich die Geschichte der Finanzmärkte an-
schaut, dann stellt man fest, dass es immer wieder große
Krisen gab. Spekulationsblasen bauen sich auf. Dann,
wenn sie platzen und die Vermögenswerte sinken,
herrscht große Empörung. Alle reden plötzlich von Re-
gulierung. Zwei Jahre später ist dann wieder Sende-
pause, und man hört dieselbe Argumentation wie zuvor.


(Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Das können Sie an der Asien-Krise, der Krise des
Hedgefonds Long Term Capital Management und dem
Enron-Skandal beobachten. Die entscheidende Frage in
der aktuellen Krise ist: Schaffen wir es diesmal, dass es
anders wird?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Michael Meister [CDU/ CSU])


Die Äußerungen aus den Regierungsfraktionen waren
leider etwas ernüchternd. Herr Friedrich hat sich wieder
mit dem ganz zentralen Satz geäußert: Aber unseren ei-
genen Akteuren dürfen wir auf keinen Fall Fesseln anle-
gen. – Das entspricht der Argumentation in jedem ande-
ren Land: Wir schützen unseren Finanzplatz, beteiligen
uns deswegen nicht an internationalen Regeln und dür-
fen vor allem nicht Vorreiter sein, wenn es um eine Ver-
besserung der Regeln geht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist genau die Argumentation, mit der Sie in zwei
Jahren wieder business as usual machen werden. Das,
was aus früheren Reden von Frau Merkel zitiert worden
ist, charakterisiert das Programm, das ansteht, wenn
Schwarz-Gelb nach der nächsten Bundestagswahl die
Mehrheit erhält. Ich bin dankbar für diese Hinweise.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das heißt, nach dem Willen der Union soll es nach der
aktuellen Krise, wenn alle Aufregung vorbei ist, weiter-
gehen wie bisher. Das ist nicht die Position von Bünd-
nis 90/Die Grünen. Wir wollen andere Finanzmärkte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Schauen Sie sich doch die spanische Aufsicht an! Sie
hat es anders gemacht und ihren eigenen Akteuren einige
Fesseln mehr angelegt. Das Bundesfinanzministerium
muss mir in einem Schreiben zugestehen, dass die spani-
schen Banken besser dastehen, weil Spanien es anders
gemacht hat. Eine jüngst veröffentlichte Studie über die
City of London beklagt, dass der Nachteil des Finanz-
platzes London ist, dass dort keine guten Regeln festge-
legt worden sind. Ich finde, diese Erkenntnis müssen wir
aus der Krise mitnehmen. Es lohnt sich, sinnvolle Re-
geln im eigenen Land aufzustellen, selbst wenn nicht
alle anderen Länder mitmachen. Dazu haben Sie keiner-
lei Vorschläge vorgetragen, nicht im Ausschuss und auch
nicht hier im Plenum.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, Sie ducken sich weg und versuchen, unter
der Welle, die gerade die Finanzmärkte überspült, durch-
zutauchen, um nachher wieder an derselben Stelle aufzu-
tauchen. Ich finde, das ist ähnlich fatal wie das, was Herr
Lafontaine gemacht hat, der auf einer Welle surft, die die
Menschen mitreißt, die Arbeitsplätze und Steuern der
Menschen kosten wird, die nicht auf den internationalen
Finanzmärkten spekuliert haben. Als Krisengewinnler
hier einfach eine Show abzuziehen, wird der Situation
überhaupt nicht gerecht. Beide Verhaltensweisen sind
falsch, Wegducken und Surfen sind gleichermaßen un-
verantwortlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Frage,
die Frau Hauer aufgeworfen hat, eingehen. Was ist denn
die Verantwortung hier vor Ort? Wir haben zu Maßnah-
men, die hier in Deutschland ergriffen werden könnten
und sollten, von den Regierungsfraktionen und auch von
Herrn Steinbrück nichts gehört. Es wurde immer nur von
der internationalen Ebene und von Koordinierung ge-
sprochen. Wunderbar: „King Henry“ als Vorbild, großes
Tanzen bei internationalen Verhandlungen. Ich möchte
ein konkretes Beispiel nennen, das zeigt, in welchem Be-
reich man etwas hätte tun können; wir haben dazu Vor-
schläge unterbreitet: Ein Anleger oder eine Anlegerin in
Deutschland kauft im Juli 2008 ein Zertifikat, das
„Deutschland Garant“-Anleihe heißt, Emittent: Lehman
Brothers. „Deutschland Garant“ klingt seriös. Aber






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gerhard Schick
nichts ist garantiert und nichts ist mit Deutschland; viel-
mehr hat eine amerikanische Investmentbank, die heute
pleite ist, die Anleihe emittiert, und die Anleger haben
nichts davon. Das zu dem Wort von Herrn Steinbrück,
die Ersparnisse in Deutschland seien sicher. Natürlich
sind die Sparbücher sicher, aber viele Anleger haben
Geld verloren. Nur 0,13 Prozent des Zertifikatemarktes
– das hört sich wenig an – hat Lehman Brothers, aber
wenn Sie sich die Summe ausrechnen, dann stellen Sie
fest, dass es sich um 100 Millionen Euro handelt, die
deutsche Anleger verloren haben, weil man nicht dafür
gesorgt hat, dass diese wissen, dass, wo „Deutschland
Garant“ draufsteht, keine Garantie des Kapitals drin ist.
Es wurde nichts in Bezug auf das Bonitätsrisiko getan.
Tun Sie etwas für den wirklichen Anlegerschutz! Dann
können Sie auch bei Krisen dafür sorgen, dass Menschen
nicht in die Röhre schauen. Da haben Sie versagt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Eine weitere Frage betrifft die Finanzaufsicht – Fritz
Kuhn hat für unsere Fraktion schon darauf hingewiesen –:
Wenn Sie davon sprechen, dass 25 Prozent Rendite nicht
möglich seien und das allen Beteiligten klar sein müsse,
dann möchte ich Sie fragen, ob unter diesen Beteiligten
vielleicht auch die deutsche Finanzaufsicht ist, für die
Sie verantwortlich sind. Offensichtlich nicht. Wenn die
deutsche Finanzaufsicht als Letzte merkt, wo Schiefla-
gen bestehen, dann möchte ich fragen, warum Sie heute
nichts vorgelegt haben, was uns zeigt, wie Sie die deut-
sche Aufsicht verändern wollen. Das hätten wir von Ih-
rer Rede erwartet, aber Sie haben nichts Konkretes vor-
getragen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Frank Schäffler [FDP])


Die Finanzaufsicht in Deutschland hat die Aufgabe,
Missständen im Kredit- und Finanzdienstleistungswesen
entgegenzuwirken, die erhebliche Nachteile für die Ge-
samtwirtschaft herbeiführen können. Wir haben diese
erheblichen Nachteile für die Gesamtwirtschaft. Wir
werden das bei den Steuereinnahmen und bei den öffent-
lichen Haushalten erleben, und wir werden es bei den
Arbeitslosenzahlen sehen. Trotzdem meinen Sie, Sie
könnten sich hier hinstellen und nur die internationale
Situation beschreiben, ohne einen eigenen konkreten
Vorschlag zu machen. Wenn Sie, Herr Steinbrück, das
Beispiel von der Treppe nehmen, die von oben gekehrt
werden muss, dann möchte ich ganz klar sagen: Da Sie
nicht vor der eigenen Haustür kehren, sondern sich nur
international engagieren wollen, werden wir als Opposi-
tion mit allen Instrumentarien, die dafür zur Verfügung
stehen, dafür sorgen, dass auch vor der deutschen Haus-
tür wirksam gekehrt wird.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Frank Schäffler [FDP])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1617903800

Das Wort hat nun Ortwin Runde für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)


Ortwin Runde (SPD):
Rede ID: ID1617903900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Schick, das Beispiel, das Sie gebracht ha-
ben, ist irgendwie unpassend. Wenn eine Unternehmens-
anleihe, für die viermal 6 Prozent Zinsen gezahlt wer-
den, unter dem falschen Siegel „Deutschland Garant“
vermarktet und verkauft wird, dann kann man doch nicht
erwarten, dass jemand eintritt. Dass immer dann, wenn
jemand mit einer „Deutschland-Garantie“ wirbt, die
Staatshaftung gegeben ist, ist das Ihre Vorstellung? Wie
wollen Sie dann mit Unternehmensanleihen insgesamt
umgehen?


(Abg. Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Die Frage können Sie nachher im Rahmen einer Kurz-
intervention stellen. – Wenn wir bei der Dimension sol-
cher Unternehmensanleihen so diskutieren würden, wä-
ren wir nicht auf der Höhe der Zeit.

Was wir gegenwärtig erleben, ist eine Feuerwehrak-
tion bei einem weltweiten Brand. Angesichts der atem-
beraubenden Zahlen – die Notenbanken geben Liquidität
in die Finanzmärkte, sprich: an die Banken, in einer Grö-
ßenordnung mal von 50, mal von 70, mal von 100 Mil-
liarden Euro – habe ich schon aufgehört, auszurechnen,
wozu sich das insgesamt addiert. Weltweit sind sicher-
lich mehr als 2 Billionen an Liquiditätshilfe gegeben
worden. In den letzten Tagen haben wir miterlebt, wie
wirklich die gesamten Investmentbanken an der Wall
Street zusammengebrochen sind und die Amerikaner,
nachdem sie für Fannie Mae und Freddie Mac Geld aus-
gegeben haben, 200 Milliarden, für Bear Stearns,
70 Milliarden und dann weitere 30 Milliarden zur Verfü-
gung gestellt haben. Das bedeutet, sie haben dort insge-
samt mit 1 Billion interveniert, feuerwehrmäßig. Ange-
sichts dessen unterhalten wir uns in der Debatte über
eine solche Regierungserklärung nur über Kleinigkeiten.
Das ist wirklich eine andere Dimension, um die es da
geht.

Es stellen sich natürlich Demokratiefragen bei dieser
Intervention im Bankensektor, bei der Art, wie amerika-
nische Banken dort plötzlich nach ziemlichem Belieben
verstaatlicht werden. Da gebe ich übrigens Herrn
Brüderle recht. Allerdings ist er wie ein alternder Kir-
mesboxer aufgetreten und hat diesen Punkt genutzt, um
wieder seine Privatisierungsvorstellungen für den Be-
reich der Landesbanken an den Mann zu bringen und auf
die Planwirtschaft einzuschlagen.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Das war schon richtig eindrucksvoll. Er kennt diesen
Step. Das sind die geübten Schritte des Kirmesboxers. –
Das ging nur wirklich zu weit.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wahrscheinlich selbst Kirmesboxer!)


Die Frage, vor der wir stehen, lautet: Befinden wir
uns wirklich an einer Zeitenwende? Der Bundesfinanz-
minister hat zu Recht gesagt, dass dies das Ende der






(A) (C)



(B) (D)


Ortwin Runde
Dominanz der Amerikaner in der internationalen
Finanzpolitik sein wird. Man muss allerdings sagen: Es
sind nicht allein die Amerikaner, sondern es ist der
angloamerikanische Bereich, der da dominiert hat. Die
Frage ist, wie wir nach den Feuerwehraktionen aus der
Krise herauskommen.

Die Deutsche Bank – das fällt mir gerade ein – hat in
den 90er-Jahren mit dem Spruch geworben: Vertrauen ist
der Anfang von allem. – Wir haben erlebt, was gemacht
wurde, um Renditen von 25, 30 und mehr Prozent zu er-
zielen – Schnellballsysteme, Hütchenspielereien –, wir
erleben jetzt, dass sich die Banken, weil die Märkte zu-
sammengebrochen sind, untereinander nicht mehr ver-
trauen, und da ist doch die Frage: Wie wollen wir in die-
sem System wieder Vertrauen herstellen? Wenn nach all
den Aktionen an der Wall Street und in Amerika nie-
mand zu sagen wagt: „Das ist der Boden, und von nun an
geht es aufwärts“, dann ist wirklich die Frage: Was muss
geschehen? Ich sage: Wir brauchen in der Tat eine neue
internationale Finanzarchitektur.

Zur Verantwortung Einzelner kann ich nur sagen: Ich
finde in dem gesamten System keinen, der nicht mit ver-
antwortlich gewesen wäre. Angesichts dessen wäre es
erstaunlich, wenn eine Ebene für sich sagen könnte, sie
habe nicht versagt und auch in Teilbereichen keine Feh-
ler gemacht.

Die FDP müsste doch wirklich ihre gesamte finanz-
politische Grundposition überprüfen.


(Beifall bei der SPD)


Sie hat immer gesagt, wir müssten deregulieren, um
wettbewerbsfähig zu sein. Sie hat davon gesprochen, ein
„level playing field“ sei im globalen Finanzkapitalismus
nötig.


(Ernst Burgbacher [FDP]: Das hat Ihnen Herr Brüderle gerade erklärt!)


Das heißt, dass man immer die unterste Form der Regu-
lierung wählt, also die Deregulierung.

Wenn wir Zweckgesellschaften und all diese ver-
schiedenen Finanzinstrumente haben, dann deshalb, weil
es die Angloamerikaner so bestimmt haben. Hier muss
man sich aber selbst einen Vorwurf machen und fragen,
ob man auf der eigenen Ebene genug Widerstand geleis-
tet hat. Wir können ein Stück weit in Analogie zu dem,
was in der Außenpolitik geschieht, darauf verweisen,
dass das alte Europa und Deutschland eine Reihe von
Traditionen haben, auf denen wir aufbauen können. Si-
cher sind die Bereiche, in denen wir ganz und gar tradi-
tionell geblieben sind. Dies gilt vor allem für den
Bereich der Sparkassen und Volksbanken sowie für jene
Banker, die gesagt haben: Ich handle nur mit Risiken,
die ich auch bewerten und beurteilen kann. – Auch
Pfandbriefe und Verbraucherschutzmaßnahmen gehören
zu den Traditionen, auf denen man aufbauen kann. Dass
wir aber wegen der Wettbewerbsgleichheit mit ausländi-
schen Banken auch Fehler bei der Deregulierung ge-
macht haben, ist unabweisbar. Insoweit sind wir von die-
ser Krise natürlich mit betroffen.

Die Betroffenheit wird sich in dem Zusammenhang
von Finanzwirtschaft und Realwirtschaft zeigen. Diesen
Zusammenhang haben wir lange tabuisiert; wir haben
immer gesagt, es handele sich allein um eine Finanz-
krise. Wir werden noch merken, wie das, was in den Ver-
einigten Staaten als Folge der jüngsten Ereignisse ab-
läuft, auf die Realwirtschaft durchschlagen wird. Die
Amerikaner werden ihre Staatsverschuldung so aufblä-
hen, dass sie Schwierigkeiten haben werden, sie zu fi-
nanzieren. Sie werden sie nicht über Steuererhöhungen,
sondern über Inflation finanzieren, was dann Auswir-
kungen auf das Währungssystem haben wird. An dieser
Stelle sind wir sehr schnell bei Helmut Schmidt – mit
dem Abstand eines großen Staatsmanns kann er das am
allerbesten beurteilen –, der diese Zusammenhänge mit
dem Währungsbereich aufgezeigt hat. Wir werden erle-
ben, dass sich dies auf das Wachstum der amerikani-
schen Wirtschaft auswirken wird und dass uns diese
Auswirkungen heftig treffen werden. Wir haben erlebt,
welche Wachstumsbremse die deutsche Vereinigung
ausgelöst hat. Wenn man sich die Größenordnung vor-
stellt, dann ist klar: Das wird Auswirkungen auch auf
uns haben.

Deswegen kann ich nur sagen: Wir brauchen ein
Agieren auf der Ebene der Finanzminister. Dabei ist der
Finanzminister einer Volkswirtschaft, die Exportwelt-
meister ist, auf der internationalen Bühne natürlich ge-
fragt. Träte er dort nicht auf, wäre es ein fundamentaler
Fehler. Wir brauchen Bemühungen im Rahmen der G 7
plus Brasilien, Russland, China und die arabischen Län-
der. Sie können nicht nur mit ihren Staatsfonds unseren
kollabierenden Banken zur Seite stehen, sondern werden
dann auch bei der neuen multipolaren Ordnung gefragt
sein.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1617904000

Das Wort hat nun Kollege Otto Bernhardt, CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Otto Bernhardt (CDU):
Rede ID: ID1617904100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Kollege Lafontaine, wir haben keine Krise
der Demokratie, wir haben auch keine Krise der Markt-
wirtschaft, wir haben eine internationale Finanzkrise.
Dies sollte man zunächst einmal festhalten.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Beifall!)


Wenn heute weltweit gefordert wird, man müsse bei
den internationalen Finanzmärkten mehr Transparenz,
aber auch mehr Regelungen schaffen, dann stellen wir
fest, dass unsere Bundesregierung – die Bundeskanzlerin
und der Finanzminister –


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Alles Nötige getan hat!)


dies bereits vor der Krise gefordert hat.


(Lachen des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])







(A) (C)



(B) (D)


Otto Bernhardt
Sie sind aber an den Vorstellungen der Vereinigten Staa-
ten und Großbritanniens gescheitert, die gesagt haben:
Nein, das Ganze läuft am besten, wenn wir uns darum
nicht kümmern.


(Ernst Burgbacher [FDP]: Ja, ja! Alle anderen sind schuld! – Frank Schäffler [FDP]: Alles richtig gemacht! Keine Fehler gemacht!)


Natürlich kann man solche Probleme, Herr Kollege
Schick, nur international lösen. Wir würden, wenn wir
nur nationale Maßnahmen ergriffen, unseren eigenen
Finanzplatz schwächen. Deshalb ist es richtig, wie es die
Bundesregierung macht, im Rahmen der G 7 und der EU
für einheitliche neue Regelungen zugunsten von mehr
Transparenz und zum Teil auch mehr Regulierung zu
werben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Diese Krise – Herr Minister hat darauf hingewiesen –
hat ihren Ursprung in den Vereinigten Staaten, und die
Vereinigten Staaten sind am härtesten betroffen. Ich sage
ganz nüchtern


(Frank Schäffler [FDP]: Die IKB nicht?)


– ich komme auf die Probleme in Deutschland noch zu
sprechen –: Wenn ich Finanzpolitik in den Vereinigten
Staaten hätte machen müssen, dann hätte auch ich mich
für den 700-Milliarden-Dollar-Schirm ausgesprochen.
Ich sage Ihnen auch, warum.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1617904200

Herr Kollege, gestatten Sie vorher eine Zwischen-

frage der Kollegin Höll?


Otto Bernhardt (CDU):
Rede ID: ID1617904300

Gerne.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617904400

Herr Bernhardt, nur eine kurze Frage. Ich möchte mit

Erlaubnis des Präsidenten heute noch einmal zitieren,
und zwar das, was der Vorsitzende des Finanzausschus-
ses, Herr Oswald, CDU/CSU, am 15. Februar 2008
sagte:

Zur Deregulierung der Finanzmärkte gibt es keine
Alternative. Sie hat der Wirtschaft und den Bürgern
neue Anlage- und Finanzierungsmöglichkeiten er-
öffnet, und sie hat zur Risikostreuung beigetragen.

Ich gehe davon aus, dass, wenn der Finanzausschussvor-
sitzende so etwas verkündet, auch Ihre Politik der letzten
Jahre darauf ausgerichtet war. So habe ich es auch erfah-
ren. Hat sich nun Ihre Haltung zur Regulierung der
Finanzmärkte geändert oder nicht?


(Beifall bei der LINKEN)



Otto Bernhardt (CDU):
Rede ID: ID1617904500

Zunächst einmal sage ich: Sofern es sich um ein Zitat

meines sehr geschätzten Kollegen Oswald handelt, soll-
ten Sie ihn fragen.


(Lachen bei der LINKEN)

– Entschuldigung! – Ich habe gesagt, dass diese Bundes-
regierung, die ja von einer Großen Koalition getragen
wird, also auch von den Unionsparteien, sich bereits vor
dieser Krise international für mehr Transparenz und
mehr Regulierung eingesetzt hat. Wenn Sie sich die Re-
den, die die Bundeskanzlerin vor anderthalb Jahren auf
internationalen Kongressen gehalten hat, noch einmal
anschauen, dann werden Sie feststellen: Wir haben dies
gefordert. An der Haltung der Amerikaner ist die Umset-
zung dieser Forderung im Wesentlichen gescheitert. Jetzt
kommt dort ein Umdenken in Gang. Und das ist gut so.

Ich war gerade bei dem Hinweis, dass ich, wenn ich
Finanzpolitiker in den Vereinigten Staaten wäre, den
700-Milliarden-Dollar-Schirm mittragen würde. Der
Schaden für die amerikanische Volkswirtschaft, wenn
man nicht diesen Weg wählen würde, wäre nämlich noch
viel größer. Man muss nur einmal daran denken, welche
Folgen es für die Altersvorsorge in den Vereinigten Staa-
ten hätte, wenn die größte amerikanische Versicherungs-
firma in die Insolvenz ginge.

Die Wirtschaft der Vereinigten Staaten – ich will das
in diesem Zusammenhang einmal sagen – ist nach wie
vor so stark, dass die gesamte Verschuldung der Verei-
nigten Staaten im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt
– auf dieses berühmte Verhältnis wird ja immer abgeho-
ben – zurzeit immer noch um 65 Prozent liegt. Das ent-
spricht dem Verhältnis in Deutschland. In Japan liegt es
bei 170 Prozent, und dort lebt man auch noch ganz gut
damit. Die amerikanische Wirtschaft kann dies also ab.

Jetzt zurück zu Deutschland: Es gibt eine ganze Reihe
von Gründen, warum Deutschland im Rahmen der Glo-
balisierung mit dieser Krise besser fertig wird als andere.
Das Universalbankensystem ist schon erwähnt worden.
Stellen Sie sich vor: Während in Amerika und Großbri-
tannien Banken Konkurs gehen, kaufen die beiden gro-
ßen deutschen Privatbanken dazu: die eine die Dresdner
Bank und die andere eine wichtige Beteiligung an der
Postbank. Das unterstreicht die Finanzkraft, die sie ha-
ben.

Natürlich ist es ein Vorteil, dass es bei uns 1 500 weit-
gehend regional tätige Kreditinstitute gibt. Nur, all diese
Fakten zur Heiligsprechung des Dreisäulensystems zu
nutzen, dazu bin ich nicht bereit. Ich bin nämlich davon
überzeugt, dass wir nicht nur Veränderungen innerhalb
der Säulen brauchen. Wir werden in Kürze sicherlich
auch über eine Veränderung der Grenzen der Säulen
sprechen. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob dies in mei-
ner Fraktion mehrheitsfähig ist, aber in diese Richtung
wird es mit Sicherheit gehen.

Ein weiterer Vorteil bei uns ist die Langfristfinanzie-
rungskultur. Alle Kolleginnen und Kollegen im Finanz-
ausschuss wissen, dass wir diese manchmal sehr massiv
gegen die EU verteidigen müssen, die dies in der Ver-
gangenheit nicht so gesehen hat. Ich glaube, diesen
Kampf werden wir jetzt leichter führen können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es gibt einen weiteren Punkt, der für die Stimmung
im Lande sehr wichtig ist, und den sollte jeder Politiker






(A) (C)



(B) (D)


Otto Bernhardt
– auch der, der diese Bundesregierung vielleicht nicht
mag – parat haben: Wir haben die besten Einlagensiche-
rungssysteme der Welt. Der EU-Standard schreibt vor,
dass 90 Prozent einer Einlage gesichert werden; die
Höchstsumme der Sicherung beträgt aber nur 20 000 Euro.
All unsere Bankensysteme in Deutschland sichern Pri-
vatkonten hingegen in unbeschränkter Höhe ab. Das
heißt, niemand braucht in Deutschland zur Bank zu ge-
hen, um Geld abzuheben.

Herr Kollege Schick, Sie verlangen von uns, dass wir
den Anleger noch mehr schützen sollen als bisher. Wenn
heutzutage jemand kritische Papiere kaufen will – ich
sage es etwas laienhaft –, dann muss er in einem Ge-
spräch darüber beraten werden. Er muss unterschreiben,
dass man ihm gesagt hat, wie risikoreich sein Vorhaben
ist. Ich füge hinzu: Wer einigermaßen darüber nach-
denkt, dem muss doch klar sein, dass ein Angebot mit 6,
7 oder 8 Prozent mit mehr Risiken verbunden ist, wenn
es auf dem Sparkonto nur 3 Prozent und für Festgeld nur
4 Prozent Zinsen gibt.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müsste auch der Aufsichtsrat der IKB wissen!)


Ich glaube, nirgendwo wird der Konsument so gut ge-
schützt wie in Deutschland. Von daher bin ich gegen
noch mehr Vorschriften. Wir glauben an den selbststän-
dig denkenden Menschen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1617904600

Kollege Bernhardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Schick?


Otto Bernhardt (CDU):
Rede ID: ID1617904700

Aber selbstverständlich.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Bernhardt, Ihr Kollege Meister hat vor-
hin davon gesprochen, dass wir auf den Finanzmärkten
mehr Transparenz brauchen. Würde es Ihrer Vorstel-
lung von Transparenz widersprechen, wenn nur dort Ga-
rantie draufsteht, wo Garantie drin ist, und wenn das Bo-
nitätsrisiko eines Emittenten klar ausgewiesen wird?
Würde es Ihrer Vorstellung von Transparenz widerspre-
chen, wenn man gesetzliche Standards schafft, damit die
Anlegerinnen und Anleger auch wirklich wissen, was
sich hinter bestimmten Produkten verbirgt, sodass sie die
Risiken einschätzen können? Ist das nicht auch ein Teil
von Transparenz?


Otto Bernhardt (CDU):
Rede ID: ID1617904800

Herr Kollege, haben Sie schon mal einen Prospekt ge-

lesen, den jemand herausgeben muss, wenn er ein Papier
auf dem deutschen Markt platzieren will? Diese Pros-
pekte sind zum Teil mehrere Hundert Seiten dick; von
ihnen gibt es sogar Kurzfassungen. Das Problem ist, dass
viele gar nicht geschützt werden wollen. Sie sind nicht
bereit, den Prospekt zu lesen. Insofern bleibe ich dabei,
dass ich strengere Bestimmungen für diesen Bereich we-
der national noch international für nicht erforderlich
halte.

Ich komme jetzt dazu, wo unsere Schularbeiten lie-
gen. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, wir hätten
alles gut gemacht und dass es bei uns keine Probleme
gäbe.

Das erste Problem ist angesprochen worden, nämlich
die KfW und die IKB. Natürlich war es ein Fehler, sich
an der IKB zu beteiligen. Aber es war die Politik,


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Aha!)


die die KfW zu diesem Schritt gedrängt hat. Wir waren
damals noch nicht so weit in unserem Bewusstsein, dass
es eigentlich nicht schlimm gewesen wäre, wenn ein
Ausländer die IKB gekauft hätte. Damals wollten wir
dies aber nicht.

Wenn man sich allerdings mit diesem Thema beschäf-
tigt, dann muss man auch ehrlich bleiben. Es ist zwar
richtig, dass der gesamte Schirm für die IKB bei gut
10 Milliarden Euro liegt; aber wir, die Steuerzahler, ha-
ben nicht 10 Milliarden Euro, sondern erst 1,2 Milliar-
den verloren. Es heißt ja nicht, dass wir das ganze Geld
brauchen; die Papiere, die man übernommen hat, haben
vielleicht in zwei oder drei Jahren einen Wert von
50 oder 60 Prozent. Insofern sollte man hier fair vorge-
hen. Ich sage auch ganz deutlich: Es war eine richtige
Entscheidung der Bundesregierung, die IKB nicht in die
Insolvenz gehen zu lassen. Sonst wäre der Schaden für
die deutsche Volkswirtschaft viel größer ausgefallen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich spreche eine zweite Baustelle an. Wir haben im
deutschen Bankensystem eigentlich nur ein wirkliches
Problem, und das sind die Landesbanken; vielleicht
muss ich gerechter sagen: einige Landesbanken. Der ge-
nossenschaftliche Bereich hatte früher auch ein Dutzend
Spitzenorganisationen und -verbände. Er hat sie der Zeit
entsprechend aufgelöst. Heute hat er noch anderthalb;
demnächst wird es nur noch einer sein. Zu meinen, wenn
wir die sieben Landesbanken zusammenschließen, sei
das Problem gelöst, ist nicht richtig. Es ist nicht ihre
Aufgabe, Spitzeninstitut der Sparkassen zu sein, zumal
sie inzwischen alle schon sehr groß geworden sind und
vieles selber machen können. Das heißt, wir müssen ent-
weder – ich sage das in dieser Brutalität – einen Teil still
liquidieren, oder wir müssen – auch wenn es der öffent-
lich-rechtliche Bereich oder einige nicht hören mögen –
Teile an den privaten Bereich verkaufen, der seine Auf-
gaben vielleicht damit verbinden kann. Wir stehen hier
allerdings unter einem ziemlichen Zeitdruck, um das
klar zu sagen.

Natürlich muss man über die zukünftige Organisation
der Bankenaufsicht nachdenken. Zweimal habe ich von
diesem Rednerpult gefordert – ich gebe zu, ich war da-
mals in der Opposition und nicht in der Regierung –,
dem Beispiel der Mehrzahl der Länder – nicht aller Län-
der – zu folgen und die gesamte Bankenaufsicht auf die
Deutsche Bundesbank zu übertragen. Das war damals






(A) (C)



(B) (D)


Otto Bernhardt
unser Vorschlag. Die damalige Regierung unter Rot-
Grün hat sich für ein anderes Modell entschieden, und
wir haben gesagt, wir warten ab. Nun sind fünf Jahre
vergangen, und ich würde die Bilanz ziehen: So schlecht
ist das Ganze nicht. Aber angesichts der neuen Heraus-
forderungen stellt sich die Frage, ob wir nicht vielleicht
doch – ich persönlich tendiere zu dem Vorbild Irlands –
beschließen, die BaFin unter die Hoheit der Bundesbank
zu stellen und dort die Bankenaufsicht zu konzentrieren.
Ich denke dabei natürlich auch an Folgendes: Wenn die
Bankenaufsicht bei der Bundesbank konzentriert wird
und wir einmal europäische Aufsichtsorgane bekommen,
dann haben wir gute Chancen, dass die nach Frankfurt
kommen. Ich bitte, darüber einmal weiter nachzudenken.

In Europa gibt es heute 27 nationale Bankenaufsich-
ten. Wir haben aber 40 Banken in Europa, die in mehre-
ren Staaten tätig sind. Vielleicht müssen wir hier als
Zwischenschritt eine Gruppenaufsicht einziehen. Aber
ich schließe nicht aus, dass am Ende zumindest für die in
mehreren Ländern tätigen Banken doch eine europäische
Aufsicht steht.

Ich will noch zwei Argumente nennen, die dafür spre-
chen, die Aufsicht bei der Bundesbank zu konzentrieren:
Wenn wir in einer Krise Geld brauchen, liquide sein
müssen, kann das nur die Bundesbank machen. Die Bun-
desbank ist im Gegensatz zur BaFin mit den anderen No-
tenbanken vernetzt, insbesondere mit der Europäischen
Zentralbank. Auch hier haben wir also Schularbeiten zu
machen, um das klar zu sagen.

Im Tagesgeschäft müssen wir allerdings erst einmal
sehen, wie wir die aktuelle Finanzmarktkrise überwin-
den. Auch ich wage nicht mehr die Prognose, dass wir
über den Berg sind und dass die Krise in Kürze beendet
sein wird; ich bin vorsichtig geworden. Ich wage auch
keine Aussage mehr darüber, wie groß die Verluste end-
gültig sein werden. Wir haben festgestellt, dass es in der
Welt zurzeit etwa – wir können es nicht nachrechnen –
400 Milliarden Euro, 550 Milliarden Dollar sind. Es
heißt, dass 10 Prozent, sprich: 40 Milliarden Euro, da-
von in Deutschland angekommen sein sollen. Aber
– auch das gehört zur Argumentation – diese 40 Milliar-
den Euro sind noch kein Ausfall. Es sind zurzeit zu ei-
nem erheblichen Teil Buchverluste. Wie groß die Aus-
fälle sein werden, wissen wir nicht. Das sind Bereiche,
wo wir unsere Schularbeiten machen müssen.

Ich stelle abschließend fest: Das Zusammenspiel
zwischen Bundesregierung, Bundesbank und BaFin bei
der Lösung der aktuellen Finanzkrise, die ihre Ursa-
chen nicht in Deutschland hat, war hervorragend. Wir
sollten nicht so miesepetrig sein und nur kritisieren.
Vielmehr glaube ich, die Bundesregierung, die Bundes-
bank und die BaFin haben von uns allen ein Danke-
schön verdient.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1617904900

Das Wort hat nun Kollege Carsten Schneider für die

SPD-Fraktion.

Carsten Schneider (SPD):
Rede ID: ID1617905000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Über die globale Einordnung der aktuellen Finanzmarkt-
krise ist schon viel gesagt worden. Ich unterstütze unein-
geschränkt die Erklärung des Bundesfinanzministers von
heute Vormittag. Er hat im Hinblick auf diese Situation
auch im vergangenen Jahr einen sehr guten Job gemacht.

Ich halte die Rettung der IKB für richtig, auch wenn
sie mit erheblichen Steuermitteln verbunden ist. Bis auf
eine Ausnahme gibt es dazu im Hause keinen Dissens.
Dadurch ist der Kelch einer Bankenpleite an unserem Fi-
nanzmarkt vorbeigegangen. Die Ausfälle für den Staat
wären bedeutend höher gewesen, wenn wir die IKB
nicht gerettet hätten.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr wahr!)


Ich unterstütze den Finanzminister auch in seinem
heute hier vorgelegten Achtpunkteplan. Insbesondere
unterstütze ich ihn in seiner klaren Ansage, keine Steuer-
mittel des Bundes als Zuschuss an Landesbanken zu
geben. Dies muss deutlich sein. Die Landesregierungen,
die die Aufsicht über ihre Landesbanken haben, müssen
ihre Verantwortung wahrnehmen. Ich hoffe gleichwohl,
dass es nicht zu dem schlimmsten Fall kommt.

Es gab die Anfrage, ob sich die Bundesrepublik an
dem Rettungspaket der Amerikaner beteiligen will. Es
ist gut, dass es auch da eine klare Absage gab. Die Feh-
ler sind in den USA gemacht worden. Letztendlich müs-
sen dort die Probleme gelöst werden.

Ich will mich im Folgenden auf die Kreditanstalt für
Wiederaufbau konzentrieren, für die das Parlament die
direkte Verantwortung trägt. Wir haben gestern im Haus-
haltsausschuss lange und intensiv mit dem neuen
Vorstandsvorsitzenden diskutiert. Es geht um das Betei-
ligungsmanagement und in diesem Zusammenhang ins-
besondere um die Frage, wie es dazu kommen konnte,
dass man die Risiken bei der IKB nicht gesehen hat.
Dies ist aufzuklären. Vor allen Dingen muss es Verände-
rungen in der Struktur der Aufsicht geben, damit solche
Mängel abgestellt werden können.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1617905100

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Schui von der Linksfraktion?


Carsten Schneider (SPD):
Rede ID: ID1617905200

Ja, bitte sehr.


Dr. Herbert Schui (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617905300

Sie haben gesagt, dass Sie sich damit einverstanden

erklären, dass sich Finanzminister Steinbrück gegen eine
Beteiligung an dem amerikanischen Rettungspaket in
Höhe von 700 Milliarden US-Dollar ausspricht. Ist Ih-
nen bekannt, dass die US-Regierung einige wirksame
Druckmittel hat, um Deutschland und andere Länder mit
bedeutenden Zentralbanken an der Finanzierung der
Kredite, die die USA aufnehmen müssen, zu beteiligen?
Erstes Druckmittel: Wenn diese 700 Milliarden US-Dol-
lar auf den Markt gedrückt werden, kann das zu einer si-
gnifikanten Abwertung des Dollars führen. Wer will das






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Herbert Schui
schon? Zweites Druckmittel: Es ist durchaus möglich,
dass deutsche Banken, die in den USA operieren und
faule Kredite im Portefeuille haben, keine Geschäfte mit
dieser 700-Milliarden-Agentur machen können. Was ge-
denkt die SPD-Fraktion, was gedenkt der Bundes-
minister der Finanzen dann zu tun?


Carsten Schneider (SPD):
Rede ID: ID1617905400

Für den Finanzminister kann ich nicht sprechen. Aber

für meine Person kann ich Ihnen sagen, dass meine Aus-
sage gilt: keine Steuermittel aus Deutschland zur Ret-
tung von amerikanischen Banken. Das ist doch logisch.
Etwas anderes würde niemand goutieren. Jeder muss für
seinen Bereich die Verantwortung wahrnehmen.


(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Richtig!)


Die amerikanische Wirtschaft hat enorm davon profi-
tiert, dass in den letzten Jahren eine Blase aufgrund nied-
riger Zinsen und laxer Kreditvergaben entstanden ist.
Wir sind nicht bereit, dafür die Verantwortung zu über-
nehmen. Das ist ganz klar.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Herr Lafontaine, zu unserer Verantwortung gehört na-
türlich auch, die Rechte, die man als Parlamentarier be-
kommt – dazu gehört das Kontrollrecht als Mitglied des
Verwaltungsrates der KfW; soweit ich weiß, sind Sie
dort Mitglied –, auch wahrzunehmen.


(Beifall der Abg. Nina Hauer [SPD])


Sie können ja einmal sagen, wie oft Sie an diesen Sitzun-
gen teilgenommen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/CSU])


Sie nehmen dieses Recht nicht wahr. Herr Kollege
Stiegler hat eben schon darauf hingewiesen, dass Sie als
Finanzminister geflüchtet sind und jetzt als Parlamenta-
rier Ihre Rechte nicht wahrnehmen, aber große Reden
schwingen. Das ist unsolide und – ich würde fast schon
sagen – dreist.


(Beifall bei der SPD)


Ich möchte auf die KfW zurückkommen und damit
auf die nicht zu akzeptierende Panne – ich weiß gar
nicht, ob man es nur als Panne bezeichnen kann – bei der
Überweisung von etwa 350 Millionen Euro im Rahmen
eines Swap-Geschäfts an Lehman Brothers am Montag
vergangener Woche. Wir haben gestern in geheimer Sit-
zung intensiv darüber diskutiert. Aber ich will zumindest
meine Bewertung sagen.

Wenn Sie die Presse in der Woche vom 8. bis
13. September verfolgt haben, so wissen Sie, dass zu Be-
ginn Lehman Brothers in großen Schwierigkeiten war.
Dann sackte der Aktienkurs jeden Tag weiter ab, um
90 Prozent zum Schluss. Am Freitag war klar – ich habe
die Meldungen dabei –, dass es kein Rettungspaket und
keinen Rettungsschirm der amerikanischen Regierung
geben wird.

Für mich ist unerklärlich, wie es in einer großen
Bank, einer Staatsbank nicht möglich ist, dies zu verfol-
gen und einmal zu schauen, was wir dort eigentlich im
Obligo haben. Das ist nicht die Aufgabe von einzelnen
Vorständen; das ist vor allen Dingen die Aufgabe des
Vorstandsvorsitzenden.


(Dirk Niebel [FDP]: Der ist doch erst seit drei Wochen im Amt!)


Für mich ist nicht abschließend geklärt, ob er nicht für
das gute Geld, das wir ihm bezahlen, auch am Wochen-
ende einmal in den Ticker schauen und seine Kollegen
anrufen kann, um eine Krisensitzung einzuberufen. Dies
gilt es noch aufzuklären. Ich sehe da insbesondere den
Verwaltungsratsvorsitzenden Glos in der Verantwortung,
der ja den Eindruck erweckt hat, als sei er für die Bank
nicht zuständig, zumindest wenn man die Aussagen vom
Unternehmertag der Union für voll nehmen soll.


(Frank Schäffler [FDP]: Wer war davor Verwaltungsratsvorsitzender?)


Wir brauchen bei der KfW sicherlich Änderungen.
Ich rate aber dazu, die KfW als wichtige Förderbank des
Bundes in ihren Festen zu erhalten und zu stärken; das
ist unabdingbar. Was die Kapitalmarktgeschäfte betrifft,
so halte ich es für notwendig, diesen Bereich der Auf-
sicht nach dem KWG, also der Bundesbank und der
BaFin, zu unterstellen, aber nicht, wie es in Teilen der
Unionsfraktion zu hören ist, das Fördergeschäft. Das
würde zu einer deutlichen Beeinträchtigung des Förder-
volumens, letztendlich unseres Geschäftes, wenn wir
Darlehen zur CO2-Gebäudesanierung und auch Global-
darlehen an Banken geben, führen und findet nicht
meine Unterstützung.


(Beifall bei der SPD)


Ich denke aber auch, dass wir als Parlament das Be-
teiligungscontrolling verbessern müssen. Eigentlich
sind wir im Haushaltsausschuss dafür zuständig. Oft-
mals bekommen wir aber gar nicht die erforderlichen In-
formationen, weil uns bei Beteiligungen an GmbHs oder
Aktiengesellschaften gesagt wird, dies sei aktienrecht-
lich nicht möglich. Ich sehe das mitnichten so. Ich
denke, wir müssen die Parlamentsrechte bei den Beteili-
gungen, die wir kontrollieren, die wir besitzen und von
deren Erträgen und – im nicht zu wünschenden Fall –
auch deren Verlusten wir betroffen sind, noch stärker un-
termauern. Ich denke, das sollten wir noch in dieser Le-
gislaturperiode regeln.

Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifft
die Portfolios an Anlageprodukten, die es seitens des
Bundes gibt. Jeder Bürger kann in Bundesschatzbriefe
als einen sicheren Hafen investieren und beim Staat di-
rekt seine Gelder anlegen. Das ist sicher, das ist auch ei-
nigermaßen gut verzinst. Wir haben hier im Parlament
ein Gesetz verabschiedet, diese Privatkundenstrategie
der Finanzagentur auszubauen, zwar mit einem unter-
durchschnittlichen Volumen, aber es ging darum, dies
attraktiv zu machen.

Nun haben wir einen Dissens mit der Unionsfraktion,
was insbesondere die Tagesgeldanleihen und andere
Punkte betrifft. Ich kann nicht erkennen, dass es ein
Nachteil für die Banken, geschweige denn für den Staat






(A) (C)



(B) (D)


Carsten Schneider (Erfurt)

ist, bei seinen Bürgern direkt die Kredite aufzunehmen,
die er in Form von Einlagen haben will. Auch für die
Bürger ist es kein Nachteil, einen sicheren Hafen zu ha-
ben, in dem sie ihr Geld investieren können und gute
Zinsen bekommen. Ich hoffe, dass sich die Unionsfrak-
tion hier noch bewegt, um diese guten Produkte, die si-
cher sind und uns allen helfen, letztendlich auf den Weg
zu bringen, und sich nicht querstellt.

Das sind Punkte, um neben den Anmerkungen, die
der Finanzminister heute gemacht hat, das Vertrauen in
das Finanzsystem und seine Stabilität noch stärker zu
befördern und die Regulierungsmaßnahmen, die bei den
G-8-Gipfeln von Bundesminister Steinbrück angestoßen
wurden, letztendlich auch umzusetzen. Die Chancen
sind heute wahrscheinlich so gut wie nie zuvor.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1617905500

Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem

Kollegen Jörg-Otto Spiller, SPD-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Jörg-Otto Spiller (SPD):
Rede ID: ID1617905600

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Lassen Sie mich versuchen, am Ende dieser gut
dreistündigen Debatte ein Fazit zu ziehen. Meine erste
Aussage ist: Ich bin froh, dass Peer Steinbrück unser
Bundesfinanzminister ist.


(Beifall bei der SPD)


Er hat eine brillante, umfassende Analyse der internatio-
nalen Finanzkrise gebracht, und er hat gezeigt, dass er
klare Positionen hat und dass er willens ist, auch in inter-
nationalen Verhandlungen verantwortungsvoll zu agie-
ren. Ich unterstreiche: Er hat, wie die Bundesregierung
insgesamt, gemeinsam mit der Bundesbank, mit der
Europäischen Zentralbank und mit der BaFin


(Dirk Niebel [FDP]: Schade, dass er das Lob gar nicht mitbekommt!)


wesentlich dazu beigetragen, die Krise in Deutschland
zu begrenzen. Das war ein gutes Handeln.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU])


Auch wenn es das gute Recht der Opposition ist, an dem
einen oder anderen Punkt zu mäkeln, war das insgesamt
richtig.

Ich unterstreiche, was mehrere Vorredner gesagt haben,
zuletzt Otto Bernhardt: Das deutsche Bankensystem ist
insgesamt gesehen, so wie es aufgestellt, wie es konstru-
iert ist, solide und steht sehr viel besser da als viele an-
dere. Mit Blick auf unsere Zuhörer in diesem Saal und die
Damen und Herren, die die Debatte im Fernsehen verfol-
gen, sage ich: In Deutschland braucht sich niemand Sor-
gen zu machen um seine Einlagen bei einer Bank.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das liegt nicht nur daran – das hat Herr Bernhardt ge-
sagt –, dass wir insgesamt solide aufgestellt sind, son-
dern auch daran, dass wir Einlagensicherungssysteme
haben – Haftungsverbünde bei den Sparkassen und Ge-
nossenschaftsbanken sowie ein Einlagensicherungssys-
tem bei den privaten Banken, die im Bundesverband
deutscher Banken organisiert sind –, die alle weit über
das hinausgehen, was auf europäischer Ebene vorge-
schrieben ist. Jeder, dessen Vermögen bei der Bank ein
halbwegs normal hohes Vermögen nicht übersteigt, ist
voll abgesichert. Bis zu 30 Prozent des haftenden Eigen-
kapitals der jeweiligen Bank sind für die Einlage eines
jeden Kunden zur Haftung da. Das heißt, selbst wenn Sie
bei einer kleinen Bank, die nicht mehr als
5 Millionen Euro Eigenkapital hat, Kunde sind, sind
Einlagen von bis zu anderthalb Millionen Euro für jeden
einzelnen Kunden durch diesen Fonds abgesichert. Das
ist in der Welt einmalig.

Ich sage aber auch: Wir dürfen uns nicht damit begnü-
gen, dass wir in Deutschland – zum Glück – einigerma-
ßen geschützt sind. Als Exportweltmeister, als eine
Volkswirtschaft, die wie keine andere mit dem Rest die-
ser Welt verflochten ist, brauchen wir ein funktionieren-
des internationales Finanzwesen. Deswegen ist es er-
freulich, dass fast alle Fraktionen unterstützt haben, was
der Bundesfinanzminister gesagt hat: Wir brauchen eine
Rückbesinnung auf Regeln, die den Markt regulieren.
Das heißt nicht, dass der Markt ständig eingeengt wird.
Bei jedem ordentlichen Spiel gibt es nun einmal Spielre-
geln. Wer käme denn beim Sport auf die Idee, dass es
nur die Regel „Catch as catch can“ gibt? Es muss doch
ein Regelwerk geben, das für alle Teilnehmer gilt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das meiste ist dazu schon gesagt worden. Produkt-
transparenz gehört dazu. Herr Kollege Dr. Schick, es
hat mich ein bisschen gewundert, dass Sie sich für un-
durchsichtige Produkte starkmachen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich will sie durchsichtig machen, und Sie wollen das nicht! Das ist der Punkt!)


Ich finde, man kann den deutschen Anlegern nicht raten,
etwas zu kaufen, das kein Mensch versteht. Das ist schon
für Banker nicht ratsam; aber dass Sie das auch noch
dem Publikum schmackhaft machen wollen, hat mich
ein Stück weit gewundert.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Offensichtlich hat Ihr Kollege das auch nicht verstanden!)


Zu diesem Thema gehört auch – das hat der Kollege
Stiegler angesprochen – ein Nachdenken über Bilanzie-
rungsregeln. Ist es wirklich vernünftig, die bewährten
Regelungen, die wir seit hundert Jahren im Handelsge-
setzbuch haben, zum Beispiel das Niederstwertprinzip,
durch schwankende Bewertungen von Aktiva zu erset-
zen? In der guten Phase würde dann doch alles nach
oben und bei einer Verschlechterung alles nach unten
übertrieben. Darüber muss man nachdenken.






(A) (C)



(B) (D)


Jörg-Otto Spiller
Ich bin auch froh – das ist hier noch nicht so zur Spra-
che gekommen; das will ich einbringen –, dass wir den
Euro haben. Ich möchte nicht wissen, wie sich die
internationale Finanzkrise auf Deutschland ausgewirkt
hätte, wenn wir den Währungsverbund in Europa nicht
hätten.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir hätten wilde Spekulationen gehabt, im Zweifelsfall
hätten wir uns an den Devisenmärkten riesige Probleme
geschaffen. Ich kann nur sagen: Europa steht auch des-
wegen besser da. Dies wird uns, finde ich, legitimieren,
das europäische Gewicht in die neue internationale Re-
gelung von Finanzmärkten einzubringen, um das, was
auch der Bundesfinanzminister genannt hat, zu errei-
chen, nämlich die Finanzmärkte neu zu zivilisieren.

Eine letzte Bemerkung – Kollege Bernhardt hat das
schon angesprochen –: Natürlich müssen wir auch da-
rüber nachdenken, wie wir die Bankenaufsicht im Zuge
der Europäisierung besser aufstellen. Ich will allerdings
auf Folgendes hinweisen: Die BaFin, die Bundesanstalt
für Finanzdienstleistungsaufsicht, ist für das ganze
Spektrum von Finanzmärkten einschließlich Versiche-
rungen zuständig; das ist bei der Bundesbank nicht so.
Das würde ich nicht gering schätzen. Ich möchte darauf
hinweisen, dass die Bundesbank schon heute an der Ban-
kenaufsicht stark beteiligt ist. Dazu sage ich nur: Beide
müssen stärker werden. Wir müssen uns überlegen, wie
wir der Bundesbank und der BaFin helfen können, noch
effektiver zu werden. Denn eine wohlfunktionierende
und starke Finanzaufsicht ist ein Standortvorteil.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1617905700

Ich schließe die Aussprache.

Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/10308 soll überwiesen werden zur feder-
führenden Beratung an den Finanzausschuss und zur
Mitberatung an den Haushaltsausschuss, den Ausschuss
für Wirtschaft und Technologie sowie an den Ausschuss
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b sowie
die Zusatzpunkte 3 und 4 auf:

3 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur arbeits-
marktadäquaten Steuerung der Zuwande-
rung Hochqualifizierter und zur Änderung
weiterer aufenthaltsrechtlicher Regelungen

(Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz)


– Drucksache 16/10288 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Rainder Steenblock, Manuel Sarrazin,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Abschottungspolitik beenden – Volle Arbeit-
nehmerfreizügigkeit ab 2009 herstellen
– Drucksache 16/10237 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Gisela Piltz,
Dr. Max Stadler, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Steu-
erung und Begrenzung der Zuwanderung und
zur Regelung des Aufenthalts und der Integra-

(Zuwanderungsgesetz)

– Drucksache 16/9091 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid
Wolff (Rems-Murr), Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk
Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP

EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit sofort und un-
beschränkt in der Bundesrepublik Deutsch-
land gewähren
– Drucksache 16/10310 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-
tarischen Staatssekretär Peter Altmaier das Wort.

P
Peter Altmaier (CDU):
Rede ID: ID1617905800


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Be-
darf an gut ausgebildeten und gut qualifizierten Fach-
kräften ist in den letzten Jahren stetig gestiegen, und
zwar nicht zuletzt dank der guten Wirtschaftsentwick-
lung seit Amtsantritt dieser Bundesregierung, lieber Herr
Kollege Wolff, wie jedermann anhand der Zahlen fest-
stellen kann.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Richtig!)


Dieser Bedarf an Arbeitskräften wächst weiter und
wird auch unabhängig von konjunkturellen Schwankun-






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Peter Altmaier
gen in Zukunft weiterwachsen, wie ein Blick auf die
demografische Entwicklung zeigt. Deshalb muss eine
verantwortliche Bundesregierung vorausschauend die
Weichen dafür stellen, dass die notwendigen Fachkräfte
dem Arbeitsmarkt auch künftig zur Verfügung stehen.

Die Politik der Bundesregierung beruht auf drei Säu-
len, nämlich erstens darauf, die einheimischen Arbeits-
kräfte so zu qualifizieren und so weiterzubilden, dass sie
von den großen Chancen, die sich bieten, besser profitie-
ren können. Das gilt zweitens auch für diejenigen, die
schon lange hier sind und in vielen Fällen aufgrund man-
gelnder Bildungschancen und mangelnder Förderung
nicht imstande waren, sich so in den Arbeitsmarkt einzu-
gliedern, wie dies im Interesse unserer wirtschaftlichen
Entwicklung geboten ist. Drittens kann die Gewinnung
ausländischer Facharbeitskräfte Versäumnisse der inlän-
dischen Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen nie
ganz ersetzen, sondern sie ist allenfalls eine wichtige Er-
gänzung dieser Politik; nicht mehr, aber auch nicht weni-
ger.

In diesen Gesamtansatz fügt sich der Entwurf des
Arbeitsmigrationssteuerungsgesetzes ein. Es geht bei
diesem Entwurf in erster Linie um die Bedürfnisse des
Arbeitsmarktes und der Wirtschaft. Das unterscheidet
ihn von früheren Vorhaben wie beispielsweise Bleibe-
rechtsregelungen oder Resettlementregelungen, über die
bisweilen ebenfalls diskutiert wird.

Wir haben mit diesem Vorschlag eine umfassende,
eine maßgeschneiderte Lösung vorgelegt, die insbeson-
dere intelligent gestaffelt ist und sich möglichst passge-
nau an den Bedürfnissen des deutschen Arbeitsmarktes
orientiert. Das heißt, sie soll nicht auf Kosten der Be-
schäftigungsmöglichkeiten einheimischer Arbeitnehmer
gehen, sondern sich auf diejenigen Segmente im Ar-
beitsmarkt konzentrieren, in denen Bedarfslücken beste-
hen.

Wir müssen die Position unseres Landes im weltwei-
ten Wettbewerb um die besten Köpfe stärken. Dem
wird der vorliegende Entwurf auch gerecht. Er sieht im
Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz insbesondere folgende
Punkte vor: erstens: die Senkung der Einkommens-
grenze für Hochqualifizierte, die eine Niederlassungser-
laubnis anstreben, von derzeit über 86 000 Euro auf rund
63 000 Euro; zweitens: die verstärkte Nutzung im Inland
vorhandener Qualifikationspotenziale durch Erteilung
eines neuen Aufenthaltstitels, der beruflich Qualifizier-
ten einen sicheren Aufenthaltsstatus ermöglicht – ein
wichtiger Schritt zu einer verlässlichen, berechenbaren
Kalkulationsgrundlage für viele Unternehmen in unse-
rem Land. Drittens werden wir mit den begleitenden
Verordnungsänderungen des BMAS auch dafür sorgen,
dass der Zugang für Akademiker aus den neuen EU-
Mitgliedstaaten durch Verzicht auf den Vermittlungsvor-
rang erleichtert wird. Wir werden ermöglichen, dass
Akademiker aus Drittstaaten Zugang zum Arbeitsmarkt
haben, soweit für die Beschäftigung keine inländischen
Arbeitssuchenden zur Verfügung stehen. Außerdem wer-
den wir sicherstellen, dass Absolventen deutscher Aus-
landsschulen für jede Berufsausbildung zugelassen wer-
den und der Zugang zu einer sich daran anschließenden
Beschäftigung ohne Vorrangprüfung ermöglicht wird.

Sie können aus diesen Punkten ersehen, dass wir uns
tatsächlich um maßgeschneiderte und differenzierte Lö-
sungen bemüht haben.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bürokratisch! Intransparent!)


Darüber hinaus ist uns wichtig, dass durch das vorlie-
gende Gesetz die allgemeinen ausländer- und migrations-
politischen Ziele der Bundesregierung nicht konterkariert
werden. Wir waren in den letzten Jahren ausgesprochen
erfolgreich bei der Bekämpfung der illegalen Migra-
tion und des Asylmissbrauchs, sowohl im nationalen
als auch im europäischen und im internationalen Be-
reich. Aus Sicht des Bundesinnenministeriums ist es
wichtig, dass dies auch in Zukunft so bleibt; denn es ist
die Voraussetzung dafür, dass der Handlungsspielraum
im Bereich der Migrationspolitik, den wir uns in den
letzten Jahren eröffnet haben, auch erhalten bleibt. Des-
halb wollen wir alles vermeiden, was in Zukunft wie ein
Pull-Faktor wirken könnte, was dazu beitragen könnte,
erfolgreiche Maßnahmen der Missbrauchsbekämpfung
aus der Vergangenheit zu konterkarieren. Daran muss
sich auch die Regelung in dem in Aussicht genommenen
§ 18 a Aufenthaltsgesetz messen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Aus diesem Grund sieht der Entwurf zum Beispiel
vor, dass eine Aufenthaltsverfestigung dann ausscheidet,
wenn der Betreffende zuvor die Ausländerbehörden ge-
täuscht hat, wenn er Bezüge zu extremistischen Organi-
sationen hat oder wenn er substanziell strafrechtlich in
Erscheinung getreten ist. All dies sind keine bürokrati-
schen Spitzfindigkeiten; vielmehr ist es notwendig, da-
mit die neue Regelung trägt und auch gesellschaftliche
Akzeptanz findet.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf leisten wir ei-
nen besonnenen Beitrag zu einer besseren Deckung des
Fachkräftebedarfs in Deutschland und damit auch zur
Nutzung von Wachstumspotenzialen und zur Schaffung
von weiteren Arbeitsplätzen. Es ist eine Regelung, die
nicht kurzfristig, sondern auf die Zukunft angelegt ist
und die eine positive Wirkung entfalten kann und soll.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1617905900

Das Wort hat nun Hartfrid Wolff für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP)


Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zu-

wanderungspolitik der Bundesregierung aus CDU/CSU
und SPD ist Stückwerk. Die groß als Aktionsprogramm
angekündigte Initiative ist ein Flickenteppich. Sie haben
es gerade gemerkt: Der Staatssekretär hatte schon ein






(A) (C)



(B) (D)


Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

bisschen Schwierigkeiten, die einzelnen Punkte differen-
ziert darzustellen.


(Dirk Niebel [FDP]: Er kennt sie gar nicht!)


Diese Initiative wird den Bedürfnissen unseres Landes
nicht gerecht.


(Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Mutlos! Ohne Saft und Kraft!)


Der vorliegende Gesetzentwurf zur Steuerung der Ar-
beitsmigration bleibt weit hinter der Faktenlage und dem
Diskussionsstand zurück. Die Bundesregierung bleibt
halbherzig, wenn es um erhebliche Zukunftschancen
für unsere Gesellschaft und auch für die deutsche Wirt-
schaft geht. Die vorgesehene Öffnung des deutschen Ar-
beitsmarktes für Akademiker aus allen EU-Staaten, die
Senkung der Mindesteinkommensgrenze und der verein-
zelte Verzicht auf die Vorrangprüfung sind Minimal-
schritte,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das!)


die zwar in die richtige Richtung gehen, aber wenig brin-
gen werden.


(Beifall bei der FDP – Rüdiger Veit [SPD]: Warten wir es doch mal ab!)


Lieber Herr Staatssekretär, mit dieser Aktion werden Sie
wieder nicht die Fachkräfte und die Menschen bekom-
men, die wir in Deutschland dringend brauchen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt leider!)


Die grundsätzliche Beibehaltung der bürokratischen
Vorrangprüfung für Hochqualifizierte bleibt ein Pro-
blem. Einmal soll die Vorrangprüfung gelten, ein ande-
res Mal nicht.


(Peter Altmaier, Parl. Staatssekretär: Maßgeschneidert!)


Wie sollen gerade kleine und mittelständische Unterneh-
men so ihre Personalplanung betreiben?


(Beifall bei der FDP)


Sie sind in diesem Punkt von der deutschen Arbeitsver-
waltung abhängig. Herzlichen Glückwunsch! Freies Un-
ternehmertum geht anders.


(Beifall bei der FDP)


Auch die nach wie vor zu hohen Einkommensgrenzen
sind Hürden, die dem Hochtechnologiestandort Deutsch-
land insgesamt und unserem Mittelstand schaden. Vor
allem aber werden die wenigen und unzureichenden Ver-
besserungen durch eine geradezu reaktionäre Politik im
Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU konter-
kariert.


(Beifall bei der FDP)


Eine weitere Beschränkung der EU-Arbeitnehmer-
freizügigkeit für Arbeitnehmer aus neu beigetretenen
Mitgliedstaaten in die Bundesrepublik ist kontraproduk-
tiv. Die Bundesregierung muss von ihrem Vorhaben
dringend ablassen, bei der EU-Kommission eine erneute
Verlängerung der Einschränkung bis 2011 anzumelden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wieso differenzieren Sie für diesen kurzen Zeitraum von
zwei Jahren noch mal nach Akademikern und anderen?
Das schafft Bürokratie für Unternehmen, Unsicherheit
bei den Arbeitnehmern und Unverständnis bei unseren
Nachbarn.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Vielmehr ist die Öffnung des deutschen Arbeitsmark-
tes für Arbeitnehmer aus den neuen EU-Staaten erfor-
derlich. Großbritannien, liebe Kollegen von der CDU/
CSU, profitiert von der Öffnung mit einer niedrigen Ar-
beitslosigkeit. Auch Frankreich will diesem Vorbild fol-
gen. Dagegen will unsere Bundesregierung eine falsche
Regelung jetzt auch noch verlängern. Das ist grotesk.


(Beifall bei der FDP)


Ich möchte ganz bewusst noch einen weiteren europa-
politischen Aspekt hinzufügen. Die Arbeitnehmerfreizü-
gigkeit ist einer der Grundpfeiler der Europäischen
Union. Gerade im Hinblick auf die europäische Ver-
ständigung ist deshalb diese Abschottungspolitik kon-
traproduktiv. Eine Politik der guten Nachbarschaft und
Partnerschaft in Europa darf die Arbeitnehmer aus den
neuen Mitgliedstaaten der EU nicht länger diskriminie-
ren.


(Beifall bei der FDP)


Wir sollten unseren neuen europäischen Partnern mit Of-
fenheit begegnen, nicht uns von ihnen abschotten und ih-
ren Bürgern misstrauen.


(Beifall bei der FDP)


Die Zukunft unseres Landes hängt davon ab, dass wir
uns weiterentwickeln können und hierfür die entspre-
chenden Kapazitäten haben. Dazu müssen wir das Pro-
blem des Fachkräftemangels dringend beheben. Das
scheint bei der Bundesregierung zumindest tendenziell
angekommen zu sein. Gewerkschaften und Arbeitgeber-
verbände sind sich aber einig, dass der stärkere Zuzug
von Fachkräften nach Deutschland über ein Punkte-
system ein Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
bei uns ist;


(Beifall bei der FDP)


denn der Einsatz jeder weiteren Fachkraft zieht weitere
Arbeitsplätze nach sich.

Gebraucht werden nicht nur Hochqualifizierte, wie es
die Bundesregierung teilweise vorsieht, sondern auch
Facharbeiter und Saisonarbeitskräfte. In der Landwirt-
schaft beispielsweise trifft die weitere bürokratische Ver-
schiebung der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf komplettes
Unverständnis. Die Bundesregierung bedient hier ledig-
lich ungerechtfertigte Ängste.


(Beifall bei der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

Die Erfahrungen aus den anderen EU-Staaten zeigen,
dass eine überbordende Zuwanderung auf den deutschen
Arbeitsmarkt nicht erfolgen wird. Hier wäre die Bundes-
regierung in der Pflicht, die Bevölkerung wahrheitsge-
treu aufzuklären, anstatt die Angstmache durch Verlän-
gerung der Übergangsregelungen zu verstärken. Ohne
ein einheitliches System droht Deutschland den Wettbe-
werb um die klügsten Köpfe zu verlieren. Dieses punk-
tuelle Herumwursteln, Herr Staatssekretär, ist kein ein-
heitliches System. Aber anstatt die bewusste Gestaltung
dieser Politik beherzt in die eigenen Hände zu nehmen,
wird ein Verschiebebahnhof nach Brüssel organisiert.
Die Idee, mit der Bluecard Hochqualifizierte nach
Europa zu holen, ist grundsätzlich gut und richtig. Doch
keine Initiative aus Brüssel entbindet uns von der
Pflicht, zu Hause unsere Hausaufgaben zu machen.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Durch europäische Regelungen wird der Wettbewerb
in Europa steigen. Mit den halbherzigen Vorschlägen der
Bundesregierung verlieren wir gerade gegenüber unse-
ren EU-Nachbarn weiter an Boden. CDU, CSU und SPD
vergießen allerdings Krokodilstränen, beklagen sich
über die Eurokratie in Brüssel und schieben der EU den
Schwarzen Peter für eigene Versäumnisse zu. Das ist bil-
lig.


(Beifall bei der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Darüber kann auch kein Stoiber hinwegtäuschen!)


Heute tagt der Rat der EU-Innen- und -Justizminister.
Es wäre gut, wenn aus Berlin ein klares Signal für eine
kompetente nationale Zuwanderungssteuerung käme. Da
die EU-Minister auch die Flüchtlingspolitik beraten,
möchte ich hinzufügen: Die Zuwanderung aus huma-
nitären Gründen muss im Fokus der Migrationspolitik
bleiben. Wir werden nicht alle Probleme der Welt inner-
halb unserer Landesgrenzen lösen können. Vor akuten
Verfolgungsschicksalen dürfen wir aber nicht die Augen
verschließen. Im Einzelfall ist hier ein hohes Maß an
Verantwortungsbewusstsein erforderlich. Außerdem muss
man viele Maßnahmen, manchmal auch gut gemeinte
Maßnahmen, kritisch hinterfragen, damit sie nicht kon-
traproduktiv wirken.


(Beifall bei der FDP)


Ein erfolgreiches Instrument für die kritische Prüfung
migrationspolitischer Maßnahmen ist die Härtefallkom-
mission. Die FDP hat die Aufhebung der Befristung der
Regelungen zu dieser Kommission gefordert.


(Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Das passiert sowieso!)


Ich begrüße nachdrücklich, dass sich jetzt auch die Bun-
desregierung diesen Vorschlag zu eigen gemacht hat.


(Beifall bei der FDP – Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Der Antrag hat sich erledigt! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das sollte die Regierung öfter tun!)


– Das ist richtig.
Meine Damen und Herren, die demografische Ent-
wicklung lässt erwarten, dass wir unseren wirtschaftli-
chen Standard mittelfristig nicht werden halten können,
wenn wir uns nicht für die Zuwanderung qualifizierter
Fachkräfte öffnen. Wie am Ausländerrecht nach wie vor
deutlich wird, will die Bundesregierung eigentlich keine
gesteuerte Zuwanderung.

Die FDP hat ein Gegenmodell zu dieser restriktiven
Politik vorgelegt. Wir brauchen ein Punktesystem, mit
dem die Zuwanderung nach klaren Kriterien gesteuert
wird und mit dem auch unsere Interessen und unsere Er-
wartungen an die Zuwanderer klar definiert werden.


(Beifall bei der FDP)

Dabei spielen vor allem die Qualifikation, die berufliche
Erfahrung, das Alter und die Kenntnisse der deutschen
Sprache eine große Rolle. Entscheidend sind die Fragen:
Wen wollen wir nach Deutschland einladen? Wer kann
unsere Gesellschaft voranbringen?

Für die Menschen, auf die dies zutrifft, brauchen wir
eine Willkommenskultur, die es Hochqualifizierten und
Fachkräften aus dem Ausland erleichtert, sich für
Deutschland zu entscheiden. Die Bundesregierung will
steuern. Sie steuert aber mit stotterndem Motor und fährt
einen Zickzackkurs. Deutschland braucht nicht das
angstgeleitete zuwanderungspolitische Stückwerk von
CDU, CSU und SPD, sondern eine moderne, klare und
nachvollziehbare Zuwanderungssteuerung aus einem
Guss.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1617906000

Das Wort hat nun Josip Juratovic für die SPD-Frak-

tion.

(Beifall bei der SPD)



Josip Juratovic (SPD):
Rede ID: ID1617906100

Verehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen

und Kollegen! Die aktuelle Entwicklung auf dem
Arbeitsmarkt ist positiv. Die Arbeitslosigkeit ist mit
3,2 Millionen arbeitslosen Menschen so gering wie seit
15 Jahren nicht mehr. Es ist ein großer Erfolg, dass wir
die Arbeitslosigkeit durch die Arbeitsmarktreformen der
Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder senken
konnten.


(Dirk Niebel [FDP]: Warum habt ihr sie dann zurückgedreht?)


Leider ist die Zahl der Arbeitslosen aber immer noch
viel zu hoch, vor allem unter den Geringqualifizierten.
Wir Politiker stehen in der Pflicht, die Rahmenbedingun-
gen zu schaffen, damit alle Arbeitsuchenden die Chance
auf eine Arbeitsstelle bekommen.

Wir haben momentan wohl noch keinen flächende-
ckenden Fachkräftemangel zu verzeichnen. Klar ist aber:
Wir brauchen mehr qualifizierte und hochqualifizierte
Fachkräfte, um Wachstum und Beschäftigung auch
für die Zukunft zu sichern.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Josip Juratovic
Für uns Sozialdemokraten hat dabei die Ausschöpfung
des heimischen Arbeitsmarktes Vorrang. Große Poten-
ziale sehen wir bei der Jugend, bei den Frauen, den Älte-
ren und den in Deutschland lebenden Migranten.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die darf man aber nicht gegeneinander ausspielen!)


Der Ausbildungsbonus, der Ausbau der Ganztagsbe-
treuung und die Initiative „50 plus“ sind Maßnahmen,
mit denen wir unseren Fachkräftebedarf decken wollen.
Diesen Maßnahmen werden weitere folgen. Wir werden
zum Beispiel das Recht auf das Nachholen des Haupt-
schulabschlusses einführen und für eine größere Durch-
lässigkeit des Hochschulsystems sorgen, damit auch ein
Handwerksmeister ein Studium beginnen kann.


(Beifall bei der SPD)


Doch all das wird nicht reichen. Trotzdem wird es zu
Engpässen kommen. Bereits ab Mitte des kommenden
Jahrzehnts kann dadurch unser Wirtschaftswachstum be-
einträchtigt werden. Deswegen brauchen wir über das
heimische Potenzial hinaus weitere Fachkräfte.

Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung werden
die bereits in Deutschland lebenden Ausländer als Po-
tenzial erkannt. Des Weiteren werden Möglichkeiten zur
Einwanderung hochqualifizierter Fachkräfte aus den
neuen EU-Beitrittsstaaten und aus Staaten außerhalb der
EU erschlossen.

Für uns ist besonders das Potenzial interessant, das in
den sogenannten Bildungsinländern steckt. Bildungsin-
länder sind zumeist junge Migrantinnen und Migranten,
die in Deutschland die Schule und die Universität be-
sucht und abgeschlossen haben. Sie sind mit der deut-
schen Sprache und der deutschen Kultur bestens ver-
traut, doch durch seinen unsicheren Aufenthaltsstatus ist
dieser Personenkreis bislang chancenlos. Durch den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung erhalten beruflich gut
qualifizierte geduldete Migranten künftig eine Aufent-
haltserlaubnis und einen Zugang zum Ausbildungs-
und Arbeitsmarkt. Diese neuen Regelungen sind drin-
gend notwendig.


(Beifall bei der SPD)


Ich führe in meinem Bürgerbüro regelmäßig Gesprä-
che mit Familien, die als Flüchtlinge nach Deutschland
gekommen sind und nun abgeschoben werden sollen,
obwohl sie in unsere Gesellschaft integriert sind. Erst
gestern wurde entschieden, dass eine kurdische Familie
aus Heilbronn in die Türkei abgeschoben wird, obwohl
die Kinder in Heilbronn voll integriert sind. Sie sprechen
Deutsch, engagieren sich in ihrem Stadtteil, und die äl-
testen Kinder haben Angebote für eine Ausbildung.
Diese Kinder könnten unsere Fachkräfte von morgen
sein.


(Andrea Nahles [SPD]: Ja, richtig!)


Durch dieses tragische Schicksal wird uns gezeigt: Es ist
höchste Zeit, dass wir das Potenzial der unter uns leben-
den geduldeten Asylbewerber nutzen.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann reden Sie einmal mit Ihrem Koalitionspartner!)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, der Weg ist frei
dafür, diesen Menschen einen besseren Status zuzuer-
kennen. Wieso tun wir das? – Wir haben in diese Men-
schen investiert: in ihre Integration und ihre Bildung.
Daher muss es auch selbstverständlich sein, dass sie hier
bei uns in Deutschland auch arbeiten dürfen.

Doch auch das Potenzial der bereits in Deutschland
lebenden Ausländer wird für uns nicht reichen, um den
Fachkräftebedarf der Zukunft zu decken. Deswegen ist
es gemäß dem Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz unter
verschiedenen Voraussetzungen möglich, hochqualifi-
zierte Fachkräfte aus dem Ausland nach Deutschland zu
holen:

Erstens. Akademiker aus den neuen EU-Mitgliedstaa-
ten in Mittel- und Osteuropa erhalten einen uneinge-
schränkten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt.

Zweitens. Akademiker aus den sogenannten Drittstaa-
ten erhalten einen Zugang mit Vorrangprüfung.

Drittens. Einen uneingeschränkten Zugang zum Ar-
beitsmarkt erhalten hochqualifizierte Fachkräfte mit ei-
nem Einkommen von über 63 600 Euro.

Viertens. Der Arbeitsmarkt wird für Absolventen der
deutschen Schulen im Ausland geöffnet.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, gesetzliche Be-
stimmungen zur Zuwanderung sind die eine Seite der
Medaille. Die andere Seite der Medaille ist jedoch die
Akzeptanz der Zuwanderung. Die Bundesregierung
will die Übergangsregelung zur Arbeitnehmerfreizü-
gigkeit für die neuen EU-Mitgliedstaaten aus gutem
Grund bis zum 30. April 2011 verlängern. Diese Zeit
müssen wir nutzen, um in unserer Gesellschaft eine Ak-
zeptanz für die Zuwanderung aufzubauen.

Die FDP spricht davon, den Ausbildungsmarkt für
junge Menschen aus Mittel- und Osteuropa zu öffnen.
Das birgt sozialen Zündstoff. Wenn wir das tun, während
momentan gerade einmal jeder Dritte oder Vierte einer
Abschlussklasse einer deutschen Hauptschule einen re-
gulären Ausbildungsplatz erhält, dann gewinnen wir
keine gesellschaftliche Zustimmung zur Einwanderung.


(Beifall bei der SPD)


Wir müssen zunächst alles daransetzen, dass unsere
Jugendlichen eine reelle Chance auf einen Ausbildungs-
platz bekommen. Außerdem müssen wir hierzulande ein
Bewusstsein dafür schaffen, dass die Zuwanderung für
uns alle eine Chance bietet. Es ist eine Tatsache, dass der
Zuzug von hochqualifizierten Fachkräften gerade für
die Geringqualifizierten in Deutschland von Nutzen ist.
Eine neue hochqualifizierte Fachkraft bedingt drei Ar-
beitsstellen für weniger qualifizierte Arbeitnehmer. Das
sichert Arbeit. Das schafft Arbeit. Deswegen ist es sinn-
voll, dass wir unseren Arbeitsmarkt zunächst für die
hochqualifizierten Fachkräfte aus den neuen EU-Mit-
gliedstaaten öffnen, bevor ab 2011 unser Arbeitsmarkt
allen neuen EU-Bürgern von Ungarn bis zum Baltikum






(A) (C)



(B)


Josip Juratovic
offensteht. Durch diese Reihenfolge kann es uns gelin-
gen, ein positives Klima für Zuwanderung zu schaffen.

Deutschland hat mit ökonomischer Zuwanderung
bereits seit über 50 Jahren Erfahrung. Wir wissen, dass
wir mit den Fachkräften, die zu uns kommen, nicht nur
Arbeitskräfte, sondern vor allen Dingen Menschen er-
warten. Ich selbst bin im Alter von 15 Jahren aus Kroa-
tien nach Deutschland gekommen. Seitdem habe ich
viele Facetten der deutschen Migrationspolitik kennen-
gelernt.

Wir müssen die Ängste der Geringqualifizierten ernst
nehmen. Einwanderung darf nicht nur unter wirtschaftli-
chen Aspekten geschehen, sondern muss den Bestand
des sozialen Friedens in Deutschland gewährleisten.


(Beifall bei der SPD)


Deswegen müssen wir – entgegen den Forderungen von
FDP und Grünen – die Übergangsregelungen für die
neuen EU-Mitgliedstaaten bis 2011 fortführen. Vor al-
lem brauchen wir bis dahin in Deutschland einen flä-
chendeckenden Mindestlohn.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz ist ein ver-
nünftiger Ansatz. Es nimmt Rücksicht auf die Men-
schen, die hierzulande leben, und auf die, die zu uns
kommen. Es zeugt auch von Wertschätzung für die Mi-
granten, die ohne Bleiberecht bei uns leben; denn sie erhal-
ten die Möglichkeit, unserer Gesellschaft etwas zurückzu-
geben, statt nur aus humanitären Gründen auf unsere Hilfe
angewiesen zu sein. Integration hilft beiden Seiten. Mit
dem Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz zeigt die Bun-
desregierung, dass sie Einwanderungspolitik mit Augen-
maß betreibt.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1617906200

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen

für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617906300

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Glaubt man den Wirtschaftsverbänden, der
Bundesregierung oder der FDP – das sollte man aber lie-
ber nicht machen –, dann hat Deutschland einen drasti-
schen Mangel an Fachkräften, der negative Folgen für
die Volkswirtschaft hat. Damit die deutsche Wirtschaft
keine allzu großen Nachteile im Wettbewerb hat, will
nun die Bundesregierung den Zuzug von hochqualifi-
zierten ausländischen Fachkräften nach Deutschland er-
leichtern. Das erscheint irgendwie plausibel.

Aktuell gibt es jedoch keine Anzeichen für einen all-
gemeinen Fachkräftemangel. Nach Untersuchungen des
Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung – IAB –
gibt es den beklagten Fachkräftemangel in der Form
nicht. Es deuten sich nur partiell Engpässe an. Das be-
trifft vor allen Dingen Akademikerinnen und Akademi-
ker sowie Ingenieure bestimmter Fachrichtungen wie
Maschinenbau-, Elektro- und Wirtschaftsingenieure.

Während die Bundesregierung vom Fachkräfteman-
gel redet, gibt es über 3 Millionen Erwerbslose und über
1 Million Langzeiterwerbslose; aber eine aktivierende
Arbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung gibt es
nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Während die Bundesregierung den Forderungen der
Wirtschaft reflexartig folgt, werden über 6,5 Millionen
Menschen im Niedriglohnsektor beschäftigt, und
1,3 Millionen Menschen erhalten zusätzliche Hilfen,
weil ihr Lohn nicht ausreicht. Beachtlich ist hierbei, dass
inzwischen nicht mehr hauptsächlich Geringqualifizierte
und Ungelernte von Niedriglöhnen betroffen sind. Viel-
mehr haben derzeit circa 75 Prozent aller Beschäftigten
im Niedriglohnbereich eine abgeschlossene Berufsaus-
bildung oder sogar einen Hochschulabschluss. Über
2 Millionen Beschäftigte gehen laut Verdi einem Zweit-
job nach, um über die Runden kommen zu können.

Während Sie den Mangel an qualifiziertem Personal
beklagen, haben selbst gut qualifizierte und motivierte
Berufsanfänger oft Schwierigkeiten beim Berufseinstieg
und müssen etwa in gering oder gar nicht vergüteten
Praktika versuchen, Anschluss zu finden. Andere
ackern, wie gesagt, im Niedriglohnbereich, addieren oft
mehrere Tätigkeiten und kommen dennoch nicht über
die Runden. Von einer ausreichenden Vorsorge für das
Alter können junge Leute, die unter solchen Erwerbsbe-
dingungen arbeiten, nur träumen. Die daraus abgeführ-
ten Minimalbeiträge führen direkt in die Altersarmut
unter dem schönmalerischen Titel „Grundsicherung im
Alter“. All dies gilt es zu bedenken, wenn Nebelkerzen
geworfen werden und gesagt wird, wir hätten einen
Fachkräftemangel in Deutschland.

Die Bundesregierung hat bisher im Bildungs-, Ausbil-
dungs- und Hochschulbereich komplett versagt.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Bildungsbericht 2008 belegt dies schwarz auf weiß:
die hohe Zahl von Schulabbrechern, das perspektivlose
Lernen in Hauptschulen, die erschreckende soziale Un-
gleichheit, die Ausgrenzung von Kindern und Jugendli-
chen mit Migrationshintergrund oder Behinderung, die
chronische Unterfinanzierung aller Bildungsbereiche,
die fehlenden Ausbildungsplätze und die sinkenden Stu-
dienanfängerzahlen.

Der OECD-Bildungsbericht zeigt, dass Deutschland
im internationalen Vergleich jedes Jahr an Boden ver-
liert. Angesichts der Einführung von Studiengebühren,
von unzureichendem BAföG und verstärkten Zulas-
sungsbeschränkungen überrascht uns dies nicht wirklich.
Dennoch werden weder vermehrt Bildungsanstrengun-
gen unternommen noch vorhandene Personalreserven
ausgeschöpft.

Während die Verbände der Wirtschaft von Fachkräf-
temangel reden, lebt nach Schätzungen des Leiters des
Oldenburger Interdisziplinären Zentrums für Bildung

(D)







(A) (C)



(B) (D)


Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
und Kommunikation in Migrationsprozessen, Professor
Dr. Rolf Meinhardt, etwa eine halbe Million zugewan-
derte Akademikerinnen und Akademiker in Deutsch-
land, deren Abschlüsse hierzulande nicht anerkannt
werden. Sie müssen in der Regel unqualifizierten Tätig-
keiten nachgehen. So arbeiten häufig in Berlin russische
Ärztinnen als Putzfrauen oder Ingenieure als Taxifahrer.
Dazu haben wir Ihnen bereits im letzten Jahr einen An-
trag mit dem Titel „Für eine erleichterte Anerkennung
von im Ausland erworbenen Schul-, Bildungs- und Be-
rufsabschlüssen“ vorgelegt.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie sind weiterhin untätig und berauben diese halbe Mil-
lion Menschen ihrer Chance, qualifizierte Jobs auszu-
üben.

Fast könnte man glauben, dass die Bundesregierung
nun ihr Herz für Migrantinnen und Migranten oder
Flüchtlinge entdeckt hat. Dem ist aber nicht so; denn die
Bundesregierung hat nur ein Herz für die Nützlichen.


(Andrea Nahles [SPD]: Es geht nicht darum, ob wir ein Herz haben oder nicht!)


So soll zwar Hochqualifizierten aus anderen EU-Staaten
ab 2009 der Zugang zum Arbeitsmarkt durch die Sen-
kung der Mindestverdienstgrenze erleichtert werden. Für
die hier lebenden geduldeten Menschen bleibt es hinge-
gen bei den Arbeits-, Ausbildungs- und Studienhinder-
nissen.


(Zuruf von der SPD)


– Dann sagen Sie mir doch, warum Sie sie ausgeschlos-
sen haben. Die Flüchtlingspolitik, die Sie seit Jahren be-
treiben, ist nichts anderes als blanker Zynismus.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie beweisen erneut, dass bei Ihnen Humanität und
Menschenrechte immer unter ökonomischem Verwer-
tungsvorbehalt stehen. Das ist die Leitlinie der Politik
der Bundesregierung. Selektionsmechanismen nach
Nützlichkeitskriterien lehnt die Linke generell ab. Be-
sonders perfide finden wir sie, wenn sie sich auf das hu-
manitäre Aufenthaltsrecht beziehen.

Damit es keinen Mangel an Fachkräften gibt, schlägt
Ihnen die Linke Folgendes vor: Schaffen Sie die Arbeits-
und Ausbildungsverbote für Flüchtlinge endlich ab!
Schaffen Sie eine wirksame Bleiberechtsregelung, damit
erst gar keine Härtefälle entstehen und es einer Entfris-
tung der Härtefallregelung nicht bedarf! Setzen Sie zu-
sätzliche Mittel für Krippen, Kindergärten, Schulen,
Hochschulen sowie berufliche Bildung und Weiterbil-
dung ein, wenn nicht der soziale Status über den Bil-
dungsweg und später über die Erwerbsbiografie ent-
scheiden soll! Nehmen Sie sich ein Beispiel an Hessen
und schaffen Sie bundesweit alle Studiengebühren ab!


(Beifall bei der LINKEN)


Nehmen Sie endlich die Unternehmen der Privatwirt-
schaft und den öffentlichen Dienst in die Verantwortung
und führen Sie eine gesetzliche Ausbildungsplatzumlage
ein, damit Jugendliche nicht ohne Berufsausbildung da-
stehen!


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Erkennen Sie endlich die biografischen Lebensleistun-
gen der über 500 000 Menschen an, die einen im Aus-
land erworbenen akademischen Abschluss haben, der
bislang in Deutschland nicht anerkannt wurde!


(Beifall bei der LINKEN)


Schaffen Sie Mindeststandards für Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, ob sie nun aus Deutschland kommen
oder aus Europa! Es muss endlich dafür gesorgt werden,
dass unter gleichen Arbeitsbedingungen am gleichen Ort
und für die gleiche Arbeit auch der gleiche Lohn gezahlt
wird. Führen Sie somit endlich den gesetzlichen Min-
destlohn ein, damit Beschäftigte nicht mehr gegeneinan-
der ausgespielt werden können!


(Beifall bei der LINKEN)


Ratifizieren Sie endlich die Internationale Konvention
der Vereinten Nationen zum Schutz der Rechte aller
Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen!

Ich sage Ihnen: Wenn Sie das alles beherzigen, wer-
den Sie keinen Fachkräftemangel mehr in diesem Land
haben.

Übrigens fordern wir die letzten Punkte auch im Zu-
sammenhang mit der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Eine Lohnspirale nach unten, die sich vermutlich die
FDP mit ihrem Antrag für die deutschen Unternehmen
erhofft,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was Sie alles wissen!)


wollen wir mit der Unterstützung des Deutschen Ge-
werkschaftsbundes im Interesse der ausländischen wie
der inländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
verhindern.

Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas sagen.
Schon Karl Marx wusste: „Die Arbeiter haben kein Va-
terland.“ – Die Linke ist nicht gegen die Zuwanderung
von Menschen nach Deutschland. Die Linke ist für Frei-
zügigkeit mit globalen sozialen Rechten. Wir sind aber
gegen eine neue Gastarbeiterpolitik und die Ausbeutung
von Menschen, die in Deutschland leben oder aus
Europa zu uns kommen. Die Linke ist für die Solidarität
unter den Beschäftigten unterschiedlicher Länder, die
von denselben Konzernen und vom gleichen Kapital
ausgebeutet und ausgeplündert werden.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1617906400

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617906500

Ja, ich komme zum Schluss. – Die Linke ist für Ar-

beit, die ein Auskommen garantiert, und für gleiche
Rechte für alle; sie ist gegen Lohndumping, das Sie zu
verschärfen versuchen.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1617906600

Nun hat das Wort die Kollegin Brigitte Pothmer für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617906700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau

Dağdelen, ich habe Ihren Beitrag gerade so verstanden,
dass Sie in Bezug auf die Zuwanderung von Fachkräften
äußerst zurückhaltend sind. Sie hätten heute den Tages-
spiegel lesen sollen. In dieser Zeitung hat der Wirt-
schaftssenator Harald Wolf anlässlich dieser Debatte die
vollständige Freizügigkeit für Arbeitnehmer, und zwar
sofort, gefordert.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist interessant! Da weiß die Linke nicht, was die Linke tut!)


Vielleicht unterhalten Sie sich einmal innerhalb der Lin-
ken über die Frage, wie Sie sich positionieren wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Bingo! – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Wir sind für Mindestlöhne!)


– Er hat von Mindestlöhnen nichts gesagt, Frau
Dağdelen. Ich habe den Tagesspiegel hier. Lesen Sie das
nach und besprechen Sie das miteinander!


(Widerspruch bei der LINKEN)


Ja, das stimmt: Das Proletariat hat keine Heimat, aber
wir sollten ihm wenigstens im Gastland angenehme Be-
dingungen bieten. Das wäre vernünftige Politik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])


Ich habe Ihnen anlässlich der heutigen Debatte drei
Zeitungsüberschriften mitgebracht, die ich kurz zitieren
möchte.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie müssen viel Zeit zum Zeitungslesen haben, Frau Pothmer!)


– Zeitungslesen bildet, manchmal sollten auch Sie das
tun.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir haben einen Pressespiegel! Wir haben das konzentriert!)


Am 11. September 2008 titelte die Welt: „Ausländer
machen einen Bogen um Deutschland“. Der Anlass war
die Vorlage des aktuellen OECD-Migrationsberichts.
Am 13. September 2008 legte die taz mit der Formulie-
rung nach: „Bund lässt Akademiker links liegen“.


(Dirk Niebel [FDP]: Schon wieder links!)


Anlass dafür war die Untersuchung zur mangelhaften
Anerkennung von im Ausland erworbenen Bildungsab-
schlüssen. Aber schon am 1. September sagte Herr
Scholz – das meldete die FAZ –, das Problem des Fach-
kräftemangels sei gelöst.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP)


Nichts kann doch deutlicher dokumentieren, dass es in
dieser Regierung eine ungeheure Kluft zwischen dem
Problem an sich und dem Bewusstsein über dieses Pro-
blem gibt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist der Fachkräftemangel, von dem wir immer reden!)


Ich finde, Sie ignorieren die Fakten. Mit der Politik, die
Sie machen, hängen Sie Deutschland im internationalen
Wettbewerb um die klügsten Köpfe und die besten
Hände ab. Das ist nicht verantwortlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)


Auch das, was Sie jetzt wieder vorgelegt haben, be-
wegt sich weiter im Klein-Klein. Ich will Ihnen sagen,
was Ihre bisherigen Bemühungen gebracht haben: Von
der Veränderung des Zuwanderungsgesetzes in 2005 ha-
ben gerade 1 100 Menschen profitiert.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das haben wir damals schon vorausgesagt!)


Die im letzten Jahr beschlossenen Erleichterungen haben
bis Ende 2007 gerade einmal 19 zusätzliche Ingenieure
aus Osteuropa nach Deutschland gelockt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist Symbolpolitik!)


Sie schauen auf eine gescheiterte Zuwanderungspolitik.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die kann man mit Handschlag begrüßen!)


Das müssen Sie endlich zur Kenntnis nehmen. Hören Sie
auf, so weiterzumachen!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)


Mit diesem Gesetzentwurf wird aber genauso weiter-
gemacht.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Richtig!)


Auch jetzt heißt es wieder: ein bisschen für Hochqualifi-
zierte, ein bisschen für Geduldete und ein bisschen für
osteuropäische EU-Mitgliedstaaten. Stattdessen sollten
Sie endlich Arbeitnehmerfreizügigkeit herstellen, die
übrigens gerade von denjenigen Bundesländern gefor-
dert wird, von denen Sie immer behaupten, Sie müssten
sie davor schützen. Berlin fordert sie, Mecklenburg-Vor-
pommern fordert sie, Brandenburg fordert sie. Sie alle
wollen die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit, weil sie ge-
nau wissen, dass sie davon profitieren werden.


(Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])


Bei der Politik, die Sie hier betreiben, nehmen Sie
nicht zur Kenntnis, dass andere Länder qualifizierten
Zuwanderern längst den roten Teppich ausgerollt haben.
Sie glauben immer noch, der Dienstboteneingang sei für
diese Gruppe allemal gut genug. Aber das wird nicht
funktionieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])


Alle Fachleute nennen eine zentrale Voraussetzung
dafür, dass Zuwanderung funktionieren kann, und das ist






(A) (C)



(B) (D)


Brigitte Pothmer
Transparenz. Dieser Gesetzentwurf ist intransparent bis
zum Gehtnichtmehr.


(Beifall bei der FDP – Hartfrid Wolff [RemsMurr] [FDP]: Gewurschtel ist das!)


Wir brauchen durchschaubare Regelungen, nicht nur für
Hochqualifizierte, sondern auch für Fachkräfte sowie
– da haben Sie recht – für Geringqualifizierte. Deswegen
ist die Idee des Punktesystems richtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)


Wir haben das schon vor Jahren auf die Tagesordnung
gesetzt, aber Sie verweigern sich da.

Übrigens brauchen wir eine grundsätzlich andere Hal-
tung in dieser Frage. Zuwanderung ist kein Gnadenakt.
Wir brauchen diese Menschen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)


Die Wirtschaft braucht diese Menschen. Die Gesell-
schaft wird durch diese Menschen bereichert.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Und den Rest lassen Sie ersaufen! – Gegenruf des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das muss man vom Asyl trennen!)


Zuwanderung muss natürlich gestaltet werden. Ein
paar Leitlinien für die Gestaltung will ich Ihnen nen-
nen:

Erstens. „Öffnung statt Abschottung“ muss eine der
Parolen sein. Deswegen führt kein Weg daran vorbei:
Wir müssen, wie andere Länder auch, die volle Arbeit-
nehmerfreizügigkeit herstellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)


Aber natürlich haben Sie recht: Wir müssen mit der Ein-
führung von Mindestlöhnen in allen Branchen die Vo-
raussetzung dafür schaffen. Dafür haben wir immer ge-
worben. Ich verstehe einfach nicht, warum die SPD-
Fraktion die Situation nicht nutzt, um den Mindestlohn
durchzusetzen. Das wäre doch ein Argument. Sie könnte
der CDU/CSU an dieser Stelle sagen: Wenn ihr Arbeit-
nehmerfreizügigkeit wollt, dann brauchen wir den Min-
destlohn. – Aber stattdessen wird in dieser Frage weiter
blockiert.

Selbst die Bundesagentur für Arbeit, die lange vor-
sichtig argumentiert hat, sagt seit August dieses Jahres:
Wir brauchen die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Die Sorge,
dass der Arbeitsmarkt überschwemmt wird, ist unbe-
rechtigt. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit bringt mehr
Vorteile als Probleme.

Zweitens. Keine Migration ohne Integration. Die
Gastarbeiterpolitik der vergangenen Jahre ist gescheitert.
Deswegen müssen wir Migration mit Integrationsmaß-
nahmen verbinden. Natürlich müssen alle Flüchtlinge
und Geduldeten Zugang zu Ausbildung und Arbeit ha-
ben.
Drittens. Ressourcen nutzen und nicht verplempern.
Da haben Sie recht: Es ist doch absurd, dass ausgebildete
Ärztinnen als Putzfrauen und Ingenieure als Hilfskräfte
arbeiten. Das ist eine ungeheure Verschwendung des
Potenzials von Menschen, die in diesem Land leben. Wir
müssen die Abschlüsse, die in anderen Ländern erwor-
ben worden sind, endlich in stärkerem Maße anerken-
nen.

Viertens. Deutschland ist keine Insel. Deswegen brau-
chen wir eine europäische Zuwanderungspolitik.
Deutschland muss begreifen: Wir sind in einem gemein-
samen Wirtschaftsraum, und deswegen müssen sich die
Arbeitskräfte in diesem Wirtschaftsraum auch frei bewe-
gen können.

Last, but not least: Migranten und deutsche Arbeits-
kräfte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das sagt die Linke auch!)


Wir brauchen den Dreiklang. Wir brauchen die Fach-
kräfte, die aus anderen Ländern kommen, aber nötig sind
natürlich auch eine bessere Qualifikation und Integration
derjenigen Gruppen, die bisher vernachlässigt worden
sind, etwa der Frauen und Älteren. Wir können nicht
nach Zuwanderung rufen und dann für diese Menschen
nichts tun. Wir brauchen sie alle.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Genau das wollen wir!)


Die Politik muss aufhören, ängstlich und konfus zu
agieren. Mutig und klar muss sie sein; dann wird sie
auch gelingen. Wir sind gern bereit, Ihnen dabei zur
Seite zu stehen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1617906800

Nächster Redner ist der Kollege Stephan Mayer für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1617906900

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Es ist mit Sicher-
heit unbestreitbar, dass wir in der deutschen Wirtschaft
einen gestiegenen Fachkräftebedarf und in manchen
Wirtschaftsbranchen mittlerweile auch einen Fachkräfte-
mangel haben. Unbestreitbar ist aber ebenso, dass es in
Deutschland nach wie vor über 3,2 Millionen offizielle
Arbeitslose gibt. Die Große Koalition hat zwar viel dafür
getan, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren und die Rah-
menbedingungen so zu stricken, dass neue Arbeitsplätze
geschaffen werden konnten. Ich erinnere daran, dass wir
mit über 5 Millionen Arbeitslosen in die Große Koali-
tion gestartet sind und jetzt bei 3,2 Millionen liegen.
Aber es gibt nach wie vor arbeitslose Fachkräfte. Ich
zitiere nur einmal aus der Arbeitslosenstatistik vom
August dieses Jahres: ungefähr 20 000 arbeitslose In-
genieure, über 20 000 arbeitslose Techniker, 3 600 ar-






(A) (C)



(B) (D)


Stephan Mayer (Altötting)

beitslose Chemiker und Physiker und über 13 000 ar-
beitslose technische Sonderfachkräfte, insgesamt knapp
60 000.

Kernaufgabe der deutschen Politik muss es daher
sein, dass wir uns um die arbeitsuchenden Menschen in
Deutschland kümmern.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Menschen in Deutschland, vor allem die Arbeitslo-
sen, müssen ordentlich qualifiziert werden, damit sie auf
dem ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden können. Für
uns als CSU und CDU ist eines klar: Bildung, Ausbil-
dung und Qualifikation gehen vor Zuwanderung. Ich be-
grüße daher nachdrücklich die nationale Qualifizie-
rungsinitiative der Bundesbildungsministerin Annette
Schavan. Es muss alles darangesetzt werden, dass wir
unsere jungen Menschen dahin bringen, dass sie ordent-
liche Ausbildungsberufe ergreifen und ihre Ausbildung
erfolgreich abschließen, sodass sie dann auch einen er-
folgreichen Weg im Arbeitsleben beschreiten können.
Ferner müssen wir unser Bildungssystem insgesamt
durchlässiger gestalten. Vorbildlich ist in diesem Zusam-
menhang Bayern. An den bayerischen Hoch- und Fach-
hochschulen haben 40 Prozent aller Studierenden ihren
Zugang nicht über das Abitur genommen. Das verstehe
ich unter einem durchlässigen Bildungssystem.

Die Bedeutung des Ausländer- und Zuwanderungs-
rechts wird meines Erachtens bei der Frage, ob wir in
Deutschland genügend Fachkräfte und Hochqualifizierte
aus dem Ausland akquirieren können, überschätzt. Ich
glaube, dass andere Faktoren eine größere Rolle spielen,
beispielsweise die Möglichkeit, in Deutschland ordent-
lich zu verdienen. Diese Spitzenkräfte, die wir nach
Deutschland holen wollen – der weltweite Kampf um die
fähigen und intelligenten Köpfe ist schon angesprochen
worden –, können wir nur gewinnen, wenn die Wirt-
schaft sie auch ordentlich bezahlt. Auch müssen wir die-
sen Spitzenkräften aus dem Ausland entsprechende For-
schungs- und Entwicklungsmöglichkeiten in Deutschland
bieten. Diese Faktoren sind meines Erachtens bei wei-
tem ausschlaggebender als das Zuwanderungs- und Aus-
länderrecht.

Es ist Aufgabe der Politik, die Rahmenbedingungen
für die deutsche Wirtschaft so zu gestalten, dass sie ge-
genüber der ausländischen Konkurrenz wettbewerbsfä-
hig ist. Ich sage aber auch ganz deutlich, dass die Unter-
nehmen nicht nur nach dem Staat rufen dürfen, sondern
auch selbst in der Verpflichtung sind, attraktive Rahmen-
bedingungen zu bieten.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Der Staat darf es nur nicht verhindern!)


Sie müssen ordentliche Gehälter zahlen, aber auch da-
rauf achten, dass sie schon frühzeitig deutsche Nach-
wuchskräfte ausbilden und damit die künftigen Füh-
rungskräfte in ihren Unternehmen heranziehen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Ar-
beitsmigrationssteuerungsgesetz, das wir heute in erster
Lesung beraten, ist meines Erachtens ein zielführender
erster Beitrag zur Sicherung der Fachkräftebasis in
Deutschland. Ich gehe auf einige Punkte detaillierter ein.
Schon erwähnt wurde die geplante Absenkung der Min-
destverdienstgrenzen, denen in der Debatte aber eine zu
hohe Bedeutung beigemessen wird, weil es schon heute
möglich ist, unterhalb dieser Mindestverdienstgrenze
von derzeit 86 600 Euro Nicht-EU-Ausländer nach
Deutschland zu holen, wenn die Vorrangprüfung ergibt,
dass es auf dem deutschen Arbeitsmarkt keinen ver-
gleichbaren deutschen Arbeitslosen gibt und auch kein
EU-Ausländer dem deutschen Arbeitsmarkt zur Verfü-
gung steht.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist das für ein bürokratischer Aufwand!)


Dennoch ist es richtig, diese Absenkung vorzunehmen.
Ich schließe nur die Frage an, was passiert, wenn diese
Absenkung der Mindestverdienstgrenze auch wieder
nicht den Erfolg zeitigen sollte, den wir uns alle davon
erhoffen.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Machen Sie sich mal Gedanken!)


Bei dieser Gelegenheit weise ich auch noch darauf
hin, dass es schon heute – dies ist in der Wirtschaft leider
zu wenig bekannt – die von uns gewünschten flexiblen,
intelligenten Methoden gibt, um auch zielgerichtete Zu-
wanderung nach Deutschland zu ermöglichen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das scheint ja eine Geheimgesetzgebung zu sein, wenn das keiner kennt!)


Die Bundesagentur kann zum Beispiel gemäß § 39
Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 des Aufenthaltsgesetzes sektoral,
also bei bestimmten Branchen und Wirtschaftszweigen,
auf die sogenannte Vorrangprüfung verzichten.

Ich möchte ganz deutlich daran erinnern, dass die
Bundesregierung in Meseberg beschlossen hatte, ab dem
1. November letzten Jahres für Fahrzeugbauingenieure,
Elektroingenieure und Maschinenbauingenieure auf die
Vorrangprüfung zu verzichten. Dies sind, meine lieben
Kollegen von der FDP, meines Erachtens diese intelli-
genten, flexiblen, passgenauen Methoden und Mittel, die
wir brauchen, um eine gezielte, plangerichtete Zuwande-
rung nach Deutschland zu erreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Hört sich eher nach Bürokratie als nach Intelligenz an!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein weiterer
kritischer Punkt in diesem Gesetzentwurf ist mit Sicher-
heit die Frage, wie wir mit den geduldeten Personen in
Deutschland umgehen. Um eines von vornherein klarzu-
machen: Mir ist es lieber, dass ein geduldeter Ausländer,
der aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht ab-
geschoben werden kann, der rechtstreu ist, bisher nicht
straffällig geworden ist und über ausreichend Wohnraum
und ausreichende Deutschkenntnisse verfügt,


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Hallo? Ausreichend Wohnraum? Ein Hohn ist das! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn er eine kleine Wohnung hat, dann nicht?)







(A) (C)



(B) (D)


Stephan Mayer (Altötting)

arbeitet, damit selber zu seinem Lebensunterhalt beiträgt
und in Deutschland Steuern und Sozialversicherungsbei-
träge zahlt,


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie viele Quadratmeter bräuchte er denn?)


als dass er dem Staat auf der Tasche liegt und letztlich
nur Empfänger von sozialen Transferleistungen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir werden bei der Behandlung des Gesetzentwurfes
peinlichst darauf achten, dass eines nicht ausgelöst wird,
nämlich eine falsche Signalwirkung im Hinblick auf eine
ungesteuerte und nicht gewollte Zuwanderung nach
Deutschland. Dieser Pull-Effekt, den diese Regelung
auslösen könnte, muss auf jeden Fall vermieden werden.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Noch repressiver!)


Deswegen werden wir bei der weiteren Beschäftigung
mit diesem Gesetzentwurf darauf achten, dass hier kein
falscher Anreiz, meine liebe Kollegin Dağdelen, zum
Missbrauch gesetzt wird. Genau dies wollen wir aus-
drücklich verhindern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Ihr wollt die Leute noch mehr ersaufen lassen!)


Ich möchte deswegen zum Beispiel hinterfragen, ob
eine Beschäftigung von zwei Jahren in Deutschland wirk-
lich ausreichend dafür ist, dass eine Person, die – wohl-
gemerkt – an sich zur Ausreise verpflichtet ist, in
Deutschland in den Genuss einer allgemeinen Arbeitser-
laubnis kommen kann. Ich denke, über den Zeitraum,
der erforderlich ist, um eine Arbeitserlaubnis zu bekom-
men, müssen wir bei der Beschäftigung mit diesem Ge-
setzentwurf noch einmal ganz vorurteilsfrei und offen
diskutieren.

Ich möchte auch anmahnen, dass wir uns bei der Be-
handlung des Gesetzentwurfes die Zeit und die Muße
nehmen, darüber zu diskutieren, ob es richtig ist, schon
jemanden als Fachkraft zu definieren, der nur eine drei-
jährige Berufsausbildung absolviert hat.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Schranke jagt die nächste!)


Auch dies müssen wir mit Sicherheit bei der Behandlung
des Gesetzentwurfes noch einmal besprechen.

An dieser Stelle möchte ich noch darauf hinweisen,
dass es einen Antrag des Freistaates Bayern und des
Landes Niedersachsen im Bundesrat gibt, der meines Er-
achtens sehr begrüßenswert und sehr bemerkenswert ist
und der mit Sicherheit auch in die Beratung hier im Bun-
destag miteinbezogen werden sollte.

Der Antrag der FDP auf Entfristung des § 23 a des
Aufenthaltsgesetzes hat sich erledigt, weil er schon in
den Gesetzentwurf aufgenommen wurde. Ich würde Ih-
nen, meine lieben Kollegen von der FDP, deswegen an-
heimstellen, diesen Antrag zurückzuziehen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, vonseiten
der Union werden wir die Behandlung dieses Gesetzent-
wurfes sehr aufmerksam, sehr intensiv und sehr wohl-
wollend verfolgen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Gerd Andres [SPD]: Donnerwetter! Da sind wir sehr gespannt!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1617907000

Nun hat das Wort für die SPD-Fraktion der Kollege

Rüdiger Veit.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1617907100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Unsere Republik wird immer leerer. In manchen Jahren
sind mehr Personen aus Deutschland weggezogen als
neu hinzugewandert. Bei der Geburtenrate liegen wir auf
dem letzten bzw. vorletzten Platz in Europa. Wir sind da-
her – darin scheinen jetzt alle übereinzustimmen – zur
Aufrechterhaltung unseres Wirtschaftssystems und unse-
rer Sozialversicherungssysteme dringend gefordert, Zu-
wanderung zu organisieren bzw. dafür zu sorgen, dass
qualifizierte ausländische Mitbürger hier bleiben können
und nicht abgeschoben werden. Darin, lieber Kollege
Mayer, sind wir uns einig. Ich erlaube mir aber, gleich
noch auf einen Widerspruch in Ihrer Argumentation ein-
zugehen.

Wir als SPD-Fraktion haben übrigens diese Notwen-
digkeiten schon vor mehr als sieben Jahren erkannt und
damals mit Bündnis 90/Die Grünen ein Zuwanderungs-
gesetz geschaffen und hier zur Beratung vorgelegt,


(Fritz Rudolf Körper [SPD]: Das ist korrekt!)


in dem ein Punktesystem vorgesehen war, das es erlaubt
hätte, flexibel auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes
und der Wirtschaft auf der einen Seite und die menschli-
chen Fähigkeiten auf der anderen Seite einzugehen.
Auch die Zahl der Zuwanderer hätte man nach den ent-
sprechenden Erfordernissen steuern können. Es war lei-
der die CDU/CSU sowohl hier im Bundestag als auch in
den Ländern, die dies nicht so gesehen hat und diese
Punkteregelung gestrichen hat. Wir bedauern das sehr.

Heute besteht allgemeine Übereinstimmung darin,
dass wir handeln müssen. Wir sollten uns nicht über die
Zuspätgekommenen, was die Einsichtsgewinnung an-
geht, beklagen. Ich bin froh darüber, dass wir jetzt so
weit sind, dass wir darüber politisch im Wesentlichen
unstreitig diskutieren können.

Nun ist dieser Entwurf eines Gesetzes zur Steuerung
der Arbeitsmigration ein – erlauben Sie mir bitte, ihn so
zu qualifizieren – kleiner, aber wichtiger Etappensieg
der Vernunft


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Ein sehr kleiner!)


und findet – von entsprechenden Details abgesehen, die
ich noch ansprechen werde – unsere ausdrückliche Zu-
stimmung. Richtigerweise wird die Mindesteinkom-






(A) (C)



(B) (D)


Rüdiger Veit
mensgrenze für Hochqualifizierte gesenkt. Kollege
Mayer, Sie haben recht, wir wissen nicht genau, ob die
64 000 Euro die richtige Größenordnung sind. Wir ha-
ben schon in der Anhörung zum Zuwanderungsgesetz
– ich glaube, sie fand im Mai 2007 statt – von den Prak-
tikern gehört, dass die damals und auch heute noch gel-
tende Grenze von 86 000 Euro viel zu hoch ist und in der
Praxis ins Leere läuft.

Wichtig ist der Schwerpunkt der neuen gesetzlichen
Regelung. In der Begründung heißt es richtigerweise:

Deutschland will vor allem die Potenziale derjeni-
gen jungen Ausländer und Ausländerinnen nutzen,
die durch Integration im Inland mit der deutschen
Kultur vertraut sind und hier ihre Ausbildung absol-
vieren …

Weiter heißt es dann – dem stimme ich voll zu –, dass
die bisherige gesetzliche Altfallregelung und auch die
von den Innenministern beschlossene Bleiberechtsrege-
lung manchmal viel zu hohe Hürden aufstellen. Insofern
habe ich mich gefreut, von der Gesetzesbegründung in
meiner Einschätzung bestätigt zu werden.

Die jetzige Neuregelung soll dem ein Stück weit ent-
gegenwirken. Wir wollen vor allen Dingen denjenigen
einen gefestigten Verbleib ermöglichen – das ist die
erste Gruppe –, die in Deutschland eine Berufsausbil-
dung oder ein Studium erfolgreich absolviert haben. Die
zweite Gruppe umfasst die hier anerkannten Hochschul-
absolventen, die zwei Jahre lang durchgängig in ihrem
Beruf gearbeitet haben.

In diesem Zusammenhang – lassen Sie mich das sa-
gen – gibt es Übereinstimmung mit den Rednern der Op-
position: Wir müssen aufpassen, dass wir bei der Ver-
wendung der Terminologie „anerkannter ausländischer
Hochschulabschluss“ die Kriterien nicht wieder so eng
fassen, dass dadurch im Ergebnis viel zu viele Menschen
nicht berücksichtigt werden.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Vielmehr sollten wir uns folgender Terminologie annä-
hern: Wenn der ausländische Hochschulabschluss dem
deutschen in etwa entspricht, dann ist die Voraussetzung
erfüllt.

Die dritte Gruppe, welcher ein sicherer Verbleib er-
möglicht werden soll, umfasst diejenigen Fachkräfte, die
zwei Jahre lang durchgängig in einer Beschäftigung tätig
waren, die eine qualifizierte Berufsausbildung voraus-
setzt. Mit Blick auf diesen Vorschlag ist gefragt worden,
ob wir dadurch vielleicht einen Pull-Effekt auslösen.
Das, lieber Kollege Mayer, vermag ich beim besten Wil-
len nicht zu erkennen. Denn wir reden von denjenigen,
die bereits langjährig hier leben, geduldet sind und im
Arbeitsmarkt integriert sind. Insofern kann man bei Aus-
ländern, die noch gar nicht in Deutschland sind, einen
solchen Sog oder Pull-Effekt nicht bewirken.

Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, dass ich
mehrfach an dieser Stelle – aber nicht nur hier – folgen-
den Widersinn beklagt habe: Auf der einen Seite jam-
mern wir über zu geringe Geburtenraten und darüber,
dass unsere Sozialversicherungssysteme nicht mehr
funktionieren. Auf der anderen Seite schieben wir viele,
die nur geduldet sind und keinen gesicherten Aufenthalt
haben, notfalls sogar zwangsweise ab. Aus diesem
Grunde haben die Große Koalition einerseits und die In-
nenminister der Länder andererseits erfreulicherweise
eine Altfall- und Bleiberechtsregelung geschaffen, die
50 000 Menschen eine Perspektive ermöglicht. Das
reicht aber nicht aus. Es ist ziemlich kurios, dass man
auf der einen Seite denjenigen, die für unsere Wirtschaft
in besonderer Weise nützlich sein könnten, die Tür weist
und auf der anderen Seite sagt, dass man neue Zuwande-
rung qualifizierter Arbeitskräfte braucht.

Jetzt können wir dieser Bevölkerungsgruppe, diesen
ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, mögli-
cherweise Rechtssicherheit bzw. einen gefestigten Auf-
enthalt gewähren. Aber die Anzahl ist schwer zu bezif-
fern. Ich jedenfalls sehe mich außerstande, zu sagen, wie
viele betroffen sind.

Es gibt in den Beiträgen der Opposition den Hinweis,
wir sollten am besten sofort volle Arbeitnehmerfreizü-
gigkeit in der EU gewähren. Ich persönlich sage aus
meiner eher ausländerrechtlichen Betrachtungsweise
heraus: Vielleicht wäre es sinnvoller, bei denjenigen ein
wenig großzügiger zu sein, die zwar keine EU-Angehö-
rigen sind, aber als ausländische Mitbürger hier inte-
griert und ausgebildet worden sind.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das widerspricht sich auch nicht!)


– Ich höre von Herrn Wolff, da sei kein Widerspruch.

Wir werden aber an der einen oder anderen Stelle ein
paar kritische Bemerkungen anbringen und das Gesetz-
gebungsverfahren dazu benutzen müssen, in den Aus-
schüssen Vorschriften herauszunehmen, die nicht in das
Gesetz hineingehören. Ich nenne nur ein Beispiel für
Überregulierung: Im Gesetzentwurf ist der Ermessens-
ausweisungstatbestand der Täuschung des Arbeitgebers
neu aufgenommen worden. Das ist erstens deswegen
völlig überflüssig, weil es systemfremd ist; denn norma-
lerweise interessiert es die Ausländerbehörden und den
deutschen Staat überhaupt nicht, was im privaten Ver-
hältnis geschieht, es sei denn, es ist strafbar.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und warum steht das da drin?)


Zweitens ist es deswegen überflüssig, weil jeder auslän-
dische Mitbürger, der seinen Arbeitgeber bei der Einge-
hung eines Arbeitsverhältnisses über die Voraussetzun-
gen täuscht, damit zugleich auch die Ausländerbehörde
täuscht, die darüber entscheidet, dass er aufgrund dieses
Arbeitsverhältnisses eine Aufenthaltserlaubnis oder Nie-
derlassungserlaubnis erhält. Deswegen ist das ein typi-
scher Fall von Überregulierung und kann aus dem
Gesetzentwurf gestrichen werden. Diese Ermessensaus-
weisungsmöglichkeit ist bereits nach anderen Vorschrif-
ten gegeben.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)







(A) (C)



(B) (D)


Rüdiger Veit
Ich möchte an dieser Stelle im Rahmen der zur Verfü-
gung stehenden Redezeit noch zwei andere Bemerkun-
gen aus ausländerrechtlicher Sicht machen. Ich finde es
erfreulich, dass die sogenannte Härtefallregelung des
§ 23 a des Aufenthaltsgesetzes entfristet werden soll.
Mittlerweile haben alle Bundesländer Härtefallkommis-
sionen geschaffen. Hinsichtlich der Zusammensetzung
der Kommissionen, ihrer Verfahren, ihrer Effektivität
und in Bezug darauf, ob die Länderinnenminister auf die
Empfehlungen achten, gibt es erhebliche Unterschiede
zwischen den Bundesländern. Trotzdem ist das vom
Prinzip her gut. Wir haben die Härtefallregelung seiner-
zeit nicht nur deswegen befristet, weil man sehen wollte,
wie es mit der Einklagbarkeit ist, sondern auch deshalb,
weil wir der Auffassung waren, dass unser neues Aus-
länder- und Zuwanderungsrecht nun so gut sei, dass in
Zukunft womöglich gar keine Härtefälle mehr entstehen
könnten. Das ist aber leider ein Trugschluss, insbeson-
dere aufgrund der auf Drängen der Union wieder einge-
führten Duldung; hier gibt es das Problem der Kettendul-
dung, und da sind wir wieder bei dem Thema Altfall-
und Bleiberechtsregelung, die lange nicht beseitigt sind.
Selbst wenn wir mit diesem Arbeitsmigrationssteue-
rungsgesetz einen Beitrag dazu leisten, dass die hier gut
Integrierten bleiben können, sind damit immer noch
nicht alle Fälle gelöst, die in humanitärer Hinsicht hätten
gelöst werden müssen.

Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Man hätte dieses
Gesetzgebungsverfahren aus der Sicht der meisten in der
SPD-Fraktion, auch aus meiner persönlichen Sicht,
durchaus zum Anlass nehmen können, noch einen ande-
ren Punkt aktuell mit zu regeln. Ich meine die Vorausset-
zungen für den Ehegattennachzug. Wir haben im letz-
ten Änderungsverfahren zum Aufenthaltsgesetz auf
Drängen der Union Vorschriften mit aufgenommen, die
als Voraussetzung für den Nachzug beispielsweise den
vorherigen Erwerb von Sprachkenntnissen im Ausland
verlangen.


(Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Das hat sich sehr bewährt!)


Nun hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom
25. Juli dieses Jahres, also vor nicht allzu langer Zeit,
entschieden, dass immer dann, wenn ein Staatsbürger
aus der EU seinen Ehegatten aus dem Ausland nachzie-
hen lassen will, nicht das nationale Recht bestimmen
darf, dass das an bestimmte Voraussetzungen gebunden
ist, also auch nicht, wie in unserem Fall, an den vorheri-
gen Erwerb von Deutschkenntnissen. Nun muss man
nicht über besonders viel logisches Denkvermögen ver-
fügen, um festzustellen: Wenn ein EU-Staatsangehöriger
in Deutschland ohne jede Voraussetzung seinen auslän-
dischen Ehegatten nachziehen lassen darf, dann kann
man schlecht von einem deutschen Staatsbürger, der hier
lebt und hier geboren ist, erwarten, dass er erst einmal
dafür sorgt, dass die Ehefrau oder der Ehemann im Aus-
land Deutschkenntnisse erwirbt. Das ist ein Wertungswi-
derspruch und eine Inländerdiskriminierung, die nach
meinem Dafürhalten nicht aufrechterhalten werden
kann. Deswegen rege ich durchaus an, dass man das in
einem solchen Gesetz aktuell regelt.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Dafür haben Sie letztes Jahr gestimmt!)


– Das war damals ein schmerzhafter Kompromiss, liebe
Kollegin Dağdelen. Wenn der Europäische Gerichtshof
uns jetzt ein schlagendes Argument liefert, sodass wir
mit unserem Koalitionspartner über diesen Wertungswi-
derspruch noch einmal reden können, dann werden wir
das gerne tun und das, wenn wir uns durchsetzen, im Ge-
setz entsprechend ändern.

Insgesamt also ein begrüßenswerter Gesetzentwurf,
ein wichtiger kleiner Etappensieg; die Richtung jeden-
falls stimmt. Deswegen wird die SPD-Fraktion den Be-
ratungsprozess sehr konstruktiv begleiten.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1617907200

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege

Michael Hennrich für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michael Hennrich (CDU):
Rede ID: ID1617907300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Wir behandeln heute das Thema
Steuerung der Arbeitsmigration nach Deutschland. Die
Probleme sind vielfältig und facettenreich. Die Bundes-
regierung hat hierzu einen umfassenden Maßnahmenka-
talog vorgelegt, um die Fachkräftebasis in Deutschland
zu sichern.

Ich möchte einen Punkt gesondert behandeln, zu dem
uns ein Antrag von den Grünen und ein Antrag von der
FDP vorliegen. Es geht um die Beschränkung der Ar-
beitnehmerfreizügigkeit für Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer aus den neuen Beitrittsstaaten in Ost- und
Mitteleuropa.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht nicht um die Beschränkung, sondern um die Aufhebung der Beschränkung!)


Wie Sie an dem Maßnahmenkatalog sehen, wollen
wir die Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit um
zwei Jahre verlängern. Die Grünen und die FDP lehnen
dies ab. Sie verweisen auf Großbritannien, Irland und
Schweden, die von Anfang an keine Beschränkung hat-
ten, sowie auf zahlreiche andere Mitgliedstaaten, die
mittlerweile angeblich von dieser Beschränkung abge-
rückt seien. Frau Pothmer, Sie verweisen auch auf die
vielfältigen positiven Erfahrungen, die man insbeson-
dere in Großbritannien gemacht habe, und auf den kul-
turellen Austausch.

In der Tat waren am Anfang die Erfahrungen positiv.
Aber wenn Sie in den letzten Wochen und Monaten die
Medien verfolgt haben, dann wissen Sie, dass es zu einer
Veränderung der Sichtweise in Großbritannien gekom-
men ist. Wenn Sie die Schlagzeilen britischer Tageszei-






(A) (C)



(B) (D)


Michael Hennrich
tungen lesen – Frau Pothmer, Sie sind ja belesen –, dann
erfahren Sie etwas über die Ausbeutung der Arbeitneh-
mer und über die schlechte soziale Versorgung der Mi-
granten. Das alles geschieht trotz staatlichen Mindest-
lohnes. Selbst offizielle Stellen in Großbritannien
räumen mittlerweile ein, dass sie mit der Migration über-
fordert sind.

Ich frage Sie, warum fast alle EU-Staaten die Arbeit-
nehmerfreizügigkeit für Rumänien und Bulgarien be-
schränken. Schweden ist das einzige Land, das für Men-
schen aus Rumänien und Bulgarien die volle
Arbeitnehmerfreizügigkeit garantiert. Alle anderen EU-
Mitgliedstaaten machen von den Ausnahmeregelungen
für die neuen Beitrittsstaaten Rumänien und Bulgarien
Gebrauch.

Die Grünen sprechen in ihrem Antrag vom Wettbe-
werb um die besten Köpfe aus Ost- und Mitteleuropa.
In der Tat brauchen wir solche klugen Köpfe. Die Bun-
desregierung hat darauf eine Antwort gegeben. Es lohnt
sich, einmal die Statistiken aus Großbritannien anzu-
schauen. Wer ist zugewandert, und in welchen Tätig-
keitsbereichen werden diese Migranten in Großbritan-
nien eingesetzt? Fabrik- und Lagerarbeiter, Verpacker
und Beschäftigte im Transportwesen: 82 Prozent, Ser-
vicekräfte für Hotel- und Gaststättengewerbe: 11 Pro-
zent, Landwirtschaft: 4 Prozent. Das sind meines Erach-
tens keine Jobs, für die wir Hochqualifizierte brauchen.
Der Kollege Mayer hat das schon ausgeführt. Wir kön-
nen diese Stellen bei uns genauso gut mit heimischen
Arbeitskräften besetzen.

Lassen Sie mich noch auf das Thema Saisonarbeits-
kräfte eingehen, das Sie in Ihrem Antrag ebenfalls er-
wähnen. Wir haben alle noch die Situation von vor zwei
Jahren vor Augen, als die Ernte nicht eingefahren wer-
den konnte. Aber dies war kein Problem der fehlenden
Arbeitnehmerfreizügigkeit. Diese Saisonarbeitskräfte
fehlten nämlich auch in Großbritannien. Wir haben vor
zwei Jahren einfach erlebt, wie Markt funktioniert.

Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat eine Reise
nach Rumänien unternommen. Die Grünen und leider
auch die FDP waren nicht dabei.


(Dirk Niebel [FDP]: Wir müssen manchmal arbeiten!)


Wenn Sie dabei gewesen wären, dann hätten Sie fol-
gende Erfahrung gemacht: Rumänen, Polen und Bulga-
ren gehen nicht nach Deutschland oder Großbritannien
aus zwei ganz einfachen Gründen: Das Wetter in Spa-
nien und Italien ist besser, und bezahlt wird dort genauso
gut wie in Deutschland. Deswegen kamen die Saisonar-
beitskräfte nicht nach Deutschland. Unsere Landwirte
haben aber darauf reagiert. In diesem Jahr waren die
Probleme daher bei weitem nicht so groß wie vor zwei
Jahren.

Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Aspekt an-
sprechen, auf den Sie überhaupt nicht eingegangen sind,
Frau Pothmer. In Anträgen der Grünen zur Entwick-
lungspolitik steht immer, dass wir für Afrika keine Fach-
kräfte abwerben sollen, die im Bereich des Gesundheits-
wesens tätig sind, und Ähnliches. Wir haben in Litauen
vor einem Jahr erlebt, dass auch dort eine umfassende
Gesundheitsversorgung der Bevölkerung nicht mehr
möglich war.

Wenn Sie die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit einfüh-
ren, hat dies zur Folge, dass Sie diese Länder ihrer Zu-
kunftschancen berauben.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: 2011 kommt sie sowieso!)


Was wir brauchen, ist eine kluge Migrationspolitik, Frau
Pothmer. Darauf hat die Bundesregierung eine Antwort
gegeben. Ihre Anträge lehnen wir ab.

Ich bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1617907400

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 16/10288, 16/10237, 16/9091 und 16/10310
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich
sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 38 a bis 38 ii
sowie Zusatzpunkte 5 a und 5 b auf:

38 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des § 33
des Gerichtsverfassungsgesetzes

– Drucksache 16/514 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
§ 573 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs

– Drucksache 16/1029 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Ver-
waltungsgerichtsordnung

– Drucksache 16/1345 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgeset-
zes – § 21 StGB (… StrÄndG)


– Drucksache 16/4021 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Bundeszentralregistergesetzes

– Drucksache 16/4199 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Op-
ferschutzes im Strafprozess

– Drucksache 16/7617 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss

g) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Intensivierung des
Einsatzes von Videokonferenztechnik in ge-
richtlichen und staatsanwaltschaftlichen Ver-
fahren

– Drucksache 16/7956 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss

h) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des straf-
rechtlichen Wiederaufnahmerechts

– Drucksache 16/7957 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss

i) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der
Bundesnotarordnung und anderer Gesetze

– Drucksache 16/8696 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

j) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Bundeszentralregistergesetzes

– Drucksache 16/9021 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

k) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des
Schutzes der Opfer von Zwangsheirat und
schwerem „Stalking“

– Drucksache 16/9448 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

l) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer
Modellklausel in die Berufsgesetze der Heb-
ammen, Logopäden, Physiotherapeuten und
Ergotherapeuten

– Drucksache 16/9898 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales

m) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ge-
setzes über den Bau und den Betrieb von Ver-
suchsanlagen zur Erprobung von Techniken
für den spurgeführten Verkehr
– Drucksache 16/9899 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

n) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas-
sung der Vorschriften des Internationalen Pri-
vatrechts an die Verordnung (EG) Nr. 864/2007
– Drucksache 16/9995 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

o) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Düngegesetzes
– Drucksache 16/10032 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

p) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes über Meldungen über
Marktordnungswaren
– Drucksache 16/10033 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

q) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch-
führung des Übereinkommens vom 30. Okto-
ber 2007 über die gerichtliche Zuständigkeit
und die Anerkennung und Vollstreckung von
Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen
– Drucksache 16/10119 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

r) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abwehr
von Gefahren des internationalen Terrorismus
durch das Bundeskriminalamt
– Drucksache 16/10121 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
s) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch-
führung gemeinschaftlicher Vorschriften über
das Verbot der Einfuhr, der Ausfuhr und des
Inverkehrbringens von Katzen- und Hundefel-

(Katzenund Hundefell-Einfuhr-Verbotsgesetz – KHfEVerbG)


– Drucksache 16/10122 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

t) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das
Personal der Bundesagentur für Außenwirt-
schaft (BfAI-Personalgesetz – BfAIPG)


– Drucksache 16/10293 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Innenausschuss

u) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur
Änderung des Filmförderungsgesetzes

– Drucksache 16/10294 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien

v) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro-
tokoll vom 15. Oktober 2007 zur Änderung
des Abkommens zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Russischen Föderation
zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf
dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und
vom Vermögen vom 29. Mai 1996 und des Pro-
tokolls hierzu vom 29. Mai 1996

– Drucksache 16/10295 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss

w) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-
trag vom 3. März 2008 zwischen der Bundes-
republik Deutschland und dem Zentralrat der
Juden in Deutschland – Körperschaft des öf-
fentlichen Rechts – zur Änderung des Vertra-
ges vom 27. Januar 2003 zwischen der Bundes-
republik Deutschland und dem Zentralrat der
Juden in Deutschland – Körperschaft des öf-
fentlichen Rechts –

– Drucksache 16/10296 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

x) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dreizehnten Geset-
zes zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes

– Drucksache 16/10297 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
y) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur
Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes

– Drucksache 16/10298 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

z) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Veröf-
fentlichung von Informationen über die Zah-
lung von Mitteln aus den Europäischen Fonds

(Agrarund Fischereifonds-Informationen-Gesetz – AFIG)


– Drucksache 16/10299 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

aa) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Cornelia Behm, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Grenzwerte bei Müllverbrennungsanlagen
dem technischen Fortschritt anpassen und
deutlich absenken

– Drucksache 16/5775 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit

bb)Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Leutert, Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Für die Durchsetzung von Mindeststandards
humanen Arbeitens in der Volksrepublik
China eintreten – Menschenrechte und Sozial-
standards bei Konzerngeschäften in und mit
China durchsetzen

– Drucksache 16/9413 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

cc) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck (Köln),
Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Grundrechte schützen – Frauenhäuser sichern

– Drucksache 16/10236 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
dd)Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

(18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord-

nung

Technikfolgenabschätzung (TA)

Potenziale und Anwendungsperspektiven der
Bionik (Vorstudie)

– Drucksache 16/3774 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

ee) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

(18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord-

nung
Technikfolgenabschätzung (TA)

Politik-Benchmarking: Akademische Spin-offs
in Ost- und Westdeutschland und ihre Erfolgs-
bedingungen
– Drucksache 16/4669 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales

ff) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

(18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord-

nung
Technikfolgenabschätzung (TA)

Politikbenchmarking: Nachfrageorientierte In-
novationspolitik
– Drucksache 16/5064 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

gg)Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

(18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord-

nung
Technikfolgenabschätzung (TA)

TA-Vorstudie: Perspektiven eines CO2- und
emissionsarmen Verkehrs – Kraftstoffe und
Antriebe im Überblick
– Drucksache 16/5325 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus

hh)Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

(18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord-

nung
Technikfolgenabschätzung (TA)

TA-Projekt: Hirnforschung
– Drucksache 16/7821 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Kultur und Medien

ii) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

(18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord-

nung
Technikfolgenabschätzung (TA)

Internetkommunikation in und mit Entwick-
lungsländern – Chancen für die Entwicklungs-
zusammenarbeit am Beispiel Afrika
– Drucksache 16/9918 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien

ZP 5a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Jens Ackermann,
Dr. Karl Addicks, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Stärkung der Steuerautonomie in
den Ländern (Erbschaftsteuerreformgesetz)

– Drucksache 16/10309 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Kerstin Müller (Köln), Winfried
Nachtwei, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kontraproduktive US-Operationen in Pakis-
tan sofort einstellen – Umfassende Strategie
zur Stabilisierung Pakistans entwickeln
– Drucksache 16/10333 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Es handelt sich dabei um Überweisungen im verein-
fachten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. – Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Sie
sind also damit einverstanden. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.

Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 39 a bis
39 c sowie zu Zusatzpunkt 6. Dabei geht es um die Be-
schlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Ausspra-
che vorgesehen ist.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 39 a auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

Müller (Köln), Winfried Nachtwei, Jürgen Trittin,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Keine militärische Eskalation gegenüber dem
Iran – Konflikt um das Atomprogramm mit
Verhandlungen lösen
– Drucksachen 16/4407, 16/7515 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Werner Hoyer
Dr. Norman Paech
Kerstin Müller (Köln)


Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/7515, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4407 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist die Be-
schlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die
Linke angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 39 b auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Wieland, Volker Beck (Köln), Monika Lazar,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Europol-Beschluss rechtsstaatlich verbessern
– Drucksachen 16/7742, 16/9825 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ralf Göbel
Wolfgang Gunkel
Gisela Piltz
Ulla Jelpke
Wolfgang Wieland

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/9825, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7742 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 39 c auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip
Winkler, Volker Beck (Köln), Monika Lazar, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Das Parlament bei der Ausgestaltung des Ein-
bürgerungstests beteiligen
– Drucksachen 16/9602, 16/9945 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

Sevim Dağdelen
Josef Philip Winkler

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/9945, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9602 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Frak-
tion der FDP angenommen.

Wir kommen zum Zusatzpunkt 6:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-
ausschusses (6. Ausschuss)

Übersicht 12
über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-
ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-
gericht
– Drucksache 16/10321 –

Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ist je-
mand dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist einstimmig angenommen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,
Werner Dreibus, Ulla Lötzer, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE
Entfernungspauschale sofort vollständig aner-
kennen – Verfassungsmäßigkeit und Steuerge-
rechtigkeit herstellen
– Drucksachen 16/9167, 16/9569 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Olav Gutting
Dr. Barbara Höll


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Ich will darauf hinweisen, dass wir über diese Be-
schlussempfehlung später namentlich abstimmen wer-
den.


(Dirk Niebel [FDP]: Schade, dass Herr Huber heute nicht da ist!)


Zunächst kommen wir aber zur Aussprache. Nach einer
interfraktionellen Vereinbarung ist dafür eine halbe
Stunde vorgesehen. – Ich sehe dazu keinen Widerspruch.
Dann können wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Florian Pronold für die SPD-
Fraktion.


Florian Pronold (SPD):
Rede ID: ID1617907500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Zum wiederholten Male, aber dieses Mal zu
prominenterer Stunde,


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum wohl?)


haben wir das Thema Entfernungspauschale auf der Ta-
gesordnung. Dieses Mal hat die Linke einen Schaufens-
terantrag zur bayerischen Landtagswahl gestellt, um die
CSU vorzuführen.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Diesen Antrag braucht man dafür aber nicht, weil sich
die CSU bei der Pendlerpauschale schon zur Genüge
selbst vorgeführt hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [FDP]: Aber die SPD hat sie doch mit abgeschafft, oder?)


Das wird klar, wenn man das Hin und Her der letzten
Monate zu dieser Frage betrachtet.

Ich nehme mit Freude zur Kenntnis, dass meine Anre-
gung, in dieser wichtigen Debatte nicht nur einen Abge-
ordneten der CDU, sondern auch einen Abgeordneten
der CSU sprechen zu lassen, dieses Mal aufgenommen
worden ist. Das ist erfreulich.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dieses Mal trauen sie sich!)


– Dieses Mal trauen sie sich.


(Dirk Niebel [FDP]: Hat die SPD sie mit abgeschafft, oder waren Sie gar nicht dabei?)


– Ich komme gleich zu dem Thema, Herr Niebel. Wir
haben die Debatte schon zweimal geführt. Ich habe Ih-
nen das schon zweimal erklärt, werde es Ihnen aber auch
ein drittes Mal erklären. Ich befürchte nur, Sie wollen es
gar nicht hören.

Wir haben folgende Genese des Vorgangs: Ich habe
gehört, dass es eine Erklärung der CSU-Landesgruppe
gibt, nach der sie der Kürzung der Pendlerpauschale nur
zugestimmt habe, weil es im Jahr 2006 quasi eine Haus-
haltsnotlage gab. Das hat mich überrascht, weil ich das
CDU/CSU-Wahlprogramm von 2005 aufmerksam gele-
sen habe. Damals sind Steuerersenkungen versprochen
worden. Gleichzeitig wurde aber – auf Seite 17 – nicht
nur die Abschaffung der Steuerfreiheit von Nacht- und
Sonntagsarbeit, sondern auch die Kürzung der Pendler-
pauschale gefordert. Das kann mit der Haushaltsnotlage
nicht begründet werden. Das war Programmatik der
CDU/CSU.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


In den Koalitionsverhandlungen hat die SPD durchge-
setzt, dass die Steuerfreiheit der Nacht- und Sonntagsar-
beit erhalten bleibt. Im Gegenzug hat sich die CDU/CSU
im Punkt „Kürzung der Pendlerpauschale“ durchgesetzt.


(Gerd Andres [SPD]: Hört! Hört! So ist das!)


Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens fand eine An-
hörung im Deutschen Bundestag statt, bei der keiner der
Experten gesagt hat, dass der damals vorliegende Ge-
setzentwurf, den die CDU/CSU wollte, verfassungskon-
form ist.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1617907600

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Kalb?


Florian Pronold (SPD):
Rede ID: ID1617907700

Da er Abgeordneter desselben Wahlkreises ist wie ich

– ich wohne in Deggendorf – und ich ihn sonst immer
fragen muss, wenn ich etwas wissen will, gestatte ich das
gerne einmal umgekehrt.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1617907800

Herr Kollege, bitte sehr.


(Dirk Niebel [FDP]: Gut, dass das hier kein Wahlkampf ist!)



Bartholomäus Kalb (CSU):
Rede ID: ID1617907900

Herr Kollege Pronold, würden Sie freundlicherweise

und redlicherweise dem Hohen Haus mitteilen, dass in
dem Wahlprogramm der CSU seinerzeit eine Reduzie-
rung der Pendlerpauschale von 30 auf 25 Cent als Bei-
trag zur notwendigen Sanierung der Bundesfinanzen ent-
halten war?


Florian Pronold (SPD):
Rede ID: ID1617908000

Ich bin bereit – gleich, ob redlicherweise oder nicht –,

darauf zu verweisen, dass die CSU tatsächlich die Kür-
zung der Pendlerpauschale im Wahlkampf gefordert hat,
was von der CSU in meinem Wahlkreis allerdings be-
stritten worden ist, als ich 2005 dieses Thema angespro-
chen habe. Ich weise darauf hin, dass die Kürzung, die
Sie vorgeschlagen haben, für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer von der finanziellen Wirkung her noch
einschneidender gewesen wäre als das, was jetzt vor-
liegt. Auch das gehört zur Redlichkeit.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Völlig falsch!)







(A) (C)



(B) (D)


Florian Pronold
Ich fahre in der Betrachtung der Historie fort: Wir ha-
ben uns bemüht, in der Großen Koalition einen gegen-
finanzierten Vorschlag durchzusetzen, der die Pendler-
pauschale ab dem ersten Kilometer erhalten hätte. Das
ist aber abgelehnt worden. Dann kam es zu dem Gesetz,
mit Zustimmung der SPD, wie Sie wissen. Das muss ich
hier nicht groß betonen.


(Dirk Niebel [FDP]: Selber schuld!)


– Es gibt nun einmal Koalitionsverträge. Sie wissen viel-
leicht noch aus den Zeiten, wo Sie regiert haben – das ist
Gott sei Dank schon lange her –, dass es Dinge gibt, auf
die man sich geeinigt hat und zu denen man dann auch
stehen muss. Diese Dinge muss man klar benennen und
sagen, wie sie entstanden sind und was man erreichen
wollte.

Wir als SPD-Fraktion haben zum Beispiel – das ist
nachzulesen – im November 2007 eine weitere Initiative
unternommen, die Pendlerpauschale ab dem ersten Kilo-
meter einzuführen. Dazu gab es eine Sitzung des Koali-
tionsausschusses, an der zum ersten Mal ein gewisser
Erwin Huber als CSU-Parteivorsitzender teilgenommen
hat. Diese Initiative wurde dort abgelehnt.


(Zurufe von der SPD: Was? – Zurufe von der LINKEN: Hört! Hört!)


Auch das muss man in Erinnerung rufen. Deswegen ist
es besonders pikant, dass derselbe Herr Huber in der
letzten Sitzung des Bundesrates vor der Sommerpause
einen Antrag zur Wiedereinführung der Pendlerpau-
schale zum alten Stand eingebracht hat. Denn er weiß,
dass das Gesetzgebungsverfahren, selbst wenn alles gut
gehen würde, niemals vor der bayerischen Landtagswahl
beendet sein wird.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


Deswegen braucht es keinen Vorführantrag durch die
Linke gegenüber der CSU. Ich finde, die CSU hat sich
an diesem Punkt selber mehr als vorgeführt.


(Beifall bei der SPD)


Besonders erschwerend kommt hinzu, dass Kollege
Rupprecht hier schon das letzte Mal das „mea culpa“ im
Namen der CSU erklärt hat. Ich hoffe, es fällt noch ein
bisschen deutlicher aus. Nicht über die Sünder ist Freude
im Himmel, sondern über die reuigen Sünder. Das be-
deutet, man muss tätige Reue üben. Besonders pikant
war: Der Finanzminister von Bayern – er ist gelernter
Finanzbeamter – hat vor den Werkstoren von BMW in
Dingolfing Flugblätter gegen seine eigenen Sünden ver-
teilt.


(Dirk Niebel [FDP]: Da sollten wir die SPD zitieren!)


Es ging um eine Unterschriftenaktion der CSU zur Pend-
lerpauschale, unwissend, dass 80 Prozent der 22 000 Be-
schäftigten bei BMW überhaupt keinen Anspruch auf
die Pendlerpauschale haben, weil es dort ein Werkbus-
system gibt. Es ist nur absetzbar, was man dazuzahlt,
wenn man dort mitfährt. Ich dachte, der bayerische Fi-
nanzminister wisse wenigstens das.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)

Es geht darum, dass wir eine Regelung finden, die
den berechtigten Interessen der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer und vor allem der Pendlerinnen und Pend-
ler gerecht wird. Wenn jetzt große Bereitschaft dazu im
Hause existiert, dann freue ich mich. Wir werden ein
Verfassungsgerichtsurteil bekommen, das über span-
nende Fragen Auskunft geben wird, zum Beispiel darü-
ber, wie Werbungskosten zu behandeln sind, ob man
eine Pauschalierung von Werbungskosten machen kann
oder ob die kompletten Werbungskosten anzusetzen
sind. Auch das könnte in diesem Urteil stehen. Deswe-
gen wäre die Rückkehr zur alten Pendlerpauschale zu-
mindest zum jetzigen Zeitpunkt nicht hilfreich. Denn es
ist durchaus möglich, dass das Bundesverfassungsge-
richt Hinweise gibt, die bei einer Neuregelung zu beach-
ten sind. Daher sollten wir kurz vor der bayerischen
Landtagswahl diesem Antrag der Linken nicht zustim-
men, der, wie gesagt, ein Schaufensterantrag ist.

Letzte Bemerkung. Nicht an ihren Worten, an ihren
Taten sollt ihr sie erkennen. Das gilt besonders in Bay-
ern.


(Dirk Niebel [FDP]: Auch für die SPD!)


Wir haben nach Österreich geblickt.


(Dirk Niebel [FDP]: Ja! Die sind auch schon die Große Koalition los!)


In Österreich gibt es eine spannende Konstellation. Dort
gibt es auf der Bundesebene eine steuerliche Regelung
für Pendlerinnen und Pendler. Sie hat dasselbe Defizit
wie unsere, nämlich dass diejenigen, die kaum Steuern
zahlen, von einer Pendlerpauschale wenig haben, ob-
wohl auch sie weite Wege in Kauf nehmen. In Österreich
gibt es aber sechs Bundesländer, die zusätzlich auf der
Landesebene ein Pendlergeld zahlen, das auch denjeni-
gen zugutekommt, die nicht steuerpflichtig sind oder
wenig Steuern zahlen. Wir haben uns gedacht: Wenn
Österreich schon einmal etwas Vernünftiges macht,
könnte man das in Bayern übernehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Daher haben wir Erwin Huber vorgeschlagen, das auch
in Bayern einzuführen. Hierzu würden gerade einmal
400 Millionen Euro benötigt. Während aber verkündet
wird, man wolle aufgrund der Regelungen zur Erb-
schaftsteuer 800 Millionen Euro den Villenbesitzern am
Starnberger See in Bayern schenken,


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


hat derselbe Erwin Huber erklärt, er sei nicht bereit,
diese 400 Millionen Euro für die bayerischen Pendlerin-
nen und Pendler aufzubringen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Deswegen gilt auch hier noch einmal: Nicht an ihren
Worten, an ihren Taten sollt ihr sie erkennen. Leider sind
wir jetzt auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
angewiesen, um hier zukünftig für bessere Verhältnisse
zu sorgen. Wenn die Erkenntnis bei allen im Haus ge-
wachsen ist und diese Meinung geteilt wird, dann freue
ich mich auf die Debatten nach der Landtagswahl. Ich






(A) (C)



(B) (D)


Florian Pronold
bin gespannt, ob alle dann noch dieselben Auffassungen
vertreten wie vorher.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zurufe von der LINKEN: Wir ja!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1617908100

Für die FDP-Fraktion hat nun das Wort der Kollege

Dr. Volker Wissing.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1617908200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Große Koalition gleicht einem Auto, bei dem das
Gaspedal an die Bremse gekoppelt ist: Die eine Seite
will Gas geben, die andere legt eine Vollbremsung hin.
Hinten, auf der Hutablage dieses merkwürdigen Fahr-
zeugs, sitzt ein Wackeldackel namens CSU, und der
nickt immer brav mit dem Köpfchen.


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Genau das ist der Zustand, in dem sich die CSU hier im
Bundestag befindet: Es wird alles schön abgenickt.
Diese angeblich so große Koalition hat unserem Land
bisher nichts gebracht. Sie haben das Land keinen nen-
nenswerten Schritt nach vorne gebracht, weil Sie sich
auf Reformschritte, die unser Land braucht, nicht eini-
gen können.


(Beifall bei der FDP – Florian Pronold [SPD]: Bis jetzt war die Rede gut, jetzt wird sie schlecht!)


– Hören Sie ruhig zu, Herr Kollege Pronold! – Sie haben
das Land nicht nach vorne gebracht, weil Sie sich immer
nur dann einig sind, wenn es zulasten der Bürgerinnen
und Bürger in diesem Land geht. Die Stillstandspolitik
lassen Sie sich von den Menschen in Deutschland, die
hart arbeiten, teuer bezahlen.


(Beifall bei der FDP)


Sie haben die Mehrwertsteuer erhöht, die Versiche-
rungssteuer erhöht, Sie haben den Sparerfreibetrag ge-
kürzt, Sie haben die Entfernungspauschale gekürzt. Ins-
gesamt 19 Steuererhöhungen hat die Große Koalition
zulasten der Bürgerinnen und Bürger beschlossen, und
der politische Wackeldackel hat in jedem Einzelfall
schön mit dem Köpfchen genickt und brav zugestimmt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das ist die Wahrheit.

Sie erzählen den Wählerinnen und Wählern in Bay-
ern, die CSU sei gegen die Kürzung der Pauschale gewe-
sen. Ich meine, Sie müssen gespaltene Persönlichkeiten
sein, wenn Sie in Bayern gegen diejenigen Dinge sind,
die mit Ihrer Stimme im Deutschen Bundestag den Weg
ins Bundesgesetzblatt gefunden haben.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ CSU]: Sie waren doch noch gar nicht in Bayern! Sie können das Wort gar nicht buchstabieren!)


Ich will Ihnen einmal etwas sagen: Ich habe hier ein
Flugblatt, das Sie in Bayern verteilen. Damit sammeln
Sie von redlichen Menschen Unterschriften und erklären
– ich zitiere –: „Die heutige Regelung ist nicht verfas-
sungskonform.“ Sie fordern, dass die Politik handelt und
die alte Pendlerpauschale wieder einführt. Ich war bei
der Anhörung, die wir damals durchgeführt haben. Sie
haben völlig recht, wenn Sie behaupten, dass damals alle
Sachverständigen gesagt haben: Das ist nicht verfas-
sungskonform. Die Sachverständigen haben sogar ge-
sagt: Das ist evident verfassungswidrig. Aber es gehört
doch ein Stück Dreistigkeit dazu, dass man, wenn man
so etwas für verfassungswidrig hält, dafür dann im Deut-
schen Bundestag seine Hand hebt.


(Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


So kann man in diesem Land doch nicht glaubwürdig
Politik machen.

Sie spucken in Bayern große Töne, und hier in Berlin
machen Sie alles mit, was die Bundesregierung will. Das
ist inzwischen die Arbeitsteilung: die CSU in München –
Regierungspartei, die CSU in Berlin – Abnickpartei. Es
gab einmal eine Zeit, da haben Sie mit Ihrem Partner
CDU auf Augenhöhe gespielt. Inzwischen sind Sie der
verlängerte Wurmfortsatz der Großen Koalition.


(Beifall bei der FDP)


In Bayern bläst Huber in die Tuba, in Berlin ist mit Glos
nichts los. Das ist der Zustand der Christsozialen im
Deutschen Bundestag.

Welche Initiative ist denn von Ihnen, von der CSU,
gekommen? Sie wollen sich als Steuerentlastungspartei
profilieren? Was haben Sie vorzuweisen? Einen ermä-
ßigten Umsatzsteuersatz für Seilbahnen! Sie sind allen-
falls die Partei der Gondelpauschale, aber doch nicht der
Pendlerpauschale.


(Beifall bei der FDP)


Die CSU in München beschließt ein großes Steuerkon-
zept, und davon kommt in Berlin nichts an.


(Dirk Niebel [FDP]: Das ist ja auch ein weiter Weg!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Ihrem Engage-
ment für die Rückkehr zur alten Entfernungspauschale
hätten Sie längst ernst machen können. Sie hätten Ihren
Antrag einbringen können; aber natürlich haben Sie das
nicht getan. Es ist reines Wahlkampfgetöse in Bayern.


(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Volker Wissing
Sie haben heute die Gelegenheit, Ihre Glaubwürdig-
keit unter Beweis zu stellen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir lassen Sie nicht so einfach davonkommen, wenn Sie
sagen: Das ist ein Spielchen der Opposition. So einfach,
liebe Kolleginnen und Kollegen, geht das nicht. Wer in
Bayern Klartext spricht, muss mit seiner Stimme auch in
Berlin Klartext sprechen.


(Beifall bei der FDP und der LINKEN)


Sie müssen sich heute schon entscheiden. Dafür sind Sie
hier, und dazu zwingt Sie die Opposition im Deutschen
Bundestag.

Dann wird sich zeigen, ob Sie die Menschen in Bay-
ern hinters Licht führen wollen oder ob Sie tatsächlich
hinter dem stehen, was Sie dort sagen. Es wäre interes-
sant zu wissen, wie viele Menschen Ihnen in Bayern auf
den Leim gegangen sind und dieses Flugblatt unter-
schrieben haben. Ich würde es wirklich gerne wissen;
aber das werden Sie uns nicht verraten. Eine Meldung
der CSU-Landesleitung besagt:

Eine umfassende Zwischenbilanz der CSU-Unter-
schriftenaktion für die Wiedereinführung der alten
Pendlerpauschale wird es vor der bayerischen
Landtagswahl am Sonntag nicht mehr geben.


(Lachen bei der LINKEN – Dirk Niebel [FDP]: Das ist ja feige!)


Das ist wirklich interessant. Das lässt hoffen, dass die
Bayern Ihnen inzwischen nicht mehr auf den Leim ge-
hen; denn offensichtlich haben Sie nicht viele Bürgerin-
nen und Bürger hinters Licht führen und dazu verleiten
können, Ihre lächerliche Unterschriftenaktion in Bayern
zu unterstützen. Bekennen Sie doch Farbe, aber dafür
sind Sie zu feige! Das, was Sie in Bayern vertreten, ist
nicht glaubwürdig. Die Menschen werden dafür der
CSU ihre Stimme zu Recht verweigern.


(Beifall bei der FDP und der LINKEN – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Beifall von der FDP und der Linken, Volksfront lässt grüßen!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1617908300

Nächster Redner ist der Kollege Albert Rupprecht für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Albert Rupprecht (CSU):
Rede ID: ID1617908400

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Herr Kollege Wissing, Sie reden über den bayerischen
Landtagswahlkampf. Ich frage Sie: Wo sind denn die
bayerischen Kollegen der FDP?


(Dirk Niebel [FDP]: Wo ist eigentlich Herr Huber heute?)


Wieso redet hier kein bayerischer Kollege? Ist heute ein
einziger bayerischer FDP-Kollege anwesend? –

(Dirk Niebel [FDP]: Die sind natürlich im Wahlkampf, damit Sie weniger Stimmen kriegen!)


Keiner. Keiner hat ein Interesse daran, heute hier im
Bundestag zu sein.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Die dürfen gar nicht hier rein!)


Die CSU wirbt, argumentiert und kämpft offensiv für
die Wiedereinführung der Pendlerpauschale ab dem ers-
ten Kilometer; daran besteht überhaupt kein Zweifel.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Oh doch!)


Der 30-jährige Mechaniker mit zwei Kindern, der
80 Kilometer zu seiner Arbeit nach Regensburg fahren
muss, stellt zu Recht die Frage, wieso er tagtäglich in der
Früh aufsteht und zur Arbeit fährt. Er rechnet mir und
genauso Ihnen vor, dass er mit zwei Kindern fast das-
selbe in der Tasche hätte, wenn er Hartz IV beziehen
würde und zu Hause bliebe. Deswegen muss sich Leis-
tung lohnen.


(Dirk Niebel [FDP]: Sie haben 19 Steuererhöhungen mitgemacht!)


Wir als CSU stehen für eine steuerliche Entlastung für
Arbeitnehmer, Mittelstand, Familien und Pendler um
28 Milliarden Euro.


(Dirk Niebel [FDP]: Hier die Hand heben und in München rufen: Haltet den Dieb! – Bettina Hagedorn [SPD]: Warum steht es in Ihrem Wahlprogramm ganz anders?)


Wir stehen zudem für eine Senkung der Lohnnebenkos-
ten bei der Arbeitslosenversicherung, um die Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer zu entlasten.


(Dirk Niebel [FDP]: Glaubt kein Mensch!)


Mehr Netto vom Brutto ist das Gebot der Stunde und die
Politik der CSU.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deswegen stehen wir für die Wiedereinführung der
Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer. Wir als CSU
haben das den Bürgerinnen und Bürgern versprochen.
Wir werden nicht nachgeben, bevor dies umgesetzt ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Beifall bei der LINKEN – Florian Pronold [SPD]: Mehr Applaus bei der Linken als bei der CSU!)


Wir brauchen zur Umsetzung schlichtweg eine Mehr-
heit in der Koalition im Deutschen Bundestag. Das heißt,
wir müssen Überzeugungsarbeit leisten.


(Lachen und Beifall bei der LINKEN)


Die Lage ist, wie sie ist. Wir werden leider vor Dezem-
ber keine Entscheidung bekommen.


(Zurufe von der FDP und der LINKEN: Oh!)







(A) (C)



(B) (D)


Albert Rupprecht (Weiden)

Anders als bei der CSU, wo es einen klaren und eindeu-
tigen Beschluss der Partei und der Gremien gibt, gibt es
bei der SPD diesen Beschluss, Herr Pronold, nicht. Es
spricht nichts dagegen, dass Sie sich heute hier hinstel-
len und sagen: Wir warten das Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichts ab, aber wir beschließen vonseiten der
SPD das, was wir wollen. Vonseiten der CSU gibt es die-
sen Beschluss: Wir werden die Pendlerpauschale wieder
einführen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Iris Gleicke [SPD]: Machtvolle Demonstration! – Florian Pronold [SPD]: Was sagt Frau Merkel zu der Frage?)


Ein Teil der CDU-Kollegen unterstützt den CSU-Vor-
schlag.


(Dirk Niebel [FDP]: Ist nicht wahr!)


– In der Tat. Ein Teil der CDU-Kollegen will das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts im Dezember abwarten.
Wir als CSU würden uns eine schnellere Entscheidung
wünschen. Aber ich respektiere, dass Kollegen erst nach
dem Urteil entscheiden wollen.


(Dirk Niebel [FDP]: Nach der Wahl!)


Ich hoffe natürlich, dass das Verfassungsgericht unsere
Position stärkt und wir dann in der Regierung schnell zu
einer Lösung kommen werden.


(Florian Pronold [SPD]: Das war die peinlichste Rede, die hier im Bundestag gehalten worden ist!)


Lafontaine hat schon vor Wochen angekündigt, dass
er die CSU ärgern wird, indem er einen Antrag der Lin-
ken mit der Position der CSU zur Pendlerpauschale hier
einbringen will. Nun liegt der Antrag der Linken vor.

Erstens. Es ist festzuhalten, dass der Antrag nicht mit
dem CSU-Konzept identisch ist.


(Dirk Niebel [FDP]: Es steht nämlich nicht CSU drüber! – Zurufe von der Linken: Oh!)


Es fehlt zum Beispiel jeglicher Vorschlag zur Finanzie-
rung der Entlastung.


(Lachen bei der LINKEN)


Zweitens. Es geht der CSU


(Dirk Niebel [FDP]: Um Wählertäuschung!)


um ein Gesamtpaket zur Entlastung bei Steuern und Ab-
gaben, das weit über das Thema Pendlerpauschale hin-
ausgeht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist offensichtlich, dass es Lafontaine und der Linken
nicht um die Sache, sondern ausschließlich um medialen
Krawall im Vorfeld der bayerischen Landtagswahl geht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Die FDP macht mit! – Dirk Niebel [FDP]: Das ist bei der CSU mit der Unterschriftensammlung ganz anders!)

– Die FDP macht bei diesem Trauerspiel auch noch mit.

Sehr geehrte Damen und Herren, wir lehnen den An-
trag der Linken ab. Die Parlamentarier der CSU haben
dies in einer schriftlichen Erklärung nach § 31 der Ge-
schäftsordnung begründet.


(Lachen bei der LINKEN und der FDP – Florian Pronold [SPD]: Welch revolutionärer Akt!)


Ich erlaube mir, diese Erklärung in Auszügen vorzulesen
– ich zitiere –:


(Dirk Niebel [FDP]: Jetzt wird es peinlich!)


Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute
zur Abstimmung stellt, geht es ihr nicht um die Sa-
che,


(Zurufe von der Linken: Natürlich geht es uns um die Sache! – Oh doch! – Worum denn sonst?)


sondern um ein durchsichtiges taktisches Manöver.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Ha, ha, ha! – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes-
tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen …
haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle
Lücke von 60 Milliarden Euro jährlich.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Oje!)


… Die Entspannung der Lage der öffentlichen
Haushalte … macht aus unserer Sicht eine Rück-
kehr zur alten Pendlerpauschale möglich.


(Dirk Niebel [FDP]: Hat Ihnen das etwa Herr Huber aufgeschrieben?)


Diese Auffassung wollen wir in der Koalition mit
Nachdruck durchsetzen.


(Dirk Niebel [FDP]: Oh ja! Ihren Nachdruck sieht man!)


… Das Politikspektakel, das die Linken mit ihrem
Antrag bezwecken, lehnen wir entschieden ab.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Und was ist mit Ihrer Unterschriftenaktion? – Dirk Niebel [FDP]: Ein Spektakel ist Ihre Unterschriftenaktion! Herr Kollege, Sie sind ein Wackeldackel!)


Die programmatischen Eckpunkte der Linken for-
dern eine Politik, die Deutschland international iso-
liert, die Fundamente des Rechtsstaats und der so-
zialen Marktwirtschaft gefährdet


(Widerspruch bei der Linken – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Ich sage nur: Volksfront!)


und eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und Bür-
ger Deutschlands massiv bedroht.






(A) (C)



(B) (D)


Albert Rupprecht (Weiden)


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Die Volksfront lässt grüßen!)


Wir grenzen uns eindeutig von dieser Partei ab.


(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der LINKEN – Hartmut Koschyk [CDU/ CSU]: Sage mir, mit wem du abstimmst, und ich sage dir, wer du bist! Die FDP legt sich tatsächlich gemeinsam mit den Linken ins Bett! Pfui Teufel! – Dr. Volker Wissing [FDP]: Sind Sie jetzt eigentlich für oder gegen die Pendlerpauschale? Sagen Sie dazu doch auch mal etwas! Dazu hört man von Ihnen gar nichts!)


Sehr geehrte Damen und Herren, diese Erklärung ha-
ben CSU-Abgeordnete unterschrieben, die den Aufstieg
Bayerns vom Armenhaus Deutschlands an die Spitze
Deutschlands in ihrer Heimat erleben durften. Das ist
auch das Ergebnis der außerordentlich erfolgreichen
CSU-Politik in den letzten 60 Jahren. Vernünftige, bür-
gernahe Politik hat die Kraft, zu gestalten und zu prägen,
wie es die CSU in Bayern und Deutschland seit nunmehr
60 Jahren macht.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Oskar Lafontaine [DIE LINKE] – Dirk Niebel [FDP]: Armer Kerl! Das wird nichts! Aber da müsst ihr jetzt durch! – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diese Vorstellung war wirklich kabarettreif!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1617908500

Nächster Redner ist der Kollege Klaus Ernst für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])



Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617908600

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Um was es hier geht, ist inzwischen bekannt:
Wir wollen, dass die Kilometerpauschale wieder ab dem
ersten Kilometer gezahlt wird. Das sehen wir allerdings
nur als ersten Schritt an. Natürlich wissen auch wir, dass
davon insbesondere die Leute, die nur wenig Steuern
zahlen, nur sehr wenig haben. Deshalb muss dieser Weg
fortgeführt werden.


(Beifall bei der LINKEN – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Wie interessant! Haben Sie das auch schon gemerkt? – Dirk Niebel [FDP]: Wie wäre es denn, wenn wir erst einmal alle Autos verstaatlichen, Herr Kollege?)


Die Koalition hat die Regelungen zur Entfernungs-
pauschale verschlechtert. Das gilt natürlich auch für die
SPD. Denn die Kollegen von der SPD waren daran kräf-
tig beteiligt. Vor dem Bundesverfassungsgericht tritt die
Bundesregierung übrigens geschlossen auf, und zur Re-
gierung gehören auch die SPD und auch die CSU.


(Beifall bei der LINKEN)

Vor dem Bundesverfassungsgericht haben Sie sich gegen
die Zahlung der Entfernungspauschale ab dem ersten Ki-
lometer ausgesprochen.


(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Nein! Wir nicht! Die SPD!)


– Natürlich! Sie sind doch in der Regierung, oder etwa
nicht? Habe ich da etwas übersehen? Ich sage es noch
einmal: Sie sind in der Regierung und kommen da auch
nicht heraus.


(Dirk Niebel [FDP]: Doch! Natürlich kommen die da heraus! Hoffentlich sogar schon bald!)


Wir sind dagegen, dass ein Ehepaar mit zwei Kindern,
das ein Haushaltseinkommen von 48 000 Euro hat,
516 Euro zusätzlich zahlen muss. Bisher habe ich immer
gedacht, wir sind uns in diesem Hause einig, dass diese
Regelung geändert werden muss. Sie verlassen sich aber
lieber auf das Bundesverfassungsgericht. Ich sage Ihnen:
Wir sind das Parlament. Es gibt eine Regierung, keine
Appellierung.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Wir sollten hier entscheiden und die Verantwortung
nicht abschieben.

Meine Damen und Herren, die CSU hat im
Jahre 2006 all diese Kürzungen mitbeschlossen.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ja!)


Überall war sie beteiligt. Natürlich haben Sie inzwischen
von den Linken gelernt. Das freut mich. Macht das ruhig
öfter!


(Heiterkeit und Beifall bei der Linken)


Denn dann lernt ihr, dass ihr auch das eine oder andere
Gesetz von uns übernehmen solltet.

Jetzt ist die CSU plötzlich dafür, dass die Kilometer-
pauschale wieder ab dem ersten Kilometer gezahlt wird;
das freut uns. Herr Huber hat in einem Sommerinter-
view, auf einem Strohballen sitzend,


(Heiterkeit bei der LINKEN)


gesagt: Die CSU wird darauf bestehen, dass wir die alte
Pendlerpauschale wiederbekommen. – Genau das steht
in unserem Antrag. Er beinhaltet das, was auch Herr
Huber gesagt hat. Ich verstehe gar nicht, warum Sie sich
über unseren Antrag so sehr echauffieren.


(Beifall bei der LINKEN – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, dass wir einem Antrag von euch Linken zustimmen!)


Außerdem hat Herr Huber gesagt: Die Fahrt zur Ar-
beit ist keine Fahrt zum Golfplatz. – Das war übrigens
schon 2006 so, als Sie die Kürzung der Pendlerpauschale
mitbeschlossen haben.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])







(A) (C)



(B) (D)


Klaus Ernst
Aber vielleicht haben Sie das damals noch nicht be-
merkt.

Herr Ramsauer hat vorhin gesagt – jetzt wird es be-
sonders interessant –, dass die CSU gegen unseren An-
trag stimmt, weil er ein durchsichtiges taktisches Manö-
ver sei.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Ja, natürlich! Das ist doch klar! – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ CSU]: Natürlich ist das ein taktisches Manöver! Die Gründe hat der Kollege Rupprecht Ihnen eben vorgelesen! Aber Sie haben wohl wieder einmal nicht zugehört!)


Herr Ramsauer, ich sage Ihnen, was ein taktisches Ma-
növer ist: Es ist ein taktisches Manöver, dass Sie hier im
Bundestag und in der Öffentlichkeit so tun, als sei die
CSU auf Bundesebene in der Opposition. Sie regieren
hier mit! Das ist ein taktisches Manöver.


(Beifall bei der LINKEN – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Wer schreit, hat unrecht!)


Ich sage Ihnen: Es ist ein taktisches Manöver, wenn Sie
ein Plakat wie dieses hier in Bayern plakatieren.


(Der Redner hält ein Wahlplakat der CSU mit der Aufschrift: „Pendlerpauschale jetzt“ hoch – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Bravo!)


– Ja, bravo! Darauf steht „Pendlerpauschale jetzt“.


(Beifall bei der LINKEN – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr gut! Bravo!)


Herr Ramsauer, ich frage mich, wann bei Ihnen eigent-
lich „jetzt“ ist.


(Beifall bei der LINKEN – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sie haben nicht einmal ein solches Wahlplakat!)


Ist „jetzt“ vorgestern, weil Sie da gerade einen schönen
Presseauftritt hatten? Ist „jetzt“ übermorgen? „Jetzt“
heißt jetzt!


(Beifall bei der LINKEN – Der Redner hält das Wahlplakat der CSU falsch herum hoch – Lachen bei der CDU/CSU)


– So könnte man es auch machen, weil diese Politik auf
dem Kopf steht. Das ist das Problem.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Wissen Sie eigentlich, wo oben und unten ist?)


Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen nur sagen:
Gesetze werden hier und nicht durch Wahlplakate ge-
macht. Ich habe den Eindruck, dass Sie Politik beim Au-
tofahren nach zwei Maß Bier machen. Das ist ein biss-
chen zu wenig.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sie reden so, als hätten Sie schon ein paar Maß Bier intus!)


In aller Klarheit: Wenn Sie in Bayern für die Wieder-
einführung der Pendlerpauschale plakatieren und hier
dagegen stimmen, dann ist das ein angekündigter Wahl-
betrug.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Herr Ramsauer, das bayerische Wappentier ist der
Löwe und nicht der flüchtende Hase. Das könnten Sie
sich vielleicht auch einmal merken. Beim Kilometer-
geld, beim Rauchverbot und bei der Gesundheitsreform:
Sie schlagen doch nur noch Haken.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Wir wollen das CSU-Wahlplakat noch einmal sehen!)


Mit Ihrem Verhalten machen Sie die CSU zum braven
Dackel, der von Frau Merkel durch die politische Arena
geführt wird. Das ist die Wahrheit.


(Beifall bei der LINKEN)


Stimmen Sie unserem Antrag zu, dann kann man Sie
wenigstens wieder ein wenig ernster nehmen.


(Lebhafter Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1617908700

Das Wort hat nun die Kollegin Christine Scheel für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(Dirk Niebel [FDP]: Jetzt bloß nicht sachlich werden!)



Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617908800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Debatte nimmt teilweise kabarettistische Züge an.
Allerdings sind nicht alle Beiträge gutes Kabarett.

Herr Wissing, Sie haben die CSU als Wurmfortsatz
bezeichnet.


(Dirk Niebel [FDP]: Eigentlich wollte er „Wurm“ sagen!)


Ich würde das anders formulieren, weil ich eine andere
Sprache spreche. Fakt ist aber doch, dass der Einfluss
der CSU in der Großen Koalition gegen Null gegangen
ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie des Abg. Dr. Gregor Gysi Glück!)


Herr Rupprecht, das ist wohl doch der Grund dafür,
dass Sie hier eine Erklärung vorgetragen haben, die Ih-
nen aber auch nichts nützen wird. Wir können nur hof-
fen, dass möglichst viele Zeitungen diese Erklärung ab-
drucken. Damit würden sie nämlich dabei helfen, dass
die CSU am Sonntag mit Sicherheit unter 50 Prozent
bleiben wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN)


Herr Ramsauer hat auch in Bayern in verschiedensten
Äußerungen gesagt, dass bei diesem Thema ein Spekta-
kel betrieben wird. Mit Blick auf den heutigen Tag ha-
ben Sie auch wieder gesagt, dass die Linke hier ein Poli-






(A) (C)



(B) (D)


Christine Scheel
tikspektakel betreibt. Ich möchte einmal wissen, was in
Bayern abläuft.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


In jedem Bierzelt, auf jedem Stadtfest und bei jeder
Wahlkampfveranstaltung in irgendeiner Stadthalle findet
dort ein Politspektakel zur Entfernungspauschale statt.

Letztendlich geht es darum, dass die CSU einen Be-
schluss mitgetragen hat, von dem sie heute nichts mehr
wissen will, weil sie gemerkt hat, dass er wohl verfas-
sungswidrig ist, dass er bei den Stammtischen nicht an-
kommt und sich die Leute tierisch darüber aufgeregt ha-
ben. Deswegen betreiben Sie dieses Spektakel, was dann
zu dieser Unterschriftenaktion geführt hat.


(Dirk Niebel [FDP]: Aber nicht viele!)


Der Kollege der FDP hat darauf hingewiesen. Sie sind
aber zu feige, diese Unterschriften auch vorzulegen und
zu sagen, wie viele am Ende wirklich dafür unterschrie-
ben haben, dass die Entfernungspauschale ab dem ersten
Kilometer wieder eingeführt wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der FDP und den LINKEN)


Ich kann Ihnen sagen: So blöd sind die Leute nicht.
Die Menschen durchschauen dieses Manöver und wis-
sen, dass viele von der Wiedereinführung der alten Ent-
fernungspauschale überhaupt nicht profitieren. Die
Leute wissen auch, dass man letztendlich den Arbeitneh-
merpauschbetrag senken will. Davor haben die Leute
Angst; denn genau das wäre der falsche Weg.

Sie sagen: Zurück zur Pendlerpauschale ab dem ers-
ten Kilometer, aber die Finanzierung muss stehen. – Die
SPD sagt: Dann realisieren wir eben ein anderes Modell.
Wir schauen uns einmal an, was das Bundesverfassungs-
gericht dazu sagt. – Die Leute wissen dann, dass eventu-
ell ein Modell Wirklichkeit wird, worunter andere als
diejenigen leiden werden, die heute darunter leiden. In-
sofern sind die Sorgen der Menschen berechtigt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie sollten sich schämen, so zu tun, als könnten Sie
sich aus der Affäre ziehen. Wer hat denn zugestimmt? Es
ging doch nicht nur um den Koalitionsvertrag, der schon
eine Weile zurückliegt und hoffentlich der letzte dieser
Großen Koalition war, sondern auch um die Frage, wer
im Bundesrat zugestimmt hat. Im Bundesrat hat auch die
CSU zugestimmt. Jetzt wollen Sie nichts mehr damit zu
tun haben. Das ist Opposition gegen sich selbst. Das ist
eine Opposition, die die Menschen durchschauen und
nicht akzeptieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der FDP und der LINKEN – Dirk Niebel [FDP]: Die können halt nicht Opposition!)


Wenn Sie eine neue Perspektive fordern, dann hätten
Sie sich längst dafür einsetzen können. Wir haben mehr-
mals im zuständigen Finanzausschuss darüber gespro-
chen, wie wir diese Frage lösen wollen. Sie haben sich
aber verweigert und wollen abwarten, wie das Bundes-
verfassungsgericht entscheidet. Das ist sehr durchsich-
tig. Jeder weiß, dass die Entscheidung des Bundesverfas-
sungsgerichts erst nach dem 28. September erfolgt. Wir
werden in den nächsten Tagen bis Sonntag alle in Bayern
auffordern, nicht auf Ihre Propaganda hereinzufallen.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Das hat sie gut gemacht! Für eine Grüne gar nicht schlecht!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1617908900

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege

Otto Bernhardt für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Jetzt stell’ mal alles klar!)



Otto Bernhardt (CDU):
Rede ID: ID1617909000

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich will versuchen, wieder etwas mehr Sachlich-
keit in diese Debatte zu bringen.


(Lachen bei der LINKEN)


Die Große Koalition hat im Jahre 2006 ein umfassen-
des Sanierungsprogramm für den Haushalt beschlossen.
Das war damals dringend erforderlich. Ein Punkt waren
die Änderungen bei der steuerlichen Absetzbarkeit der
Pendlerpauschale. Ich finde es nicht gut, dass sich Mit-
glieder der Großen Koalition heute von dieser Entschei-
dung verabschieden, die wir seinerzeit gemeinsam getra-
gen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Die CSU auch!)


Die Fakten haben sich inzwischen ein Stück weit ge-
ändert. Zum Ersten sind wir auf dem Wege zur Sanie-
rung der öffentlichen Finanzen ein deutliches Stück vor-
angekommen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1617909100

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Dr. Höll?


Otto Bernhardt (CDU):
Rede ID: ID1617909200

Wenn ich den Gedanken zu Ende geführt habe, gerne. –

Zum Zweiten haben sich die Benzin- und Dieselpreise in
einem Ausmaß erhöht, das wir damals nicht absehen
konnten. Diese Situation führt dazu, dass insbesondere
in den Flächenländern – ich komme aus Schleswig-Hol-
stein – über eine Änderung der jetzigen Regelung nach-
gedacht wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir sind aber in der Großen Koalition gemeinsam mit
der Regierung zu dem Ergebnis gekommen, zunächst die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abzuwar-
ten; denn wir wissen nicht, ob die bestehende Regelung
verfassungswidrig ist.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Das haben die Sachverständigen doch alle gesagt!)







(A) (C)



(B) (D)


Otto Bernhardt
Wenn wir eine Neuregelung beschließen, dann wissen
wir nicht, ob sie der Rechtsprechung des Bundesverfas-
sungsgerichts entspricht. Es gilt also abzuwarten.


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schützenhilfe von der Küste!)


Wir sollten aber die Möglichkeiten der Pendlerpau-
schale nicht überschätzen. Um eine Zahl zu nennen: Für
den Bezieher eines Durchschnittseinkommens geht es
um 5 Euro im Monat.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Es gibt Leute, für die das viel ist!)


Deshalb sind wir entschlossen, die Bürger stärker zu ent-
lasten als nur durch diesen einen Schritt. Die Bundesre-
gierung bereitet ein größeres Entlastungsprogramm vor.


(Dirk Niebel [FDP]: Davor graut es mir schon! – Dr. Volker Wissing [FDP]: Der Finanzminister sagt aber, das geht nicht!)


Im Rahmen dieses Entlastungsprogramms werden die
hervorragenden Vorstellungen aus dem CSU-Steuerkon-
zept eine sehr wichtige Rolle spielen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der SPD – Florian Pronold [SPD]: Der war gut!)


Innerhalb der Union sind wir uns über die Grundzüge
eines solchen Konzeptes längst einig.


(Dirk Niebel [FDP]: Leipziger Parteitag!)


Es gibt einen kleinen Unterschied, über den wir nach der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts diskutie-
ren werden. In dieser Diskussion werden Sie erkennen,
wie stark die CSU nicht nur innerhalb der Union, son-
dern auch innerhalb der Großen Koalition ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie können sicher sein, dass die CSU ein wichtiges Wort
bei den Konsequenzen, die wir dann ziehen werden, mit-
reden wird. Je stärker die CSU am Sonntag wird, desto
mehr hat sie zu bestimmen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1617909300

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Entfernungspau-
schale sofort vollständig anerkennen – Verfassungsmä-
ßigkeit und Steuergerechtigkeit herstellen“. Dazu liegt
eine große Anzahl von persönlichen Erklärungen nach
§ 31 unserer Geschäftsordnung vor1). Sie alle werden in
den Stenografischen Bericht aufgenommen.

1) Anlagen 2 bis 7
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/9569, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/9167 abzulehnen. Wir
stimmen nun auf Verlangen der Fraktion Die Linke über
die Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen
Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze an den Urnen
eingenommen? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann eröffne
ich die Abstimmung.

Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der
Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentli-
chen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben2).

Ich bitte Sie herzlich, Ihre Gespräche außerhalb des
Plenarsaals zu führen, wenn Sie den Beratungen nicht
mehr folgen wollen, damit wir die Beratungen fortsetzen
und den Rednerinnen und Rednern in der anschließen-
den Debatte konzentriert folgen können.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Jahressteuergesetzes
2009 (JStG 2009)

– Drucksache 16/10189 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so ver-
fahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin für die Bundesregierung der Parlamentarischen
Staatssekretärin Nicolette Kressl das Wort.


(Beifall bei der SPD)


N
Nicolette Kressl (SPD):
Rede ID: ID1617909400


Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jahressteuergesetze
gelten manchmal als Sammelbecken für die verschie-
densten Maßnahmen, zum Beispiel um EU-Recht umzu-
setzen oder kleinere Veränderungen, auch im redaktio-
nellen Bereich, vorzunehmen. Auch solche Regelungen
sind in dem Entwurf zum Jahressteuergesetz, der Ihnen
heute vorliegt, enthalten, aber nicht nur solche. Sie kön-
nen in diesem Gesetz eine durchgehende Linie erkennen;
denn es enthält eine Reihe von Vorschlägen, die insge-
samt zu einer deutlichen steuerlichen Entlastung führen
oder aber ehrenamtliches Engagement noch mehr als
bisher unterstützen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


2) Siehe Seite 19035 C






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretärin Nicolette Kressl
Ich will Ihnen dafür einige Beispiele nennen. Die
Steuerfreiheit für Leistungen des Arbeitgebers zur Ver-
besserung des allgemeinen Gesundheitszustandes und
der betrieblichen Gesundheitsförderung mag technisch
klingen, ist aber, wovon wir überzeugt sind, eine wich-
tige Maßnahme im Interesse der Arbeitnehmer und der
Unternehmen; denn damit wird die Bereitschaft von Ar-
beitgebern erhöht werden, ihren Arbeitnehmern Dienst-
leistungen zur Verbesserung des allgemeinen Gesund-
heitszustands anzubieten.


(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])


Wir finden, dass dies ein erster wichtiger Schritt ist. Wir
wollen nicht nur über die Frage reden, wie die Bedin-
gungen zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit verbes-
sert werden können, sondern auch im steuerlichen Be-
reich dazu eine erste wichtige Maßnahme einbringen.

Wir werden mit diesem Gesetz eine Erleichterung bei
der Haftung im steuerlichen Spendenrecht auf den Weg
bringen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Es ist immer wieder diskutiert worden, inwieweit die In-
anspruchnahme der Gesamtschuldner in diesem Bereich
eine mögliche Hemmschwelle bei der Entscheidung ist,
sich ehrenamtlich zu engagieren. Wir wollen, dass die
handelnden natürlichen Personen, also diejenigen, die
sich selbst persönlich engagieren, nur dann in Anspruch
genommen werden, wenn die Inanspruchnahme der Kör-
perschaft, in diesem Falle des Vereins, erfolglos geblie-
ben ist. Wir sind der Überzeugung, dass dies eine deutli-
che Erleichterung in diesem Bereich ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir werden in diesem Gesetz auch festschreiben, dass
die Kommunen an ihrer bisherigen Verwaltungspraxis
zum steuerlichen Querverbund festhalten können. Auch
dieses mag technisch klingen, aber für uns ist es die Ba-
sis dafür, dass die Kommunen auch in Zukunft die Ver-
antwortung für die Daseinsvorsorge für die Menschen
besser übernehmen können, als es nach dem BFH-Urteil
möglich gewesen wäre. Insofern ist das für uns eine ganz
wichtige Maßnahme in diesem Gesetz.


(Beifall bei der SPD)


Wir nehmen mit diesem Gesetz eine Debatte auf, die
es über die Frage gab, inwieweit die Lohnsteuerklasse V
für die weniger verdienenden Partner und Partnerinnen
in einer Ehe zu einem Hemmnis für die Aufnahme einer
Beschäftigung werden kann. Wir schlagen dem Parla-
ment vor, sich für ein Faktorverfahren zu entscheiden, in
dem zum Beispiel, um es konkret zu machen, in Zukunft
bei der Option für dieses Faktorverfahren im Vergleich
zur bisherigen Lohnsteuerklasse V bis zu einem Monats-
lohn von 900 Euro keine Lohnsteuer zu zahlen ist.

Wir schlagen auch vor, die bestehende Diskrepanz
zwischen der Steuerfestsetzungsverjährung und der
Strafverfolgungsverjährung in Fällen der Steuerhinter-
ziehung durch eine Verlängerung der Verjährungsverfol-
gungsfrist für Steuerhinterziehung in § 376 der Abga-
benordnung zu beseitigen. Ich halte das für eine Frage
der Steuergerechtigkeit. Dies ist eben nicht nur eine
technische Frage. Nach der Debatte, die wir in den letz-
ten Monaten hatten, ist die Frage eben, ob Steuerhinter-
ziehung wie ein Kavaliersdelikt behandelt werden soll.
Mit der vorgeschlagenen Änderung bekennt sich die Po-
litik ausdrücklich dazu: Steuerhinterziehung ist eben
kein Kavaliersdelikt und wird entsprechend langfristig
verfolgt.


(Beifall bei der SPD)


An diesen Beispielen wird deutlich, dass mit dem Jah-
ressteuergesetz, das natürlich eine ganze Reihe von Ein-
zelregelungen enthält, den Menschen insgesamt ein
deutliches Signal der Entlastung, der Erleichterung für
Engagement im ehrenamtlichen Bereich und – siehe Ver-
folgungsverjährung – ein Signal der Steuergerechtigkeit
gegeben wird. Natürlich werden wir den Entwurf, wie
immer, in einer Anhörung ausführlich beraten. Aber ich
werbe schon jetzt ausdrücklich dafür, dem Gesetz am
Ende im Parlament eine überzeugende Mehrheit zu ver-
schaffen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1617909500

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Wissing

für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1617909600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Mit dem Jahressteuergesetz ist es so ähnlich wie mit dem
Christkind: Es kommt alle Jahre wieder zu uns. Das Ent-
lastungsvolumen von 220 Millionen Euro könnte durch-
aus eine schöne Bescherung werden. Von den 220 Mil-
lionen Euro Entlastung zahlt der Bund allerdings nur
89 Millionen Euro; 131 Millionen Euro müssen die Län-
der und Gemeinden aufbringen. Es ist schon eine beson-
dere Form der Großzügigkeit des BMF, hier zu verteilen
und andere die Rechnung bezahlen zu lassen.

Die 220 Millionen Euro klingen nach viel Entlastung.
Aber wenn man bedenkt, dass von der KfW an den Fi-
nanzmärkten gerade fast das Doppelte versenkt worden
ist, dann erkennt man, wie wenig Entlastung Sie hier tat-
sächlich gewähren. Eine spürbare Steuerentlastung ist
das nicht. Das verdient nicht, besonders gelobt zu wer-
den.


(Beifall bei der FDP – Florian Pronold [SPD]: Auch die Hälfte von viel ist viel!)


Das Jahressteuergesetz, Frau Kressl, ist wieder einmal
ein Gesetz von der Verwaltung für die Verwaltung. Der
Bundesfinanzminister erfüllt wieder einmal die Wün-
sche seines Hauses und hat keine große Linie in seinem
Gesetzentwurf. Im Grunde genommen werden hier die
Schubladen des Bundesministeriums der Finanzen ge-
leert. Ich sage Ihnen: Einiges wäre besser in diesen
Schubladen geblieben.


(Beifall bei der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Volker Wissing
Nehmen wir die Begrenzung der Absetzbarkeit des
Schulgeldes auf 3 000 Euro als Beispiel. Das ist für Sie
von der SPD eine ideologische Frage. Sie haben ein Pro-
blem mit Privatschulen, es sei denn, Frau Ypsilanti
schickt ihren Sohn auf eine solche Schule, dann ist das
nicht ganz so schlimm,


(Jörg Tauss [SPD]: Was Sie hier immer plappern! – Gegenruf des Abg. Ernst Burgbacher [FDP]: So ist es halt!)


aber ansonsten ist Ihnen das immer ein Dorn im Auge.
Dabei halte ich es für einen fatalen Fehler, Eltern zu ver-
teufeln, die ihre Kinder auf eine Privatschule schicken;
denn sie entlasten damit, weil Plätze in den öffentlichen
Schulen nicht benötigt werden, die öffentlichen Schulen.
Somit kann dort besser unterrichtet werden. Mehr Kin-
der auf Privatschulen, das heißt auch: mehr Mittel für
Kinder an den öffentlichen Schulen. Das klammern Sie
bei Ihrer ideologischen Politik natürlich völlig aus.


(Beifall bei der FDP)


Privatschulen sind nicht per se Luxusinternate für
Kinder, deren Eltern nicht wissen, wohin mit dem Geld.


(Jörg Tauss [SPD]: Nur noch gaga!)


Ich verstehe vor allen Dingen nicht, warum Sie das nicht
besser wissen. Sie können ja einmal mit Frau Dieckmann
sprechen oder sich von Frau Ypsilanti beraten lassen.
Die haben gute Gründe dafür, ihre Kinder lieber auf eine
Privatschule zu schicken. Das klammern Sie völlig aus.

Nehmen wir das Beispiel der internationalen Schule.
Der Finanzminister hat uns neulich gesagt, wie wichtig
der Finanzstandort Frankfurt für die Bundesrepublik
Deutschland ist. Damit hat er recht. Es ist wichtig, dass
es dort auch eine internationale Schule gibt, die nämlich
den ausländischen Fachkräften ermöglicht, für einen
Zeitraum von zwei oder drei Jahren mit ihren Kindern
nach Deutschland zu kommen.


(Jörg Tauss [SPD]: Niemand ist dagegen! – Florian Pronold [SPD]: Themaverfehlung!)


Dort werden die Kinder so unterrichtet, dass sie später
mit ihren Eltern wieder in ihr Heimatland zurückgehen
können. Deshalb werden dort bewusst nicht die Lehr-
pläne von öffentlichen Schulen übernommen. Genau
diese Schule sanktionieren Sie, und das ist ein Wider-
spruch zu dem, was der Finanzminister angibt, nämlich
den Finanzplatz stärken zu wollen. Sie schwächen ihn
mit diesem Gesetz.


(Beifall bei der FDP)


Deutschland braucht gut ausgebildete Fachkräfte, die
zu uns kommen. Wir wollen ihr Know-how in unsere
Gesellschaft integrieren. Solche Menschen brauchen in-
ternationale Schulen; sonst kommen sie nicht. Genau
diesen Menschen machen Sie das Leben schwer. Noch
schlimmer: Sie vergraulen sie mit unsinnigen Bestim-
mungen in Ihrem Jahressteuergesetz.


(Jörg Tauss [SPD]: Unsinnige Ausführungen, aber nicht unsinnige Bestimmungen!)

Es gibt aber nicht nur das Problem mit den Privat-
schulen; in diesem Gesetz ist auch noch eine Reihe ande-
rer Probleme enthalten. Ich nehme nur Ihre Vorschläge
zur Dienstwagenbesteuerung. Auch dies ist wieder ein
ganz ideologisches Thema für die Sozialdemokraten.
Ein Dienstwagen ist per se etwas Böses, ein Privileg, ge-
gen das Sie kämpfen müssen. Dabei vergessen Sie natür-
lich, dass ein Dienstwagen auch ein Arbeitsgerät ist. Das
ist innerhalb der Bundesregierung offensichtlich noch
niemandem aufgefallen. Für Sozialdemokraten sind
Dienstwagen nur so lange schlimm, solange sie nicht
selber drin sitzen.


(Beifall bei der FDP)


Es wäre gut, wenn Sie einmal die Finger davon lie-
ßen, die Dienstwagenbesteuerung ständig zu ändern. In-
zwischen müssen bei der Besteuerung fünf verschiedene
Anschaffungszeiträume unterschieden werden. Jetzt
bringen Sie noch eine sechste Regelung. Das macht un-
ser Land weder ökologischer noch sozial gerechter, ge-
schweige denn, dass es irgendetwas im Steuerrecht ver-
besserte. Im Gegenteil, Sie machen wieder alles
komplizierter und für die Menschen teurer. Das zieht
sich wie ein roter Faden durch Ihr Steuergesetz hindurch.
Es ist keine Systematik zu erkennen. Sie wissen nicht,
wohin Sie in der Steuerpolitik wollen, Sie fummeln ein
bisschen da und ein bisschen dort. Damit mögen die Be-
amten im Bundesfinanzministerium zufrieden sein, aber
Politik für die Menschen in Deutschland machen Sie mit
diesem Gesetz wieder einmal nicht.


(Beifall bei der FDP)


Sie haben vorhin über die Situation der Ehrenamtli-
chen gesprochen. Es gibt erhebliche Haftungsrisiken,
wenn man sich in Deutschland ehrenamtlich engagiert.
Schon bei dem Gesetz zur Stärkung des bürgerschaftli-
chen Engagements haben Sie angekündigt, dass Sie
nachbessern werden und die verschuldensunabhängige
Haftung beseitigen wollen. Das haben Sie wieder nicht
gemacht. Sie sind rein fiskalisch gelenkt und schaffen
den wirklich schlimmen Tatbestand einer verschuldens-
unabhängigen Haftung für ehrenamtlich Engagierte in
Deutschland nicht ab. Das ist eine nicht tragbare Lösung,
weshalb ich Ihnen jetzt schon prophezeien kann, dass
wir dies nicht mittragen.

Sie beschränken die steuerliche Förderung von Tätig-
keiten gemeinnütziger Organisationen im Ausland. Auch
dies ist ein Fehler. Das sind massive Eingriffe in die Zi-
vilgesellschaft, die rein fiskalisch motiviert sind und die
wir in Gänze ablehnen.

Sie haben einige Steuerverschärfungen bei der Abgel-
tungsteuer vorgesehen. Hier sind sehr problematische
Regelungen im Gesetzentwurf enthalten. Wir werden
das von den Sachverständigen im Rahmen der Anhörung
noch hören. – Da brauchen Sie nicht mit dem Kopf zu
schütteln, Herr Tauss, das sind in der Tat sehr problema-
tische Vorschriften.


(Jörg Tauss [SPD]: Sie sind bei fast allen Themen so neben der Kappe! – Gegenruf des Abg. Ernst Burgbacher [FDP]: Herr Tauss, das sollen andere beurteilen!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Volker Wissing
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 547;
davon

ja: 450
nein: 96
enthalten: 1

Ja

CDU/CSU

Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)


Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer (Lübeck)

Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Ralf Göbel
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr

zu Guttenberg
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke-Witt
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Franz Josef Jung
Bartholomäus Kalb

Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Kristina Köhler (Wiesbaden)

Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl Lamers (Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
– Es ist gut, dass Sie noch die

Sie haben ein großes Pr
Kressl, nämlich das Thema d
gungsverjährung bei Steuerh
ren auf zehn Jahre. Es ist nat
die Finanzverwaltung und vo
hörden sagen, sie schafften e
nerhalb von fünf Jahren aufz
wegen eine längere Verjä
Ermittlungsarbeit bei einem n
StGB einen ähnlichen Umfa
stellt sich die Frage, warum
geändert wird und warum ma
bleme nicht auf das allgemei
könnten es dann nämlich ein
ren. Die FDP lehnt ein Sond
Steuerstrafrechts ab. Wir sind
straftäter in Deutschland g
müssen wie andere Straftäter
nen Sonderweg. Mit diesem
dabei, Sonderregelungen in d
Dies halte ich für rechtspoliti

Ihr Jahressteuergesetz ist
setz, wie es Deutschland brau
Themen nicht auf, die in unse
den müssten. Sie haben eine
teilweise sogar Belastunge
Übrigen sagt der Finanzmin
Kappe aufhaben.

oblem angesprochen, Frau
er Verlängerung der Verfol-
interziehung von fünf Jah-
ürlich ein Argument, wenn
r allen Dingen die Strafbe-
s nicht, Steuerstraftaten in-
uklären, und brauchten des-
hrungsfrist. Nur hat die
ormalen Betrug nach § 263
ng. Dort tun Sie nichts. Es
das Steuerstrafrecht isoliert
n die hier bestehenden Pro-
ne Strafrecht überträgt. Wir
mal systematisch diskutie-
erstrafrecht im Bereich des
der Meinung, dass Steuer-
enauso behandelt werden
auch. Wir wollen hier kei-
Jahressteuergesetz sind Sie
iesen Bereich einzuführen.
sch verfehlt.

kein anständiges Steuerge-
cht. Sie greifen die großen
rem Land angegangen wer-
lächerliche Entlastung und
n in diesem Gesetz. Im
ister immer, es könnte in
Deutschland keinerlei steu
Jetzt legt er eine steuerlich
220 Millionen vor. Auch da
einander; offensichtlich wei
niemand mehr, in welche R
den totalen Stillstand in der S
reicht. Das muss auch zum
tion führen, weil sich diese
schon umfangreich darüber
national verändert – in Zeiten
reich der internationalen Fin
auf diesem wichtigen Feld de
kann.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei Vizepräsidentin Gerda H Bevor ich dem nächsten komme ich zurück auf den gebe Ihnen das von den Sch führern ermittelte Ergebnis d mung über die Beschlussem schusses zu dem Antrag der F Titel „Entfernungspauschale nen – Verfassungsmäßigke herstellen“ bekannt: abgegeb haben gestimmt 450, mit Ne haltungen 1. erliche Entlastung geben. e Entlastung in Höhe von s ist ein absurdes Durchß in der Bundesregierung ichtung er will. Sie haben teuerund Finanzpolitik erEnde dieser Großen Koalis Land – wir haben heute diskutiert, was sich inter so großer Probleme im Beanzmärkte einen Stillstand utscher Politik nicht leisten der FDP)


asselfeldt:
Redner das Wort erteile,
Tagesordnungspunkt 5 und
riftführerinnen und Schrift-
er namentlichen Abstim-
pfehlung des Finanzaus-

raktion Die Linke mit dem
sofort vollständig anerken-
it und Steuergerechtigkeit
ene Stimmen 547. Mit Ja

in haben gestimmt 96, Ent-






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer (Altötting)

Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Laurenz Meyer (Hamm)

Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Eva Möllring
Carsten Müller


(Braunschweig)

Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht (Weiden)

Peter Rzepka
Anita Schäfer (Saalstadt)

Hermann-Josef Scharf
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt (Fürth)

Andreas Schmidt (Mülheim)

Ingo Schmitt (Berlin)

Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Marion Seib
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß (Emmendingen)

Gerald Weiß (Groß-Gerau)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Anette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

SPD

Dr. Lale Akgün
Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr (Neuruppin)

Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Lothar Binding (Heidelberg)

Kurt Bodewig
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann


(Hildesheim)

Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Renate Gradistanac
Angelika Graf (Rosenheim)

Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Nina Hauer
Dr. Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Petra Hinz (Essen)

Gerd Höfer
Iris Hoffmann (Wismar)

Frank Hofmann (Volkach)

Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel (Berlin)

Ulrike Merten
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller (Chemnitz)

Michael Müller (Düsseldorf)

Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Steffen Reiche (Cottbus)

Maik Reichel
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel Riemann-

Hanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Michael Roth (Heringen)

Ortwin Runde
Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Marianne Schieder
Silvia Schmidt (Eisleben)

Dr. Frank Schmidt
Heinz Schmitt (Landau)

Carsten Schneider (Erfurt)

Ottmar Schreiner
Reinhard Schultz


(Everswinkel)

Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Dieter Steinecke
Andreas Steppuhn
Rolf Stöckel
Christoph Strässer






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt

Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen

Omid Nouripour
Brigitte Pothmer
Claudia Roth (Augsburg)


Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb

Jan Korte
Katrin Kunert
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans Josef Fell
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Peter Hettlich

Die Beschlussempfehlung ist

Damit erteile ich als näch
Eduard Oswald für die CDU/


(Beifall bei de Eduard Oswald (CDU/C Frau Präsidentin! Liebe K Es ist ja schon eine Art Tradit regierung einmal im Jahr ein Kollege Wissing hat in die Christkind gesprochen. Von v Manuel Sarrazin Christine Scheel Irmingard Schewe-Gerigk Dr. Gerhard Schick Grietje Staffelt Rainder Steenblock Silke Stokar von Neuforn Dr. Wolfgang Strengmann Kuhn Hans-Christian Ströbele Dr. Harald Terpe Jürgen Trittin Wolfgang Wieland Josef Philip Winkler Nein SPD Dr. Hermann Scheer FDP Jens Ackermann Dr. Karl Addicks Christian Ahrendt Daniel Bahr Uwe Barth Rainer Brüderle Angelika Brunkhorst Ernst Burgbacher Patrick Döring damit angenommen. stem Redner dem Kollegen CSU-Fraktion das Wort. r CDU/CSU)


SU):
olleginnen und Kollegen!

ion, gemäß der die Bundes-
Jahressteuergesetz vorlegt.
sem Zusammenhang vom
ielen wird es als Besenwa-
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Michael Link (Heilbronn)

Markus Löning
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg Rohde
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Dr. Max Stadler
Florian Toncar
Christoph Waitz
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


DIE LINKE

Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Dr. Lothar Bisky
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Sevim Dağdelen

gen-, Omnibus- oder Lump
net. Das Wort Christkind wür
einer Art von Gesetz nicht v
zelne damit aussagen wollen
bolisiert werden: Mit dem J
wöhnlich in eine Vielzah
eingegriffen. Man muss sich
schauen, ob eine Änderung
ist. Man reagiert damit au
nimmt Anregungen aus dem
auf, setzt Gerichtsurteile um,
turen und auch so manche O
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Petra Pau
Elke Reinke
Paul Schäfer (Köln)

Volker Schneider


(Saarbrücken)

Dr. Herbert Schui
Dr. Ilja Seifert
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Alexander Ulrich
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann

fraktionslose
Abgeordnete

Henry Nitzsche
Gert Winkelmeier

Enthalten

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Monika Lazar

ensammlergesetz bezeich-
de ich ganz sicher bei solch
erwenden. Was immer Ein-
, eines soll jedenfalls sym-
ahressteuergesetz wird ge-
l von Gesetzen ändernd
in der Tat in jedem Fall an-
auch unbedingt notwendig
f EU-rechtliche Vorgaben,

Bereich der Verwaltung
nimmt notwendige Korrek-
ptimierung vor. Deswegen

(Wiesloch) Krista Sager Hellmut Königshaus Oskar Lafontaine

Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel

Priska Hinz (Herborn)

Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Fritz Kuhn
Renate Künast
Undine Kurth (Quedlinburg)

Markus Kurth
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Winfried Nachtwei
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich (Bayreuth)

Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger

Dr. Diether Dehm
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Lutz Heilmann
Hans-Kurt Hill
Cornelia Hirsch
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Hakki Keskin
Monika Knoche






(A) (C)



(B) (D)


Eduard Oswald
führen wir ja auch eine mehrstündige Anhörung zu die-
sem Gesetz durch, um uns jeden einzelnen Punkt noch
einmal anzusehen.

Ich bleibe jetzt einmal beim Begriff „Besenwagenge-
setz“; er gefällt mir so gut. Das, was noch aufgekehrt
werden muss, muss also gewissenhaft und ordentlich be-
seitigt, im Sinne von erledigt, werden. Die Bezeichnung
„Besenwagengesetz“ verdeutlicht aber auch: Dort, wo
der Besen angesetzt wird, gilt es, sauber zu arbeiten.
Trotz der Vielzahl von Gesetzen muss gelten: Gründlich-
keit ist oberstes Handlungsgebot. Das gilt erst recht vor
dem Hintergrund, dass in den vergangenen Jahren durch
die Jahressteuergesetze stets auch bedeutungsvolle Re-
gelungen umgesetzt wurden.

Unser Ziel im Bereich der Finanzpolitik muss es sein,
überflüssige Bürokratie konsequent abzubauen. Eigent-
lich jedes Gesetz muss man dementsprechend prüfen
und schauen, ob das gelingt. Weil Steuergesetze erfah-
rungsgemäß als besonders bürokratieträchtig empfunden
werden, trägt natürlich das Bundesministerium der Fi-
nanzen dabei eine besondere Verantwortung. Aber das
gilt auch für uns Parlamentarier. Wir sind es ja, die letz-
ten Endes die Verantwortung für jedes Gesetz tragen, das
dieses Haus verlässt, und nicht der einzelne Ministerial-
rat, der aufgeschrieben hat, dass dieses und jenes noch
hinein soll, und wozu die Leitung des Hauses möglicher-
weise sagt: Das machen wir halt, um diesem auch noch
einen Gefallen zu tun. – Wir tragen die Verantwortung.
Wenn wir am Schluss sagen: „Das machen wir nicht“,
dann wird es auch nicht gemacht.

So muss es unsere Daueraufgabe sein, in dieses Steu-
errecht Klarheit, Vereinfachung und Transparenz zu
bringen und die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bür-
ger, Steuern zu zahlen, zu erhalten. Nun wissen wir alle,
dass abstrakt alle für Vereinfachung sind. Konkret natür-
lich versucht jeder, auch seine Einzelinteressen immer
wieder durchzusetzen. Das uns vorliegende Jahressteu-
ergesetz 2009 – eine Drucksache mit 146 Seiten – ent-
hält natürlich bedeutsame politische Maßnahmen. Die
Staatssekretärin hat schon auf einige hingewiesen.

Für mich steht an erster Stelle der Ausschluss extre-
mistischer Vereine von der Gemeinnützigkeit. Künftig
gilt: Wenn eine politische Stiftung oder Körperschaft au-
genscheinlich extremistisches Gedankengut fördert,
dann kann sie keine Steuervergünstigung erhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wer gegen die Grundlagen unseres freiheitlichen demo-
kratischen Rechtsstaates und das friedliche Zusammen-
leben in unserem Lande arbeitet, der darf nicht hoffen,
dafür in irgendeiner Weise auch noch vom Staat begüns-
tigt zu werden. Hier gilt es, klare Regelungen zu schaf-
fen.

Ein weiterer Punkt ist – das ist wichtig und immer
wieder anzusprechen –: Durch die Klarstellung und Ver-
besserung bei der steuerlichen Haftungsregelung für
Vereinsvorstände stärken wir das Engagement der ehren-
amtlich Tätigen in diesem Lande.
Das Jahressteuergesetz wird auch das im Koalitions-
vertrag vereinbarte optionale Faktorverfahren bei der
Lohnsteuer von Ehegatten einführen; Frau Staatssekretä-
rin, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie auf diesen Punkt
extra hingewiesen haben. Es schafft damit eine echte Al-
ternative zur bisherigen Lohnsteuerklassenwahl und
sorgt dadurch für mehr Flexibilität. Künftig können die
Steuervorteile für Ehepaare durch das Ehegattensplitting
schon beim Lohnsteuerabzug entsprechend den Einkom-
men verteilt werden.

Bei manchen Vorschlägen, die uns hier vorgelegt wer-
den, haben wir natürlich – dies sage ich für unsere Frak-
tion – noch erheblichen Beratungsbedarf; das hat bereits
ein Durchgang im Finanzausschuss gezeigt.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es!)


Bekanntlich haben wir schon im Vorfeld des Kabi-
nettsbeschlusses erfolgreich auf den einen oder anderen
Punkt hingewiesen. So konnten wir die Pläne, die vorsa-
hen, die steuerliche Absetzbarkeit von Schulgeld voll-
ständig zu streichen, abwenden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Von einer kompletten Streichung der Absetzbarkeit wä-
ren rund 240 000 Schülerinnen und Schüler betroffen
gewesen. Es wäre natürlich ein Eingriff nicht nur in das
private Bildungssystem, sondern in das Bildungssystem
unseres Landes insgesamt.

Natürlich wird der öffentliche Bildungsauftrag in
Deutschland in erster Linie durch staatliche Schulen,
aber auch durch Schulen in freier Trägerschaft abge-
deckt. Das hat in unserem Land eine gute und große Tra-
dition. In meinem Heimatland Bayern beispielsweise
wurde bereits 1919 die anerkannte Privatschule mit An-
spruch auf öffentliche Finanzhilfe geschaffen. Viele Pri-
vatschulen insbesondere in den Großstädten und in der
Trägerschaft der Kirchen sind eben auch für Familien
mit kleinem Einkommen erschwinglich. Mehr als
4 700 private Schulen gibt es in ganz Deutschland, Ten-
denz steigend. Man könnte eigentlich fragen, warum das
so ist, aber das ist eine andere Debatte, Kollege Wissing.

Aus Sicht unserer Fraktion muss auch über die im
Jahressteuergesetz 2009 enthaltene Maßnahme zur Stär-
kung der privaten Altersvorsorge nachgedacht werden.
Dies wäre durch eine Verbesserung der steuerlichen
Rahmenbedingungen bei langfristigen Sparplänen mög-
lich. Zumindest beim langfristigen Sparen für das Alter
ist nicht einzusehen, warum Fonds und Lebensversiche-
rungen steuerlich auf solch erhebliche Weise unter-
schiedlich behandelt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Durch eine konsequente steuerliche Gleichbehand-
lung aller kapitalansparenden Vorsorgeprodukte sollten
meiner Meinung nach Wettbewerbsverzerrungen, An-
reize zu Ausweichreaktionen und Altersvorsorgestrate-
gien, die allein aus steuerlichen Erwägungen getroffen
werden, abgewendet werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Eduard Oswald
Auch in Bezug auf die vorgesehene Änderung der
Dienstwagenbesteuerung im Umsatzsteuerrecht haben
die Länder im Bundesrat auf wichtige Punkte aufmerk-
sam gemacht. Durch die ursprünglich vorgesehene Än-
derung würde eine zusätzliche bürokratische Verkompli-
zierung geschaffen werden. Wir können schließlich nicht
nur über Entbürokratisierung sprechen, sondern wir
müssen auch dafür sorgen, dass bereits komplizierte
Sachverhalte nicht noch komplizierter werden. Deswe-
gen müssen wir das Thema Dienstwagenbesteuerung ge-
nau betrachten. Mir wurde gesagt, davon wären
1,6 Millionen Betriebe betroffen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich komme zum Schluss. – Wir haben noch einige in-
tensive Beratungen vor uns. Diese finden natürlich erst
in der Koalition statt – das will ich gar nicht verschwei-
gen –, dann im Finanzausschuss. Darüber hinaus veran-
stalten wir eine Anhörung. Wir wollen schließlich, dass
unser Steuerrecht nicht nur für die Bürgerinnen und Bür-
ger, sondern auch für die Finanzverwaltung verständlich
und einfach ist. Daran sollten wir gemeinsam arbeiten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1617909700

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen

Burgbacher das Wort.


Ernst Burgbacher (FDP):
Rede ID: ID1617909800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Kollege Oswald, es ist richtig, dass wir hier über
ganz konkrete Dinge diskutieren. Es ist auch notwendig,
dass man manches, was draußen diskutiert wird, dort
diskutiert, wo es hingehört, nämlich hier im Parlament.
Der Tourismusbeauftragte, Ihr CSU-Kollege Hinsken,
fordert landauf, landab die Einführung des reduzierten
Mehrwertsteuersatzes für die Hotellerie.

Im Bundesrat lag ein Antrag des Landes Baden-
Württemberg vor, den Wirtschaftsminister Pfister dort
eingebracht hat. Im Wirtschaftsausschuss hat Bayern
diesen zunächst abgelehnt. Auf massiven Druck auch
der FDP hat Bayern am Freitag im Bundesrat dann zuge-
stimmt. Dieses Spiel ist für die Leute überhaupt nicht
mehr nachvollziehbar. Ich bin der Meinung, wir brau-
chen das. Alle Nachbarländer der Bundesrepublik außer
Dänemark haben den reduzierten Satz, wohingegen wir
den vollen Satz von 19 Prozent verlangen. Ich meine, die
Menschen haben ein Recht darauf, gerade von Ihnen als
Vorsitzendem des Finanzausschusses jetzt eine klare
Aussage zu bekommen: Unterstützen Sie die Forderung
nach Einführung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes
für die Hotellerie – das können wir national in Deutsch-
land machen –, oder unterstützen Sie das nicht? Konkret:
Werden Sie auch nach dem Sonntag dafür sein und einen
Antrag einbringen, oder tun Sie das nicht?


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1617909900

Herr Kollege Oswald, bitte.

Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1617910000

Kollege Burgbacher, zunächst einmal ist die Frage

des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes nicht Gegenstand
dieses Jahressteuergesetzes.


(Ernst Burgbacher [FDP]: Doch! Im Bundesrat war der Antrag!)


– Im Bundesrat ja; aber in diesem Paket ist er nicht ent-
halten. – Zunächst einmal ist es so, dass wir, auch im Fi-
nanzausschuss, vereinbart haben, dass das Thema des er-
mäßigten Mehrwertsteuersatzes auf der Tagesordnung
der Beratungen bleibt. Es wird in Kürze auch ein Be-
richterstattergespräch stattfinden. Sie wissen doch, dass
es zwei Bereiche gibt: Zum einen sind in der Tat Unge-
reimtheiten zwischen ermäßigtem und vollem Mehr-
wertsteuersatz vorhanden. Zum anderen gibt es große
Blöcke, zum Beispiel Gastronomie und Tourismus; aber
auch über viele andere Felder haben wir hier schon dis-
kutiert, beispielsweise Arzneimittel. Wir sichern zu, dass
wir intensiv darüber beraten. Das ist im Augenblick
nicht Gegenstand dieses Verfahrens. Aber wir müssen
natürlich bei all diesen Punkten jeweils auch – da sind
wir uns in der Koalition völlig einig – die Haushalts-
situation im Auge behalten. Bei mancher Absenkung
würden dem Haushalt Milliardenbeträge verlorengehen.

Ich nehme das sehr ernst, was Sie gesagt haben. Aber
ein zweiter Punkt ist: Wenn wir den Mehrwertsteuersatz
absenken, müssen wir auch sicher sein, dass diese Sen-
kung tatsächlich an die Verbraucher, die Bürgerinnen
und Bürger weitergegeben wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1617910100

Nun hat das Wort die Kollegin Dr. Barbara Höll für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617910200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Angesichts des Wustes zum Jahressteuergesetz 2009
fragt man sich als Abgeordneter doch: Ist da wirklich
jede Änderung notwendig? Zum Gesetzentwurf haben
wir schon 13 Änderungsvorschläge, 24 Punkte haben
wir zusätzlich für die öffentliche Anhörung, und der
Presse kann man weitere Änderungswünsche entneh-
men, zum Beispiel das Ansinnen der Union, nun die
hauswirtschaftliche Dienstleistung, also Putzfrauen,
Gärtner usw., für Gutverdienende noch stärker steuerlich
zu subventionieren.

Sicher sind in dem Gesetzentwurf einige Punkte ent-
halten, über die es sich zu diskutieren lohnt. Mich
bewegt am heutigen Tag, gerade nach der morgendlichen
Debatte zur Finanzmarktkrise, die Frage: Wie wird das
konkret umgesetzt in der Gesetzgebung? Herr
Steinbrück hat heute früh gesagt, er wolle eigentlich,
dass die Leerverkäufe verboten werden. Man könnte ja
erwarten, dass im Jahressteuergesetz eine entsprechende
Regelung enthalten ist, aber nein. Im Jahressteuergesetz
finden wir eine Regelung, die das Gegenteil bewirkt:
Jetzt sollen die Verluste aus Stillhaltergeschäften steuer-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Barbara Höll
lich begünstigt werden. Das bedeutet, Verrechnungen
von bis zum Jahr 2009 nicht genutzten Verlusten aus
Stillhaltergeschäften sollen weiter geltend gemacht wer-
den können. Das ist ein weiterer Anreiz, spekulativ tätig
zu sein; denn es wird nicht eingedämmt, sondern sogar
noch steuerlich belohnt.

Gestern war in der Financial Times Deutschland zu
lesen, dass das aktuelle Leerverkaufsverbot der BaFin
seine Wirkung verfehle:


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Haben Sie das selbst gelesen, oder haben es andere gelesen?)


Im Grunde sei die Sperre „blödsinnig“, meinte ein
anderer Händler, der bei diesem heiklen Thema an-
onym bleiben wollte. Man könne trotzdem Aktien
leer verkaufen.

Dann wird man noch belohnt. Das kann doch keine Poli-
tik sein, die wir hier im Hause anstreben sollten!


(Beifall bei der LINKEN)


Bereits mehrfach erwähnt wurde der Aspekt des Ehe-
gattensplittings. Sie unternehmen einen zweiten Ver-
such, die negativen Auswirkungen des derzeitigen Ehe-
gattensplittings meistens auf die Ehefrau, die in die
Lohnsteuerklasse V geht und damit wesentlich höhere
Steuern zahlen muss, abzumildern Aber das ist doch nur
ein Pseudoverfahren. Es ist nicht der einzige Kritikpunkt
zum Ehegattensplitting.

Seien Sie endlich konsequent und nehmen Sie Ihre ei-
genen Forderungen wieder auf! Gerade die Kollegen aus
der SPD waren jahrelang für die Abschaffung des Ehe-
gattensplittings bzw. für dessen Umwandlung, und zwar
so, wie wir es jetzt fordern, nämlich dass der nicht aus-
geschöpfte steuerliche Grundfreibetrag auf den Partner
oder die Partnerin übertragen werden kann. Dann haben
wir eine gerechte Lösung. Es würden dann tatsächlich
Steuermittel frei, die aufgewendet werden können, um
das Kindergeld endlich in einem ersten Schritt auf
200 Euro und perspektivisch auf mindestens 250 Euro
anzuheben.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte noch die von Ihnen angestrebte mögliche
Verlagerung der Buchführung ins Ausland ansprechen.
Letztendlich wollen Sie damit etwas legalisieren, was
bisher im rechtlichen Graubereich schon gemacht wird.
Dieses Politikverständnis kann ich nicht nachvollziehen.
Bisher ist die Buchführung im Ausland aus gutem
Grunde nicht erlaubt. Denn es muss sichergestellt sein,
dass die Finanzverwaltung jederzeit einen Zugriff auf
die entsprechenden Unterlagen hat. Aber in dem Mo-
ment, in dem die Buchführung – auch unter gewissen
Bedingungen – ins Ausland verlagert werden kann, wird
dieses Recht natürlich eingeschränkt. In diesem Zusam-
menhang sind wirklich eine ganze Reihe von Fragen zu
klären.

Lassen Sie mich noch einige Worte zum Schulgeld
verlieren. Man kann daraus leicht ein ideologisches
Thema machen. Aber es ist ein ganz irdisches Thema.
Warum gibt es zum Teil diesen Run auf Privatschulen?
Weil das öffentliche Schulwesen immer mehr unter den
Finanzmängeln zu leiden hat. Das ist ein Ergebnis auch
der Finanzpolitik der Großen Koalition. Denn: Wenn es
weniger Steuereinnahmen gibt, ist weniger Geld für Bil-
dung vorhanden.


(Iris Gleicke [SPD]: Das ist mir neu, dass wir weniger Steuereinnahmen haben!)


Das ist die Situation, vor der wir stehen.

Die öffentlichen Schulen haben weniger Angebote,
was Sprachausbildung und Spezialisierung betrifft. Es
gibt vielfach die Kritik, dass der Schlüssel Lehrer/Schü-
ler nicht ausreichend ist. Deshalb suchen viele Eltern an-
dere Möglichkeiten. Die Lösung sollte aber darin beste-
hen, dass das öffentliche Schulwesen gestärkt wird.

Ich verstehe nicht, warum man nicht auf alle Fälle,
die mit dem Schulgeld vergleichbar sind, eingeht. Es
gibt heute Bundesländer, in denen die Ausbildung für
bestimmte Berufe nur noch von privaten Trägern für viel
Geld angeboten wird. Die anfallenden Kosten kann man
aber nicht absetzen. Schauen Sie einmal nach Sachsen-
Anhalt! Die Regelungen für das Schulgeld müsste man
konsequenterweise auf diejenigen Kosten ausweiten, die
bis zum ersten Berufsabschluss fällig werden. Prinzipiell
denke ich aber, dass es nicht notwendig ist, eine steuerli-
che Förderung in diesem Maße aufrechtzuerhalten.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1617910300

Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Scheel

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617910400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Eduard Oswald hat gesagt, dass Jahressteuergesetze Tra-
dition haben. Das stimmt. Es ist aber leider auch diesmal
so, dass das Jahressteuergesetz sehr viele Regelungen
beinhaltet, die nicht zu einem Abbau von Bürokratie im
Steuerrecht führen. Es beinhaltet auch sehr viele Rege-
lungen, die nicht zu einer signifikanten Entlastung von
Bürgern und Bürgerinnen führen.

Das Jahressteuergesetz umfasst 146 Seiten. Es gibt
eine Vielzahl von Änderungswünschen, die vonseiten
der Koalition eingebracht worden sind. Daran sieht man,
dass es innerhalb der Koalition zu unterschiedlichen
Punkten noch unterschiedliche Auffassungen gibt. Ich
bin gespannt, wie sich da die Diskussionen entwickeln.
Auch Vorschläge vonseiten der Opposition werden wir
im Finanzausschuss zu diskutieren haben.

Aufgrund der Tatsache, dass wir es mit diesem Jah-
ressteuergesetz mit einer sehr großen Anzahl von Rege-
lungen zu tun haben, möchte ich mich auf drei Punkte
konzentrieren.

Der erste Punkt. Wie gehen wir in Zukunft damit um,
dass wir für die gemeinsam veranlagten Ehepartner un-
terschiedliche Belastungseffekte bei der Lohnsteuer ha-
ben?






(A) (C)



(B) (D)


Christine Scheel
Sie haben jetzt zum zweiten Mal versucht, dieses
Thema anzugehen. Sie haben zum zweiten Mal ein Ver-
fahren vorgeschlagen. Wir sagen allerdings, dass dieses
neue Faktorverfahren für den Lohnsteuerabzug nicht der
richtige Weg ist. Zukünftig müssen bei den Finanz-
ämtern die voraussichtlichen Bruttolöhne der Eheleute
ermittelt werden und auf das Jahr hochgerechnet wer-
den. Dann muss die Gesamtsteuer ohne Splittingverfah-
ren ermittelt werden. Dann muss die Gesamtsteuer mit
Splittingverfahren ermittelt werden. Dann wird der Fak-
tor ermittelt und eingetragen. Damit ist es aber noch
nicht vorbei; denn dann müssen beide eine Steuererklä-
rung ausfüllen. Das heißt, die Pflicht, eine Steuererklä-
rung abzugeben, wird damit ebenfalls ausgelöst, was
man an der einen oder anderen Stelle so auch nicht
brauchte. Da sage ich: Bürokratieabbau, verehrte Kolle-
gen und Kolleginnen, schaut anders aus.

Ich frage mich, wer diese Regelung in Anspruch neh-
men wird; denn sie bewirkt im Regelfall – es gibt ein
paar positive Beispiele, die die Frau Staatssekretärin ge-
nannt hat; das sind aber ganz wenige –, dass die Lohn-
steuerzahlung über das Jahr hinweg höher ist als ohne
diese Regelung. Trotzdem müssen die Unternehmen eine
neue Lohnsteuerabrechnungssoftware vorhalten. Das ist
ein Mehraufwand für nichts.

Das Verfahren, so finden wir, ist unverhältnismäßig
und ungeeignet. Wir haben vonseiten der Grünen im Zu-
sammenhang mit dem Ehegattensplitting schon längst
bessere Vorschläge eingebracht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch datenschutzrechtlich ist die Regelung äußerst
bedenklich. Sie sagen, das Ganze sei eine Option; aber
der erste Vorschlag, den Sie gemacht hatten, war auch
eine Option. Damals haben Sie aufgrund der daten-
schutzrechtlichen Bedenken, die zu Recht vorgebracht
worden sind, Ihren Vorschlag zurückgezogen und Ihre
Regelung ad acta gelegt. Jetzt haben Sie einen Vorschlag
gemacht, der diese Problematik wieder beinhaltet.

Ein zweites Beispiel, bei dem wir glauben, dass die
Regelung nicht so ist, wie sie sein müsste, ist das Schul-
geld. Es wurde zu Recht gesagt, dass es gut ist, dass die
Regierung ihrer ursprünglichen Idee, das Schulgeld
überhaupt nicht mehr vom Steuerabzug erfassen zu las-
sen, durch die neue Vorlage nicht mehr nachgehen will.
Das heißt, Sie haben jetzt eine Änderung vorgenommen.

Private Schulen erhalten – das wissen Sie – ein Vier-
tel weniger staatliche Unterstützung als die öffentlichen
Schulen. Der Rest muss von den Familien durch Schul-
geldzahlungen finanziert werden. Deswegen ist es rich-
tig, dass man aufgrund der Ungleichbehandlung von
privaten Schulen und Schulen, die ganz vom Staat finan-
ziert werden, einen Ausgleich schafft. Wir haben von
grüner Seite darauf hingewirkt, dass es zu der Streichung
der ursprünglichen Idee gekommen ist.

Aber berufsbildende Ersatzschulen fallen aus dem
Steuerabzug ganz heraus. Wenn wir alle der Meinung
sind, dass Bildung ein ganz wichtiger Standortfaktor ist,
dass wir eine Vielfalt an Schulformen brauchen, dass wir
in der globalisierten Wirtschaft und angesichts des de-
mografischen Umbruchs gut ausgebildete und qualifi-
zierte Bürger und Bürgerinnen haben wollen, wenn man
Wohlstand und Wachstum erhalten will, ist es ein Muss,
dass man bestimmte Schulformen nicht ausschließt.

Diese Regelung kritisieren wir, genauso, wie wir an-
dere Vorschläge kritisieren. Wir werden Ihnen das im
Verfahren im Einzelnen vorlegen, auch mit Änderungs-
wünschen; das habe ich schon angekündigt. Wir sind da
sehr konstruktiv.

Es gibt auch im Zusammenhang mit den Standorten
von Windkraftanlagen und Solaranlagen einiges zu tun,
was die Gewerbesteuerzerlegung anbelangt. Ich hoffe,
dass wir da zu einer gemeinsamen Lösung kommen. So,
wie das Gesetz heute ist, verhindert es, dass sich manche
Bürgermeister und Gemeinderäte für einen Standort ent-
scheiden, weil die Gemeinden gewerbesteuerlich nichts
davon haben.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617910500

Kollegin Scheel, achten Sie bitte auf die Zeit.


Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617910600

Letzter Satz, Frau Präsidentin: Denn die Steuern wer-

den nicht am Standort gezahlt, sondern dort, wo der Sitz
des Unternehmens ist. Das ist im Zusammenhang mit
der Entwicklung der regenerativen Energien ein steuer-
politisch falscher Anreiz. Das gilt es zu ändern. Da wer-
den wir unsere Vorschläge einbringen.

Danke schön.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617910700

Das Wort hat die Kollegin Gabriele Frechen für die

SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gabriele Frechen (SPD):
Rede ID: ID1617910800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich bin Herrn Oswald dankbar dafür, dass er
Herrn Wissing klargemacht hat, was ein Jahressteuerge-
setz ist. Offensichtlich hat Herr Wissing überhaupt nicht
kapiert, was mit dem Jahressteuergesetz bezweckt wird.
Herr Oswald, Kompliment zu Ihrer Einführung in dieses
Thema.

Von Herrn Dr. Wissing habe ich endlich erfahren, was
ich ideologisch zu denken habe. Ich muss ja richtig froh
sein, dass es Sie gibt. Sonst wüsste ich gar nicht, dass die
Privatschule für mich ein ideologisches Problem ist.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Sonst würden Sie ja nicht so ein Gesetz unterstützen!)


Das ist es aber nicht.
Ich möchte am Beginn meiner Rede auf das Thema

Schuldgeld eingehen, weil es hier schon mehrfach ange-
sprochen wurde. Die Damen Höll und Scheel kann ich
beruhigen: Auch wir arbeiten an einer Änderung, damit
berufsbildende Schulen einbezogen werden können. –
Einverstanden!


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Gabriele Frechen
Die Absetzbarkeit des Schulgeldes war immer auf
30 Prozent begrenzt, ohne Deckel. Jetzt hat man in Brüs-
sel festgestellt: Es widerspricht europäischem Recht,
wenn nur Schulgeld für Schulen in Deutschland steuer-
lich geltend gemacht werden kann. Ich halte es für abso-
lut legitim, wenn wir überlegen, wie wir es schaffen, die
Schulgelder für fast alle deutschen Schulen in das Gesetz
einzubeziehen. Das Schulgeld für Privatschulen in
Deutschland liegt bei ungefähr 10 000 Euro pro Jahr.
Wir decken also fast alle Schulen in Deutschland ab, ma-
chen aber einen Deckel darauf. Ich habe mir sagen las-
sen, dass es im europäischen Ausland Privatschulen gibt,
die deutlich teurer als die in Deutschland sind. Das
Schulgeld für diese Schulen müssten wir komplett, ohne
Begrenzung in Deutschland zum steuerlichen Abzug zu-
lassen. Das kann ja wohl nicht richtig sein. Deshalb
diese Änderung im Gesetz, die ich sehr wohl unterstütze.

Auch die Steuerklasse V war schon Thema. Die Frau
Staatssekretärin hat in dieses Thema eingeführt. Es
stimmt: Wir wollen eine neue Besteuerung von Ehegat-
ten. Frau Dr. Höll, diese Form ist nicht nur ein bisschen
gerechter. Zum ersten Mal wird es mit diesem Faktorver-
fahren gelingen, eine individuelle Besteuerung mit Split-
tingvorteil hinzubekommen. Künftig werden die Ehegat-
ten, die Steuerklasse V haben, weil sie das niedrigere
Einkommen beziehen, just das an Steuern zahlen, was in
der gemeinsamen Steuererklärung auf sie entfällt.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617910900

Kollegin Frechen, gestatten Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Höll?


Gabriele Frechen (SPD):
Rede ID: ID1617911000

Ja.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617911100

Frau Kollegin Frechen, stimmen Sie mir zu, dass ers-

tens unser Vorschlag trotzdem wesentlich konsequenter
ist und zweitens bei Ihrem Vorschlag das Einvernehmen
beider Ehepartner Voraussetzung ist, Sie nach Aussage
der Parlamentarischen Staatssekretärin selbst damit
rechnen, dass nur etwa 5 Prozent aller Ehepaare Ihren
Vorschlag annehmen werden, und der von Frau Scheel
aufgeführte bürokratische Aufwand in keinem Verhältnis
dazu steht, insbesondere weil man eine einfache und
klare Lösung durchsetzen könnte?


Gabriele Frechen (SPD):
Rede ID: ID1617911200

Was die Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung an-

belangt, ist der bürokratische Aufwand bei der Lohn-
steuerklassenkombination III und V genauso gegeben
wie beim Faktorverfahren. Auch diese Paare sind ver-
pflichtet, eine Steuererklärung abzugeben.

Gerechter ist das, was Sie vorschlagen, nicht. Auch
nach Ihrem Vorschlag hätte jeder Ehegatte ab einem Ein-
kommen von 900 Euro unterjährig und nicht erst am
Ende des Jahres den auf ihn anfallenden Steueranteil zu
zahlen. Einer der Kernkritikpunkte am Anteilsverfahren
war, dass auch bei einem Einkommen von weniger als
900 Euro Steuern hätten gezahlt werden müssen. Auch
in Steuerklasse V müssen selbstverständlich Steuern ge-
zahlt werden. Wenn aber laut individueller Besteuerung
keine Steuern zu zahlen sind, sind auch nach dem Fak-
torverfahren keine zu zahlen. Das ist der Vorteil für die
Bezieher ganz geringer Einkommen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der SPD: Das war ein kostenloser Informationshinweis!)


Lassen Sie mich ein Wort zum steuerlichen Querver-
bund sagen. Ich denke, die Kommunalpolitiker unter uns
sind der Meinung, dass das ein richtig großer Wurf ist.
Wir sind alle sehr froh, dass das schon im Gesetz steht,
sonst hätten wir es nämlich selbst hineinschreiben müs-
sen. Aber es steht schon im Entwurf der Regierung.

Privat vor Staat – das ist ein Slogan der schwarz-gel-
ben Landesregierung in Nordrhein-Westfalen. Er stimmt
nicht, und er nützt nie den Bürgerinnen und Bürgern,
sondern immer nur den Unternehmen. Deshalb bin ich
froh, dass der steuerliche Querverbund bleibt und dass
die Daseinsfürsorge mit Gewinnen aus kommunalen Be-
trieben weiter finanziert werden kann. Ich halte über-
haupt nichts davon, Kommunen in ihrer wirtschaftlichen
Betätigung einzuschränken, die Verluste aus dem ÖPNV
und der Daseinsfürsorge in der Kommune zu lassen und
alles andere, was in der Kommune Gewinn bringt, zu
privatisieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Diese Haltung habe ich im Übrigen auch zu den Spar-
kassen und zum Sparkassengesetz in Nordrhein-West-
falen. Auch da macht „Privat vor Staat“ überhaupt kei-
nen Sinn.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der FDP: Gutes Gesetz!)


Ich möchte zwei Punkte zur Gemeinnützigkeit an-
sprechen. Ich unterstütze Herrn Oswald, wenn er sagt:
Es kann nicht sein, dass Vereine


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wir sind ein gutes Team!)


– habe ich jemals etwas anderes gesagt, Herr Kollege? –,
die nicht auf dem Boden unserer freiheitlichen demokra-
tischen Grundordnung stehen, begünstigt werden. Das
ist zwar schon heute die geltende Verwaltungspraxis,
aber es ist deutlicher, wenn es im Gesetz verankert ist.
Das machen wir jetzt.

Weiter legen wir fest, dass gemeinnützige Vereine
und gemeinnützige Stiftungen einen Bezug zum Allge-
meinwohl im Inland haben müssen. Eine italienische
Stiftung, die in der Schweiz gemeinnützig tätig ist und in
Deutschland nur Vermietungseinkünfte hat, erfüllt diese
Voraussetzungen eindeutig nicht. Inländische gemein-
nützige Vereine, die im In- und/oder Ausland Gutes tun,
sind von dieser Regelung überhaupt nicht betroffen.
Bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt sind für
uns Ehrensache. Deshalb versichere ich den gemeinnüt-
zigen Vereinen: Wir werden alle diesbezüglichen Beden-






(A) (C)



(B) (D)


Gabriele Frechen
ken aufnehmen und gemeinsam mit Ihnen eine zweifels-
freie Formulierung finden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Außerdem – klein aber fein – werden wir den Arbeiter-
Samariter-Bund in den Katalog der Verbände der freien
Wohlfahrtspflege aufnehmen.

Frau Dr. Höll, Sie sprachen die Bedingungen an, un-
ter denen Buchführungen ins Ausland verlegt werden
können. Ein bisschen stimme ich mit Ihnen überein.
Wenn es denn so ist, dass wir heute internationale Ver-
flechtungen haben, dann darf es auf keinen Fall sein,
dass der, der seine Buchführung im Ausland macht, bes-
sere Bedingungen hat als der, der sie im Inland macht.
Es kann nicht sein, dass der Zugriff für die Finanzbehö-
riden nicht genau wie in Deutschland jederzeit gewähr-
leistet ist. Deshalb werden wir uns diese Vorschrift ganz
genau anschauen.

Wir werden die Zusagen aus der Unternehmensteuer-
reform für Leasing- und Factoringunternehmen und be-
züglich der Aufhebung des Organschaftsverbots zwi-
schen Kranken- und Lebensversicherungen erfüllen.

Dann gibt es noch einen für mich ganz wichtigen
Punkt, den wir in das Gesetzgebungsverfahren einbrin-
gen werden. Das betrifft die Besteuerung von Dividen-
den und Veräußerungserlösen bei Streubesitz. Derzeit
gilt für Dividende, die ins europäische Ausland gezahlt
wird, eine abgeltende Steuer in Höhe von 20 Prozent. Im
Inland ansässige Unternehmen können diese Kapital-
ertragsteuer hingegen mit der Körperschaftsteuer ver-
rechnen. Das wurde im Vertragsverletzungsverfahren
von der Europäischen Kommission als nicht europakon-
form angesehen. Handeln wir nicht, steht uns eine Klage
vor dem EuGH ins Haus.

Nach europäischem Recht haben wir zwei Möglich-
keiten: Wir stellen alle In- und Ausländer frei oder wir
machen beide Gruppen steuerpflichtig. Der Unterschied
beträgt rund 1,5 Milliarden Euro. Ich denke, angesichts
des guten Wegs der Haushaltskonsolidierung, auf dem
sich diese Große Koalition befindet, muss man sich nicht
lange fragen, wie wir uns entscheiden. Wir werden diese
Steuerpflicht für Dividenden- und Veräußerungserlöse
bei Streubesitz in diesem Gesetzgebungsverfahren ein-
führen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617911300

Das Wort hat die Kollegin Antje Tillmann für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Antje Tillmann (CDU):
Rede ID: ID1617911400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Kollege Dr. Wissing, Sie haben einleitend gesagt,
dieses Jahressteuergesetz sei ein Gesetz, das das Finanz-
ministerium sich ausgedacht habe, das im Sinne der Fi-
nanzbehörden sei, aber nicht im Sinne der Steuerpflichti-
gen. Ich weiß nicht, mit welchem Finanzbeamten Sie
diese Meinung besprochen haben. Ich kann Ihnen an we-
nigen Beispielen aufzeigen, dass dieses Gesetz – ganz
im Gegenteil – viele Belastungen für die Finanzverwal-
tungen bringt, um gerade Steuerpflichtige zu entlasten.

Ich fange an mit dem Beispiel steuerliche Haftungsre-
gelungen für Vereinsvorstände. Sie können mir glauben,
dass es wesentlich einfacher ist, einen Haftungsbescheid
gegen eine natürliche Person zu erlassen als gegen einen
Vorstand. Trotzdem waren wir uns einig, dass wir gerade
wegen der ehrenamtlichen Tätigkeit vieler Menschen
diese Haftungsrisiken begrenzen wollen. Die Regelung,
die mittlerweile vorgeschlagen ist, wird in den allermeis-
ten Fällen dazu führen, dass der Schatzmeister des
Sportvereins, des Kulturvereins eben nicht in die Situa-
tion kommt, dass gegen ihn haftungsrechtlich ermittelt
werden muss


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Aber eben nicht in allen Fällen!)


und dass er tatsächlich Vermögensschäden hat.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Volker Wissing [FDP]: Aber Sie behalten die verschuldensunabhängige Haftung bei!)


Noch weiter gehende Regelungen halte ich insofern
für bedenklich – auch das muss man sagen –, als jedem
Empfänger einer Steuerbescheinigung zu fast 50 Prozent
allgemeine Steuermittel zukommen müssen. Deshalb
sehe ich überhaupt keinen Sinn darin, dass das leichtfer-
tig gemacht wird. Wir müssen schon sicherstellen, dass
Spendenbescheinigungen ordnungsgemäß sind.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Aber da braucht man doch keine verschuldensunabhängige Haftung!)


Ich glaube, da haben wir einen guten Kompromiss ge-
funden. Die Finanzbehörde wird sich dem beugen, weil
sie sieht, dass sie damit gemeinnützige Tätigkeit unter-
stützt.

Das Faktorverfahren ist ein zweites Beispiel. Kein Fi-
nanzbeamter kann Interesse daran haben, dieses Verfah-
ren einzuführen, weil der Beratungsaufwand in Zukunft
natürlich steigen wird. Trotzdem haben wir gesagt: Wir
wollen dieses Faktorverfahren. Dafür gab es zwei
Gründe: zum einen, weil wir die Erwerbstätigkeit von
Frauen, die nur eine Halbtagstätigkeit aufnehmen möch-
ten, erleichtern wollten, und zum anderen, weil die Wahl
der Steuerklasse teilweise endgültige finanzielle Auswir-
kungen hat, zum Beispiel beim Arbeitslosengeld oder
beim Elterngeld. Auch hier ging es nicht um das Inte-
resse der Finanzbehörden, sondern um das der Bürgerin-
nen und Bürger, die mit diesen Problemen auf uns zuge-
kommen sind und die deshalb gesagt haben: Sie müssen
das ändern. In diesem Sinne werden wir das Jahressteu-
ergesetz 2009 ausgestalten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Antje Tillmann
Nächstes Beispiel: Auslandstätigkeit steuerbegünstig-
ter, gemeinnütziger, mildtätiger oder kirchlicher Organi-
sationen. Frau Frechen hat darauf hingewiesen, wie das
Gesetz zu lesen ist. Trotzdem, liebe Kollegin Frechen,
müssen wir aufgrund dessen, dass Herr Dr. Wissing das
Ganze offensichtlich nicht verstanden hat, einmal über
die Formulierung nachdenken. Das meine ich jetzt gar
nicht böse; die Vereine haben die Regelung schließlich
teilweise auch nicht verstanden. Es geht eben nicht um
die Fälle, die Sie hier aufgeführt haben, sondern es geht
einzig und allein um den Fall, dass eine gemeinnützige
Organisation mit Deutschland überhaupt nichts zu tun
hat, weswegen wir keinen Anlass dazu sehen, eine Steu-
erbegünstigung durchzusetzen. Wir haben vom Finanz-
ministerium schon das Signal bekommen, dass wir über
die Formulierung nachdenken sollten. Ich bin sicher:
Am Ende der Anhörung können Sie diesem Vorschlag,
wenn Sie es wollen, zustimmen.

Liebe Frau Kollegin Höll, was haben Sie für ein so-
ziales Menschenbild? Ganz offensichtlich ist es für Sie
besser, als Reinigungsfrau unversichert, ohne Kranken-
versicherung und ohne Rentenversicherung zu arbeiten
als sozialversicherungspflichtig bei einem bösen Rei-
chen.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wieso denn? Blödsinn! Ich muss es aber nicht steuerlich subventionieren!)


Sie wissen doch, dass das Leben ganz anders ist, als Sie
es sich theoretisch vorstellen. Die Situation ist doch so,
dass in diesem Bereich die höchste Schwarzarbeitsquote
ist und dass Reinigungsfrauen tatsächlich schon heute
schwarz und ohne Unfallversicherung arbeiten. Wir wol-
len das nicht sehenden Auges hinnehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir wollen, dass auch diese Reinigungsfrauen ein sozi-
alversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis haben. Wir
sind bereit, dazu Anreize zu setzen, nämlich im Sinne
dieser Frau, im Sinne des Gärtners, im Sinne der Kinder-
betreuerin, die selbstverständlich ein Recht darauf ha-
ben, einen ordentlichen Arbeitsplatz zu haben und nicht
in der Schwarzarbeit zu landen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das sitzt! Das schreibt ihr euch hinter die Ohren! – Zuruf der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE])


Stichwort „Verlagerung der elektronischen Buchfüh-
rung“. Es ist immer gut, wenn man nach einer ersten Le-
sung – –


(Weiterer Zuruf der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE])


– Ich kann mich kaum konzentrieren, wenn Sie immer
dazwischenreden. Ich gebe Ihnen gern die Gelegenheit,
etwas zu sagen, wenn ich meinen Gedanken zu Ende ge-
führt habe. – Auch da ist es gut, dass wir uns in der An-
hörung das Gesetz noch einmal vornehmen. Sie haben
gesagt: Es kann nicht sein, dass bei einer Verlagerung
der elektronischen Buchführung ins Ausland auf Daten
nicht mehr zugegriffen werden kann. Das verlangt auch
keiner; das ist auch gar nicht vorgesehen. Ein Blick in
das Gesetz, das wir heute beraten, hilft. Da steht nämlich
ganz klar, dass eine solche Verlagerung nur zulässig ist
– ich zitiere –, wenn „der Datenzugriff … in vollem Um-
fang möglich ist“. Ich denke, wir können Ihnen in der
Anhörung die Gelegenheit geben, da nachzufragen. Ich
bin gerne bereit, Ihnen den Passus zukommen zu lassen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617911500

Kollegin Tillmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?


Antje Tillmann (CDU):
Rede ID: ID1617911600

Ja.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617911700

Bitte.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617911800

Frau Tillmann, ich möchte nachfragen, welches Men-

schenbild Sie haben. Wenn jemand ein so hohes Einkom-
men hat, dass er es sich leisten kann, eine Haushaltshilfe
zu beschäftigen, dann ist das gut. Aber haben Sie die
Vorstellung, dass die Menschen, die viel haben und es
sich sowieso leisten können, das nur machen, wenn wir
ihnen als Gemeinschaft einen Teil ihrer Lohnausgaben
steuerlich erstatten? Das ist das Prinzip „Haltet den
Dieb!“, aber gleichzeitig wirft man noch etwas hinterher.


(Beifall bei der LINKEN)


Es geht nicht um die Schwarzarbeit der Putzfrau. Vo-
raussetzung ist aber, dass sie jemand anstellt, und genau
darum geht es. Wenn jemand sagt, er stellt die Putzfrau
nur sozialversicherungsrechtlich abgesichert ein, dann
ist das eine ganz andere Situation. Aber hier der Putzfrau
den Schwarzen Peter zuzuschieben, ist eine Unver-
schämtheit.


(Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Das hat sie doch gar nicht gesagt! – Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Nicht verstanden!)


Da habe ich ein anderes Menschenbild.


(Beifall bei der LINKEN)



Antje Tillmann (CDU):
Rede ID: ID1617911900

Ich habe niemandem den Schwarzen Peter zugescho-

ben. Ich habe vielmehr Sie gebeten, aus Sicht der Reini-
gungsfrau einmal zu überprüfen, welche Interessen sie
hat. Ich glaube, der Reinigungsfrau ist es völlig egal, ob
ihr Arbeitgeber ein Unternehmen oder ein privater Haus-
halt ist. Die Hauptsache ist doch, dass diese Reinigungs-
frau eine sozialversicherungspflichtige Anstellung mit
der Absicherung hat, die ich mir wünsche. Das werden
wir fördern.

Ich bin sicher, dass wir den guten Ansatz, der schon
sichtbar geworden ist, weiterverfolgen werden. Ich weiß,
dass wir da noch nicht ganz auf einer Linie mit dem Ko-
alitionspartner sind. Die Gespräche hierüber werden wir
fortführen. Ich glaube, dass beide, SPD und CDU/CSU,






(A) (C)



(B) (D)


Antje Tillmann
die Reinigungsfrau als Allererstes im Blick haben und
dass wir für sie etwas erreichen wollen,


(Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Richtig!)


damit sie eine Absicherung für die Zukunft hat, auch
wenn sie in einem privaten Haushalt arbeitet.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das Thema strafrechtliche Verjährungsfristen wird
sehr kritisch diskutiert. Liebe Frau Kollegin Kressl, ich
stimme nicht ganz mit Ihnen überein, dass die fünfjäh-
rige Verjährungsfrist ein Zeichen für ein Kavaliersdelikt
ist. Fünf Jahre sind ein langer Zeitraum. Aber wir sind
uns schnell wieder darin einig, dass es das allein sowieso
nicht bringen wird. Am besten hilft gegen Steuerhinter-
ziehung, wenn derjenige, der es tut, damit rechnen muss,
entdeckt zu werden.

Hier kämpfen wir gemeinsam in der Föderalismus-
kommission darum, die Steuerverwaltung effektiver zu
machen. Bund und Länder müssen hier zusammenarbei-
ten. Gestern haben wir dabei die ersten Erfolge erzielt
und erreicht, dass bei den Steuerhinterziehungstatbestän-
den und auch bei den Betriebsprüfungen noch enger zu-
sammengearbeitet wird. Darauf sollten wir für die Zu-
kunft einen Schwerpunkt setzen.

Es werden in der Anhörung noch einige andere
Punkte zur Diskussion stehen, die heute noch nicht er-
wähnt worden sind. Frau Kollegin Kressl hat darauf hin-
gewiesen, dass wir auch das Engagement von Arbeitge-
bern zur Gesundheitsfürsorge unterstützen wollen. Es
gibt auch das Anliegen aus dem Bundesrat, Steuerfrei-
heit für Aufwandsentschädigungen für die dauerhafte
Pflege von volljährigen Menschen mit Behinderungen
zu schaffen. Wir werden das diskutieren und die Auswir-
kungen besprechen.

Weiterhin gibt es das Anliegen aus dem Bundesrat
– das betrifft insbesondere die Kommunen –, bei struktu-
rellem Leerstand die Voraussetzungen für einen Grund-
steuererlass zu schaffen. Dieses Problem führt bei
manchen ostdeutschen Kommunen zu erheblichen Ein-
brüchen. Hier müssen wir im Rahmen der Anhörung zu-
sammen mit den Kolleginnen und Kollegen nach Lösun-
gen suchen, um den Kommunen Sicherheit zu geben,
damit sie auf die Steuern, die sie eingeplant haben, tat-
sächlich zurückgreifen können, um Leistungen wie Kin-
derbetreuung, Schulverpflegung sowie die Sanierung
von Straßen und Jugendhäusern erbringen zu können.

Ich freue mich auf die weitere Diskussion und sehe,
dass wir noch erheblichen Beratungsbedarf haben.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617912000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/10189 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den
Sportausschuss vorgeschlagen. Gibt es dazu anderwei-
tige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b sowie
Zusatzpunkt 7 auf:

7 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Moder-
nisierung des Vergaberechts

– Drucksache 16/10117 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Lötzer, Werner Dreibus, Dr. Diether Dehm, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Tariftreue europarechtlich absichern

– Drucksache 16/9636 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Martin Zeil, Birgit Homburger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Novellierung des Vergaberechts für Bürokra-
tieabbau nutzen – Bundesweit einheitliches
Präqualifizierungssystem für Leistungen ein-
führen

– Drucksache 16/9092 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Rechtsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parla-
mentarische Staatssekretärin Dagmar Wöhrl.

D
Dagmar G. Wöhrl (CSU):
Rede ID: ID1617912100


Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Der Gesetzentwurf zur Modernisierung des Vergabe-
rechts liegt jetzt vor. Der Abstimmungsprozess war nicht
einfach. Es ging vor allem darum, unser komplexes Ver-
gaberecht zu modernisieren und zu vereinfachen. Sehr
wichtig war für uns, dass wir zu einer mittelstandsge-
rechten Ausgestaltung gekommen sind.

Es gab viele Diskussionen, vor allem im Zusammen-
hang mit den sogenannten vergabefremden Aspekten.
Ich glaube, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf haben






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretärin Dagmar Wöhrl
wir es geschafft, viele Unsicherheiten, die bis jetzt be-
standen haben, zum Beispiel Unsicherheiten bei der
Rechtsauslegung, zu beseitigen. Zudem erfordern die
europäischen Richtlinien bekanntlich weitere Anpassun-
gen der deutschen Regelungen.

Wichtig war uns, dass wir bei der Vergabe öffentli-
cher Aufträge ein transparentes Verfahren bekommen.
Wichtig war uns auch, dass die Wirtschaftlichkeit bei der
Beschaffung gewährleistet und der Wettbewerb um die
Aufträge gestärkt wird. Hier haben wir ein Gleichge-
wicht hergestellt; das ist gut.

Ich möchte auf einige Kernelemente des Gesetzent-
wurfes eingehen. Ich glaube, eines seiner wichtigsten
Elemente ist, dass eine gesetzliche Pflicht zur Aufteilung
der Aufträge in Lose vorgesehen ist. Eine Gesamtver-
gabe soll zukünftig nur noch aus besonderen wirtschaft-
lichen oder technischen Gründen möglich sein. Somit
stärken wir die Mittelstandsklausel; das hatten wir von
Anfang an vor. In Zukunft ist sie im Rahmen der Nach-
prüfung überprüfbar.

Die Vergabepraxis hat gezeigt, dass die Mittelstands-
klausel bis jetzt nicht den gewünschten Effekt hatte.
Nachfragen der öffentlichen Stellen werden immer häu-
figer derart gebündelt, dass kleinere Betriebe keine An-
gebote abgeben können, vor allem deshalb, weil sie nicht
über dieselben Ressourcen wie andere, größere Unter-
nehmen verfügen.

Es ist richtig, dass im Koalitionsvertrag und in den
Leitlinien der Bundesregierung explizit gefordert wurde,
die Vergabe öffentlicher Aufträge zukünftig mittel-
standsfreundlich auszugestalten. Ein weiterer wichtiger
Punkt war für uns, dafür zu sorgen, dass möglichst viele
mittelständische Betriebe die Möglichkeit haben, sich
um öffentliche Aufträge zu bewerben.

Am Anfang meiner Rede habe ich bereits darauf hinge-
wiesen, dass die sogenannten vergabefremden Aspekte
ein großer Diskussionspunkt waren. Im Gesetzentwurf
haben wir die wichtige Klarstellung getroffen, dass bei
der Vergabe öffentlicher Aufträge auch soziale, umwelt-
bezogene und innovative Aspekte berücksichtigt werden
können; ich betone das Wort „können“. Ich denke, diese
Kriterien müssen in einem sachlichen Zusammenhang
mit dem Auftragsgegenstand gesehen werden. Vor allem
müssen sie allen bekannt sein. Die Formulierung des Ge-
setzentwurfes knüpft an die gemeinschaftsrechtlichen
Vorschriften an und entspricht somit dem europäischen
Standard. Eine weitere wichtige Klarstellung ist, dass
bestimmte städtebauliche Maßnahmen und bestimmte
Formen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit nicht
mehr dem Vergaberecht unterliegen.

Noch eine kurze Bemerkung zum Antrag der Fraktion
Die Linke. Frau Lötzer, Sie gehen in Ihrem Antrag expli-
zit auf das Urteil des EuGH vom April dieses Jahres ein.
In diesem Urteil des EuGH wird für die Auftraggeber
und die Auftragnehmer bei öffentlichen Bauaufträgen
Klarheit geschaffen. Dieses Urteil besagt aber nicht, dass
Tariftreueregelungen bei der Vergabe öffentlicher Auf-
träge unzulässig sind; ich weiß nicht, ob Ihnen dieser
Zusammenhang klar war. Vielmehr wird in diesem Ur-
teil im Einzelnen beschrieben, welche Bedingungen er-
füllt sein müssen, damit eine Tariftreueregelung zur An-
wendung kommt.

Aus wirtschaftspolitischer Sicht ist dieses Urteil zu
begrüßen. Wie wir wissen, sind hier die Länder in der
Pflicht und gefordert. Vergaberecht ist Einkaufsrecht; ich
glaube, das sollte uns allen klar sein. Es ist aber kein In-
strument, mit dem man versuchen sollte, Mindestlöhne
durch die Hintertür einzuführen.

Liebe Kollegen, unser Gesetzentwurf enthält ausge-
wogene Regelungen. Er würdigt die Interessen der
Marktteilnehmer auf beiden Seiten. Ich kann festhalten:
Die Bundesregierung hat ihren Teil dazu beigetragen,
dass wir eine anwenderfreundliche Ausgestaltung der öf-
fentlichen Beschaffung erreicht haben. Jetzt sind die
Verdingungsausschüsse gefragt. Ich hoffe, dass diejeni-
gen, die die VOB und die VOL regeln, sich ihrer Verant-
wortung dann auch bewusst werden.

In dem Sinne: Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617912200

Das Wort hat der Kollege Paul Friedhoff für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Paul K. Friedhoff (FDP):
Rede ID: ID1617912300

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Anlässlich der
ersten Beratung des Regierungsentwurfs werde ich mich
für die Bundestagsfraktion der FDP im Wesentlichen auf
die Perspektive der mittelständischen Unternehmen kon-
zentrieren.

Wir begrüßen zunächst die Klarstellung – das hat we-
niger mit dem Mittelstand zu tun –, dass die Grund-
stücksverkäufe nicht dem Vergaberecht unterliegen sol-
len, auch wenn sie mit städtebaulichen Auflagen an die
Investoren verbunden sind. Das bedeutet ein Stück
Rechtssicherheit und ist sicher auch angemessen.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU])


Die Mittelstandsklausel ist ein begrüßenswerter An-
satz zur beabsichtigten Stärkung kleiner und mittlerer
Unternehmen. Die bisher im Gesetz enthaltene Auffor-
derung, mittelständische Interessen angemessen zu be-
rücksichtigen, hat sich als nicht sehr wirkungsvoll erwie-
sen, wie die Frau Staatssekretärin gerade auch
festgestellt hat.

Mit der verstärkten Aufteilung von Aufträgen in Teil-
und Fachlose kann einem deutlich größeren Kreis von
Unternehmen die Möglichkeit der Teilnahme an Aus-
schreibungen eröffnet werden. Deshalb ist diese Auftei-
lung in Einzellose für uns als Regelfall vorzusehen.
Wenn davon aus technischen oder wirtschaftlichen
Gründen abgewichen werden soll, muss dies begründet
werden. Eine Einzelfallbetrachtung ist auf jeden Fall nö-
tig, da eine pauschale Aussage nicht möglich ist. Die






(A) (C)



(B) (D)


Paul K. Friedhoff
unterschiedlichen Ausschreibungen sind einfach zu
komplex. Ob nun Komplett- oder Teilvergaben günstiger
sind, muss im Einzelfall betrachtet werden. Aus Sicht
der FDP-Fraktion soll der Auftraggeber, wenn er die
Ausnahme wählt, also komplett ausschreibt, dies immer
konkret begründen müssen.

Einen entscheidenden Kritikpunkt am Gesetzentwurf
sieht die FDP-Bundestagsfraktion in der Ausnahme für
die interkommunale Zusammenarbeit, also die soge-
nannten Inhousevergaben. Durch die geplante neue Vor-
schrift wird den Kommunen viel Spielraum zu verstärk-
ter Zusammenarbeit geboten. Sie können nach dem
Entwurf andere Kommunen ohne Ausschreibung mit je-
der Art von Leistung beauftragen oder hierfür gemein-
same Gesellschaften gründen. Das klingt für die Bürger-
meister sicher attraktiv, aber dadurch wird der
Wettbewerb bei öffentlichen Aufträgen gefährdet.


(Beifall bei der FDP)


Durch das Vergaberecht soll ein fairer Wettbewerb si-
chergestellt werden, und es soll den Kommunen nicht
etwa einfach gemacht werden, Wettbewerb auszuschal-
ten und Aufträge nach Gutdünken zu vergeben. Nicht
umsonst ist die öffentliche Auftragsvergabe im Gesetz
gegen Wettbewerbsbeschränkungen geregelt.

Lassen Sie mich eines klarstellen: Wenn kommunale
Unternehmen gut wirtschaften, dann brauchen sie den
Wettbewerb mit der Privatwirtschaft nicht zu fürchten.
Deshalb gibt es auch keinen Grund, die städtischen Be-
triebe von den Vergabevorschriften auszunehmen und so
vor dem Wettbewerb zu schützen.


(Beifall bei der FDP)


Meine Damen und Herren, bei allem dürfen die
Grundzwecke des Vergaberechts nicht aus den Augen
verloren werden. Diese liegen zum einen darin, für die
öffentliche Hand einen wirtschaftlichen Einkauf von
Leistungen zu gewährleisten. Zum anderen soll den po-
tenziellen Auftragnehmern ein fairer und durchschauba-
rer Bieterwettbewerb gesichert werden.

Diese grundsätzlichen Erwägungen zum Zweck des
Gesetzes müssen uns davon abbringen, Aufgaben und
Ziele in das Recht der Auftragsvergabe einzubinden, die
hiermit überhaupt nichts zu tun haben. So stehen etwa
Anliegen der Sozial- und Umweltpolitik mit den eigent-
lichen Zielen des Vergaberechts meist in keinem Zusam-
menhang und sollten auch nicht mit ihm vermischt wer-
den.

Durch vergabefremde Aspekte werden vielmehr In-
transparenz und Bürokratie gefördert und vor allem mit-
telständische Unternehmen diskriminiert, die sich geset-
zeskonform verhalten, also bereits Aufgaben wahrnehmen,
die vom Auftraggeber vorgegebenen Motive der verga-
befremden Kriterien nach dem Gesetz aber eben nicht
erfüllen und auch nicht erfüllen müssen.

Lassen Sie mich noch einen Punkt anführen, der für
die beabsichtigte Vereinfachung und Entbürokratisie-
rung der Vergabeverfahren sehr wichtig ist. Wir fordern
in unserem Antrag, der heute ebenfalls zur Beratung vor-
liegt, ein bundesweit einheitliches System der Präquali-
fikation einzuführen.

Inhalt der Präqualifikation ist eine möglichen Aufträ-
gen vorgelagerte Prüfung der Eignung. Damit müssen
Unternehmer nicht vor jeder Ausschreibung aufs Neue
ihre generelle Eignung aufwendig nachweisen und wer-
den nicht im Hinblick auf den Nachweisaufwand von der
Teilnahme an Ausschreibungen abgeschreckt.

Derartige Systeme gibt es auf Landesebene bereits in
fünf Bundesländern. Um einer Zersplitterung des öffent-
lichen Auftragswesens entgegenzuwirken, fordern wir,
im Rahmen der anstehenden Novelle die Chance zu nut-
zen, ein leistungsfähiges System der Präqualifikation
nun auf Bundesebene einzuführen. Kleinen und mittle-
ren Unternehmen muss die Präqualifikation einheitlich
und flächendeckend ermöglicht werden.


(Beifall bei der FDP)


Die Bundesregierung begründet ihren Gesetzentwurf
mit der Absicht, eine mittelstandsgerechte Modernisie-
rung des Vergaberechts vorzunehmen. Ich würde die
Bundesregierung gerne beim Wort nehmen und fordere
sie auf, unseren Kritikpunkten und denen der mittelstän-
dischen Wirtschaft die Beachtung zu schenken, die zur
Erreichung dieses Zieles notwendig ist.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617912400

Das Wort hat der Kollege Reinhard Schultz für die

SPD-Fraktion.


Reinhard Schultz (SPD):
Rede ID: ID1617912500

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau

Präsidentin! Frau Staatssekretärin Wöhrl hat darauf hin-
gewiesen, dass es ein ziemlich langer und schwieriger
Prozess war, bis man sich auf diesen Kabinettsentwurf
geeinigt hat. Die Tatsache, dass zwischenzeitlich eine
Kabinettsentscheidung gestoppt wurde, fanden zumin-
dest einige in diesem Hause merkwürdig. Immerhin liegt
uns aber die auf Kabinettsebene vereinbarte Lösung, an-
gereichert durch eine Reihe von Gesichtspunkten, die
vorab auf Berichterstatterebene besprochen worden wa-
ren – zum Beispiel das Thema städtebauliche Verträge –,
als Gesetzentwurf zur Beratung vor. Ich bedanke mich
ausdrücklich auch bei Herrn Dr. Nüßlein. Wenn wir wei-
terhin nahe beieinanderbleiben, dann werden wir trotz
der noch bevorstehenden Klippen, die es auch geben
wird, die Reform des Vergaberechts zu einem guten
Ende bringen.

Die Reform ist aus guten Gründen im Koalitionsver-
trag vereinbart worden. Sie ging zum einen auf die EU-
Vorgaben zurück, die zum Teil bereits 2006 umgesetzt
wurden. Jetzt folgt sozusagen der freiwillige Teil, wei-
tere Regelungen der EU-Vergaberichtlinien in deutsches
Recht umzusetzen. Zum anderen verfolgen wir damit
auch eigene Absichten im Hinblick auf Vereinfachung
und Mittelstandsorientierung.






(A) (C)



(B) (D)


Reinhard Schultz (Everswinkel)

Angesichts der Tatsache, dass in Deutschland etwa
262 Milliarden Euro jährlich für öffentliche Aufträge an
Unternehmen gezahlt werden – das sind etwa 2,4 Millio-
nen einzelne Vergabevorgänge –, kann man ermessen,
wie kompliziert das ist, aber auch, welche große volks-
wirtschaftliche Bedeutung das öffentliche Auftragswe-
sen hat. Jedem, der daran teilnehmen möchte, sollte dies
ermöglicht werden. Das Vergabeverfahren sollte so
transparent, einfach und klar sein, dass jedes Unterneh-
men – auch kleine Unternehmen – die Möglichkeit hat,
daran teilzunehmen. Deswegen war die Reform erfor-
derlich.

Die Intransparenz lag zum Teil an der Vielschichtig-
keit des Gesetzes und der darauf aufbauenden Verord-
nungen, aber auch an der Zersplitterung der Vergabe-
landschaft. Wir haben 8 000 Gebietskörperschaften und
30 000 Vergabestellen, die bundesweit tätig sind und
täglich öffentliche Ausschreibungen vornehmen. Das ist
für kleine und mittlere Unternehmen außerordentlich
schwer zu handhaben.

Wir haben seit langem beklagt, dass es gerade im Be-
reich des Bauwesens angeblich zugunsten der Vereinfa-
chung die Tendenz gibt, alles aus einer Hand schlüssel-
fertig bei einem Generalunternehmer in Auftrag zu
geben. Der Generalunternehmer übernimmt dann die
Planung, er steuert das Projekt und kauft in der Regel bei
Subunternehmen ein mit dem Ergebnis, dass die eigent-
liche Marge dort erwirtschaftet wird, wo man die mögli-
chen Gewinne der Subunternehmer drücken kann. Das
geht zulasten des Mittelstandes, aber auch der Qualität;
denn manchmal kann das, was durch die Preisdrückerei
erforderlich wurde, durch Leistung gar nicht mehr er-
bracht werden. Damit entstehen Pfusch und als Folge
vielerlei Gewährleistungstatbestände, die das Geschäft
für den Endabnehmer, die öffentliche Hand, außeror-
dentlich schwierig machen. Deswegen sind wir sowohl
aus Wettbewerbsgründen als auch aus Qualitätsgründen
dafür, dass in der Regel losweise vergeben wird, wenn es
um größere Ausschreibungen geht, und dass im Einzel-
nen begründet werden muss, wenn man auf eine Gene-
ralunternehmerlösung zurückgreifen will.

Ich gehe sogar einen Schritt weiter. Ich glaube – da-
rüber müssen wir im weiteren Gesetzgebungsverfahren
noch diskutieren; ich bin beim Thema PPP darauf gesto-
ßen –, wir müssen darüber nachdenken, ob es sinnvoll
ist, dass ein Generalunternehmer, wenn er zum Zuge
kommt, nach den Kriterien des Vergaberechts transpa-
rent ausschreibt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nach meiner Meinung wäre das eine Lösung zumindest
für PPP, eventuell aber auch grundsätzlich für General-
unternehmertätigkeiten. Ich freue mich, dass eine ge-
wisse Aufgeschlossenheit auch beim Koalitionspartner
vorhanden ist; das habe ich an dem Beifall gesehen.

Das Thema der sogenannten vergabefremden Krite-
rien hat die zweieinhalb Jahre dauernden Beratungen
sehr verzögert. Man muss sich fragen, ob wirklich alles
vergabefremd ist. Bei der Lohnfindung in Unternehmen,
die sich an öffentlichen Aufträgen beteiligen, geht es
zum einen um die vernünftige Bewertung menschlicher
Arbeit und zum anderen um einen Wettbewerbsfaktor.
Wenn zwei Unternehmen gegeneinander antreten und
das eine als Subunternehmen mit Drückerkolonnen deut-
lich unter Mindestlohn anbietet und das andere tariftreu
ist, dann gibt es eine Verzerrung. Wir können nicht daran
interessiert sein, bei einem Volumen von mehr als einer
Viertel Billion Euro an öffentlichen Vergaben in Deutsch-
land dazu beizutragen, dass Arbeitnehmer, die für die
Durchführung öffentlicher Aufträge beschäftigt werden,
in eine Rutschpartie geraten, die damit endet, dass sie
Aufstocker im Rahmen des Arbeitslosengeldes II werden;
denn dann zahlt die öffentliche Hand im Nachhinein die
Löhne, zumindest auf dem Niveau eines Mindestlohns.


(Beifall bei der SPD)


Das müssen wir verhindern. Das ist eine Frage des An-
standes, aber auch der ökonomischen Vernunft. Insofern
hat die Lohnfindung als ein soziales Kriterium – auch
inhaltlich – unmittelbar etwas mit dem Vergaberecht und
der Wettbewerbsgerechtigkeit zu tun und ist nicht etwa
sachfremd. Deswegen habe ich Probleme mit den soge-
nannten sachfremden Kriterien. Ähnliches gilt bis zu ei-
nem gewissen Grad für ökologische Tatbestände und in-
novative Belange.

Die entscheidende Frage ist, wie wir damit umgehen.
Der Gesetzentwurf sieht eine Eins-zu-eins-Übernahme
der Formulierung aus den europäischen Richtlinien vor.
Danach könnte jeder, der öffentliche Aufträge vergibt,
die Lohnfindung, ökologische Kriterien und innovative
Belange in seine Ausschreibungstexte einbeziehen. Das
wäre dadurch gedeckt und stellte im Vergleich zu dem,
was bundesweit gilt, einen Fortschritt dar. Ich gehe sogar
so weit und sage: Wenn das Gesetz schon gelten würde,
hätten wir den skandalösen Vorgang bei der Vergabe des
Fahrdienstes des Deutschen Bundestages nicht; denn das
wäre dann gedeckt. Trotzdem muss man sich die Frage
stellen, ob das weit genug geht. Soll man es in das Belie-
ben des jeweiligen öffentlichen Auftraggebers stellen, ob
er die Fragen nach angemessenen Löhnen und Wettbe-
werbsgerechtigkeit ernst nimmt oder nicht? Es wird si-
cherlich noch Diskussionen darüber geben, ob wir die
Tarifbindung nicht deutlich besser verankern können, als
es bislang im Gesetzentwurf vorgesehen ist. Das geht
noch ein Stück weiter. Der Kollege Walter Riester wird
gleich darauf seinen Schwerpunkt setzen. Aber ich will
deutlich machen, dass ich ausdrücklich dazu stehe.

Es gibt internationales Recht, das, wenn es von
Deutschland ratifiziert ist, in Deutschland verbindlich
ist. Das sind beispielsweise die Normen der Internatio-
nalen Arbeitsorganisation. 71 sind ratifiziert. Selbstver-
ständlich müssen diese bei öffentlichen Vergaben, so-
wohl bei der direkten Arbeit als auch bei der gesamten
Wertschöpfungskette, berücksichtigt werden. Jeder von
Ihnen wird sagen: Es ist doch völlig selbstverständlich,
dass sich die Unternehmen an geltendes Recht halten. –
Bei internationalem Recht ist das nicht so selbstver-
ständlich, vor allen Dingen nicht in den Köpfen. Wenn
es aber für alle hier im Parlament selbstverständlich ist,
dann wird auch nichts dagegen sprechen, das nicht nur in
der Begründung zu erwähnen – denn darin kommt es vor –,






(A) (C)



(B) (D)


Reinhard Schultz (Everswinkel)

sondern diese Klarstellung auch im eigentlichen Geset-
zestext vorzunehmen. An Selbstverständlichkeiten wird
keiner Anstoß nehmen. Wenn aber einer das ablehnen
sollte, dann stellt sich die Frage, ob diejenigen, die das
ablehnen, versuchen, im deutschen Vergaberecht unter
der Rechtsverbindlichkeit von internationalem Recht
wegzutauchen. Wir werden diese Stunde der Wahrheit
erleben, aber ich bin da außerordentlich optimistisch.

Ich will zu den Fragen der städtebaulichen Verträge
und der kommunalen Zusammenarbeit aufgrund der be-
grenzten Zeit, die ich hier habe, jetzt nichts sagen. Ich
will nur darauf hinweisen, dass es Themen gab, die über
den Bundesrat oder auch über Parteien der Opposition an
uns herangetragen worden sind. Der Einrichtung eines
Registers von Unternehmen, die sich im Rahmen der
Vergabe schwerste Verfehlungen haben zuschulden
kommen lassen – Korruption, Nichteinhaltung von Ge-
setzen usw.; es handelt sich um die berühmten schwar-
zen Schafe –, stehen wir ausgesprochen offen gegenüber.
Ich persönlich – das sage ich als Berichterstatter –
könnte mir auch vorstellen, dass man sich dem Thema
der Vereinfachung durch die Präqualifizierung deutlich
nähert, weil es wirklich eine Vereinfachung wäre, wenn
die Qualifikation testiert würde und in einem Register
stünde. Demjenigen, der 25 Ausschreibungen innerhalb
einer Woche bearbeiten muss, könnte man sehr viel Ar-
beit ersparen. Auch in dieser Frage sind wir offen. Ich
würde mich darüber freuen, wenn wir am Ende zu einer
breit getragenen Vergaberechtsreform kommen würden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617912600

Das Wort hat die Kollegin Ulla Lötzer für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ursula Lötzer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617912700

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! 1999

hat der Bundestag schon einmal ein Vergabegesetz ver-
abschiedet, das die öffentlichen Aufträge an die Zahlung
von Tariflöhnen gebunden hat. Dieses wurde im Bundes-
rat mit der Begründung blockiert, dass es Ländersache
sei. Acht Länder haben inzwischen Vergabegesetze be-
schlossen. Entstanden ist ein Flickenteppich mit unter-
schiedlichsten Regelungen: Die einen haben Kriterien
nur für die Bauindustrie, die anderen für alle Branchen,
die einen haben Kontrollen eingeführt, die anderen keine
Kontrollen, die einen haben Kontrollen wieder abge-
schafft, bei den anderen gelten sie noch. Darüber hinaus
gibt es Kommunen, die auch sozial und ökologisch ver-
antwortlich einkaufen wollen, unter anderem Neuss und
Düsseldorf. Diese beiden Städte sind nicht gerade rot
oder rot-grün regiert, erst recht nicht rot-rot. Sie kaufen
keine Produkte mehr, die mit Kinderarbeit hergestellt
worden sind. Der rot-rote Senat in Berlin wollte alle
Unternehmen verpflichten, Tariflöhne einzuhalten.
Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht dazu 2006
ausdrücklich festgestellt, dass Tariftreueregelungen die
Benachteiligung tariftreuer Unternehmen im Wettbe-
werb verhindern, dem Lohndumping entgegenwirken,
dem Erhalt wünschenswerter sozialer Standards dienen
und die Tarifautonomie stabilisieren. Das alles sind
Gründe, mit einer bundesweiten Regelung für fairen
Wettbewerb und Rechtssicherheit zu sorgen und gleiche
Bedingungen für alle zu garantieren.


(Beifall bei der LINKEN – Dirk Niebel [FDP]: Was hat eigentlich der EuGH dazu gesagt?)


– Ich komme dazu. – Sie, Herr Schultz, haben das Volu-
men angesprochen, eine bedeutsame Marktmacht, mit
der man auch Normen für soziale und ökologische Ver-
antwortung von Unternehmen setzen kann. Sie haben es
mit Ihrem Entwurf in der Hand, diese Normen zu setzen
und festzulegen, ob in Zukunft der Anteil von Ökostrom
mehr als 0,5 Prozent betragen wird; Sie haben es in der
Hand, ob Produkte gekauft werden, für deren Herstel-
lung Kinder in Steinbrüchen Indiens gearbeitet haben,
und Sie haben es in der Hand, ob zu Dumpinglöhnen ge-
putzt oder Müll abgefahren wird. Wenn man diese Krite-
rien anlegt, dann ist Ihr Entwurf allerdings beschämend.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie legen keine verpflichtenden Kriterien fest. Sie schie-
ben diese Verantwortung auf die Kommunen und Länder
ab. Diese sollen das auftragsbezogen regeln. Das einzig
Positive bei Ihnen – das sehen wir anders als Sie, Herr
Friedhoff – ist die Förderung kommunaler Zusammen-
arbeit sowie die Mittelstandsklausel. Wir fordern Sie,
Herr Schultz, deshalb auf, die Förderung von betriebli-
cher Ausbildung, von Langzeitarbeitslosen,


(Dr. Rainer Wend [SPD]: Frauenförderung!)


die ökologische Beschaffung, die Gleichstellung von
Frauen – genau – und den fairen Handel verbindlich in
das Vergabegesetz aufzunehmen.


(Beifall bei der LINKEN)


Kommen wir zur Tarifautonomie und dem EuGH-
Urteil. Ja, der Europäische Gerichtshof hat nur allge-
meinverbindliche Tarifverträge und einen gesetzlichen
Mindestlohn als Kriterium anerkannt. Das ist ein Urteil
in einer Serie von Urteilen, in denen die sozialen und de-
mokratischen Grundrechte niedriger bewertet werden als
die Binnenmarktfreiheit von Unternehmen, mit Dum-
pinglöhnen Aufträge zu bekommen. Ein Skandal, wie
wir meinen, Frau Wöhrl!


(Beifall bei der LINKEN)


Was machen Sie jetzt dagegen? Als Erstes wäre ein
gesetzlicher Mindestlohn fällig. Den führen Sie natürlich
nicht ein. Stattdessen verstecken Sie sich im Entwurf zur
Modernisierung des Vergaberechts in diesen Fragen hin-
ter dem EuGH. Der EuGH zwingt Sie auch nicht, die Ta-
riftreue fallen zu lassen. Auf nationaler Ebene könnten
Sie die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen er-
leichtern. Dafür wäre es sowieso höchste Zeit.

Beim Europäischen Parlament regt sich endlich Wi-
derstand. Gestern hat der Beschäftigungsausschuss be-
schlossen, den Schutz der Tarifvertragsfreiheit in der
europäischen Entsenderichtlinie zu verankern und dies
demnächst im Europäischen Parlament zu behandeln.






(A) (C)



(B) (D)


Ulla Lötzer
Wir fordern Sie auf, dieses Anliegen im Europäischen
Rat zu unterstützen.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Europäische Gewerkschaftsbund tritt für eine so-
ziale Fortschrittsklausel in Form eines Protokolls zu den
europäischen Verträgen ein, mit dem der Vorrang der
Grundrechte und Grundwerte vor den Binnenmarktfrei-
heiten von Unternehmen abgesichert wird. Werden Sie
in diesem Sinne in Brüssel vorstellig! Gleicher Lohn für
gleiche Arbeit am gleichen Ort, das gehört auf der einen
Seite verbindlich ins Vergaberecht und auf der anderen
Seite in die europäischen Verträge. Nur so haben ein so-
ziales Europa und eine Sozialunion Bestand.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617912800

Nun hat die Kollegin Kerstin Andreae für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617912900

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Auch ich begrüße, dass wir bei der Reform des
Vergaberechts jetzt doch einen deutlichen Schritt weiter-
kommen. Das ist nicht erst seit gestern ein Thema. Die
Koalition hat es schon in ihren Koalitionsvertrag aufge-
nommen. Jetzt, drei Jahre später, liegt uns ein Gesetzent-
wurf vor. Die Europäische Union hat von uns verlangt,
zu handeln. Wir sind keineswegs das erste Land, in dem
eine solche Reform gemacht wird.

Auf das Volumen der öffentlichen Auftragsvergabe von
Bund, Ländern und Kommunen ist eingegangen worden
sowie darauf, was der größte Einkaufszettel – darum
handelt es sich quasi – bedeutet und welche Verantwor-
tung dahintersteht. Auf diese Verantwortung möchte ich
eingehen, weil sie für Bündnis 90/Die Grünen sehr wich-
tig ist.

Vorab noch Folgendes. Das Grundproblem des Verga-
berechts ist die enorme Zersplitterung, die enorme Kom-
pliziertheit. Sowohl was den Rechtsschutz der Auftrag-
geber, zum Beispiel der Kommunen, als auch was den
Rechtsschutz der Auftragnehmer, zum Beispiel der Mit-
telständler, angeht, bestehen Probleme.

Im Hinblick auf den Mittelstand begrüßen wir die Re-
gelungen, die für die Fach- und Teillose gefunden wor-
den sind. Es ist durchaus richtig, hier so zu handeln.
Aber Sie sollten sich noch einmal sehr genau anschauen,
was die Verbände in ihren Stellungnahmen im Hinblick
auf Rechtsschutz und Klarheit, Transparenz schreiben.
Dass der Rechtsschutz derzeit mangelhaft ist, haben wir
konstatiert; das ist auch von Ihnen beschrieben worden.
Rechtsschutz bedeutet natürlich auch mehr Transparenz
und Klarheit für die Unternehmen, die sich an solchen
Verfahren beteiligen wollen.

Man kann unterhalb der Schwellenwerte zwar im
Nachhinein klagen, aber dass es immer noch keinen Pri-
märrechtsschutz gibt, also dass ein Mittelständler, der
sich in einem Verfahren nicht angemessen beteiligt fühlt,
keine Möglichkeit hat, in diesem laufenden Verfahren
„Stopp!“ zu sagen, ist nicht mittelstandsfreundlich. Sie
sollten überlegen, ob Sie nicht doch eine Möglichkeit se-
hen, hier mehr Rechtsschutz zu schaffen. Das würden
wir befürworten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Im Übrigen unterstützen wir hier ausdrücklich die
Position der FDP. Das Präqualifizierungsverfahren ist
sinnvoll. Wir haben es auch in unserem eigenen Antrag
eingefordert.

Jetzt möchte ich zu den sogenannten vergabefremden
Kriterien kommen. Bei einem Auftragsvolumen von fast
300 Milliarden Euro im Jahr kann und darf sich der
Bund nicht aus der Verantwortung stehlen. Vielmehr
muss er an diesen Einkaufszettel, an diese Marktmacht
Kriterien knüpfen und verlangen, dass nach diesen Kri-
terien auch agiert wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aus Sicht einer Umweltpartei ist es enorm wichtig,
dass der Bund hier als Vorbild vorangeht und im Bereich
seiner eigenen Beschaffungen klarstellt, welche ökologi-
schen Kriterien bei der Vergabe öffentlicher Aufträge
angelegt werden. Der Bund soll sich bei seinen eigenen
Aufträgen klar positionieren, welche ökologischen und
sozialen Kriterien er zugrunde legt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In Deutschland gilt das Subsidiaritätsprinzip. Damit
gehen wir konform, indem wir den Ländern und Kom-
munen die erforderliche Rechtssicherheit geben, wenn
sie diese Kriterien anlegen wollen. Heute stehen wir vor
folgender Situation: Wenn eine Kommune entscheidet,
dass sie ihren Marktplatz nicht mit Steinen aus ausbeute-
rischer Kinderarbeit pflastern will, dann kann sie das
zwar in die Auftragsvergabe hineinschreiben, muss aber
hoffen, dass niemand dagegen klagt. Diese Situation ist
unhaltbar, und deswegen ist es richtig, hier für den Auf-
traggeber – in diesem Falle für die Kommune – Rechts-
sicherheit zu schaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dass das Billigste weder das Wirtschaftlichste und
schon gar nicht das Beste ist und dass Billiges für andere
auch sehr teuer werden kann, liegt auf der Hand. Deswe-
gen halten auch wir es für sehr wichtig, künftig im
Bereich der ILO-Kernarbeitsnormen, im Bereich der Ta-
riftreue und im Bereich der Entlohnung sehr genau hin-
zuschauen, welche europakonformen Regelungen man
finden kann, damit hier auch die soziale Verantwortung
wahrgenommen werden kann. Unserer Ansicht nach
müssen die ILO-Kernarbeitsnormen hier stärker berück-
sichtigt werden. In diesem Punkt sollten Sie den Entwurf
nachbessern.

Da meine Redezeit abgelaufen ist, komme ich zu ei-
nem letzten Punkt. Sie haben hier einen Gesetzentwurf
auf den Weg gebracht, und dies ist heute die erste Le-
sung. In der Anhörung werden wir im Hinblick auf den
Mittelstand, aber auch im Hinblick auf die Rechtssicher-
heit und die ökologischen und sozialen Kriterien noch






(A) (C)



(B) (D)


Kerstin Andreae
sehr viele vernünftige und gute Anregungen bekommen.
Ich hoffe sehr, dass Sie diesen Gesetzentwurf nachbes-
sern werden. Er ist nachbesserungsbedürftig. Das Verga-
berecht muss insgesamt reformiert werden. Nutzen Sie
die Chance, die Sie jetzt haben!

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Ulla Lötzer [DIE LINKE])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617913000

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Dr. Georg

Nüßlein das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1617913100

Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren!

Wir werden das komplexe und unübersichtliche
deutsche Vergaberecht vereinfachen und moderni-
sieren. Dabei werden wir auf die mittelstandsge-
rechte Ausgestaltung, wie zum Beispiel die Auftei-
lung in Lose, besonders achten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


– Der Kollege Lämmel klatscht. Das steht in unserem
Koalitionsvertrag und ist nach wie vor richtig.

Für diese Novellierung des Gesetzes ist die Mittel-
standsklausel, wie sie heute schon vielfach beschrieben
wurde, die Conditio sine qua non, also das, was dieses
Gesetz ausmacht. Es ist entscheidend, dass wir gerade
dem Mittelstand die Chance geben, sich vermehrt und
mit Aussicht auf Erfolg an Ausschreibungen zu beteili-
gen. Es geht also darum, in unserem Recht festzuschrei-
ben, dass die Aufträge so zu portionieren sind, dass nicht
nur die Großen sie schlucken können, sondern dass auch
die Kleineren Happen davon abbekommen. Die Tatsa-
che, dass sich bei mir als Berichterstatter – dies gilt
sicherlich auch für den Kollegen Schultz – die Mittel-
ständler mit positiven Reaktionen und die Industrie mit
eher ablehnenden Reaktionen melden, zeigt, dass wir
hier auf einem richtigen Wege sind.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Rainer Wend [SPD])


Eben hat die Kollegin Andreae das Thema Primär-
rechtsschutz unterhalb der Schwellenwerte angespro-
chen. Ich verstehe das Interesse, das es hier gibt. 90 Pro-
zent aller Aufträge liegen in ihrer Größenordnung
unterhalb dieser Schwelle. Insofern ist hier durchaus
Verständnis für das Anliegen des einen oder anderen aus
der Wirtschaft angebracht.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Des einen oder anderen“ ist aber ein bisschen zurückhaltend formuliert!)


Ich sehe aber als aktiver Kommunalpolitiker auch die
andere Seite, also die des Auftraggebers, der nach dem
Haushaltsrecht ohnehin zur Sparsamkeit verpflichtet ist,
der den sekundären Rechtsschutz hinter sich oder – je
nachdem – vor sich sieht und der sich unter diesem Ge-
sichtspunkt natürlich in einem sehr engen Korsett be-
wegt, das wir nicht noch enger schnüren sollten.

Ich meine, dass wir die politische Verantwortung stär-
ken sollten und eher die Frage stellen sollten: „Wer wird
wie politisch kontrolliert?“, als die Frage: „Brauchen wir
an der einen oder anderen Stelle zusätzliche Vorgaben?“
Diese Vorgaben wären ja dann wiederum einer juristi-
schen Kontrolle unterworfen. Bürokratieabbau in unse-
rem Land funktioniert nur, wenn wir einerseits politische
Entscheidungsspielräume und Verantwortlichkeiten und
zugleich die politisch-demokratischen Kontrollmecha-
nismen stärken, andererseits aber die Möglichkeiten zur
juristischen Nachprüfung da beschränken, wo sie nicht
unbedingt notwendig sind.

Wir können in dem Verfahren, in das wir heute eintre-
ten, gerne darüber diskutieren, ob an der einen oder an-
deren Stelle mehr Transparenz geschaffen werden kann,
zum Beispiel indem im Anschluss an die Vergabe veröf-
fentlicht wird, wer was zu welchen Konditionen bekom-
men hat. Damit wäre teilweise dem Genüge getan, was
die Wirtschaft fordert.

Im Bereich von Vergaben, die über der Schwelle lie-
gen, wollen wir keinen Verhinderungsrechtsschutz, aber
auch keine Rechtsschutzverhinderung. Deshalb überle-
gen wir, wie man das Nachprüfungsverfahren entspre-
chend beschleunigen kann. Damit würde das ganze Ver-
gabeverfahren auf mehr Effizienz getrimmt.

Wir müssen im Einzelnen auch noch einmal über das
Gebührensystem und über die Fristen, die in dem Zu-
sammenhang geändert werden sollen, diskutieren. Das
sollte, wie ich meine, in enger Abstimmung mit der
Wirtschaft geschehen, um abzuklären, was hier letztlich
sinnvoll und machbar ist.

Ich merke an der Debatte, dass die vergabefremden
Kriterien auch hier im Plenum eine entscheidende Rolle
spielen. Ich gebe offen zu: In der Union gibt es darüber
eine heftige Diskussion. Man könnte es sich einfach ma-
chen und unter Verweis auf die einschlägigen EU-Richt-
linien sagen: Das sind EU-Vorgaben. Aber auch das
zieht bei uns nicht so einfach. Es ist bei uns nach den Er-
fahrungen mit dem AGG natürlich die Befürchtung laut
geworden, dass es sich hierbei um ein weiteres EU-Ok-
troi eines ordnungspolitischen Sündenfalls handeln
könnte. Viele haben gefragt: Ist es denn ordnungspoli-
tisch geboten, was hier gemacht wird? Ist das wirklich
ein Beitrag zur Entbürokratisierung, und wird dadurch
mehr Transparenz hergestellt? Oder führt das nicht
schlussendlich zu mehr Willkür? Ich meine allerdings,
dass das Ganze so allgemein, wie es jetzt formuliert ist,
als Kannvorschrift und beschränkt auf drei Kriterien,
von uns akzeptiert werden kann. Ich rate nicht dazu, hier
noch weitere Konkretisierungen vorzunehmen.

Zu der Litanei an Einfällen, die Sie hier vorgetragen
haben, Frau Kollegin Lötzer, kann ich nur sagen: Gnade
uns Gott! Wenn wir all das aufnehmen, was Ihnen vor-
schwebt und was der eine oder andere noch an Ergän-
zungen wünscht, bekommen wir am Ende des Tages si-
cherlich kein Gesetz hin.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Georg Nüßlein
Eine Kannvorschrift ist meines Erachtens nicht nur
deshalb die richtige Lösung, weil sie sich in den EU-
Richtlinien wiederfindet, sondern auch, weil hierdurch
der Spielraum der Auftraggeber entsprechend größer
wird. Die entsprechenden Auftraggeber sind ja vielfach
einer politisch-demokratischen Kontrolle unterworfen.
Wenn nun eine Stadt längere Zeit nicht auf ihren Haus-
halt aufpasst und nach anderen als nach Haushaltskrite-
rien entscheidet, dann haben am Schluss die Verantwort-
lichen die Konsequenz zu tragen, indem sie zum
Beispiel abgewählt werden.

Bei den Themen Inhouse-Vergabe und interkommu-
nale Kooperation, Herr Kollege Friedhoff, schlagen auch
in meiner Brust zwei Herzen; das gebe ich ganz offen zu.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein bisschen anstrengend mit so vielen Herzen!)


Auf der einen Seite ist es natürlich schon problematisch,
wenn es öffentlichen Auftraggebern durch Inhouse-Ver-
gaben oder interkommunale Kooperation möglich ist,
Aufträge vom Vergaberecht insgesamt auszunehmen.
Auf der anderen Seite gibt es aber das Organisations-
recht der Kommunen. Vielleicht ist im Hinblick darauf,
dass es hier um Organisationsrecht geht, noch einiges zu
verändern. So geht es hier in erster Linie darum, Bürger-
meistern zu ermöglichen, miteinander interkommunale
Kooperationen einzugehen, und nicht darum, sich dem
Wettbewerb zu verschließen und aus der Verantwortung
zu stehlen. Unter dem Gesichtspunkt sollte man noch
einmal über die entsprechenden Regelungen diskutieren.
Es ist wichtig, dass wir das im Verlauf des sich an die
heutigen Beratungen anschließenden Prozesses tun.

Bei den städtebaulichen Gestaltungsverträgen haben
wir dem Anspruch der Kommunalpolitik Genüge geleis-
tet. Es kann nicht sein, dass städtebauliche Gestaltungs-
verträge aufgrund eines schiefen, eines aus meiner Sicht
– das ist meine persönliche Meinung – nicht korrekten
Urteils plötzlich in ein rechtliches Umfeld geraten, in
dem sie nicht mehr möglich sind. Damit würden wir den
Kommunalpolitikern ein wichtiges Instrument der Städ-
tegestaltung aus der Hand nehmen. Das wäre falsch.
Deshalb ist es richtig, dass wir hier für Klarstellung sor-
gen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Insgesamt ist es ein schwer erkämpfter, ausgewogener
Vorschlag, der uns vorliegt. Mit kleineren Nachbesse-
rungen im parlamentarischen Verfahren können wir als
Große Koalition auch und gerade für den Mittelstand,
der es in diesem Land bitter nötig hat, etwas voranbrin-
gen.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617913200

Das Wort hat der Kollege Walter Riester für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Walter Riester (SPD):
Rede ID: ID1617913300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Natürlich muss eine Vergabeordnung Klarheit
schaffen; diejenigen, die ausschreiben, müssen davon
ausgehen können, dass es Bestand hat.

Mehrere Redner haben darauf hingewiesen, dass einer
der zentralen Punkte der Auseinandersetzung die Frage
war, ob vergabefremde Richtlinien Einfluss auf die Ver-
gabeordnung haben sollen, und wenn ja, mit welcher
Qualität. Ich zitiere aus der Begründung zu dem vorlie-
genden Gesetzentwurf, welche Lösung gefunden worden
ist – die Minute gönne ich mir gerne –:

Gemäß § 97 Abs. 4 GWB sind zum Wettbewerb um
öffentliche Aufträge alle Unternehmen zugelassen,
welche das nötige Fachwissen sowie die erforderli-
che wirtschaftliche und technische Leistungsfähig-
keit mitbringen, um den vorgesehenen Auftrag zu
erfüllen, und insofern „geeignet“ sind. Hierzu zählt
insbesondere die Zuverlässigkeit, die davon aus-
geht, dass alle Unternehmen die deutschen Gesetze
einhalten. Dazu zählen auch die für allgemein ver-
bindlich erklärten Tarifverträge wie auch die Ent-
geltgleichheit von Männern und Frauen. Auch die
international vereinbarten Grundprinzipien und
Rechte wie die Kernarbeitsnormen der Internatio-
nalen Arbeitsorganisation zum Verbot der Kinder-
und Zwangsarbeit sind zwingender Bestandteil un-
serer Rechtsordnung und damit der Vergaberegeln.
In Deutschland agierende Unternehmen, die diese
Grundprinzipien und Rechte nicht beachten, müs-
sen prinzipiell aufgrund fehlender Zuverlässigkeit
vom Wettbewerb um öffentliche Aufträge ausge-
schlossen werden.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gut!)


Herr Nüßlein, Sie sind ja Doktor der Rechtswissen-
schaften. Es ist sicherlich kein vergabefremdes Krite-
rium, deutsches Recht einzuhalten.

Ich zitiere weiter:

Im Rahmen der Wirtschaftlichkeit können weitere
soziale, umweltbezogene oder innovative Aspekte
bei der Vergabe Berücksichtigung finden. Dazu ge-
hört insbesondere der Klimaschutz – zum Beispiel
durch Beachtung von Lebenszykluskosten und Ener-
gieeffizienz.

Jetzt schauen wir einmal, was dazu im Gesetzentwurf
steht. Dort heißt es:

Aufträge werden an fachkundige, leistungsfähige
und zuverlässige Unternehmen vergeben. Für die
Auftragsausführung können zusätzliche Anforde-
rungen an Auftragnehmer gestellt werden, die ins-
besondere soziale, umweltbezogene oder innova-
tive Aspekte betreffen, wenn sie im sachlichen
Zusammenhang mit dem Auftragsgegenstand ste-
hen und sich aus der Leistungsbeschreibung erge-
ben.

Nun habe ich darüber nachgedacht, warum diese
enorme Diskrepanz zwischen dem Text im Gesetzent-






(A) (C)



(B) (D)


Walter Riester
wurf und dem offensichtlichen Willen des Gesetzgebers
besteht. Als ich einen Abgeordneten dieses Hauses ges-
tern gefragt habe, sagte er: Na ja, das kennen Sie doch.
Die Begründung geht unter; die liest niemand mehr.
Letztlich bleibt das Gesetz. – Das mag ich nicht glauben.
Man könnte auch annehmen, dass die zwingende Einhal-
tung der Rechtsordnung bei der Frage der Kernarbeits-
normen schlicht vergessen worden ist. Das mag ich, da
Juristen daran beteiligt waren, eigentlich auch nicht
glauben. Man könnte auch davon ausgehen, dass es ein-
fach unterstellt wird. Das hielte ich für fahrlässig. Ich bin
mir nämlich sicher, dass darüber jedes Ausschreibungs-
verfahren gekippt werden kann, wenn wir als Gesetzge-
ber dies so verankern.

Es gibt bloß eine Lösung: Nehmen wir doch bitte den
Text der Begründung ins Gesetz auf!


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dann gibt es die notwendige Klarheit über das, was wir
wollen, und die Kommunen haben die Sicherheit. So
einfach würde ich das als gelernter Fliesenleger machen.
Ich bin kein Jurist; aber ich denke, dann kann eigentlich
nichts mehr schiefgehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bitte nehmen Sie – ich bin nicht in dem Fachausschuss –
das, was wir wollen und was in der Begründung steht,
ins Gesetz auf! Dann wissen es die Kommunen, die Auf-
tragnehmer und die Bürger genau. Auch das gehört dazu,
wenn man den Verdacht, hier sei schlampig gearbeitet
oder getrickst worden, was Politikverdrossenheit auslö-
sen würde, wegbekommen will.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617913400

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/10117, 16/9636 und 16/9092 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Gentechnikfreie Regionen stärken – Bundes-
regierung soll Forderungen aus Bayern auf-
nehmen und weiterentwickeln

– Drucksache 16/10202 –

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken,
Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Rahmenbedingungen für Milchmarkt verbes-
sern – Faire Erzeugerpreise für Milch unter-
stützen
– Drucksachen 16/9601, 16/9869 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Röring
Dr. Wilhelm Priesmeier
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann
Ulrike Höfken

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Renate Künast für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617913500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Bay-

ern tut sich was, und in Bayern liegen die Nerven blank.
Dass die Nerven blank liegen, erkennt man daran, dass
in Bayern munter gelogen wird, dass Agrarminister
Seehofer lügend durch das Bundesland Bayern zieht und
dort behauptet, nicht er habe Genmais MON 810 zuge-
lassen, sondern die Grünen, dass munter Anträge gestellt
werden, man am Ende aber so feige ist, hier nicht einmal
einen CSUler ans Redepult zu holen und reden zu lassen,
Herr Bleser.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das lassen Sie mich gleich vorwegschicken. Ich weiß,
die Nerven liegen bei Ihnen blank.

Man sollte sich der Wahrheit wegen einmal ein paar
Zitate anschauen. Wir haben diesen Antrag auch deshalb
hier eingebracht, weil wir meinen, dass die Leute ein
Recht darauf haben, endlich zu erfahren, wozu die CSU
und die CDU eigentlich stehen. Zitat aus dem Februar
2007 von Seehofer hier im Deutschen Bundestag:

Ich habe noch keine einzige gentechnisch verän-
derte Pflanze zugelassen.

Wahr ist: Ende 2005 hat dieser Agrarminister unter die-
ser Regierung MON 810, einen gentechnisch veränder-
ten Mais, zum Anbau in Deutschland zugelassen. Daran
gibt es nichts zu rütteln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ulrich Kelber [SPD]: Das stimmt!)


Dazu können Sie gern etwas sagen, Herr Bleser, weil die
CSUler sich nicht trauen. Aber mich interessiert gar
nicht, was Sie sagen wollen;


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das ist ein netter Kollege, der Herr Bleser! Der Herr Bleser ist gut!)







(A) (C)



(B) (D)


Renate Künast
mich interessiert, was der Minister und was die CSU an
dieser Stelle sagt. Sie haben MON 810 zum Anbau zuge-
lassen; da können Sie noch so viel über diese oder jene
Verordnung sagen. Ich weiß es genau; denn früher haben
Sie und andere mich immer kritisiert, dass ich es hier
nicht zugelassen habe. Sie werden ja wohl damals nicht
gelogen haben, Herr Bleser.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Peter Bleser [CDU/CSU]: Ich lüge nie! Ich werde Ihnen gleich das Gegenteil beweisen!)


Zweites Zitat für die, die sich fragen, was nun eigent-
lich wahr ist. Horst Seehofer am 16. Dezember 2005,
also zu der Zeit, als er MON 810 zugelassen hat, in der
Berliner Zeitung:

„Wir wollen die Gentechnik befördern.“ … „Das
muss auch in Deutschland zulässig sein“, sagte der …
Politiker. Bislang werde den Bauern der Anbau na-
hezu unmöglich gemacht. Deswegen werde er

– Horst Seehofer –

das von Rot-Grün beschlossene Gentechnikgesetz
ändern.

Daran kann man doch nichts deuteln: CSUler will Gen-
technik fördern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich noch ein Zitat von Josef Miller, dem
bayerischen Landwirtschaftsminister, anführen, der ge-
sagt hat: Es war Frau Künast, die MON 810 in Deutsch-
land zugelassen und eingeführt hat. – Wahr ist: In der
ersten Hälfte des Jahres 1998 hat in einem Gesundheits-
rat in Brüssel der damalige Gesundheitsminister Horst
Seehofer dem Import von MON 810 als Lebensmittel
und als Futtermittel nach Europa und damit nach
Deutschland zugestimmt, weil er die Gentechnik fördern
wollte. Wahr ist: Ende 2005 – zu diesem Zeitpunkt war
er als Agrarminister dafür zuständig – hat Horst
Seehofer MON 810 als Saatgut zugelassen. Deshalb ha-
ben die Bauern landauf, landab – auch in Bayern – heute
das Problem, dass ihre Äcker und ihre Ernten verunrei-
nigt werden durch MON 810, CSU-Saatgut.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich kann Ihnen nur sagen: Wer einmal lügt, dem glaubt
man nicht.


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Julia Klöckner [CDU/CSU]: Keiner glaubt Ihnen!)


Ich glaube, die CSU hängt dem Sankt-Florian-Prinzip
an. Nach dem Interview von Horst Seehofer am Montag
dieser Woche in der Süddeutschen Zeitung ist mir sofort
folgender Spruch eingefallen: Oh heiliger Sankt Florian,
verschon’ mein Haus, zünd’ andre an.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nein, nein! Sie haben das völlig falsch verstanden!)


Genau das hat Horst Seehofer gesagt: in Bayern nein,
woanders ja. Meine Damen und Herren, wenn etwas
Schädliches auskreuzt und wenn dadurch den Bauern die
Ernte verhagelt wird, dann passiert das in allen 16 Bun-
desländern der Republik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Heute müssen Sie sagen, was Sie eigentlich wollen.
In Bayern sprechen Sie von einer gentechnikfreien Zone.
Wir haben uns die Mühe gemacht, alle entsprechenden
Zitate von Seehofer, Söder und Huber aufzuschreiben.
Sie finden sich in unserem Antrag wieder. Jetzt können
Sie hier sagen, ob Sie die gentechnikfreie Zone wirklich
wollen. Es reicht nämlich nicht, dass Sie das nur in Bay-
ern beschließen. Wirklich Eindruck bei den anderen
26 Mitgliedstaaten der Europäischen Union und bei der
Kommission in Brüssel machen Sie, wenn Sie hier
Manns und Frau genug sind, unserem Antrag, der Zitate
von Ihnen enthält, zuzustimmen und nach Brüssel und in
die anderen Hauptstädte die Botschaft zu schicken: Ja,
wir wollen, dass sich die Bundesländer zur gentechnik-
freien Zone erklären. Sagen Sie es hier, und ducken Sie
sich nicht weg!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sagen Sie hier, dass Sie gentechnikfreie Zonen auch
finanziell unterstützen wollen, damit dort regionale Tou-
rismus- und Wirtschaftskonzepte entwickelt werden
können! Machen Sie es nicht wie Ramsauer und andere
in Traunstein, die sich dort rühmen, was sie alles tun.
Wissen Sie, was mir an Ihrer Zeitungsanzeige auffiel?
Erst wird ein bisschen an der SPD herumkritisiert – dazu
kann Herr Kelber selber etwas sagen –, und dann heißt
es: CSU – wir reden nicht, wir handeln.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Jawohl, Frau Kollegin!)


Jedes darin enthaltene Datum ist aus dem Jahr 2008. Wa-
rum? Weil Sie sich 2008 sozusagen an die Bürger mit
Lügen heranschleimen. Aus den Jahren 2005, 2006 und
2007 können Sie vor dem Schließen der Wahllokale am
Sonntag keine Zitate nennen, weil Sie in Wahrheit auf
dem Schoß der Gentechnikkonzerne sitzen.

Wenn Sie wirklich der Meinung sind, dass es gentech-
nikfreie Zonen geben soll und wenn Sie die Bauern an
der Stelle wirklich schützen wollen, dann stimmen Sie
dem Antrag, der auf Ihren eigenen Zitaten beruht, zu und
eiern nicht herum!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617913600

Für die Unionsfraktion hat der Kollege Peter Bleser

das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Bleser (CDU):
Rede ID: ID1617913700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich

wollte eigentlich am Anfang auf die Ausführungen von
Frau Künast reagieren. Aber ich habe festgestellt, dass
meine vorbereitete Rede exakt zu dem passt, was Frau
Künast gesagt hat. Deswegen kann ich auf den Beitrag
von Frau Künast im Rahmen meiner vorgesehenen Rede
eingehen.






(A) (C)



(B) (D)


Peter Bleser

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe zu Ihrem Redebeitrag extra schon etwas gesagt!)


Vorher möchte ich aber Bundesminister Seehofer ent-
schuldigen, Frau Künast. Er hätte sich dieser Debatte ge-
stellt, aber er ist in Meißen bei der Agrarministerkonfe-
renz der Länder und debattiert dort über den Health
Check. Das ist sehr wichtig, deswegen kann er nicht an-
wesend sein.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt gar nicht! Das fängt erst heute Abend an! Jetzt fangen Sie nicht auch noch an zu lügen! – Gegenruf des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist aber wirklich unter Ihrem Niveau!)


Jetzt aber zum Thema. Frau Künast, wir haben mona-
telang um ein neues Gentechnikgesetz gerungen. Wir ha-
ben mit allen interessierten Gruppen diskutiert und ihre
Vorschläge geprüft. Wir haben auch die Wissenschaftler
zurate gezogen. Wir haben dann ein Gentechnikgesetz
verabschiedet, Frau Künast, das alle diese Interessen be-
rücksichtigt. Dieses Gentechnikgesetz, das wir im Früh-
jahr dieses Jahres verabschiedet haben, ist eine Verbes-
serung des Gentechnikgesetzes, das Sie 2004 unter Ihrer
Federführung hinterlassen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dieses Gentechnikgesetz, Frau Künast – jetzt sollten Sie
zuhören, denn Sie können etwas lernen; Sie haben ja ge-
rade von Verlogenheit gesprochen –, war die rechtliche
Grundlage für die zwingende Zulassung von MON 810.
Das wissen Sie ganz genau.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Das ist falsch! Das ist nicht zwingend! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch totaler Quatsch!)


– Nein.

Warum machen Sie denn heute diesen Zirkus? Sie ha-
ben es mehrfach gesagt: Es ist Wahlkampf. Zu Ihren Ver-
sammlungen in Bayern kommt niemand. Deswegen be-
lästigen Sie den Bundestag mit solchen überflüssigen
Anträgen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, Sie fordern gentechnik-
freie Zonen, aber Sie wissen genau, dass dies nach EU-
Recht nicht möglich ist.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können wir doch hier beschließen!)


In der EU-Freisetzungsrichtlinie heißt es, dass gentech-
nisch veränderte Produkte national weder verboten noch
eingeschränkt werden dürfen. Diese EU-Freisetzungs-
richtlinie, Frau Künast – ich muss Sie noch einmal um
Aufmerksamkeit bitten –, haben Sie 2001 – da waren Sie
an der Regierung – in Brüssel auf den Weg gebracht.
Unter Stimmenthaltung der Bundesregierung, der Sie
angehört haben, ist diese Freisetzungsrichtlinie damals
in Recht und Gesetz umgewandelt worden.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Enthaltung! Das war keine Zustimmung!)


– Sie haben es ermöglicht. Hätten Sie mit Nein ge-
stimmt, wäre die Richtlinie nicht gekommen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Stimmt nicht!)


Sie haben alle Rechtsetzungen vorgenommen, in
Deutschland und in Europa, die Sie jetzt selber bekämp-
fen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das ist alles dokumentiert!)


Das ist scheinheilig, das ist unwahrhaftig. Das ist ein Be-
lügen des Wählers. Das muss hier in aller Klarheit ge-
sagt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wollen Sie denn jetzt? – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie wollen doch die Gentechnik, Herr Bleser!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617913800

Kollege Bleser, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Höfken?


Peter Bleser (CDU):
Rede ID: ID1617913900

Natürlich. – Bitte schön.


Ulrike Höfken-Deipenbrock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617914000

Es ist die Unwahrheit, wenn Sie sagen, dass Sie die

Gesetze verbessert haben. Sie haben ganz im Gegenteil
die gute fachliche Praxis nicht zugelassen; das können
die Kollegen der SPD hier bestätigen. Ebenso wenig
– auch heute nicht – ist die Zulassung von MON 810
zwingend gewesen; diese Sortenzulassung hat Minister
Seehofer vielmehr als erste Amtshandlung erteilt.

Ich möchte Sie fragen, ob Sie wissen, was ich hier in
Händen halte. – Dies ist Honig aus der Gegend um
Augsburg, wo der Freistaat Bayern den Honig „vergif-
tet“, muss man sagen.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)


Insofern muss man ganz klar sagen: Der Freistaat Bay-
ern steht – –


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617914100

Kollegin Höfken, stellen Sie bitte Ihre Frage.


Ulrike Höfken-Deipenbrock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617914200

Wissen Sie, dass der Freistaat Bayern gegen die Im-

ker und gegen diejenigen steht, die in der Landwirtschaft
auf die Befruchtungsleistung der Bienen angewiesen
sind? Wissen Sie auch, dass der Freistaat Bayern diese
Imker verklagt und vertrieben hat? Das dokumentieren






(A) (C)



(B) (D)


Ulrike Höfken
sie mit ihren Demonstrationen in München oder in
Bonn.


Peter Bleser (CDU):
Rede ID: ID1617914300

Meine liebe Frau Kollegin Höfken, wir haben uns an

dieser Stelle schon des Öfteren darüber unterhalten, aber
ich muss diese Frage – es war ja eher eine Wortmeldung –
zurückweisen, weil Sie wissen, dass Gerichtsurteile vor-
liegen, die genau festlegen, was von dem, was Sie ge-
rade als Vorwurf vorgebracht haben, richtig ist und was
nicht. Diese Urteile haben klar belegt, dass hier die
Rechtshandlung der bayerischen Landesregierung rich-
tig war.

Im Übrigen passt auch Ihre Frage in meinen Redetext;
ich habe das alles vorausgesehen. Sie haben gesagt, dass
wir mit dem Gentechnikgesetz die gute fachliche Praxis
festgelegt haben. Das stimmt.


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Was für ein Glück!)


Es gab bis zum Frühjahr dieses Jahres keine Abstandsre-
gelungen für Mais.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir haben gesagt, dass wir die Forderung der Wissen-
schaft nach 50 Metern Abstand, damit keine Vermi-
schung stattfindet, um den Faktor drei erhöhen, und ha-
ben dann 150 Meter für konventionellen Mais und
300 Meter für ökologisch angebauten Mais vorgesehen.

Meine Damen und Herren, wir haben auch das Stand-
ortregister beibehalten. Man kann durchaus fragen, ob
dies unter Datenschutzgesichtspunkten richtig ist. Jeder
kann heute im Internet sehen, wo gentechnisch veränder-
tes Pflanzengut angebaut wird, sei es Mais oder anderes.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das liegt ja nicht an Ihnen! Woran liegt das?)


– Das liegt an einem Kompromiss, den wir gefunden ha-
ben und den wir selbstverständlich mittragen. Ich habe
aber auch gesagt: Man kann sich fragen, ob das in daten-
schutzrechtlicher Hinsicht richtig ist. Aber das ist Ge-
setz; insofern kann das jeder erfahren.


(Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind Sie denn jetzt dafür oder dagegen?)


Wir haben die Haftungsregel nicht verändert. Wir ha-
ben es dabei belassen, dass nach BGB gehaftet wird.
Aufgrund der Abstände sind wir aber sicher, dass es
nicht zu einem Haftungsfall kommen wird.

Wir haben auch die Möglichkeit zur Produktunter-
scheidung eingeführt. Wer Lebensmittel mit dem Etikett
„ohne Gentechnik“ kennzeichnen will, der kann das tun.
Auch das war ein Kompromiss innerhalb der Koalition.
Wir wären viel schärfer vorgegangen. Wir hätten auch
Zusatzstoffe wie Enzyme oder Vitamine ausgeschlossen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, ja! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)

Jetzt kann jeder entscheiden, ob er die Kennzeichnungs-
möglichkeit nutzt oder nicht. Damit kann wiederum der
Verbraucher entscheiden, ob er solche Lebensmittel
kauft oder nicht. Das ist demokratisch. Was kann man
denn mehr tun?


(Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617914400

Kollege Bleser, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Kotting-Uhl?


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Die sehen wir auch nicht so oft im Ausschuss!)



Peter Bleser (CDU):
Rede ID: ID1617914500

Ja, bitte.


Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617914600

Herr Kollege, wollen Sie mir und den anderen Kolle-

ginnen und Kollegen in diesem Parlament bestätigen,
dass Sie daran glauben, dass sich eine Biene freiwillig
auf ein Gebiet beschränkt, das durch einen Abstand von
150 Metern zum anderen Gebiet gekennzeichnet ist?


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Wenn sie intelligent ist!)


Reicht dieser Abstand Ihrer Meinung nach aus, um dem
Naturschutz Genüge zu tun?


Peter Bleser (CDU):
Rede ID: ID1617914700

Liebe Kollegin, ich glaube, ich muss doch ins Detail

gehen. Es ist erwiesen, dass Pollen, die von gentechnisch
veränderten Pflanzen stammen, inaktiv sind. Sie müssen
nicht gekennzeichnet werden.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die Bienen?)


Insofern gibt es keinen Grund, diese Produkte auszu-
grenzen. Aus und fertig!


(Beifall bei der CDU/CSU – Julia Klöckner [CDU/ CSU]: Wissenschaftlich erwiesen!)


Man muss diese neue Technologie einmal im Grund-
satz beleuchten. Bei der Roten Gentechnik hatten wir da-
mals eine ähnliche Situation: sehr viel Skepsis, sehr viel
Angst und sehr viele Sorgen. Die Rote Gentechnik wird
heute von allen akzeptiert. Sie ist sehr segensreich, weil
wir damit erblich bedingte Krankheiten entdecken und
entsprechende Medikamente entwickeln können.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617914800

Kollege Bleser, es gibt weitere Wünsche nach Zwi-

schenfragen.


Peter Bleser (CDU):
Rede ID: ID1617914900

Ich möchte den Gedanken gerne zu Ende führen; da-

nach gerne.

Wir haben die Weiße Gentechnik, die mittlerweile
selbst bei den Grünen Akzeptanz findet; von den Linken
habe ich noch nichts dazu gehört. Auch sie war umstrit-
ten. Ich will es einmal auf den Punkt bringen: 95 Prozent






(A) (C)



(B) (D)


Peter Bleser
des Vitamin C, das in fast allen Nahrungsmitteln enthal-
ten ist, ist gentechnisch erzeugt worden.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also sind Sie doch dafür!)


80 Prozent der Lebensmittel enthalten Substanzen, die
aus der Weißen Gentechnik stammen. Das alles ist ak-
zeptiert.

Man kann noch weiter gehen. Auch bei der Grünen
Gentechnik können Sie die meisten Nahrungsmittel he-
ranziehen. Im Produktionsprozess der meisten Nah-
rungsmittel kommt Grüne Gentechnik zum Einsatz. Die
Futtermittel aus den Vereinigten Staaten und Südamerika
sind zu 80 Prozent gentechnisch verändert und werden
seit zwölf Jahren in Deutschland, in Europa, überall ein-
gesetzt. Sie alle essen diese Produkte ganz selbstver-
ständlich, wenn Sie irgendwo im Urlaub sind, ebenso in
Deutschland.

Hier wird Panik gemacht. Das ist das Ziel dieser De-
batte. Das weisen wir zurück.


(Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber der Minister sagt doch auch, dass es in Bayern nicht angebaut werden soll!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617915000

Kollege Bleser, gestatten Sie weitere Zwischenfra-

gen? Im Moment melden sich die Kollegin Höfken, die
Kollegin Happach-Kasan und die Kollegin Kurth.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Machen wir doch einmal eine Arbeitsgruppe dazu!)



Peter Bleser (CDU):
Rede ID: ID1617915100

Frau Präsidentin, ich habe mir für heute Abend nichts

vorgenommen. Insofern bitte, gerne.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617915200

Dann beginnen wir mit Frau Höfken.


Ulrike Höfken-Deipenbrock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617915300

Ich denke, dass Sie bis heute nicht verstanden haben,

worum es bei der Agrogentechnik geht. Es geht nicht um
geschlossene Systeme, sondern um Freisetzungen.

Wissen Sie, dass das Gericht in Augsburg entschieden
hat, dass Honig aus dem Umfeld des Anbaufeldes von
MON 810 nicht verkehrsfähig ist und auf die Sonder-
mülldeponie gebracht werden muss? Das gilt natürlich
nicht nur für den Anbau in Bayern, sondern überall. Ist
es tatsächlich das Ziel Ihrer Politik, die Erzeugung des
Produktes Honig durch Imkereien in Deutschland völlig
unmöglich zu machen?


Peter Bleser (CDU):
Rede ID: ID1617915400

Das kann ich kurz beantworten – Sie wollen auf die-

sem Punkt bis zum Exzess herumreiten –: Es gibt Ge-
richtsurteile, die das Gegenteil aussagen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das braucht man hier im Parlament nicht zu bewerten.
Ich teile Ihre Auffassung zu diesem Thema überhaupt
nicht.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617915500

Darf ich der Kollegin Happach-Kasan das Wort zu ei-

ner Zwischenfrage geben?


(Zuruf von der CDU/CSU: Davon gehen wir aus!)



Peter Bleser (CDU):
Rede ID: ID1617915600

Ja.


Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1617915700

Lieber Kollege Bleser, Sie haben ja schon dargestellt,

dass die Züchtungsmethode Grüne Gentechnik weltweit
auf 114 Millionen Hektar angewandt wird und dass wir
alle mit den Produkten der Grünen Gentechnik inzwi-
schen vertraut sind. Vor diesem Hintergrund ist sehr
wohl davon auszugehen, dass sich diese Züchtungs-
methode auch in Deutschland durchsetzen wird.

Kollegin Höfken hat Ihnen den Fall eines Imkers aus
Bayern vorgetragen, der jetzt seinen Honig entsorgen
muss. Dem ist vorausgegangen – –


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617915800

Kollegin Happach-Kasan, ich muss auch Sie bitten,

eine Frage zu stellen.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Frau Präsidentin, das ist falsch! In § 27 der Geschäftsordnung steht nicht, dass sie eine Frage stellen muss!)



Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1617915900

Ich stelle auf jeden Fall eine Frage. Aber wenn Frau

Höfken hier sozusagen Demonstrationsmaterial mitbrin-
gen kann, dann darf ich vielleicht schlicht und ergreifend
sagen, worauf es mir ankommt.

Sie haben zu Recht festgestellt, dass es zum Tatbe-
stand „Pollen von gentechnisch veränderten Pflanzen in
Honig“ verschiedene Gerichtsurteile gibt. In Branden-
burg sagt man, es sei unerheblich, und in Augsburg
kommt man zu dem Urteil, der Honig wäre nicht ver-
kehrsfähig. Können Sie mir erklären, warum es in Augs-
burg beispielsweise von der LfL, die ja den gentechnisch
veränderten Mais angebaut hat, keinen Widerspruch ge-
gen dieses Gerichtsurteil gegeben hat, das meines Erach-
tens inhaltlich in jedem Falle falsch ist? Das wird ja auch
durch das Gerichtsurteil in Brandenburg bestätigt. Kön-
nen Sie mir erklären, warum auch der Imker, der genau
wusste, dass er, wenn dieses Gerichtsurteil Bestand hat,
seinen Honig nicht verkaufen kann, keinen Widerspruch
eingelegt hat? Könnte es sein, dass genau dieses de-
monstriert werden sollte, was jetzt demonstriert wird?


(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)


Sind Sie mit mir der Auffassung, dass der Freistaat Bay-
ern für diese zusätzlichen Kosten, die dem Imker ent-
standen sind, aufkommen muss, weil der Freistaat Bay-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Christel Happach-Kasan
ern es versäumt hat, gegen das Urteil in Augsburg
Widerspruch einzulegen?


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Der Freistaat Bayern ist für eine gentechnikfreie Zone!)



Peter Bleser (CDU):
Rede ID: ID1617916000

Liebe Kollegin Happach-Kasan, Ihre Vermutungen

kann man jetzt teilen oder nicht. Gerichtsurteile zu kom-
mentieren, ist nicht Aufgabe des Parlaments. Ihre Ver-
mutungen könnten so zutreffen. Ob das dann im Einzel-
fall so war, wage ich hier nicht letztlich zu bestätigen.

Ich kann nur eines sagen – das kann man, glaube ich,
auch an Ihrer Frage ablesen –: Die Grünen haben sich
auf wenige Angstthemen beschränken müssen. Nach-
dem die Grünen die ersten Auslandseinsätze der Bundes-
wehr mitbeschlossen haben, ist ihnen das Thema Frie-
denspolitik entglitten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Bei der Kernenergie gibt es in der Bevölkerung eine Ver-
änderung der Meinung. Die Grüne Gentechnik ist das
einzige Thema mit Verängstigungspotenzial, das man
noch hat und woraus man politisches Kapital zu schla-
gen versucht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind Sie also doch dafür?)


Insofern ist das aus wahltaktischen Gründen sogar ver-
ständlich.

So, wir wollten in der Reihenfolge fortfahren.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617916100

Kollege Bleser, ich habe jetzt noch zwei Zwischenfra-

gen gesehen: die Kollegin Kurth und die Kollegin Behm.
Lassen Sie diese Fragen noch zu?


Peter Bleser (CDU):
Rede ID: ID1617916200

Ich hatte nur neun Minuten Redezeit, aber das macht

ja nichts.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617916300

Inzwischen haben Ihnen die Kolleginnen fast zur Ver-

doppelung Ihrer Redezeit verholfen. – Kollegin Kurth.

Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Herr Kollege, ich möchte Sie jetzt fragen – der Minis-
ter kann ja nicht anwesend sein; Sie haben ihn entschul-
digt –, ob Sie mir, nachdem Sie dargelegt haben, dass die
Risiken der Grünen Gentechnik abschätzbar sind und
dass man sie beherrschen könne, erklären können, wa-
rum der Herr Minister dann vor wenigen Tagen in der
Süddeutschen Zeitung verkündet hat, dass er durchaus
für die Gentechnik sei, nur in Bayern möchte er sie nicht
anwenden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Peter Bleser (CDU):
Rede ID: ID1617916400

Sie werden sich nicht wundern, dass ich auch diese

Frage erwartet habe. Ich habe auch die Listen mitge-
bracht. In Bayern werden auf 9,92 Hektar 0,312 Prozent
der gentechnisch veränderten Pflanzen in Deutschland
angebaut. Insofern gibt es in Bayern de facto keine
Grüne Gentechnik. Dass man dieses Thema in diesen
Zeiten politisch aufgreift, kann ich verstehen. Wir sind
aber hier im Deutschen Bundestag und haben eine Ver-
pflichtung – –


(Marianne Schieder [SPD]: Hallo! Das heißt, Sie unterstützen die CSU nicht?)


– Ich unterstütze die CSU sehr wohl im Wahlkampf.
Aber ich sage Ihnen auch, dass ich die Bedürfnisse in
Bayern, diese Regelung anzustreben, für nicht sehr groß
halte.

Ich glaube, wir dürfen uns auch nicht in die Situation
begeben, dass wir hier auf Bundesebene und auf euro-
päischer Ebene Recht setzen. Ich habe vorhin geschil-
dert, wer diese Rechtsetzung im Wesentlichen vorge-
nommen hat. Das waren Ihre Fraktion


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Seehofer war das! Das wissen Sie doch!)


und der damalige Koalitionspartner. Wir müssen euro-
päisches und deutsches Recht in der Gänze anwenden
und nicht regional unterschiedlich. Das ist meine Posi-
tion dazu.


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Jetzt ist aber gut mit Zwischenfragen!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617916500

Die nächste Zwischenfrage könnte gleich die Kolle-

gin Behm stellen, wenn Sie das zulassen.


(Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Nein!)



Peter Bleser (CDU):
Rede ID: ID1617916600

Ja, bitte, natürlich. Ich habe doch gesagt, dass ich Zeit

habe.


Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617916700

Herr Kollege Bleser, ist Ihnen bekannt, dass der Mol-

kereikonzern Campina für seine Milchprodukte der
Marke Landliebe zukünftig gänzlich auf Sojafett ver-
zichten wird und die Futtergrundlage auf garantiert
gentechnikfreies europäisches Futter umstellen wird?
Würden Sie mir zustimmen, dass es für deutsche Land-
wirte ein großer Wettbewerbsvorteil wäre, wenn es in
Deutschland entsprechende gentechnikfreie Regionen
geben würde?


(Zuruf von der CDU/CSU: Die Landwirte sind wettbewerbsfähig!)



Peter Bleser (CDU):
Rede ID: ID1617916800

Frau Kollegin Behm, ich habe in meiner Rede vorhin

gesagt, dass wir diese Kennzeichnungsmöglichkeit ge-
schaffen haben. Sie wäre noch schärfer abgegrenzt
worden, wenn es nur nach uns gegangen wäre. Diese






(A) (C)



(B) (D)


Peter Bleser
Möglichkeit haben wir ausdrücklich zu dem Zweck ge-
schaffen, dass sich am Markt herausstellt, welche Form
der Produktion Akzeptanz findet und welche nicht. Ich
habe auch gesagt: Das ist demokratisch. Insofern be-
grüße ich es, wenn Unternehmen diese Möglichkeiten
nutzen. Wir werden dann feststellen, wie die Produkte
am Markt angenommen werden. Wir werden auch fest-
stellen, wie Analysen die Wahrhaftigkeit solcher Kenn-
zeichnungen bestätigen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617916900

Kollege Bleser, ich hätte jetzt noch eine Wortmel-

dung, nämlich der Kollegin Schieder aus der SPD-Frak-
tion. Sie müssen jetzt entscheiden.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bitte um Gnade, Herr Bleser!)


Ich bin geneigt, sie als letzte Zwischenfragerin aufzuru-
fen.


Peter Bleser (CDU):
Rede ID: ID1617917000

Wollen wir die Zwischenfragen danach beenden?

Diese Zwischenfrage lassen wir noch zu.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617917100

Kollegin Schieder, bitte.


Marianne Schieder (SPD):
Rede ID: ID1617917200

Herr Kollege Bleser, wie Sie wissen, komme ich aus

Bayern. Ich bin über Ihre Einlassungen ein bisschen ver-
wundert; denn in Bayern erzählt die CSU seit Monaten,
dass sie die Bevölkerung vor der Grünen Gentechnik
schützen wird, dass man keine Grüne Gentechnik haben
will und dass man die rechtlichen Voraussetzungen dafür
schaffen will. Sie stellen es jetzt ganz anders dar und sa-
gen: Dafür habe ich in Wahlkampfzeiten Verständnis.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)


– Das hat er gerade gesagt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Darf ich Ihre Einlassungen jetzt so interpretieren, dass
sich die Bevölkerung in Bayern eben nicht darauf verlas-
sen kann, dass die Union dafür sorgen wird, dass es ein
gentechnikfreies Bayern gibt?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Peter Bleser (CDU):
Rede ID: ID1617917300

Ich habe dazu schon gesprochen. Ich habe gesagt,

dass die Anbaufläche in Bayern verschwindend gering
ist und dass sich das Problem dort insofern gar nicht
stellt.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja oder nein?)


Ich habe auch gesagt – dabei bleibe ich –, dass wir die
Rechtsetzung auf europäischer und auf Bundesebene in
allen Regionen zu befolgen haben. Der Antrag aus Bay-
ern richtet sich an die Europäische Union; dort soll eine
andere Rechtsetzung vorgenommen werden. Es wird
sich herausstellen, ob dies möglich ist oder nicht. Das
muss dann auf einer wissenschaftlich basierten Grund-
lage geschehen. Insofern ist das kein Widerspruch.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Den Antrag, den Sie erwähnt haben, gibt es gar nicht!)


Ich möchte die restliche Redezeit nutzen, um die Vor-
teile der Grünen Gentechnik auch den Zuhörern draußen
noch einmal zu vermitteln. Ich habe die Rote und die
Weiße Gentechnik beschrieben. Es ist natürlich so, dass
wir auch mit der Grünen Gentechnik, die sich erst im
Anfangsstadium befindet, gewisse Erwartungen ver-
knüpfen. Da ist zunächst einmal die Erwartung, dass der
Einsatz von Pflanzenschutzmitteln damit wesentlich ver-
ringert werden kann. Wir haben Kartoffeln in der Zulas-
sung, für die bei der Pilzbekämpfung bis zu acht Pflan-
zenschutzspritzungen in einer Vegetationsperiode nicht
mehr gebraucht werden. Bei uns werden Pflanzen entwi-
ckelt, die mit wenig Wasser in Stressregionen, was Tro-
ckenheit angeht, wachsen. Bei uns werden auch Pflanzen
entwickelt und schon angebaut, die höhere Erträge brin-
gen.

Wenn Sie diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen
nicht offen gegenüberstehen, dann muss ich Sie wirklich
bitten, sich einmal die moralische Dimension vor Augen
halten zu lassen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fahren Sie mal nach Indien, Herr Bleser! Die Inder erzählen das Gegenteil!)


Wer diese Technologie für die Zukunft ausgrenzt, der
muss in Kauf nehmen, dass Hunger und Not in der Welt
in unteren Einkommensschichten weniger bekämpft
werden können als möglich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Der Weltagrarrat hat genau das Gegenteil gesagt!)


Das muss man hier einfach offen sagen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat Seehofer am Montag doch auch gesagt, dass das gar nicht hilft!)


Ich bitte Sie deshalb, wirklich zu überprüfen, wie Sie
sich da positionieren. Wir wollen hier alle Risiken be-
werten und bei der Zulassung entsprechend berücksichti-
gen. Aber wir sind nicht wie Sie immer nur auf die
Risiken ausgerichtet; wir wollen auch die Chancen im
Blickfeld haben. Diese Chancen sind gewaltig. Ich
möchte Sie herzlich bitten, Ihre politischen Festlegungen
nicht auf den Tag auszurichten, sondern weiter in die Zu-
kunft zu schauen. Denn spätestens Ihre Enkel werden
Sie fragen, wie Sie sich bei diesem Thema positioniert
haben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Die Enkel werden sich bedanken!)







(A) (C)



(B) (D)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617917400

Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann

für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1617917500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich frage mich: Was habe ich hier eigentlich
gerade erlebt? Ein Redner hat gesagt, der Minister sei
ein Lügner, ein anderer hat gesagt, er sei scheinheilig,
die Große Koalition hat sich zerlegt, und Frau Schieder
fragte nach der Position des Ministers, den sie sonst mit-
trägt.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das ist Vielfalt der Meinungen!)


Ich finde, vor dem Hintergrund dessen, worüber wir hier
eigentlich zu diskutieren haben, ist das dramatisch.


(Peter Bleser [CDU/CSU]: Richtig!)


Die Grüne Gentechnik steht im Moment nicht gerade
im Brennpunkt der politischen Weichenstellungen im
Agrarbereich. Dennoch will ich Ihnen ganz kurz sagen,
wie wir zu diesem Thema stehen. Wir sehen den verant-
wortungsvollen Umgang mit der Grünen Gentechnik
und die Nutzung der Potenziale in diesem Bereich als
sinnvoll an.

Frau Kollegin Schieder, ich war in Bayern, und zwar
in der Region, aus der Sie kommen. Ich habe mir ange-
hört, welche Sorgen die Menschen, die dort leben, ha-
ben. Dabei ging es zum Beispiel um Schäden durch den
Maiswurzelbohrer. Mir haben Bäuerinnen und Bauern
gegenübergestanden, die ihre gesamte Ernte verloren ha-
ben. Sie werden diese Ernte auch in den nächsten zwei
oder drei Jahren nicht einfahren können, weil diese Maß-
nahmen dort dann nicht zulässig sein werden.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Gute fachliche Praxis!)


– Die gute fachliche Praxis wenden sie schon an. Mach
dir darüber keine Sorgen!


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Und Fruchtwechsel!)


– Ja, das musst gerade du als Abgeordnete eines Ostlan-
des sagen. Ihr seid ja die größten Fruchtfolgeexperten.


(Widerspruch bei der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit wann beschimpfen Sie denn den Osten? Das ist ja interessant!)


Ich muss Ihnen wirklich sagen: Wenn sich die Landwirt-
schaft im Osten und im Westen unseres Landes aufstellt,
um größere Marktteilhabe zu erreichen – das fordern wir
immer –, können wir davon ausgehen, dass der normale
deutsche Bauer etwas von guter fachlicher Praxis ver-
steht.


(Lachen der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Denn das – liebe Frau Künast, da brauchen Sie gar nicht
zu lachen –


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich lache über etwas ganz anderes!)


ist die Basis Ihrer Weichenstellungen.

Die Regelungen bis 2013, die Sie mitgetragen haben,
basieren auf guter fachlicher Praxis. Wie Sie wissen,
sind die Cross-Compliance-Auflagen und die Bereitstel-
lung der Mittel über Direktzahlungen, für die Sie ge-
kämpft haben, dafür die Grundlagen. Deswegen ist es
völlig unangebracht, in dieser Diskussion darüber zu
philosophieren, wer gute fachliche Praxis realisiert und
wer nicht. Die Bauern in Deutschland praktizieren die
gute fachliche Praxis.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Jetzt will ich den Milchbereich ansprechen. Ich
möchte darauf hinweisen, dass wir mit vielem, was Herr
Seehofer macht, nicht einverstanden sind. Es gab eine
Vereinbarung, die besagte, dass die Mittel für die Land-
wirtschaft bis zum Jahre 2013 in dem Umfang bereitzu-
stellen sind, der Vertragsbasis ist. Jetzt stellen wir fest,
dass zum Beispiel bei der Modulation massiv eingegrif-
fen wird. Hier wird ein Versprechen gebrochen. Das ist
das genaue Gegenteil von Planungssicherheit. Das kön-
nen wir überhaupt nicht akzeptieren.

Herr Minister Seehofer macht meiner Meinung nach
einen großen Fehler. Es gibt eine Staatssekretärsverein-
barung, aus der ich Ihnen gerne etwas vorlesen möchte
– es geht um das Thema, über das wir diskutieren, näm-
lich um die Mittelbereitstellung –:

Bei unserem gestrigen Gespräch zur Gesundheits-
überprüfung der Gemeinsamen Agrarpolitik konn-
ten die zwei noch offenen Punkte des Positions-
papiers der Bundesregierung abschließend geklärt
werden. Um die Ziele der Haushaltskonsolidierung
hinreichend zu berücksichtigen, müssen die gekürz-
ten Mittel vollständig im Mitgliedstaat verbleiben,
und die zusätzliche Modulation darf nicht dazu füh-
ren, dass die Mitgliedstaaten mehr nationale Ko-
finanzierungsmittel als bisher bereitstellen müssen.

Das heißt im Klartext: Die Bundesregierung signali-
siert ihre Bereitschaft, im Bereich der Modulation im
Hinblick auf die Einkommen der Landwirte sehr große
Einschnitte vorzunehmen. Das kostet jede Menge Bau-
ern im Osten Deutschlands ihre Existenz. Das kostet
einen ordentlichen landwirtschaftlichen Betrieb in Nie-
dersachsen, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen
oder einem anderen Bundesland zwischen 4 000 und
5 000 Euro im Jahr. Das ist ein massiver Eingriff in die
Leistungsfähigkeit dieser Betriebe.

Die zusätzlichen Modulationsmittel müssen auch zur
Finanzierung von Milchbegleitmaßnahmen genutzt wer-
den, sagt Herr Seehofer. Damit ist dem Vorhaben, im Be-
reich der Modulation dramatische Einschnitte vorzuneh-
men, Tür und Tor geöffnet.






(A) (C)



(B) (D)


Hans-Michael Goldmann
Frau Künast, auch Ihre Kolleginnen Frau Höfken und
vor allen Dingen Frau Höhn werfen Herrn Minister
Seehofer hier Wortbruch vor. Frau Höhn, ich bin total
überrascht darüber, dass Sie sagen, er blockiere die Re-
form der Agrarhilfe zugunsten des Klimaschutzes.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


– Nun einmal langsam. – Das heißt im Klartext, dass Sie
im Grunde genommen einen Health Check, eine Agrar-
reform in Richtung von mehr Klimaschutz wollen. Die-
sen Klimaschutz können Sie nur über Modulationsmittel
finanzieren. Also lösen Sie Ihren Pakt auf, den Sie da-
mals unter der Leitung von Frau Ministerin Künast ge-
schlossen haben.


(Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Das wiederum bedeutet einen Eingriff in die erste
Säule; denn das steht im Moment zur Diskussion. Es
steht nicht zur Diskussion, ob die Gewichtung zwischen
der ersten und der zweiten Säule irgendwann einmal ver-
ändert worden ist.

Lassen Sie mich noch etwas zur Milch sagen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617917600

Kollege Goldmann, das wird nicht mehr funktionie-

ren. Ich kann auch die Zwischenfrage von Frau Künast
nicht mehr zulassen, die sie inzwischen angemeldet hat,
da Sie Ihre Redezeit zu dem Zeitpunkt bereits überschrit-
ten hatten. Ich bitte Sie also, zum Schluss zu kommen.


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1617917700

Ich hatte fünf Minuten Redezeit, allerdings wurden

hier nur vier Minuten angezeigt.


(Ulrich Kelber [SPD]: Keine Verhandlungen mit der Präsidentin!)


– Ich verhandle nie mit der Präsidentin, aber wenn man
fünf Minuten Redezeit hat, dann sollten hier auch fünf
Minuten und nicht vier Minuten stehen.


(Zurufe von der SPD: Oh!)


– Das ist ja das Problem: Wir haben in dieser kurzen Zeit
relativ viel Vernünftiges zu sagen. – Wird die Zwischen-
frage jetzt noch gestellt?


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617917800

Kommen Sie bitte zu Ihrem letzten Satz. Sie haben

Ihre Redezeit mittlerweile deutlich überschritten.


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1617917900

Ich komme zum Schluss. – Ich hätte die Frage von

Frau Künast, die sie stellen wollte, gerne noch beantwor-
tet.

Ich glaube, dass wir im Bereich der Milch auf dem
einzig richtigen Weg sind: rein in den Markt mit so vie-
len Bauern wie irgend möglich. Von mir aus wird auch
ein Begleitprogramm erstellt. Dieses dürfen wir aber
nicht mit Modulationsmitteln finanzieren, sondern dafür
müssen wir die eingesparten Mittel verwenden, die auf
europäischer Ebene im Moment nicht für die Agrarwirt-
schaft zur Verfügung gestellt werden. Das ist der richtige
Weg.


(Beifall bei der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617918000

Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Wolff das

Wort.


Waltraud Wolff (SPD):
Rede ID: ID1617918100

Sehr geehrter Herr Kollege Goldmann, Sie haben vor-

hin die ostdeutsche Landwirtschaft und insbesondere
auch mich angesprochen. Ich möchte hier ganz deutlich
machen, dass der Maiswurzelbohrer, den Sie hier ange-
sprochen haben, nicht vorrangig in Ostdeutschland, son-
dern im Süden der Republik, nämlich in Bayern und in
Baden-Württemberg, zu finden ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich finde, wenn Sie hier die ostdeutsche Landwirt-
schaft diffamieren, dann ist das wirklich eine Kurzinter-
vention wert.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617918200

Damit haben Sie die Gelegenheit, der Kollegin Wolff

zu antworten.


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1617918300

Liebe Kollegin Wolff, ich bin sehr überrascht darüber,

dass du mich so bewusst missverstehen willst.


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Ich habe einen Zusammenhang zur guten fachlichen
Praxis hergestellt. Es wurde hier zum Ausdruck ge-
bracht, dass großflächige Strukturen besonders angreif-
bar sind, wenn sie nicht im Rahmen guter fachlicher Pra-
xis realisiert werden. Deswegen habe ich gesagt, dass ich
der Auffassung bin, dass gerade für intensiv arbeitende
Betriebe mit großen Strukturen Gentechnik eine Pro-
blemlösung sein kann.

Dass der Maiswurzelbohrer, wie du ja weißt, nicht im
Osten vertreten ist, der Maiszünsler, bei dem es im
Grunde genommen genau die gleiche Problematik gibt,
aber sehr wohl, wird dir sicherlich bekannt sein.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617918400

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Elvira

Drobinski-Weiß das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Elvira Drobinski-Weiß (SPD):
Rede ID: ID1617918500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich denke, wir alle sind uns darin einig, dass
die Rahmenbedingungen für den Milchmarkt, um den es






(A) (C)



(B) (D)


Elvira Drobinski-Weiß
heute auch noch geht, verbessert werden müssen. Den-
noch lehnen wir die populistischen Forderungen ab;
denn sie sind für die Weiterentwicklung des Milchsek-
tors nur wenig hilfreich. Aus diesem Grunde lehnen wir
auch den Antrag der Grünen ab. Welche konkreten Maß-
nahmen hier im Einzelnen ergriffen werden müssen,
werden wir in den nächsten Wochen in der Koalition si-
cherlich diskutieren.

Von der Milch ist der Weg zur Gentechnik nicht weit.
Eines der größten milchverarbeitenden Unternehmen in
Deutschland, nämlich die Campina GmbH, hat heute im
Vorfeld der Internationalen Fachmesse für Molkereipro-
dukte für seine wichtigste Marke „Landliebe“ den Ein-
stieg in die „Ohne Gentechnik“-Kennzeichnung ange-
kündigt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir begrüßen einen neuen großen Anbieter in diesem
Segment. Im Rahmen der Fachkonferenz der SPD-Frak-
tion kündigte letzte Woche auch die mittelständische Su-
permarktkette tegut an, neben dem bereits bestehenden
Angebot an Molkereiprodukten auch beim Schweine-
fleisch in die „Ohne Gentechnik“-Kennzeichnung einzu-
steigen. Mehrere Anbieter haben auf unserer Konferenz
zur Kennzeichnungsregelung gezeigt, dass diese Kenn-
zeichnung machbar ist. Das Interesse der Marktteilneh-
mer ist groß. Einige sind bereits auf dem Markt; bei an-
deren steht der Einstieg unmittelbar bevor. Das ist, wie
ich finde, ein Vorteil für die Verbraucherinnen und Ver-
braucher, die durch die so entstehende Transparenz end-
lich auswählen können, Herr Kollege.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Herr Minister Seehofer ist leider nicht da. Herr Staats-
sekretär, bitte übermitteln Sie ihm unseren Dank, dass
wir mit der „Ohne Gentechnik“-Kennzeichnung ein
wirklich gutes Vorhaben auf den Weg bringen können.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Umso empörender und unverständlicher ist der Eier-
kurs, den die CSU in Sachen gentechnikfreie Regionen
eingeschlagen hat. Die Überschrift „In Bayern bin ich
gegen Gentechnik“ aus der Süddeutschen Zeitung ist be-
reits zitiert worden. In Bayern sind Sie also dagegen und
in Berlin dafür? Bislang sind etwa 15 000 Mails bei
Herrn Seehofer und Herrn Dr. Ramsauer eingegangen.
Sie wurden von Bürgerinnen und Bürgern geschrieben,
die genau wissen, dass es nicht reicht, in Bayern mehr
Rechte für gentechnikfreie Regionen zu fordern, sondern
dass man sich hier in Berlin und später auch in Brüssel
dafür einsetzen muss, dass solche Forderungen ernst ge-
meint sind.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir stehen bereit, um gemeinsam mit Ihnen den Wor-
ten Taten folgen zu lassen. Die Forderungen der CSU
nach Verbindlichkeit für die gentechnikfreien Regionen
und nach der Möglichkeit, dass Länder und Regionen
künftig selbst über den gewerblichen Anbau von gen-
technisch veränderten Pflanzen oder die Forschung ent-
scheiden können, begrüßen wir ausdrücklich. Wir haben
sie bereits im Juni in unseren Antragsentwurf „Für eine
nachhaltige Weiterentwicklung des europäischen Gen-
technikrechts“ aufgenommen.

Unser Antragsentwurf enthält Forderungen, mit de-
nen die CSU Landtagswahlkampf betreibt. Ich nenne
beispielsweise die Überarbeitung des EU-Zulassungs-
verfahrens für gentechnisch veränderte Pflanzen. Wir
wollen mehr Transparenz und Demokratie bei diesen
Entscheidungen und eine stärkere Berücksichtigung
auch von kritischen Stellungnahmen. Wir fordern ein
Anbauverbot für nicht koexistenzfähige Pflanzen wie
Raps. Wir fordern die Kennzeichnung von GVO-halti-
gem Saatgut ab der Nachweisgrenze von 0,1 Prozent.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Diese Forderungen waren auch schon von Herrn
Dr. Ramsauer, Herrn Minister Seehofer und anderen
CSU-Politikern zu hören. Was hielt Sie also bisher da-
von ab, mit uns über unseren Entwurf zu diskutieren?

Wenn wir den Antrag der Grünen nachher in die Aus-
schüsse überweisen, dann habe ich dabei Bauchschmer-
zen. Ich hoffe auf ernsthafte Beratungen und auf die
Redlichkeit der CSU. Ich fordere Sie auf, gemeinsam
mit uns für die Einbringung und Umsetzung dieser For-
derungen zu sorgen. Denn wenn sich Ihr Einsatz für die
gentechnikfreien Regionen als Wahlkampfgetöse ent-
puppt, dann fällt das nicht nur Ihnen von der CSU auf
die Füße, sondern die Menschen im Land verlieren ihr
Vertrauen in die Politik. Das schadet uns allen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617918600

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Eva

Bulling-Schröter das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617918700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Warum soll nicht jede Region, jedes Bundesland und je-
der Mitgliedstaat selbst darüber entscheiden dürfen, ob
Agrogentechnik genutzt wird oder nicht? Das würde ich
begrüßen.


(Beifall bei der LINKEN – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Unmöglich ist das! Das ist doch Enteignung!)


Dass solche Entscheidungen gegenwärtig von der EU
untersagt werden, finde ich fatal.

Unabhängig davon lehne ich die Grüne Gentechnik
grundsätzlich ab. Die Risiken sind nicht beherrschbar,
und wir brauchen diese Technologie auch nicht.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Eva Bulling-Schröter
Wir sind auch dafür, MON 810 zu verbieten. Das läge
nämlich in der Kompetenz der Bundesregierung. Aber
Herr Bleser hat bereits gesagt, dass die Bundesregierung,
zumindest CDU und CSU, dies nicht tun wird.

Noch einmal zurück: Am letzten Dienstag musste ein
bayerischer Imker seine gesamte Honigernte in der
Müllverbrennungsanlage in Augsburg vernichten; das
Glas haben wir bereits gesehen. Sie war trotz aller Vor-
sichtsmaßnahmen mit Pollen von MON 810 des Vorjah-
res belastet. Die Imker meinen, schon bei 2 Prozent
Genanbaufläche in Bayern sei dort praktisch keine
Honigernte mehr möglich. Daher frage ich Sie, meine
Damen und Herren von der CSU: Was sagen Sie denn
den Menschen nun im Wahlkampf? Die wollen doch
Antworten hören!


(Beifall bei der LINKEN)


Vielleicht nehmen Sie zur Kenntnis, dass nach einer ak-
tuellen Emnid-Umfrage 80 Prozent der Bayerinnen und
Bayern MON 810 verbieten lassen wollen. Sie sind doch
eine Volkspartei. Dann machen Sie das doch endlich!


(Beifall bei der LINKEN)


Es sieht aber so aus, als ob die CSU in Bayern Oppo-
sition gegen sich selber in Berlin machte. Das stellt man
in vielen Fragen fest. Während sich die CSU-Landtags-
fraktion dafür einsetzt, gentechnikfreie Zonen zu schüt-
zen, hat Herr Seehofer seinerzeit fast als erste Amts-
handlung für die bundesweite Zulassung von MON-810-
Genmais gesorgt. In der Süddeutschen Zeitung hat er
wiederum in der letzten Woche erklärt: „In Bayern bin
ich gegen Gentechnik.“ Vielleicht hat der Bischof von
Eichstätt jetzt doch gewirkt. Wir wünschen uns das je-
denfalls sehr.


(Beifall bei der LINKEN)


Zu Hause den Gentechnikkritiker und den Bewahrer der
Schöpfung spielen, im Bundestag aber dafür sorgen,
dass das Teufelszeug auf die Felder und dann auf den
Teller kommt, das ist scheinheilig. So nennt man das je-
denfalls in Bayern.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Bleser, der weltweite Hunger wird nicht durch
die Gentechnik beseitigt oder zumindest gelindert. Das
sagen nicht wir, sondern der Weltagrarrat, Misereor und
„Brot für die Welt“. Zumindest diese müssten Sie ken-
nen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber vielleicht stehen bei Ihnen die großen Konzerne
vor der Tür – Bayer, BASF, Monsanto – und flüstern Ih-
nen ab und zu etwas ein.


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das ist ja lächerlich!)


Das könnte ja sein.


(Peter Bleser [CDU/CSU]: Sie müssen Ihr Feindbild einmal ändern! Es ist überholt!)

Jetzt zur Milchwirtschaft. Beim Milchstreik in diesem
Sommer wurde von den Bauern zum ersten Mal in der
Geschichte Milch in bislang unbekannten Größenord-
nungen weggeschüttet. Das heißt, die Bauern sind ver-
zweifelt. Das muss man ganz ernst nehmen. Es heißt im-
mer, man bekomme keine drei Bauern unter einen Hut.
Doch offensichtlich hat man es angesichts dieser Ver-
hältnisse doch geschafft. Es ist tatsächlich so, wie es mir
Milchbauern aus meiner Region gesagt haben. Sie halten
es für eine Unverschämtheit, wie man mit Menschen
umgeht, die 365 Tage zweimal am Tag ihre Tiere mel-
ken. Damit haben sie recht.


(Beifall bei der LINKEN)


Für diese Menschen ist es absolut unverständlich, dass
jetzt die Milchquoten wieder erhöht werden sollen, wo-
durch der Preis möglicherweise noch weiter in den Kel-
ler fällt.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Gleichzeitig fordert der Deutsche Raiffeisenverband als
Vertretung der genossenschaftlichen Molkereien, die alte
Exportsubvention für Molkereiprodukte wieder einzu-
führen, um für Marktentlastung zu sorgen. Beides sind
völlig falsche Politikansätze.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir unterstützen die Abkehr von der totalen Liberali-
sierung der Milchwirtschaft, welche de facto durch die
Abschaffung der Milchquote stattfindet. Die Milchwirt-
schaft wird damit an vielen Standorten in Deutschland,
in Ost und in West, nicht mehr im Kampf um die nied-
rigsten Erzeugerpreise mithalten können.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617918800

Kollegin Bulling-Schröter, achten Sie bitte auf die

Zeit.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617918900

Letzter Satz. – Wir unterstützen Ihre Anträge, meine

Damen und Herren von den Grünen. Wir halten sie für
eine gute Diskussionsgrundlage. Ich wünsche, dass über
diese Themen breit diskutiert wird.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Dann müssen Sie in den Ausschuss kommen! Dann können Sie mitreden!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617919000

Das Wort hat der Kollege Ulrich Kelber für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1617919100

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Was passiert eigentlich, wenn man die CSU mit
Karl May vergleicht? Als Erstes fallen einem Gemein-
samkeiten auf. Genauso wie Karl May schafft es die
CSU, mit blumigen Worten über Dinge zu schreiben, bei






(A) (C)



(B) (D)


Ulrich Kelber
denen sie nie dabei war. Genauso wie Karl May schafft
es die CSU, sich mit Pathos mit Taten zu brüsten, die sie
nie begangen hat.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Es gibt aber einen wichtigen Unterschied: Karl May
wäre nie auf die Idee gekommen, andere Menschen mit
juristischem Kleinkram daran zu hindern, das zu tun, mit
dem er sich gebrüstet hat und was er nie gemacht hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich bin jetzt acht Jahre Mitglied des Deutschen Bun-
destages, aber ein solches politisches Bubenstück wie
das Verhalten der CSU in der Gentechnik habe ich in
diesen acht Jahren nicht erlebt.


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Oh je!)


Ich hätte nicht gedacht, dass ich in diesem Deutschen
Bundestag eine solche Menge an Lügen und Verdrehun-
gen kennenlernen müsste. Ich war das bisher von Sekten
und extremistischen Parteien gewöhnt, von sonst nie-
mandem.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lebhafter Widerspruch bei der CDU/CSU – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was machen Sie da eigentlich?)


Man muss die Fakten klarstellen: Die Zulassung für
den Genmais wurde von einem CSU-Minister angeord-
net. Dieser CSU-Minister hätte den Anbau von MON 810
in diesem Jahr auch stoppen können, und dann hätten
wir die Probleme in Bayern und in anderen Teilen der
Republik nicht gehabt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


In den gesamten Verhandlungen der Jahre 2006 und
2007 über das Gentechnikrecht in Deutschland haben
sich CDU und CSU geweigert, die Forderung nach ver-
bindlich gentechnikfreien Regionen zu erfüllen. Im
Juni 2008 gab es einen Antrag der CSU im Bayerischen
Landtag, dass sich Bayern im Bundesrat für die Einrich-
tung verbindlich gentechnikfreier Regionen einsetzen
solle. Das wurde durch die CSU abgelehnt. Seit Juni
liegt CDU und CSU der Entwurf eines Antrags der SPD-
Bundestagsfraktion vor, dass sich der Deutsche Bundes-
tag für verbindlich gentechnikfreie Regionen ausspre-
chen soll. Das wurde mit Verweis auf den Koalitionsver-
trag verweigert. Dadurch darf die SPD diesen Antrag
nicht in den Deutschen Bundestag einbringen. Diese
Parteien können nicht behaupten, sie seien für verbind-
lich gentechnikfreie Regionen, wenn sie jeden konkreten
Beschluss dazu hintertreiben und mit juristischen Mit-
teln verhindern.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen einen Nerv bei der CSU erwischt haben.
Herr Staatssekretär, Sie sitzen nicht auf der Regierungs-
bank, sondern in den Reihen der Abgeordneten und ver-
treten wahrscheinlich Herrn Ramsauer, den Chef der
CSU-Landesgruppe, der heute nicht da ist. In dessen
Wahlkreis ist heute eine Anzeige erschienen, in der sug-
geriert wird, die SPD sei für die Grüne Gentechnik, die
CSU aber handele. Ein Antrag der SPD, Langzeitversu-
che mit Genfutter durchzuführen, wird so interpretiert,
als sei die SPD dafür, die Tiere in Deutschland mit gen-
technisch verändertem Futter zu versorgen.


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Dies ist die Forderung der Gentechnikgegner, die end-
lich wissen wollen, was mit den Tieren passiert, wenn
sie nicht nur sechs Wochen, sondern zwei Jahre lang da-
mit gefüttert werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Dann gab es – das ist eine der dreistesten Geschich-
ten, die ich erlebt habe – im März 2008 eine Anzeige der
CSU mit der Behauptung, die SPD-Bundestagsfraktion
stimme für die Einfuhr von Genmais. Im März 2008 gab
es einen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen,
MON 810 in Deutschland nicht mehr anbauen zu dürfen.
In der gesamten Debatte haben sich die Redner der SPD
für diesen Antrag ausgesprochen, aber unser Koalitions-
partner CSU hat die Karte des Koalitionsvertrags gezo-
gen und gesagt: Wenn wir nicht zustimmen, dürft auch
ihr einem Antrag der Grünen nicht zustimmen. – Wir
mussten mit Nein stimmen, um vertragstreu zu sein. Das
in einer CSU-Anzeige zu finden, ist dreist bis zum Ab-
winken.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617919200

Herr Kollege Kelber, gestatten Sie Zwischenfragen

der Kollegin Happach-Kasan und der Kollegin
Klöckner?


Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1617919300

Gerne, selbstverständlich.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617919400

Bitte schön, Frau Happach-Kasan.


(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Stopft ihnen die Genmäuler!)



Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1617919500

Herr Kollege Kelber, ich habe drei Fragen an Sie.

Geht das, Frau Präsidentin? – Nur eine, dann verbinde
ich sie.


Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1617919600

Machen Sie eine längere Frage daraus.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1617919700

Ja, ich mache eine längere daraus. – Mich würde inte-

ressieren, ob Sie eigentlich wissen, in welchem Umfang
die Schweinehaltung, die Rinderhaltung und die Hüh-
nerhaltung in der deutschen Landwirtschaft von der Ver-
fütterung von gentechnisch veränderten Pflanzen, bei-
spielsweise aus Importen, abhängen. Können Sie dem
zustimmen, was ein Leserbriefschreiber in der Süddeut-
schen Zeitung geschrieben hat, nämlich dass ursprüng-
lich in Bayern der Anbau von gentechnisch verändertem
Mais auf 116 Hektar angekündigt war, hinterher aber nur
9,9 Hektar tatsächlich angebaut worden sind? Wissen
Sie, dass dieser Leserbriefschreiber, der Ihnen übrigens
nahesteht,


(Zuruf von der SPD: Woher wissen Sie das?)


die Beobachtung gemacht hat, dass es Diffamierungen
der Landwirte gegeben hat, die gentechnisch veränder-
ten Mais anbauen wollten? Sie haben intensiv für gen-
technikfreie Zonen geworben und wollen, dass die Re-
gionen über deren Einrichtung entscheiden. Was in der
EU zugelassen wird, möchte man in der Kommune ver-
bieten können. Wie sieht es denn eigentlich aus: Wollen
Sie den Kommunen auch das Recht geben, über Kraft-
fahrzeuge zu entscheiden, darüber, ob in einer Kom-
mune in Schleswig-Holstein zum Beispiel BMW gefah-
ren werden darf?


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617919800

Frau Kollegin Happach-Kasan!


Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1617919900

Ich bin damit am Schluss meiner Zwischenfrage.


Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1617920000

Zum zweiten Teil – ich lasse den Teil, der natürlich

eine Meinungsäußerung von Ihnen war, beiseite –: Wie
Sie wissen, können Kommunen darüber entscheiden, ob
eine Umweltzone eingerichtet wird oder ob ein Kraft-
werk gebaut wird. Nur da, wo Ihnen die Mehrheitsmei-
nung der deutschen Bevölkerung nicht passt – Umfragen
besagen: 80 Prozent wollen keine Gentechnik in Lebens-
mitteln und auf dem Acker –,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


wollen Sie die Verantwortung nach Brüssel schieben, da-
mit nicht vor Ort entschieden werden kann. Das sehen
wir anders.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie sind fehlinformiert! Geht es auch umgekehrt, dass die Kommune beschließt?)


Sie haben unsere Forderung nach verbindlich gen-
technikfreien Regionen angesprochen. Wir wollen zu-
dem kennzeichnen und keinen anderen Weg gehen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wir wollen wissen: Wie viel gentechnisch veränderte Futtermittel?)


Die SPD-Fraktion hat noch in der letzten Woche eine
Fachanhörung durchgeführt, in der auch Vertreter des
Raiffeisenverbands – auf den haben Sie sich indirekt be-
zogen – waren. Da wurde noch einmal gesagt: Wer in
Deutschland gentechnikfreies Futter beziehen will, be-
kommt es im Rahmen von langfristigen Verträgen auf
dem Weltmarkt zu den gleichen Preisen wie gentechnik-
haltiges Futter.


(Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Die Frage ist nicht beantwortet! – Peter Bleser [CDU/CSU]: Das stimmt nicht! Nicht zu gleichen Preisen!)


Es ist nicht schön, dass auf bestimmten Webseiten
nicht darauf verwiesen wird, dass zum Beispiel Indien
sich entschieden hat, seine boomende Sojaindustrie voll-
ständig gentechnikfrei aufzubauen, und nur auf die
Märkte in Europa wartet, um beliefern zu können.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich meine den Raiffeisenverband Kehl. Lesen Sie das
auf der Webseite nach! Wenn Sie dort anrufen, wird Ih-
nen das bestätigt werden, Frau Happach-Kasan.


(Abg. Dr. Christel Happach-Kasan [FDP] meldet sich zu einer weiteren Zwischenfrage)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617920100

Frau Happach-Kasan, auch die Frau Kollegin

Klöckner würde gern eine Zwischenfrage stellen, und
dann würde ich den Kollegen Kelber gern zum Schluss
kommen lassen.


Julia Klöckner (CDU):
Rede ID: ID1617920200

Sehr geehrter Herr Kelber, mich irritiert die Sauber-

manngeschichte, die Sie gerade betreiben, ein bisschen.
Ich erinnere mich an unsere Debatte um die Kennzeich-
nung „Ohne Gentechnik“. Uns als Union war es wichtig,
für Wahrheit und Klarheit zu sorgen und den Verbrau-
cherinnen und Verbrauchern auf den Etiketten von Pro-
dukten mitzuteilen, ob sie gentechnisch veränderte Be-
standteile enthalten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD)


Deshalb ist uns wichtig, dass bei einer Kennzeichnung
„Ohne Gentechnik“ auch keine Gentechnik im Prozess
verwendet worden ist.

Aufgrund der SPD-Intervention ist ein Eintrag von
0,9 Prozent während des Prozesses oder sind auch gen-
technisch veränderte Futtermittel, Enzyme etc. zulässig.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Hört! Hört! Herr Kelber!)


Deshalb irritiert mich das etwas.

Meine Frage lautet: Ist Ihnen das klar? Wie machen
Sie den Verbraucherinnen und Verbrauchern klar, dass
man es bei einer Kennzeichnung „Ohne Gentechnik“
durchaus mit einer gentechnischen Veränderung zu tun
haben kann.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja, Herr Kelber! Aber jetzt nicht so laut!)







(A) (C)



(B) (D)


Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1617920300

Ich hatte nicht mehr zu hoffen gewagt, dass diese

Zwischenfrage kommt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt immer Grund zur Hoffnung!)


Es ist eine relativ langwierige Debatte. Man kann sie ab-
kürzen, indem man schaut, wer hinter welchem Vor-
schlag steht.


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Ich stehe hinter meinem Vorschlag! – Peter Bleser [CDU/ CSU]: Das ist keine Antwort!)


Hinter Ihrem Vorschlag stehen der Bundesverband des
Deutschen Lebensmittelhandels, die großen Monopolis-
ten, die großen Chemieriesen, die die Gentechnik los-
werden wollen.


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Beantworten Sie die Frage!)


Hinter dem Vorschlag der Kennzeichnung „Ohne Gen-
technik“ stehen der Verbraucherzentrale Bundesverband,


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das ist aber schlecht!)


Greenpeace, BUND, NABU, die kleinen Betriebe der
ökologischen Lebensmittelwirtschaft


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das ist keine Logik!)


und alle die, denen die Verbraucherinteressen


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Was ist die Logik? – Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Peinlich!)


und nicht die eigenen wirtschaftlichen Interessen am
Herzen liegen. An den Freunden könnt ihr sie erkennen!


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist der beste Hinweis darauf, dass das, was Sie
gefordert haben, nicht Klarheit und Wahrheit war, son-
dern der Wunsch, es der Gentechniklobby zu ermögli-
chen, weiterhin in allen Lebensmitteln sozusagen unter-
zukommen und dabei nicht erkannt zu werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Julia Klöckner [CDU/CSU]: Null Argument! Peinlich! – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aber eine Arbeitnehmerpartei sind Sie schon noch?)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617920400

Herr Kollege Kelber, ich muss Sie fragen, ob Sie noch

eine Zwischenfrage, nämlich des Kollegen Straubinger,
zulassen.


Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1617920500

Ja, natürlich.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1617920600

Herr Kollege Kelber, da Sie sich gerade als der Ober-

kämpfer gegen die Gentechnik geriert haben und den
Eindruck erwecken wollten, die SPD sei schon immer
gegen die Gentechnik gewesen, frage ich: Würden Sie
mir bestätigen, dass gerade unter der rot-grünen Bundes-
regierung die Gentechnik in Europa hoffähig gemacht
worden ist,


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Genau!)


nämlich aufgrund der Beschlüsse der damaligen rot-grü-
nen Bundesregierung mit der damaligen Ministerin
Renate Künast,


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wollten Sie damals eigentlich immer?)


dass zudem in Bayern nur auf 8 Hektar Genmais ausge-
sät worden ist, während in dem von Ministerpräsident
Platzeck, SPD, regierten Brandenburg auf mehreren
Tausend Hektar Genmais zur Aussaat gebracht worden
ist? Wie lässt sich das mit den Grundsätzen vereinbaren,
die Sie hier darlegen?


Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1617920700

Zunächst zur zweiten Frage: Das Bundesrecht, das

wir im Deutschen Bundestag dahin gehend ändern wol-
len, dass Regionen sich verbindlich als gentechnisch frei
erklären können, wird in Bayern wie in Brandenburg
gelten. Ich sage Ihnen voraus, dass dann auch in Bran-
denburg zahlreiche Kommunen verhindern werden, dass
auf ihrem Gebiet Gentechnik auf die Äcker kommt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zu Ihrer ersten Frage, Herr Straubinger: Ich glaube,
Sie waren zu Beginn der Debatte noch nicht im Saal.
Ansonsten hätten Sie nämlich gehört, was die Kollegin
Künast erklärt hat. Ich kann Ihnen den Zeitplan bestäti-
gen: Die Zulassung von MON 810, dem einzigen in
Deutschland in größerem Maßstab verwendeten Gen-
mais, hat noch vor der Bundestagswahl 1998 in der EU
stattgefunden. Zuständig war damals der Gesundheits-
minister der Regierung Kohl/Westerwelle, der Horst
Seehofer hieß. Über die Zulassung in Deutschland
wurde kurz nach dem November 2005 entschieden.
Diesmal war der Landwirtschaftsminister zuständig, der
wiederum Horst Seehofer, CSU, hieß. Sie sollten den ei-
genen Anzeigen nicht glauben. Sie müssen ins europäi-
sche Gesetzblatt schauen. Dort finden Sie die Wahrheit.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist ein ganz wichtiges Signal. Man muss der CSU
nicht glauben, wenn sie seit drei Monaten plötzlich ge-
gen Gentechnik ist. Dies wird nach dem nächsten Sonn-
tag alles vergeben und vergessen sein; dann werden sich
wieder andere in der Partei durchsetzen, die diesen Kurs
nie mitgetragen haben. Das Schöne aber ist, dass die
Menschen das merken. Wenn sich die Menschen in Bay-
ern und in Deutschland, die uns heute zugehört haben,
fragen, ob die Redner von den Grünen, von der Links-
partei, von der FDP, von der CDU/CSU oder von der
SPD recht hatten, dann sollten sie auf die Webseiten
vom BUND, von Greenpeace, vom Imkerbund, von der






(A) (C)



(B) (D)


Ulrich Kelber
Aktion Zivilcourage, von Campact und all denen, die für
die Verbraucherseite gegen Gentechnik kämpfen, gehen.
Sie alle beginnen mit der gleichen Schlagzeile: Glaubt
dem Täuschungsmanöver der CSU nicht, sie meint es an
dieser Stelle nicht ehrlich.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Kristina Köhler [Wiesbaden] [CDU/CSU]: Aber die SPD!?)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617920800

Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem

Kollegen Müller.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich stelle gleich einen Zitierantrag! Da sitzt keiner vom Ministerium auf der Regierungsbank!)



Dr. Gerd Müller (CSU):
Rede ID: ID1617920900

Lieber Kollege Kelber, die Debatte könnte man in

weiten Zügen fast als oktoberfestreif bezeichnen, wenn
es nicht so traurig wäre. Deshalb nenne ich als CSU-Po-
litiker zur Klarstellung einige Fakten.

Die Grüne Gentechnik wird auf 120 Millionen Hektar
in 25 Staaten der Welt angebaut. In Deutschland haben
wir ungefähr 1 000 Hektar. In Bayern sind es 10 Hektar
– das sind fünf Fußballfelder –,


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Viel zu viele!)


davon der wesentliche Teil für den Forschungsanbau.
Deshalb kam Minister Seehofer zu der Aussage, dass in
Bayern die Grüne Gentechnik keine Rolle spiele.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können ja gar nicht für den Minister reden! Schiebung!)


Das zweite Faktum: Die Freisetzungsrichtlinie zum
Anbau von MON 810 hat Frau Renate Künast mit den
Grünen umgesetzt. Dass diese Tür aufgestoßen wurde,
ist die Basis für die Zulassung gewesen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Gefehlt hat die Festlegung klarer Grundsätze der
fachlichen Praxis. Hier haben wir vonseiten der CDU/
CSU und dieser Koalitionsregierung gehandelt und
klare, strenge Regeln für die Freisetzung, unter anderem
Abstandsregelungen,


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Miniabstände!)


festgelegt. Auch dies war vorher nicht der Fall. Darüber
hinaus haben wir die Kennzeichnung „Ohne Gentech-
nik“ eingeführt, was ebenfalls ein ganz entscheidender
Punkt war.

Warum haben wir das gemacht? Die Grüne Gentech-
nik wird sich durchsetzen oder auch nicht. Aber das ent-
scheiden die Verbraucher und die Bauern. Dem Verbrau-
cher, der zur Grünen Gentechnik Nein sagt, weil er sie
nicht will, geben wir durch die Kennzeichnung die Mög-
lichkeit, sich so zu entscheiden. Wenn der Bauer erklärt,
er baue das nicht an, dann ist es in Ordnung. Wir machen
keine Politik gegen Bauern, gegen Verbraucher, gegen
die Bürgerinnen und Bürger. Das ist unsere Linie.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617921000

Herr Kollege Kelber, bitte.


Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1617921100

Die Kurzintervention bestand ja aus drei Teilen. Ich

gehe auf den dritten Teil zuerst ein; denn das, was Sie,
Herr Müller – aha, Sie sind wieder auf die Regierungs-
bank gewechselt –, im dritten Teil gesagt haben, war
richtig. Sie haben sich da auf die Dinge bezogen, die wir
gemeinsam gemacht haben: gute fachliche Praxis und
Kennzeichnungspflicht. Ich freue mich, dass diese For-
derungen, die damals von der SPD in die Koalitionsver-
handlungen eingebracht wurden – das ist nachlesbar –,
heute gemeinsames Gedankengut der beiden Koalitions-
partner sind.


(Beifall bei der SPD)


Zweiter Punkt. Bezüglich des Themas Freisetzungs-
richtlinie haben Sie heute den Versuch unternommen,
dieses in neuer Art und Weise darzustellen. Da muss
man ja aufpassen. Sie sagten – komisch, dass ich jetzt
für die Opposition sprechen muss –,


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gerne!)


Künast habe die Freisetzungsrichtlinie umgesetzt. Ge-
nauso war es zwar, aber die Freisetzungsrichtlinie wurde
unter der Regierung Kohl/Westerwelle beschlossen, mit
Seehofer als zuständigem Minister


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was soll das denn mit „Westerwelle“?)


Sie war danach bindend. Das europäische Recht musste
danach verpflichtend in nationales Recht umgesetzt wer-
den. Dass dieser Punkt zu bindendem europäischem
Recht wurde, dafür hat Ihr Minister Seehofer, der in ei-
ner Dreiviertelstunde auf der Ministerkonferenz sein
muss, gesorgt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!)


Letzter Punkt. Die Gentechniklobbyisten sprechen
immer gerne davon, auf soundso vielen Millionen Hek-
tar in soundso vielen Staaten würden ihre Produkte ange-
baut. Das hört sich groß und bedeutend an. Wenn man
genauer hinschaut, stellt man fest, dass sich 95 Prozent
der Anbaufläche in drei Staaten befinden, nämlich in den
USA, wo die Konzerne ihren Sitz haben, sowie in Ar-
gentinien und Brasilien, wo dies mit Macht durchge-
drückt wurde. Der ganze restliche Anbau ist unbedeu-
tend. Immer mehr Staaten versuchen sogar, aus dieser
Technologie auszusteigen.






(A) (C)



(B) (D)


Ulrich Kelber
Sie sind auf dem falschen Dampfer. Steigen Sie recht-
zeitig aus!


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617921200

Zu einer weiteren Kurzintervention gebe ich das Wort

der Kollegin Renate Künast.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617921300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Ganz ruhig! Wir atmen tief durch!)


– Auch Sie bekommen noch einen Chauvi-Preis. – Ich
halte es, ehrlich gesagt, in dieser Debatte für eine Art
Missachtung des Parlaments, wenn diejenigen, um deren
Politik es heute geht, nicht auf der Rednerliste auftau-
chen – phasenweise saß ja sogar niemand auf der Regie-
rungsbank – und es nicht wagen, in der Debatte Ross
und Reiter zu nennen und ihre inhaltliche Position darzu-
legen, aber am Ende im Rahmen einer Kurzintervention
versuchen, noch einmal ein bisschen Klarstellung zu be-
treiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Leute werden wissen, was das heißt.

Ich meine, dass diese Debatte gezeigt hat, dass die
CSU und die CDU die Bürger, die Verbraucher und die
Bauern alleine lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU)


Lassen Sie mich auch sagen: Der Beschluss der CSU,
den sie in Bayern gefasst hat, ist das Papier nicht wert,
auf dem er gedruckt worden ist. Warum ist das so? Hier
wird zwar so getan, als wolle man auf europäischer
Ebene aktiv werden und für gentechnikfreie Zonen ein-
treten, tatsächlich bietet er aber nicht einmal eine rechtli-
che Grundlage dafür, um demnächst im Agrarrat in
Brüssel in dieser Richtung tätig zu werden und auf diese
Weise die Europäische Kommission, die ja das Initiativ-
recht hat, zur Abfassung einer entsprechenden Vorlage
zu zwingen. Sie wollen das irgendwo im Europa der Re-
gionen zur Sprache bringen. Wenn Sie das aber wirklich
wollen, dann müssen Sie dafür sorgen, dass das da zur
Sprache kommt, wo wirklich Entscheidungskompetenz
ist. Das wären der Agrarrat und die Europäische Kom-
mission.

Ein Weiteres sage ich Ihnen: Sie haben jederzeit die
Möglichkeit, MON 810 die Zulassung zu entziehen. Das
haben Sie, Herr Kelber, hier klar gesagt. Verstecken Sie
sich also nicht hinter irgendwelchen Dingen! Bringen
Sie notfalls alleine einen Antrag dazu ein! Wir würden
dem zustimmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617921400

Herr Kollege Kelber möchte nicht antworten.

Herr Kollege Kelber, ich habe jetzt den Auszug des
Protokolls vor mir liegen. Sie haben gesagt:

Ich hätte nicht gedacht, dass ich in diesem Deut-
schen Bundestag eine solche Menge an Lügen und
Verdrehungen kennenlernen müsste. Ich war das
bisher von Sekten und extremistischen Parteien ge-
wöhnt, von sonst niemandem.


(Zurufe von der CDU/CSU: Pfui! – Ungeheuerlichkeit!)


Sie haben das eindeutig in Richtung CDU/CSU gesagt.
Das ist wenig parlamentarisch. Es tut mir leid; das muss
ich rügen. Ich bitte doch, zu überdenken, ob Sie sich
nicht entschuldigen wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Wollen Sie sich entschuldigen, Herr Kelber? – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die haben doch gelogen, Frau Präsidentin!)


Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/10202.

Ich erteile zunächst dem Kollegen Volker Beck für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort zur Ge-
schäftsordnung.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617921500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die an-

tragstellende Fraktion beantragt, den Antrag der Koali-
tion auf Überweisung zurückzuweisen und die Frage
heute in der Sache zu entscheiden.

Worum geht es im Antrag? Es geht um zwei leicht zu
beantwortende Fragen. Erstens geht es darum, ob sich
diese unsere Bundesregierung, die im Wesentlichen ab-
wesend ist, in Brüssel – vielleicht ist sie gerade in Brüs-
sel – dafür einsetzt,


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Zählen kann er auch nicht!)


dass die Einrichtung gentechnikfreier Zonen von den
Gebietskörperschaften unseres Landes beschlossen wer-
den kann. Es geht also darum, ob sie die Entscheidungs-
hoheit darüber haben, ob bei ihnen gentechnisch verän-
derte Pflanzen angebaut werden oder eben nicht.

Zweitens geht es um ein Moratorium für weitere an-
zubauende gentechnisch veränderte Pflanzen.

Das ist exakt das, was die CSU in Bayern gerade
landauf, landab in jedem Wahlkreis erklärt. Schauen Sie
sich einmal an, Herr Koschyk, was Ihr Landesgruppen-
chef Ramsauer gesagt hat:

Nach sorgfältiger Prüfung und Abwägung kommen
wir zu dem Ergebnis, dass es für einen Einsatz der
Grünen Gentechnik in unserem Landkreis mit der
kleinteiligen Agrarstruktur und den empfindlichen






(A) (C)



(B) (D)


Volker Beck (Köln)

und wertvollen Naturräumen zu viele offene Fragen
und kaum abschätzbare Risiken gibt.

Deswegen ist er dagegen, dass gentechnisch veränderte
Pflanzen angebaut werden.

Recht hat er. Mit der Zustimmung zu unserem Antrag
kann das jetzt Wirklichkeit werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Allerdings ist es ein Bubenstück, dass Herr Seehofer ei-
nerseits erklärt, in Bayern wolle er keine Gentechnik.
Andererseits sei er für Gentechnik in Brandenburg, wo
sich die Bürger dagegen wehren.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Zur Geschäftsordnung!)


Das ist natürlich nicht der Sinn einer solchen Regelung.
Vielmehr sollen die Bürgerinnen und Bürger eines jeden
Landkreises selber entscheiden, was dort gelten soll.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Zur Geschäftsordnungsdebatte!)


Meine Damen und Herren, Sie versuchen heute mit
diesem Überweisungsantrag – ich kann nicht verstehen,
warum auch die SPD ihn gestellt hat –, der CSU den Of-
fenbarungseid in der Frage der Gentechnik zu ersparen.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Frau Präsidentin, er muss wirklich zur Geschäftsordnung sprechen!)


Diese parlamentarische Woche ist – –


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617921600

Herr Kollege Beck, Sie müssen, bitte schön, zur Ge-

schäftsordnung sprechen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617921700

Ja, ich begründe gerade, warum – –


(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617921800

Nein, Sie begründen nicht.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617921900

Ich begründe gerade, warum – –


(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617922000

Nein, Herr Kollege Beck, Sie begründen nicht.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617922100

Ich begründe gerade, Frau Präsidentin, warum es

nicht in Ordnung ist, zu überweisen.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das ist ja ein Bubenstück, was Sie hier machen!)


Ich spreche nicht zur Sache, sondern dazu, –

Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617922200

Oh, Herr Kollege Beck!


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617922300

– Frau Präsidentin, dass es nicht okay ist,


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie wissen doch, dass die Präsidentin recht hat!)


die Entscheidung in dieser Sitzungswoche zu vertagen
und den Antrag zu überweisen. Ich plädiere dafür, jetzt
über ihn zu entscheiden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Julia Klöckner [CDU/ CSU]: Dann lassen Sie uns jetzt entscheiden!)


Ich möchte etwas zur Intention derjenigen sagen, die
nicht begründet haben, warum sie den Antrag überwei-
sen wollen.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)


Das ist zulässig, und ich bitte, Frau Präsidentin, hier
auch die unangenehmen Wahrheiten aussprechen zu dür-
fen, ohne gegen eine solche Lärmwand anschreien zu
müssen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser Sitzungs-
woche versuchen Sie mit allen Tricks, Entscheidungen
zu vermeiden. Sie haben uns heute sogar im Ältestenrat
verboten,


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


eine Tagesordnung für die nächste Sitzungswoche zu be-
schließen, weil Sie womöglich nicht eingestehen wollen,
dass die CSU in der nächsten Sitzungswoche – ähnlich
wie bei der Gentechnikfrage – bei der Debatte über die
Erbschaftsteuerreform die Hosen runterlassen muss.
Dies sollen die Wählerinnen und Wähler noch nicht er-
fahren.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren von der SPD, haben Sie
den Mut, diese Frage jetzt zu entscheiden. Dann wird
klar, wo die CSU steht. Ich glaube, wir haben hier im
Hohen Haus eine Mehrheit dafür, dafür zu sorgen, dass
in unserem Land keine gentechnisch veränderten Pflan-
zen in der Landwirtschaft mehr angebaut werden. Ver-
helfen Sie der CSU-Politik zu einer Chance, wenn sie
ernst gemeint sein soll.


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Ihnen hört doch niemand mehr zu!)


Ansonsten sollen die Wählerinnen und Wähler erfahren,
dass all das, was Sie den Bayerinnen und Bayern verkau-
fen, Wahlkampfgetöse,


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja!)


aber keine inhaltlich ernst gemeinte Politik war.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617922400

Wird das Wort zur Erwiderung gewünscht? – Das ist

nicht der Fall.

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Ab-
stimmung in der Sache. Die Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD wünschen Überweisung, und zwar feder-
führend an den Ausschuss für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz und mitberatend an den
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit. Die Abstimmung über den Antrag auf Ausschuss-
überweisung geht nach ständiger Übung vor. Ich frage
deshalb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist die
Überweisung so beschlossen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wie hat denn Herr Kelber abgestimmt? – Gegenruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD]: Haben Sie das nicht gesehen? – Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Das war wirklich ganz schwach, Herr Kelber!)


Damit stimmen wir heute über den Antrag auf Drucksa-
che 16/10202 nicht ab.

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernäh-
rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu dem An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel
„Rahmenbedingungen für Milchmarkt verbessern – Faire
Erzeugerpreise für Milch unterstützen“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
16/9869, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 16/9601 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstim-
men von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die
Linke angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes-
serung der Rahmenbedingungen für die Ab-
sicherung flexibler Arbeitszeitregelungen

– Drucksache 16/10289 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich gebe das Wort dem Bundesminister Olaf Scholz.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Sozia-
les:

Meine Damen und Herren! Nach der eben sorgfältig
geführten Debatte muss man sagen: Hier geht es jetzt um
ein Erfolgsprojekt der Großen Koalition.


(Beifall bei der SPD)

Im Hinblick auf die eine oder andere Wortmeldung, die
ich gehört habe, und auf das Beklagen darüber, dass die
Regierung nicht ordentlich vertreten sei, möchte ich da-
rauf hinweisen, dass, wenn der Bundesminister für Ar-
beit und Soziales hier ist, immerhin 123 Milliarden Euro
des Haushaltes repräsentiert werden.


(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Deswegen mussten wir das gestern in anderthalb Stunden absolvieren!)


Zeit zu haben für das eigene Leben, für die privaten
Belange, ist etwas Wichtiges, gerade wenn man bedenkt,
dass Arbeit eine lange Zeit unser Leben bestimmt. Wer
mit 16 die Schule verlässt, muss damit rechnen, 50 Jahre
arbeiten zu müssen. Es können auch 40 Jahre sein; aber
jedenfalls sind es viele Jahrzehnte, in denen Arbeit das
Leben begleitet. Das führt dazu, dass wir uns Gedanken
darüber machen müssen, wie die Beschäftigten genü-
gend Souveränität erhalten können, um während des Ar-
beitslebens über ihre Zeit zu verfügen. Sie brauchen
mehr Spielräume, wenn sie im Schnitt 46 Wochen im
Jahr 40 Stunden in der Woche arbeiten. Ihnen diese Sou-
veränität zu geben, ist das, was wir mit diesem Gesetz
versuchen.


(Beifall bei der SPD)


Wir haben im Hinblick auf die Souveränität der Be-
schäftigten schon heute viele gesetzliche Ansprüche.
Das gilt für die Möglichkeiten bei der Kindererziehung,
bei der Pflege und bei der Bildung. All das ist gegeben.
Wir haben in den letzten Jahren einen großen Fortschritt
mit dem Teilzeit- und Befristungsgesetz erreicht, das ei-
nen Rechtsanspruch auf Teilzeit mit sich gebracht hat.
Was fehlt, ist eine Regelung, die es dem einzelnen Be-
schäftigten gestattet, über das ganze Arbeitsleben hin-
weg souverän über die eigene Arbeitszeit verfügen zu
können. Das versuchen wir seit einigen Jahren mit einem
Gesetz zu erreichen, das allerdings noch nicht richtig ge-
wirkt hat, nicht nur weil es einen komplizierten Namen
hat – Gesetz zur Verbesserung der Rahmenbedingungen
für die Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen –,
sondern auch weil die gesetzliche Regelung, die wir seit
etwa zehn Jahren in Deutschland haben, bislang nicht
alle Anforderungen erfüllt hat.

Aber die Grundidee war richtig. Es geht darum, dass
Arbeitszeit angespart werden kann, dass sie sogar vorge-
spart werden kann, wenn man das richtig organisiert,
dass die Arbeitszeit dann verbeitragt und mit Steuern be-
legt wird, wenn sie zur Finanzierung des eigenen Le-
bensunterhaltes eingesetzt werden soll.

Die Probleme des bisherigen Gesetzes haben dazu ge-
führt, dass es bisher nicht ordentlich angewandt wurde.
Zu den großen Problemen gehörte die Frage: Was ge-
schieht eigentlich, wenn ein Arbeitnehmer den Arbeitge-
ber wechselt? Ob freiwillig oder unfreiwillig: Dies
kommt häufiger im Leben vor. In diesem Fall, so haben
sich viele gedacht, muss es doch möglich sein, dass man
das bis dahin angesparte Arbeitszeitguthaben mitnehmen
kann. Das andere Problem ist die Frage, was geschieht,
wenn der eigene Arbeitgeber insolvent wird. In dem Fall
ist die über einen langen Zeitraum angesparte Arbeits-






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Olaf Scholz
zeit, die für den einzelnen Beschäftigten einen großen
finanziellen Wert darstellt, plötzlich verloren. Beide Pro-
bleme waren im Rahmen der bisherigen Regelung nicht
gut gelöst. Wir hatten darauf gesetzt, dass sie von den
Tarifvertragsparteien gelöst werden. Sie haben dies aber
nur in sehr wenigen Fällen getan. Darum ist aus einer
guten Idee, die es vor zehn Jahren gab, noch nicht sehr
viel entstanden.

Aber wir müssen auf diesem Gebiet etwas erreichen.
Aufgrund der Tatsache, dass Arbeit eine so große Rolle
in unserem Leben spielt, müssen wir die gesetzlichen
Voraussetzungen dafür schaffen, dass Arbeitnehmer von
der Möglichkeit, ihre Arbeitszeit souverän über ihr Be-
rufsleben zu verteilen, Gebrauch machen können. Das
erreichen wir mit diesem Gesetz.


(Beifall bei der SPD)


Gute Gesetzgebung besteht darin – das ist meine feste
Überzeugung –, dass man sich darauf verlassen kann,
dass Gesetze funktionieren. In diesem konkreten Fall be-
deutet das, dass man nicht einen Steuerberater und einen
Rechtsanwalt braucht, um sich an die Idee zu wagen, ein
Arbeitszeitkonto aufzubauen, und um für sich die rich-
tige Entscheidung zu treffen. Unsere Aufgabe ist es, da-
für ein gutes Gesetz zu schaffen. Wir tun das mit dem
heute zu debattierenden Gesetzesvorhaben.

Wir definieren, was Wertguthaben sind, und unter-
scheiden auf diese Weise Langzeitkonten heute viel bes-
ser von anderen Formen flexibler Arbeitszeitgestaltung,
die es auch in Form von Überstundenkonten und Ähnli-
chem gibt. Diese Definition wurde sehr sorgfältig erar-
beitet. Zwar haben es die Tarifvertragsparteien nicht ge-
schafft, sich untereinander zu einigen, aber in
Gesprächen mit uns sind sie sich einig, dass unser Vor-
schlag eine vernünftige Lösung darstellt, die allen fachli-
chen Anforderungen entspricht.


(Beifall bei der SPD)


Wir schaffen die Möglichkeit, diese Wertguthaben,
diese Langzeitkonten so einzusetzen, wie man es
möchte. Man kann dies natürlich dort tun, wo es gesetz-
liche Freistellungsansprüche bereits heute gibt. Ich habe
schon einige genannt. Aber man kann es auch in solchen
Fällen tun, die gesetzlich nicht geregelt sind, die das Er-
gebnis einer Vereinbarung von Tarifvertragsparteien
oder einer individuellen Vereinbarung mit dem Unter-
nehmen sind.

Es geht also darum, Zeit zu gewinnen, beispielsweise
für die Betreuung von Kindern. Man kann auch ein Jahr
– ein Sabbatical – aussetzen. Es muss die Möglichkeit
bestehen, den Akku neu aufzuladen und sich weiterzu-
bilden. Es geht natürlich auch um die Möglichkeit, beim
Übergang in die Rente andere Gestaltungsmöglichkeiten
zu haben als heute. All das ermöglichen wir mit den
Langzeitkonten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Gesetz regelt den Insolvenzschutz. Diesen Schutz
erreichen wir unter anderem durch eine sorgfältige Prü-
fung durch die Deutsche Rentenversicherung. Das ist
übrigens ein hocheffizienter Insolvenzschutz; denn wenn
die Prüfung zu dem Ergebnis führt, dass das Arbeitszeit-
konto nicht insolvenzgesichert ist, dann werden Beiträge
und Steuern sofort fällig. Auf diese Weise haben wir ein
ganz sicheres Instrument, mit dem in jedem Unterneh-
men sichergestellt wird, dass der Insolvenzschutz auch
dort gewährleistet ist, wo bisher noch nicht dem Gesetz
entsprechend gehandelt worden ist.

Das Gleiche gilt für die Frage, wie man die Einlage
absichert. Wir machen dazu Vorschriften, wie wir sie
auch in anderen Gesetzen im Hinblick auf die Anlagesi-
cherheit haben. Man muss nicht die Wirtschaftsteile der
Zeitungen gelesen haben, um zu wissen, dass wir uns da-
rum kümmern müssen, dass das Geld der kleinen Leute
nicht in hoch spekulative Anlagen und in Produkte von
irgendwelchen Schnellversprechern gesteckt wird.


(Beifall bei der SPD)


Im Übrigen regelt das Gesetz die Möglichkeit, sein
Arbeitszeitkonto mitzunehmen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nur, wenn der Arbeitgeber das akzeptiert!)


– Danke für den Zwischenruf. Das ist falsch!


(Lachen bei der SPD und der CDU/CSU)


Das Gesetz regelt die Möglichkeit, das Arbeitszeit-
konto mitzunehmen. Wenn der neue Arbeitgeber es nicht
für sich haben will – wir können es ihm schwerlich ok-
troyieren, denn er hat mit dem bisherigen Arbeitsverhält-
nis ja nichts zu tun –, dann hat man die Möglichkeit, es
bei der Deutschen Rentenversicherung langfristig sicher
festzulegen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber was ist bei einer Freistellung?)


Dann kann es so eingesetzt werden, wie es auch geplant
ist. Aber wenn man es mitnimmt, dann kann man auch
bei dem neuen Arbeitgeber ein solches Arbeitszeitkonto
mit den weiteren Ansprüchen aufbauen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber es ist doch nicht falsch, was ich gesagt habe!)


Es ist also für jeden Beschäftigten möglich, ein Ar-
beitszeitkonto über das ganze Leben zu verwalten und
dann zu den Zeitpunkten einzusetzen, zu denen er es be-
nötigt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf, über
den wir heute beraten, wird vielleicht zu einem der mo-
dernsten und wichtigsten Gesetze dieser Zeit. Ich bin
ziemlich sicher, dass dieses Gesetzesvorhaben in zehn
Jahren wie eine Selbstverständlichkeit sein wird, weil es
das Arbeitsleben fast jedes Einzelnen mit beeinflusst,
nämlich als Möglichkeit, aus eigener Perspektive souve-
rän mit der Arbeitszeit umgehen zu können. Das ist ein






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Olaf Scholz
guter Fortschritt für ein Land, das auf gute Arbeit und
auf gute Löhne setzt.

In diesem Sinne: Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617922500

Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb,

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1617922600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Minister Scholz, Sie haben gestern im Ausschuss
für Arbeit und Soziales gesagt – Sie haben es heute wie-
derholt –, dies sei das vielleicht wichtigste Gesetzge-
bungsvorhaben dieser Legislaturperiode, das die Ar-
beitswelt verändern werde. Das ist ein großes Wort. So,
wie sich der Gesetzentwurf bisher präsentiert, wird diese
große Ankündigung jedenfalls noch nicht eingelöst.


(Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD: Oh!)


Die grundsätzliche Idee, die Arbeitszeit zu flexibili-
sieren, ist richtig. Es war ja auch die FDP, die im April
1998 das Gesetz zur sozialrechtlichen Absicherung fle-
xibler Arbeitszeitregelungen mit in Kraft gesetzt hat.


(Detlef Parr [FDP]: Vor zehn Jahren!)


Wir stimmen zu: Arbeitszeiten und Zeitmanagement sol-
len flexibel und für Arbeitgeber und Arbeitnehmer indi-
vidueller gestaltbar sein.

Ich darf auch sagen, weil Sie das Ende des Arbeitsle-
bens hier schon mit angeführt haben, dass die FDP-Bun-
destagsfraktion den Gedanken eines selbstbestimmten
Arbeitslebens mit dem Konzept eines flexiblen Renten-
eintritts ab dem 60. Lebensjahr – übrigens bei Wegfall
aller Zuverdienstgrenzen – und Vorschlägen zur Stär-
kung der betrieblichen und privaten Vorsorge konse-
quent weitergedacht und weiterentwickelt hat.


(Beifall bei der FDP)


Lassen Sie mich zunächst sagen, was an Ihrem Vor-
schlag gut ist. Es ist gut und richtig, dass künftig auch
geringfügig Beschäftigte in den Genuss der Regelungen
über flexible Arbeitszeitgestaltungen kommen sollen.
Sinnvoll ist ferner, klarzustellen, welche Formen von
Arbeitszeitguthaben von dem Gesetz erfasst werden.

Aber es gibt auch ein paar Punkte, die wir uns noch
einmal anschauen müssen und bei denen es aus unserer
Sicht Klärungsbedarf gibt.

Erstens. Es wird von Ihnen zu Recht darauf verwie-
sen, dass bisher bei einem Arbeitgeberwechsel die Wert-
guthaben meist aufgelöst werden und dann verbeitragt,
versteuert und ausgezahlt werden. Das senkt die Attrak-
tivität der Arbeitszeitkonten natürlich erheblich. Deswe-
gen sollte – da stimmen wir Ihnen zu – eine bessere Por-
tabilität ohne diesen Zwang zur Auflösung hergestellt
werden.
Aber der im Entwurf des § 7 f SGB IV vorgesehene
Weg der Portabilität über die gesetzliche Rentenversi-
cherung ist in der gegenwärtigen Fassung aus mehreren
Gründen für die Arbeitnehmer, wie ich finde, unattrak-
tiv. Zum einen wird ein Rückübertragungsanspruch des
Beschäftigten auf einen neuen Arbeitgeber ausgeschlos-
sen. Unter Umständen steht der neue Arbeitgeber noch
gar nicht fest; es gibt eine Lücke in der Erwerbsbiogra-
fie. Das wandert also zunächst zur Rentenversicherung.

Nun wäre es ja sinnvoll, dass nach einer gewissen
Zeit eine Übertragung auf den neuen Arbeitgeber statt-
finden kann. Das ist bisher nicht vorgesehen. Es würde
am Ende dazu führen, dass ein Arbeitnehmer mehrere
Konten hat. Es ist nicht klar, warum eine Übertragung
ausgeschlossen sein soll. Im Gesetzentwurf wird dazu
abstrakt von Gründen der Verwaltungssicherheit und Fi-
nanzierung gesprochen. Darüber sollten wir also reden.

Der andere Aspekt der Anlage der Arbeitszeitkonten
bei der Rentenversicherung ist, dass der Arbeitnehmer
die Verwaltungskosten für das Wertguthaben tragen soll.
Zugleich gibt es konservative Anlagevorschriften ent-
sprechend denen für öffentlich-rechtliche Sozialver-
sicherungsträger. Da muss man sich auch einmal an-
schauen, welche Renditeerwartungen ein Arbeitnehmer
bei einer solchen Anlage und Führung des Kontos durch
die Rentenversicherung noch hat.

Man könnte meines Erachtens darüber nachdenken,
den Arbeitnehmern hier ein Wahlrecht zuzugestehen,
welchen Risikograd sie bei der Anlage des Wertkontos
haben möchten, was sich natürlich auch auf die Garan-
tiesumme auswirkt.


(Beifall bei der FDP)


Wenn die Anlage aber unattraktiv ist, wird diese Mög-
lichkeit der Portabilität nicht genutzt werden.

Im Gesetzentwurf werden viele Gründe aufgezählt,
warum eine treuhänderische Übernahme der Arbeitszeit-
konten durch private Anbieter nicht zulässig sein soll.
Dabei geht es aber mehr um fiskalische Interessen, wenn
ich das richtig sehe, vor allem um den Schutz der Sozial-
versicherungsbeiträge. Die Interessen der Arbeitnehmer
treten demgegenüber in den Hintergrund. Diese Interes-
sengewichtung muss man sich einmal genau anschauen
und sich fragen, ob die Attraktivität des Gesetzes für Ar-
beitnehmer durch diese Regelung nicht massiv beschnit-
ten wird.


(Beifall bei der FDP)


Ich will auf einen weiteren Aspekt hinweisen. Mit
dem § 7 d SGB IV sollen die Wertguthaben während der
Ansparphase besser geschützt werden als bisher. Dafür
sollen die Vermögensanlagevorschriften der § § 80 ff.
SGB IV gelten. Das heißt, die Anlage in Aktien oder
Aktienfonds soll auf 20 Prozent begrenzt sein. Der eine
oder andere mag sagen, dass das angesichts der aktuellen
Entwicklung auf den Finanzmärkten sinnvoll ist. Ich will
darauf hinweisen, dass Beteiligungen am Kapitalmarkt
in der mittel- und langfristigen Perspektive immer die
höchsten Wertsteigerungen geboten haben.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sehen wir ja im Moment!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Heinrich L. Kolb
Man sollte deswegen prüfen, ob man nicht durch flexib-
lere Regelungen dem Einzelinteresse gerecht werden
kann, etwa dadurch, dass man sagt: Jüngere Arbeitneh-
mer, die noch ein langes Erwerbsleben vor sich haben,
erhalten die Möglichkeit, einen höheren Aktienanteil zu
wählen; sobald der Renteneintritt näher rückt, erfolgt
aber eine Umschichtung in sicherere Produkte. Das Inte-
resse des Einzelnen ist hier zu berücksichtigen. Ich sehe
keinen Grund, warum wir das nicht tun sollten.


(Beifall bei der FDP)


Der dritte und letzte Aspekt ist der Insolvenzschutz
der Arbeitszeitkonten. Es gab sicherlich manche Ar-
beitszeitkonten, die nicht wirksam insolvenzgesichert
waren. Man muss aber schauen, ob Sie mit dem, was Sie
jetzt vorschlagen, nicht das Kind mit dem Bade aus-
schütten, ob die Neuregelung nicht über das Ziel hinaus-
schießt und Arbeitszeitkonten aus Arbeitgebersicht unin-
teressant macht. Speziell die Regelung der Haftung des
Vorstandes bzw. Geschäftführers eines Unternehmens,
die zwar mit einer Escape-Klausel versehen ist, aber
dennoch eine Umkehr der Beweislast ist, wird aus mei-
ner Sicht dazu führen, dass viele Mittelständler diesen
Weg nicht beschreiten werden. Das kann nicht in unse-
rem Interesse sein.

Man muss sich auch fragen, ob man zwingend vor-
schreiben muss, dass diese Wertguthaben durch Dritte
geführt werden, weil das gerade für kleinere Betriebe zu
einem hohen Abfluss von Kapital führen könnte. Es gibt
also viele Fragen, unter anderem auch die, warum Ar-
beitszeitkonten künftig nur noch in Geldform und nicht
mehr als Zeitkonten geführt werden können. Eine wirkli-
che Begründung liefert der Gesetzentwurf auch hierfür
nicht.

Im Ergebnis lässt sich feststellen: Die Richtung
stimmt. Wir sollten versuchen, mehr Flexibilität zu errei-
chen, aber auf eine Art und Weise, die in der Praxis ak-
zeptiert wird; Herr Minister, Sie haben darauf hingewie-
sen. Die Menschen müssen das Gesetz verstehen und
anwenden wollen. Das ist im vorliegenden Fall nicht ge-
geben. Wir haben aber die Chance, im Ausschuss darü-
ber zu beraten. Wir stehen für die Beratungen gerne zur
Verfügung.

Ich bedanke mich.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617922700

Ich gebe das Wort dem Kollegen Wolfgang

Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Wolfgang Meckelburg (CDU):
Rede ID: ID1617922800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf zur
Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Absiche-
rung flexibler Arbeitszeitregelungen – wir nennen das in
der Kurzform Flexi II, weil es 1998 schon ein Flexi I gab –
werden wir auf dem Weg, Arbeitszeitregelungen flexib-
ler zu gestalten und Arbeitnehmern die Möglichkeit zu
geben, Entscheidungen über Lebensarbeitszeiten zu-
künftig besser steuern zu können, weitergehen.

Ich möchte mich bei Ihnen von der Linken übrigens
entschuldigen: Wenn ich hier rede, erwarten Sie, dass ich
auf Sie eindresche. Das kann ich heute nicht. Es geht um
ein Sachthema, das wir nach vorne bringen wollen.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Ich dachte auch schon, heute kommt nichts mehr!)


Deshalb halte ich mich ein bisschen zurück.

Die Bedeutung flexibler Arbeitszeitregelungen hat
allgemein zugenommen. Wir wissen, dass es Flexibilität
in der Arbeitszeit täglich gibt: bei Gleitzeit, bei der An-
sammlung von Überstunden, bei Wochenarbeitszeiten.
Dazu sind längst Regelungen getroffen worden. Inzwi-
schen gibt es aber auch Modelle und Entwürfe, die wei-
ter gehen, zum Beispiel Tarifvereinbarungen, bei denen
längerfristige Vereinbarungen über Arbeitszeitkonten
getroffen werden. Zum Teil werden dort Regelungen ge-
troffen, auch bei betrieblichen Abmachungen, die in
Grauzonen landen. Deswegen müssen wir ein paar
Dinge klarer regeln.

Warum ein neues Gesetz? Es gibt, wie gesagt, eine
Vielzahl von Modellen zur Gestaltung der Arbeitszeit
unabhängig von der Frage der Gleitzeit- und Kurzzeit-
konten; Metall-, Elektro- und chemische Industrie sind
auf diesem Gebiet sehr fortschrittlich. Diese Modelle ha-
ben die unterschiedlichsten Zielsetzungen, zum Beispiel
die Freistellung von der Arbeitszeit während der Er-
werbszeit, den gleitenden Übergang in den Ruhestand
oder die Bereitstellung von Qualifikationszeiten.

Gerade in dieser Zeit gibt es zwei Gründe, die es not-
wendig machen, flexiblere Möglichkeiten zu haben, um
etwas früher aus dem Erwerbsleben auszuscheiden.
Dazu leisten solche Lebensarbeitszeitkonten einen Bei-
trag. Ein Grund ist die Gewissheit, dass wir irgendwann
einmal am Ende der 20er-Jahre dieses Jahrhunderts die
Rente mit 67 haben werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der zweite Grund ist, dass die Förderung der Altersteil-
zeit durch die Bundesagentur für Arbeit auslaufen wird.
Auch hier ist die Möglichkeit gegeben, entsprechende
Vereinbarungen langfristig zu treffen und damit einen
Ersatz dafür zu schaffen.

Wir streben mit dem Gesetz also mehr Attraktivität
von Langzeitkonten an. Der Minister hat eben darauf
hingewiesen, dass es schon länger Möglichkeiten gibt,
aber Unsicherheiten vorhanden sind. Wir müssen dies at-
traktiver gestalten. Das wird nur dann gelingen, wenn
wir gemeinschaftlich einen Entwurf vorlegen, den die
Menschen gut finden und verstehen. Wir müssen versu-
chen, die rechtlichen Grauzonen zu beseitigen.

Deswegen will ich auf drei Schwerpunkte eingehen,
die in diesem Gesetzentwurf vorgesehen sind. Der erste
Punkt ist die Abgrenzung des Begriffs Wertguthaben.
Wir müssen hier unterscheiden. Es gibt flexible Arbeits-
zeitregelungen, die sich im kürzeren Bereich, im Bereich






(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Meckelburg
der werktäglichen, wöchentlichen Arbeitszeit zum Aus-
gleich eignen, zum Beispiel Überstunden, die angesam-
melt und wieder abgebaut werden. Diese helfen also, in-
nerhalb des Betriebsablaufs zu Lösungen zu kommen
und die Arbeitszeiten flexibler zu machen. Dies ist einer-
seits im Sinne der Unternehmer, aber auch der Arbeit-
nehmer. Um diese Regelungen geht es jetzt nicht.

Es geht bei Wertguthaben vor allem darum, dass län-
gerfristig Arbeitszeit und Arbeitsentgelt angesammelt
werden. Dies geschieht immer mit dem Ziel, in der Zeit,
in der man sich freistellen lässt, formal im Betrieb be-
schäftigt zu sein und eine Entlohnung zu bekommen, auf
die Sozialabgaben und Steuern gezahlt werden müssen.
Das heißt, die Entlohnung wird erst in dem Moment, in
dem sie ausgezahlt wird, von der Versicherung verbei-
tragt und der Steuer unterzogen. Vorher wird sie auf ei-
nem Konto gesammelt. Das Ziel eines Wertguthabens ist
also nicht die flexible Gestaltung täglicher oder wö-
chentlicher Arbeitszeiten, es dient nicht dem Ausgleich
von Produktions- und Arbeitszeitzyklen, gemeint sind
also nicht Gleitzeit- und Kurzzeitkonten, sondern es geht
um angespartes Arbeitsentgelt, das man sozusagen in ei-
nen Topf gibt und das der Freistellung von der Arbeits-
leistung dient, wenn man sie denn wünscht.

Es gibt zwei Möglichkeiten. Zum einen gibt es ge-
setzliche Möglichkeiten, die immer wichtiger werden:
Anspruch auf Freistellung bei der Elternzeit und bei der
Pflege naher Angehöriger oder Anspruch auf Teilzeitar-
beit. Zum anderen gibt es die Möglichkeit, Freistellun-
gen in Verträgen individuell zu vereinbaren. Auf
Deutsch: Man spart Arbeitsstunden, Geld, Urlaubstage
und was immer denkbar ist in einen Topf. Dieser Topf
muss bis zu dem Zeitpunkt verwaltet werden, an dem
man aus der Arbeit heraus will, während man formal
weiter beschäftigt ist. Man bekommt dann auch ein Ge-
halt. In dem Moment werden erst die Sozialbeiträge und
Steuern von dem Gesparten abgezogen, das in dem Topf
enthalten ist. Es geht darum, dies sicherzustellen. Das ist
ein Ziel dieses Gesetzes.

Wertguthaben sollen in Zukunft nur noch als Arbeits-
entgeltkonten geführt werden. Das bedeutet zwar immer
noch, dass man Arbeitszeit einbringen kann, aber das
Konto muss als Arbeitsentgeltkonto geführt werden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Warum eigentlich?)


Für die Arbeitgeber besteht die Pflicht, jährliche Konto-
auszüge zu erstellen. Das gibt den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern Sicherheit, weil sie dann wissen,
was auf dem Konto ist. Es gibt auch die Möglichkeit,
dies kontrollieren und prüfen zu lassen; darauf ist eben
schon hingewiesen worden. Man hat einen Anspruch auf
Entschädigung, wenn festgestellt wird, dass das Risiko
nicht richtig abgesichert ist.

Führung der Wertguthaben generell durch Dritte:
Auch das ist in dem Gesetzentwurf vorgesehen.

Insolvenzschutz ist der zweite zentrale Punkt. Bisher
haben die Vertragsparteien selber wählen können, wie
der Insolvenzschutz durchgeführt wird. Diese eher lo-
ckere und freie Möglichkeit der Vereinbarung und Ge-
staltung des Insolvenzschutzes hat oft dazu geführt, dass
man auf Maßnahmen des Insolvenzschutzes gänzlich
verzichtet hat. Das kann nicht im Sinne der Betroffenen
sein. Es darf nicht sein, dass man zum Teil über 30,
40 Jahre auf Lebensarbeitszeitkonten ansammelt und am
Ende feststellt, dass auf diesen Konten gar nichts mehr
ist und dass man total benachteiligt ist. Das muss gere-
gelt werden. Die Insolvenzschutzregelung ist wichtig.

Der Schutz vor Insolvenz war zwar vorgeschrieben,
wurde aber bei Nichteinhaltung der Regelung nicht
sanktioniert. Dies ist nach dem neuen Gesetzentwurf
möglich.

Die Frage des Schadensersatzes habe ich gerade an-
gesprochen. Da ich nur noch eine Minute Redezeit habe,
gehe ich darauf nicht weiter ein.

Ein weiterer Punkt dieses Gesetzentwurfs ist die be-
grenzte Möglichkeit der Mitnahme von Lebensarbeits-
zeitkonten. Herr Kolb, wir können gerne darüber reden.
Ich bin Gott sei Dank kein Jurist, wie ich manchmal
sage. An dieser Stelle muss man wahrscheinlich ein fin-
diger Jurist sein, um eine Regelung zustande zu bringen.
Ich habe die bisherigen Formulierungen im Gesetzent-
wurf so verstanden, dass es sehr schwer ist, da Portabili-
tät in größerem Umfang herzustellen. Man muss wäh-
rend der Ausschussberatungen einmal austesten, was
geht und was nicht geht. Dabei müssen Juristen Formu-
lierungshilfen geben. Einfach zu sagen: „Da muss mehr
gemacht werden“, ist zum jetzigen Zeitpunkt möglicher-
weise verfrüht.


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ausnahmsweise könnte die FDP einmal Vorschläge machen!)


Wir wollen jedenfalls erreichen, dass der Arbeitneh-
mer bei einem Wechsel des Arbeitgebers die Möglich-
keit einer begrenzten Mitnahme seines Lebensarbeits-
zeitkontos hat. Es gibt die Möglichkeit, dass er mit dem
neuen Arbeitgeber eine Vereinbarung über eine Übertra-
gung trifft. Das ist natürlich der günstigste und beste
Fall. Ich glaube, je attraktiver wir Lebensarbeitszeitkon-
ten gestalten, umso mehr werden wir bei Arbeitgebern
die Bereitschaft finden, solchen Übertragungen zuzu-
stimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Eine weitere Möglichkeit ist, dass dies von der Ren-
tenversicherung treuhänderisch übernommen wird. Das
hat den Nachteil, dass es nicht richtig weiterentwickelt
werden kann. Darüber muss man nachdenken. Wenn ich
es richtig verstanden habe, scheitert es bis jetzt an der
fehlenden Arbeitgeberfunktion der Bundesagentur, die
diese Funktion übernehmen müsste. Genauso gibt es bei
Privaten Schwierigkeiten mit der Definition. Da müssen
Juristen heran. Bisher ist das nicht gelungen. Wenn es
uns im Ausschussverfahren nicht gelingt, wäre ich auch
nicht unglücklich; denn ich finde, wir kommen mit die-
sem Gesetzentwurf schon ein Stückchen weiter.






(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Meckelburg

(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Sehr richtig! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Große Koalition der kleinen Schritte!)


Letztlich wäre es möglich, das Ganze wie bisher sozusa-
gen als Störfall aufzulösen und an den Arbeitnehmer zu-
rückzugeben.

Ich glaube schon, dass Sie recht haben, Herr Minister,
dass wir mit diesem Gesetzentwurf etwas auf den Weg
bringen, was bei der Gestaltung von Lebensarbeitszeiten
mittelfristig sicherlich eine Rolle spielen und die Freiheit
der Menschen erhöhen wird.

Schönen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617922900

Für die Fraktion Die Linke gebe ich das Wort der Kol-

legin Dr. Barbara Höll.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617923000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Menschen in Deutschland arbeiten sehr viel – das sagte
DGB-Chef Sommer am 15. September in der Süddeut-
schen Zeitung.


(Jörg Rohde [FDP]: Dann muss es ja stimmen! – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Wir brauchen keinen DGB-Chef, um das zu wissen!)


Sie arbeiten im EU-Vergleich sogar überdurchschnittlich
viel. Die tatsächliche Wochenarbeitszeit in Deutschland
beträgt 41,1 Stunden. Dies ist nach einer europäischen
Studie zur Arbeitszeitentwicklung ein Spitzenplatz. Der
Durchschnitt in den 27 EU-Staaten beträgt 40 Stunden
Arbeit pro Woche.

Laut IAB leisteten jeder Arbeitnehmer und jede Ar-
beitnehmerin 2007 41,9 bezahlte Überstunden im Jahr.
Das macht ein Gesamtvolumen von 1,45 Milliarden
Überstunden aus. Erfahrungsgemäß fällt jedoch tatsäch-
lich die doppelte Anzahl an Überstunden an. Nicht aus-
gezahlte Überstunden werden in der Regel in Gleitzeit-
oder Kurzzeitkonten geparkt, um kurzfristig Auftrags-
lücken und Ähnliches zu überbrücken.

Nicht zuletzt durch die Anhebung der Altersgrenze in
der gesetzlichen Rentenversicherung auf 67 Jahre sind
Modelle zur Arbeitszeitgestaltung wichtig.

Spätestens mit 40 Jahren fragt sich die Krippenerzie-
herin: Werde ich die Kleinen auch noch mit 60 Jahren so
locker hochheben können wie jetzt?


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Denn die sind dann 20 Jahre alt! – Heiterkeit bei der FDP)


Der Schweißer fragt sich, wie er das Dreischichtsystem
bewältigen wird.

(Zuruf von der CDU/CSU: Kann es sein, dass Sie das Thema verwechselt haben? – Frank Schäffler [FDP]: Wer fragt sich denn noch irgendetwas?)


Die Altenpflegerin fragt sich, wie sie mit 60 Jahren noch
die Kraft aufbringen soll, die schwere körperliche Arbeit
zu bewältigen. Für viele wird aufgrund der Politik der
Bundesregierung, aufgrund Ihrer Großen Koalition, nur
die Option des vorzeitigen Renteneintritts, allerdings mit
hohen Abschlägen bis zum Lebensende, bleiben. Das ist
das Hauptproblem.


(Beifall bei der LINKEN – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das, was wir heute beschließen, dient genau dem Gegenteil, Frau Kollegin!)


Das Volumen der im Erwerbsleben zu leistenden Ar-
beit hat sich erhöht. Das Arbeitstempo steigt stetig an.
Lebenslanges Lernen ist eine Voraussetzung, um am Ar-
beitsmarkt bestehen zu können.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt müssen Sie aber langsam die Kurve zum vorliegenden Gesetzentwurf kriegen! Sonst ist Ihre Redezeit gleich vorbei! – Dr. Stephan Eisel [CDU/ CSU]: Wie ist denn die Situation bei den Urlaubstagen im europäischen Vergleich? Können Sie dazu auch einmal etwas sagen?)


In der beruflichen Praxis ist das aber noch nicht ange-
kommen. Im Gegenteil, die bisherigen Möglichkeiten
zur Gestaltung der Lebensarbeitszeit waren im Wesentli-
chen auf die Altersteilzeitregelung beschränkt, die zum
31. Dezember 2009 ausläuft und ersatzlos wegfällt.


(Frank Schäffler [FDP]: Ja! Gott sei Dank!)


Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha! Jetzt kommen wir zum Thema!)


legt die Große Koalition nur eine billige Ersatzvariante
für das Auslaufen der Altersteilzeitregelung vor.


(Beifall bei der LINKEN – Frank Schäffler [FDP]: Wenn es wenigstens das wäre! Ist es aber nicht! – Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Ich bin begeistert! Kein einziger frei formulierter Gedanke! Wer hat Ihnen das nur aufgeschrieben? – Heiterkeit bei der CDU/CSU)


Im Fokus hat sie dabei die Milderung der mit der Erhö-
hung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre verbundenen
Probleme.

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen in Zu-
kunft Mehrarbeit leisten, die ihnen nicht unmittelbar be-
zahlt wird. Stattdessen sollen ihre Arbeitszeitguthaben
auf ein sogenanntes Wertguthabenkonto gelegt werden.
Der Gesetzentwurf sieht für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer nur eine begrenzte Nutzung ihres dadurch
gewährten zinslosen Darlehens an die Arbeitgeber vor.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: So ist das!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Barbara Höll
Geregelt ist nur die Inanspruchnahme für Pflege, Kin-
derbetreuung, Teilzeitvereinbarung und vorzeitigen Ren-
teneintritt.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Nein! Das ist anders verhandelbar!)


Alles andere unterliegt der Vereinbarung zwischen Ar-
beitgeber und Arbeitnehmer. Die ungleiche Verhand-
lungsmacht wird dabei aber überhaupt nicht berücksich-
tigt.


(Beifall bei der LINKEN)


Den Unternehmen steht es nach dem bisherigen Text
des Gesetzentwurfes außerdem frei, mit ihren Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmern die Inanspruchnahme von
Wertguthaben auch zur Überbrückung von konjunkturel-
len Schwankungen oder Auftragsmängeln zu vereinba-
ren.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Nein! Das steht da nicht drin!)


Für die Arbeitgeberseite stellen Wertguthaben einen Li-
quiditätsvorteil dar, da die Sozialversicherungsabgaben
erst bei der Auszahlung anfallen.

Sie haben es versäumt, mit diesem Gesetz die nach
wie vor vorhandenen Lücken zu schließen. Die unter-
schiedlichen Gleit- und Arbeitszeitkonten haben Sie im
Rahmen der Ausweitung des Insolvenzschutzes nicht
einbezogen. Erfasst werden von Ihrem Vorschlag gerade
einmal 10,2 Prozent der existierenden Arbeitszeitkonten,
die sogenannten Langzeitkonten.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das soll mehr werden!)


Kurzzeitkonten, die mit knapp 70 Prozent die große
Masse ausmachen, bleiben aber außen vor.


(Beifall bei der LINKEN – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das, was Sie da sagen, hat mit dem Thema dieser Debatte überhaupt nichts zu tun!)


Dadurch können im Falle einer Insolvenz Zeitgutha-
ben in der Größenordnung von einem Monatslohn bis zu
mehreren Jahresgehältern unwiederbringlich verloren
gehen. Selbst die von der Koalition angedachte Möglich-
keit der Mitnahme der Zeitguthaben beim Wechsel des
Arbeitgebers ist keinesfalls ausgereift; denn sie ist nicht
einklagbar. Zudem sind die vorgesehenen Kontrollmög-
lichkeiten der Insolvenzsicherung unzureichend.

Die von Ihnen vorgeschlagene Möglichkeit der Über-
tragung auf die Deutsche Rentenversicherung Bund ist
so ausgestaltet, dass es sehr schwierig ist, sie in An-
spruch zu nehmen. Im Prinzip muss ein Arbeitnehmer
ein Guthaben in der Größenordnung einer Jahresfreistel-
lung angesammelt haben, um es übertragen zu können,
und dann bleibt es gebunden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wie lange fünf Minuten sein können!)


In Ihrem Gesetzentwurf gehen Sie überhaupt nicht
auf die Frage ein: Was geschieht, wenn Arbeitnehmer,
die bei der Deutschen Rentenversicherung Bund ein
Wertguthaben haben, in ALG-II-Bezug fallen? Sind sie
dann gezwungen, ihr Guthaben aufzulösen, oder können
sie es, wie sie vielleicht geplant haben, behalten, um
eher in Rente gehen zu können? Das ist ein Problem, zu
dem Sie sich auf alle Fälle klar äußern müssen. Wir den-
ken, dass an diesem Gesetzentwurf noch viel zu tun ist,
damit dabei etwas Vernünftiges herauskommt. Wir sind
gern bereit, Ihnen dabei zu helfen.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617923100

Ich gebe das Wort der Kollegin Brigitte Pothmer,

Bündnis 90/Die Grünen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617923200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich

finde den Ansatz dieses Gesetzentwurfes richtig. Be-
schäftigte brauchen mehr Zeitsouveränität. Das wird üb-
rigens dann besonders wichtig sein, wenn wir endlich
ernsthaft darangehen, Frauen stärker in den Arbeits-
markt zu integrieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir wissen, dass Frauen nicht bereit sind, zu jeden
Bedingungen, die Männer geschaffen haben, in den Ar-
beitsmarkt einzutreten.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es gibt auch weibliche Chefs!)


Deswegen brauchen wir dringend eine größere Zeitsou-
veränität. Flexibilität darf keine Einbahnstraße zulasten
der Beschäftigten sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben hier einen Gesetzentwurf vorgelegt und sa-
gen, dass Sie in diesem Bereich mehr Rechtssicherheit
erreichen wollen. Ich finde, dass Sie das hinsichtlich ho-
her Zeitwertguthaben tatsächlich auch schaffen, während
dies für niedrige Zeitwertguthaben aber eben nicht der
Fall ist. Nach Ihren Vorschlägen bleiben wir also bei der
heutigen Situation, nämlich einer, wenn Sie so wollen,
Klassengesellschaft bei den Langzeitarbeitskonten.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Nein, sie haben eine andere Funktion!)


Ihre Vorstellung ist, dass nur die Zeitguthaben vor ei-
ner Insolvenz geschützt sind, die einen Wert von unge-
fähr 7 455 Euro überschreiten und zugleich einen Aus-
gleichszeitraum von mindestens 27 Monaten umfassen.
Warum ist das Geld unterhalb dieser Größenordnung,
das die Menschen eingezahlt haben, eigentlich nicht
schützenswert?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE])


Warum ist nicht auch das Geld schützenswert, das einen
Ausgleichszeitraum von 27 Monaten nicht umfasst?






(A) (C)



(B) (D)


Brigitte Pothmer
Glauben Sie wirklich, dass eine erquickliche Zahl von
Beschäftigten dieses Risiko eingeht und sich damit ab-
findet, dass das Geld bis zu dieser Größenordnung nicht
geschützt ist? Das muss man doch erst einmal angespart
haben.

Wenn die Menschen zum Beispiel für eine Fort- und
Weiterbildung Geld ansparen, dann bleiben sie eigent-
lich immer unterhalb dieser Größenordnung. Diese
Wertguthaben sind nach wie vor ungeschützt. Das kön-
nen Sie eigentlich nicht wirklich vertreten wollen. Das
ist keine qualitative Verbesserung im Vergleich zur Ist-
situation.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das WSI geht davon aus, dass ein Viertel aller Wert-
guthaben weiterhin ungeschützt bleiben wird. Ich
glaube, dadurch wird sich die Gruppe derjenigen, die
sich an diesem Projekt beteiligen, erheblich minimieren.
Das Geld derjenigen, die diese hohen Hürden überwun-
den haben, ist zwar im Prinzip insolvenzgeschützt, aber
auch für sie wird es im Falle einer Insolvenz nicht leicht
sein, dieses Geld aus dem insolventen Betrieb tatsäch-
lich auch herauszuholen.

Wenn ein Arbeitgeber dieses Geld nicht hinreichend
schützt, dann gibt es keine Sanktionsmöglichkeiten ge-
gen ihn; das hat keine Konsequenzen, außer der Tatsa-
che, dass das Konto aufgelöst wird.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Volle Haftung!)


Im positiven Falle erhält die Person das Geld möglicher-
weise zurück, aber mit ihren Planungen hinsichtlich ei-
ner Weiterbildung, einer Auszeit für die Familie oder ei-
nes Sabbatjahrs etc. ist es vorbei. Sie hat eben Pech
gehabt.


(Beifall der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Wolfgang Grotthaus [SPD]: Ja, wenn der Arbeitgeber pleite ist!)


Ich will Ihnen einmal sagen, für wen dieses Konto
wirklich etwas bringt – damit zeigt sich auch, für welche
Gruppe Sie Politik machen –: Dieses Konto ist etwas für
den Facharbeiter, der lange Zeit in einem Betrieb war
– zum Beispiel bei Mercedes-Benz – und dieses Wert-
guthaben bzw. Zeitguthaben anlegt, um den Übergang in
den Ruhestand zu gestalten. Für ihn machen Sie Politik.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat, dem wird gegeben!)


Eine junge Frau, die zum Beispiel ihren Arbeitgeber
mehrfach wechselt – wir alle wissen, dass sich das Ar-
beitsleben insoweit geändert hat, als dass man den
Arbeitgeber im Regelfall häufiger wechselt –, deren Ar-
beitgeber nicht damit einverstanden ist, dieses Wertgut-
haben zu übernehmen, und die eigentlich geplant hatte,
zum Beispiel die Familienphase – die sogenannte Rush-
hour des Lebens – ein bisschen zu entzerren, steht ge-
nauso wie vorher da. Das ist wirklich eine Politik für
männliche Facharbeiter.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir wollen eine echte Übertragbarkeit bei Arbeitge-
berwechsel, und wir wollen auch, dass die Ansprüche
bei Freistellungen tatsächlich realisiert werden können.

Ich hoffe, dass wir in den Ausschussberatungen noch
ein bisschen nachlegen und das noch ein wenig verbes-
sern können. In der Sache müssen wir einfach weiter vo-
rankommen, als dieser Gesetzentwurf vorsieht.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617923300

Für die SPD-Fraktion gebe ich dem Kollegen

Wolfgang Grotthaus das Wort.


(Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])



Wolfgang Grotthaus (SPD):
Rede ID: ID1617923400

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Der eingebrachte Gesetzentwurf ist schon al-
leine deswegen gut, weil wir uns schon vor der ersten
Beratung sehr intensiv mit den Details beschäftigt ha-
ben.

Lassen Sie mich zunächst von meinem Redekonzept
abgehen. Ich möchte einiges aus meiner Sicht klarstel-
len, der ich ungefähr 16 Jahre mit Flexikonten in Gleit-
zeit gearbeitet habe. Erstens ist tatsächlich richtig, Frau
Pothmer,


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Im Dienst!)


dass über eine Betriebsvereinbarung geregelt werden
kann, dass im Falle der Überschreitung der in der Be-
triebsvereinbarung vorgegebenen Arbeitszeit – in unse-
rem Fall waren es zehn Stunden – der Überhang einem
Langzeitarbeitskonto zugeführt werden kann.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In welchem Betrieb waren Sie Betriebsrat, Herr Grotthaus?)


Das ist aber von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich.

Wir können eine solche Regelung nicht in den Ge-
setzentwurf aufnehmen; es ist andernorts zu regeln. Die
IG BCE hat das schon in Tarifverhandlungen umgesetzt
und entsprechende Richtlinien festgesetzt, sodass wir die
Flexibilität der Tarifvertragsparteien ruhig einfordern
können.

Zweitens. Ich finde es an den Haaren herbeigezogen,
wenn Frau Dr. Höll fragt, wie mit den ALG-II-Empfän-
gern verfahren wird.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ist wohl wahr!)


Zunächst einmal erhält man ALG I.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ja!)


Ich unterstelle einmal, dass ein ALG-I-Empfänger mit
einer vernünftigen Ratio, der über ein entsprechendes
Guthaben mit geldwerten Vorteilen verfügt und die
Hoffnung hat, innerhalb der nächsten drei bis vier Mo-






(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Grotthaus
nate wieder in Arbeit zu kommen, bereit ist, zunächst auf
sein Konto zurückzugreifen, um keine sozialen Einbu-
ßen zu erleiden.

Sie gehen im Übrigen davon aus, dass er während des
Bezugs von ALG I weiterhin nicht auf das Konto zu-
rückgreift und insofern bewusst die sozialen Einbußen in
Kauf nimmt. Das widerspricht meinen Erfahrungen mit
der Reaktion von Menschen, die auf einmal weniger
Geld zur Verfügung haben als während ihrer Berufstätig-
keit.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Weil ich vielleicht Rentenkürzungen vermeiden will! Das ist doch nicht so schwer zu verstehen!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617923500

Herr Kollege Grotthaus, gestatten Sie eine Zwischen-

frage der Kollegin Höll?


Wolfgang Grotthaus (SPD):
Rede ID: ID1617923600

Aber gerne.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617923700

Herr Kollege, man kann sich auch darüber streiten,

inwieweit die Ratio maßgeblichen Einfluss auf be-
stimmte Entscheidungen hat, die wir Politiker mit ent-
sprechenden Mehrheiten in diesem Hause treffen.


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das denkt man bei Ihnen aber sehr oft!)


Es kann aber durchaus sein – ich finde, das muss im
Gesetzentwurf klargestellt werden –, dass jemand aus
bestimmten Gründen nur bis zum 60. Lebensjahr arbei-
ten will oder kann und dafür ein Wertguthabenkonto an-
gespart hat. Wenn er dann vielleicht mit 50 Jahren kein
ALG I mehr bekommt und zwei oder drei Monate
ALG II bezieht, aber sein Wertguthabenkonto nicht an-
greifen will, dann ist die Gesetzgebung in der Pflicht, für
Klarheit zu sorgen: Muss das Vermögen aufgezehrt wer-
den, oder darf man darüber verfügen und ist nicht ge-
zwungen, es aufzubrauchen, bevor man dies möchte?
Wie wir in dieser Frage mit welchen Mehrheiten ent-
scheiden, wird sich zeigen. Aber im Gesetzentwurf muss
dieser Punkt klargestellt werden. Ich finde, das ist nicht
zu viel verlangt. Ich hoffe, insofern stimmen Sie mir zu.


Wolfgang Grotthaus (SPD):
Rede ID: ID1617923800

Nein, ich gehe davon aus, dass diese Klarstellung

schon an anderer Stelle im Sozialgesetzbuch erfolgt ist,
nämlich dass zunächst das vorhandene Vermögen – egal
in welcher Form – aufgebraucht werden muss. Von da-
her gehe ich davon aus, dass dies auch für die angesparte
Zeit zu gelten hat. Insofern muss nicht eigens betont
werden, wie in dieser Frage zu verfahren ist.

Ich glaube nicht, dass mit der Benennung der im Ge-
setzentwurf vorgesehenen Regelungen heute allen klar
wird, welche positiven und langfristigen Auswirkungen
das Gesetz auf die Zeitsouveränität von Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmern haben wird. Ich habe eben schon
ausgeführt, dass flexible Arbeitszeiten Kennzeichen un-
serer modernen Arbeitswelt sind und dass viele Arbeit-
nehmer und Arbeitgeber dies für unverzichtbar halten.

Das Flexi-Gesetz hat einige Unwägbarkeiten aufge-
wiesen. Es gab Unsicherheiten beim Ansparen von
Langzeitarbeitskonten. Der vorgelegte Gesetzentwurf
sieht vor, dass die Langzeitarbeitskonten insolvenzge-
schützt sein müssen. Es besteht nun eine Sanktionsmög-
lichkeit, wenn der Arbeitgeber den Insolvenzschutz
nicht gewährleistet. Es ist gesetzlich geregelt, dass es zu
einer externen Prüfung kommt, dass also außerhalb des
Betriebes Stehende prüfen, ob der Insolvenzschutz gege-
ben ist. Eine weitere Absicherung der durch den Arbeit-
nehmer erarbeiteten Zeit besteht darin, dass eine Rück-
abwicklung des Langzeitarbeitskontos möglich wird,
wenn der Arbeitgeber seinen Verpflichtungen zum Insol-
venzschutz nicht nachgekommen ist. Das bedeutet, dass
hier im Gegensatz zu vorher keine Verluste für die Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer entstehen.

Des Weiteren hat der Arbeitnehmer ein einklagbares
Recht auf Schadenersatz, wenn etwas mit seinem Ar-
beitszeitkonto passiert, was nicht der Rechtslage ent-
spricht. Auch dies ist bislang rechtlich nicht abgesichert.
Die Portabilität wird ermöglicht. Für uns ist von großer
Wichtigkeit, dass die Sozialversicherungsbeiträge auf
das angesparte Zeit- oder Geldguthaben zu zahlen sind.
Dies bedeutet, dass es in Zukunft eine größere Sicherheit
in Bezug auf die Rente geben wird.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU])


Ich sage aber auch: Nichts ist so gut, als dass es nicht
verbessert werden kann. Wir reklamieren zumindest für
uns das Struck’sche Gesetz. Wir fragen, ob das Wertgut-
haben erst ab dem Dreifachen der monatlichen Bezugs-
größe abzusichern ist. Wir können uns vorstellen, dass
der im Gesetzentwurf genannte Zeitraum von 27 Mona-
ten verkürzt wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir können uns zudem vorstellen, dass der für West-
deutschland geltende Wert in Höhe von 29 800 Euro für
die Portabilität eines Wertguthabens reduziert wird, so-
dass wir Ihrem Petitum, hier flexibler zu sein, entgegen-
kommen könnten.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)


– Sehen Sie, Frau Pothmer, dann fällt es Ihnen leichter,
in der zweiten und dritten Lesung dem Gesetzentwurf
vollen Herzens zuzustimmen.

Wir begrüßen, dass im Gesetzentwurf klar festge-
schrieben wird, für welche Zwecke das Wertguthaben
genutzt werden kann. Wir sind der Auffassung, dass die
darüber hinausgehenden Zwecke, die nicht im Gesetz
festgeschrieben sind, durch die Tarifvertragsparteien ge-
regelt werden können. Wir wissen, dass dieses Gesetz
erst spät greifen wird. Wir brauchen eine lange Anlauf-
zeit, um den Menschen zu sagen, was wir damit errei-
chen wollen. Deshalb müssen wir nach der zweiten und
dritten Lesung für dieses Gesetz werben, und zwar nicht






(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Grotthaus
nur bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, son-
dern auch bei den Arbeitgeberverbänden, den Gewerk-
schaften, den Betriebsräten und den Arbeitgebern selber,
sodass die Menschen deutlich sehen: Die Flexibilität
wird erhöht.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617923900

Herr Kollege!


Wolfgang Grotthaus (SPD):
Rede ID: ID1617924000

Ich komme zum Ende. – Die Möglichkeit zu haben,

kurzfristig über ein Zeitguthaben zu verfügen und es zu
nutzen, wenn familiäre Bedürfnisse es erforderlich ma-
chen, ist ebenfalls wichtig.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ihr Zeitguthaben ist aufgebraucht!)


Das Gesetz ist gut. Ich gehe davon aus, dass wir nach
einer langen Diskussion in diesem Jahr den Gesetzent-
wurf gemeinsam verabschieden werden.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617924100

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Klaus-Peter Flosbach, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Klaus-Peter Flosbach (CDU):
Rede ID: ID1617924200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich begrüße die große Harmonie, die bei diesem Gesetz
herrscht,


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Nein, so harmonisch ist es nun doch nicht!)


und die Bestätigung von allen Seiten, dass es sich um ein
sehr wichtiges Gesetz handelt. Ich pflichte Ihnen bei,
Herr Minister, dass es sich um eines der modernsten Ge-
setze dieser Zeit handelt. Ich glaube, dass uns dieses
Thema noch viele Jahre begleiten wird. In diesem Ge-
setz ist sicherlich nicht alles geregelt, was wir uns der-
zeit wünschen. Aber Lebensarbeitszeitkonten stellen für
den Arbeitnehmer ein besonders flexibles Instrument
dar, sich während seines Arbeitslebens seine Wünsche
zu erfüllen. Wir haben diesen Gesetzentwurf erarbeitet,
weil wir all die Jahre einen Schwachpunkt gesehen ha-
ben: den Insolvenzschutz der Arbeitnehmer. Das wich-
tigste Anliegen war, dies im Gesetzentwurf zu regeln;
denn bisher war im Insolvenzfall das Vermögen dem
Arbeitgeber zugeordnet. Der Arbeitnehmer verlor im
Grunde sein gesamtes Vermögen. Wir haben in der
Koalition mit dieser Regierungsvorlage erreicht, dass
der Arbeitnehmer geschützt ist.

Ich möchte ein anderes Thema ansprechen. Laut
aktuellen Untersuchungen verbinden 74 Prozent der Ar-
beitnehmer das Thema „Übergang vom Erwerbsleben in
den Ruhestand“ mit diesem Gesetz.

Weil dieses Thema ein wichtiges Thema für die Ar-
beitnehmer ist, auch wegen der Rente mit 67, die wir mit
dem Jahr 2029 erreichen, führen wir diese Debatte. Wir
als Koalition können sagen: Wir haben nicht nur die
Rente mit 67 eingeführt, weil wir langfristig orientiert
sind, sondern wir wollen auch bei der Frage langfristig
orientiert sein, wo flexible Übergänge möglich sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn also der Arbeitnehmer auf Arbeitslohn verzich-
tet, ist es für ihn natürlich besonders wichtig, zu wissen,
was seinem Lebensarbeitszeitkonto gutgeschrieben
wird. Hier unterstützen wir den Arbeitnehmer doppelt:
Erstens werden bekanntlich die Sozialversicherungsbei-
träge erst dann erhoben, wenn aus dem Guthaben ent-
nommen wird und das Geld wirklich im Portemonnaie
des Arbeitnehmers landet. Das gilt ebenso für die Be-
steuerung. Erst wenn das Geld auf seinem Konto landet,
erfolgt die Besteuerung. Das heißt also: Mit diesem Zeit-
konto kann sich der Arbeitnehmer ein Stück Flexibilität
in seiner Lebensplanung erfüllen. Die Koalitionsparteien
wollen die Arbeitnehmer mit diesen Rahmenbedingun-
gen unterstützen.

Zweitens möchte ich auf die steuerliche Seite einge-
hen; denn ich bin Mitglied des Finanzausschusses, und
wir werden dieses Thema auch im Jahressteuergesetz
2009 parallel beraten. Auch wenn der Arbeitnehmer den
Betrieb verlässt, zu einem neuen Arbeitgeber wechselt
und der Arbeitgeber das Guthaben fortführt, wird das
Guthaben nicht versteuert. Ist der Arbeitnehmer nicht
beschäftigt oder macht er sich beispielsweise selbststän-
dig, dann wird das Guthaben auf die Deutsche Renten-
versicherung Bund übertragen. Auch hier gilt genau das
Gleiche: Die Besteuerung setzt erst ein, wenn das Gutha-
ben abgerufen wird. Es ist natürlich fraglich – das ist
auch von Vorrednern angesprochen worden –, ob es rich-
tig ist, dass dieses Guthaben auf Dauer bei der Renten-
versicherung Bund verbleiben soll, und ob es dort gut
angelegt ist. Warum muss ein Arbeitnehmer, wenn er
wieder in Arbeit ist, ein neues Lebensarbeitszeitkonto
eröffnen? Das sollte im Rahmen der weiteren Beratun-
gen überprüft werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ein zentrales Thema für den Arbeitnehmer ist die
Sicherheit und die Qualität der Anlage. Die Frage wird
natürlich gestellt, wie das Geld angelegt wird und wie si-
cher und ertragreich die Anlage ist.


(Frank Schäffler [FDP]: Das soll er möglichst selbst entscheiden können! – Jörg Rohde [FDP]: Hedgefonds!)


Wichtig ist, dass das Guthaben vom Vermögen des Ar-
beitgebers getrennt ist. Dafür haben wir normalerweise
irgendeinen Treuhänder oder einen sonstigen Dritten,
der das Guthaben verwaltet. Ich finde es allerdings be-
denklich, wie die Anlagevorschriften gewählt worden
sind und welche Begrenzungen vorgenommen worden
sind. Nehmen wir als Partner zum Beispiel die Versiche-
rungsgesellschaften, die ohnehin einer scharfen Kon-
trolle durch das Versicherungsaufsichtsgesetz und nun
auch den schärferen Anlagevorschriften unterliegen sol-
len. Auch die Versicherungsgesellschaften, die Garan-
tien geben, unterliegen dann schärferen Anlagevor-
schriften als bisher. Versicherungsgesellschaften können






(A) (C)



(B) (D)


Klaus-Peter Flosbach
bekanntlich bis zu 30 Prozent ihrer Anlagen in Aktien
halten. Hier werden sie aber auf 20 Prozent begrenzt.
Das hat natürlich nichts mit spekulativen Anlagen zu
tun. Wenn wir bedenken, dass viele Arbeitnehmer eher
langfristig orientiert sind, dann kommt es darauf an, dass
wir eine vernünftige Vermögensstreuung haben. Gerade
in diesem Bereich gehören, wenn man vernünftige Er-
gebnisse erzielen will, auch konservative, breit gestreute
Aktienanlagen dazu. Es handelt sich hier nicht um kurz-
fristige, spekulative Anlagen. Denken wir nur einmal an
die Riester-Rente. Selbst die Riester-Rente ermöglicht
es, in Aktienfonds zu investieren. Deswegen sollten wir
hier nicht zu enge Maßstäbe anlegen.


(Frank Schäffler [FDP]: Da hat er recht!)


Ich komme zum Schluss. Das Gesetz bringt deutliche
Verbesserungen für die Arbeitnehmer. Es konkretisiert
die Pflichten zur Führung von Arbeitszeitkonten und
verbessert den Insolvenzschutz. Wir tun etwas für die
Arbeitnehmer und sind in der Koalition mit diesem Ge-
setz auf dem richtigen Weg.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Wolfgang Grotthaus [SPD])



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617924300

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/10289 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Jörg Rohde,
Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Altersvorsorge für Geringverdiener attrak-
tiv gestalten

– zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst,
Dr. Lothar Bisky, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Riesterrente auf den Prüfstand stellen

– Drucksachen 16/7177, 16/8495, 16/10356 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Gabriele Hiller-Ohm, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)


Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1617924400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kollegen von der FDP, mit Ihrem Antrag, auf den ich
jetzt eingehen möchte, wollen Sie die Altersvorsorge für
Geringverdiener attraktiv gestalten.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wäre dringend nötig!)


Ob Sie damit allerdings das Alter für Geringverdiener at-
traktiv gestalten, bezweifle ich. Warum, werde ich Ihnen
gern erklären.

Sie möchten erstens, dass Empfängerinnen und Emp-
fänger von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbs-
minderung mehr hinzuverdienen können. Sie wollen die
Anrechnungsregelungen an die des Zweiten Buches So-
zialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende –
angleichen. Im Ausschuss begründeten Sie Ihren Antrag
mit den Worten: So senken wir Altersarmut.

Liebe Kollegen von der FDP, so einfach ist das leider
nicht. Sie packen das Problem der Altersarmut nämlich
nicht an der Wurzel, sondern doktern an den Symptomen
herum. Wir von der SPD-Fraktion


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Machen gar nichts!)


machen das anders. Wir setzen uns dafür ein, dass Al-
tersarmut erst gar nicht entsteht.


(Jörg Rohde [FDP]: Ach, wo denn?)


Wer gute Arbeit hat und einen fairen Lohn erhält, dem
wird die Grundsicherung im Alter als letztes soziales
Auffangnetz erspart bleiben. Deshalb kämpfen wir ent-
schlossen für gute Arbeit und für Mindestlöhne.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: In welcher Höhe denn, Frau Hiller-Ohm?)


Deshalb ist es uns so wichtig, dass ältere Menschen nicht
vorzeitig aus dem Arbeitsprozess aussortiert und zum al-
ten Eisen geworfen werden.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617924500

Frau Kollegin Hiller-Ohm, gestatten Sie eine Zwi-

schenfrage des Kollegen Kolb?


Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1617924600

Nein, ich möchte jetzt gern fortfahren.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eigentlich schade!)


– Sie haben nachher noch Gelegenheit, sich zu äußern.

Deshalb erarbeiten wir Vorschläge für flexible Über-
gänge aus dem Erwerbsleben in die Rente. Dazu gehören
die Fortführung der von der Bundesagentur geförderten
Altersteilzeit oder die Weiterentwicklung der Teilrente.
Einen wichtigen Beitrag leisten auch der eben diskutierte
Insolvenzschutz für Arbeitszeitkonten und die Möglich-
keit, solche Konten mitzunehmen.

Schade, liebe FDP, dass Sie sich gerade beim Min-
destlohn so hartnäckig verweigern. Hier könnten Sie tat-






(A) (C)



(B) (D)


Gabriele Hiller-Ohm
sächlich etwas gegen Altersarmut und für ein besseres
Leben vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tun.


(Beifall bei der SPD)


Aber was machen Sie?


(Jörg Rohde [FDP]: Gute Politik!)


Sie wollen Rentnerinnen und Rentner zur Aufbesserung
ihrer Grundsicherung im Alter weiter zur Arbeit schi-
cken nach dem Motto: Verdient euch etwas dazu! Wer
kaputt ist und dies im Alter nicht mehr kann, hat eben
Pech gehabt.


(Dr. Karl Addicks [FDP]: Das stimmt doch so überhaupt nicht!)


Es ist selbstverständlich nicht verboten, im Rentenal-
ter zu arbeiten. Auch wenn man Grundsicherung erhält,
ist dies möglich. Aktuell sind etwa 176 Euro anrech-
nungsfrei. Erwerbsfähige Menschen im Arbeitslosen-
geld-II-Bezug haben höhere Hinzuverdienstmöglichkei-
ten, und das ist richtig so; denn sie müssen sich den
Herausforderungen des Erwerbslebens noch stellen.

Ich komme zur zweiten Forderung in Ihrem Antrag.
Sie schlagen vor, die Anrechnung von Einkommen aus
privater und betrieblicher Altersvorsorge entsprechend
den Regeln für die Anrechnung von Erwerbseinkommen
zu behandeln.


(Jörg Rohde [FDP]: Genau!)


Mit anderen Worten: Wer fleißig privat vorsorgt, soll im
Alter belohnt werden.


(Jörg Rohde [FDP]: Ja!)


Dies müsse auch für die Menschen gelten, argumentie-
ren Sie, die sich keine auskömmliche Altersrente auf-
bauen könnten und auf staatliche Leistungen im Alter
angewiesen seien. Sie sollen einen Teil ihrer Riester-
Rente behalten dürfen.

Das scheint auf den ersten Blick gerecht zu sein.


(Irmingard Schewe-Gerigk GRÜNEN)


Die meisten Menschen mit kleinem Einkommen oder
gebrochener Erwerbsbiografie müssen sich die Raten für
ihre private Altersvorsorge oft mühevoll vom Mund ab-
sparen,


(Jörg Rohde [FDP]: Genau!)


während Nichtsparer ihr Geld in den Konsum stecken
können. Am Ende erhalten beide die gleiche staatliche
Altersrente.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und das kann wohl nicht sein!)


Im Mai haben wir eine Expertenanhörung zu diesem
Thema durchgeführt. Bei dieser Anhörung sind gute
Gründe genannt worden, warum wir bei der heutigen
Regelung bleiben sollten. Unser Sozialsystem beruht auf
dem sogenannten Nachranggrundsatz. Er sieht vor, dass
alle Anstrengungen zu unternehmen sind, den Lebensun-
terhalt aus eigenen Mitteln zu bestreiten, bevor Sozial-
hilfeleistungen in Anspruch genommen werden können.
Die Grundsicherung ist eine Sozialhilfeleistung. Deshalb
muss bis auf einen kleinen Schonbehalt alles an privatem
Vermögen aufgebraucht werden, bevor Grundsicherung
in Anspruch genommen werden kann. Alle erworbenen
Ansprüche aus vorgelagerten sozialen Sicherungssyste-
men werden einbezogen. Dazu zählt natürlich auch die
gesetzliche Rentenversicherung.

Für nicht begründbar halten wir, warum die gesetzli-
che Rente anders als die private behandelt werden soll.
Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung sol-
len voll auf die Grundsicherung angerechnet werden.
Die private Riester-Rente hingegen soll teilweise an-
rechnungsfrei bleiben. Aus Gleichbehandlungsgründen,
aber auch, um eine Diskriminierung der gesetzlichen
Rentenversicherung zu vermeiden, müssten dann gesetz-
liche Renten ebenfalls in gleicher Weise anrechnungsfrei
bleiben; das wäre logisch. Damit stiege aber die Zahl der
begünstigten Personen der Grundsicherung im Alter
stark an – mit den entsprechenden finanziellen Folgen.

Als schwierig sehe ich darüber hinaus die unter-
schiedliche Verbreitung von privater und betrieblicher
Rente an. Leider greift die individuelle Altersvorsorge
bei Frauen und in den neuen Bundesländern immer noch
weniger. Hier gilt es, die Benachteiligung dieser Perso-
nen zu beseitigen.

Liebe Kollegen von der FDP, ich komme zu Ihrer drit-
ten Forderung. Sie wollen das liberale Bürgergeld aus
dem Jahre 2005 wieder aufwärmen und setzen damit
noch eines drauf. Mit Ihrem sogenannten Bürgergeld se-
hen Sie vor, die Freibeträge nochmals großzügig anzuhe-
ben. Diese Freibeträge sollen außerdem für das Zwölfte
und Zweite Sozialgesetzbuch gleichermaßen gelten. Wie
hoch das Finanzierungsvolumen sein wird und wie Sie
es aufbringen wollen, dazu schwiegen Sie damals und
schweigen Sie heute.


(Jörg Rohde [FDP]: Wir sparen ja!)


Von Ihnen werden lediglich erhebliche Minderausgaben
durch den vermeintlichen Wegfall ganzer Behörden un-
terstellt. Das ist keine seriöse Rechnung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, ich habe aufgezeigt, wa-
rum der FDP-Antrag für die Altersvorsorge von Gering-
verdienern keinerlei wegweisende Ideen liefert. Wir leh-
nen den Antrag deshalb ab. Dem Antrag der Linken wird
es nicht besser ergehen. Meine Kollegin Lydia Westrich
wird dies für die SPD-Fraktion begründen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617924700

Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem

Kollegen Kolb.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1617924800

Frau Kollegin Hiller-Ohm, Sie haben in Ihrer Rede

davon gesprochen, der beste Schutz vor Altersarmut sei
die Einführung von Mindestlöhnen. Meine Zwischen-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Heinrich L. Kolb
frage haben Sie nicht zugelassen. Weil Sie ja auf seriöse
Rechnungen wert legen, wollte ich Sie nur darauf auf-
merksam machen, dass derjenige, der 40 Jahre lang für
einen Mindestlohn von 7,50 Euro arbeitete, am Ende ei-
nen Rentenanspruch von 540 Euro hätte; wer 45 Jahre
lang auf dieser Basis gearbeitet hätte, bekäme 603 Euro.
Das ist deutlich weniger als die Grundsicherung im Alter
und bedeutet nach unserem Verständnis also Altersar-
mut.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Sind Sie jetzt für einen höheren Mindestlohn?)


– Ich wollte diese Frage an die SPD richten: Ist Ihre neue
Messlatte für einen flächendeckenden Mindestlohn jetzt
nicht mehr 7,50 Euro, sondern, was sich rechnerisch
eher ergäbe, 9 Euro? Vielleicht können Sie mir das in Ih-
rer Antwort auf meine Kurzintervention schnell sagen.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617924900

Frau Kollegin, bitte.


Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1617925000

Herr Kollege, ich stimme Ihnen zu: Der Mindestlohn

allein wird das Problem nicht lösen. Er ist aber ein Mittel
auf dem Weg zu einer Problemlösung. Wir brauchen
nicht nur Mindestlöhne, sondern gute Löhne.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Der Mindestlohn ist die untere Absicherung und soll
nicht das Ende der Fahnenstange sein. Aber wir hoffen
und kämpfen dafür, dass die Tarifparteien sich auf gute
Lohnabschlüsse einigen. Dann ginge es den Menschen
besser; das wollen wir doch. Der Mindestlohn ist die un-
tere Auffanglinie, an der Schluss sein muss.

Es gibt ja heute Löhne, die noch weit unter 7,50 Euro
liegen. Was ist denn mit diesen Menschen? Diese wer-
den niemals eine Chance haben, im Alter aus der Grund-
sicherung herauszukommen. Das wird nur mit guten
Löhnen für gute Arbeit gelingen. Deshalb kämpfen wir
darum und setzen uns dafür so sehr ein. Ich hoffe, dass
auch Sie noch einmal in sich gehen und uns in dieser für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutsch-
land wichtigen Frage unterstützen.


(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann braucht man auch gute Arbeitgeber, die gute Arbeitsplätze bereithalten!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617925100

Nächster Redner ist der Kollege Jörg Rohde, FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Jörg Rohde (FDP):
Rede ID: ID1617925200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Frau Hiller-Ohm, Sie haben knapp das Thema
verfehlt. Statt hier über ein Problem zu reden, das Mil-
lionen von Menschen haben, sind Sie ausgewichen und
haben keine Antwort gegeben.


(Beifall bei der FDP)

Seit zwei Jahrzehnten ist klar, dass die gesetzliche
umlagefinanzierte Rente auf Basis des Generationenver-
trages ein Auslaufmodell ist.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Ist sie nicht!)


2001 hat man mit Einführung der Riester-Rente erstmals
darauf reagiert.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gute Reform!)


Die Einführung der Riester-Rente war ein erster Schritt
in die richtige Richtung: weg von der alleinigen Alterssi-
cherung durch die gesetzliche Rente hin zu einer Drei-
säulenabsicherung mit der Säule gesetzliche Rente zur
Sicherung des Grundbedarfs und den Säulen private und
betriebliche Vorsorge zur Absicherung des Lebensstan-
dards.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Das möchten Sie gerne!)


Leider sind sowohl die rot-grüne Vorgängerregierung als
auch die aktuelle Große Koalition nicht lange auf diesem
Weg geblieben.

Die betriebliche und private Vorsorge haben längst
nicht das Niveau erreicht, das nötig wäre, und die umlage-
finanzierte gesetzliche Rentenversicherung verschlingt
nach wie vor Steuermittel in gigantischem Umfang. Alles,
was in den vergangenen Jahren an vermeintlichen Refor-
men folgte, war nichts anderes als die Verschlimmbesse-
rei einer nicht mehr zeitgemäßen Form der Alterssiche-
rung.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das ist ja unglaublich!)


Auch bei der Riester-Rente haben Sie sich große Feh-
ler erlaubt. Einen ganz entscheidenden Systemfehler der
Riester-Rente möchten wir von der FDP mit unserem
heute zur Schlussabstimmung stehenden Antrag korri-
gieren. Leider haben alle Fraktionen des Bundestages
schon in den Ausschussberatungen angekündigt, gegen
unseren Antrag und auch gegen die Meinung der über-
wiegenden Zahl der Experten in der Anhörung zu unse-
rem Antrag zu stimmen.


(Andrea Nahles [SPD]: Folgerichtig!)


Rot und Grün wollen uns nicht folgen, weil sie den fol-
genreichen Konstruktionsfehler der Riester-Rente nicht
eingestehen wollen. CDU und CSU schweigen trotz bes-
seres Wissen vieler Kollegen aus Gründen der Koali-
tionsdisziplin, und den Damen und Herren von Links-
außen geht unser Antrag nicht weit genug.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das ist ja ein Ding, dass ihr einmal unterschiedlicher Meinung seid!)


Sachliche Argumente hat leider niemand von Ihnen.

Der Grundgedanke der Riester-Rente ist folgender:
Wer privat zusätzlich vorsorgt, um später im Alter einen
höheren Lebensstandard zu haben und nicht auf staatli-
che Unterstützung angewiesen zu sein, wird dafür vom
Staat mit einem nicht unerheblichen Zuschuss gefördert.
So weit, so gut, meine Damen und Herren. Nun hat sich






(A) (C)



(B) (D)


Jörg Rohde
jedoch herausgestellt, dass eine Gruppe von Rentnern
nicht in den Genuss einer Riester-Rente kommt, selbst
wenn sie einmal Jahrzehnte lang in einen Riester-Vertrag
eingezahlt haben werden: Denn bei allen Rentnerinnen
und Rentnern, deren gesetzliche Rente so gering ist, dass
sie zusätzlich auf Grundsicherung im Alter angewiesen
sind, wird der Riester-Renten-Anspruch uneingeschränkt
auf die Grundsicherung angerechnet. Die Riester-Rente
dieser Menschen wird komplett vom Grundsicherungs-
träger vereinnahmt. Sie erhalten keinen einzigen Cent
mehr als alle anderen Rentner, die nicht privat vorge-
sorgt haben. Werte Kolleginnen und Kollegen hier im
Deutschen Bundestag, das ist eine Sauerei ungeheuren
Ausmaßes.


(Beifall bei der FDP – Max Straubinger [CDU/ CSU]: Sehr parlamentarisch! – Weiterer Zuruf des Abg. Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Harsche Worte!)


Gerade die Menschen, die aus welchen Gründen auch
immer über ein sehr niedriges Einkommen verfügen und
dennoch etwas fürs Alter zurücklegen, werden rückwir-
kend dafür bestraft, indem man ihre Riester-Rente zu
100 Prozent vom Grundsicherungsanspruch abzieht.
Dieses Signal ist verheerend. Es zerstört jedes Vertrauen
in die staatlich geforderte und geförderte Riester-Rente.
Gerade für die Bezieher kleiner und mittlerer Einkom-
men ist nämlich angesichts des sinkenden Rentenniveaus
bei der gesetzlichen Rente private und betriebliche Vor-
sorge unerlässlich. All diesen Menschen sagen Sie von
CDU, CSU, SPD und Grünen heute: Wenn ihr keine
Aussicht mehr auf eine Rente über Grundsicherungs-
niveau habt, braucht ihr auch nicht privat vorzusorgen;
denn der Sozialhilfeträger kassiert es eh ein; und wenn
ihr schon gespart habt, dann kündigt einfach euren Ver-
trag und verzichtet auf die bis zu 92 Prozent staatlichen
Zuschüsse. Dann bleiben euch wenigstens die paar Euro,
die ihr sonst selbst eingezahlt habt. – Das ist die Bot-
schaft an die Menschen, die Sie von Union, SPD und
Grünen heute aussenden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Leider richtig!)


Die FDP hat eine einfachere Botschaft: Die Formel
„Wer spart, muss mehr haben als der, der nicht spart“
muss gelten.


(Beifall bei der FDP)


Wer die Menschen zu privater und betrieblicher Vor-
sorge ermuntern möchte, muss auch garantieren, dass
sich das Engerschnallen des Gürtels später auszahlt.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Das ist auch der grundlegende Unterschied, Frau
Hiller-Ohm: Die freiwillige Einzahlung in die Riester-
Rente muss geschützt werden. Die gesetzliche Verpflich-
tung zur gesetzlichen Rentenversicherung ist allerdings
gegeben, und insofern ist es ein klarer Unterschied zwi-
schen freiwilliger Leistung und verpflichtender Leis-
tung. Deswegen fordern wir eine unbürokratische Frei-
betragsregelung für Betriebs- und Riester-Rentner, die
auf Grundsicherung angewiesen sind.

Der Vorschlag der FDP lautet: Jeder Bezieher von
Grundsicherung soll zusätzlich bis zu einer Höhe von
100 Euro monatlich anrechnungsfrei eine Betriebs- oder
Riester-Rente beziehen können.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Guter Vorschlag!)


Darüber hinausgehende Ansprüche bis 800 Euro monat-
lich bleiben zu 20 Prozent und Ansprüche bis
1 200 Euro zu 10 Prozent anrechnungsfrei.

Liebe Kolleginnen und Kollegen im Bundestag, die-
ser Vorschlag der FDP ist nicht nur sozialpolitisch drin-
gend zur Umsetzung empfohlen, sondern auch ord-
nungspolitisch.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und das glauben Sie wirklich?)


Ich weiß, dass dies den Kolleginnen und Kollegen
links der Mitte zumeist egal ist, aber wenigstens von der
Union hätte ich mir etwas Unterstützung gewünscht.
Denn es gibt keinen Grund dafür, dass die Grenzen bei
der Grundsicherung im Alter enger gesteckt sein sollen
als beispielsweise bei ALG-II-Empfängern, also arbeits-
losen Erwerbsfähigen. Wir von der FDP wollen, dass für
alle Menschen, die auf staatliche Unterstützung ange-
wiesen sind, gilt: Tragt dazu bei, diesen Zustand zu über-
winden.


(Beifall bei der FDP)


Wir honorieren dies, indem wir euch Hinzuverdienste
zumindest teilweise belassen.


(Zuruf von der SPD: Das ist ja Staatshörigkeit, Herr Rohde!)


Unterschätzen Sie nicht die Zahl derer, auf die in den
nächsten Jahren mein gerade skizziertes Szenario zutref-
fen wird. Denn glücklicherweise sorgen immer mehr
Menschen zusätzlich für das Alter vor. Darunter sind
auch viele Geringverdiener und Menschen mit unterbro-
chenen Erwerbsbiografien. All diesen Menschen sagen
Sie wahrscheinlich heute ins Gesicht: Du machst dich
zwar für die Riester-Rente krumm, aber profitieren wirst
du davon nicht.

In diesem Haus wird völlig zu Recht häufig über das
Thema Altersarmut geredet. Heute können Sie mit ei-
nem einfachen Ja zu unserem Antrag einen großen Bei-
trag gegen die in einigen Jahren drohende Altersarmut
vieler Menschen leisten. Nehmen Sie diese Chance
wahr, meine Damen und Herren! Stimmen Sie dem An-
trag der FDP zu!

Zum Antrag der Linken. Wir haben genügend Daten,
die belegen, dass wir die Riester-Rente nicht auf den
Prüfstand stellen müssen.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Sie haben überhaupt keine Daten, Herr Rohde!)


Deswegen können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen.

Vielen Dank, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der FDP – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Sehr schlechte Abschiedsrede, Herr Rohde! Sehr schlechter Abgang!)







(A) (C)



(B) (D)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1617925300

Ich gebe dem Kollegen Peter Weiß von der CDU/

CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1617925400

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
Deutschland interessiert vor allen Dingen eine Frage:


(Jörg Rohde [FDP]: Was bleibt netto übrig?)

Wie soll ich mich verhalten, damit Altersarmut für mich
eines Tages tatsächlich vermieden wird und ein Fremd-
wort bleibt? – Auf diese Frage wollen sie eine ehrliche,
konkrete Antwort haben.


(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)

Diese Antwort kann nur heißen: Zusätzliche Alters-

vorsorge zur Ergänzung der gesetzlichen Rente schützt
am besten gegen Altersarmut.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn wir als Parlamentarier gegenüber den Arbeit-

nehmerinnen und Arbeitnehmern in diesem Land, die
diese ernsthafte Frage stellen, verantwortlich handeln
wollen, dann sollten wir alles vermeiden, was diese Ant-
wort verunklart und die Menschen verunsichert. Wir
sollten ihnen eine klare und verlässliche Antwort geben,
und die heißt eben: Zusätzliche Altersvorsorge ist der
beste Weg, um sich vor Altersarmut zu schützen. – Auf
diesem Wege sollten sich die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in Deutschland nicht verunsichern lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jörg Rohde [FDP]: Das ist unstrittig, Herr Kollege!)


Die Umstellung der deutschen Altersvorsorge auf ein
Dreisäulensystem aus gesetzlicher Rente – diese wird
bedeutsam bleiben, und Sie, Herr Rohde, sollten sie nicht
kaputtreden, wie Sie es gerade eben gemacht haben –,


(Beifall bei der CDU/CSU)

aus betrieblicher Altersvorsorge und aus privater kapital-
gedeckter Vorsorge ist notwendig, um den demografi-
schen Wandel zu bewältigen und um mehr Sicherheit im
Alter zu gewährleisten.

Übrigens: Obwohl es einige Jahre gebraucht hat, ist
diese Botschaft bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmern in Deutschland mittlerweile angekommen.
Denn sie handeln entsprechend.


(Jörg Rohde [FDP]: Zu einem Drittel!)

Die Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die
sich eine Betriebsrentenanwartschaft erarbeiten, steigt
kontinuierlich – heute sind es bereits über 65 Prozent;
wir wollen selbstverständlich, dass es noch mehr werden –,
und gerade in den letzten Jahren ist die Anzahl der Neu-
abschlüsse sogenannter Riester-Renten-Verträge – der
Kollege Riester ist extra anwesend, damit er wieder ein-
mal seinen Namen in einer Debatte hören darf –


(Beifall der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


sprunghaft angestiegen.
– Ich bitte um Entschuldigung für die kleine flapsige Be-
merkung. – Bis Mitte dieses Jahres sind jedenfalls
11,6 Millionen Riester-Renten-Verträge abgeschlossen
worden.

Es ist gerade ein Markenzeichen der Großen Koali-
tion, dass wir die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
bei dieser notwendigen zusätzlichen Altersvorsorge
nicht alleine lassen, sondern sie nach Kräften unterstüt-
zen wollen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sagen Sie einmal ein Beispiel!)


Ich darf erinnern: Wir haben in dieser Legislaturperiode
bereits beschlossen, die Förderung der Riester-Renten-
Verträge deutlich zu verbessern. Ab diesem Jahr gibt es
300 Euro pro Kind als staatlichen Zuschuss für einen
Riester-Renten-Vertrag. Wir haben neu eingeführt, dass
unter 25-Jährige bei einem Erstabschluss 200 Euro Zu-
schuss vom Staat zusätzlich bekommen. Wir haben ein-
geführt, dass zukünftig auch der Erwerb privat genutzten
Wohneigentums als Form der Altersvorsorge von uns
zusätzlich gefördert wird. Wir haben die Entgeltum-
wandlung auf Dauer steuer- und sozialversicherungsab-
gabenfrei gestellt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da mussten wir euch aber mehr treiben, als ihr selbst gegangen seid!)


Wir unterstützen also quasi mit indirekter Subvention
den Aufbau betrieblicher Altersvorsorge.

Die klare Botschaft an alle Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in unserem Land lautet: Nutzen Sie bitte
diese Chancen zusätzlicher Altersvorsorge! Verschenken
Sie nicht das Geld, das wir Ihnen seitens des Staates zur
Verfügung stellen! Wer vorsorgt, ist auf der sicheren
Seite.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Mit Ausnahme derer, die zu wenig verdienen! Jetzt reden Sie einmal über die, die nicht so viel verdienen!)


Umso unverständlicher ist, dass leider in einzelnen
Medienberichten


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Haben Sie die inzwischen gelesen?)


und jetzt auch noch in zwei Anträgen – von der Linken
und von der FDP – ausgerechnet das Erfolgsmodell der
privaten kapitalgedeckten Altersvorsorge schlechtgere-
det werden soll. Das ist der eigentliche Inhalt dieser An-
träge, und es ist auch der eigentliche Grund, warum wir
als Koalitionsfraktion beiden Anträgen nicht zustimmen
werden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na, na, na!)


Wer das Motto ausgibt: „Lasst das mit der privaten
Vorsorge bleiben, es nützt eh nichts“, der handelt nicht
nur fahrlässig und unverantwortlich, er führt die Men-
schen schlichtweg hinters Licht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Peter Weiß (Emmendingen)

Er treibt zahlreiche Menschen geradezu erst recht in die
Altersarmut. Solch unverantwortliches Reden muss ge-
stoppt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617925500

Herr Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Rohde?


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1617925600

Ja, selbstverständlich.


Jörg Rohde (FDP):
Rede ID: ID1617925700

Vielen Dank, Herr Kollege Weiß. – Sie haben recht:

Sie haben zwei Anträge vorliegen, von den Linken und
von der FDP-Fraktion. Sie haben aber vergessen, zu er-
wähnen – da bitte ich Sie um Bestätigung –, dass unse-
rem Antrag eine Anfrage an die Bundesregierung zu-
grunde liegt, die Zahlen zum Vorschein gebracht hat,
welche uns zum Handeln veranlasst haben. Wir sehen
ein großes Problem für ungefähr ein Drittel der Riester-
Sparer. Aufgrund der Aussagen der Bundesregierung
sind 2 Millionen bis 4 Millionen Menschen betroffen,
weil sie ein sehr, sehr geringes Einkommen haben und
deswegen möglicherweise in die Personengruppe fallen,


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Frage?)


die, sage ich einmal, enteignet werden könnten. Stim-
men Sie mir zu, dass erstens die Zahlen der Bundes-
regierung das belegen – die Zahlen sind zwar schon ein
Jahr alt, und wir beraten schon einige Zeit darüber – und
dass zweitens bisher in der Debatte weder von der SPD
noch von Ihnen ein Beitrag zur Lösung dieses Problems
angedeutet wurde?


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1617925800

Herr Kollege Rohde, es ist richtig, dass es in der Wis-

senschaft und in den politischen Parteien und Gruppie-
rungen verschiedene Vorschläge gibt, die aufgrund des
sinkenden Niveaus der gesetzlichen Rente auf eine zu-
sätzliche Sicherung für künftige Generationen von Rent-
nerinnen und Rentnern abzielen. Es gibt dazu noch kei-
nen Konsens. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir auf
diesem Weg in den kommenden Jahren zusätzliche Si-
cherungsklauseln in unser Rentenrecht einbauen werden.
Die Frage ist, wie sie aussehen werden.

Aber die entscheidende Frage ist doch die: Welche
Botschaft geben wir heute einem jungen Menschen? Ein
junger Mensch, der heute anfängt zu arbeiten, vielleicht
im Niedriglohnsektor, plant doch nicht, zeit seines Le-
bens, bis zum 67. Lebensjahr, im Niedriglohnsektor zu
bleiben. Ein junger Mensch will doch, genauso wie die
jungen Menschen in der Vergangenheit, beruflich Kar-
riere machen, mehr verdienen, zu einem besseren Ver-
dienst kommen!


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es!)

Deswegen ist die Botschaft an ihn: Sorge ab dem ersten
Euro Verdienst zusätzlich für dein Alter vor; denn dann
ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass du mit der
Rente aufgrund deiner beruflichen Karriere und mit der
zusätzlichen Altersvorsorge mehr bekommst als nur die
Grundsicherung. Das ist doch die Botschaft, die wir aus-
senden müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist das BestCase-Szenario! Jetzt reden wir aber über den Worst Case!)


Wir brauchen keine neuen Berichte, wie sie von den
Linken gefordert werden. Die Linke stellt Anträge, neue
Berichte zu erstellen, doch nur deswegen, um die Men-
schen zu verunsichern. Die Bundesregierung wird im
November den Rentenversicherungsbericht 2008 und
den Alterssicherungsbericht 2008 vorlegen, der uns über
die gesamte Breite der Alterssicherung Auskunft geben
wird. Dann wird jeder nachlesen können, dass das Drei-
säulenmodell funktioniert. Wir brauchen daher keine zu-
sätzlichen Berichte. Es wäre besser, alle Abgeordneten-
kollegen und die Öffentlichkeit würden die vorhandenen
Berichte gründlich lesen und studieren. Sie würden dann
zu dem Schluss kommen, dass das Dreisäulenmodell ge-
gen die Altersarmut hilft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich will konkrete Zahlen nennen. Deutsche Bank Re-
search hat kürzlich eine Studie vorgelegt, die Folgendes
aussagt: Bezieher von Durchschnittseinkommen – also
Menschen, die ihr Leben lang ein Durchschnittseinkom-
men beziehen; das sind zurzeit 30 000 Euro jährlich –


(Jörg Rohde [FDP]: Um die geht es hier aber nicht!)


haben nach 20 Jahren, in denen sie Beiträge in die ge-
setzliche Rentenversicherung und Beiträge in einen
Riester-Renten-Sparvertrag eingezahlt haben, eine Al-
tersvorsorge aufgebaut, die über dem Grundsicherungs-
niveau liegt. Das ist doch eine tolle Leistung. Diejeni-
gen, die nur die Hälfte des Durchschnittseinkommens
ein Leben lang verdienen, erhalten nach immerhin
36 Jahren eine Leistung aus gesetzlicher Rente und
Riester-Rente, die oberhalb des Grundsicherungsniveaus
liegt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber die Leute mit 7,50 Euro Stundenlohn haben nicht das Geld!)


Angesichts dieser Zahlen muss eigentlich jeder kon-
sequent sagen: Jawohl, ich vertraue darauf, dass ich es
aus eigener Leistung mit der gesetzlichen Rente und der
Riester-Rente schaffen kann, nicht auf Grundsicherung
angewiesen zu sein, sondern ein Niveau zu erreichen,
das mich vor Altersarmut schützt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Weil das in der Altersarmutsdebatte totgeschwiegen
wird, möchte ich daran erinnern, dass Konrad Adenauer
1957 mit der Einführung der dynamischen Rente eine
der größten sozialpolitischen Reformen, wenn nicht so-






(A) (C)



(B) (D)


Peter Weiß (Emmendingen)

gar die größte sozialpolitische Reform in der Geschichte
Nachkriegsdeutschlands geschaffen hat. Bis 1957 war es
so, dass über 70 Prozent der Rentnerinnen und Rentner
in Deutschland von ihrer Rente nicht leben konnten und
beim Staat Sozialhilfe beantragen mussten. Das war die
Situation vor 51 Jahren. Mit der dynamischen Rente ha-
ben wir es geschafft, dass heute gerade noch 2,3 Prozent
der Rentnerinnen und Rentner Grundsicherung im Alter
– so heißt heute die Sozialhilfe für ältere Menschen – be-
antragen müssen. Das ist die große sozialpolitische Leis-
tung des deutschen Alterssicherungssystems.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist heute ein relativ günstiger Ausschnitt! Es wird aber leider wieder schlechter!)


Wir wollen mit der Förderung des Dreisäulenmodells
und mit der Unterstützung der Sparanstrengungen im
Rahmen der betrieblichen Altersvorsorge und der kapi-
talgedeckten privaten Altersvorsorge dafür sorgen, dass
es keine Rückschritte bei der hervorragenden Entwick-
lung in der Alterssicherungspolitik Deutschlands gibt,
sondern dass für die übergroße Mehrheit der Deutschen
in Zukunft gilt: Altersarmut ist ein Fremdwort. Zu die-
sem Weg, den wir eingeschlagen haben, gibt es keine Al-
ternative.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617925900

Nächster Redner ist der Kollege Volker Schneider,

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Volker Schneider (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617926000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich muss schon sagen, Herr Weiß, Ihre Reden sind eini-
germaßen vorhersehbar. Es ist immer dasselbe:


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Immer gut!)


Sie feiern immer auf die gleiche Art und Weise die
Riester-Rente als Erfolgsmodell und werfen dabei mit
Konfetti und Luftschlangen. Wer nicht mitfeiert, sondern
kritische Fragen stellt, egal von welcher Seite des Hau-
ses, ist ein böser Bube und führt die armen Menschen
hinters Licht.

Aber so ganz unrecht haben Sie ja nicht, Herr Weiß.
Ich wollte Ihnen das eigentlich ersparen, aber nach Ihrer
Rede will ich auf diesen Punkt noch einmal hinweisen.
Tatsächlich ist die Riester-Rente zumindest für die Versi-
cherungsunternehmen ein Erfolgsmodell: 12 Milliarden
zusätzlicher Umsatz in der privaten Altersvorsorge, das
ist wahrhaftig ein fantastisches Geschäft. Da lässt sich
die Allianz auch in diesem Jahr nicht lumpen:
60 000 Euro für die CDU,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Den Textbaustein kennen wir schon!)


60 000 Euro für die SPD, 60 000 Euro für die FDP,
60 000 Euro für die CSU und natürlich 60 000 Euro auch
für die Grünen. Das macht 300 000 Euro,

(Jörg Rohde [FDP]: Für die Demokratie! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Deswegen sind Sie so sauer!)


die übrigens nicht von der Allianz gedruckt werden, son-
dern die aus den Beiträgen der Versicherten kommen
und die mit Sicherheit an eine Stelle nicht mehr fließen,
nämlich in die Altersvorsorge.


(Beifall bei der LINKEN)


Diese Pflege der politischen Landschaft ist offensicht-
lich gut angelegtes Geld, denn in Ihren Jubelarien für die
private Altersvorsorge ist noch nicht einmal der Hauch
eines Zweifels zu entdecken.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das geht jetzt ein bisschen weit, Herr Kollege!)


Da kann man nur noch sagen: Wegsehen, ignorieren, ba-
gatellisieren. Auch da, Herr Weiß, haben Sie gestern im
Ausschuss ein echtes Highlight geliefert, als Sie gesagt
haben, die letzte kritische Berichterstattung zur Riester-
Rente liege drei Monate zurück. Eben haben Sie ein bis-
schen etwas anderes gesagt, aber ich kann Ihnen gern
hier darstellen, was es in den letzten zwei Monaten an
Berichterstattung gab.

Da haben wir beispielsweise die Süddeutsche Zeitung.
Unter dem Titel „Die Riester-Abzocke“ war dort zu le-
sen:

Viele Riester-Sparer füttern ein Monster namens Fi-
nanzindustrie: Ihre staatlichen Zulagen kommen
nicht der Altersvorsorge zugute, sondern wandern
in die Tasche der Anbieter.

Ein anderes unverdächtiges Magazin, das Manager
Magazin,


(Andrea Nahles [SPD]: Was heißt denn „unverdächtig“?)


beschreibt eine Form der Abzocke, die auch bei einigen
anderen Zeitschriften nachzulesen war. Dort ist die Rede
davon, wie der Gewinn der Versicherungsunternehmen
im Grunde genommen dadurch gemehrt wird, dass man
von einer Lebenserwartung von über 90 Jahren ausgeht,
sodass die Risikoüberschüsse nur den Menschen zugute-
kommen, die deutlich über 90 Jahre alt werden. Das ist
ein wirklich toller Erfolg.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Wie eine Versicherung funktioniert, wissen Sie sowieso nicht!)


Jetzt zu einem Test der Zeitschrift Finanztest. Finanz-
test hat übrigens bis jetzt die Riester-Renten immer über-
durchschnittlich gut beurteilt.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Wie hoch war die DDR-Rente noch einmal?)


– Wissen Sie, Herr Brauksiepe: Das ist so dümmlich. Sie
können Renten natürlich nur vergleichen, wenn Sie auch
die tatsächlichen Lebenshaltungskosten miteinander ver-
gleichen.






(A) (C)



(B) (D)


Volker Schneider (Saarbrücken)


(Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Die Rente muss etwas mit der Lebensleistung zu tun haben!)


Die Zeitschrift Finanztest hat 53 Versicherungsanbie-
ter überprüfen wollen. Davon hat sie von 24 sicherheits-
halber schon einmal gar keine Auskünfte über die
Gebühren und Kosten bekommen, die dort anfallen. Von
den übrigen Anbietern wurde gerade einmal acht mit
„gut“ und nur zwei mit „sehr gut“ bewertet. Das heißt,
80 Prozent werden von der Zeitschrift Finanztest im
Grunde genommen so eingeschätzt, dass man sie nicht
ernsthaft irgendjemandem empfehlen kann. Aber Sie
halten das für ein Erfolgsmodell.

Deshalb fordern wir – das ist für mich sehr gut nach-
zuvollziehen –, dass die Wirksamkeit der Riester-Rente
überprüft wird. Wir machen konkrete Vorschläge, wel-
che Fragestellungen in eine solche Überprüfung einzu-
beziehen wären.

Ich darf Sie daran erinnern: Das fordern nicht nur wir,
sondern das hat in der Anhörung eine recht illustre Ge-
sellschaft für gut befunden. Das haben nämlich der
DGB, der Bund der Steuerzahler in Bayern, die Deut-
sche Rentenversicherung Bund, der Sozialverband
Deutschland und die Einzelsachverständigen Frau
Queisser und Herr Fachinger begrüßt. Sie haben alle ge-
sagt, dass es grundsätzlich eine vernünftige Idee sei, an
dieser Stelle die Wirksamkeit der Riester-Rente zu über-
prüfen.

Aber Sie machen es nicht mit. Die einzige Begrün-
dung, die Sie dafür liefern, ist, dass wir die Riester-
Rente schlechtreden wollen. Ich kann das nicht nach-
vollziehen. Wenn Sie an dieser Stelle nichts zu verber-
gen haben, müssten Sie es mitmachen. Weil Sie aber
Angst vor dem Ergebnis haben, wollen Sie nicht, dass
ein entsprechender Bericht kommt.


(Beifall bei der LINKEN)


Deshalb versuchen Sie, das abzubiegen. Ich sage Ih-
nen: Dies ist offensichtlich auch ein Ergebnis einer sol-
chen Art von politischer Landschaftspflege. Denn wenn
jemand so viel Geld bezahlt, dann erwartet er auch, dass
schlechte Nachrichten über ihn unterdrückt werden.

Besten Dank.


(Beifall bei der LINKEN – Gabriele HillerOhm [SPD]: Unerhört!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617926100

Nächste Rednerin ist die Kollegin Irmingard Schewe-

Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sprechen heute über zwei Anträge, die zu einer Zeit
eingebracht worden sind, als in der Öffentlichkeit über
den Anstieg von Altersarmut heftig diskutiert wurde.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das Thema ist nicht vom Tisch!)

In einer Fernsehsendung wurde der Eindruck erweckt, es
würde sich für Beschäftigte mit Versicherungszeiten von
30 Jahren, für Menschen mit niedrigem Einkommen und
für Langzeitarbeitslose überhaupt nicht lohnen, privat
vorzusorgen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Leider wahr!)


In der Folgezeit haben sich nicht nur die FDP, sondern
teilweise auch Vertreter der Großen Koalition in einen
Wettstreit begeben: Wir haben täglich neue Vorschläge
zu Freibeträgen und zur Grundsicherung gehört, und
zwar von verschiedenen Seiten.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Können Sie den Kollegen von der Großen Koalition noch einmal nennen?)


Die Linke hat den Antrag „Riesterrente auf den Prüf-
stand stellen“ vorgelegt. Sie, meine Damen und Herren,
wollen die Riester-Rente aber nicht nur evaluieren, Sie
wollen sie abschaffen. Sagen Sie das doch ehrlich,
schließlich steht das in der Begründung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir Grünen haben schon lange auf die steigende Al-
tersarmut hingewiesen. Wir forderten die Bundesregie-
rung wieder und wieder auf, schnellstens vorbeugende
Maßnahmen gegen Altersarmut zu beschließen;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber nichts dagegen getan! Wann habt ihr denn regiert?)


denn hier schlummert in der Tat eine gesellschaftspoliti-
sche Zeitbombe, und darauf muss man rechtzeitig poli-
tisch reagieren. Wir wissen, die Armutsrisiken werden in
Zukunft steigen. Heute sind es gut 2 Prozent der Rentner
und Renterinnen, die auf Grundsicherung angewiesen
sind. Zukünftig wird sich diese Zahl aber vervielfachen.

Im Unterschied zur FDP und zur Linken sind wir der
Meinung, dass bei den Ursachen und nicht bei den
Symptomen angesetzt werden muss.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das heißt, wir wollen die vorgelagerten Systeme der Al-
terssicherung stärken, um Altersarmut zu verhindern.
Wir sind der Meinung, dass Altersarmut in der gesetzli-
chen Rentenversicherung vermieden werden muss.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Deswegen habt ihr das Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz gemacht und das Niveau abgesenkt!)


Für uns gilt der Grundsatz: Wer ein Leben lang arbeitet
und sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellt, muss
eine Rente oberhalb der Grundsicherung erreichen kön-
nen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auf die Veränderungen am Arbeitsmarkt muss mit ei-
ner aktiven Arbeitsmarktpolitik, aber auch mit einer
Weiterentwicklung der Rentenpolitik reagiert werden.
Dazu brauchen wir endlich gesetzliche Mindestlöhne.
Das reicht nicht aus, ist aber ein Baustein. Wir brauchen
eine Weiterentwicklung der Rentenpolitik und eine






(A) (C)



(B) (D)


Irmingard Schewe-Gerigk
Garantierente oberhalb der Grundsicherung für Men-
schen, die ein Leben lang gearbeitet haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Bundesregierung wollte uns lange Zeit Sand in
die Augen streuen, indem sie behauptet hat, dass der
Aufschwung alle Probleme lösen werde. Schaut man in
den jüngsten Bericht des Statistischen Bundesamtes vom
September, stellt man fest, dass er unsere Einschätzung
bestätigt. Dort heißt es nämlich: Auch in dem gesamtwirt-
schaftlich erfolgreichen Jahr 2007 sind die sogenannten
„Normalarbeitsverhältnisse“ rückläufig geblieben. Trotz
günstiger Entwicklung bei der Erwerbslosigkeit wurde
der Trend nicht gestoppt, „Normalarbeitsplätze“


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was ist denn normal für Sie?)


– jetzt müssen Sie zuhören – durch atypische Beschäfti-
gungsformen zu ersetzen. – Deshalb – ich wiederhole
mich ganz bewusst – müssen wir das Problem an der
Wurzel anpacken und nicht nur Korrekturen vornehmen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das Problem muss man lösen!)


Die vorgelegten Anträge der FDP und der Linken leh-
nen wir ab. Nach dem Vorschlag der FDP soll bei der
Grundsicherung im Alter ein Freibetrag von maximal
260 Euro monatlich für die private und die betriebliche
Vorsorge anrechnungsfrei bleiben.


(Jörg Rohde [FDP]: Wo steht das?)


Einkommen aus der gesetzlichen Rentenversicherung
sollen aber zu 100 Prozent angerechnet werden. Das ver-
stehen wir ehrlich gesagt nicht so richtig.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das eine ist eine freiwillige, das andere eine Pflichtversicherung!)


Meine Kollegen von der FDP, Sie wollen gesetzlich Ver-
sicherte schlechter behandeln als privat und betrieblich
Versicherte. Ich sage dazu: Typisch FDP!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn man dieser Logik folgt, muss man fragen: Was
ist denn eigentlich mit einer alten Dame, die in ein Pfle-
geheim geht und 10 000 Euro auf ihrem Konto hat? Sie
muss das Geld einsetzen, wenn sie Leistungen vom Staat
haben möchte. Ihr Vorschlag wird, glaube ich, eine
ganze Menge anderer Dinge nach sich ziehen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Bei Hartz IV habt ihr doch auch ein Schonvermögen gemacht! Wo ist denn da der Unterschied?)


Herr Kolb, Sie dokumentieren damit, dass Sie nicht auf
die solidarische Sicherung bauen, sondern Menschen,
die privat und betrieblich vorsorgen können, bevorzugen
wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Linke will aus der Riester-Förderung aussteigen
und die Mittel zur Stärkung der gesetzlichen Rente ver-
wenden. Herr Schneider, ich finde, Sie schütten damit
das Kind mit dem Bade aus. Ich frage Sie einfach ein-
mal: Wie wollen Sie es den über 11 Millionen Men-
schen, die einen Riester-Vertrag abgeschlossen haben,
erklären, warum die einzige Förderung privater Alters-
vorsorge, die mit Elementen des sozialen Ausgleichs
versehen ist, von morgen an nicht mehr gelten soll? Wis-
sen Sie nicht, dass zwei Drittel der Riester-Sparer ein
Einkommen von weniger als 30 000 Euro pro Jahr ha-
ben?


(Jörg Rohde [FDP]: Das stand in der Anfrage, die wir gekriegt haben!)


Es ist also nicht so, dass nur diejenigen, die ein hohes
Einkommen haben, Riester-Verträge abschließen, son-
dern gerade Klein- und Mittelverdiener.


(Jörg Rohde [FDP]: Und die lassen Sie im Regen stehen!)


Vertrauen in die Alterssicherung entsteht nur dann,
wenn sich die Menschen auf das Geschaffene verlassen
können. Da helfen keine ideologischen Scheuklappen.

Frau Präsidentin, ich fasse zusammen:


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dafür reicht es nicht mehr!)


Für die eine Seite dieses Hauses ist die Privatvorsorge
Teufelszeug, die andere Seite möchte die Privatvorsorge
zulasten der gesetzlichen aufblähen. Das ist nicht sach-
gerecht. Wir Grünen wollen in einem ersten Schritt die
Beiträge von Geringverdienenden aufstocken.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Haben Sie einmal durchgerechnet, was das kostet?)


Wir wollen, dass Selbstständige, die keine obligatorische
Altersvorsorge haben, in die gesetzliche Rentenversiche-
rung einzahlen. Wir wollen über ein Beitragssplitting die
eigenständige Rente von Frauen stärken. Das sind die
Rezepte gegen Altersarmut.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617926200

Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort der Kollegin

Lydia Westrich.


(Beifall bei der SPD)



Lydia Westrich (SPD):
Rede ID: ID1617926300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Herr Schneider, es gibt einmal jährlich den
Rentenversicherungsbericht; den lesen auch Sie fleißig.
In jeder Legislaturperiode erhalten wir den Alterssiche-
rungsbericht. Das alles wird durch den Sozialbeirat be-
gutachtet. Dieses Gutachten bekommen wir ebenfalls.
Wir diskutieren in den Ausschüssen laufend über die ak-
tuelle Entwicklung. In unserer schönen Bibliothek kön-
nen Sie die regelmäßigen Veröffentlichungen und Statis-
tiken der Zentralen Zulagenstelle für Altersvermögen
einsehen. Es steht uns also bereits eine Fülle von Infor-
mationen zur Verfügung. Aber es kann ja anscheinend
nie genug sein. Sie haben schon drei Kleine Anfragen zu






(A) (C)



(B) (D)


Lydia Westrich
diesem Thema allein in diesem Jahr gestellt. Doppelt
und dreifach genäht hält besser, meinen Sie.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617926400

Frau Kollegin, nicht nur das, Kollege Schneider

würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Nein! Er hat gerade geredet!)



Lydia Westrich (SPD):
Rede ID: ID1617926500

Nein, ich wüsste nicht, was er fragen will; denn er

weiß noch nicht, was ich sagen will.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Doch!)


Schnell einen Antrag geschrieben und eine neue Be-
richtspflicht eingefordert, dann müssen Sie sich nicht die
Mühe machen, selber zu schauen, ob die gewünschten
Informationen nicht schon vorhanden sind.

Wir werden Ende des Jahres den jährlichen Renten-
versicherungsbericht und den Alterssicherungsbericht
erhalten.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hoffentlich kommt er einmal unaufgefordert!)


Wenn Sie Ihr Anliegen, gründliche Auskünfte über die
Entwicklung und Wirkung der Riester-Rente zu erhalten,
wirklich ernst meinten, hätten Sie diese Berichte doch
abgewartet. Nein, es geht Ihnen nicht um Auskünfte,
sondern wieder einmal darum, ein erfolgreiches Projekt
wie die Riester-Rente, die allen Unkenrufen zum Trotz
von vielen Millionen Bürgern genutzt wird, weiter zu
verteufeln.


(Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Wie erfolgreich sie ist, haben wir schon gehört!)


Herr Schneider, dazu, wie Sie sie verteufeln, haben
Sie hier wieder einmal ein Beispiel geliefert. Sie wollen
ganz bewusst die Bürgerinnen und Bürger verunsichern.
Das Schizophrene an der Sache ist,


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Ich schreibe nicht in der Süddeutschen und nicht im Manager Magazin!)


dass Sie, meine Damen und Herren von der Linken, im
Bundestag die Riester-Rente ganz erbittert bekämpfen,
aber zu Hause in Ihren Beratungszimmern, wo es nie-
mand sieht und hört, füllen Sie den Leuten die Anträge
aus und legen ihnen nahe, einen Riester-Vertrag abzu-
schließen. Das hat mir gerade neulich eine junge Frau
aus meinem Wahlkreis berichtet. Natürlich habe auch ich
ihr dazu geraten, einen Vertrag abzuschließen, und mich
gefreut, wie vernünftig Ihre Basis vor Ort doch ist. Sie
scheint kapiert zu haben, dass der große demografische
Wandel, der sich in unserer Bevölkerung vollzieht, auch
an den Systemen der Alterssicherung nicht spurlos vo-
rübergehen kann.

Das erste Mal seit Jahren sind selbst in meiner struk-
turschwachen Region gute Lehrstellen nicht besetzt. Sie
können nicht wegdiskutieren, dass die Zahl älterer Men-
schen im Verhältnis zur Zahl der Menschen im erwerbs-
fähigen Alter bereits jetzt zunimmt. Sie reden trotz aller
neuen Erkenntnisse und trotz der Entwicklungen, die je-
des Kind sehen kann, ständig von einer lebensstandard-
sichernden gesetzlichen Altersversorgung wie zu Zeiten
Norbert Blüms.

Das ist den Menschen ins Gesicht gelogen. Mein Va-
ter ist 88 Jahre alt. Er hat ein Arbeitsleben – durch den
Krieg unterbrochen – von vielleicht 40 Jahren und eine
Rentenzeit von bisher 28 Jahren hinter sich. Gott möge
sie noch lange, lange andauern lassen. Auch Sie und ich
wollen diesen langen, geruhsamen Lebensabend haben.
Aber selbst am einfachen Beispiel meiner Familie
– meine Mutter ist Gott sei Dank ein ähnlicher Fall – se-
hen Sie, dass dies nicht funktionieren kann: 40 Jahre
Beitragszahlung und 30 Jahre Rente bei weniger Bei-
tragszahlern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt reden Sie die Renten schlecht!)


Da müssten die Rentenversicherer schon sehr riskant auf
dem gleichfalls von Ihnen verteufelten Finanzmarkt zo-
cken, um diese Rendite erzielen zu können. Aber sie ha-
ben keinen Kapitalstock; sie sind umlagefinanziert. Des-
wegen müssen sie auf die Entwicklungen eingestellt
werden, wenn die Sozialkassen nicht vor die Wand lau-
fen sollen. Das scheinen Sie zu wollen.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Selbst bei mäßig erhöhten Beitragszahlungen in der
gesetzlichen Rentenversicherung, wie wir sie Unterneh-
men und Arbeitnehmern zumuten könnten, ist es auf
Dauer unmöglich, dass eine immer geringere Zahl von
beschäftigten Beitragszahlern in der Lage ist, für immer
mehr Rentner immer längere Rentenbezugszeiten in der
gegenwärtigen Höhe zu finanzieren. Das ist doch Ihr
ewiges Mantra: Wir hätten alles im Griff, wenn die Ver-
sicherungsbeiträge um ein paar Prozentpunkte steigen
würden.


(Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Das stimmt doch gar nicht!)


Das ist grundfalsch. Sie wiegen die Menschen wieder in
einer scheinbaren Sicherheit, nach dem Motto „Nach mir
die Sintflut“.

Rot-Grün hat im Jahr 2000 die Weichen anders ge-
stellt. Wir haben die Verantwortung auch für die junge
Generation ernst genommen. Die Dreisäulenaltersvor-
sorge ist der richtige Weg. Gesetzliche Rentenversiche-
rung, betriebliche Altersvorsorge und Riester-Rente er-
gänzen einander. Die Bürgerinnen und Bürger haben das
kapiert. 11 Millionen Riester-Verträge beweisen das.

Der neue Wohn-Riester wird – davon bin ich über-
zeugt – die Anzahl dieser Verträge weiter steigen lassen.
Die Säule der privaten Vorsorge wird sich gerade für Ge-
ringverdiener, für die Sie letztlich eine Lanze brechen
wollen, auszahlen. Ich bin froh, dass wegen unserer För-
derung gerade der prozentuale Anteil der Kleinverdiener






(A) (C)



(B) (D)


Lydia Westrich
an der Gesamtzahl der Vertragsabschlüsse – danach ha-
ben Sie gefragt – so hoch ist.

Wenn man in einem Allversorgerstaat wie der DDR
aufgewachsen ist, kommt man aus seiner Haut vielleicht
nicht mehr heraus. Ich treffe viele Leute, auch mit klei-
nerem Verdienst, die stolz sind, ihre Familie ernährt zu
haben und die im Alter auf ihre eigene Vorsorge und
nicht auf den Staat zurückgreifen wollen. Sie freuen sich
über die Riester-Förderung in Höhe von 60 Prozent oder
mehr und lassen sich auch durch Monitor-Berichte nicht
irremachen. Aber genau das, die Menschen zu verunsi-
chern, beabsichtigen Sie von der Linken doch. In
20 Jahren reden wir vielleicht einmal über Ihren Antrag,
der so schlecht ist.

Sie sagen dem 25-jährigen Wachmann, der gerade
seinen Riester-Vertrag abgeschlossen hat: Du bist doch
dumm; da zahlst du ein und hast die Versicherung reich
gemacht; später bekommst du sowieso nur die Grund-
sicherung wie jeder, der nicht eingezahlt hat. Wissen Sie
denn, ob es die Grundsicherung in 35 Jahren überhaupt
noch gibt?


(Jörg Rohde [FDP]: Na, das ist eine Überraschung!)


Dann wäre der Wachmann wirklich arm, wenn er den
Vertrag gekündigt hätte. Wissen Sie es?


(Jörg Rohde [FDP]: Nein!)


Vielleicht geht es Deutschland in dieser Zeit aber so gut,
dass die Riester-Rente nicht mehr angerechnet zu wer-
den braucht. Dann wäre sie ein gutes Zubrot. Wird er
Wachmann bleiben, oder wird er eine Weiterbildung ma-
chen und mehr verdienen? Grundsicherung wäre für ihn
dann gar kein Thema mehr, aber die zusätzliche Riester-
Rente schon.


(Andrea Nahles [SPD]: Jawohl! Genau so ist es!)


War er nun dumm, als er den Riester-Vertrag abgeschlos-
sen hat, oder wäre es dumm gewesen, auf Ihren Rat zu
hören, es nicht zu tun und die Versicherung nicht reich
zu machen?

Das will ich Ihnen schon noch einmal ins Stammbuch
schreiben: Die Studie, die Sie von den Linken zur Be-
gründung Ihres Antrags heranziehen, enthält richtige
Analysen, aber sie zeigt falsche Schlussfolgerungen auf.
Das passiert einmal, und Sie sind darauf hereingefallen:

Erstens. 2005 war die Datenlage ganz anders. Die An-
zahl der Riester-Verträge hat sich in dieser Zeit verdop-
pelt.

Zweitens. Die Studienmacher haben den Zweck der
Riester-Rente nicht kapiert. Wir wollten den Beitrags-
satz in der gesetzlichen Rentenversicherung auf einem
bezahlbaren Niveau halten. Wir wollten auch die Vermö-
gensbildung für das Alter fördern. Die jährlichen Förder-
milliarden erhöhen gerade das Altersvermögen der
Kleinsparer.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617926600

Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende, bitte.


Lydia Westrich (SPD):
Rede ID: ID1617926700

Wenn die Studie besagt, die Menschen mit kleinen

Verdiensten sparen nicht mehr Geld, sondern für etwas
anderes, so wird außer Acht gelassen, dass unsere staatli-
chen Zulagen das Angesparte dieser Kleinverdiener ver-
vielfachen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617926800

Frau Westrich!


Lydia Westrich (SPD):
Rede ID: ID1617926900

Das sind keine Mitnahmeeffekte, sondern das ist ge-

wollte Zukunftsverantwortung. Deshalb brauchen wir
die Berichtspflicht bezüglich bereits vorhandener Daten
nicht.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617927000

Frau Westrich, kommen Sie zum Ende, bitte.


Lydia Westrich (SPD):
Rede ID: ID1617927100

Wir stützen die Riester-Rente für Kleinverdiener. Wir

wollen die Umlenkung der – wenn auch noch so kleinen –
Sparquote der Haushalte in eine Altersvorsorge. Deshalb
lehnen wir Ihren Antrag gerne ab.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Jörg Rohde [FDP]: Bei uns hätten die Bürger Beschlüsse! Bei Ihnen haben sie Versprechen!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617927200

Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kol-

lege Schneider.


Volker Schneider (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617927300

Frau Kollegin Westrich, das, was Sie eben vorgetra-

gen haben, ist wirklich – erlauben Sie mir das harsche
Urteil – ein Ausbund von Oberflächlichkeit.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Oberlehrer!)


Es würde sich rentieren, darauf noch einmal ausführlich
einzugehen; aber das schenke ich mir jetzt.

Es geht mir nur um einen einzigen Punkt. Sie haben
am Anfang behauptet, wir forderten etwas, was längst
nachzulesen wäre. Ich würde Ihnen empfehlen: Lesen
Sie unseren Antrag! Darin ist präzise aufgelistet, was wir
wollen. Sie werden feststellen: Kein einziger dieser As-
pekte ist im letzten Alterssicherungsbericht oder im letz-
ten Rentenversicherungsbericht genannt. Das war der
erste Punkt.

Mein zweiter Punkt. Wir haben keinen der Aspekte,
die in diesen Berichten erwähnt sind, noch einmal aufge-
führt. Wir haben ganz gezielt nach dem gefragt, was bis
heute nicht in diesen Berichten enthalten ist. Ich frage
mich, warum Sie uns diese Auskünfte entgegen der






(A) (C)



(B) (D)


Volker Schneider (Saarbrücken)

Empfehlung aller Sachverständigen so nachhaltig ver-
weigern wollen. Das ist Ihr schlechtes Gewissen.


(Beifall bei der LINKEN – Lydia Westrich [SPD]: Das haben wir gar nicht nötig!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617927400

Jetzt gebe ich dem Kollegen Max Straubinger für die

CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Er sorgt jetzt für ein gutes Gewissen! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es wäre eine gute Vorarbeit für künftige Koalitionen, wenn Herr Straubinger jetzt sagen würde: Das ist ein guter FDP-Antrag! – Heiterkeit bei der FDP)



Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1617927500

Ja? Schauen wir einmal.

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir beschäftigen uns mit dem Antrag der FDP und mit
dem Antrag der Linken. Die eine Seite möchte, dass die
kapitalgedeckte Vorsorge bei Geringverdienern in gerin-
gerem Umfang angerechnet wird, die andere Seite
möchte, dass die Riester-Rente auf den Prüfstand gestellt
wird. Ich möchte meinen Vorrednern beipflichten: Ei-
gentlich ist mit „Riesterrente auf den Prüfstand stellen“
gemeint, dass Sie die Riester-Rente abschaffen wollen.
Das ist das Ansinnen der Linken in diesem Hause. Sie
können nämlich nur mit staatlichen Systemen, nicht aber
mit freiheitlichen Systemen leben.


(Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Sie wissen doch gar nicht, was freiheitliche Systeme sind!)


Sie wollen die Leute bei ihren Anlageentscheidungen
bevormunden. An dieser Stelle sieht man sehr deutlich,
dass der Ansatz der Sozialisten bzw. der Kommunisten
durchschlägt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der LINKEN)


Werte Damen und Herren, die Linken äußern immer
wieder die große Befürchtung: Wenn nicht alles, wie sie
es wollen, staatlich organisiert ist, dann führt das ins Un-
glück. In diesem Fall würde das bedeuten, dass die Men-
schen in Zukunft möglicherweise der Altersarmut
anheimfallen. Dem möchte ich ausdrücklich widerspre-
chen. Gerade diese Bundesregierung hat die wesentli-
chen Grundlagen dafür geschaffen, dass die Menschen
zukünftig nicht mit Altersarmut konfrontiert sein wer-
den. Deutschland hat derzeit die geringste Altersarmut
aller europäischen Länder zu verzeichnen.

Außerdem hat es die kluge Politik dieser Bundesre-
gierung ermöglicht, dass viele Menschen in Arbeit und
Brot gekommen sind. Dass die Zahl der sozialversiche-
rungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse um 1,5 Mil-
lionen gestiegen ist, bedeutet mehr Schutz vor Altersar-
mut.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Dies ist das Verdienst dieser Bundesregierung und eine
Grundlage dafür, dass die Altersversorgung weiterhin si-
cher ist.

Dass in der Altersversorgung weiterhin Sicherheit
herrscht, hat mit dem Umlagesystem der gesetzlichen
Rentenversicherung zu tun. Herr Rohde, ich möchte aus-
drücklich feststellen: Das Umlagesystem ist kein Aus-
laufmodell, sondern die Grundlage der sozialen Siche-
rung der Menschen im Alter. Allerdings muss es um ein
kapitalgestütztes System ergänzt werden. Die Länder, in
denen die Altersversorgung ausschließlich auf ein kapi-
talgestütztes System ausgerichtet war, werden es in Zu-
kunft sehr schwer haben – das wird angesichts der aktu-
ellen Finanzmarktkrise deutlich –, die Altersversorgung
der Menschen zu gewährleisten. Deshalb stehen wir zum
Umlagesystem.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Genauso treten wir aber auch für die gleichzeitige
Förderung des kapitalgestützten Systems ein. Mein Kol-
lege Weiß hat bereits darauf hingewiesen, wie viel wir in
dieser Legislaturperiode zur Stärkung der kapitalgestütz-
ten Säule beigetragen haben.

Ich möchte noch anmerken, dass gerade für die
Selbstständigen in unserem Land zwar nicht die Riester-
Rente, dafür aber die Rürup-Rente eine bedeutsame
Stütze des Altersvorsorgesystems darstellt. Hier spielen
die Versicherungsunternehmen eine Rolle. Sie legen das
Geld der Sparerinnen und Sparer zielorientiert und si-
cher an. Für viele Anlageformen im Rahmen der Riester-
Rente gilt – das ist schriftlich dargelegt –, dass nicht nur
das eingezahlte Kapital zur Auszahlung kommen, son-
dern über viele Jahre und Jahrzehnte hinweg auch ein
gewisser Zins erwirtschaftet werden muss.

Herr Kollege Schneider, ich möchte das, was Sie vor-
hin hier gesagt haben, mit aller Schärfe zurückweisen.
Sie haben gesagt, dass hier sozusagen aufgrund von
Parteispenden Entscheidungen zugunsten von kapitalge-
stützten Vorsorgemöglichkeiten getroffen worden sind.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist ungeheuerlich!)


Das ist, gelinde gesagt, wirklich nicht tolerabel


(Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Das ist eine Verleumdung!)


– und vor allen Dingen eine Verleumdung.

Es gibt natürlich Spenden – auch die Linken erhalten
Spenden – für die Unterstützung der Parteien, damit sie
ihren staatsbürgerlichen Auftrag erfüllen. Diese sind
richtig und auch gut angelegt. Wenn sie sich auf alle Par-
teien gleichmäßig verteilen, dann wird dadurch sehr
deutlich, dass damit die staatsbürgerliche Arbeit der Par-
teien unterstützt und nicht irgendeine Entscheidung er-
kauft werden soll.


(Beifall bei der CDU/CSU)


In diesem Zusammenhang wäre es weitaus besser,
wenn die Linke, die PDS bzw. die SED nachforschen
würde, wo das SED-Vermögen hingekommen ist,






(A) (C)



(B) (D)


Max Straubinger

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Fragen Sie Herrn Papier! Er kann Ihnen das sagen!)


das Ihr Parteivorsitzender Gysi möglicherweise ins Aus-
land transferiert hat, um es über Scheinfirmen jetzt mög-
licherweise wieder in Ihren Parteiapparat fließen zu las-
sen.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es! – Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Das ist eine Verleumdung!)


Das ist das schamlose Verhalten der Linken, der PDS
bzw. der SED: Sie gibt den Bürgerinnen und Bürgern
hier keine Auskunft über ihr SED-Vermögen. Das ist der
Betrug. An diesem Verhalten werden die Menschen Sie
natürlich messen.

Ich fordere Sie auf, in diesem Zusammenhang hier
nicht solche Verdächtigungen auszusprechen, sondern
im Gegenteil zu einer vernünftigen Politik für die Bürge-
rinnen und Bürger und insbesondere auch für die Rent-
nerinnen und Rentner in unserem Land zurückzukehren.


(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Rohde [FDP]: Das waren aber zu wenige Antworten, Herr Kollege!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617927600

Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin

Enkelmann das Wort.


(Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Geht das eigentlich? Sie hat sich nicht zu einer Zwischenfrage geäußert!)



Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617927700

Da immer wieder der Vorwurf an uns gerichtet wird

und wir gefragt werden, wo denn das SED-Geld geblie-
ben ist:

Erstens. Fragen Sie die Kollegen der CDU, wo das
CDU-Geld geblieben ist.

Zweitens. Wenden Sie sich bitte vertrauensvoll an den
Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Herrn
Papier. Er war Vorsitzender der Unabhängigen Kommis-
sion zur Ermittlung des Vermögens der Parteien und
Massenorganisationen der Deutschen Demokratischen
Republik – unter anderem auch des Vermögens der
CDU. Es gibt einen Abschlussbericht, den Sie nachlesen
können. Sie sind schon länger hier im Parlament. Er ist
hier vorgestellt worden.

Es liegt also alles auf dem Tisch. Informieren Sie sich
bitte!


(Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Hinsichtlich des SED-Vermögens sind noch ein paar Fragen offen! – Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Wenn man lesen kann, ist das von Vorteil!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617927800

Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 16/10356.

Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der FDP
auf Drucksache 16/7177 mit dem Titel „Altersvorsorge
für Geringverdiener attraktiv gestalten“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der CDU/CSU, der SPD, der Linken und des
Bündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der an-
tragstellenden Fraktion FDP angenommen.

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/8495 mit dem Titel
„Riesterrente auf den Prüfstand stellen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? –


(Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Pfui!)


Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist die Be-
schlussempfehlung mit den Stimmen der CDU/CSU, der
SPD, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen bei
Gegenstimmen durch die Fraktion Die Linke angenom-
men.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christian

(Göttingen)

der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Gregor
Amann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Förderung von Bildung und Ausbildung –
Entwicklungspolitischen Schlüsselsektor
konsequent ausbauen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Hüseyin-
Kenan Aydin, Monika Knoche, Dr. Diether
Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Entwicklung braucht Bildung – Den deut-
schen Beitrag erhöhen

– Drucksachen 16/9424, 16/8812, 16/10360 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Dr. Bärbel Kofler
Hellmut Königshaus
Hüseyin-Kenan Aydin
Ute Koczy

Hierzu haben die Fraktionen vereinbart, eine Drei-
viertelstunde zu debattieren. – Dazu höre ich keinen Wi-
derspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Dr. Bärbel Kofler für die SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Bärbel Kofler (SPD):
Rede ID: ID1617927900

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Ich freue mich, dass wir heute über ein Thema de-
battieren können, zu dem wir im Ausschuss fraktions-
übergreifend einen Konsens erzielt haben. Wir wollen
die Bedeutung von Bildung in der Entwicklungszusam-
menarbeit voranbringen, stärken und fördern.

Ich glaube, es ist richtig, an dieser Stelle zu betonen,
dass Bildung ein wesentliches Fundament für eine ge-
lungene, nachhaltige Entwicklungspolitik und Entwick-
lung ist. Nicht umsonst ist in den Millenniumsentwick-
lungszielen als zweites Ziel festgelegt, dass bis zum
Jahr 2015 eine vollständige Primärschulbildung für alle
Jungen und Mädchen erreicht werden soll. Das bedarf
großer Anstrengungen. Wir möchten mit unserem An-
trag dazu beitragen, dass dies gelingen kann.

Wir wissen, dass Bildung die Basis für weitere Maß-
nahmen in der Entwicklungszusammenarbeit und einer
nachhaltigen Armutsbekämpfung ist, ob es um Millen-
niumsentwicklungsziele im Gesundheitsbereich, die Hal-
bierung von Hunger und Armut oder – wie meine Kolle-
gin Christel Riemann-Hanewinckel später noch ausführen
wird – um die Geschlechtergerechtigkeit durch die
Gleichstellung von Mann und Frau geht. Bildung ist aber
mehr. Bildung ist ein grundsätzliches Menschenrecht
und aus diesem Grund von besonderer Bedeutung und
auch in unserem Ausschuss entsprechend zu unterstüt-
zen.

Bildung ist die Basis für gesellschaftliche Teilhabe
und ein selbstbestimmtes Leben. Demokratie, die wir
alle in unseren Debatten um Good Governance auch in
den Partnerländern der einen Welt fördern wollen, kann
nur gelingen, wenn die Gesellschaften eine entspre-
chende Basis an Bildung mitbringen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist die Voraussetzung für zivilgesellschaftliches
Engagement, das wir in der Entwicklungszusammen-
arbeit brauchen. Sie ist, wie gesagt, die Basis für demo-
kratische Strukturen und Entwicklungen.

Wir brauchen nicht nur in den Bundesländern bei uns
zu Hause Bildungsgerechtigkeit und Bildungschancen,
sondern müssen uns auch in der Entwicklungspolitik und
der Zusammenarbeit mit den Ländern der Dritten Welt
dafür einsetzen. Wir müssen uns gemeinsam mit unseren
Partnerländern dafür einsetzen. Deshalb freue ich mich,
dass es Teil unseres Antrags ist, die Abschaffung von
Schulgebühren und Lehrmittelkosten voranzubringen,
wo dies noch nicht gelungen ist. Schulmittel müssen
kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Gebührenfreie
Grundbildung von Kindern muss überall die Grundvo-
raussetzung für das Lernen sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wenn wir das mit unseren Partnerländern erreichen
wollen, bedeutet das im Übrigen auch, dass wir uns mit
der Finanzausstattung der Haushalte unserer Partnerlän-
der auseinandersetzen müssen und ihnen dort Hilfestel-
lung geben müssen, wo dies nötig ist.

Wir haben in unserem Antrag – auch das finde ich be-
sonders wichtig – auf die ILO-Kernarbeitsnormen Bezug
genommen. Für den Bereich der Bildung bedeutet das
ein weltweites Verbot von Kinderarbeit.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wer möchte, dass die 218 Millionen Kinder, die welt-
weit durch Kinderarbeit ausgebeutet werden, zur Schule
gehen können, kann nicht umhin, sich für die Kern-
arbeitsnormen und das weltweite Verbot von Kinder-
arbeit einzusetzen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Darüber hinaus gibt es gute Ansätze und Projekte der
Entwicklungszusammenarbeit, die für diese Kinder eine
Brücke in das formale Bildungssystem darstellen und ih-
nen Chancen bieten. Ein Drittel der Kinder, die in Kin-
derarbeit ausgebeutet werden, leben in Indien. Es gibt in-
zwischen Projekte der Deutschen Welthungerhilfe, die
sich gemeinsam mit indischen Partnerorganisationen be-
mühen, Kindern den Zugang zum formalen Bildungssys-
tem zu ermöglichen, Brückenfunktionen zu nutzen
sowie Eltern und die örtlichen Verwaltungen einzubezie-
hen, um einen Beitrag dazu zu leisten, diesen Kindern
– den Ärmsten der Armen – Chancen zu bieten.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben in unseren Antrag einen Punkt aufgenom-
men, auf den ich besonders stolz bin. Bei dieser Gele-
genheit möchte ich einigen Schülern aus Hamburg mei-
nen Dank aussprechen, die bei der Debatte über die
globale Bildungskampagne vor dem Reichstagsgebäude
nachdrücklich darum gebeten haben, in unseren Antrag
aufzunehmen, dass auch Menschen mit Behinderungen
in den Entwicklungsländern Chancen brauchen, am Bil-
dungssystem teilzuhaben. Weit über 90 Prozent der Kin-
der mit Behinderung haben in Entwicklungsländern
keine Chance, am Bildungsprozess teilzuhaben. Es ist
gut, wenn wir uns dafür einsetzen, dies zu ändern.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es passiert schon einiges in diesem Bereich. Auf bila-
teraler Ebene ist Deutschland im Bereich der Grund-
bildung mit 120 Millionen Euro, im Bereich der beruf-
lichen Bildung mit knapp 80 Millionen Euro und im
Bereich der Hochschulen, aber auch im Bereich der Bil-
dungsmaßnahmen, die die Verbesserung der Qualität so-
wie die Lehrerausbildung und -fortbildung zum Ziel ha-
ben, mit 60 Millionen Euro engagiert. Es gibt zudem
gute internationale Initiativen wie Education For All und
Fast Track Initiative, die unterstützt gehören und deren
Engagement bedeutend gestärkt werden muss. Dazu
möchten wir insbesondere das BMZ mit unserem Antrag
ermutigen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Bärbel Kofler
Die Gründe dafür sind klar. Noch immer sind 77 Mil-
lionen Kinder weltweit ohne jedweden Zugang zu
Schulbildung. 774 Millionen Menschen weltweit sind
Analphabeten. Nicht nur die Zahl derer, die in die Schule
kommen, ist interessant, sondern auch die Zahl derer, die
in der Schule bleiben. Die Verweildauer in der Schule ist
von Bedeutung. Leider ist die Schulabbrecherrate noch
immer sehr hoch, insbesondere wenn es um den Schul-
besuch von Mädchen geht. Der UNESCO-Weltbildungs-
bericht vom vergangenen Herbst spricht eine deutliche
Sprache. Positiv sind die steigenden Einschulungsraten.
Ich glaube, darüber freuen wir uns alle. Bedenklich ist,
dass die Divergenz zwischen den Ländern mit steigen-
den, gleichbleibenden und manchmal auch mit schlech-
teren Einschulungsraten noch immer sehr groß ist. Fast
die Hälfte der Kinder, die keinen Zugang zu Schulbil-
dung haben, lebt in Subsahara-Afrika. Das sind knapp
40 Millionen. Allein diese Zahl macht deutlich, dass das
Engagement für mehr Kinder, die in die Schule gehen,
nicht nachlassen darf und sogar – auch und gerade mit fi-
nanziellen Mitteln – verstärkt werden muss, genauso wie
das Engagement für mehr Qualität in der Ausbildung.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen mehr Lehrer, und zwar gut ausgebil-
dete, Lehrer, die eine pädagogische Ausbildung absol-
viert haben. Es gibt Beispiele, die zeigen, wo sich
Deutschland sehr gut engagiert. In Tadschikistan erhal-
ten seit 2005 jedes Jahr 1 000 Lehrer im Rahmen eines
Lehrerfortbildungsprogramms der GTZ eine Qualifika-
tion für den Lehrerberuf. Das ist ein entscheidender Bei-
trag.

Einen entscheidenden Beitrag stellen manchmal auch
ganz banale Dinge dar. Ich war vor wenigen Monaten im
Ostkongo und konnte in einem Dorf, ungefähr zwei
Stunden von Bukavu entfernt, lernen, was Qualität in der
Bildung bedeutet. Dort ist vor einem halben Jahr das
erste Mal eine Präsenzbibliothek errichtet worden. „Prä-
senzbibliothek“ ist sicherlich ein großes Wort. Schließ-
lich handelt es sich nur um wenige gedruckte Bücher
und Zeitschriften, die es plötzlich in diesem kongolesi-
schen Dorf gab. Aber sogar das stellt einen riesigen Fort-
schritt in der Qualität der Bildung dar. Warum? Bis zu
diesem Zeitpunkt haben nur 70 Prozent der Schüler die
Abschlussprüfungen bestanden, weil sie bei diesen Prü-
fungen zum ersten Mal bedrucktes Papier, gedruckte
Schrift sehen konnten. Mit dieser kleinen Maßnahme,
also mit wenigen Büchern und gedruckten Materialien,
wurde innerhalb kürzester Zeit die Abschlussrate um
20 Prozent erhöht. Wenn man in die Qualität der Bildung
investiert – entweder in ganz kleine Maßnahmen oder
fundamental in die Lehrerbildung –, tut man den jungen
Menschen weltweit etwas sehr Gutes.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir haben uns in unserem Antrag im Wesentlichen
auf drei Punkte konzentriert: die Förderung der Grund-
bildung, der beruflichen Bildung und der akademischen
Bildung. Gerade Grundbildung und berufliche Bildung
sind Bereiche, in denen die deutsche Entwicklungszu-
sammenarbeit eine große Expertise, große Kenntnisse
hat.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617928000

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.


Dr. Bärbel Kofler (SPD):
Rede ID: ID1617928100

Ich glaube, wir tun gut daran, auch in Zukunft das,

was von unseren Partnerländern nachgefragt wird, auf-
zugreifen, und zwar aus den Gründen, die ich am Anfang
angesprochen habe.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617928200

Frau Kollegin!


Dr. Bärbel Kofler (SPD):
Rede ID: ID1617928300

Bildung ist ein Menschenrecht, Bildung schafft ge-

sellschaftliche Teilhabe und persönliche Emanzipation,
und Bildung steht damit auch in einer Tradition, die uns
Sozialdemokraten sehr nahe ist, wenn ich etwa an Arbei-
terbildung denke. Was bei uns gilt, gilt auch weltweit.

Danke.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617928400

Hellmut Königshaus spricht jetzt für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP – Zuruf von der CDU/ CSU: Wenn er ordentlich ist, klatsche auch ich!)



Hellmut Königshaus (FDP):
Rede ID: ID1617928500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der

Tat herrscht hier – die Kollegin Kofler hat das gesagt –
über die Ziele beim Thema „Bildung in Entwicklungs-
ländern“ weitestgehend Konsens. Wir alle wissen, dass
Armut und Bildungsarmut in den Entwicklungsländern
unmittelbar zusammenhängen, übrigens nicht nur dort,
aber eben auch dort. Nur, wenn wir das hier gemeinsam
feststellen – auch die Koalition hat das in ihrem Antrag
sehr deutlich ausgeführt –, dann frage ich mich, warum
Sie dann der Bundesregierung danken. Die Bundesregie-
rung hat doch in diesem Bereich bisher wirklich versagt
und ihn sträflich vernachlässigt.


(Dr. Karl Addicks [FDP]: Allerdings!)


Tatsache ist doch, dass die Förderung der Grundbildung
in den letzten Jahren zurückgegangen ist.


(Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Das stimmt nicht! Sie ist verdoppelt worden!)


So wurden, um die genaue Zahl zu nennen, von insge-
samt 4 877,573 Millionen Euro deutscher bilateraler
Entwicklungshilfe im Jahr 2002 lediglich 77,227 Millio-
nen Euro der Förderung von Grundbildung zugeschrie-
ben. Das ist ein Anteil von 1,6 Prozent der ODA, wäh-
rend wir heute bei einem Anteil von nur noch
1,5 Prozent der ODA sind.






(A) (C)



(B) (D)


Hellmut Königshaus

(Zuruf von der CDU/CSU: Das liegt daran, dass wir einen Aufwuchs hatten! – Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Das hat aber etwas damit zu tun, dass die ODA generell gestiegen ist!)


Die Bundesregierung hat diesen Bereich bisher sträflich
vernachlässigt. Sie hat jetzt allerdings im Entwurf des
Haushaltsplans vorgesehen, dass im Bereich der Bildung
ein Aufwuchs vorgenommen wird, und zwar auf
148,50 Millionen Euro im Jahr 2009; aber die Größe des
Grundbildungsbereichs – das ist das Entscheidende, über
das wir uns hier unterhalten – ist daraus überhaupt nicht
abzulesen. Deshalb müssen wir hier eine Klarstellung
fordern. Wir als FDP fordern schon seit Jahren regelmä-
ßig eine Aufstockung in diesem Bereich, in der Regel in
der Größenordnung von 60 Millionen Euro. Das diffe-
riert je nach der Gesamtlage. Sie haben das leider immer
abgelehnt. Vielleicht können wir uns diesmal darauf ver-
ständigen, dass wir in diesem Bereich vorangehen.


(Beifall bei der FDP – Dr. Karl Addicks [FDP]: Das wäre sehr wünschenswert!)


Die Koalition fasziniert zurzeit das Thema Bildung,
nicht nur bei der Entwicklungszusammenarbeit, sondern
auch hier in Deutschland.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist auch gut so!)


Die Kanzlerin reist bekanntermaßen durch Deutschland
und veranstaltet Bildungsgipfel.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Gute Kanzlerin! – Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erst seit neuestem!)


Sie lenkt dadurch eigentlich davon ab, dass sie für diesen
Bereich mitnichten zuständig ist. Es gibt in diesem Be-
reich keine Zuständigkeit, jedenfalls nicht im Bereich
der Grundbildung. Deshalb ist das, was dort abläuft,
weiter nichts als eine Farce.


(Beifall bei der FDP – Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das weise ich mit aller Empörung zurück!)


– Sie brauchen das nicht mit Empörung zurückzuweisen.
Ich brauche nur Ihre Kanzlerin zu zitieren.


(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das mache ich aber! Ich lasse mir von Ihnen nichts vorschreiben!)


Sie hat zum Beispiel dem Kollegen Tauss, der hier ähn-
lich wie Sie argumentiert hat, gesagt, sie wolle ihm mit
Verlaub doch sagen, dass man ihm schließlich angeboten
habe, wenn er sich für Schulpolitik interessiere, in den
Landtag zu gehen, weil das nicht Sache des Bundestages
sei. Sie hat auch gesagt, wer Leidenschaft für die Schul-
politik habe, der sei im Bundestag falsch aufgehoben.
Wer sich als Kanzlerin um die Schulpolitik kümmert, die
Ländersache ist, ist dort ebenfalls falsch aufgehoben.


(Beifall bei der FDP – Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das ist ein alter Hut! – Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ein Fehler der Föderalismuskommission!)

Aber das ist nicht unser Thema heute; die Föderalismus-
kommission ist ein anderes Thema.

Die FDP kämpft seit Jahren für ein verstärktes En-
gagement im Bildungsbereich der Entwicklungsländer;
denn Bildung ist ein essenzieller Bestandteil der nach-
haltigen Entwicklung einer Gesellschaft. Laut OECD
gibt es eine enge Beziehung zwischen den Ausgaben für
weiterführende Schulen und für Schul- und Hochschul-
ausbildung und der Wirtschaftsentwicklung eines Lan-
des. In den vergangenen 20 Jahren habe sich das am
stärksten – so die OECD – in Argentinien, Chile und Ja-
maika gezeigt. Jamaika ist ohnehin ein gutes Stichwort
für die Entwicklung.


(Heiterkeit)


Die Probleme in den Entwicklungsländern sind evi-
dent. Weltweit ist jedem siebten Menschen der Zugang
zu grundlegender Schulbildung verwehrt. 85 Prozent der
Schreib- und Leseunkundigen sowie derjenigen, die
keine Möglichkeit haben, eine Ausbildung zu absolvie-
ren, leben in Entwicklungsländern. Hier müssen wir an-
setzen. Das bedeutet insbesondere: Wir müssen dafür
Sorge tragen, dass nicht nur die Schule und der Lehrer
da sind, sondern zum Beispiel auch das Lehrmaterial.
Selbst daran fehlt es häufig.

Kollegin Kofler hat darauf hingewiesen, dass man
Gebührenfreiheit braucht. Ich möchte erwidern: Das gilt
auch bei uns zu Hause, in den Bundesländern.


(Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Gebührenfreiheit in den Bundesländern, dafür ist die SPD immer!)


Da müssen wir uns alle an die eigene Nase fassen.


(Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Und die FDP in NRW ebenfalls!)


– Ich sage ja: Wir müssen uns alle an die eigene Nase
fassen. Die Schulbuchfreiheit gibt es zum Beispiel in
Berlin nicht, wo bekanntermaßen eine linke Partei in der
Regierung vertreten ist.


(Dr. Karl Addicks [FDP]: Vor allem da! Fasst ihr euch mal an eure langen Nasen!)


Wir dürfen Forderungen nicht nur für die Entwick-
lungsländer erheben, sondern müssen sie genauso für
unser eigenes Land erheben. Dafür wollen wir sorgen.

Eben ist von der Kollegin Kofler das Thema Kinder-
arbeit angesprochen worden; das ist mir wichtig; das ist
in der Tat ein ganz wesentlicher Punkt. Niemand will
Kinderarbeit. Aber wir müssen sehen, dass es Wechsel-
wirkungen gibt. Als der Kollege Klimke und ich in In-
dien waren und dort speziell dieses Thema angesprochen
haben, haben wir die Not von Eltern erlebt, die ihre Kin-
der nicht ernähren können und sie aus der Not heraus an
andere abgegeben, mitunter sogar verkauft haben. Das
kann nicht das Ziel sein.

Deshalb kommt es darauf an, dass wir vernünftige
Modelle finden, die es den Eltern möglich machen, ihre
Kinder großzuziehen und ihnen auch eine Schulbildung
zu ermöglichen. Das ist wichtig. Es geht nicht an, grob-
schlächtig, wie das in dem Antrag zum Teil geschieht,






(A) (C)



(B) (D)


Hellmut Königshaus

(Anette Hübinger [CDU/CSU]: Na, na, na! – Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Schmarrn! – Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Ein ganz differenzierter Antrag!)


Lösungen zu finden, die überall greifen sollen. Es gibt in
den einzelnen Ländern sehr unterschiedliche Vorausset-
zungen. Es kommt darauf an, dass wir diese unterschied-
lichen Voraussetzungen beachten und entsprechende Lö-
sungen finden.

Die Fokussierung auf dieses Thema ist wichtig. Wir
unterstützen Sie in dieser Zielsetzung. – Frau Präsiden-
tin, ich sehe das Blinken und komme auch zum Schluss.

Es ist wichtig, Lösungen zu finden. Wir sollten uns
bemühen, die Probleme vor Ort jeweils differenziert zu
betrachten, statt einfach alles über einen Kamm zu sche-
ren und überall die gleichen Lösungen anzustreben.

Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren, für die
Aufmerksamkeit und Ihnen, Frau Präsidentin, für die
Geduld.


(Beifall bei der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617928600

Die Kollegin Anette Hübinger hören wir jetzt für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Anette Hübinger (CDU):
Rede ID: ID1617928700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte

Kolleginnen und Kollegen! Bildung ist in Deutschland
ein zentrales Thema. Unsere Bundeskanzlerin beschreibt
es sehr treffend, wenn sie sagt: Unser Land muss zur Bil-
dungsrepublik Deutschland werden.

Was uns in Deutschland etwas wert ist, muss uns auch
in den anderen Ländern dieser Welt recht sein. Daher ge-
hört für die Unionsfraktion auch in unseren Partnerlän-
dern die Bildung der Menschen – neben Armutsbekämp-
fung und Bewahrung der Schöpfung – zu den Schlüsseln
unseres entwicklungspolitischen Handelns.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Walter Riester [SPD])


Erst wenn Menschen ihre Talente entfalten können und
befähigt werden, selbstbestimmt ihr Leben in die Hand
zu nehmen, werden wir einen nachhaltigen Erfolg unse-
rer Entwicklungszusammenarbeit verzeichnen.

Dazu brauchen Menschen Bildung, die Wissen, Werte
und Fähigkeiten vermittelt. Sie brauchen darüber hinaus
eine Bildungsstruktur, die ihre Bedürfnisse und Le-
bensumstände berücksichtigt, Herr Kollege Königshaus.

Bildung muss für alle zugänglich sein.


(Beifall des Abg. Hellmut Königshaus [FDP])


Diese Aussage darf sich nicht nur auf eine Grundbildung
beziehen, sondern muss alle Bereiche der Bildung, von
der frühkindlichen Bildung bis zur Möglichkeit des le-
benslangen Lernens, umfassen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Hellmut Königshaus [FDP])


Eine Konzentration unserer Hilfen auf die Grundbildung
allein würde bedeuten, die Tür nur einen Spaltbreit zu
öffnen und die Chancen auf eine Entwicklung durch Bil-
dung zu reduzieren. Genau das wollen wir als Koali-
tionsfraktion nicht. Deshalb haben wir in unserem heute
zu diskutierenden Antrag einen breiteren Ansatz ge-
wählt, der für die Bildungssituation in unseren Partner-
ländern zukunftsweisend sein wird.

Heute befasst sich in New York die UN-Vollver-
sammlung unter anderem mit der bisherigen Umsetzung
der acht Millenniumsentwicklungsziele. Grundbildung
für alle Mädchen und Jungen ist das zweite der acht
Ziele, die es bis 2015 weltweit umzusetzen gilt. Nach
den bisherigen Bilanzen sind wir hierbei auf einem rich-
tigen Weg. In acht der zehn dokumentierten Regionen ist
nach Auskunft der UN dieses Ziel bereits zu 90 Prozent
erfüllt. So besuchen heute 29 Millionen Kinder mehr
eine Schule als noch 1999. Allerdings liegt die Einschu-
lungsquote südlich und nördlich der Sahara noch weit
unter der 90-Prozent-Marke. Auch kann uns die Zahl der
Analphabeten auf dieser Welt nicht ruhen lassen.

Trotz guter Fortschritte bleibt noch viel zu tun. Die
internationale Gebergemeinschaft steht ebenso wie
Deutschland in der Pflicht, ihre Anstrengungen fortzu-
setzen und noch zu verstärken. In der schwerpunktmäßi-
gen Zusammenarbeit mit unseren Partnern erreichte Bil-
dung im Jahr 2007 einen Anteil von 5,84 Prozent; das
waren rund 116 Millionen Euro. Das war mehr als ge-
plant, aber der Betrag muss unseres Erachtens noch ge-
steigert werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Walter Riester [SPD])


Für den Bereich der Grundbildung verwendeten wir
etwa ein Drittel des Geldes. Auch dieser Anteil müsste,
Herr Kollege Königshaus, vergrößert werden.

Meine Damen und Herren, frühkindliche Bildung und
Grundbildung sind der Schlüssel für jedes weitere Ler-
nen. Dabei stellen wir fest, dass es immer noch eine un-
gleiche Verteilung des Angebots zwischen Stadt und
ländlichem Raum gibt. Um hier stärker voranzukom-
men, brauchen wir mehr regionale und praxisorientierte
Ansätze. Wir müssen uns stärker mit den Gegebenheiten
vor Ort auseinandersetzen und im Dialog mit den Part-
nern neue Ansätze entwickeln, um Schulbesuche zu
erleichtern. Ich denke da an die Abschaffung des Schul-
geldes, das Bereitstellen von Lernmaterial und Anreiz-
modelle für Lehrer, eine Lehrtätigkeit im ländlichen
Raum aufzunehmen, aber auch an so einfache Dinge wie
die Anpassung der Ferien an den landwirtschaftlichen
Kalender – oft werden die Kinder zur Hilfe bei der Ernte
benötigt – oder die Einführung von Schulspeisung.

So hat beispielsweise in Kolumbien, im Süden von
Bogota, das Kolpingwerk Kolumbiens gemeinsam mit
dem kolumbianischen Institut für Familie und Wohlfahrt
15 Schulkantinen eingerichtet. Die Betreuung und das
Essen in den Kantinen haben dazu beigetragen, dass die






(A) (C)



(B) (D)


Anette Hübinger
Kinder heute viel regelmäßiger zur Schule gehen und
sich auch Kinder aus schwierigen familiären Verhältnis-
sen zum Schulbesuch angemeldet haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/CSU])


Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie pragmatische An-
sätze die allgemeine Lebenssituation von Kindern erheb-
lich verbessern können und darüber hinaus ihre Bil-
dungschancen erhöhen.

Um das Bildungsdefizit in unseren Partnerländern zu
beseitigen, reicht die Steigerung der Schulbesuchsrate
allein nicht aus. Die Qualität des Schulabschlusses muss
auch zu einer Weiterbildung befähigen. Eltern müssen
erkennen, dass Kinder einen nachhaltigen Nutzen aus ih-
rem Schulbesuch haben, dass Kinder nach der Grundbil-
dung lesen, schreiben und rechnen können. Dies ist oft
nicht der Fall. Hierzu ist neben stimmigen Lehrplänen
gut ausgebildetes Lehrerpersonal in genügendem Aus-
maß eine entscheidende Komponente, damit Quantität
und Qualität ineinander greifen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Neben den Einschulungsraten sollten wir verstärkt
auf die Abschlussraten achten. In den ärmsten Ländern
bricht jedes vierte Kind die Grundschule vorzeitig und
ohne Abschluss ab, und für Millionen von Grundschul-
absolventen steht kein weiterführendes System zur Ver-
fügung. Deshalb ist es genauso wichtig, angepasste und
leistungsfähige Sekundarschulbereiche insbesondere im
ländlichen Raum zu installieren. Hilfreich kann hier si-
cherlich auch die Möglichkeit des E-Learning sein.

Mit dem erfolgreichen Abschluss ihrer Ausbildung
sollen die jungen Menschen für ein eigenverantwortli-
ches Leben befähigt sein und die Qualifikation für eine
weiterführende technische oder akademische Ausbil-
dung erhalten haben; denn wie bei uns in Deutschland ist
der Mangel an ausgebildeten Fachkräften im Produk-
tions- und Dienstleistungsbereich auch in Entwicklungs-
ländern ein immer größer werdendes Problem.

Wir verfügen über ein hervorragendes Know-how im
Bereich der Berufs-, Weiter- und Hochschulbildung. Ge-
nau hier lag in der Vergangenheit auch der Fokus unserer
entwicklungspolitischen Zusammenarbeit im Bildungs-
bereich. Unsere Partner sprechen uns immer wieder da-
rauf an, unser Engagement in der Berufsausbildung zu
verstärken, da sie erkannt haben, dass dies der beste Weg
ist, bei der eigenen Industrialisierung voranzukommen
und eine Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen, die nötig
ist, um in der globalisierten Welt bestehen zu können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Hellmut Königshaus [FDP])


Daher sollte dieser Schwerpunkt wie auch die Grund-
bildung weiter ausgebaut und verbessert werden. Eine
Kooperation mit ansässigen Wirtschaftsunternehmen im
Rahmen von Private-Public-Partnership-Projekten muss
unseres Erachtens gefördert werden, wie zum Beispiel die
Gründung einer Berufsakademie, die von in Südafrika
ansässigen deutschen Unternehmen geplant ist. Die Be-
deutung von Berufsausbildungsprogrammen spielt be-
sonders im nonformalen Sektor eine große Rolle. Für
junge Menschen, denen es nicht möglich war, am forma-
len Bildungssystem teilzunehmen, ist solch eine Ausbil-
dung oft die einzige Möglichkeit, eine Qualifikation zu
erhalten.

Meine Damen und Herren, als letzten Punkt möchte
ich noch auf die Zusammenarbeit im Hochschul- und
Wissenschaftsbereich, der auch in den Entwicklungslän-
dern aufgrund der Globalisierung einen immer höheren
Stellenwert erhält, eingehen.

Im Rahmen der Internationalisierungsstrategie wer-
den wir unter der Federführung von Bundesforschungs-
ministerin Annette Schavan Ansätze entwickeln, um in
unseren Partnerländern moderne Hochschulbildungs-,
Forschungs- und Innovationssysteme zu stärken bzw. zu
entwickeln. Dabei werden wir entwicklungspolitische
Instrumente mit wissenschaftlich-technischen abstim-
men. Durch eine Stärkung der Hochschul- und For-
schungsstrukturen wollen wir auch einer Abwanderung
von Eliten aus Entwicklungsländern vorbeugen. Gut
ausgebildete Fachkräfte sind für die Entwicklung in die-
sen Ländern unverzichtbar.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


In diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich
auf das Engagement unserer Bundesregierung hinwei-
sen, einen internationalen Verhaltenskodex herbeizufüh-
ren, der das Abwerben von Lehrern verhindern soll.

Bei der Entwicklungszusammenarbeit im Bereich der
Bildung sollten wir aber auch verstärkt die Potenziale
der deutschen Auslandsschulen, der Goethe-Institute
oder auch der Auslandsvertretungen unserer Stiftungen
nutzen und sie zur Stärkung der Bildungssysteme unse-
rer Partner einsetzen.

Bildung ist die Chance auf Entwicklung. Diese
Chance wollen wir unseren Partnerländern nicht vorent-
halten. Der Antrag der Koalitionsfraktionen unterstreicht
diesen Ansatz. Ich bitte daher um Ihre Zustimmung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617928800

Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt Hüseyin-

Kenan Aydin.


(Beifall bei der LINKEN)



Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617928900

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Bildung ist ein Grundrecht. Art. 26 der
UN-Menschenrechtscharta schreibt dieses Grundrecht
auch fest. Hier wird klargestellt, dass jeder das Recht auf
unentgeltliche Grundbildung hat.

Auch das zweite der Millenniumsentwicklungsziele
fordert: Primarausbildung für alle. Die Regierungen ha-
ben sich in Dakar im Jahr 2000 darüber verständigt, eine
obligatorische, gebührenfreie und vor allem qualitativ
gute Grundbildung für alle Kinder bis zum Jahr 2015 si-
cherzustellen. Daher ist auch Frau Merkel darauf ver-
pflichtet. Damit haben alle Regierungen erkannt, dass






(A) (C)



(B) (D)


Hüseyin-Kenan Aydin
der beste Beitrag zur Entwicklung armer Länder eine
breit angelegte Initiative zur Verbesserung der Grundbil-
dung ist. So weit scheinen sich alle auf dieser Welt einig
zu sein, auch hier in diesem Hause.

Die Globale Bildungskampagne stellte fest: Wenn
Mädchen in den armen Ländern nur ein Jahr länger zur
Schule gingen, würde ihr zukünftiges Einkommen um
bis zu 20 Prozent höher liegen. Das käme auch der Ent-
wicklung regionaler, wie aber auch nationaler Märkte
zugute, da die Kaufkraft damit höher liegen würde.
Wenn alle Kinder eine Grundschule besuchen könnten,
hätten wir 700 000 HIV-Infektionen pro Jahr weniger, da
Bildung auch zur Aufklärung beiträgt.

Dennoch gehört der Sektor Grundbildung im Rahmen
der Entwicklungszusammenarbeit zu einem der am
stärksten vernachlässigten Sektoren in den letzten Jah-
ren. Da hat Herr Königshaus vollkommen recht. Deshalb
muss mehr in Grundbildung investiert anstatt gestrichen
werden, auch wenn die Geberländer ihre Zusammenar-
beit harmonisieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Denn weltweit sieht die Bildungssituation immer
noch alles andere als befriedigend aus. 780 Millionen
Erwachsene können weder lesen noch schreiben. Min-
destens 72 Millionen Kinder haben keine Möglichkeit,
zur Schule zu gehen. Die Mehrheit von ihnen sind Mäd-
chen. Allein in Afrika haben 34 Prozent der Kinder
keine Möglichkeit, die Grundschule zu besuchen. Die
Schulabschlussraten liegen in vielen Ländern bei unter
30 Prozent, weil man leider nur auf Quantität anstatt auf
Qualität setzt. Qualität hat mit finanziellen Mitteln, mit
personellen Ressourcen und mit der Ausstattung von
Schulen zu tun.

Diesen Zahlen zum Trotz: Für das Jahr 2009 ist wei-
terhin ein Anteil von nur 120 Millionen Euro für Grund-
bildung vorgesehen. Berechtigterweise hat der interna-
tionale Bildungsbericht 2008 der Kanzlerin das Zeugnis
„ausreichend“ ausgestellt.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Was?)


Durchgefallen ist die Bundesrepublik Deutschland ver-
mutlich nur deswegen nicht, um ein Sitzenbleiben zu
vermeiden.


(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Absoluter Quatsch!)


Unter den Geberländern belegt Deutschland nur den
14. Platz. Dieses Versprechen haben Sie gebrochen, vor
allem Frau Merkel als Kanzlerin, die sich diesen Millen-
niumszielen ebenfalls verpflichtet hat.

Daher liegt Ihnen heute ein Antrag von uns vor, der
Sie noch einmal an dieses Versprechen erinnert und die
Einhaltung endlich einfordert. Auch die Regierungsfrak-
tionen haben einen Antrag vorgelegt, in dem richtige
Feststellungen getroffen werden


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Na also! Geht doch!)

aber sonst nichts. Denn am Ende haben Sie Angst vor
der eigenen Courage bekommen. Sie beenden Ihren An-
trag mit Floskeln. Sie möchten weiter reden; wir wollen
allerdings handeln.


(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der CDU/CSU und der SPD)


Mit Schönreden ist keinem Kind in Afrika geholfen.

Um den entsprechenden Anteil an den von der EU
angesetzten 4,3 Milliarden Euro beizutragen, müsste
Deutschland seinen für Bildung vorgesehenen Betrag
auf 913 Millionen Euro erhöhen. Davon sind Sie noch
meilenweit entfernt.

Wie sieht die Wirklichkeit aus? Afghanistan hat mit
72 Prozent die höchste Analphabetenrate weltweit – und
das nach fast sieben Jahren des sogenannten Wiederauf-
baus.

Dennoch ist der Schwerpunkt in Afghanistan auch
2009 beileibe nicht Grundbildung. Der Großteil des Gel-
des für den zivilen Aufbau geht an den Sektor Gestal-
tungsspielraum. Hierunter soll auch die Demokratisie-
rung fallen. Doch wie wollen Sie ein Land, das von
Hungerkrisen bedroht ist, das sich im Krieg befindet und
in dem 70 Prozent Analphabeten leben, demokratisie-
ren? Können Sie mir das verraten?

Stimmen Sie nicht auch mit mir darin überein, dass
dazu vor allem Bildung notwendig ist? Stattdessen wer-
den weiter über 500 Millionen Euro für Kriegseinsätze
in Afghanistan eingesetzt.

Ich fordere Sie auf: Beenden Sie diese Einsätze! Mit
diesen eingesparten 500 bis 600 Millionen Euro könnte
man in Afghanistan einen besseren Aufbau durch Bil-
dung und damit auch Demokratisierung vorantreiben.
Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617929000

Mir liegen noch zwei Anmeldungen für Zwischenfra-

gen vor. Sollen dies nun Kurzinterventionen werden? –
Dann machen Sie eine Kurzintervention, Herr Raabe.


Dr. Sascha Raabe (SPD):
Rede ID: ID1617929100

Herr Aydin, wir hatten gerade diese Woche auf Einla-

dung von Frau Staatssekretärin Kortmann einen afghani-
schen Abgeordneten als Gast. Er hat uns berichtet, dass
im Süden des Landes, wo Schulen aufgebaut werden,
diese Schulen von den Taliban sofort niedergebrannt und
zerstört werden. Er hat uns eindringlich gebeten, militä-
rischen Schutz zu geben. Er hat nämlich gesagt, dass es
gar keinen Sinn macht, Schulen zu bauen, wenn wir
nicht gleichzeitig durch Militär dafür sorgen, dass diese
Schulen stehen bleiben. Ich finde, das sollten Sie beden-
ken.

Man leistet in Afghanistan viel für die Bildung, wenn
man nicht nur Schulen baut, sondern auch dafür sorgt,
dass diese Schulen stehen bleiben. Sie unterstützen aller-
dings indirekt diejenigen, die diese Schulen zerstören,


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Richtig!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Sascha Raabe
und insofern setzen Sie sich dort weniger für Bildung ein
als wir.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617929200

Nun haben Sie, Frau Pfeiffer, das Wort.


Sibylle Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1617929300

Herr Kollege Aydin, ich kann mich eigentlich dem

anschließen, was der Kollege Raabe gesagt hat. Ich rate
Ihnen dringendst, sich einmal nach Afghanistan zu bege-
ben. Schauen Sie sich dort eine Schuleröffnung an; das
habe ich gemacht. Wir haben zusammen mit dem Staats-
sekretär Kossendey eine Schule für 1 500 Kinder eröff-
net. Davon waren mehr als die Hälfte Mädchen. Das ist
also an sich schon eine tolle Schule.

Das, lieber Kollege Aydin, konnten wir nur machen,
weil sowohl die afghanischen als auch die deutschen Si-
cherheitskräfte nicht uns bewachten, sondern die Schul-
eröffnung an sich. Dies bestätigt genau das, was wir sa-
gen, dass nämlich dieses Land nur dann eine Zukunft
hat, wenn wir dem Umstand Rechnung tragen, dass Ent-
wicklung nur möglich ist, wenn die Sicherheit gewähr-
leistet ist. Wenn wir nicht sichern, können wir nicht auf-
bauen. Die Reihenfolge, die Sie vorschlagen, lieber
Kollege, ist meines Erachtens also völlig falsch.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617929400

Herr Aydin, zur Antwort, bitte.


Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617929500

Lieber Kollege Raabe, liebe Kollegin Pfeiffer, ich

habe bereits in meiner Rede darauf hingewiesen, dass
der sogenannte Aufbau mit militärischen Hilfen seit sie-
ben Jahren andauert, und seit sieben Jahren ist kein Fort-
schritt zu erkennen.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Völlig falsch!)


Sieben Jahre lang ist es nicht gelungen, die Taliban mit
den Mitteln des Krieges zu bekämpfen.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Sie sollten mal hinfahren, Herr Kollege! Machen Sie das doch mal!)


Die Taliban werden auch in weiteren sieben Jahren mit
Kriegsmitteln nicht bekämpft werden können.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Also, die Menschen krepieren lassen, das ist eure Alternative!)


Das sollten Sie endlich begreifen. Deshalb fordere ich
Sie noch einmal auf: Beenden Sie den Kriegseinsatz in
Afghanistan!


(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Zynisch!)


Bereiten Sie das mit einer vernünftigen Exit-Strategie
vor. Lassen Sie Afghanen Afghanistan in die Hand neh-
men, und lassen Sie sie uns mit unseren Mitteln dabei
unterstützen, dass das Land vernünftig aufgebaut wird;
das geht nicht mit einem Kriegseinsatz.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Sascha Raabe [SPD]: Sie opfern die Schüler und die Frauen! Das ist zynisch – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Dann gibt es Schlachtfest! – Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Hinfahren und anschauen, Kollege! – Christel RiemannHanewinckel [SPD]: Er lässt den Krieg gegen Kinder und Frauen zu!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617929600

Die Kollegin Ute Koczy hat jetzt das Wort für Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617929700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! So wichtig das Thema Afghanistan auch ist:
Ich möchte mich zum Thema Bildung äußern; denn das
steht heute Abend im Mittelpunkt. Ich möchte zunächst
– wie alle anderen auch; da sind wir uns zum Glück ei-
nig – darauf hinweisen, dass Bildung ein Schlüsselele-
ment für die Weiterentwicklung und die Beseitigung von
Armut ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)


Wer über eine gute Bildung verfügt, hat einfach mehr
Chancen, am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Le-
ben teilzunehmen. Dass das inzwischen Konsens ist und
auch wieder stärker in den Mittelpunkt gerückt wird, ist,
denke ich, ein gutes Zeichen. Wir wissen auch – das zei-
gen die Studien –, dass dadurch die Wahrscheinlichkeit
geringer wird, dass sich Menschen mit HIV infizieren;
denn wenn eine Person entsprechend gebildet ist, dann
weiß sie damit umzugehen. Bildung führt also in der Ge-
sundheit und auch in anderen Bereichen zu Fortschritten.
Das gilt ebenfalls für die Mütter- und Kindersterblich-
keitsrate. Bildung bewirkt, dass die hohe Rate sinkt. An
dieser Stelle wird der klassische Zusammenhang deut-
lich: In dem Augenblick, in dem man bei Bildung an-
setzt, werden auch in anderen Schlüsselbereichen der
Entwicklungspolitik Erfolge erreicht.

Angesichts dessen ist es gut, dass die Weltgemein-
schaft inzwischen darauf hingewiesen hat, dass die
Grundschulbildung für alle Kinder bis 2015 ein zentrales
Millenniumsentwicklungsziel ist. Es gibt gemeinsame
Anstrengungen, und es gibt auch Erfolge. Es gibt vor al-
lem in der Subsahara hohe Steigerungsraten bei der Ein-
schulungsquote. Sie stieg dort im Zeitraum von 1999 bis
2005 von 57 Prozent auf 70 Prozent. Dies zeigt, dass mit
den Millennium Development Goals eine positive Ent-
wicklung erreicht worden ist. Das ist Ansporn genug,
sich noch stärker dafür einzusetzen, dass die 70 Millio-
nen Kinder, die noch keine Schulbildung haben, diese
auch noch erhalten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Deutschland sollte sich überlegen, wie es sich in die-
sem Bereich stärker engagieren kann. Wir haben mit






(A) (C)



(B) (D)


Ute Koczy
Aufmerksamkeit gelesen, was die Koalition, aber auch
die Linke geschrieben hat: Im Jahr 2005 landete Deutsch-
land mit seinen Beiträgen zur Grundbildung in der
Entwicklungszusammenarbeit auf Platz 16 der 22 Haupt-
geberländer der OECD. Das ist natürlich keine Erfolgs-
geschichte. Es zeigt vielmehr, wie stark man dies ver-
nachlässigt hat. Deswegen ist es sehr wichtig und zu
begrüßen, dass die Ausgaben im Rahmen der bilateralen
Zusammenarbeit für das Haushaltsjahr 2009 verdoppelt
werden sollen. Aber ich füge hinzu: Das ist nicht ausrei-
chend, um das Ziel tatsächlich zu erreichen. Ich hätte mir
auch gewünscht, dass die Beiträge für die Fast-Track-In-
itiative der Weltbank höher ausgefallen wären; denn
diese Initiative scheint ein ganz guter Ansatz zu sein, um
die Eigenverantwortung in den Partnerländern beim
Thema Bildung zu stärken. Frau Kollegin Kofler hat da-
rauf schon hingewiesen.

Zu den Anträgen folgende Bemerkungen: Der Antrag
der Koalitionsfraktionen beschreibt den gesamten Be-
reich „Bildung in der Entwicklungspolitik“. Neben der
Grundbildung nennen Sie einige weitere wichtige Hand-
lungsfelder wie zum Beispiel weiterführende Bildung,
Berufsschulbildung und Ausbildung in fragilen Staaten.
Es lässt sich allerdings im Forderungsteil nicht immer
nachvollziehen, worin denn der optimale deutsche Bei-
trag liegen soll. Das heißt, viele der Forderungen sind
richtig, aber sie sind zu unkonkret. Beispiel: Eine Ihrer
Forderungen ist, sich dafür einzusetzen, die Fast-Track-
Initiative der Weltbank ihrer Bedeutung nach angemes-
sen finanziell auszustatten. Die Frage ist aber: Was ist
„angemessen“? Da hätten wir uns natürlich gewünscht,
dass man hier klare Zahlen auf den Tisch legt. Wir von
der Opposition weisen Sie gerne darauf hin, dass Sie an
dieser Stelle ein bisschen unkonkret geblieben sind.

Wer mehr Priorität für die Grundschulbildung einfor-
dert, muss aber auch die starke Diskrepanz bei den Aus-
gaben für den Schwerpunkt Bildung und den Ausgaben
für die Hochschulkooperation mit den Entwicklungslän-
dern ansprechen. Da stellen sich schon die Fragen: Wie
viele Universitäten gibt es denn in Afrika? Wie werden
diese unterstützt? Besteht da nicht ein schwarzes Loch,
weil wir viel zu wenig Aufmerksamkeit darauf gerichtet
haben, sodass wir an einer Veränderung arbeiten müs-
sen?

Spannend wird es auch, wenn Sie von den kompara-
tiven Vorteilen Deutschlands bei der Konzeption von
Bildungssystemen sprechen. Da hätte mich schon inte-
ressiert, wo Sie diese sehen, und vor allen Dingen, wie
diese in Entwicklungsländer eingebracht werden kön-
nen.

Grundsätzlich frage ich mich, wie die Bundesregie-
rung all die verschiedenen Bildungsbereiche, die Sie an-
sprechen und die ich auch für wichtig halte, mit einem
Budget von knapp 150 Millionen Euro für 2009 tatsäch-
lich bewältigen will. Es reicht eben nicht aus, nur den
Bogen zu spannen und ein Kessel Buntes zusammenzu-
fügen, ohne zu präzisieren, wohin man will. Deswegen
werden wir uns bei diesem Antrag enthalten.

Das gleiche Votum gilt auch für den Antrag der Kol-
leginnen und Kollegen der Linksfraktion. Dieser Antrag
ist aufgrund der knapp gehaltenen und guten Analyse der
aktuellen Situation lesenswert. Aber wir sind nicht Ihrer
Auffassung, dass die Studienplatzkosten ausländischer
Studierender in Deutschland nicht auf die ODA-Quote
angerechnet werden sollen. Das hätte andere Förde-
rungsinstrumente zur Folge. Wir sind daher der Auffas-
sung, dass Sie da und in weiteren Punkten nicht die rich-
tigen Schlussfolgerungen gezogen haben. Deswegen
enthalten wir uns bei Ihrem Antrag.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: In Teilbereichen kann man ihr wirklich zustimmen!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617929800

Die Kollegin Christel Riemann-Hanewinckel spricht

jetzt für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Christel Hanewinckel (SPD):
Rede ID: ID1617929900

Meine Damen und Herren auf den Rängen im Parla-

ment zu dieser etwas vorgerückten Stunde! Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Weltweit verbringen Frauen we-
sentlich mehr Zeit als Männer mit Erwerbs- und
Hausarbeit. Frauen erhalten für diese Arbeiten weniger,
geben aber mehr Geld für die Ernährung und die Gesund-
erhaltung ihrer Familien aus. Frauen investieren ihr Geld
eher in die Bildung ihrer Kinder, als Männer dies tun.
Frauen könnten, wenn wir ihnen die Möglichkeit geben,
wesentlich mehr zum wirtschaftlichen Wachstum ihrer
Länder beitragen. Aber 60 Prozent der Frauen weltweit
sind Analphabetinnen. Es sind zuerst die Mädchen, die
aus der Schule genommen werden, wenn Eltern das Geld
für Schuluniform, Schulgeld oder Lehrmittel fehlt. Mäd-
chen müssen die Schule verlassen, weil ihre Arbeitskraft
gebraucht wird, und Mädchen werden viel zu jung ver-
heiratet, statt sie lernen zu lassen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Mädchen, die die Schule besuchten, werden zu
Frauen und Müttern, die für sich und ihre Kinder besser
sorgen, weil sie nämlich durch das Lernen etwas über ih-
ren Körper erfahren haben. Dadurch verringert sich ihr
Risiko, bei der Geburt ihrer Kinder zu sterben. Durch die
Bildung ernähren sie sich gesünder und achten auf medi-
zinische Versorgung für ihre Kinder. Die Sterblichkeits-
rate ihrer Kinder ist nur halb so hoch wie bei Müttern
ohne Schulbildung.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Genau so ist es!)


73 Prozent der Kinder, deren Mütter die Schule besucht
haben, werden in die Schule geschickt. Bei Müttern ohne
Schulbildung dürfen dagegen nur 51 Prozent der Kinder
in die Schule gehen, und das sind dann meistens die Jun-
gen.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Dramatisch genug!)







(A) (C)



(B) (D)


Christel Riemann-Hanewinckel
Frauen mit Schulbildung sind in der Lage, sich sowohl
um ihre eigenen Rechte als auch um die Rechte ihrer
Kinder besser zu kümmern.

Meine Damen und Herren, diese wenigen Beispiele
machen deutlich, dass Bildung weit mehr ist als bloße
Wissensanhäufung. Bildung hat insofern eine hohe Ren-
dite: Jeder Euro, der investiert wird, hat eine Rendite von
mindestens 50 Euro. Bildung ist emotionale, kognitive
und gesundheitliche Bildung. Fehlende Bildung von
Mädchen und Frauen hat auch Auswirkungen auf die
Jungen und auf die Männer und damit auf die Entwick-
lungschancen einer ganzen Gesellschaft.

Ich möchte Ihnen an dieser Stelle von einem Projekt
berichten, das ich in Äthiopien kennengelernt habe. Die
Kindernothilfe, ein evangelischer Verein aus Duisburg,
initiiert dort Selbsthilfegruppen. Angesprochen werden
die ärmsten unter den armen Frauen. Allein schon, dass
andere Menschen sie als so wertvoll erachten, dass sie
angesprochen werden, dass ihre Bedürfnisse und Nöte in
den Mittelpunkt rücken, stärkt und bildet ihre Persön-
lichkeit. Sie erleben sich erstmalig als Menschen, die
Rechte haben. Sie machen die Erfahrung, dass Men-
schenrechte unabhängig von Armut oder Reichtum, un-
abhängig von Bildung, unabhängig vom Geschlecht,
also auch für die Frauen, gelten. Ein Satz, den wir immer
wieder gern wiederholen, ist, dass Menschenrechte un-
teilbar sind. Diese Frauen erleben es ganz praktisch.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Frauenrechte sind Menschenrechte!)


Diese Frauen erhalten Beratung und Unterstützung
dabei, gemeinsam von ihrem wirklich minimalen Besitz
einen winzigen Bruchteil zu sparen. Gemeinsam ent-
scheiden sie auch, was mit dem Geld geschehen soll,
was für sie wichtig ist, nicht, was für die wichtig ist, die
sie dazu anleiten. Jede Einzelne kann aus dem großen
Topf einen Kredit bekommen. Existenzgründungen wer-
den möglich. Sie können besser für ihre Familien sor-
gen; denn sie bestimmen über den Einsatz der Gelder.
Sie verfügen über Wissen und Mittel, und sie treffen
– oft erstmalig – eigenständige Entscheidungen.

Durch diese Erfahrungen geschieht Bewusstseinsbil-
dung. Die Frauen erkennen, dass sie ihr Leben und das
Leben ihrer Kinder selbst in die Hand nehmen können.
Sie wissen, dass sie sich gemeinsam gegen die Tradition
der Genitalverstümmelung zur Wehr setzen müssen, und
sie haben es geschafft – auch wieder gemeinsam –, ihre
Töchter, ihre Kinder vor dieser Form der Gewalt zu be-
wahren. Sie erfahren auch, dass Schulausbildung dabei
hilft, eine Lebensperspektive zu entwickeln und den
Weg aus der Armut zu finden.

Diese Erfahrung, für sich selbst etwas bewirken zu
können, für eigene Belange und Rechte gemeinsam ein-
zutreten, geben die Frauen an ihre Kinder weiter. Das ist
eine ganz andere Art von Bildung. Hier kann Demokra-
tiebildung entstehen und wachsen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617930000

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kom-

men.


Christel Hanewinckel (SPD):
Rede ID: ID1617930100

Ja. – Wenn wir Mädchen und Frauen Bildung ermög-

lichen, wenn die Frauen die gleichen Chancen erhalten
wie die Männer, dann kann Zukunftsbildung stattfinden.
Wir haben das in unserem Antrag in mehreren Punkten
deutlich beschrieben. Wenn wir die Frauen in ihrem En-
gagement unterstützen, werden wir auch den Millen-
niumszielen näherkommen. Deshalb bitte ich Sie, unse-
rem Antrag unbedingt zuzustimmen, den Frauen zuliebe.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617930200

Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-

empfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung auf Drucksache 16/10360.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss-
empfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/9424 mit
dem Titel „Förderung von Bildung und Ausbildung –
Entwicklungspolitischen Schlüsselsektor konsequent
ausbauen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist die Be-
schlussempfehlung bei Zustimmung durch die Koalition,
Gegenstimmen von FDP und Linke sowie Enthaltung
von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/8812
mit dem Titel „Entwicklung braucht Bildung – Den
deutschen Beitrag erhöhen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Diese Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von
Koalition und FDP gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen.

Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, Karin
Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Keine Lobbyisten in den Ministerien
– Drucksache 16/9484 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Haushaltsausschuss

Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat-
tieren, wobei Die Linke fünf Minuten erhalten soll. –
Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Zu Beginn der Debatte
gebe ich das Wort dem Kollegen Roland Claus für Die
Linke.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617930300

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Allein der Titel unseres Antrages erklärt unser
Anliegen: „Keine Lobbyisten in den Ministerien“. Ge-
meint sind etwa 100 Vertreter der privaten Wirtschaft,
der Banken und von Wirtschaftsverbänden, die zeitwei-
lig in den Bundesministerien arbeiten, aber auf den Ge-
haltslisten von Unternehmen stehen.

Wir führen darüber seit etwa zwei Jahren im Bundes-
tag eine Debatte. Es gab Anfragen aller drei Opposi-
tionsfraktionen und Medienrecherchen. Eine fraktions-
lose Abgeordnete hat diese Frage schon 2003 gestellt.
Deshalb hat sich der Haushaltsausschuss des Bundesta-
ges mit dem Sachverhalt beschäftigt. Der Bundesrech-
nungshof hat einen sehr eindringlichen Bericht verfasst,
aus dem ich einen Satz zitieren möchte:

Das Risiko von Interessenkonflikten besteht aller-
dings in erster Linie bei Beschäftigten von Einzel-
unternehmen und Verbänden, die naturgemäß
eigene, häufig gewinnorientierte Interessen verfol-
gen.

Genau dort liegt der Kern des Problems. Während die
Bundesregierung, nicht zuletzt per Amtseid, dem Ge-
meinwohl verpflichtet ist, sind Vertreter einer Bank
selbstverständlich in erster Linie dem Gewinninteresse
der Bank verpflichtet. Wer diesen Interessenkonflikt ge-
ring schätzt oder gar aus der Welt räumen will, der ist
schlicht und einfach naiv.


(Beifall bei der LINKEN)


Nun sind diese Verbände nicht etwa ausgewogen ver-
treten. Man könnte denken, die Bundesregierung schaut
sich die ganze Zivilgesellschaft an und bildet sie entspre-
chend ab: vom Arbeitslosenverband über Gewerkschaf-
ten bis zum Bundesverband privater Banken. Aber Fehl-
anzeige! Es ist schön einseitig. Ich will Ihnen nicht alle
hundert Namen vorlesen, aber Beispiele: Bayer AG,
BASF, Eon, PricewaterhouseCoopers, Kreditanstalt für
Wiederaufbau – an mehreren Stellen vertreten –, Daim-
ler, Dresdner Bank. Das ist schon ein relativ einseitiges
Bild.


(Michael Kauch [FDP]: Verdi wurde vergessen!)


Der Haushaltsausschuss hat deshalb im Juni einen
Beschluss gefasst, und zwar einstimmig, und gesagt: Wir
brauchen klarere Regelungen. Der Ausschuss hat zur
Kenntnis genommen, dass die Bundesregierung erklärt
hat, sie wolle dazu ebenfalls einen Beschluss fassen. Das
hat sie im Juni auch gemacht. In wesentlichen Punkten
aber ist sie nicht den Vorgaben des Haushaltsausschusses
gefolgt, was dazu führte, dass der haushaltspolitische
Sprecher der Union im Ausschuss wirklich im Quadrat
gesprungen ist, nicht etwa, weil er sich gefreut hat, son-
dern weil er sich geärgert hat. Jetzt spricht die Bundes-
regierung schlicht von einem Austauschprogramm. Was
wird denn dort ausgetauscht? Die Meinung der Bundes-
regierung gegen die Meinung der Deutschen Bank, oder
was? Oder man verharmlost das und sagt: Die tun nichts. –
Woher kenne ich den Spruch bloß? Wenn man einmal
zusammenrechnet, was diese 100 Leute im Jahr verdie-
nen, dann kommen mindestens 10 Millionen Euro dabei
heraus. Das ist ein Vielfaches dessen, was die Bundes-
tagsparteien – außer der Linken – von der Allianz an
Spenden bekommen; davon war schon die Rede. Des-
halb haben wir unseren Antrag gestellt.

Ich sage Ihnen noch etwas: Sie können nicht den gan-
zen Morgen in einer Debatte zubringen, in der Sie mehr
Regulierung der internationalen Finanzmärkte fordern
und verlangen, dass endlich Ordnung geschaffen wird
– es sind viele harsche Worte gefallen –, und eine fortge-
setzte Lobbyarbeit für Banken in den Bundesministerien
dulden. Das passt nicht zusammen.


(Beifall bei der LINKEN)


Für uns ist eine Konsequenz, dass Lobbyisten nicht in
den Ministerien beschäftigt sein sollten.

Im Übrigen hoffe ich, dass sich das Gerücht nicht be-
stätigt, wonach die Bundesregierung beabsichtigt, die
Treuhand Liegenschaftsgesellschaft, also den ostdeut-
schen Immobilienlogistiker, an Lone Star zu verkaufen.

Ich bitte Sie um Zustimmung zu unserem Antrag
„Keine Lobbyisten in den Ministerien“.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617930400

Ralf Göbel hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.


Ralf Göbel (CDU):
Rede ID: ID1617930500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Im Frühsommer dieses Jahres haben wir schon einmal
eine Debatte über die Mitarbeit von Externen in der Bun-
desverwaltung geführt. Grundlage und Anlass für die
damalige Debatte war der Bericht des Bundesrechnungs-
hofes, der einige kritische Anmerkungen zu Art und
Umfang der Einbeziehung Externer in verschiedenen
Bereichen der Bundesverwaltung gemacht hat. Der Zeit-
raum, der vom Rechnungshof untersucht wurde, reichte
von 2004 bis 2006.

Der Rechnungshof hat damit eine wichtige Diskus-
sion angestoßen, die allerdings nicht neu ist. Es geht um
die Frage, in welchem Umfang es öffentlichen Verwal-
tungen erlaubt ist, verwaltungsexterne Personen tempo-
rär mit Aufgaben der öffentlichen Verwaltung zu
betrauen bzw. sie in Prozesse einzubinden. Das ist ein
Thema, das in der wissenschaftlichen Diskussion schon
sehr lange erörtert wird, und zwar – je nach Position des
Betroffenen – mit verschiedenen Ergebnissen. Ich plä-
diere dafür, dieses Thema sehr differenziert zu betrach-
ten. Pauschalierungen sind hier nicht geeignet, Alarmis-
mus im Übrigen auch nicht.

Ein Personaltausch zwischen Wirtschaftsverbänden
und Verwaltung ist nicht grundsätzlich verwerflich; denn
er bietet die Möglichkeit, gegenseitig in die Strukturen
und Prozesse Einblick zu nehmen und Erkenntnisse zu
gewinnen, wie die andere Seite arbeitet und wie andere
Verfahren laufen können. Es gibt sicherlich auch keine
Einwände dagegen, Sachverstand zeitlich begrenzt ein-






(A) (C)



(B) (D)


Ralf Göbel
zubringen, insbesondere bei komplexen Materien. Ich
glaube, das ist ein wesentlicher Schritt zu mehr Qualität
gesetzlicher Regelungen. Es ist wesentlich besser, wenn
Experten, die sich in diesen komplexen Materien aus-
kennen, an diesen Vorhaben mitwirken,


(Roland Claus [DIE LINKE]: Das haben wir bei den Hedgefonds gesehen!)


als wenn sich die öffentliche Verwaltung alleine damit
beschäftigt.

Es ist aber klar – das ist im Sommer dieses Jahres
schon betont worden –, dass es keinen Einsatz von Ex-
ternen geben darf, wenn es zu Interessenkollisionen
kommt. Es ist klar, dass kein Einsatz stattfinden darf,
wenn dadurch Wettbewerbsvorteile erzielt werden kön-
nen. Auch ist klar, dass ein Einsatz nicht möglich ist,
wenn dadurch das Vertrauen in die Gesetzmäßigkeit und
die Gemeinwohlverpflichtung der öffentlichen Verwal-
tung infrage gestellt wird. Ebenfalls ist klargestellt wor-
den, dass Transparenz gegeben sein muss.

Die Bundesregierung hat die Grundsätze, die nicht
nur vom Haushaltsausschuss, sondern auch vom Innen-
ausschuss aufgestellt worden sind, in eine Verwaltungs-
vorschrift umgesetzt, die Verbindlichkeit für alle Bun-
desministerien besitzt. Sie wurde am 18. Juni dieses
Jahres im Kabinett beschlossen und am 25. Juli im Bun-
desanzeiger veröffentlicht. Meines Erachtens hat die
Bundesregierung alles aufgegriffen, über das im Deut-
schen Bundestag zu diesem Thema diskutiert worden ist:
Die Zulässigkeit und die Steuerung eines Einsatzes sind
geregelt. Eine Risikoabschätzung ist vorzunehmen, und
es ist eine Kontrolle durchzuführen. Entlohnung und
Transparenz sind geregelt. Wir werden demnächst im In-
nenausschuss und im Haushaltsausschuss einen Bericht
über den Einsatz Externer in der Bundesverwaltung be-
kommen, so wie es in der Verwaltungsvorschrift geregelt
ist. Darüber hinaus ist ein Verhaltenskodex für diejeni-
gen erstellt worden, die als Externe in der Bundesver-
waltung arbeiten.

Insoweit halte ich den Antrag, über den wir heute dis-
kutieren, für völlig überholt. Ich glaube auch, dass einige
Formulierungen im Antrag etwas weit von der Wirklich-
keit entfernt sind. In der Begründung lese ich:

Die Lobbyisten dürfen erst im geordneten parla-
mentarischen Verfahren ihre Vorstellungen öffent-
lich vortragen.

Das heißt ja, dass weder Gewerkschafter noch Unterneh-
mensvertreter noch Verbände im Vorfeld eines Gesetzge-
bungsverfahrens mit den Ministeriumsvertretern reden
dürfen. Mich würde einmal interessieren, wie die Praxis
im Bundesland Berlin ist, ob sich die Senatoren der Lin-
ken auch dort ein Rede- und Kontaktverbot verordnen
lassen, bevor sie einen Gesetzentwurf in das Berliner
Abgeordnetenhaus einbringen.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Es ist doch ein Unterschied, ob sie mit ihnen reden oder die die Gesetze schreiben!)


Ich glaube, das, was hier gefordert wird, ist abenteuer-
lich.
Gewerkschaften werden im Übrigen ihre helle Freude
daran haben, zu erfahren, dass die Sozialreferenten an
den deutschen Auslandsvertretungen abgezogen werden
müssen, weil die Linke das in ihrem Antrag genauso for-
dert wie den Abzug der Wirtschaftsvertreter, die in den
Auslandsvertretungen der Bundesrepublik Deutschland
beschäftigt sind.

Zum Schluss komme ich auf die Antragsbegründung
zu sprechen. Als Beamtenrechtler freut mich sehr, dass
die Linke nun den in Art. 33 Abs. 4 des Grundgesetzes
verankerten Funktionsvorbehalt so hochhält und das Be-
amtentum preist. Ich muss allerdings sagen: Ich war
dann auf Ihrer Homepage. Unter dem Stichwort „öffent-
licher Dienst“ steht: Die Abschaffung des Berufsbeam-
tentums wird angestrebt.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Noch ist es ja da!)


Ich glaube, das zeigt, wie seriös dieser Antrag zu behan-
deln ist.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617930600

Jetzt hat Christian Ahrendt das Wort für die FDP-

Fraktion.

(Beifall bei der FDP)



Christian Ahrendt (FDP):
Rede ID: ID1617930700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Herr Claus, Sie haben bei Ihrer Aufzäh-
lung beispielsweise darauf verzichtet, zu erwähnen – es
war in der Anfrage der FDP-Fraktion nachzulesen –,
dass die IG Metall im Arbeitsministerium vertreten ist.
Insofern sind die Lobbyinteressen gleichermaßen an vie-
len Stellen vertreten.

Was wichtig ist – das sprachen Sie zu Recht an –: Es
kann nicht sein, dass rund 108 Mitarbeiter im Zeitraum
2004 bis 2006 an Gesetzgebungsvorhaben mitgewirkt ha-
ben, ohne dass man es weiß. Es kann auch nicht richtig
sein – diese Fälle hat der Rechnungshof dokumentiert –,
dass Mitarbeiter, die von Unternehmen oder Verbänden
bezahlt werden, an Gesetzesvorhaben mitgewirkt haben,
die ihre Unternehmen oder Verbände betrafen. Das ist
inakzeptabel – das steht außer Frage –, und zwar aus
dem einfachen Grund: Ein Gesetzgebungsverfahren ist
mit dem Anspruch verbunden, dass die Interessen ge-
geneinander abgewogen und dann im Sinne des Gemein-
wohls gewichtet werden.

Allerdings findet Gesetzgebung nicht im Elfenbein-
turm statt; sie muss sich letztendlich an der Lebenswirk-
lichkeit orientieren. Sie haben die Finanzmarktkrise an-
gesprochen. Ohne dass ich den Herrschaften im
Finanzministerium zu nahe treten möchte: Ich glaube
nicht, dass Sie ohne Spezialisten, die sich auf den inter-
nationalen Finanzmärkten auskennen, vernünftige Regu-
larien entwickeln können,


(Roland Claus [DIE LINKE]: Die haben uns das doch eingebrockt, die Spezialisten!)







(A) (C)



(B) (D)


Christian Ahrendt
durch die man in der Lage ist, Krisen zukünftig zu ver-
meiden. Es ist sehr wohl wichtig, dass Spezialisten
schon frühzeitig in Gesetzesinitiativen eingebunden wer-
den, damit keine Gesetze entworfen werden, die an der
Lebenswirklichkeit vorbeigehen.

Das Problem bekommt man dadurch in den Griff
– teilweise ist das schon umgesetzt –, dass man die Ge-
setze mit entsprechender Transparenz versieht. Das kann
man beispielsweise dadurch erreichen, dass, wenn auf-
seiten der Ministerien Spezialisten mitgewirkt haben, in
den Gesetzesvorlagen ausdrücklich darauf hingewiesen
wird. Das hätte erstens den Vorteil, dass man im Initia-
tivverfahren gar kein Interesse daran hat, Beeinflussun-
gen vorzunehmen, weil man weiß, dass die Konkurrenz
darauf sofort anspringen würde. Der zweite Vorteil wäre,
dass man kompetentes Wissen frühzeitig einbinden
könnte, um Gesetze nicht an der Wirklichkeit vorbeige-
hen zu lassen.

Der Vorschlag, den Sie mit Ihrem Antrag machen,
nämlich hier ein Beschäftigungsverbot auszusprechen,
bedeutete schlichtweg, das Kind mit dem Bade auszu-
schütten. Er hat auch keine Grundlage im Grundgesetz.
Wenn Sie den entsprechenden Art. 33 richtig lesen, dann
werden Sie feststellen, dass der Gesetzgeber gesagt hat:
In der Regel sollen im öffentlichen Dienst Beschäftigte
an hoheitlichen Aufgaben mitwirken. Das heißt aber
nicht: ausschließlich. Insofern hat schon der Grundge-
setzgeber eine entsprechende Öffnung vorgenommen.

Es besteht kein Anlass, Ihrem Antrag zu folgen. Das
meiste ist umgesetzt. Mehr Transparenz ist wünschens-
wert.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Ralf Göbel [CDU/CSU])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617930800

Der Kollege Peter Friedrich spricht jetzt für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Peter Friedrich (SPD):
Rede ID: ID1617930900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir haben nicht nur im April, sondern auch im Juni die-
ses Jahres eine Debatte über das Verhältnis von Parla-
ment, Regierung und Interessenvertretungen geführt. Als
Ergebnis dieser Debatte möchte ich festhalten: Wir alle
waren einvernehmlich der Überzeugung, dass Interes-
senvertretungen zu einer demokratischen Verfassung ge-
hören und dass Interessenvertretung legitim ist, wenn sie
keinen unzulässigen Einfluss auf staatliche Institutionen
ausübt. Wir alle wissen: Es ist notwendig, dass in einem
Gesetzgebungsverfahren alle Betroffenen angehört und
all ihre Befürchtungen und Sorgen berücksichtigt
werden. Gleichwohl stehen wir vor der Aufgabe, die
Verhältnisse klarer zu regeln, und zwar nicht nur im kon-
kreten Fall der Mitarbeit in einem Ministerium, sondern
insgesamt.
Aufgrund der ungeregelten Verhältnisse im Zusam-
menhang mit Lobbyismus bzw. Interessenvertretung
könnte das Vertrauen in die Legitimität des Handelns
von Parlament und Regierung infrage gestellt werden.
Das gilt in besonderer Weise für die vorübergehende
Mitarbeit von Personen in Bundesbehörden. Der Bun-
desrechnungshof hat hierzu einen Bericht vorgelegt – er
wurde bereits angesprochen – und eine ganze Reihe von
Hinweisen gegeben, die das Bundesinnenministerium in
die entsprechende Dienstanweisung weitestgehend auf-
genommen hat.

Herr Claus, gestatten Sie mir, auf Folgendes hinzu-
weisen: Ich habe den Bericht des Bundesrechnungshofes
und den Bericht des Innenministeriums genau gelesen.
Ich finde, dass Sie mit Ihrer Interpretation ein bisschen
über das Ziel hinausgeschossen sind. Nicht alle 100 Lob-
byisten, von denen Sie sprachen, gehörten deutschen
Unternehmen an. Das betraf nur den kleinsten Teil von ih-
nen, genauer gesagt 16 Prozent, und auch diese 16 Pro-
zent waren nicht per se an entsprechenden Stellen. Wir
alle kennen solche Beispiele und sind darüber besorgt.
Deswegen müssen wir hier etwas tun. In manchen Un-
ternehmen – es kam der Zwischenruf „Fraport!“; ein an-
deres Beispiel ist die Telekom – kam es in der Vergan-
genheit zu Fehlentwicklungen, die wir beenden müssen.
Wenn wir den Inhalt der Vorlage der Bundesregierung
umsetzen, können sie aus unserer Sicht weitgehend be-
endet werden.

Sie dürfen nicht so tun, als handele es sich in jedem
Fall, in dem jemand die Seiten wechselt, um eine unbe-
rechtigte Einflussnahme in Bundesbehörden. Das ist
nicht so. Das Programm, durch das Mitarbeitern aus der
Privatwirtschaft zeitlich begrenzt und in Positionen mit
geringer Verantwortung die Möglichkeit gegeben wird,
einmal auf die andere Seite, nämlich in ein Ministerium,
zu blicken – das gilt auch umgekehrt –, ist sehr sinnvoll.
Dadurch können das wechselseitige Verständnis und die
Gesetzgebung verbessert werden. Außerdem kann die
Arbeit privater Unternehmen und Organisationen besser
kontrolliert werden. Durch die Beispiele, die Sie ange-
führt haben, haben Sie allerdings den Anschein erweckt,
als seien all diese Personen Entsandte der Industrie. Das
war bisher mitnichten so. Es traf lediglich auf wenige
Einzelfälle zu, die uns gleichwohl besorgt machen soll-
ten.

Des Weiteren finde ich, dass Ihr Antrag an einer
Stelle ein ganz gewaltiges Manko aufweist; deswegen ist
die SPD-Fraktion mit der Vorlage des Innenministeriums
noch nicht ganz zufrieden. Sie fordern in Ihrem Antrag,
den Bundesbehörden zu untersagen, externe Personen zu
beschäftigen, die für Verbände oder für eine Personen-
und Kapitalgesellschaft mit nichtstaatlichen Anteilseig-
nern arbeiten. Hierzu möchte ich Ihnen ein Beispiel nen-
nen: die Deutsche Bahn. Da Sie sich an den Diskussio-
nen über die Deutsche Bahn immer aktiv beteiligt haben,
wissen Sie: Die Bahn ist zu 100 Prozent ein Bundes-
unternehmen. Gleichwohl möchte natürlich auch ich
wissen: Wie ist hier der Personalaustausch geregelt? Wie
ist hier die Situation im Hinblick auf die Mitarbeit in
Ministerien? Ich halte es nach wie vor für legitim, dass
bestimmte Personen abgestellt werden, auch von nach-






(A) (C)



(B) (D)


Peter Friedrich
gelagerten Behörden und öffentlichen Unternehmen. Ich
möchte aber, dass Transparenz besteht. Der Bürger sollte
erfahren: Wer hat mitgewirkt? Wer stand dahinter?

Wenn ich mir den Bericht des Innenministeriums, der
uns jetzt vorliegt, ansehe und zur Kenntnis nehme, wie
hoch die Zahl externer Personen ist und wie das Krite-
rium „extern“ gefasst ist, muss ich sagen: Dieses Raster
halte ich, ehrlich gesagt, für etwas zu grob. Auch hier
wird der Begriff „öffentlicher Dienst“ verwendet. Dann
wird eine ganze Reihe von Personen dem öffentlichen
Dienst gleichgestellt: juristische Personen, Gesellschaf-
ten oder andere Personenvereinigungen, die sich aus-
schließlich in öffentlicher Hand befinden, zwischenstaat-
liche oder überstaatliche Einrichtungen, an denen der
Bund, ein Land oder eine andere Körperschaft, Anstalt
oder Stiftung des öffentlichen Rechts im Bundesgebiet
oder ihre Verbände durch Zahlung von Beiträgen oder
Zuschüssen oder in anderer Weise beteiligt sind. – Das
ist ein sehr weites Feld.

Ich sage Ihnen noch einmal: Es geht nicht darum, ei-
nen Austausch per se zu untersagen, sondern darum,
Transparenz zu schaffen. Alle sollten wissen, wer dort
tatsächlich arbeitet. Daher hält die SPD den Vorschlag,
im jeweiligen Gesetz zu vermerken, wer an seiner Bera-
tung und an seinem Zustandekommen beteiligt war
– dieser Vorschlag wurde eben gemacht –, für sinnvoll
und zielführend.

Des Weiteren sollten die Berichte über den Einsatz
Externer öffentlich sein, um diese Transparenz herzu-
stellen. Es reicht aus unserer Sicht nicht aus, dies allein
den Ausschüssen zur Verfügung zu stellen, sondern wir
finden, dass einer breiten Öffentlichkeit mitgeteilt wer-
den kann, wer an den Gesetzgebungsverfahren tatsäch-
lich mitwirkt. Nach allem, was wir wissen, kann man das
durchaus publizieren; denn es gibt ja nichts, was dort ge-
heim gehalten werden müsste. Dadurch würde Transpa-
renz hergestellt und Vertrauen dafür geschaffen werden,
dass es dort ordnungsgemäß zugeht. Wir haben daran
keinen Zweifel, aber eine entsprechende Transparenz ist
notwendig.

Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, um
den es in dieser Debatte immer wieder geht. Für den
Deutschen Bundestag gibt es ein Verbändeverzeichnis,
in dem aufgeführt ist, welche Verbände prinzipiell zu
Anhörungen etc. eingeladen werden können. Leider wird
dieses Verbändeverzeichnis bei Anhörungen in der Re-
gel nicht angewendet, sondern es werden weit mehr Ver-
bände eingeladen, als darin aufgeführt sind.

Häufig wissen wir eigentlich nicht, wer hinter diesen
Verbänden steht und wer die Interessen vertritt, die diese
Verbände formulieren. Deswegen ist es unser Wunsch
und unsere Hoffnung, dass wir es gemeinsam hinbekom-
men, dass dieses Verbändeverzeichnis dahin gehend er-
weitert wird, dass wir in Zukunft nicht mehr nur den Sitz
und den Namen erfahren, sondern auch, wer diesen Ver-
bänden welche Zuwendungen und Mittel für ihre Tätig-
keit als Interessenvertretung zur Verfügung stellt. Das
wäre ein weiterer Schritt. Eine Interessenvertretung soll,
muss und kann erfolgen; sie muss aber transparent sein
und sich nachvollziehen lassen.
In diesem Sinne wäre ich froh, wenn wir als Parla-
ment bei dem, was jetzt vom Innenministerium auf dem
Tisch liegt, noch ein bisschen weitergehen würden. Es ist
Aufgabe des Parlaments, darüber zu wachen, dass die
Gesetzgebung ordnungsgemäß verläuft, und es ist Auf-
gabe des Parlaments, die Exekutive zu kontrollieren.
Deswegen finden wir, dass das eine Aufgabe für das ge-
samte Parlament und nicht nur für einzelne Ausschüsse
ist.

Wir denken, dass das, was jetzt von der Bundesregie-
rung in Reaktion auf den Bericht des Bundesrechnungs-
hofs auf den Weg gebracht wurde, noch ein wenig ausge-
baut werden muss, um die notwendige Transparenz
tatsächlich zu erreichen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Ralf Göbel [CDU/CSU])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617931000

Jetzt spricht Volker Beck für Bündnis 90/Die Grünen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617931100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Trans-

parenz in der öffentlichen Verwaltung und Neutralität
des exekutiven Handelns sind natürlich wichtige The-
men für die Demokratie. Deshalb haben wir bereits im
April dieses Jahres einen Antrag eingebracht, den wir
am 25. April hier gelesen haben. Aus diesem Grunde
fragt man sich: Warum müssen wir im Nachklapp um
diese Zeit noch einmal über einen Antrag zu diesem
Thema debattieren, zumal er einfach schlecht gemacht
ist?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie sagen, dass es keine externen Mitarbeiter bei Bun-
desbehörden mehr geben solle. In Ihrer Begründung zi-
tieren Sie auch noch den Satz des Bundesrechnungshofs,
wonach ein besonderes Problem bei Personenunterneh-
men bestehe. Ausgerechnet diese lassen Sie aus Ihrem
Antrag aber heraus. Das, was Sie hier vorgelegt haben,
ist also völlig undurchdacht.

Ihr Antrag klingt populistisch.


(Ralf Göbel [CDU/CSU]: Das ist populistisch!)


Sie wollen das überhaupt nicht mehr. Damit lösen Sie
die Probleme nicht, und hinsichtlich der Abgrenzung ist
dieser Antrag auch noch dilettantisch gemacht.

Ich glaube, es ist wirklich wichtig, dass wir überle-
gen, wie wir Transparenz erreichen können. Die Richtli-
nien, die die Bundesregierung in Kraft gesetzt hat, finde
ich dafür in der Tat einfach nicht ausreichend. Wir haben
in unserem Antrag – orientiert an dem Bericht des Bun-
desrechnungshofs – wesentlich klarere Vorgaben ge-
macht.

Ich finde, wenn Sie Mitarbeiter von Externen einstel-
len – gegen eine befristete Einstellung habe ich gar
nichts –, dann soll jeder hier im Hohen Hause und in der






(A) (C)



(B) (D)


Volker Beck (Köln)

Öffentlichkeit aufgrund eines Footprints wissen, wie
diese Person an dem Gesetzentwurf, der im Hohen Haus
eingebracht wird, mitgewirkt hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das muss transparent sein, damit ich mich fragen kann,
ob Expertisen oder Interessen eingeflossen sind. Ich
muss wissen, wer daran gearbeitet hat. Wenn ich weiß,
dass das keine Bundesbeamten waren, dann habe ich
ganz andere Prüffragen hinsichtlich einer Vorlage, als
wenn ich mir dessen nicht bewusst bin.

Wenn die Verwendung externer Mitarbeiter prinzi-
piell nichts Anrüchiges ist, wie die Bundesregierung
meint und was ich grundsätzlich verstehe, dann muss
man sich vor Transparenz auch nicht scheuen und dann
kann am Ende auch der Jahresbericht des Bundesinnen-
ministeriums zu diesem Thema auf der Homepage des
Ministeriums im Internet stehen. Jeder Bürger weiß
dann, wenn er irgendwo anruft, ob er mit einem Bundes-
beamten, einem Angestellten des öffentlichen Dienstes
oder mit jemandem redet, der extern entsandt wurde,
weil er eine bestimmte Erfahrung und Expertise in die
Verwaltung einbringt oder auch weil sein Unternehmen
will, dass man etwas Erfahrung hinsichtlich der Bundes-
verwaltung sammelt, was erst einmal nichts Illegitimes
ist.

Ich glaube, wir dürfen bei der ganzen Debatte über
Lobbyismus und Demokratie nicht den Lobbyismus und
die Interessenvertretung in der demokratischen Gesell-
schaft insgesamt für kritikwürdig halten. Entscheidend
ist, inwiefern die Interessenvertretung von der Willens-
bildung im Parlament und auch vom exekutiven Handeln
getrennt ist und dass der Bürger nachvollziehen kann,
dass keine illegitime externe Einflussnahme und schon
gar keine Einflussnahme, die mit Geldflüssen korreliert,
stattgefunden hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das erwarten die Menschen von uns, und in diesem
Punkt müssen wir nacharbeiten.

Es war schon eine Unverschämtheit des Bundes-
innenministeriums insbesondere gegenüber den Koali-
tionsfraktionen, in der Sommerpause ungehindert von
parlamentarischer Einflussnahme eine nicht ausgegorene
Richtlinie als Verwaltungsvorschrift in Kraft zu setzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ralf Göbel [CDU/CSU]: So war es nicht!)


So geht man mit seinen Koalitionsfraktionen nicht um.
Man sieht auch an den Mienen Einzelner, dass bei ihnen
heimlich das Messer in der Tasche aufgegangen ist.


(Peter Friedrich [SPD]: Auch da sind wir transparent!)


Das ist kein guter Umgang miteinander insbesondere in
einer Frage, bei der die Regierung in der Kritik des Par-
laments stand.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie hatten als letzten Punkt das Lobbyistenregister an-
gesprochen. Ich meine, dass wir damit weiterkommen
müssen. In unserer Fraktion hat in der Sommerpause
eine mit 200 Personen gut besuchte Veranstaltung zu
dieser Frage stattgefunden. Wir müssen allerdings
– dazu hatte die Linksfraktion schon einen Antrag vor-
gelegt – auch die verfassungsrechtlichen Rahmenbedin-
gungen beachten, in denen wir uns bewegen. Dazu ge-
hört etwa die Frage, inwieweit wir in die internen
Angelegenheiten beispielsweise von Vereinen eingreifen
können. Denn auch die Vereinigungsfreiheit ist ein ge-
schütztes Gut.

Wir brauchen hier mehr Transparenz und Verbindlich-
keit. Aber das Ganze muss mit Augenmaß und im Hin-
blick auf unsere Verfassung und die Grundrechtspositio-
nen erfolgen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617931200

Dr. Georg Nüßlein hat jetzt das Wort für die CDU/

CSU-Fraktion.


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1617931300

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Mit

Rücksicht auf die späte Stunde und die Kollegen wollte
ich meine Rede eigentlich zu Protokoll geben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen Sie es doch!)


Aber weil niemand anders dazu bereit war, rede ich jetzt
trotzdem und sage etwas, was ich sonst nicht zu Proto-
koll gegeben hätte: Was dieses Hohe Haus garantiert
nicht braucht, sind SED-Nachfahren, die uns sagen, wie
man saubere Politik betreibt.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Dass es Regelungsbedarf gab, ist unbestritten. Es
wurde aber deutlich, wie weit das Verfahren fortgeschrit-
ten ist. Sie springen jetzt auf einen fahrenden Zug auf
und tun so, als wären Sie Lokomotivführer.


(Frank Spieth [DIE LINKE]: Das hätten Sie wohl gern!)


– Das hätten Sie wohl gern. Ich sage das auch deshalb,
weil ich heute den ganzen Tag verfolgt habe, was für ein
Getöse auf der linken Seite insbesondere zu bayerischen
Themen veranstaltet wurde.

Ich meine, dass die Initiative des Haushaltsausschus-
ses und der entsprechende Kabinettsbeschluss – Peter
Altmaier sitzt hier – richtig, konsequent und ausreichend
waren. Es war notwendig, mehr Transparenz zu schaf-
fen, wie es der Kollege Göbel umfassend dargestellt hat.
Was aber beibehalten werden muss, ist der Wissenstrans-
fer zwischen der Wirtschaft – das ist in Deutschland
noch ein wichtiger Faktor, jedenfalls zumindest solange
Sie nichts zu sagen haben – und unseren Ministerien.

Schon als ich Ihren Antrag gelesen habe, hatte ich den
Verdacht, dass es wieder um irgendeine wirtschaftsfeind-
liche Initiative geht. Aber nachdem ich Ihre Begründung






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Georg Nüßlein
gehört habe, Herr Kollege Claus, bin ich mir sicher.
Denn Sie haben lamentiert, dass zwar die Wirtschafts-
vertreter, aber nicht die Arbeitslosenverbände und an-
dere – wen auch immer Sie aufgezählt haben – einge-
bunden sind.

Ich teile die Kritik an der Beteiligung von Externen
– von Lobbyisten, wenn Sie so wollen – in einem so frü-
hen Stadium des Gesetzgebungsverfahrens.


(Zuruf von der LINKEN: Hört! Hört!)


Letzten Endes kommt es aber darauf an, was wir selber
aus den Referentenentwürfen machen. Ich kann nur dazu
ermutigen und auffordern, im parlamentarischen Verfah-
ren das eine oder andere zu ändern, was wir auch tun. Ich
würde nicht ohne Weiteres behaupten, dass ein Referen-
tenentwurf ohne Beteiligung Dritter – insbesondere von-
seiten der Wirtschaft – unbedingt besser wird. Das
glaube ich nicht.

Der Bürokratieabbau ist ein eigenes Thema. Ich sage
Ihnen ganz offen: Wer glaubt, dass wir zum Abbau der
Bürokratie zu wenige Beamte haben, täuscht sich aus
meiner Sicht. Ich meine, dass es darauf ankommt, mög-
lichst früh Expertise in die Verfahren zu bringen, und
dass die Lobby in den parlamentarischen Verfahren eine
gewisse Rolle spielen sollte.

Mit solchen Anträgen wie dem vorliegenden erwe-
cken Sie den Eindruck – dieser besteht draußen sowieso –,
dass wir von der Lobby beherrscht werden. Lassen Sie
mich deutlich sagen, dass die Lobby im politischen Ver-
fahren wichtig ist, weil wir nur so die Chance haben
– wenn man so einseitig ist wie Sie, spielt das natürlich
keine Rolle –, die Positionen verschiedener Seiten ken-
nenzulernen und zu erfahren, welche Konsequenzen aus
dem einen oder anderen Verfahren zu ziehen sind. Erst
dann kann man zu einer wohlabgewogenen Position
kommen. Ich weiß, dass insbesondere Sie, meine Damen
und Herren von der linken Seite, ein ganz spezielles Pro-
blem mit wohlabgewogenen Positionen haben. Das wer-
den wir nicht ändern.

Ich bedanke mich ganz herzlich für die Aufmerksam-
keit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617931400

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9484 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein-
verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 f auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(20. Ausschuss)


– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung

Tourismuspolitischer Bericht der Bundes-
regierung – 16. Legislaturperiode –
– zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne-
ten Ernst Burgbacher, Jens Ackermann,
Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung

Tourismuspolitischer Bericht der Bundesre-
gierung – 16. Legislaturperiode –

– Drucksachen 16/8000, 16/8194, 16/10187 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Brähmig
Annette Faße
Ernst Burgbacher
Dr. Ilja Seifert
Bettina Herlitzius

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(20. Ausschuss)

Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter
Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Annette Faße, Brunhilde Irber, Renate Gradistanac,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Messen und Geschäftsreisen als Chance für
den Tourismusstandort Deutschland
– Drucksachen 16/5958, 16/9255 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Brunhilde Irber
Ernst Burgbacher
Dr. Ilja Seifert
Bettina Herlitzius

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(20. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus

Brähmig, Bernward Müller (Gera), Dr. Hans-
Peter Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab-
geordneten Annette Faße, Renate Gradistanac,
Bettina Hagedorn, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Chancen des demographischen Wandels im
Tourismus nutzen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Britta Haßelmann, Markus Kurth,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Barrierefreiheit und demografischer Wan-
del – Auf die Herausforderungen für den
Tourismus reagieren

– Drucksachen 16/8777, 16/9315, 16/10073 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Renate Gradistanac
Ernst Burgbacher
Dr. Ilja Seifert
Bettina Herlitzius






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Uda Carmen Freia Heller, Dr. Hans-
Peter Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord-
neten Annette Faße, Engelbert Wistuba, Dr. Carl-
Christian Dressel, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Reformationsjubiläum 2017 als welthistori-
sches Ereignis würdigen

– Drucksache 16/9830 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Anita Schäfer (Saalstadt), Dr. Hans-
Peter Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord-
neten Annette Faße, Gabriele Hiller-Ohm, Renate
Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Bauernhofurlaub und Landtourismus weiter
fördern – Ländliche Räume nachhaltig stär-
ken

– Drucksache 16/10320 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Barrierefreier Tourismus für alle in Deutsch-
land

– Drucksache 16/10317 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss

Zu dem Tourismuspolitischen Bericht der Bundes-
regierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.

Es ist verabredet, hier eine Dreiviertelstunde zu de-
battieren. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als Erstem dem
Kollegen Ernst Hinsken für die Bundesregierung das
Wort.


(Beifall des Abg. Klaus Brähmig [CDU/CSU])


Ernst Hinsken, Beauftragter der Bundesregierung
für Tourismus:

Verehrte Frau Vizepräsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Der Tourismus ist neben der Biotechnolo-
gie, dem IT-Sektor und der Gesundheitswirtschaft die
Wachstumslokomotive des 21. Jahrhunderts. Wir spre-
chen nicht umsonst von einer Leitökonomie der Zukunft.
Wir können uns in der Bundesrepublik Deutschland froh
und glücklich schätzen, dass gerade die Tourismuswirt-
schaft momentan boomt. So hatten wir im vergangenen
Jahr fast 362 Millionen Übernachtungen. Unter den
Übernachtungsgästen waren 55 Millionen Ausländer.
Dies entspricht einem Zuwachs von 3,6 Prozent. Wir
können uns auch darüber freuen, dass gerade die Touris-
muswirtschaft seit der Fußballweltmeisterschaft 2006
läuft. Der Ball rollt, und die Zahlen und Ergebnisse wer-
den immer besser.

Besonders erfreulich ist für mich als Tourismusbeauf-
tragtem der Bundesregierung, dass inzwischen viele
Mitbürgerinnen und Mitbürger erkannt haben, dass es
sich bei der Tourismuswirtschaft um einen Wirtschafts-
faktor handelt, der mehr und mehr ausgebaut werden
kann. Wir haben gerade zu Beginn dieses Jahres seitens
der Bundesregierung den Tourismuspolitischen Bericht
vorgelegt. Der Bericht zeigt, dass die Tourismusbranche
vor ganz großen Herausforderungen steht. Wenn ich die
Herausforderungen mit einem Kuchen vergleiche, dann
stelle ich fest: Wir alle sind gefordert, alles zu tun, um
ein großes Stück dieses Kuchens, der weltweit zur Ver-
teilung ansteht, abzubekommen; denn um den einzelnen
Gast, den einzelnen Touristen wird weltweit gebuhlt. Da
dürfen wir nicht abseitsstehen. Da müssen wir dabei
sein.

Zurzeit sind wir seitens der Bundesregierung dabei,
Leitlinien für die Zukunft des Tourismussektors zu erar-
beiten.


(Ingbert Liebing [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Wir wollen damit den vielen kleinen und mittelständi-
schen Betrieben der Tourismusbranche einen Schub ge-
ben. Wir wollen günstige Rahmenbedingungen schaffen.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU], an die FDP gewandt: Da können Sie ruhig mal klatschen!)


– Herr Kollege Brähmig, von denen können Sie es nicht
erwarten. Das müssen Sie selber machen.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)


– Ich sage das bei der Gelegenheit.

Wenn ich heute darauf verweise, dass wir an solchen
Leitlinien arbeiten, so möchte ich besonders unterstrei-
chen, dass es mir darum geht, einen Konsens auch über
parteipolitische Grenzen hinweg zu finden;






(A) (C)



(B) (D)


Beauftragter der Bundesregierung Ernst Hinsken

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


denn Tourismus ist etwas, was uns alle angeht und was
uns allen auf den Nägeln brennt. Ich bin besonders dank-
bar dafür, dass Sie, Frau Kollegin Faße, sich heute Mor-
gen neben dem Kollegen Brähmig hervorragend einge-
bracht haben.


(Beifall der Abg. Brunhilde Irber [SPD])


Wir wollen gerade mit diesen Leitlinien Deutschland
weiterhin kraftvoll im Ausland vermarkten;


(Frank Spieth [DIE LINKE]: Jawohl!)


denn Tourismuspolitik ist die beste Außenpolitik, die es
überhaupt gibt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir wollen die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingun-
gen in den Bereichen Steuern, Verkehr, Umwelt und Ver-
braucherschutz optimieren, um nur einige wenige zu
nennen. Wir wollen den steigenden Anforderungen des
globalisierten Tourismus mit noch mehr Qualität begeg-
nen. Unser Land ist nicht mit immer weiß-blauem Him-
mel,


(Frank Spieth [DIE LINKE]: Bayern schon!)


Sonne, Meer, viel Wärme und dergleichen gesegnet.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Bayern schon!)


Wir müssen das durch Qualität ersetzen, und wir sind da-
bei. – Kollege Dr. Nüßlein, ich pflichte Ihnen bei, dass
es in Bayern noch ein bisschen besser als in anderen Re-
gionen der Republik ist.


(Beifall des Abg. Klaus Brähmig [CDU/CSU])


Wir wollen darüber hinaus dafür sorgen, dass wir eu-
ropaweite, ja weltweite Wettbewerbsverzerrungen ab-
bauen. Es gilt insbesondere, die Stärken, die wir haben,
noch stärker herauszustellen. Wo liegen unsere Stärken?
Bei Messen und Geschäftsreisen zum Beispiel ist
Deutschland top. Deutschland ist Nummer eins bei den
Messen in aller Welt, Deutschland ist Nummer zwei bei
den Kongressen auf der ganzen Welt, und bei Geschäfts-
reisen liegt bei uns der Anteil bei 28 Prozent, während er
weltweit, auf die einzelnen Länder bezogen, nur bei
16 Prozent liegt. Hier gilt es, unsere Marktführerschaft
auszubauen. Das geht nicht von selber. Da brauchen wir
vernünftige Rahmenbedingungen. Deshalb habe ich vor
einigen Monaten Vertreter der Messewirtschaft zu mir
ins Ministerium geladen, um zu beraten, was getan wer-
den soll und getan werden muss, damit die Messewirt-
schaft einen weiteren Schub bekommt und wir ganz
vorne bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Stark ist Deutschland, unsere Republik, auch beim
Städte- und Kulturtourismus. Ich könnte hier etwas nen-
nen, was die Mitbürgerinnen und Mitbürger und insbe-
sondere die Politiker momentan bewegt, nämlich die
Luther-Dekade von 2008 bis 2017. Doch ich kann mich
hier kurzfassen, weil sich meine Kollegin Heller noch
ausführlich dazu äußern wird. Ich möchte bei der Gele-
genheit aber auch neue Trends ansprechen, die nicht ver-
nachlässigt werden dürfen.


(Ute Kumpf [SPD]: Sogar die Chinesen kommen zu uns!)


– Nicht nur die Chinesen. Sie werden sich besonders
freuen, wenn sie in Ihre Nähe kommen. – Ich meine mit
neuen Trends auch den Religionstourismus.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Im vergangenen Jahr gab es weltweit über 200 Millionen
Religionstouristen, die mehr als fünf Tage unterwegs
waren. Man muss natürlich unterscheiden zwischen dem
Pilger, der nach Mekka geht, und demjenigen, der auf
dem Jakobsweg wandert, der vor allen Dingen die Stille
und die Natur sucht und zu sich selber finden möchte,
oder der auf dem Benedikt-Weg in Altötting, Kollege
Mayer – auch eine große Attraktion in der Bundesrepu-
blik Deutschland –, wandert.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Schließlich haben wir 861 Wallfahrtsorte und über
800 000 Pilgerreisen allein in der Bundesrepublik
Deutschland zu verzeichnen.

Lassen Sie mich noch auf Folgendes verweisen:
Wenn ich die breite Palette des Bereiches Tourismus hier
anspreche, dann wäre meine Schilderung nicht vollstän-
dig, wenn ich nicht auch den Urlaub auf dem Bauernhof
erwähnen würde. Hier profitieren vor allen Dingen be-
nachteiligte Gebiete. Es ist eine zusätzliche Einnahme-
quelle für Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Tourismus
in der Fläche praktizieren. Auch hier haben wir Gas ge-
geben. Auch hier haben wir positive Zahlen zu verzeich-
nen. Auch hier wollen wir die Betroffenen mehr denn je
unterstützen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Zwei letzte Bemerkungen. Erstens. Für uns ist vor al-
len Dingen der demografische Faktor wichtig, dem es
Rechnung zu tragen gilt. Wir können nicht wegdiskutie-
ren, dass in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr
2030 jeder Dritte älter als 60 Jahre ist und dass es im
Jahr 2040 mehr über 50-Jährige als unter 50-Jährige
gibt.


(Ute Kumpf [SPD]: Aber das sind dann flotte Alte!)


Die Altersgruppe der 49- bis 74-Jährigen macht in der
Bundesrepublik Deutschland zwar nur 29 Prozent aus;
im Tourismussektor sind es allerdings 48 Prozent. Das
ist Zukunftsmusik. Es gilt, dies aufzugreifen und Rah-
menbedingungen zu schaffen. Da sind wir alle gefordert,
damit die Tourismuswirtschaft diese neuen Strömungen
erfassen und berücksichtigen kann.

Zweitens. Ich muss noch den barrierefreien Touris-
mus erwähnen; sonst wäre mein Kollege Dr. Seifert be-
stimmt nicht zufrieden. Barrierefreiheit bedeutet in mei-






(A) (C)



(B) (D)


Beauftragter der Bundesregierung Ernst Hinsken
nen Augen ein Glückserlebnis für viele Mitbürgerinnen
und Mitbürger, auch in der Bundesrepublik Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es lohnt sich, daran zu arbeiten. Über den Kongress mit
über 200 Teilnehmern hinaus, den wir vor 14 Tagen im
Ministerium durchgeführt haben, gilt es, weitere Maß-
nahmen zu treffen und das Notwendige zu tun.


(Zuruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE])


– Liebe Frau Kollegin Dr. Enkelmann, wir wissen schon,
worauf es ankommt. Wenn Sie bereit sind, das mitzutra-
gen,


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Aber gerne!)


sind Sie auf dem richtigen Weg. Das würde ich Ihnen
auch empfehlen.

Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, darf
ich von Herzen für die Aufmerksamkeit danken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617931500

Der Kollege Ernst Burgbacher hat jetzt das Wort für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Ernst Burgbacher (FDP):
Rede ID: ID1617931600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Ernst Hinsken, die Rede hat genau das widerge-
spiegelt, was Inhalt des Berichts ist, nämlich eine Auf-
zählung von Feststellungen über den Deutschlandtouris-
mus, aber eigentlich etwas völlig Unpolitisches. Ich habe
in der Rede jegliche politische Botschaft vermisst. Das
vermisse ich leider auch in dem Bericht.

Ich will der kleinen Abteilung im Bundeswirtschafts-
ministerium ausdrücklich danken, die mit einer Riesen-
arbeit vieles zusammengestellt hat, was von der Anwen-
dung her allerdings nicht allzu viel bringt. Wir sind hier
im deutschen Parlament, und wir haben darüber zu re-
den, was politisch getan werden muss. Das ist unsere
Aufgabe.

Im Bericht habe ich all die Ziele gelesen und dann als
Konsequenz, die Branche müsse angesichts der Verände-
rungen offener und flexibler werden. Ich sage Ihnen: Die
Branche hat sich weit geöffnet. Die Branche ist flexibel.
Das eigentliche Problem ist, dass die Bundesregierung
weder offen noch flexibel ist.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ingbert Liebing [CDU/ CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)


Ich will in der Kürze der Zeit nur einige Punkte auf-
zählen, die wir kritisieren:

Das Erste. Es besteht eine völlig falsche Organisation
in der Bundesregierung. Das Amt des Tourismusbeauf-
tragten wurde geschaffen. Er hat eine klitzekleine Abtei-
lung, aber das Wichtigste, die Mittel, die für den Touris-
mus vorhanden sind, sind gerade einmal zu einem guten
Drittel beim Wirtschaftsministerium veranschlagt; der
Rest ist bei anderen Ministerien. Damit kann man keine
Tourismuspolitik machen. Deshalb brauchen wir eine
Strukturreform in der Regierung. Notwendig ist eine
Konzentration der Mittel und der Aufgaben im Wirt-
schaftsministerium. Dann können wir eine schlagkräf-
tige Tourismuspolitik machen.


(Beifall bei der FDP)


Das Zweite. Der Tourismusbeauftragte hat uns gerade
gesagt, er habe die Vertreter der Messewirtschaft einge-
laden. Es ist ja schön, wenn die eingeladen werden. Ich
vermisse aber jegliche Aussage dazu, was eigentlich da-
bei herausgekommen ist, ob die Bundesregierung auch
nur irgendeine Konsequenz aus diesem Gespräch gezo-
gen hat. Es gab dann eine Einladung an die Reisebusver-
anstalter, um mit ihnen Maßnahmen aufgrund der gestie-
genen Energiekosten zu diskutieren. Es wurde diskutiert;
das Ergebnis war null, wirklich null. So kann man nicht
Politik machen. Wenn ich sie einlade, muss ich nachher
auch sagen, welche Konsequenzen ich daraus ziehe.


(Annette Faße [SPD]: Oder wenn man keine zieht! Man kann ja auch keine ziehen!)


Das ist überhaupt nicht erfolgt.


(Beifall bei der FDP)


Bei den großen Fragen, die die Tourismuswirtschaft
beschäftigen, ist leider völlige Fehlanzeige. Lieber Ernst
Hinsken, wir hören bei jeder Veranstaltung, bei der der
Tourismusbeauftragte auftritt, die Forderung nach Ein-
führung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes für die
Hotellerie. Mich wundert es dann schon,


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das hast du doch heute früh schon einmal zum Jahressteuergesetz erzählt!)


warum die CSU, die bayerische Landesregierung, als die
baden-württembergische Landesregierung den Antrag
im Bundesrat eingebracht hatte, dies umzusetzen, im
Wirtschaftsausschuss dagegengestimmt hat. Das muss
uns einmal jemand erklären. Ich kann das doch nicht bei
allen Veranstaltungen fordern, und die eigene Partei und
die eigene Regierung lassen mich dann im Regen stehen.


(Ute Kumpf [SPD]: So sind sie halt, die CSUler!)


Dass Bayern nachher im Bundesrat doch dafür gestimmt
hat, lag an entsprechendem Druck. Aber wer weiß denn
von uns, was nach dem nächsten Sonntag passiert? Ich
habe diese Frage heute Morgen dem Vorsitzenden des
Finanzausschusses gestellt. Er hat sich gewunden und
überhaupt nichts gesagt. Deshalb müssen die Menschen
draußen wissen: Mit der Union wird das nicht passieren;
es wird nur passieren, wenn die FDP stark wird und wei-
ter Druck machen kann.


(Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Daran glaubt ihr doch selber nicht!)







(A) (C)



(B) (D)


Ernst Burgbacher
Die CSU hat es geschafft, dieses Thema bei den Ski-
liften plötzlich durchzubringen. Andere haben dabei mit-
gemacht, weil sie gesagt haben, das sei ja nicht unver-
nünftig. Dass aber an dieser Stelle geblockt wird,
müssen die Leute draußen wissen. Das sollte man den
Menschen draußen deutlich sagen.

Ähnliches haben wir bei Themen wie Jugendarbeits-
schutzgesetz und Feinstaubdebatte. Welchen Wahnsinn
veranstalten wir im Augenblick im Hinblick auf den
Deutschlandtourismus, wenn ausländische Touristen
nicht wissen, wie sie in die Städte hineindürfen, wenn
die Busse ihre Leute am Stadtrand ausladen müssen und
sie dann in alte Kutschen vom ÖPNV umgeladen wer-
den! Welcher Unsinn ist das! Nichts davon wurde korri-
giert; alles ist wie vorher. Das ist keine Tourismuspolitik.
Darauf können wir wirklich verzichten.


(Beifall bei der FDP)


Ganz entscheidend ist: Tourismuspolitik ist Mittel-
standspolitik. Wir alle wissen: Die touristische Struktur
in Deutschland ist – zum Glück ist es so – weitgehend
mittelständisch geprägt. Deshalb wäre eine aktive Tou-
rismuspolitik vor allem, Rahmenbedingungen für den
Mittelstand zu setzen. Exakt das Gegenteil wurde ge-
macht: Die größten Steuererhöhungen in der Geschichte
der Bundesrepublik haben den Mittelstand besonders
stark getroffen. Darunter leidet der Mittelstand.

Darunter leiden aber auch alle Menschen. Im vergan-
genen Jahr ist die Zahl der Familien mit zwei Kindern,
die Urlaub gemacht haben, um fast 10 Prozent zurückge-
gangen. Das ist das deutlichste Zeichen für die verfehlte
Politik. Angesichts dessen darf man hier doch nicht alle
möglichen hehren Ziele formulieren. Ich muss den Men-
schen das Geld in der Tasche lassen, damit sie reisen
können. Das ist das oberste Gebot.


(Beifall bei der FDP)


Ich muss den Mittelstand unterstützen, damit er wirklich
tätig werden kann, und darf ihn nicht durch Steuererhö-
hungen, durch die Androhung einer mittelstandsfeindli-
chen Erbschaftsteuerreform und anderes strangulieren.

Meine Damen und Herren, Tourismuspolitik bedeutet
die Setzung richtiger Rahmenbedingungen. Da hilft kein
Bericht, da helfen keine Leitlinien, sondern da hilft poli-
tische Aktivität. Diese vermissen wir, und wir werden
sie an jeder Stelle weiter anmahnen und, wenn wir in
Verantwortung sind, auch entfalten.


(Annette Faße [SPD]: Da könnt ihr ja noch lange warten!)


Dort, wo wir es in den Ländern tun können, machen wir
es. Keine Angst, auch im Bund werden wir es bald wie-
der tun.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP – Annette Faße [SPD]: Der Glaube stirbt zuletzt!)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617931700

Gabriele Hiller-Ohm hat jetzt das Wort für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1617931800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Herr Burgbacher! Ich bedanke mich für meine
Fraktion bei den Autoren des Tourismuspolitischen Be-
richts, natürlich ganz besonders bei unserem Tourismus-
beauftragten Ernst Hinsken.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Der Tourismus in Deutschland boomt. Mit rund
360 Millionen Übernachtungen haben wir eine Zahl er-
reicht, von der wir lange nicht zu träumen wagten. Das
waren nämlich noch einmal 8 Millionen mehr als im
Fußball-WM-Rekordjahr 2006. Rund 2,8 Millionen Ar-
beitsplätze hängen direkt und indirekt vom Tourismus
ab. Fast 120 000 junge Menschen finden hier einen Aus-
bildungsplatz.

Schon diese Zahlen machen deutlich, wie wichtig der
Tourismus für unser Land ist. Es ist deshalb mehr als är-
gerlich, dass der Tourismus in der Haushaltsdebatte der
letzten Woche vom zuständigen Wirtschaftsminister
Michael Glos mit keinem einzigen Wort erwähnt wurde.
Auch heute ist er wieder nicht da. Es ist zwar ziemlich
spät geworden, aber ich hätte mich trotzdem sehr über
seine Anwesenheit gefreut.


(Ute Kumpf [SPD]: Der testet den Tourismus in Bayern! – Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Dafür ist doch der Ernst Hinsken da!)


Vollkommen unverständlich ist darüber hinaus, dass
sein Kollege Laurenz Meyer in der Haushaltsdebatte ei-
nen Gegensatz zwischen Industrie- und Dienstleistungs-
sektor konstruiert hat, der einfach nicht haltbar ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Industrie ist wichtig, aber das Dienstleistungsgewerbe ist
es natürlich auch. Meine Heimatstadt ist ein gutes Bei-
spiel: Lübeck war ein bedeutender Werftenstandort, an
dem viele Tausend Arbeitsplätze hingen. Die sind alle
weggebrochen. Wäre da nicht der Tourismus, der Gott
sei Dank seit Jahren boomt,


(Ute Kumpf [SPD]: Und das Marzipan!)


so sähe es düster aus. So wie in Lübeck wird es in vielen
Teilen Deutschlands sein. Deshalb ist es so wichtig,
nicht nur auf die Industrie zu setzen, sondern auch den
Tourismus zu stärken und für eine gute Infrastruktur zu
sorgen.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617931900

Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Lutz Heilmann von der Linken zulassen?






(A) (C)



(B) (D)


Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1617932000

Nein, auf keinen Fall.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Ute Kumpf [SPD]: Der wollte jetzt auch einen Werbeblock für seine Stadt machen!)


Meine Damen und Herren, intakte Naturlandschaften,
hohe Qualitätsstandards, vernünftige Arbeitsbedingun-
gen und gute Löhne gehören zu einer guten touristischen
Infrastruktur. Um auf der Erfolgsspur zu bleiben, muss
im Tourismus noch besser aus- und weitergebildet wer-
den. Gute Serviceleistung hat ihren Preis. Deshalb muss
Schluss sein mit Hungerlöhnen, von denen die Men-
schen nicht leben können.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Ihr seid doch an der Regierung! Fangt an!)


Wir kämpfen gerade auch im Hotel- und Gaststättenge-
werbe für einen gesetzlichen Mindestlohn.


(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Lutz Heilmann [DIE LINKE])


Es ist auch richtig, dass wir endlich tourismuspolitische
Leitlinien formulieren müssen, an denen wir unsere Poli-
tik ausrichten können.

Außerhalb von Großstädten leben zwei Drittel der ge-
samten Bevölkerung. Deshalb ist der Tourismus beson-
ders in den ländlichen Regionen so wichtig. Er bietet
hier Beschäftigungs- und Wachstumschancen.


(Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Aha! Dann fahren Sie einmal nach Fehmarn!)


Es gibt im Landtourismus inzwischen rund 25 000 An-
bieter, etwa 1,6 Millionen Urlaubsaufenthalte und einen
geschätzten Umsatz von fast 950 Millionen Euro. Zur
weiteren Stärkung des Landtourismus haben wir einen
umfassenden Forderungskatalog im vorliegenden Koali-
tionsantrag ausgearbeitet:

Erstens. Wir brauchen genaue Zahlen. Deshalb wol-
len wir eine Grundlagenuntersuchung mit fundierter Da-
tenlage, damit bestehende Marktpotenziale noch besser
erschlossen werden können.

Zweitens. Für den Tourismus im ländlichen Raum
müssen genügend Finanzmittel zur Verfügung gestellt
werden. Ich freue mich, dass es gelungen ist, die Mittel
für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrar-
struktur und des Küstenschutzes“ auf 700 Millionen
Euro aufzustocken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Drittens. Auch Menschen mit kleinem Geldbeutel,
Herr Burgbacher, haben ein Recht auf Urlaub.


(Ernst Burgbacher [FDP]: Richtig!)


Der Landurlaub bietet hier gute Möglichkeiten vor allem
für Familien mit Kindern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Viertens. Überregionale Tourismusprojekte müssen
unter den Ländern besser abgestimmt werden. Das setzt
Synergieeffekte frei.

Fünftens. Wir setzen uns ebenfalls für weniger Hür-
den bei der EU-Förderung von grenzüberschreitenden
Tourismusvorhaben ein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Sechstens. Klimaschutz und Tourismus dürfen keine
Gegensätze sein. Deshalb fordern wir eine gute Erreich-
barkeit der ländlichen Regionen mit öffentlichen Ver-
kehrsmitteln, insbesondere mit der Bahn.


(Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Ihr habt die Strecken doch ausgedünnt!)


Wir haben noch zehn weitere Forderungen in unserem
Antrag formuliert. Aus Zeitgründen kann ich diese leider
nicht mehr vorstellen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Deutsche Zen-
trale für Tourismus will den Landurlaub im nächsten
Jahr stärker bewerben. Das begrüßen wir ausdrücklich.
Dann stehen Aktivurlaub, Radfahren und Wandern im
Mittelpunkt des nationalen Tourismusmarketings.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617932100

Frau Kollegin!


Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1617932200

Ich freue mich ganz besonders, dass in diesen Tagen

auf unser Drängen hin vom Ministerium eine Studie zum
Wandertourismus in Auftrag gegeben worden ist.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617932300

Frau Kollegin, Sie müssen jetzt dringend zum Ende

kommen.


Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1617932400

Ich komme zum Schluss. – Diese Studie wird uns mit

Sicherheit viele weitere wertvolle Informationen zur
Stärkung des Landtourismus liefern.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617932500

Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Ilja Seifert für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617932600

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Im Mittelpunkt der Gesundheitspolitik steht die
Gesundheit der Bevölkerung – nicht die Gesundheits-
wirtschaft oder die Pharmaindustrie. Im Mittelpunkt der
Sportpolitik steht der Sport, stehen also die Sportlerin-
nen und Sportler – nicht Adidas und Nike. Im Mittel-
punkt der Verkehrspolitik steht der sichere und pünktli-
che Transport von Personen und Gütern – nicht die






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Ilja Seifert
Verkehrsunternehmen und die Autokonzerne. Im Mittel-
punkt der Verteidigungspolitik steht die Sicherung des
Friedens – nicht die Rüstungsindustrie.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Und was hat das mit Tourismus zu tun?)


Das Gleiche gilt für die Tourismuspolitik, lieber Herr
Kollege Brähmig: Im Mittelpunkt müssen die Bedürf-
nisse der Bevölkerung nach Erholung, nach Bildung,
nach Gesundheit stehen – nicht die Tourismuswirtschaft.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Da stehen sie doch! Das ist doch unser Hauptanliegen! – Ernst Burgbacher [FDP]: Und nach Arbeit!)


– Herr Brähmig, Sie wissen doch so gut wie ich, dass es
nicht so ist. Sie kennen die entsprechenden Leitlinien so
gut wie ich und wissen, dass es da um die Tourismus-
wirtschaft und nicht um die Menschen geht, die sich er-
holen und bilden wollen.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Da kann ich Ihnen nicht zustimmen!)


Das ist der entscheidende Unterschied zwischen der
Tourismuspolitik der Bundesregierung und der Art und
Weise, wie die Linke das Thema angeht. Sie machen das
Mittel zum Zweck.

Die Linke tritt ganz deutlich für einen Tourismus für
alle ein. Wir wollen, dass alle Menschen reisen können,
um sich zu erholen, um sich zu bilden und um etwas für
ihre Gesundheit zu tun. Es ist nicht akzeptabel, dass zu-
nehmend mehr Menschen in diesem reichen Land – vor
allem Familien mit Kindern, insbesondere mit kleinen
Kindern – nicht mehr reisen können, weil ihnen das Geld
dafür fehlt oder weil sie ihren Jahresurlaub nicht planen
oder nicht nehmen können.


(Ute Kumpf [SPD]: Das stimmt hinten und vorne nicht, was Sie da erzählen!)


Wir wollen, dass auch Hartz-IV-Empfängerinnen und
-Empfänger und deren Kinder einmal Urlaub machen
können.


(Beifall bei der LINKEN)


Das gehört in den Mittelpunkt der Politik und nicht das
Bestreben, dass es der Wirtschaft besonders gut geht.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Wie wollen Sie das gestalten?)


Wir sagen nicht, dass es ihr schlecht gehen soll. Sie ist
aber nicht der Zweck, sondern nur das Mittel.

Die Linke – das hat der Herr Tourismusbeauftragte
freundlicherweise mit Blick auf mich gesagt; aber es
geht nicht um mich, sondern um die Menschen, die es
betrifft, und am Ende um Bequemlichkeit für alle – tritt
für einen durchgängig barrierefreien Tourismus ein.
„Durchgängig barrierefrei“ bedeutet, die gesamte touris-
tische Kette einzubinden: vom Internetangebot über das
Abholen zu Hause, die Fahrt zum Urlaubsort, die Unter-
bringung am Urlaubsort bis hin zu den Sehenswürdig-
keiten am Urlaubsort und natürlich wieder retour.
Wie nötig es ist, dafür noch viel zu tun, zeigten nicht zu-
letzt die Konferenz der Bundesregierung am 11. Septem-
ber und die dort vorgestellte Studie. Lassen Sie uns – es ist
ja erfreulich, dass wir dieses Thema gemeinsam angehen
wollen – gemeinsam vorankommen. Der heute hier vor-
liegende Antrag der Linken ist sicher ein sehr guter Weg,
den wir gemeinsam gehen können.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke tritt auch für einen ökologisch verantwort-
baren Tourismus ein. Wir wollen, dass alle Menschen
reisen und sich die Welt anschauen können, um ihre
Weltanschauung auszuprägen. Es geht uns darum, dass
nicht nur wenige Gutbetuchte reisen können.

Für uns ist es wichtig, dass Umwelt und Tourismus
nicht gegeneinander ausgespielt werden. Dies sage ich in
dem Wissen, dass der Tourismus einer der Verursacher
für Umweltschäden ist. Wir müssen hierfür einen ent-
sprechenden Ausgleich schaffen.

Die Linke tritt ebenfalls verstärkt für die Entwicklung
des Tourismus auf dem Lande ein. Ich freue mich, dass,
nachdem die Linke bereits am 17. Dezember des vergan-
genen Jahres einen entsprechenden Antrag vorgelegt hat,
nun auch die Koalition nachzieht


(Annette Faße [SPD]: Wir machen das in jeder Wahlperiode!)


und der Tourismusausschuss sogar meinem Vorschlag
folgt, am 21. Januar nächsten Jahres eine entsprechende
Anhörung auf der Grünen Woche durchzuführen.


(Annette Faße [SPD]: So sind wir mit der Opposition!)


– Das ist doch gut; denn dies zeigt, dass man auch zu-
sammenarbeiten kann und nicht immer nur aufeinander
eindrischt. Ich will euch gerne loben, wo ihr zu loben
seid. Aber ihr müsst auch einsehen, dass man nicht alles
loben kann.

Die Linke – das will ich ausdrücklich sagen – tritt
auch ein für eine sich gut entwickelnde Tourismuswirt-
schaft, insbesondere im kleinen und mittelständischen
Bereich, für gute Arbeitsplätze, gute Ausbildungsplätze
und für gute Löhne für gute Arbeit und will Nied-
riglöhne und prekäre Beschäftigungsverhältnisse verhin-
dern.


(Beifall bei der LINKEN – Ute Kumpf [SPD]: Das Paradies auf Erden!)


Lassen Sie mich zum Abschluss einen letzten Punkt
erwähnen, der mir sehr am Herzen liegt. Es geht um die
Schulfahrten. Wir brauchen keinen Bildungsgipfel, auf
dem uns die Kanzlerin erzählt, dass Bildung für alle
wichtig sei; vielmehr brauchen wir eine verbindliche Re-
gelung dafür, dass jede Schulklasse mindestens einmal
im Jahr eine Klassenfahrt machen kann, und zwar als
Bestandteil des staatlichen Bildungsauftrags, sodass die
Lehrerinnen und Lehrer entsprechend abgesichert sind.
An dieser Stelle sollte der Bund nicht länger weg-
schauen.


(Brunhilde Irber [SPD]: Das ist Sache der Länder!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Ilja Seifert
Hierfür brauchen wir Lösungen. Es wäre sehr schön,
wenn die Kanzlerin dazu auf dem Bildungsgipfel klare
Worte sagen würde und die Regierung dazu entspre-
chende Maßnahmen einleiten würde.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit und bis
bald.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU)


– Dass das auch eine touristische Komponente hat, will
ich gar nicht bestreiten. Das sehen wir sogar sehr positiv.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1617932700

Ich hatte den Eindruck, Herr Kollege, Sie waren mit

Ihrer Rede fertig.


(Heiterkeit)



Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617932800

Das war nur noch die Antwort auf einen Zuruf, Herr

Präsident.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1617932900

Bevor ich als nächster Rednerin der Kollegin Bettina

Herlitzius, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort
erteile, möchte ich sagen: Herr Seifert, Ihr Vorschlag zur
Grünen Woche hat mir außerordentlich gut gefallen. Ich
habe spontan überlegt, ob nicht die Verlagerung von
Plenardebatten zur Grünen Woche die Gemütlichkeit
dieser Veranstaltung erheblich fördern könnte. Aber das
greifen wir bei passender Gelegenheit im Ältestenrat
auf.

Bitte schön, Frau Herlitzius.


Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617933000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

freue mich, dass Sie noch so zahlreich hier sind, zeigt
dies doch, wie wichtig der Tourismus für unser Land und
für unsere Wirtschaft ist, vor allen Dingen, wenn man
den Worten unseres Tourismusbeauftragten Hinsken
folgt.

In den letzten Tagen war der Presse zu entnehmen,
dass der Deutschlandtourismus boomt. Er wächst auf
Weltniveau. Der Zuwachs beträgt 5,1 Prozent. Der
Markt wächst weiter. Aber ich möchte an dieser Stelle
betonen: Wachstum kann stattfinden, ohne dass der
Wohlstand steigt. Das heißt, wir müssen dringend darauf
achten, in welche Richtung der Tourismus wächst.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das scheint bei einigen Kolleginnen und Kollegen
hier im Raum immer noch nicht angekommen zu sein.
Die FDP fordert wie immer in ihrem Entschließungsan-
trag die Schaffung weiterer wirtschaftsliberaler Rahmen-
bedingungen. Lieber Kollege Burgbacher, wir haben
doch schon heute äußerst kritische Arbeitsverhältnisse in
der Branche. Wenn der Tourismus zum Wirtschaftsfaktor
einer Region werden soll, dann kann das nur funktionie-
ren, wenn die Menschen in dieser Region auch von die-
sen Arbeitsplätzen leben können. Ein Kellner verdient
heute – das ist Tariflohn – 7,50 Euro. Es ist schon sehr
schwierig, damit eine Familie zu ernähren. Dabei wer-
den noch nicht einmal überall 7,50 Euro gezahlt. Das
heißt, hier müssen wir nachsteuern; hier ist noch einiges
offen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Klaus Brähmig [CDU/ CSU]: Dann müssen wir die Preise erhöhen!)


Zum Beispiel kann man auch – das sage ich jetzt als
Grüne und ein Stück weit mit Stolz – mit Naturschutz
Geld verdienen. Die fast 800 000 Menschen, die jährlich
den Bayerischen Nationalpark besuchen, finanzieren
939 Vollzeitstellen.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


– Das ist heute mal ein gutes Beispiel aus Bayern.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)


Steigende Preise und hohe Energiekosten verändern
die Anforderungen der Urlauber an die Urlaubsorte.
Deutschland wird wieder als Reiseland interessant. Aber
auch die touristische Zielgruppe verändert sich. Unsere
Gesellschaft wird älter. Bis 2040 werden 40 Prozent der
Reisenden über 60 Jahre alt sein. Das heißt, der Markt
verändert sich. Die meisten Veranstalter haben sich noch
nicht darauf eingestellt. Wir müssen hier mit all unseren
Kräften politisch nachsteuern. Wir müssen dafür sorgen,
dass der Tourismus in Deutschland nachhaltig und auch
barrierefrei gestaltet wird. Davon profitieren alle Grup-
pen in dieser Gesellschaft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Kommen wir zu meinem Lieblingsthema, dem öffent-
lichen Nahverkehr. Aktuell kann man auf der Homepage
der DB lesen, dass sie überlegt, wieder touristische Ziele
in ihr Programm aufzunehmen. Guten Morgen, Herr
Mehdorn! Ähnlich ist es beim Bedienzuschlag. Auch
dieses Thema wurde auf relativ unglückliche Weise in
die Presse gebracht. Dies ist jedoch absolut kontrapro-
duktiv, wenn es darum geht, Touristen an den öffentli-
chen Nahverkehr zu gewöhnen. Darüber muss man
heute reden; dies ist ja nicht mehr selbstverständlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Regierungskoalition hat uns einen „großen“ An-
trag zu den Chancen des demografischen Wandels vor-
gelegt. Aber in ihm wird dieses Thema kaum behandelt.
Genau das sind jedoch die Fragen, um die wir uns küm-
mern müssen und über die wir uns politisch unterhalten
müssen. Wir haben dazu einen eigenen Antrag einge-
bracht; auch die Linke hat dieses Thema bearbeitet. Das
zeigt, wie wichtig dieses Thema ist und wie wenig bisher
passiert ist.

Die Anforderungen an die Barrierefreiheit bzw. – so
muss man vorsichtig sagen – Barrierearmut sind nicht
nur bei Mobilitäts- und Unterkunftsfragen wichtig.
Diese Anforderungen gelten vielmehr für alle Dienstleis-
tungen des Tourismusbereiches. Dazu gehören: unkom-
plizierter Gepäcktransport sowie lesbare, leicht ver-
ständliche und auch hörbare Reiseinformationen, was






(A) (C)



(B) (D)


Bettina Herlitzius
heute auf den Bahnsteigen nicht selbstverständlich ist.
Es muss eine komplette Reisekette von Tür zu Tür ge-
ben, die für jeden nutzbar ist.

Barrierefreiheit und Servicebereitschaft sind zu-
kunftsfähige Qualitäts- und Komfortmerkmale. Deutsch-
land könnte hier – wie auch in einigen anderen
Bereichen – Vorbild sein. Das wäre ein entscheidender
Wirtschaftsfaktor. Hier ist noch viel zu tun. Über eines
müssen wir uns im Klaren sein: Der demografische
Wandel der Gesellschaft ist kein deutsches, sondern ein
europäisches Problem.

Wir nehmen den Tourismuspolitischen Bericht der
Bundesregierung zur Kenntnis, aber wir legen ihn nicht
zu den Akten. Er ist ein guter Bauplan, weil er alle im
Zusammenhang mit dem Tourismus wichtigen Themen
enthält. Wir werden hier aber noch ganz stark politisch
nacharbeiten müssen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1617933100

Nächste Rednerin ist die Kollegin Brunhilde Irber,

SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)



Brunhilde Irber (SPD):
Rede ID: ID1617933200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Heute stimmen wir über die beiden Koali-
tionsanträge „Messen und Geschäftsreisen als Chance
für den Tourismusstandort Deutschland“ und „Chancen
des demographischen Wandels im Tourismus nutzen“
ab. Ich möchte dazu Stellung nehmen.

Ich kann die Bedeutung von Messen und Geschäfts-
reisen gar nicht oft genug betonen. 2006 wurden in
Deutschland fast 160 Millionen Geschäftsreisen unter-
nommen und dabei annähernd 50 Milliarden Euro umge-
setzt. Geschäftsreisende geben mit 148 Euro pro Tag
doppelt so viel Geld aus wie reine Urlaubsgäste.


(Ute Kumpf [SPD]: Es ist nur die Frage, wofür!)

Als Messestandort macht Deutschland international

eine glänzende Figur. In Europa sind wir die Nummer
eins für Messen und Tagungen und weltweit hinter den
USA die Nummer zwei. Deshalb würde gerade Ge-
schäftsreisenden die Umsetzung des Single European
Sky zur effizienten Abwicklung des europäischen Luft-
verkehrs besonders zugutekommen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Um Geschäftsreisen weiter anzukurbeln, fordern wir
auch die stärkere Ausrichtung auf die Auslandswerbung
der Deutschen Zentrale für Tourismus.

Bei Geschäftsreisen geht es um den Wachstumsmotor
unserer Tourismuswirtschaft. Bei allem Verständnis für
notwendige Sicherheitsbelange können wir uns langwie-
rige und bürokratische Visaverfahren bei der Einreise für
Messe- und Kongressbesucher nicht leisten.


(Beifall bei der SPD)

Das schadet uns, und deshalb brauchen wir eine effizien-
tere Bearbeitung der Antragsverfahren.

Deutschlandweit ist heute jeder dritte Hotelgast Ta-
gungs- oder Kongressteilnehmer. Um in diesem Markt
professionelle Dienstleistungen zu erbringen, brauchen
wir gut ausgebildete und qualifizierte Mitarbeiter. Des-
halb appellieren wir an die Länder, in die Ausbildungs-
pläne von Berufs-, Fach- und Hochschulen für Touristi-
ker den Schwerpunkt „Geschäftsreisemanagement“
aufzunehmen und die Förderung von Fremdsprachen-
kenntnissen sowie von interkulturellem Verständnis vo-
ranzutreiben.

Für Unternehmen sind Geschäftsreisen aber nicht nur
eine wirtschaftliche Notwendigkeit, sondern auch ein
Kostenfaktor. Laut VDR halten viele Unternehmen da-
her vermehrt Video- und Telefonkonferenzen ab. Insbe-
sondere durch ein verbessertes Reisemanagement und
den Abbau bürokratischer Hemmnisse im Bereich Statis-
tik-, Nachweis-, Dokumentations- und Buchführungs-
pflichten könnten die Kosten für Geschäftsreisen – ge-
rade angesichts steigender Energie- und Reisekosten –
erheblich vermindert werden.


(Beifall bei der SPD)


Besonders für kleine und mittlere Unternehmen, de-
ren durchschnittliche Ausgaben pro Geschäftsreise um
über 20 Prozent gestiegen sind, wären Verbesserungen
im Reisemanagement eine wichtige Hilfe. Die Schaffung
effektiver Rahmenbedingungen für Geschäftsreisen ist
echte Mittelstandsförderung.

Dieser Antrag ist ein Schritt in die richtige Richtung,
auch wenn einige meiner Vorschläge nicht realisierbar
waren. Weiter gehenden Handlungsbedarf sehe ich unter
anderem im zu komplizierten Steuersystem für Ge-
schäftsreisen und in den exzessiven Aufbewahrungsfris-
ten für Reisekostenabrechnungen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu einer effektiven
Infrastruktur für Geschäftsreisen gehören auch mehr-
sprachige Hinweistafeln an den großen Messestandor-
ten. Wir fordern auch, beim Bau der Verkehrswege auf
vernünftige Umsteigezeiten zu achten. Insbesondere
wollen wir von der Deutschen Bahn AG und anderen
Verkehrsanbietern einen barrierefreien Zugang zu den
Bahnhöfen und Verkehrsmitteln, und das nicht nur für
mobilitätseingeschränkte und ältere Menschen, sondern
für alle, denen Barrierefreiheit einen besonderen Gewinn
bringt. Es ist ein Zugewinn an Komfort für alle.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])


Weil wir wissen, dass die Barrierefreiheit ein touristi-
sches Qualitätsmerkmal ist, arbeiten wir mit unserem
Koalitionspartner an einem eigenen Antrag, den wir in
Kürze vorlegen werden. Deshalb sind die Anträge der
Linken und der Grünen obsolet.


(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da können Sie abschreiben!)


Der Reisemarkt für Ältere ist das Zukunftssegment
der Tourismusbranche schlechthin; das hat auch der






(A) (C)



(B) (D)


Brunhilde Irber
TAB-Bericht „Zukunftstrends im Tourismus“ gezeigt.
Die Alterung unserer Gesellschaft mit einem Senioren-
anteil von heute 25 Prozent und im Jahre 2050 sogar
37 Prozent bietet der Tourismuswirtschaft die Möglich-
keit, das Potenzial des Seniorentourismus auszuschöp-
fen. Denn Seniorinnen und Senioren sind eine finanz-
starke und aktive Zielgruppe, und bis 2035 werden sie
mindestens 6 Prozent mehr für Reisen ausgeben.

Deshalb schlage ich vor, dass wir die Forderungen
unseres Antrages „Chancen des demographischen Wan-
dels im Tourismus nutzen“ umsetzen und dass die Bun-
desregierung das Ihre dazu tut. Ich bitte Sie deshalb, un-
serem Antrag zuzustimmen.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1617933300

Das war ein vorzüglicher Schlusssatz, Frau Kollegin

Irber.


(Heiterkeit)



Brunhilde Irber (SPD):
Rede ID: ID1617933400

Ich weiß, Herr Präsident. Einen Satz hätte ich aber

gerne noch gesagt, wenn ich darf.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1617933500

Der wird aber nicht besser; ich sage es Ihnen vorher.


(Heiterkeit)



Brunhilde Irber (SPD):
Rede ID: ID1617933600

Ich glaube, schon. – Wir warten auf die tourismus-

politischen Leitlinien. Herr Tourismusbeauftragter, ich
möchte Ihnen ein Satz mitgeben: Verantwortlich ist man
nicht nur für das, was man tut, sondern auch für das, was
man nicht tut. Deshalb bitte ich, die Leitlinien auch ent-
sprechend auszustatten.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1617933700

Ich fürchte, ich habe mit meiner Prognose recht be-

halten.


(Heiterkeit)


Nun hat die Kollegin Uda Heller das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Uda Heller (CDU):
Rede ID: ID1617933800

Sehr verehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr

Tourismusbeauftragter! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Vor zwei Stunden wurde in der Landesvertretung
von Sachsen-Anhalt die Luther-Dekade vorgestellt. Das
Interesse von Presse und Gästen war groß. Mein Heimat-
land Sachsen-Anhalt ist ein geschichtsträchtiges Land,
welches deutsche und europäische Geschichte vereint.
Allein vier UNESCO-Weltkulturerbestätten, die Straße
der Romanik, Leben und Wirken von Kaiser Otto I. und
die Himmelsscheibe von Nebra zeugen von Fülle und
Vielfalt der Kulturhistorie. Die Wiege und das Sterbebett
von Martin Luther befinden sich in meinem Wahlkreis,
in der Lutherstadt Eisleben. Mit dem Reformationsjubi-
läum rücken nun aber auch die zahlreichen Wirkungs-
stätten Luthers in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thürin-
gen in den Fokus der Öffentlichkeit. Wir müssen es
schaffen, sie zu vernetzen und gemeinsam zu vermark-
ten.

Am vergangenen Sonntag hatte ich die Ehre, an der
feierlichen Eröffnung der Luther-Dekade in Wittenberg
teilzunehmen. In einem deutsch-englischen Festgottes-
dienst und bei einer Festveranstaltung erinnerten Vertre-
ter von Kirche, Politik und Kultur an die Verdienste des
Reformators.

Große Ereignisse müssen einen Anfang nehmen, um
ihren programmierten Erfolg erreichen zu können. Die
langfristige Vorbereitung des Jubiläums bietet Gelegen-
heit, sich mit Martin Luther tatsächlich und neu ausein-
anderzusetzen. Über einen Zeitraum von fast zehn Jah-
ren hinweg werden wir uns auf vielfältige Art und Weise
mit seinem Leben und Wirken beschäftigen. Der Höhe-
und Endpunkt der Luther-Dekade wird am 31. Oktober
2017 mit dem 500. Jahrestag des Anschlages jener
95 Leitsätze gegen den Ablass erreicht sein.

Wir sind eingeladen zum Mitreden, Mitwirken und
Mitgestalten. Kirche, Wissenschaft, Musik, Literatur
und Kunst nähern sich diesem außergewöhnlichen Da-
tum mit Tagungen, Podiumsdiskussionen, Lesungen,
Konzerten und Ausstellungen. Der Luther-Weg lässt uns
auf den historischen Spuren Luthers wandeln und bringt
uns gleichzeitig die Schönheiten des Landes näher. Eine
offizielle Jubiläums-Website gibt einen aktuellen Über-
blick über diverse Aktivitäten.

Wir alle können stolz darauf sein, eine derart faszinie-
rende Persönlichkeit wie Martin Luther ehren zu kön-
nen. Seine Botschaften haben die Welt verändert.
Deshalb lautet der Titel unseres Antrages „Reforma-
tionsjubiläum 2017 als welthistorisches Ereignis würdi-
gen“. Wir wollen sowohl das kirchliche als auch das
staatliche Interesse an diesem Jubiläum in Einklang brin-
gen. Hierzu bedarf es einer Gemeinschaftlichkeit bei den
Vorbereitungen.

Als Tourismuspolitiker erkennen wir natürlich das
große Potenzial religiös motivierter Besucher, für die es
ein großes persönliches Bedürfnis ist, während der De-
kade zu den Wirkungsstätten Martin Luthers in Mittel-
deutschland zu reisen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Hält man sich vor Augen, dass es weltweit 400 Millio-
nen Protestanten gibt, wird einem diese Dimension deut-
lich. Insbesondere mit vielen Gästen aus den USA ist zu
rechnen. Das ist also eine einmalige Chance für den Tou-
rismus, die es zu nutzen gilt.

Es stellt eine weitere Herausforderung dar, all diese
Aktivitäten zu koordinieren und zu vermarkten, und das
über fast zehn Jahre hinweg. Ich denke, diese Vorberei-






(A) (C)



(B) (D)


Uda Carmen Freia Heller
tungszeit ist einmalig. So viel Zeit hatten wir noch nie
zur Vorbereitung eines Jubiläums. Unterstützt werden all
diese Initiativen durch einheitliches Marketing und
durch eine von allen Akteuren gemeinsam entwickelte
Wort-Bild-Marke. Ein solches Ereignis hat es, wie ich
schon sagte, in Deutschland in dieser Form noch nicht
gegeben. Deswegen rufe ich alle Parteien auf, mit dafür
zu sorgen, dass das ein Erfolg wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Allein Sachsen-Anhalt investiert in die Luther-De-
kade und das eigentliche Reformationsjubiläum einen
zweistelligen Millionenbetrag, welcher in Denkmal-
schutzmaßnahmen, Infrastrukturprojekte, Marketing-
aktivitäten und die Koordinierungstätigkeit des eigens
dafür gegründeten Lenkungsausschusses fließt. Diese
außerordentlichen finanziellen Belastungen können we-
der Sachsen-Anhalt noch Thüringen noch Sachsen ohne
die Unterstützung durch die Bundesregierung schultern.

Vor diesem Hintergrund haben die Koalitionsfraktio-
nen den vorliegenden gemeinsamen Antrag in den Deut-
schen Bundestag eingebracht, in welchem die Bundes-
regierung aufgefordert wird, zur Würdigung dieses
Jubiläums und zum Nutzen der damit verbundenen
Chancen beizutragen. Die Bundesregierung soll vor al-
lem im Rahmen bestehender Programme in involvierten
Bundesländern und Kommunen diese bei Investitionen
und Infrastrukturverbesserungen unterstützen. Dazu
möchte auch ich noch einmal aufrufen.

Ich sehe, dass der Herr Präsident mich mahnt. Des-
halb will ich zum Ende meiner Rede kommen.

Schließen möchte ich mit einem verblüffend zeitge-
mäßen Zitat von Martin Luther, welches der Minister-
präsident von Sachsen-Anhalt, Professor Böhmer, auf
der Festveranstaltung vorgetragen hat:

Dem Volk aufs Maul schauen, ihm aber nicht nach
dem Mund reden. Nahe bei den Menschen sein, ihre
Sprache sprechen und ihre Denkweise verstehen.
Volkstümlich zu sein, ohne jemals opportunistisch
zu werden. Tun, was man sagt, und sagen, was man
tut.

Diese Grundsätze Martin Luthers sollten für uns alle
gelten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1617933900

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der

Kollege Engelbert Wistuba, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Engelbert Wistuba (SPD):
Rede ID: ID1617934000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Die am vergangenen Sonntag in Wittenberg eingeläutete
Lutherdekade und das Reformationsjubiläum im Jahr
2017 sind aus touristischer Sicht ein Glücksfall für
Deutschland. Wir haben dabei nicht nur das von der
Deutschen Zentrale für Tourismus identifizierte touristi-
sche Potenzial der weltweit 400 Millionen Protestanten
im Blick, von denen mehr als 70 Millionen Lutheraner
sind. Das Reformationsjubiläum ist aufgrund seiner reli-
giösen, aber eben auch kulturhistorischen Bedeutung
von hohem internationalen Interesse.

Zehn Jahre lang wird es in Deutschland zahllose Ver-
anstaltungen geben: wissenschaftliche, kirchliche und
kulturelle. Im Fokus stehen die Lutherstädte Wittenberg
und Eisleben mit den Luther-Gedenkstätten und sicher-
lich auch die Wartburg in Thüringen. Das alles sind im
Übrigen UNESCO-Weltkulturerbestätten. Aber auch alle
anderen Städte mit Lutherbezug wie Augsburg, Coburg,
Marburg, Nürnberg, Worms, Erfurt, Torgau und nicht
zuletzt auch Zerbst – um nur einige zu nennen – werden
spürbar touristischen Zulauf erhalten.

Damit kann Deutschland als Kulturdestination seine
gute Positionierung auf dem touristischen Markt aus-
bauen und verbessern. Diese Chance, die man durchaus
mit den Hoffnungen und Wünschen im Vorfeld der Fuß-
ballweltmeisterschaft vergleichen kann, darf nicht vertan
werden. Das heißt, wir müssen auch etwas dafür tun, da-
mit es einmal mehr heißen kann: Die Welt zu Gast bei
Freunden – diesmal allerdings für einen Zeitraum von
zehn Jahren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Mit der DZT haben wir einen starken Partner. Das in-
ternationale Marketing läuft bereits auf Hochtouren. Die
Goethe-Institute vermitteln ein umfassendes Deutsch-
landbild durch Informationen über das kulturelle, gesell-
schaftliche und politische Leben. Die Reformation als
prägendes kulturhistorisches Ereignis ist deshalb ideal
geeignet, um in den deutschen Kulturinstituten mit Aus-
stellungen, sonstigen Veranstaltungen und mit der einen
oder anderen informativen Broschüre auf die Luther-
Dekade und das Reformationsjubiläum aufmerksam zu
machen. Ich bin überzeugt, dass unser Außenminister
das genauso sieht.

Unsere Forderung, die Aus- und Weiterbildung im
Tourismus verstärkt voranzutreiben, ist nicht neu; das
stimmt. Aber gerade am Beispiel solcher Großereignisse
mit ganz besonderen Anforderungen an Servicequalität,
Fremdsprachenkenntnisse und eben auch Geschichts-
kenntnisse


(Ute Kumpf [SPD]: Bibelfestigkeit!)


sieht man, dass es nur heißen kann: Nicht kleckern, son-
dern klotzen. Denn die Investition in Köpfe zahlt sich
schließlich wirtschaftlich aus. Wenn das Büro für Tech-
nikfolgenabschätzung den Tourismus als Leitökonomie
im 21. Jahrhundert bezeichnet, dann sollte es diesbezüg-
lich keine kontroversen Diskussionen geben.

Bei der Vorbereitung solcher Großereignisse spielt
ohne Zweifel die Barrierefreiheit eine große Rolle. Wir
haben in Deutschland sicherlich schon vieles umgesetzt,
aber das Thema bleibt eine Dauerbaustelle. Die Ent-
wicklung und Umsetzung von barrierefreien touristi-
schen Angeboten sind auch im Hinblick auf den demo-
grafischen Wandel ein Gebot der Stunde. Ich meine, wir
sollten unsere Bemühungen in dieser Hinsicht erheblich
verstärken.






(A) (C)



(B) (D)


Engelbert Wistuba

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Es gibt kein Großereignis ohne infrastrukturelle Er-
fordernisse. Mir ist klar, dass zum Beispiel verkehrstech-
nische Verbesserungen auf der einen Seite und die bauli-
che Sanierung zentraler Stätten, Gedenkorte und Kirchen
der Reformation auf der anderen Seite richtig viel Geld
kosten.

Trotzdem sage ich: Wir müssen alles dafür tun, unsere
kulturellen Leuchttürme zu erhalten und die Substanz zu
verbessern. Im Rahmen der Kultur- und Denkmalförde-
rung, etwa der Kulturstiftung des Bundes und der Städte-
bauförderung, wird schon einiges geleistet. Es wird in
diesem Zusammenhang gern vom „Fass ohne Boden“
gesprochen, vielleicht um allzu große Begehrlichkeiten
im Keim zu ersticken. Unsere Kulturgüter sind Teil un-
serer Identität; deshalb sollten wir die Anstrengungen
noch einmal forcieren und bereits bestehende Pro-
gramme ausbauen.

Vor zehn Jahren wurde erstmals das Amt des Kultur-
staatsministers besetzt. Kanzler Schröder berief seiner-
zeit Michael Naumann für diese wichtige Aufgabe. Seit-
her hat sich in der deutschen Kulturpolitik vieles positiv
entwickelt. Ich gehe davon aus, dass Staatsminister
Neumann mit uns an einem Strang zieht.

Die aktuelle Woche des bürgerschaftlichen Engage-
ments nehme ich zum Anlass, all den ehrenamtlichen
Helfern zu danken, die ihre Freizeit und mitunter auch
ihre finanziellen Ressourcen einsetzen, um unsere Kul-
turdenkmäler offenzuhalten und zu pflegen. Lassen Sie
uns die Chancen nutzen, die sich in den kommenden
zehn Jahren bieten. Lassen Sie uns getreu dem Luther-
Spruch „Wer eine Stunde versäumt, der versäumt auch
wohl einen Tag“ alle gemeinsam an die Arbeit gehen.
Ich bin sicher: Es lohnt sich.

Ich habe mich beeilt. Ich hatte nur vier Minuten.

Danke für das Verständnis.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1617934100

Zu den vier Minuten, die Sie hatten, hat Ihnen der

wieder einmal sehr großzügige Präsident weitere
45 Sekunden als Zugabe gewährt.

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des
Ausschusses für Tourismus zum Tourismuspolitischen
Bericht der Bundesregierung und zum Entschließungs-
antrag der Fraktion der FDP zu dem genannten Bericht.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/10187, in Kenntnis des Touris-
muspolitischen Berichts auf Drucksache 16/8000 den
Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Druck-
sache 16/8194 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich der Stimme? – Damit ist die Beschlussemp-
fehlung mit Mehrheit angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 16/10380 zum Tourismuspolitischen Bericht der
Bundesregierung. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Entschließungsantrag ist mehrheitlich abge-
lehnt.

Tagesordnungspunkt 11 b. Hier geht es um die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus zum
Antrag der Fraktionen CDU/CSU und SPD mit dem Ti-
tel „Messen und Geschäftsreisen als Chance für den
Tourismusstandort Deutschland“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/9255, den Antrag der Fraktionen CDU/CSU
und SPD auf Drucksache 16/5958 anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Stimmt je-
mand dagegen? – Enthält sich jemand der Stimme? –
Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der
Koalition mehrheitlich angenommen.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 11 c. Hier
geht es um eine weitere Beschlussempfehlung des Aus-
schusses, und zwar auf Drucksache 16/10073. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen
CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/8777 mit dem
Titel „Chancen des demographischen Wandels im Tou-
rismus nutzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der
Stimme? – Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit
angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 16/9315 mit dem Titel „Barrierefreiheit
und demografischer Wandel – Auf die Herausforderun-
gen für den Tourismus reagieren“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit Mehr-
heit angenommen.

Bei den Tagesordnungspunkten 11 d bis 11 f wird in-
terfraktionell die Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 16/9830, 16/10320 und 16/10317 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Gibt es dazu Einvernehmen? – Das immerhin ist der
Fall. Dann können wir diesen Tagesordnungspunkt in
großem Einvernehmen durch einen gemeinsamen Be-
schluss zum Abschluss bringen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 a auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy
Montag, Volker Beck (Köln), Monika Lazar,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines … Strafrechtsänderungsgeset-
zes – Bestechung und Bestechlichkeit von Ab-
geordneten – (… StrÄndG)


– Drucksache 16/6726 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Innenausschuss






(A) (C)



(B) (D)


Präsident Dr. Norbert Lammert
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Hans-Christian Ströbele für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu
später Stunde geht es um uns, die Bundestagsabgeordne-
ten, zumindest unter anderem. Es geht darum, dieses
Parlament von einem Makel zu befreien.


(Jörg van Essen [FDP]: Höher kann man es kaum aufhängen!)


Seit dem Jahre 1999 sind wir durch das Korruptionsab-
kommen des Europarates und seit dem Jahre 2003 durch
das UNO-Übereinkommen gegen Korruption aufgefor-
dert, im Gesetz endlich eine umfassende Regelung zur
Strafbarkeit der Korruption und Bestechung von Abge-
ordneten zu treffen. Dieser Aufforderung sind wir nicht
nachgekommen, obwohl die Bundesregierung beide Ab-
kommen mit formuliert, unterstützt und unterschrieben
hat.


(Jörg van Essen [FDP]: Gegen den Willen aller Fraktionen!)


Der Bundesgerichtshof, ein hohes deutsches Gericht,


(Joachim Stünker [SPD]: In der Tat ein hohes deutsches Gericht!)


hat den Gesetzgeber, den Deutschen Bundestag, im
Mai 2006 aufgefordert, hinsichtlich der Strafbarkeit eine
Lücke zu schließen.


(Joachim Stünker [SPD]: Aber nicht für Abgeordnete!)


Auch dieser Aufforderung sind wir nicht nachgekom-
men. Nach derzeitiger Gesetzeslage ist in Deutschland
zwar die Bestechung ausländischer Abgeordneter straf-
bar, nicht aber die Bestechung deutscher Abgeordneter,
es sei denn, es geht um Stimmenkauf. Das ist ein Makel.
Das ist sogar ein ganz gravierender Makel, da wir von
Ländern auf der ganzen Welt, vor allen Dingen von Län-
dern des Südens, verlangen, Good Governance zu prakti-
zieren,


(Zuruf von der FDP: Bayern! – Heiterkeit)


etwas gegen Korruption zu tun und an der Spitze von
Staat und Gesellschaft verlässliche und klare Regelun-
gen zur Strafbarkeit von Korruption einzuführen, das
selbst aber nicht tun, sondern meinen, das nicht nötig zu
haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das können wir nicht länger hinnehmen.

Wie ich weiß, haben sich viele von Ihnen schon über
dieses Thema unterhalten. Offensichtlich hat die Koali-
tion es bisher aber nicht geschafft, auch nicht mithilfe
der Bundesregierung und nicht durch Beratung des Bun-
desjustizministeriums, einen entsprechenden Gesetzent-
wurf zu erarbeiten. Deshalb legt heute die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen einen solchen Gesetzentwurf
vor. Dieser Gesetzentwurf ist maßvoll und gut durch-
dacht.


(Lachen des Abg. Dr. Jürgen Gehb [CDU/ CSU])


In ihm werden alle Bedenken berücksichtigt, die gegen
eine solche gesetzliche Regelung vorgebracht werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Nach zehn Jahren muss das ja wohl auch so sein, Herr Ströbele! Nach zehn Jahren, in denen ihr nichts gemacht habt, muss er gehaltvoll sein!)


In diesem Gesetzentwurf ist geregelt, dass Abgeord-
nete in Deutschland oder Mitglieder anderer Volksver-
tretungen in Bund, Ländern und Gemeinden dann zu be-
strafen sind, wenn sie einen rechtswidrigen Vorteil als
Gegenleistung dafür fordern, sich versprechen lassen
oder gar annehmen, dass sie in Ausübung ihres Mandats
in der Volksvertretung oder im Gesetzgebungsorgan eine
Handlung zur Vertretung oder Durchsetzung der Interes-
sen des Leistenden oder eines Dritten vornehmen.


(Joachim Stünker [SPD]: Aha! Wer hat das jetzt verstanden?)


Die Frage, was unter „rechtswidrig“ zu verstehen ist,
regeln wir in Art. 1 Abs. 3 des Gesetzentwurfes. Dort
heißt es:

Ein rechtswidriger Vorteil liegt vor, wenn seine
Verknüpfung mit der Gegenleistung als verwerflich
anzusehen ist.


(Jörg van Essen [FDP]: Das ist ja wirklich eine sehr „klare“ Regelung! Kompliment!)


Das ist eine Regelung, die dem Strafgesetzbuch nicht
fremd ist. Wir haben sie aus § 240 des Strafgesetzbu-
ches, dem Nötigungsparagrafen, übernommen.

Mit dieser sehr engen Regelung – es gibt auch andere
Vorschläge, die viel weiter gehende Regelungen beinhal-
ten – tragen wir allen Bedenken Rechnung. Eines der
Bedenken, dem wir Rechnung tragen, ist, dass Abgeord-
nete in Zukunft zum Beispiel Probleme haben könnten,
Spenden für ihre Partei zu akquirieren, da sie sich bei
diesem Versuch in den Bereich der Strafbarkeit begeben
könnten. Wir tragen auch dem Bedenken Rechnung,
dass Abgeordnete in ihrer Kariere, zum Beispiel bei ih-
rer Wahlaufstellung, dadurch behindert werden könnten,
dass zunächst ein Ermittlungsverfahren gegen sie einge-
leitet wird, das ihren Ruf ruiniert, aber später sang- und
klanglos eingestellt wird. Das sind ja die Bedenken, die
dort immer vorgebracht werden.

Dazu kann ich nur sagen: Abgeordnete sind auch
keine besseren Menschen. Auch bei Abgeordneten kann
es immer welche geben, die sich bestechen lassen. Dass
auch Abgeordnete nebenher erhebliche Geldbeträge be-
ziehen – manchmal ist es völlig unerklärlich, für was –,






(A) (C)



(B) (D)


Hans-Christian Ströbele
hat es in der Vergangenheit, auch in der nahen Vergan-
genheit, gegeben. Deshalb sagen wir, dass wie für Amts-
träger auch für Abgeordnete eine solche gesetzliche Re-
gelung – nicht die gleiche, aber eine ähnliche – ins
Gesetzbuch aufgenommen werden muss.

Wir möchten diesem Deutschen Bundestag auf die
Sprünge helfen und haben einen Vorschlag vorgelegt,
damit hier im Plenum des Deutschen Bundestages end-
lich offen darüber gesprochen wird, damit die Auffas-
sungen gegenübergestellt werden und damit wir zu ei-
nem vernünftigen Gesetz kommen.

Wir haben den Vorschlag vorgelegt, Sie brauchen nur
zuzustimmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1617934200

Siegfried Kauder von der CDU/CSU-Fraktion ist der

nächste Redner.

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
CSU):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wenn dieser Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen
Gesetz würde,


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wird!)


dann hätten 612 Abgeordnete des Deutschen Bundesta-
ges die beste Chance, Versuchskaninchen in einem Er-
mittlungsverfahren zu werden.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welch schlechte Meinung von Staatsanwälten Sie haben!)


Staatsanwälte und Richter würden das politische Han-
deln sezieren und selektieren, weil der vorgelegte
Straftatbestand mit normativen Elementen viel zu weit
und ungewiss gefasst ist.


(Joachim Stünker [SPD]: Das stimmt!)


Wir reden aber nicht nur über 612 Abgeordnete des
Deutschen Bundestages, sondern auch über Tausende
von Landtagsabgeordneten und Abgeordneten des Euro-
päischen Parlaments und über Zigtausende ehrenamtlich
tätige Mitglieder in Gemeinderäten und Kreistagen.


(Joachim Stünker [SPD]: Richtig!)


Wir reden also nicht nur über uns, sondern wir haben ei-
nen Gesetzentwurf zu beraten, bei dem es auch um an-
dere geht.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist das manchmal!)


Was sind Vorteilsannahme und Bestechlichkeit? Ein
Beamter, ein Richter oder ein sonst im öffentlichen
Dienst Tätiger wird verurteilt, wenn er für eine Dienst-
handlung einen Vorteil annimmt. Auch wir als Abgeord-
nete nehmen öffentliche Ämter wahr. Ich fühle mich
aber nicht als Beamter, nicht als Richter und nicht als
sonst im öffentlichen Dienst Tätiger. Wir sind freie Ab-
geordnete und nicht weisungsgebunden, sondern nur un-
serem Gewissen verantwortlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hoffentlich!)


Darin unterscheiden wir uns deutlich von Beamten.

Was bei einem Politiker Korruption sein soll, beschäf-
tigt die Rechtsgelehrten schon seit vielen Jahrzehnten.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja kein Grund dafür, nichts zu tun!)


Im Jahre 1871, dem Jahr der Reichsgründung, hat man
sich mit diesem Thema befasst.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU], an Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] gewandt: Hör gut zu! – Gegenruf des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich höre genau zu!)


Aus gutem Grund hatte man sich auf ein Minimalpro-
gramm beschränkt. Die Wahlfälschung und der Stim-
menkauf für Wahlen zu den Volksvertretungen wurden
strafbar.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist erst seit 1994 so!)


Die Diskussion unter den Rechtsgelehrten war virulent
und hielt lange Zeit an, letztendlich hatte sich aber nichts
geändert. Man lebte damit.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wurde kein einziges Mal angewendet!)


In der ersten Legislaturperiode des Deutschen Bun-
destages hat man dieses Thema wieder aufgegriffen. Es
gab einen Schritt zurück; denn im Jahre 1927 hatte das
Reichsgericht den Straftatbestand ausgeweitet – abge-
druckt im 62. Band auf Seite 6 –


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Folgende! – Joachim Stünker [SPD]: Zeile 5!)


und das Gesetz dahin gehend ausgelegt, dass sich ein
Abgeordneter auch strafbar machen kann, wenn er seine
Stimme bei Abstimmungen in der Volksvertretung kau-
fen lässt.

Darüber debattierten die Abgeordneten im Jahre
1953. Sie werden nicht überrascht sein, dass sie zu kei-
nem Ergebnis kamen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum wohl nicht? – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dabei waren Sie damals noch gar nicht dabei!)







(A) (C)



(B) (D)


Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen)

Deshalb ergab sich daraus wiederum ein Schritt zurück:
nur noch der Stimmenkauf bei Wahlen zu Volksvertre-
tungen war strafbar. Daran änderte sich bis zum
Jahre 1994 nichts.

Die Rechtsgelehrten machten sich aber Gedanken
darüber, wie man das Thema Korruption bei Parlamenta-
riern in den Griff bekommen könnte. Von 1957 bis 1960
tagte die Große Strafrechtskommission – zugegebener-
maßen in Abständen. Die Crème de la Crème des deut-
schen Strafrechts erhitzte sich über die Frage, was für
den Parlamentarier strafbar sein soll. Ich empfehle je-
dem, die Protokolle nachzulesen. Sie sind im 13. Band
der Niederschriften über die Sitzungen der Großen Straf-
rechtskommission – Besonderer Teil – veröffentlicht.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Seite?)


Es ist mir im Gedächtnis geblieben, was Professor
Bockelmann zu der beabsichtigten Gesetzgebung ausge-
führt hat. Wenn der Gesetzgeber einen Straftatbestand
mit normativen Elementen – also mit wertausfüllenden
Elementen – schmückt, sagt er eigentlich nichts. Das ist
das Problem und die Krux des Gesetzentwurfs von
Bündnis 90/Die Grünen. Dieser Gesetzentwurf lässt
mehr Fragen offen, als er klärt.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1617934300

Herr Kollege Kauder, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Ströbele?


(Joachim Stünker [SPD]: Wollt ihr nicht gleich mit dem Untersuchungsausschuss weitermachen?)


Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
CSU):

Aber gerne doch.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Kauder, haben Sie eine Erklärung dafür,
warum wir von 120 Staaten der Welt verlangen – über-
wiegend ist das schon umgesetzt worden –, dass sie die
Tätigkeit von Abgeordneten auch im Strafgesetzbuch re-
geln, obwohl es in den meisten Ländern inzwischen
strafbar ist, wenn sich Abgeordnete bestechen lassen,
und warum das ausgerechnet in Deutschland nicht mög-
lich sein soll?

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
CSU):

Herr Kollege Ströbele, ich will Ihnen erklären, warum
es gerade mit dem Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die
Grünen nicht möglich ist.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist denn Ihr Vorschlag?)


Damit darf ich weiter fortfahren.


(Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

– Sie haben doch die Antwort bekommen. Sie können
wieder Platz nehmen.

Die Diskussion war sehr intensiv. Dabei fiel eines auf.
Die Rechtsgelehrten kamen zu dem Ergebnis, dass sie zu
wenig Ahnung von politischem Handeln hätten und sich
daher in dieses Thema nicht einfinden könnten. Die Dis-
kussion war zwar von vielen rechtlichen Argumenten
gespickt; sie enthielt aber fast kein Beispiel. Das habe
ich in Ihrer Rede vermisst, Herr Kollege Ströbele.

Welches politische Handeln soll über den bereits exis-
tierenden Straftatbestand des § 108 e StGB hinaus strafbar
werden? Eines kam deutlich zum Ausdruck: Die Verwerf-
lichkeitsklausel, die Sie dem § 240 des Strafgesetzbuches
entnommen haben, ist für politisches Handeln und parla-
mentarische Arbeit nicht geeignet. Wir müssen uns also
andere Lösungsansätze überlegen.

Es gibt Literatur dazu, die ich ebenfalls empfehlen
kann. Regina Michalke hat sich in der Festschrift für
Rainer Hamm aus dem Jahr 2008 mit der Verwerflich-
keitsklausel befasst. Wie wollen Sie es regeln? Nimmt
ein Politiker einen Vorteil für seine Handlung im Deut-
schen Bundestag an, soll das strafbar sein, wenn Mittel-
und Zweckrelationen zwischen Vorteil und Handeln ver-
werflich sind.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es nicht!)


Verwerflichkeit ist ein normativer Begriff, und in der
Rechtssprache wird er durch einen anderen, genauso un-
verständlichen Begriff ersetzt. Verwerflichkeit ist durch
ein besonders hohes Maß an sittlicher Missbilligung de-
finiert. Jetzt wissen wir es.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist bei der Gesetzgebung doch auch so!)


Es stimmt, was Professor Bockelmann gesagt hat: Wenn
ein Gesetzgeber normative Begriffe verwendet, dann
sagt er letztendlich gar nichts. Nun werden Sie einwen-
den, dass es bei § 240 des Strafgesetzbuches, dem Nöti-
gungsstraftatbestand, auch möglich ist.

Ich beziehe mich noch einmal auf Regina Michalke in
der Festschrift für Rainer Hamm aus dem Jahr 2008: Der
§ 240 Strafgesetzbuch ist völlig anders strukturiert, als
der Straftatbestand des § 108 e des Strafgesetzbuches,
sprich Abgeordnetenbestechung.


(Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!)


In § 240 Abs. 2 – dem Nötigungsstraftatbestand – sind
die Nötigungsmittel genau definiert. Das können Sie
hinsichtlich der Abgeordnetenbestechung nicht eins zu
eins übernehmen.

Sie sehen, dass Ihr Projekt nur scheitern kann. Wir
brauchen keine normativen, sondern deskriptive Straftat-
bestandsmerkmale. Wir müssen dem Abgeordneten in
den Kommunalparlamenten genau sagen, was er tun darf
und was nicht.

Wir könnten eigentlich aus dem Leben lernen. Es gibt
einen Bereich, in dem wir Menschen ins Messer laufen






(A) (C)



(B) (D)


Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen)

ließen, weil wir eine Gesetzeslücke nicht geschlossen
haben. Mancher Professor der Medizin hat sich hoch-
schulrechtlich richtig verhalten und Drittmittel einge-
worben, wie es ihm das Hochschulrecht vorschreibt.
Aber statt eines Dankeschöns hat er ein Strafverfahren
wegen Vorteilsannahme bekommen. Diese Professoren
wurden in erster Instanz zu Freiheitsstrafen verurteilt
und mussten sich ihr Recht vor dem Bundesgerichtshof
erkämpfen. Hier hat der Bundesgerichtshof gesetzgebe-
rische Tätigkeit angemahnt. Wir sind dem nicht nachge-
kommen, obwohl wir es tun könnten.

Setzen wir Parlamentarier nicht als Versuchskanin-
chen einem Ermittlungs- und Strafverfahren aus! Regeln
wir diesen Sachverhalt sinnvoll! Wir werden dazu in den
Ausschusssitzungen Gelegenheit haben. Ich kann Ihnen
schon jetzt sagen: Ihr Modell kann nur scheitern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das war eine Lehrstunde!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1617934400

Der Kollege Jörg van Essen ist der nächste Redner für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)



Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1617934500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

war schon Berichterstatter bei früheren Beratungen über
das Thema Abgeordnetenbestechung. Die Problematik,
die wir damals sehr sorgfältig erörtert haben, besteht un-
verändert fort. Herr Ströbele, mir ist aufgefallen, dass
Sie viele Ausführungen gemacht haben, eines aber gar
nicht angesprochen haben, nämlich die im Grundgesetz
der Bundesrepublik Deutschland verankerte Freiheit des
Mandats. Das im Grundgesetz verankerte Modell des
Abgeordneten ist völlig anders als das des Beamten, des
Amtsträgers, des Richters.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das bezweifelt auch niemand!)


– Warum haben Sie das dann nicht angesprochen? – Da-
raus ergibt sich die Konsequenz, dass Abgeordnete an-
ders behandelt werden müssen als Amtsträger; das ist
ganz selbstverständlich.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Zur Freiheit des Mandats des Abgeordneten gehört,
dass er anders als beispielsweise ein Beamter – ich war
einer –, der objektiv sein muss, völlig einseitig Interes-
sen vertreten darf, beispielsweise die seines Wahlkreises.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Das gehört zur Demokratie. Wir sind Abgeordnete die-
ses Parlaments, um Interessen zu vertreten. Damit haben
wir eine völlig andere Aufgabe als beispielsweise der
Beamte, der bei seinen Entscheidungen keine Interessen
zu vertreten hat, sondern objektiv zu sein hat. Daraus
folgt, dass es außerordentlich schwierig ist, jemandem
vorzuwerfen, dass er sich völlig einseitig für seinen
Wahlkreis einsetzt. Die meisten von uns – ich behaupte:
fast alle – tun dies aus guten Gründen. Wir engagieren
uns dafür, dass die Interessen unserer Wahlkreise oder
der Gruppen, in denen wir beispielsweise als Gewerk-
schaftsvertreter tätig sind, im Deutschen Bundestag ver-
treten sind. Das haben wir zu berücksichtigen.

Mir hat Ihr ständiger Hinweis auf andere Länder
überhaupt nicht gefallen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!)


Zu den Ländern, die die entsprechenden Konventionen
unterzeichnet und umgesetzt haben, gehören unter ande-
rem Italien und China.


(Beifall des Abg. Dirk Manzewski [SPD])


Ich werde permanent von Journalisten gefragt: Warum
Italien und Deutschland nicht? Das Ergebnis kennen wir
alle. Italien hat zwar unterschrieben. Wenn es aber ernst
wird, wird im italienischen Parlament ein Gesetz verab-
schiedet, das den Betroffenen, beispielsweise den Minis-
terpräsidenten, von Strafverfolgung freistellt.


(Beifall des Abg. Dirk Manzewski [SPD])


Hören Sie bitte auf, uns vorzuwerfen, andere seien bes-
ser als wir!


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Abwegig!)


Auch China hat, wie gesagt, unterzeichnet. Daran, dass
dieses Land ein Modell für freie Abgeordnete ist, habe
ich meine Zweifel. Hören Sie also bitte auf, uns das vor-
zuhalten!


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dirk Manzewski [SPD])


Mir gefällt überhaupt nicht, dass es permanent Ten-
denzen Richtung Verbeamtung des Bundestages gibt.
Dafür, dass das aus Ihrer Fraktion kommt, habe ich Ver-
ständnis. Viele haben keinen Berufsabschluss.


(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU)


Dann ist es ganz schön, wenn man als Abgeordneter we-
nigstens eine Verbeamtung hat. Aber ich erinnere an das,
was die Kollegin Meseke, die spätere Präsidentin des
Bundesrechnungshofes, bei einer früheren Debatte ge-
sagt hat: Jeder Schritt in Richtung Verbeamtung der Ab-
geordneten ist schlecht für die Demokratie. – Das wird
die Devise für die FDP-Bundestagsfraktion sein.

Ich warne sehr davor, die Mandatsträger in den Ge-
meindeparlamenten, den Landesparlamenten, im Bun-
destag und im Europaparlament gleichzubehandeln;
denn die Verfassung gibt denjenigen, die Mitglied eines
obersten Verfassungsorgans sind, andere Rechte. Des-
halb müssen wir das bei der Gesetzgebung berücksichti-
gen.

Was ich wie der Kollege Kauder ganz kritisch sehe,
ist der Begriff der Verwerflichkeit. Wenn man an man-
che Zeitungen mit großen Buchstaben denkt, dann
könnte man den Eindruck gewinnen, dass schon die Tä-
tigkeit des Abgeordneten an sich verwerflich ist. Des-
halb wird sehr schnell entsprechend argumentiert wer-






(A) (C)



(B) (D)


Jörg van Essen
den, und was immer wir machen, sehr schnell als
verwerflich angesehen werden. Der Kollege Kauder hat
zu Recht darauf hingewiesen, dass in § 240 StGB, dem
Sie den Begriff entlehnt haben, zusätzliche Festlegungen
im Tatbestand enthalten sind, die das Ganze eingrenzen.
Genau das sehen Sie nicht vor.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich!)


Deshalb ist das, was Sie vorgeschlagen haben, ein völlig
falscher Weg. Er bringt uns nicht voran. Wenn Sie ge-
glaubt haben, dafür bekämen Sie Beifall,


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie werden keinen bekommen! – Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von uns nicht!)


dann muss ich Ihnen sagen: Ich habe in Vorbereitung auf
die Debatte heute Abend einen Artikel in einer wissen-
schaftlichen Zeitschrift gelesen – Kollege Kauder weiß
bestimmt, auf welcher Seite das stand, was ich gelesen
habe; mir ist das leider entfallen –, und darin ist Ihnen
der Vorwurf gemacht worden, dass Ihr Entwurf, den Sie
heute vorlegen, völlig untauglich ist. Also, in der Wis-
senschaft finden Sie keinen Beifall, bei meiner Fraktion
auch nicht, und ich hoffe, bei den anderen Fraktionen im
Deutschen Bundestag ebenfalls nicht.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Gute Rede!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617934600

Das Wort hat der Kollege Joachim Stünker, SPD-

Fraktion.


Joachim Stünker (SPD):
Rede ID: ID1617934700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich habe fast den Eindruck, wir hätten den Gesetzent-
wurf gleich an den Rechtsausschuss überweisen sollen.
Dann hätten wir die Debatte, in der wir die lieben Kolle-
ginnen und Kollegen mit vielen rechtlichen Begriffen zu
später Stunde vielleicht noch langweilen, abkürzen kön-
nen. Der Herr Bundespräsident hat am Dienstag bei der
Eröffnung des Deutschen Juristentages eine, wie ich
meine, sehr gute Rede gehalten. Er hat die Politik er-
mahnt, nicht überzogene Erwartungen zu wecken. Herr
Kollege Ströbele, ich glaube, das gilt auch für dieses
Thema. Wir sollten es etwas tiefer hängen und keine Er-
wartungen wecken, die hinterher nicht erfüllt werden
können.

Wir alle sind uns einig, dass Abgeordnete, also Volks-
vertreter, nicht bestechlich oder korrupt sein dürfen. Wir
alle sind uns auch darin einig, dass die ganz überwie-
gende Zahl der Abgeordneten in den kommunalen Parla-
menten, in den Landtagen, im Bundestag und auch im
Europäischen Parlament genau das nicht sind. Sie sind
nicht korrupt, um es ganz deutlich zu sagen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist auch bei den Beamten so!)

Wenn wir auch davon überzeugt sind, dass sie nicht kor-
rupt sind, so bedarf es trotzdem Regelungen, um mögli-
che Zuwiderhandlungen verfolgen zu können. Schwarze
Schafe gibt es überall im Leben, und so gibt es sie natür-
lich auch unter Abgeordneten.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Um die geht es!)


Über eines sollten wir uns, Herr Kollege Kauder und
Herr Kollege van Essen, auch einig sein, und daran führt
kein Weg vorbei: Die geltende Regelung im § 108 e
StGB reicht nicht aus.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Die Vorschrift genügt nicht den internationalen Vorga-
ben, die wir in Deutschland gezeichnet haben, aber nicht
ratifizieren können. Da haben Sie vollkommen recht. Es
ist peinlich, wenn wir dem nicht nachkommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt aber auch seit zwei Jahren eine Rechtspre-
chung des Bundesgerichtshofs, die klargemacht hat, was
ich schon seit Jahrzehnten behauptet habe, was aber
24 Oberlandesgerichte anders gesehen haben. Der Bun-
desgerichtshof hat nämlich festgestellt, kommunale
Mandatsträger seien keine Amtsträger, weshalb für kom-
munale Mandatsträger nicht unsere Vorschriften im
StGB für Straftaten im Amt gelten würden. Die Vorsit-
zende des Strafsenats, die das entschieden hat, die heu-
tige Generalbundesanwältin Frau Harms, hat damals in
dem Urteil deutlich gemacht, dass eine Lücke im Gesetz
existiert. Diese Lücke muss geschlossen werden, und da-
her sind wir aufgefordert, nicht nur schlaue Reden zu
halten, sondern diese Lücke zu schließen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Prima! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Herr Kollege Ströbele, wir hätten diese Lücke schon
lange schließen können. Sie und ich, wir beide wissen
das. Denn wir hatten im Jahr 2005 in einer Kommission
– der Kollege Manzewski war dabei – eine Regelung er-
arbeitet.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leider hat Herr Schröder zu früh geschmissen!)


– Nun hören Sie doch zu! Jetzt wird es Ihnen peinlich. –
Ich meine, es war eine sehr gute Regelung, die wir da-
mals erarbeitet hatten.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von Ihnen sogar mit entworfen!)


– Okay, die von uns entworfen war, vielen Dank. –


(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit entworfen!)







(A) (C)



(B) (D)


Joachim Stünker
Aber dann mussten wir koalitionstreu sein, und wir durf-
ten sie nicht ins Parlament einbringen, weil uns die Grü-
nen blockiert haben. Man höre und staune.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Nein! – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dirk Manzewski [SPD]: Natürlich war das so!)


Das war eine Regelung, die dem Kollegen Beck zu weit
und dem Kollegen Ströbele nicht weit genug ging.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ich bin entsetzt!)


Also war gar nichts zu machen. Man hat sich damals ge-
genseitig blockiert.

Aber – und das ist vielleicht die Tragik bei uns Sozial-
demokraten –


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– darf ich weitermachen? – wir möchten auch jetzt, in
der Großen Koalition, gern eine Regelung vorlegen, die
wiederum wir erarbeitet haben. Nun will unser Koali-
tionspartner nicht.


(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: So ist das!)


Wir sollten uns im Ausschuss zusammensetzen und dort
einmal eine vernünftige Debatte führen.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617934800

Herr Kollege Stünker, gestatten Sie eine Zwischen-

frage?


Joachim Stünker (SPD):
Rede ID: ID1617934900

Nein. Die Zeit ist schon sehr weit fortgeschritten,

Herr Kollege von Klaeden; ich möchte jetzt gern zum
Ende kommen. Wir können das sicherlich auch unter
vier Augen austauschen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hätten wir gern gehört!)


– Lassen Sie uns noch einmal einen Moment ernst wer-
den!

Wo liegt das Problem? Das Problem liegt – das ist
hier schon häufig angesprochen worden – im Tatbe-
standsmerkmal des Vorteils. Es geht um den Vorteilsbe-
griff. Das Merkmal ist in Ihrem Entwurf zu schwammig
gefasst. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages
werden im Ergebnis in die Hände der dritten Gewalt, in
die Auslegung gegeben, was mit dem freien Mandat aus
Art. 38 des Grundgesetzes sicherlich nicht in Überein-
stimmung zu bringen ist.

Wir sind uns völlig einig: Nach Art. 38 des Grundge-
setzes darf der Abgeordnete Interessenvertreter sein. Er
muss Interessenvertreter sein. Er ist parteilich. Er darf
parteilich sein. Das alles ist richtig.

Wenn wir uns alle darüber einig sind, warum schaffen
wir dann nicht einen Tatbestand, bei dem wir an genau
das anknüpfen, was uns das Grundgesetz in Art. 38 im
Grunde vorgibt?

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Es heißt dort: An Aufträge und Weisungen sind die Ab-
geordneten nicht gebunden; sie sind nur ihrem Gewissen
unterworfen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vertreter des ganzen Volkes und nicht nur des Wahlkreises, wie Herr van Essen behauptet hat!)


Warum implementieren wir nicht diese verfassungs-
rechtlichen Grenzen in den zu bildenden Straftatbestand,
liebe Kolleginnen und Kollegen?

Der Straftatbestand könnte dann wie folgt lauten:
„Der Abgeordnete macht sich strafbar, wenn er ... sich
bereit zeigt, bei der Wahrnehmung seines Mandats Auf-
träge oder Weisungen deshalb zu erfüllen, weil ihm da-
für ein Vorteil versprochen oder gewährt wird.“ Das ist
ein Vorschlag von uns, um eine Lösung zu finden. Er ist
mit Art. 38 – freies Mandat des Abgeordneten – mögli-
cherweise kompatibel.

Dann bräuchten wir uns nicht mehr darüber zu unter-
halten, ob der Vorteil unbillig oder rechtswidrig sein
muss; denn bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit geht es
immer auch um die Angemessenheit. Es gibt also Lö-
sungsmöglichkeiten für ein schweres rechtliches Pro-
blem.

Wir meinen, dass wir in eine Regelung zur Strafver-
folgung ein weiteres Element aufnehmen müssten. Wir
sollten darüber nachdenken, ob dann, wenn der Tatbe-
stand erfüllt sein könnte, als Voraussetzung für eine
Strafverfolgung nicht auch noch die Ermächtigung der
Volksvertretung notwendig ist, ob wir also das Strafrecht
mit dem Recht der Immunität verbinden müssen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Die Befürchtung, die überall geäußert wird, ist ja: Be-
reits eine entsprechende Überschrift in der Bild-Zeitung,
dass jemand durch eine Anzeige in ein Ermittlungsver-
fahren geraten ist – das kann ja völlig im Sande verlau-
fen –, führt zum politischen Tod. Das muss man mit be-
denken.


(Beifall bei der SPD)


Ein Beispiel von heute aus einer Zeitung bei uns im
Norden passt da. Das habe ich heute Mittag auf den
Tisch bekommen. Die Überschrift lautet: „Staatsanwalt
ermittelt nach Anzeige gegen ...“. Es geht um einen Kol-
legen von uns in Niedersachsen. In dem Artikel heißt es
dann, dass der Staatsanwalt bestätigt usw.

Dem ist man heute gleich nachgegangen. Keine der
Regeln ist eingehalten worden. Nach den RiStBV, den
Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldver-
fahren, wie das schöne Büchlein heißt, hätte zuerst
innerhalb bestimmter Fristen eine Anzeige an den Par-
lamentspräsidenten erfolgen müssen. Bei der Staatsan-
waltschaft dort ist angerufen worden und siehe da: Der
Sachverhalt ist ein ganz anderer. Aber der Staatsanwalt,
der dort zitiert ist, hat genau diese Erklärung abgegeben.






(A) (C)



(B) (D)


Joachim Stünker
Morgen kommt eine Gegendarstellung. Aber wir wissen,
was von einer solchen Gegendarstellung im Ergebnis zu
halten ist.


(Jörg van Essen [FDP]: So klein!)


Von daher: Wir alle sehen die Probleme. Wir müssen
– damit will ich schließen und meine Redezeit nicht ganz
ausnutzen; es ist schon spät geworden – miteinander re-
den. Wir müssen gemeinsam beraten. Herr Kollege
Gehb und Herr Kollege Kauder, wir haben den rechtli-
chen Sachverstand, um eine Regelung zu finden, bei der
wir unsere Kolleginnen und Kollegen in den Parlamen-
ten nicht ins Messer laufen lassen. Das dürfen wir näm-
lich nicht; Sie haben darauf zu Recht hingewiesen. Uns
aber ein Redeverbot aufzuerlegen und diese Frage gar
nicht mehr zu diskutieren, das, glaube ich, kann nicht die
Lösung sein. Von daher meine Bitte an den Koalitions-
partner – Sie persönlich muss ich gar nicht ansprechen –:
Reden Sie noch einmal mit Ihren Oberen! Wir sollten die
Beratungen wieder aufnehmen.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Siegfried Kauder [VillingenSchwenningen] [CDU/CSU]: Und Sie reden mit Herrn Ströbele!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617935000

Die Rede des Kollegen Wolfgang Nešković nehmen

wir zur Protokoll.1)

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird
Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/6726
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Moder-

(Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz – BilMoG)


– Drucksache 16/10067 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um folgende Kolleginnen und Kollegen: Parlamenta-
rischer Staatssekretär Alfred Hartenbach, Antje
Tillmann, CDU/CSU, Klaus Uwe Benneter, SPD,
Mechthild Dyckmans, FDP, Dr. Barbara Höll, Die Linke,
Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen.2)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/10067 an die in der Tagesord-

1) Anlage 8
2) Anlage 9
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Elke
Hoff, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie
der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried
Nachtwei, Kerstin Müller (Köln), weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

NSG-Ausnahmeregelung für Indien beschä-
digt das nukleare Nichtverbreitungsregime –
Zustimmung der Bundesregierung ist Beleg ei-
ner falschen Abrüstungspolitik

– Drucksache 16/10355 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
FDP-Fraktion die Kollegin Elke Hoff.


(Beifall bei der FDP)



Elke Hoff (FDP):
Rede ID: ID1617935100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Zu sehr später Stunde reden wir heute über ein
wichtiges Thema, das es eigentlich verdient hätte, an
prominenterer Stelle hier im Deutschen Bundestag be-
handelt zu werden. Deswegen freue ich mich auch, dass
es uns gelungen ist, gemeinsam mit unseren Kollegen
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen heute ein Zei-
chen zu setzen und unserer Missbilligung über etwas
Ausdruck zu verleihen, was die Bundesregierung in der
parlamentarischen Sommerpause dieses Jahres auf den
Weg gebracht hat.

Die Entscheidung für eine Ausnahmeregelung für In-
dien ohne die langfristige und verbindliche Verpflich-
tung Indiens zur nuklearen Abrüstung und zum Beitritt
zum Atomteststoppvertrag bricht nach unserer Auffas-
sung mit allen Prinzipien der internationalen Nichtver-
breitungspolitik und bedroht das ohnehin schon wan-
kende nukleare Nichtverbreitungsregime endgültig in
seiner Existenz.


(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es wurden einem Nichtmitglied kostbare Rechte ein-
geräumt, ohne dafür die entsprechenden Pflichten einzu-
fordern. Indien wird dadurch nicht näher an das nukleare
Nichtverbreitungsregime herangeführt, sondern erhält
einen Sonderstatus als privilegierter Kernwaffenstaat au-
ßerhalb des Atomwaffensperrvertrages. Das ist der Weg
in nukleare Doppelstandards, das ist der Weg in die Un-






(A) (C)



(B) (D)


Elke Hoff
terscheidung zwischen guter und schlechter Prolifera-
tion, und das ist, meine Damen und Herren, ein totaler
Irrweg;


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


denn er bedeutet über kurz oder lang das Ende des
Atomwaffensperrvertrages, das Ende des internationalen
Nichtverbreitungsregimes und den Beginn einer Phase
unkontrollierter nuklearer Aufrüstung.

Nur durch ein intensives und glaubwürdiges Engage-
ment der Weltgemeinschaft für die Institutionen der
Nichtverbreitung, nur durch eine globale Abrüstungsini-
tiative, wie sie erfahrene Staatsmänner wie Außenminis-
ter Henry Kissinger oder Hans-Dietrich Genscher wie-
derholt eingefordert haben, werden sich der entstandene
Schaden noch begrenzen und ein Zerfall des Nichtver-
breitungsregimes vielleicht noch verhindern lassen. Ab-
rüstung und Rüstungskontrolle sind viel zu kostbare
Säulen der internationalen Sicherheit, als dass sie zu
strategischen Instrumenten von Geo- oder auch Wirt-
schaftspolitik werden dürften.

Die FDP hat wiederholt gefordert, dass Deutschland
endlich wieder eine Vorreiterrolle für die internationale
Abrüstung und Nichtverbreitung einnimmt. Unser Land
hat sich auf diesem Politikfeld auch durch liberale Au-
ßenpolitik ein stabiles Renommee aufgebaut. Deshalb
schmerzt es meine Fraktion besonders, dass eine solche
abrüstungspolitische Fehlentscheidung unter deutschem
Vorsitz und unter Führung eines deutschen Außenminis-
ters in der Nuclear Suppliers Group getroffen worden ist.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dabei hatte der Bundesaußenminister ja bereits per-
sönlich die richtigen und notwendigen Kriterien für eine
Heranführung Indiens an das Nichtverbreitungsregime
und für eine außenpolitisch verantwortliche Entschei-
dung der NSG benannt. Auf einer Abrüstungskonferenz
der SPD im Juni 2006 nannte er als Kriterien den Beitritt
Indiens zum Atomteststoppvertrag, ein Moratorium für
die Produktion von spaltbarem Material für Waffenzwe-
cke und die Verpflichtung zur nuklearen Abrüstung. Und
so hätten die Kriterien für eine Zustimmung der Bundes-
regierung in der NSG auch am 6. September 2008 lauten
müssen.

In der abrüstungspolitischen Grundsatzrede des Au-
ßenministers auf der Münchner Sicherheitskonferenz in
diesem Jahr kam das heikle Thema jedoch erst gar nicht
vor. Wer in der anschließenden Diskussion etwas zu der
deutschen Haltung zum US-indischen Nuklearabkom-
men wissen wollte, wurde ebenfalls enttäuscht. Konkre-
tes, gar eine deutliche Positionierung gab es nicht. Die
Bundesregierung hat der indischen Sonderregelung in
der NSG zugestimmt, ohne das Parlament und die deut-
sche Öffentlichkeit auch nur ein einziges Mal im Vorfeld
über ihre Entscheidung zu informieren.


(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Das ist unerhört!)


Die Entscheidung wurde klammheimlich in der parla-
mentarischen Sommerpause getroffen. Dies ist aus unse-
rer Sicht, wie Herr Kollege Hoyer richtig bemerkt hat,
ein unerhörter Vorgang.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber die Bundesregierung hat nicht nur Parlament
und Öffentlichkeit über ihre Positionierung im Unklaren
gelassen. Wenn man die Berichterstattung ausländischer
Medien, insbesondere die indische verfolgt und mit Ver-
tretern anderer Delegationen gesprochen hat, wurde ei-
nes sehr deutlich: Die Bundesregierung hat ihren NSG-
Vorsitz aktiv dazu genutzt, für eine Sonderregelung für
Indien zu werben, sie hat kleine Staaten wie Irland, die
Niederlande oder Neuseeland mit ihrer Kritik an den
fehlenden abrüstungspolitischen Bedingungen der Son-
derregelung im Regen stehen lassen, und sie hat nie die
von Außenminister Steinmeier benannten abrüstungspo-
litischen Kriterien zur Grundlage ihrer Entscheidung ge-
macht. So sieht, meine Damen und Herren, keine glaub-
würdige Abrüstungspolitik aus.

Da hilft es auch nicht, immer wieder treuherzig auf
Mohammed al-Baradeis Unterstützung für das US-indi-
sche Nuklearabkommen zu verweisen und diese wie eine
Monstranz vor sich herzutragen. Denn bereits im Jahr
2005 hat der IAEO-Direktor die entscheidende Ein-
schränkung seiner Haltung hinzugefügt: „Managed pro-
perly, it would take us forward.“ – Nur richtig gehand-
habt würde ein US-indisches Nuklearabkommen Indien
näher an das Nichtverbreitungsregime heranführen und
die internationalen Bemühungen um nukleare Nichtver-
breitung voranbringen.

Das bedeutete auch seiner Meinung nach, das US-in-
dische Nuklearabkommen zu einem Tauschgeschäft zu
machen: Energieentwicklungshilfe gegen das Eingehen
verbindlicher Verpflichtungen aus dem Atomwaffen-
sperrvertrag. Nur, dieses Geschäft auf Gegenseitigkeit
hat eben nicht stattgefunden. Indien hat keine verbindli-
chen Verpflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertrag
übernommen. Deshalb hätte die NSG, hätte die Bundes-
regierung einer Sonderregelung für Indien auch nicht
zustimmen dürfen. Deshalb muss Deutschland als glaub-
würdiger Nichtkernwaffenstaat und verantwortungs-
voller nuklearer Lieferstaat an seiner restriktiven Export-
politik für Nukleartechnologie gegenüber Indien fest-
halten.

Ich appelliere hier auch im Namen der Kollegen, die
gemeinsam mit uns den Antrag formuliert haben, an die
Bundesregierung, zumindest in diese Richtung weiterzu-
marschieren und uns bitte hier im Plenum zu erklären,
wie es zu dieser, aus unserer Sicht wirklich verheerenden
Entscheidung kommen konnte.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE])



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617935200

Nächster Redner ist der Kollege Eckart von Klaeden,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Eckart von Klaeden (CDU):
Rede ID: ID1617935300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle-

gen! Wir wissen aus zahlreichen Unterrichtungen durch
das Auswärtige Amt, dass nicht nur dort, sondern auch
im Parlament über die richtige Entscheidung zu dieser
Frage lange Zeit gerungen worden ist. Am Ende des Ent-
scheidungsprozesses hat Außenminister Steinmeier eine
Führungsentscheidung getroffen, die unsere volle Unter-
stützung verdient, nämlich: Die Ausnahmeregelung der
Nuclear Suppliers Group für Indien war notwendig.

Das, was die Grünen und die FDP hier vorlegen, stellt
nicht nur eine Misstrauenserklärung gegenüber den Ver-
einigten Staaten von Amerika dar – das ruft in der deut-
schen Öffentlichkeit heutzutage ja keine besondere Auf-
merksamkeit mehr hervor –,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die berechtigt ist!)


sondern stellt auch eine Misstrauenserklärung gegenüber
Indien dar. Darauf wird, wenn aus einer der beiden Frak-
tionen oder Parteien, je nach Konstellation, der Wunsch
vorgetragen wird, einmal den Außenminister zu stellen,
sicherlich zurückzukommen sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf der Abg. Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die entscheidende Frage ist doch: Hat Indien das Ver-
trauen verdient, das ihm durch diese Ausnahmeregelung
entgegengebracht wird?

Vor Jahren haben sich die Grünen – damals mit der
Unterstützung der Opposition von CDU/CSU und auch
der Unterstützung der FDP – in der rot-grünen Koalition
dafür eingesetzt, Indien im Rahmen der G-4-Initiative zu
einer Vetomacht im Weltsicherheitsrat zu machen. Glau-
ben Sie wirklich, dass diese Entscheidung richtig gewe-
sen wäre, wenn, wie Sie es in Ihrem Antrag deutlich ma-
chen, Indien gleichzeitig eine Gefahr für das nukleare
Nichtverbreitungsregime wäre? Wäre diese Initiative
wirklich verantwortbar gewesen? Ja, diese Initiative ist
meiner Meinung nach damals richtig gewesen. Indien
gehört in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.


(Elke Hoff [FDP]: Auch in den Atomteststoppvertrag und in den Nichtverbreitungsvertrag!)


– Indien kann ja gar nicht Mitglied des Nichtverbrei-
tungsvertrages sein, Frau Kollegin Hoff. Sie müssten
einmal den Vertrag lesen. Denn Indien ist Nuklearmacht,
und die Aufnahme einer weiteren Nuklearmacht ist in
dem Vertrag gar nicht vorgesehen. Es gibt überhaupt
kein Verfahren dafür.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber es kann bestimmte inhaltliche Bedingungen erfüllen, um dem zu entsprechen!)


Also, Indien stellt immer wieder diese Forderung. In-
dien sagt ja: Wir sind bereit, Mitglied des Nichtverbrei-
tungsvertrages zu werden, wenn ihr akzeptiert, dass wir
Nuklearmacht sind.

(Elke Hoff [FDP]: Aber man hätte Indien verpflichten können!)


Zu sagen, dass Indien zwar eine Gefahr für das Nicht-
verbreitungsregime ist, und gleichzeitig zu fordern, dass
Indien in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als
Vetomacht soll, dass es also für andere Staaten inter-
nationales Recht setzen soll, bedeutet nur – Sie lehnen
nämlich das eine ab und befürworten das andere –, dass
Sie entweder den Nichtverbreitungsvertrag oder den Si-
cherheitsrat gering schätzen.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es! – Elke Hoff [FDP]: Quatsch!)


Ihre Position ist nicht schlüssig.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir dagegen sind der Ansicht, dass Indien dieses Ver-
trauen verdient,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da kann Pakistan auch gleich mitmachen!)


dass Indiens Aufstieg neben dem Aufstieg Chinas die
Welt in den kommenden Dekaden unübersehbar verän-
dern wird. Wir meinen, dass Indien in den letzten Jahren
und Jahrzehnten wichtige Initiativen ergriffen hat. Indien
hat in Südasien Verantwortung übernommen, zum Bei-
spiel bei der Lösung der politischen Krise in Nepal. Es
hat seine Beziehungen zu den ASEAN plus Drei und den
Vereinigten Staaten verstärkt. Indien kommt damit sei-
nem angesichts seiner Größe verständlichen Ziel näher,
als Großmacht eine Gleichrangigkeit mit seinem chinesi-
schen Nachbarn zu erreichen, und das ist ein wesentli-
cher Grund für seine nuklearen Ambitionen gewesen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Pakistan hat auch seine Verbindungen zu den USA verstärkt!)


– Sie wollen jetzt doch nicht wirklich die Lage in Pakis-
tan, Herr Kollege Ströbele, und die Proliferationspolitik
Pakistans mit der Indiens vergleichen. Das zeigt, wie
sehr bei Ihnen die Maßstäbe verrutscht sind.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch kein Argument!)


Seit 1974 hat Indien eine verantwortungsvolle Politik
betrieben und sich als eine verantwortungsvolle Atom-
macht erwiesen: Anders als sein Nachbarland Pakistan,
das Sie, Herr Kollege Ströbele, gerade als Kronzeuge
eingeführt haben, war Indien zu keinem Zeitpunkt an der
Proliferation von Nuklearmaterial oder Know-how be-
teiligt. Anders als Pakistan hat Indien zudem in seiner
Nukleardoktrin von Anfang an auf den Ersteinsatz von
Atomwaffen verzichtet. Darüber hinaus hat Indien er-
klärt, keine Atomwaffen gegen Nichtnuklearstaaten ein-
zusetzen, und es hat sich seit 1974 an diese Nukleardok-
trin gehalten. Das sind wesentliche Unterschiede zu
Pakistan, das Sie gerade hier eingeführt haben.


(Uta Zapf [SPD]: Das hat auch keinen Ersteinsatz gemacht!)







(A) (C)



(B) (D)


Eckart von Klaeden
Zudem hat die indische Regierung ein freiwilliges Mora-
torium für neue Atomtests erklärt.

Ich sehe auch keinen direkten Zusammenhang zwi-
schen der NSG-Entscheidung und den Bemühungen um
eine friedliche Lösung der Krise um das iranische
Nuklearprogramm. Indien ist in dieser Frage nicht mit
dem Iran zu vergleichen. Indien hat den Nichtverbrei-
tungsvertrag nicht unterzeichnet. Iran hingegen ist dem
NVV beigetreten, und es gibt erhebliche Zweifel an der
Einhaltung der völkerrechtlichen Verpflichtungen aus
dem NVV durch das Teheraner Regime.

Die E-Drei-plus-Drei haben dem Iran das Angebot ei-
ner zivilen nuklearen Zusammenarbeit unterbreitet,
wenn das Land das Vertrauen in den ausschließlich fried-
lichen Charakter seines Programms wiederhergestellt
hat. Auch bedroht Indien nicht die Existenz eines ande-
ren Staates, wie das der Iran offen gegenüber Israel tut.
Die Rede des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad
vor der UN-Vollversammlung hat das ja wieder unter
Beweis gestellt.

Wie alle Schwellenländer ist Indien ein Land mit stei-
gendem Energiebedarf.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht auf Atombomben!)


Der Energiebedarf Indiens, das über keine eigenen Öl-
und Gasvorkommen verfügt, steigt stetig an. Es verfügt
über große eigene Kohlevorkommen, deren Verstro-
mung allerdings zu den rapide wachsenden CO2-Emis-
sionen des Landes beitragen würde. Man kann daher
Indien schwer den Zugang zu nuklearer Energie verwei-
gern – das ist ja ein Argument, das immer wieder von
der FDP vorgetragen wird, aber von den Grünen nicht
unterstützt wird –; denn Indien ist für seine wirtschaftli-
che Entwicklung auf die Bereitstellung von Nuklear-
energie angewiesen. Indien das vorzuenthalten, was man
dem Iran immer wieder anbietet, ist nicht sonderlich
überzeugend.

Mit dem Ausbau der Atomkraft hofft die Regierung
in Delhi zudem, den Zuwachs der CO2-Emissionen ein-
zudämmen.

Es ist auch nicht überzeugend, wenn die Gegner des
amerikanisch-indischen Nuklearabkommens behaupten,
dass dadurch der NVV geschwächt werde. Meines Er-
achtens wird der NVV gerade durch die Annäherung In-
diens an den Vertrag gestärkt. Ihr Argument, Frau Kolle-
gin Hoff, ist ja nur dadurch plausibel geworden, dass Sie
das englische Zitat von al-Baradei unzutreffend ins
Deutsche übersetzt haben; denn Sie haben die selbstver-
ständliche Kondition, dass eine Vereinbarung vernünftig
ausgeführt werden muss, in einer Weise verändert, wie
sie im englischen Zitat al-Baradeis nicht enthalten war.

Indien hat zugestimmt, 14 seiner bis 2014 verfügba-
ren 22 Kernkraftwerke einer Inspektion durch die IAEO
zu unterwerfen. Das ist der wesentliche Punkt, den al-
Baradei als eine Heranführung an das NVV-Regime ge-
nannt hat. Das vereinbarte Safeguards-Abkommen zwi-
schen Indien und der IAEO dürfte bald unterzeichnet
werden.

(Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE]: Das ist lückenhaft!)


Am 5. September hat der indische Außenminister vor
der Entscheidung der NSG die indische Nichtverbrei-
tungsverpflichtung noch einmal bekräftigt. Auf dieser
indischen Nichtverbreitungsverpflichtung baut die Aus-
nahmeregelung der NSG auf. Falls Indien erneut einen
Atomtest durchführen sollte oder seine Safeguards- oder
NSG-Verpflichtung verletzt, kann jedes NSG-Mitglied
ein Sonderplenum einberufen, das über geeignete Maß-
nahmen bis hin zur Suspendierung oder Beendigung des
Nuklearhandels mit Indien entscheidet.


(Elke Hoff [FDP]: Ein bisschen spät!)


Ich halte es daher für richtig, dieser Ausnahmerege-
lung zuzustimmen. Ich glaube, dass Indien angesichts
seiner jahrzehntelangen verantwortungsvollen Nuklear-
politik dieses Vertrauen verdient.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617935400

Nächster Redner ist der Kollege Paul Schäfer, Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Paul Schäfer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617935500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Anfang

September ist ein neues Kapitel eines Stücks geschrie-
ben worden, das man auch „Chronik eines angekündig-
ten Todes“ nennen könnte. Die Bundesregierung kann
sagen, sie ist nicht nur dabei gewesen, sondern sie hat
sogar den Vorsitz bei dieser Veranstaltung geführt.

Das hat doch eine besondere Pikanterie. Diese Nukle-
arlieferantengruppe ist 1976, also zwei Jahre nach den
indischen Atomtests, gegründet worden, und zwar genau
zu dem Zweck, Nuklearlieferungen an Indien zu verhin-
dern. Jetzt gibt es eine Ausnahmeregelung der Nuclear
Suppliers Group, indem gesagt wird: Wir dürfen an In-
dien liefern. – So etwas nennt man doch wohl Paradig-
menwechsel, oder? Ich finde, es ist eindeutig – darum
braucht man nicht herumzureden – ein Dammbruch,
weil Indien dafür prämiert wird – anders kann man es
nicht sehen –, dass es sich im Widerspruch zum NPT zu
einer Atommacht entwickelt hat. Um diesen Sachverhalt
kommen Sie nicht herum. Wenn man jetzt solche Präze-
denzfälle schafft, wird man es viel schwieriger haben,
vom Iran und von anderen eine Abkehr von ihren
nuklearen Ambitionen zu verlangen.

Herr von Klaeden, alle Gründe, die Sie für die Son-
derbehandlung Indiens anführen – Sie sagen beispiels-
weise, es sei eine vertrauenswürdige Nuklearmacht –,
beinhalten offensichtlich die Ansage, dass wir uns nicht
allzu sehr um Recht und Gesetz kümmern. Damit wird
der Willkür Tür und Tor geöffnet. Wer definiert denn,
dass Indien eine verantwortungsvolle Atommacht ist?
Diese Willkür tut den internationalen Beziehungen nicht
gut. Wir brauchen verlässliche rechtliche Grundlagen.
Ein entsprechendes Verhalten wäre von Indien einzufor-
dern gewesen.






(A) (C)



(B) (D)


Paul Schäfer (Köln)

Es ist schon erwähnt worden, dass es eine Chance in-
nerhalb der NSG gegeben hätte, ein klares Nein zu sa-
gen, um die Beteiligten dazu zu bringen, darauf zu drän-
gen, dass Indien die Bedingungen des NPT erfüllt. Es
hätte dafür eine Mehrheit gegeben. Aber die Bundesre-
gierung hat sich an die Spitze derjenigen gesetzt, die
dem Druck nachgegeben haben, der vor allem von den
USA ausgegangen ist. Diesem Druck konnte keines der
kleinen Länder standhalten; sie sind sozusagen in die
Knie gegangen. Es hätte also eine Möglichkeit gegeben,
das zu verändern. Dass dies nicht passiert ist, zeigt:
Worte und Taten klaffen bei der Bundesregierung weit
auseinander.

Man kann – leider, muss man an dieser Stelle sagen –
auch vermuten, dass es dort unlautere Motive nicht nur
seitens der USA gibt, die Materialien liefern wollen und
die im nuklearen Bereich Geschäfte machen wollen.
Man muss dies auch für andere Regierungen vermuten.
Wenn ich mir die Entwicklung der deutschen Rüstungs-
exporte nach Indien anschaue und wenn ich berücksich-
tige, dass man da spekuliert, was U-Boot-Lieferungen
oder den Verkauf des Eurofighters betrifft, kann ich
mich nicht ganz des Eindrucks erwehren – diese Frage
stelle ich zumindest in den Raum –, dass da auch Export-
interessen eine Rolle spielen. Man hat also die eigene
abrüstungspolitische Position aufgeweicht und ge-
schwächt mit der Konsequenz, dass der Vertrag über die
Nichtverbreitung von Kernwaffen in der Tat akut gefähr-
det ist.

Wir sind in der Situation – das ist an dieser Stelle oft
genug gesagt worden –: Wenn es 2010 nicht zu eindeuti-
gen Ergebnissen auch in Richtung einer klaren Abrüs-
tungspolitik kommt, dann wird es insgesamt eine Ero-
sion geben, und dann wird man auf einer schiefen Bahn
sein, auf der es kein Halten mehr gibt. Es wäre das Mini-
mum gewesen, die rote Linie, die sich die Bundesregie-
rung selbst gesetzt hat, in den NSG-Verhandlungen ein-
zuhalten, das heißt, eine verbindliche Erklärung zu
erreichen, dass Indien dem Atomteststoppvertrag beitritt,
sich an dem Produktionsmoratorium für nukleare Waf-
fen beteiligt und all seine Anlagen der Kontrolle der
Safeguards der IAEO unterstellt.

Das jetzt erreichte Abkommen kann man nur als För-
derprogramm für den militärischen Bereich ansehen.
Wenn nur Teile der Anlagen einer Kontrolle unterstellt
werden, dann können Materialien transferiert werden
und für militärische Programme genutzt werden. Das ist
ein Förderprogramm für die nukleare Aufrüstung in der
Region. Dem hätte man Einhalt gebieten müssen; da
hätte man Nein sagen müssen. Genau das ist das richtige
Ansinnen des Antrages von FDP und Grünen, der des-
halb grundsätzlich unterstützungswürdig ist.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617935600

Das Wort hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt,

Gernot Erler.
D
Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1617935700


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir debattieren heute hier über eine Entscheidung, die
unterschiedliche Wirkungen haben kann. Allen nachzu-
gehen, ist in vier Minuten nicht möglich. Deshalb kon-
zentriere ich mich auf eine.

Das Ziel der Bundesregierung besteht darin, Indien in
Verbindung mit den Entscheidungen der IAEO und der
NSG näher an das internationale Nichtverbreitungsre-
gime heranzuführen und damit aus seiner Isolation zu lö-
sen. Diesem Ziel kommen wir jetzt näher. Indien hat sich
auf das globale Nichtverbreitungsregime zubewegt und
steht jetzt stärker in der Verantwortung als vorher, vor al-
lem durch das am 1. August von der IAEO gebilligte
Safeguards-Abkommen. Indien wird jetzt die Mehrzahl
seiner Reaktoren unter Safeguards stellen. Das bedeutet
mehr Kontrolle als bisher und damit einen deutlichen
Gewinn für das Safeguardssystem und für die Nichtver-
breitung.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Eine Wertung, wie ich sie letzten Mittwoch von dem
Kollegen Trittin gehört habe, die Belieferung Indiens mit
Atommaterial und Uran sei kein Gewinn, sondern ein
Verlust an Rüstungskontrolle, ist irreführend. Die NSG-
Entscheidung erlaubt die Lieferung von NSG-kontrol-
lierten Nukleargütern nur an zivile Anlagen unter Safe-
guards. Die IAEO-Kontrollen verhindern gerade, dass
das Material in den militärischen Sektor gelangt.

Nicht von ungefähr hat der indische Außenminister
Mukherjee in seiner Erklärung vom 5. September erst-
mals öffentlich die nichtverbreitungspolitischen Ver-
pflichtungen seines Landes genannt und bekräftigt.
Hierzu zählen das Testmoratorium, die Safeguards-Ver-
pflichtungen, die Schaffung effektiver indischer Export-
kontrollen und die Verpflichtung, sich an den Richtlinien
der NSG und des MTCR auszurichten.

Die indische Regierung hat sich ausdrücklich zum
Ziel des Abschlusses eines Vertrages über ein Verbot der
Produktion von Spaltmaterial für Kernwaffen – für die
Fachleute: FMCT – wie auch dem Ziel einer kernwaf-
fenfreien Welt bekannt. Indien verpflichtet sich, die sen-
siblen Nukleartechnologien, zu denen unter anderem die
Anreicherung von Uran gehört, nicht weiterzugeben.
Hieran wird sich Indien in Zukunft messen lassen müs-
sen. Dass dies ein für Indien weit gehender Schritt war,
zeigt die starke Kritik der indischen Opposition an dieser
Entscheidung.

Die Ausnahmeregelung der NSG baut auf den indi-
schen Verpflichtungen, die ich hier genannt habe, auf.
Sollte Indien hiervon abweichen – Kollege von Klaeden
hat darauf hingewiesen –, greifen die nichtverbreitungs-
politischen Regeln, die wir in die Erklärung eingearbei-
tet haben. Die NSG hätte dann die Möglichkeit, Sanktio-
nen zu verhängen, einschließlich der Suspendierung des
Nuklearhandels.


(Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE]: Die Möglichkeit!)







(A) (C)



(B) (D)


Staatsminister Dr. h. c. Gernot Erler
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erklärung der
NSG war ein Kompromiss, einer zwischen 45 Mitglied-
staaten,


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kompromiss? Es gab einen wahnsinnigen Druck!)


einer, bei dem wir wichtigen Nichtverbreitungselemen-
ten Raum schaffen konnten.

Was jetzt passiert, ist ein Zwischenschritt. Unser Ziel
bleibt – an ihm werden wir weiter arbeiten – Indiens
Beitritt zum Nichtverbreitungsvertrag – die Probleme
sind hier genannt worden – sowie zum internationalen
Teststoppabkommen und ein Produktionsmoratorium für
Spaltmaterial für militärische Zwecke.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617935800

Nächster Redner ist der Kollege Winfried Nachtwei,

Bündnis 90/Die Grünen.


Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617935900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Staatsminister, Sie haben entgegen Ihrer sonstigen
Art eine Erklärung hier abgelesen. Das nehme ich zur
Kenntnis.


(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Mit Anstand!)


Atomwaffen sind der Extremismus der Militärtech-
nik, und der Nichtverbreitungsvertrag versucht, in die-
sem Bereich wenigstens nukleare Anarchie zu verhin-
dern und gleichzeitig die Dinge in Richtung nuklearer
Abrüstung zu bewegen.

Wir wissen alle: In den letzten Jahren ist der Nicht-
verbreitungsvertrag in eine erhebliche Krise gekommen.
Erinnern wir uns: 1974 war der erste indische Nuklear-
test. Wodurch wurde er möglich? Durch Plutonium, das
aus einem Reaktor, von Kanada geliefert, dafür abge-
zweigt werden konnte. Die Schlussfolgerung daraus war
die Gründung der Nuclear Suppliers Group durch USA,
Kanada, die Bundesrepublik und einige andere Länder.
Und nun soll es diese Ausnahmeregelung für Indien ge-
ben.

Herr von Klaeden, wenn da von Misstrauen gegen-
über Indien gesprochen wird, ist das in diesem Zusam-
menhang die unpassende Kategorie.


(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Sehr richtig!)


Aber wir müssen zunächst feststellen, dass Indien keine
verbindliche Abrüstungsverpflichtung im Nuklearbe-
reich eingegangen ist,


(Elke Hoff [FDP]: Genau!)


dass kein Beitritt zum Atomteststopp erklärt wird und
dass schließlich auch ein überprüfbares Moratorium für
die Produktion von waffenfähigem Spaltmaterial nicht
zugesagt wird.
Was die IAEO-Kontrollen in den 14 zivilen Anlagen
und in den acht anderen Anlagen angeht, die für die mili-
tärische Nutzung entscheidend sind: null. Außerdem
kann Indien auch von sich aus die Kontrollen der IAEO
beenden. Ich verstehe, dass die IAEO sagt: Jetzt haben
wir den Fuß in der Tür. Daraus die Schlussfolgerung zu
ziehen, das sei insgesamt eine Annäherung an den Nicht-
verbreitungsvertrag, ist aber eine falsche Bewertung.
Dazu haben Sie in Ihren vier Minuten Rede nichts ge-
sagt. In frei gesprochenen weiteren vier Minuten würden
Sie angesichts der Wirkung dazu vermutlich etwas ande-
res sagen.

Wie will man gegenüber dem Iran denn jetzt bitte
schön noch irgendwie glaubwürdig vertreten – das ist
schon gesagt worden –: Ihr dürft das, was die anderen
machen, nicht; die sind halt Atommacht usw. Das be-
kommen Sie nicht mehr auf die Reihe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)


Israel und Pakistan haben selbst gesagt: Das wollen
wir auch – Präzedenzfall. Eine Ablehnung kann man
nicht plausibel machen. Na gut, Pakistan kann man sa-
gen: Euch können wir nicht trauen. Aber Israel? Israel
trauen Sie doch sehr. Warum denn da nicht?


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Israel hat das doch gar nicht gesagt! Das ist doch Quatsch! Das ist doch gar nicht wahr!)


Was Pakistan angeht: Gestern hatten wir dazu eine
Aktuelle Stunde.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das passt doch gar nicht!)


– Jetzt will ich keine Zwischenrede.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Aber hier Unsinn erzählen!)


– Ich erzähle weiter. Sie können dann sehen, das ist ganz
schön sinnvoll.

Wir haben festgestellt, dass Pakistan ein politisches
Pulverfass ist, vielleicht das gefährlichste weltweit. Erin-
nern wir uns daran, was 1999 war – das ist nachzulesen –,
als es sieben Wochen lang einen kriegerischen Konflikt
zwischen Pakistan und Indien gegeben hat: 13-mal ist
von beiden Seiten der Einsatz von Atomwaffen ange-
droht worden. Bitte schön! Das heißt im Klartext: Wenn
auf indischer Seite jetzt die Möglichkeit besteht – ich
will das nicht unterstellen –, in Sachen nuklearer Aufrüs-
tung weiterzumachen, dann ist die Perzeption beim Geg-
ner doch eindeutig. Dann geht die Sache auch da hoch.
Das müssen Sie bitte berücksichtigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)


Die Bundesregierung trägt eine ganz erhebliche Mit-
schuld an dieser Art von Entscheidung.

Herr Staatsminister, Sie haben vorhin von einem
Kompromiss gesprochen. Sie wissen selbst, wie
schlimm das gelaufen ist: Die kritischen Kleinen, die
Rückgrat hatten, sind von den Spitzen der USA fertigge-






(A) (C)



(B) (D)


Winfried Nachtwei
macht worden, und die Bundesregierung, die gegenüber
dem größten Verbündeten in solchen Angelegenheiten
schon einmal Rückgrat bewiesen hat, hat das dieses Mal
offensichtlich nicht getan. Es ist wirklich ein Hohn,
wenn Sie in diesem Zusammenhang von einem Kompro-
miss reden.

Ich habe den Eindruck, dass elementare Sicherheits-
und Abrüstungsinteressen anderen Interessen geopfert
wurden. Davon wird natürlich gar nicht gesprochen. Es
geht aber immerhin um einen Markt von 150 Milliarden
Dollar. Legitimerweise sind daran natürlich alle mögli-
chen Seiten interessiert. Ich glaube, das war das Ent-
scheidende.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617936000

Herr Kollege Nachtwei!


Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617936100

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617936200

Ja, bitte.


Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617936300

Zwei dringende Bitten an die Koalition: Erstens. Re-

den Sie hier wenigstens nicht um diese Fehlentscheidung
drum herum. Uta Zapf, ich glaube, Sie können das ein
bisschen korrigieren. Zweitens. Wenigstens sollte es
jetzt keinerlei Nuklearlieferungen an Indien geben. Das
ist das Mindeste. Australien zum Beispiel macht uns das
vor.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617936400

Herr Kollege Nachtwei, ich muss Sie jetzt wirklich

unterbrechen.


Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617936500

Ich beende jetzt meine Rede.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617936600

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem

Kollegen von Klaeden.


Eckart von Klaeden (CDU):
Rede ID: ID1617936700

Herr Kollege Nachtwei, Sie haben gerade behauptet,

dass die israelische Regierung eine Sondergenehmigung
verlangt habe, die dem indisch-amerikanischen Nuklear-
deal entspricht. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dafür
einen Nachweis liefern könnten.


(Uta Zapf [SPD]: Da gab es genügend Pressemeldungen!)


Zweitens. Sie haben das Verhalten Indiens mit dem
Verhalten Pakistans verglichen. Ich darf Sie darauf hin-
weisen, dass Pakistan gegen das Prinzip, an das sich In-
dien hält, nämlich keine Proliferation zu betreiben, versto-
ßen hat. Und Pakistan schließt in seiner Nukleardoktrin
den Ersteinsatz von Nuklearwaffen gerade nicht aus. Ich
wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zu diesen beiden Punkten
Stellung nehmen könnten.

Wenn ich noch einen dritten Punkt anführen darf: Die
Nuklearpolitik Indiens hat sich in den vergangenen Jah-
ren nicht verändert. Warum haben Sie eigentlich die
Aufnahme dieses Landes in den VN-Sicherheitsrat un-
terstützt? Hätte ein solches Land tatsächlich in den VN-
Sicherheitsrat gehört?


Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617936800

Erstens zu Israel. Es hat zumindest Pressemeldungen

gegeben, dass es solches Ansinnen von israelischer Seite
gäbe. Das gebe ich jetzt nur wieder; ich kann es nicht ve-
rifizieren. Ich sage es also mit Vorsicht.

Zweitens. Es ist völlig richtig: Wenn wir die Katego-
rien „vertrauenswürdige Staaten“ und „weniger vertrau-
enswürdige Staaten“ anwenden würden, würde Indien
als erheblich vertrauenswürdig gelten. Das ist klar. Pa-
kistan würde als viel weniger vertrauenswürdig oder
kaum oder gar nicht vertrauenswürdig gelten. Diese Ka-
tegorie ist eingeführt worden, aber sagt in diesem Zu-
sammenhang nichts aus. Es geht um den Universalismus
dieser Regel. Es wird nicht unterschieden zwischen Ver-
trauenswürdigen, für die es scheunentorgroße Ausnah-
men gibt, und den anderen, den Kritischen, bei denen es
dann anders läuft. Das ist das Problem.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Und Sicherheitsrat? – Gegenruf des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein anderes Feld!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617936900

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Uta

Zapf, SPD-Fraktion.


Uta Zapf (SPD):
Rede ID: ID1617937000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich gestehe, es ist für mich eine bittere Debatte. Sie ist
noch zusätzlich bitter geworden, weil wir hier in einer
Art diskutieren, die dem Problem, vor dem wir jetzt ste-
hen, überhaupt nicht angemessen ist. Es macht keinen
Sinn, dieser Bundesregierung vorzuwerfen, an allem
schuld zu sein, und zu behaupten, dass sie es hätte ver-
hindern können. Vielmehr müssen wir, denke ich, viel-
leicht in einer nachfolgenden Debatte über die Dinge re-
den, die jetzt zu besorgen sind. Frau Hoff hatte einen
Vorschlag gemacht, den ich nur unterstützen kann.

Wir haben hier schon mehrfach Debatten darüber ge-
führt. Bis auf die CDU/CSU, die sich in dieser Phase ei-
gentlich immer bedeckt gehalten hat, haben wir allesamt,
die wir hier sind, die Forderungen an Indien aufgestellt,
die hier auch als Vorausbedingungen zitiert worden sind,
um einen solchen Deal überhaupt seriös abschließen zu
können. Die Vorausbedingungen sind: CTBT-Beitritt,
Stopp der Produktion von waffenfähigem Material, ein
anständiges Safeguards-Abkommen und ein Zusatzpro-






(A) (C)



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Uta Zapf
tokoll. All diese Bedingungen sind nicht erfüllt. Sie ste-
hen auch nicht in der Erklärung der Nuclear Suppliers
Group.


(Beifall des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das macht mir große Beschwerden; das sage ich ehrlich.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Aber es war doch Ihr Außenminister Ihrer Fraktion?)


– Es war unser Außenminister dieser Koalition, und es
war Frau Merkel, die begeistert war über diesen Deal
und das in Indien mehrfach geäußert hat.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Weil Sie sich jetzt so davon distanzieren!)


Und es war Herr Glos, der begeistert ist über das Ge-
schäft, das jetzt zu machen ist, und eine Hermesbürg-
schaft möchte.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Lenken Sie nicht ab, Frau Kollegin!)


– Nein, diese Bemerkung ist unfair und gehört sich nicht.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Es gilt das Ressortprinzip, Frau Kollegin!)


– Na, in Ordnung.

Dann finde es besonders unanständig, weil Steinmeier
unser Kanzlerkandidat ist und weil das, was er in diesen
Verhandlungen durchstehen musste und durchgestanden
hat, hier ganz vorsichtig als Druck bezeichnet worden
ist. Die USA sind doch in ganzen Divisionen losmar-
schiert und haben die Folterwerkzeuge vorgezeigt. Das
waren nicht nur die Daumenschrauben, auch die Eiserne
Jungfrau und das Waterboarding


(Heiterkeit)


wurden gegen die Staaten angewandt, die nicht bereit
waren, dem zuzustimmen.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Dem allen hat sich Steinmeier jetzt wohl gebeugt!)


Lassen Sie mich jetzt noch auf einen weiteren Punkt
kommen, der eher mit Abrüstung zu tun hat. Mir tut, ehr-
lich gesagt, besonders weh, dass wir Indien nicht haben
darauf verpflichten können, seine Waffenarsenale zu kap-
pen und sich den Abrüstungsbedingungen der Nuklear-
staaten zu unterwerfen. Mir tut auch weh, dass – übri-
gens mit Zustimmung von Herrn al-Baradei, der dann
seine Bedingungen offensichtlich vergessen hat, ich
habe sie nie gehört, Frau Hoff – ein Safeguards-Abkom-
men geschlossen worden ist, das nicht der Interpretation
entspricht, die die USA uns gegeben haben, und das
überhaupt nicht den Kriterien des Hyde Act entspricht.
Vielmehr lässt es Indien, wenn es testet und dann mögli-
cherweise mit Sanktionen belegt wird, sich von diesem
Safeguards-Abkommen zurückziehen.


(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Halten Sie die Entscheidung des Auswärtigen Amtes für richtig oder falsch?)

– Ich halte sie für falsch. Das habe ich hier, an dieser
Stelle, aber schon öfter gesagt.


(Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig! – Beifall der Abg. Elke Hoff [FDP])


Wir können damit nicht so umgehen, wie es jetzt ge-
schieht; vielmehr müssen wir den Tatsachen ins Auge
sehen und dann versuchen, nach vorne zu schauen.

Es gibt auch in dem Safeguards-Abkommen keine
Restriktionen, die einem Standardabkommen entspre-
chen. Indien hat mit diesem Abkommen nach meiner
Ansicht einen Freibrief bekommen. Ich denke, noch viel
schlimmer ist Folgendes: Selbst wenn die Amerikaner
jetzt auf ihren Hyde Act rekurrieren, können jetzt alle
anderen Lieferstaaten liefern.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Gerade heute, am 25. September, sitzen die Franzosen
in Neu-Delhi und arbeiten an diesem Abkommen. Das
heißt, auch die im Antrag enthaltene Forderung, etwas
auf dem europäischen Wege zustande zu bringen, ist illu-
sorisch. Insofern ist das, was uns in der Tat als Option
bleibt, darauf zu bestehen, dass das, was der Außenmi-
nister Indiens angekündigt hat, eine Verpflichtung wird,
dass Indien sich also daran hält. Wir sollten eine große
Abrüstungsoffensive mit initiieren. Es ist nicht so, dass
das nicht in der Luft liegt. Im Moment gibt es eine ganze
Menge Initiativen, die vor allen Dingen von NGOs ge-
tragen werden. Sie finden ihren Durchschlag in einem
neuen Bewusstsein. Ich hoffe auf die amerikanische Re-
gierung und darauf, dass der nächste Präsident weiser ist.
Ich wünsche mir natürlich, dass die Aussagen von
Obama umgesetzt werden können. Er hat sich verpflich-
tet, CTBT zu unterschreiben. Das würde die Abrüstung
international schon einmal ein Stück voranbringen.


(Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD])


Obama hat sich auch zu internationalen multilateralen
Abrüstungen bekannt.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Und zum indisch-amerikanischen Nukleardeal!)


Ich denke, diese Perspektive zeigt uns eine Aufgabe
auf –


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617937100

Frau Kollegin Zapf!


Uta Zapf (SPD):
Rede ID: ID1617937200

– ich bin fertig –, die wir mit Indien, mit den USA

und mit unseren europäischen Nachbarn zu erfüllen ha-
ben.


(Beifall bei der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617937300

Ich schließe die Aussprache.






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 16/10355 zur federführenden Beratung an
den Auswärtigen Ausschuss und zur Mitberatung an den
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie sowie an den
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vor-
schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:

a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Bundesbericht zur Förderung des Wissen-
schaftlichen Nachwuchses

– Drucksache 16/8491 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Sportausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Priska Hinz (Herborn), Krista Sager,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Wissenschaft als Beruf attraktiver machen –
Den wissenschaftlichen Nachwuchs besser un-
terstützen

– Drucksóache 16/9104 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für. Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um folgende Kolleginnen und Kollegen: Marion Seib,
CDU/CSU, Dieter Grasedieck, SPD, Uwe Barth, FDP,
Dr. Petra Sitte, Die Linke, Kai Gehring, Bündnis 90/
Die Grünen, und den Parlamentarischen Staatssekretär
Andreas Storm.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/8491 und 16/9104 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Katrin Kunert, Klaus Ernst, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Sozialticket für die Deutsche Bahn AG

– Drucksache 16/10264 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)


1) Anlage 10
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol-
gende Kolleginnen und Kollegen: Klaus Hofbauer,
CDU/CSU, Uwe Beckmeyer, SPD, Patrick Döring, FDP,
Katja Kipping, Die Linke, Winfried Hermann, Bünd-
nis 90/Die Grünen.


Klaus Hofbauer (CSU):
Rede ID: ID1617937400

Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion spricht sich klar

für Mobilität aus.
Wir haben hierzu bereits viel auf den Weg gebracht,

auch zugunsten von bedürftigen Menschen, und wir ar-
beiten ständig an Verbesserungen für Mobilität sowohl in
den Ballungszentren als auch im ländlichen Raum. Inso-
fern teile ich auch die Feststellung der Fraktion Die
Linke, dass Mobilität ein elementares Merkmal unserer
heutigen Gesellschaft ist. Aber! Ein derart pauschaler
und undifferenzierter Antrag, wie ihn Die Linke zum So-
zialticket für die Deutsche Bahn AG stellt, hat mit über-
legter, nachhaltiger und verantwortungsvoller Politik
nichts gemein. Verantwortungsvolle Politik setzt voraus,
dass man überlegt, was kann und will der Staat leisten
und was kann der Einzelne selbst tun. Wir müssen dieje-
nigen Menschen unterstützen, die tatsächlich auf Hilfe
angewiesen sind. Und das tun wir auch!

Behinderte Menschen, die zweifellos auf Hilfe ange-
wiesen sind, werden in Deutschland selbstverständlich
unterstützt. Sie sind wirklich bedürftig und vielfach nicht
in der Lage, Kosten für Mobilität selbst zu übernehmen.
Sie können daher bereits heute kostenlos den öffentlichen
Personenverkehr nutzen.

Fahrtkosten zu Bewerbungsgesprächen werden weit-
gehend erstattet, denn unser vorderstes Ziel ist es, Men-
schen in Arbeit zu bringen. Das ist Hilfe zur Selbsthilfe.
Die Menschen werden damit in die Lage versetzt, selbst
für sich zu sorgen, benötigen dann in den meisten Fällen
keine Hilfe mehr und können sich damit ein Bahnticket
ohne Unterstützung leisten.

Diejenigen Menschen, denen trotz Arbeit das Geld
fehlt, um mobil zu sein – Menschen im Niedriglohnbe-
reich etwa, die auf ergänzende Hilfeleistungen nach
SGB II angewiesen sind –, werden auch nicht vergessen.
Die für ihre Mobilität notwendigen Kosten, zum Beispiel
für eine Monatskarte, finden bei Berechnung der ergän-
zenden Hilfeleistung Berücksichtigung.

Wie wenig durchdacht und undifferenziert die Forde-
rungen der Linken in ihrem Antrag zum Sozialticket sind,
zeigt sich zudem daran, dass sie es pauschal für alle Emp-
fänger von Leistungen nach SGB II, SGB XII sowie nach
dem Asylbewerberleistungsgesetz fordert. Die Anzahl des
mit diesem Vorschlag ins Auge gefassten Personenkreises
liegt etwa bei 7 bis 8 Millionen Menschen.

In Kombination mit der gleichzeitig vorgeschlagenen
Erhöhung des Eckregelsatzes von derzeit 351 Euro auf


(A) (C)



(B) (D)


Klaus Hofbauer
435 Euro kann ich dieser Partei nur attestieren, dass ihr
jeder Sinn für die Realität abhanden gekommen ist – so-
weit er überhaupt jemals vorhanden war. Eine Erhöhung
um fast 100 Euro ist nicht nur unfinanzierbar, sondern
hätte zur Folge, dass sich der Abstand zum Niedriglohn-
sektor minimiert und damit weit mehr Menschen in den
Kreis der ergänzenden Hilfeleistungen aufrücken würden
als heute. Vor dem Hintergrund der bereits erwähnten
Mobilitätsunterstützung, die diese Menschen schon heute
erhalten, käme es zu einer Doppelförderung – Berück-
sichtigung von Mobilitätskosten bei ergänzender Hilfe-
leistung plus das Sozialticket. Außerdem würde die Zahl
der Anspruchsberechtigten für das Sozialticket dann auf
etwa 14 Millionen Menschen steigen. Das hat nicht ein-
mal mehr im Ansatz etwas mit Realität zu tun!

Die Kette der Punkte, die darlegen, wie wenig durch-
dacht der Antrag der Linken ist, lässt sich beliebig fort-
führen. So wird vorgeschlagen, dass der Bund über seine
Vertretung in den Aufsichtsgremien der Deutschen Bahn
auf deren Preisgestaltung einwirkt, damit diese die Bahn-
card 25 statt für 55 Euro für lediglich 5 Euro abgibt. Mir
war nicht klar, dass der Linken niemand gesagt hat, dass
die Bahn ein als Aktiengesellschaft organisiertes und ei-
genständig wirtschaftlich operierendes Unternehmen ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, das ist
schon seit 1994 so! Der Bund kann auf die operative Ge-
schäftsführung der Bahn schlichtweg keinen Einfluss
nehmen, auch nicht im Aufsichtsrat.

Überlegt hat sich Die Linke offenbar auch nicht, wel-
che Konsequenz aus der Abgabe der Bahncard 25 zum
Preis von 5 Euro folgt – für den Fall, dass die Bahn diesen
Schritt geht. Wie bereits erwähnt beträgt die Anzahl der
Anspruchsberechtigten nach Vorstellung der Linken etwa
14 Millionen. Bei einem regulären Preis von 55 Euro pro
Bahncard müsste die Bahn also bereit sein, 14 Millionen
Menschen einen Preisnachlass von 50 Euro zu gewähren.
Da die Bahn ein wirtschaftlich denkendes Unternehmen
ist, wäre die sichere Folge eines solchen Entgegenkom-
mens eine Fahrpreiserhöhung der ohnehin schon teuren
Fahrscheine für alle anderen Bahnkunden.

Vor zwei Wochen haben wir uns zu Recht bei der Bahn
dafür stark gemacht, dass der Bedienzuschlag nicht erho-
ben wird. Die Linke hatte dies ebenfalls gefordert. Und
heute macht sie Vorschläge, die die Bahn dazu zwingt,
ihre Fahrpreise zu erhöhen. Diese Logik erschließt sich
mir schlichtweg nicht. Ich möchte mich nochmals aus-
drücklich zu der Notwendigkeit von Mobilität bekennen.
Sie gehört zu den vordringlichsten Aufgaben der Großen
Koalition.

Der Antrag der Fraktion Die Linke ist jedoch undiffe-
renziert, nicht durchdacht und damit ungeeignet, nach-
haltig für mehr Mobilität in Deutschland zu sorgen. Mit
diesem Antrag offenbart Die Linke einmal mehr, wie we-
nig sie in der Lage ist, Regierungsverantwortung zu über-
nehmen, und wie sehr ihre Vorschläge von reinem Popu-
lismus geprägt sind.


Uwe Beckmeyer (SPD):
Rede ID: ID1617937500

Wir wissen um die Debatten zur Einführung von So-

zialtickets für den öffentlichen Personennahverkehr in
Zu Protokoll
verschiedenen Städte Deutschlands. Diese sind nicht
ohne Probleme und haben zu völlig gegensätzlichen Ent-
scheidungen geführt.

Unabhängig davon haben wir hier heute uns zu dem
vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke zu verhalten.

Für die SPD-Bundestagsfraktion möchte ich grund-
sätzlich feststellen, dass der Erhalt von Transferleistun-
gen über private Unternehmen in Form von verbilligten
Produkten oder Leistungen generell intransparent ist und
damit zu großen Ungerechtigkeiten führen kann. Bezahlt
werden muss dies ohnehin durch den Steuerzahler, weil
der Staat bzw. die öffentlichen Hände Zuschüsse an die
entsprechenden Unternehmen zu leisten haben.

Wenn man den vorliegenden Antrag in seinem substan-
ziellen Kern bewertet, muss man feststellen: Der Antrag
ist höchst problematisch, weil unsolidarisch und unge-
recht.

Was ist zum Beispiel mit einer alleinerziehenden Mut-
ter von zwei Kindern, die halbtags arbeitet und damit
zwar mehr als den Hartz-IV-Satz verdient, aber mit ihrem
Einkommen gerade über die Runden kommt. Was ist mit
dem Rentner, der 40 Jahre lang am Band gearbeitet hat,
aber heute nur eine bescheidende Rente bekommt? Auch
er wird nicht in den Genuss eines „Sozialtarifs“ kommen.

Die von Ihnen vorgenommene Beschränkung der An-
spruchsberechtung grenzt viele Menschen aus. Jemand,
der nur über ein geringes Einkommen verfügt, das gerade
eben über dem Hartz IV-Satz liegt, wird nicht in den Ge-
nuss eines so genannten Sozialtickets kommen. Finden
Sie das fair?

Zugleich suggerieren die Antragsteller, dass die Deut-
sche Bahn AG eine Art VEB-Bahn sei, die willkürlich ihre
Preise senken kann. Tatsächlich würden für die Einfüh-
rung eines „Sozialtickets“ jedoch die Steuerzahler zah-
len: Der Rentner mit seinem geringen Einkommen, der
zweimal im Monat seine Enkel besuchen will, jedoch kein
„Sozialticket“ bekommt, müsste höhere Steuern zahlen
oder höhere Preise oder aber beides. Wo bleibt da die So-
lidarität?

Mit der Forderung der Fraktion Die Linke werden
willkürlich Grenzen gezogen, die fragwürdig sind. Das
bestätigt nur eines: Wenn die Fraktion Die Linke Gerech-
tigkeit erzwingen will, führt dies zu Ungerechtigkeit.
Wenn Die Linke Solidarität erzwingen will, führt dies zur
Entsolidarisierung.

Sie, meine Damen und Herren von der Fraktion Die
Linke, sind auf dem völlig falschen Dampfer. Ziel muss es
doch sein, möglichst viele Menschen in Arbeit zu bringen
und nicht, sie vom Sozialstaat abhängig zu machen. Ziel
muss es doch sein, als Arbeitnehmer ein Mindesteinkom-
men für gute Arbeit zu erzielen, ein Einkommen, mit dem
dieser sich und seine Familie ernähren kann, anstatt mit
ungerechten Sozialtarifen die Welt verbessern zu wollen.
Ihre Konzepte, meine Damen und Herren von der Frak-
tion Die Linke, sind reines Flickwerk.

Niemals gab es in Deutschland so viele Beschäftigte
wie heute: Über 40 Millionen Erwerbstätige und rund
27,2 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftige



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Uwe Beckmeyer
sprechen einen eindeutige Sprache. Sie sind das Ergebnis
unserer Politik.

Mit einer Arbeitslosenquote von 7,8 Prozent haben wir
im Mai 2008 erstmals seit November 1992 wieder die
8-Prozent-Marke unterschritten. Die Arbeitslosenquote
ist im August sogar auf 7,6 gefallen. Allein im vergange-
nen Jahr haben mehr als eine halbe Million Menschen
eine reguläre Beschäftigung gefunden.

Guter Lohn für gute Arbeit – das muss unser Ziel sein.
Denn nur gute Arbeit macht den Einzelnen zufrieden und
schafft sozialen Zusammenhalt und Wohlstand für alle.


Patrick Döring (FDP):
Rede ID: ID1617937600

Idealismus wächst mit dem Abstand zum Problem. Das

erleben wir wieder einmal im Zusammenhang mit dem
Antrag der Linken, den wir heute beraten. Damit fordert
sie, eine Bahncard 25 zu einem Normalpreis von 55 Euro
für die Empfänger sogenannter Hartz- IV-Leistungen für
5 Euro anzubieten. Um es auf den Punkt zu bringen; Das
ist sozialpolitischer Populismus und verkehrswirtschaft-
licher Unsinn in einem. Mit dem vorliegenden Antrag soll
die DB AG verpflichtet werden, Leistungsempfängern so-
zusagen 50 Euro im Jahr zu schenken. Warum aber soll
ein privates Unternehmen das tun? Ein privates Unter-
nehmen – das erkläre ich meinen Kollegen von der Linken
immer wieder gerne – möchte Leistungen anbieten und
damit Geld verdienen. Das soll so sein, das ist Marktwirt-
schaft. An den Konsequenzen der Wirtschaftsvorstellun-
gen der Linken haben wir bis heute zu arbeiten und stehen
in diesem Zusammenhang immer noch, vor großen He-
rausforderungen.

Ebenso wenig wie wir Bäckereien, Getränkehändler,
Drogerien und Tankstellen zu Geschenken an bestimmte
Personengruppen verpflichten, werden wir das bei der
Deutschen Bahn tun. Denn auch wenn Sie’s vielleicht
nicht wahrhaben wollen, die Deutsche Bahn wird nach
und nach ein privates Unternehmen werden. Und das ist
richtig – oder wollen Sie die Organisationsprivatisierung
rückgängig machen und zurück zur Behördenbahn?

Die Probleme auf diesem Sektor, den Sie von der Lin-
ken weiter staatlich regulieren wollen, liegen an ganz an-
derer Stelle: Die Bahntickets sind insgesamt zu teuer und
der Service ist nicht gut genug. Da können Sie meinen,
das alles sei mit Überregulierung und Staatseinfluss zu
lösen. Doch ein Blick in die Geschichte der Bahn zeigt,
dass die Zeit der Deutschen Bundesbahn die schlechteste
und ineffizienteste der gesamten Bahngeschichte war.
Nicht umsonst waren die ersten Eisenbahnunternehmen
im 19. Jahrhundert keine Staatsbahnen, sondern Unter-
nehmen. Dahin müssen wir zurück: Mehr Service und at-
traktivere Preise erreichen Sie nie, indem Sie sogenannte
Sozialtickets für eine Staatsbahn verteilen. Was wir brau-
chen, ist Wettbewerb auf der Schiene. Damit ist allen Bür-
gerinnen und Bürgern viel mehr geholfen als mit einer re-
duzierten Bahncard 25 für Empfänger von Hartz-IV-
Leistungen.

Abgesehen davon stellt sich die Frage der Erforder-
lichkeit: Bereits heute gibt es verschiedene günstige Rei-
semöglichkeiten, wenn man danach sucht. Das sind bei
Zu Protokoll
der Deutschen Bahn die Sparpreise 25 und 50 und die
Dauerspecials. Aber auch die durch Mitfahrzentralen
vermittelten Fahrgelegenheiten machen Reisen innerhalb
Deutschlands günstiger. Was zunächst so nett klingt, ent-
puppt sich dann schnell als Forderung nach staatlichen
Lenkungsmaßnahmen im Leben der Leistungsempfänge-
rinnen und -empfänger. Denn wer allein Bahnfahren sub-
ventionieren will, Radfahren, Autofahren oder andere
Fortbewegungsmöglichkeiten aber links liegen lässt, der
will im Rahmen der Transferleistungen das Verhalten der
Menschen bestimmen. Wir Liberale dagegen wollen die
Mindestbedingungen eines eigenverantwortlichen Le-
bens absichern, nicht weniger, aber – das sei an dieser
Stelle auch deutlich gesagt – nicht mehr. Denn der Vor-
rang eines selbst verdienten Lebensunterhalts verbietet,
eine staatliche Rundumversorgung für die Menschen zu
schaffen, deren Unterhalt von den Arbeitenden miterwirt-
schaftet wird. Wer arbeitet, muss mehr haben als derje-
nige, der nicht arbeitet.

Wenn wir schon über die Menschen sprechen, die am
Erwerbsleben teilnehmen, aber nur über ein kleines Ein-
kommen verfügen oder über eine kleine Rente, obwohl sie
lange gearbeitet haben, dann muss ich Folgendes fest-
stellen: Die Linke will mit diesem Antrag Transferleis-
tungsempfänger besser stellen als Menschen mit einem
geringen Einkommen. Und das ist für mich weder sozial-
noch gesellschaftspolitisch zu verantworten.

Daher stehen die Liberalen nach wie vor für eine an-
dere Sozialpolitik: Wer die wirtschaftlichen Rahmenbe-
dingungen so gestaltet, dass mehr Menschen Arbeit ha-
ben, der tut viel mehr für die ganze Bevölkerung als
derjenige, der auf Kosten anderer immer wieder Ge-
schenke an bestimmte Gruppen verteilt.

Dieser Antrag ist ein erneuter Beweis dafür, dass Marx
und Murks nicht nur phonetisch, sondern auch inhaltlich
nah beieinander sind.


Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617937700

Dass Menschen ihre Verwandten und Freunde besu-

chen oder Urlaub machen und zu ihnen mit den öffentli-
chen Verkehrsmittel reisen können, ist das Normalste der
Welt. Nicht aber für Menschen, die vom Armuts- und Aus-
grenzungsgesetz Hartz IV und analogen Grundsiche-
rungsgesetzen betroffen sind.

Der Eckregelsatz der Grundsicherungen enthält nur
11,04 Euro pro Monat für Mobilität mit öffentlichen Ver-
kehrsmitteln sowie 2,99 Euro für Reisen. Ein Einzelfahr-
schein im innerstädtischen öffentlichen Nahverkehr liegt
je nach Region bereits zwischen 1,20 und 2,20 Euro. Die
Preise für Monatskarten oder für den Fernverkehr über-
steigen diesen Betrag um ein Vielfaches. Deshalb und
weil es immer mehr bedürftige Menschen gibt, bilden sich
in immer mehr Städten und Kommunen Bündnisse, die für
die Einführung von ermäßigten oder kostenfreien Sozial-
tickets für den lokalen oder regionalen öffentlichen Nah-
verkehr eintreten. Diese konnten in einigen Städten und
Regionen bereits ein Sozialticket durchsetzen, so etwa in
Berlin, in Dortmund oder in Köln. In vielen Orten stehen
soziale Bündnisse in Verhandlungen mit der örtlichen
Verwaltung und Verkehrsunternehmen oder arbeiten an



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Katja Kipping
Volksbegehren zur Durchsetzung eines Sozialtickets.
Diese Bemühungen sind zu unterstützen.

Ihnen stehen auf der Ebene des überregionalen öffent-
lichen Fernverkehrs keine vergleichbaren Möglichkeiten
oder Initiativen gegenüber, obwohl dies angesichts der
Kosten für Fahrten mit der Deutschen Bahn AG dringend
notwendig wäre. Die Einführung eines Sozialtickets für
die Deutsche Bahn AG würde dieses Defizit beseitigen.
Das Sozialticket für die Deutsche Bahn AG soll einer
Bahncard 25 entsprechen, die Anspruchsberechtigte zum
Preis von 5 Euro erhalten. Anspruchsberechtigt sind Leis-
tungsbeziehende nach dem SGB II, dem SGB XII und dem
Asylbewerberleistungsgesetz sowie deren Angehörige.
Aus Gründen der Praktikabilität kann ein solches Sozial-
ticket ganz einfach in das bestehende Preis- und Ermäßi-
gungssystem der Deutschen Bahn AG eingepasst werden:
Menschen, die über ihren Transferleistungsbescheid bzw.
den ihrer Bedarfsgemeinschaft ihre Berechtigung für ein
Sozialticket für den Bahnfernverkehr nachweisen können,
erhalten an den DB-Verkaufsstellen eine Bahncard 25
zum Preis von 5 Euro. Diese ermöglicht in Kombination
mit den sogenannten Sparpreisen eine Ermäßigung von
bis zu 62,5 Prozent. Mit einer Bahncard 50 wären hinge-
gen nur maximal 50 Prozent Ermäßigung möglich. Damit
wird dem Interesse des Unternehmens an einfacher
Handhabbarkeit ebenso Rechnung getragen wie dem In-
teresse von Hilfebedürftigen an möglichst hohen Ermäßi-
gungen und an einem unbürokratischen, nicht stigmati-
sierenden Verfahren. Und damit wird zumindest ein
kleiner Schritt unternommen, um Menschen eine Mini-
malteilhabe an der Gesellschaft zu gewähren sowie
grundlegende Bedürfnisse nach familialen und sozialen
Kontakten zu befriedigen. Ein kleiner Schritt, der uns
aber nicht der Notwendigkeit einer sofortigen Anhebung
der Regelsätze auf 435 Euro und der weiteren Einführung
einer repressionsfreien sozialen Grundsicherung enthebt.


Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617937800

Der vorliegende Antrag der Linken enthält im Titel ein

semantisches Missverständnis. Offensichtlich geht es
nicht darum, der Bahn ein Sozialticket auszustellen, son-
dern um Sozialtickets für Bezieher von ALG II bei der
Deutschen Bahn.

Zunächst stelle ich fest, dass die im Regelsatz für Mo-
bilität vorgesehenen Anteile viel zu niedrig sind. Für
2,99 Euro im Monat kann man nicht verreisen, egal mit
welchem Verkehrsmittel. Es ist daher unser vordringli-
ches Ziel, den Regelsatz für Bezieher von ALG II auf
420 Euro anzuheben. Das muss vorrangiges Ziel vor der
Schaffung einzelner Vergünstigungen sein.

Der Vorschlag, dass die Deutsche Bahn AG eine auf
5 Euro rabattierte Bahncard 25 für die Bezieher von
ALG-II-Leistungen anbieten soll, ist aus unserer Sicht
dennoch prüfenswert. Da die Bahncard 25 mit dem
Sparpreis 25 und dem Sparpreis 50 kombiniert werden
kann, kann bei rechtzeitiger Buchung und Zugbindung
ein Rabatt von 62,5 Prozent auf den Normalpreis erzielt
werden. Fahren mehrere Personen mit einer Bahncard 25
zusammen, sinkt der Einzelpreis durch den Mitfahrer-
rabatt noch weiter. Auf vielen Strecken werden damit so-
gar vermeintliche Preisbrecher wie das 29-Euro-Ticket
der Deutschen Bahn unterboten.

Allerdings wird die Deutsche Bahn AG für die Einfüh-
rung eines Sozialtickets einen finanziellen Ausgleich ver-
langen, wie es bei Sozialtickets im Nahverkehr gesetzlich
auch geregelt ist. Geht man beispielsweise davon aus,
dass eine Million Menschen von diesem Angebot Ge-
brauch macht und die Differenz zwischen 58 Euro Nor-
malpreis und 5 Euro Sozialticketpreis erstattet werden
muss, ergibt sich eine jährliche Summe von 53 Millionen
Euro.

Angesichts der Tatsache, dass die Deutsche Bahn AG
aus dem Bundeshaushalt mittel- oder unmittelbar jähr-
lich rund 9 Milliarden Euro erhält, dürfte diese Summe
durch Umschichtungen aus diesen Mitteln gegenfinan-
zierbar sein. Man muss aber auch klar sagen, dass eine
solche Maßnahme Geld kostet, die dann an anderer Stelle
fehlt.

Es ist zudem falsch, sich nur auf das eine Unternehmen
Deutsche Bahn AG zu fixieren. Es gibt bereits heute an-
dere Fernverkehrsanbieter auf der Schiene, und es gibt
andere Möglichkeiten, in Deutschland zu reisen.

Hier beginnen auch die Probleme mit dem Vorschlag
der Linken: Sollen Fernlinienbusse auch verpflichtet
werden, Sozialtickets anzubieten? Was ist mit den ande-
ren Bahnen, die im Fernverkehr fahren. Sollen diese
ebenfalls verpflichtet werden, Sozialtickets einzuführen?
Was ist mit den Mitfahrzentralen?

Eine gesetzliche Regelung für Sozialtickets müsste alle
Fernverkehrsanbieter umfassen. Alternativ könnte der
Eigentümer, vertreten durch den Verkehrsminister, die
Deutsche Bahn AG auffordern, ein Sozialticket einzufüh-
ren. Schließlich hat die Politik ja auch massiv Einfluss
darauf genommen, dass der Bedienzuschlag von der
Deutschen Bahn AG zurückgenommen wurde.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617937900

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 16/10264 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU, der SPD,
der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen wünschen
Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung. Die Fraktion Die Linke wünscht Fe-
derführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Die Linke, Federführung beim Ausschuss für
Arbeit und Soziales, abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit der
Mehrheit der Stimmen des Hauses abgelehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des
Bündnisses 90/Die Grünen, Federführung beim Aus-
schuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, abstim-
men. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Überwei-






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
sungsvorschlag ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke mit der Mehrheit des Hauses angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:

Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Nationales Reformprogramm Deutschland
2008 bis 2010
Umsetzungs- und Fortschrittsbericht 2008

– Drucksache 16/10250 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um folgende Kolleginnen und Kollegen: Doris Barnett,
SPD, Rainer Brüderle, FDP, Dr. Herbert Schui, Die
Linke, Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen, und
die Parlamentarischen Staatssekretärin Dagmar Wöhrl.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/10250 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Diskriminierende Altersgrenzen im Bereich
des bürgerschaftlichen Engagements aufheben

– Drucksache 16/9630 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um folgende Kolleginnen und Kollegen: Markus Grübel,
CDU/CSU, Angelika Graf (Rosenheim) und Sönke Rix,
SPD, Sibylle Laurischk, FDP, Elke Reinke, Die Linke,
und Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen.2)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9630 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-

1) Anlage 11
2) Anlage 12
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Energieeinsparungsgesetzes

– Drucksachen 16/10290, 16/10331 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um folgende Kolleginnen und Kollegen: Volkmar Uwe
Vogel, CDU/CSU, Rainer Fornahl, SPD, Joachim
Günther (Plauen), FDP, Hans-Kurt Hill, Die Linke, Peter
Hettlich, Bündnis 90/Die Grünen und die Parlamentari-
sche Staatssekretärin Karin Roth.3)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf den Drucksachen 16/10290 und 16/10331 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf:

a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Gudrun Kopp, Martin Zeil, Rainer Brüderle, wei-
teren Abgeordneten und der Fraktion der FDP
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-
kung wettbewerblicher Strukturen im Markt
für Postdienstleistungen (PostWettG)


– Drucksache 16/8906 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Rainer Brüderle, Martin Zeil, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP

Wettbewerbsintensität im Binnenmarkt für
Postdienstleistungen erhöhen

– Drucksache 16/8773 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol-
gende Kolleginnen und Kollegen: Alexander Dobrindt,
CDU/CSU, Klaus Barthel, SPD, Gudrun Kopp, FDP,
Sabine Zimmermann, Die Linke, und Kerstin Andreae,
Bündnis 90/Die Grünen.

3) Anlage 13


(A) (C)



(B) (D)


Alexander Dobrindt (CSU):
Rede ID: ID1617938000

Vor uns liegt ein wahres Sammelsurium von unter-

schiedlichsten Gesetzesänderungen, die sich auf den
Postbereich beziehen. Die FDP denkt, damit den Märkten
für Postdienstleistungen neue Impulse zu geben. Die FDP
fordert mehr Wettbewerb. Das wollen wir auch. Aber
mehr Wettbewerb führt nicht immer automatisch zu mehr
Beschäftigung, wie wir es begrüßen würden.

Darüber hinaus will die FDP eine steuerliche Gleich-
behandlung aller Anbieter im lizenzierten Bereich durch
eine Einführung der Umsatzsteuerpflicht für die Deut-
sche Post AG. Die steuerliche Gleichbehandlung findet
meine Zustimmung, nur die Art der Umsetzung ist sicher-
lich streitbar. Hier ist die Bundesregierung auch schon
aktiv geworden. Erst gestern hat das Bundeskabinett ei-
nen Entschluss zur Mehrwertsteuerfrage bei Postdienst-
leistungen gefasst. Die Deutsche Post AG wird damit ihr
Steuerprivileg im Geschäft mit Großkunden verlieren.
Das ist ein weiterer richtiger Schritt für faire Wettbe-
werbsbedingungen im Postmarkt. Für vollkommen rich-
tig halte ich, Postsendungen im privaten Bereich weiter-
hin von der Mehrwertsteuer zu befreien. Somit haben
Privatleute keine Preiserhöhungen aufgrund der Libera-
lisierung zu fürchten.

Ein Punkt des gestrigen Beschlusses ist genauso wich-
tig: Wettbewerber erhalten zukünftig auch die Steuerbe-
freiung, wenn sie ebenfalls in ganz Deutschland flächen-
deckend Briefe zustellen und Briefe annehmen. Insgesamt
halte ich dies für einen guten Weg bei der Frage der
Mehrwertsteuergleichbehandlung. Auch die alternativen
Postdienstleister begrüßen insoweit diesen Vorschlag.
Der Universaldienst wird sich für die Menschen nicht
verteuern und die Wettbewerbsbedingungen werden sich
weiter verbessern.

Beim Lesen Ihrer zahlreichen Gesetzesänderungen für
den deutschen Markt der Postdienstleistungen ist mir eins
klar ins Auge gesprungen: Dies alles sind Vorschläge,
welche die Entwicklung des Postmarktes in Deutschland
nicht im Geringsten berücksichtigen. Mit der Post-
reform I aus dem Jahre 1989 und der Postreform II anno
1994 haben wir die Weichen für die Umwandlung der
Deutschen Bundespost und damit für die Privatisierung
eines ehemaligen Staatsmonopolisten gestellt. Das Leit-
motiv der Postreformen war: Wettbewerb als die Regel,
staatliches Monopol als die zu begründende Ausnahme.
Im Jahre 2000 folgte dann der Börsengang der Deut-
schen Post AG.

Doch den größten Umbruch haben wir zum Anfang
dieses Jahres geschafft: mit der vollständigen Liberali-
sierung des deutschen Postmarktes und dem kompletten
Wegfall des Monopols, also der gesetzlichen Exklusivli-
zenz der DPAG. Das Datum 1. Januar 2008 ist der Mei-
lenstein für mehr Wettbewerb im Postmarkt. Nichtsdesto-
trotz liegt dieser Meilenstein gerade einmal neun Monate
zurück. Jetzt muss sich dieser neu und vollständig geöff-
nete Markt erst einmal etablieren und festigen.

Bei allem gilt, wenigstens drei wesentliche Punkte zu
bedenken:

Erstens. Der Entwicklung von einem ehemaligen
staatlichen Monopolbereich zu einem vollständig privati-
Zu Protokoll
sierten Markt müssen wir bei unserer Postpolitik Rech-
nung tragen. Dies bedeutet beispielsweise: Es gibt immer
noch circa 27 000 Briefträger im Beamtenstatus bei der
Deutschen Post AG. Der letzte Postbeamte wird voraus-
sichtlich im Jahr 2040 in Pension gehen. Bis dahin wird
die DPAG die Verbindlichkeiten, die aus dem Beamten-
status resultieren, schultern müssen.

Zweitens. Wir müssen bei unserer Postpolitik beden-
ken: Deutschland ist in Europa einer der Vorreiter bei der
Öffnung seines Postmarktes für in- und ausländische
Wettbewerber. Viele andere EU-Staaten werden erst ei-
nige Jahre später ihre Märkte für den freien Wettbewerb
öffnen. Ein freier Postmarkt kann aus meiner Sicht nur
dann besser sein, wenn es ein europäisch funktionieren-
der Markt ist. Wir erleben auch Märkte, bei denen wir
große Hoffnungen hatten und wo inzwischen Bedenken
eingetreten sind. Ich erinnere an den Strommarkt.

Drittens. Schließlich müssen wir auch in Zeiten der Di-
gitalisierung – in Zeiten der elektronischen Post – die
Entwicklungen auf dem Postmarkt bedenken und berück-
sichtigen. Die Zahl der Paketsendungen steigt bisher
jährlich. Hier haben sich auch schon viele Wettbewerber
der Deutschen Post AG erfolgreich am Markt etabliert
und behauptet. Das ist eine ausdrücklich positive Ent-
wicklung. Dagegen bleibt die Zahl der Briefsendungen
seit vielen Jahren konstant. Hier ist kein Wachstum zu
verzeichnen. Dieser Teilmarkt stagniert.

Wollen wir den Übergang von einem ehemals staatli-
chen Monopol zu einem freien Wettbewerb positiv beglei-
ten, so müssen wir die richtigen Rahmenbedingungen set-
zen. Es geht dabei um die Rahmenbedingungen für die
Kunden, die Rahmenbedingungen für die betroffenen Un-
ternehmen und um die Rahmenbedingungen für die be-
troffenen Arbeitnehmer. Wir dürfen nicht vergessen: In
diesem Bereich der Postdienstleistungen sind in Deutsch-
land mehr als 200 000 Menschen beschäftigt. Deswegen
dürfen wir nicht nur von Märkten und mehr Wettbewerb
reden; wir sollten vor allem auch über die Menschen und
deren berufliche Perspektiven nachdenken. Wir müssen
die flächendeckende Versorgung der Menschen mit einfa-
chen Postdienstleistungen gewähren und sicherstellen.
Dabei sind günstige Preise wichtig, genauso die Nähe
zum Kunden und eine gute Qualität der Dienstleistung.

Besonders die flächendeckende Versorgung mit Brief-
dienstleistungen im ländlichen Raum muss an dieser
Stelle ein besonderes Gewicht haben. Ich befürchte, bei
einem Wettbewerb, wie die FDP ihn beschreibt, bleiben
die Bedürfnisse dieser Menschen in den ländlichen Re-
gionen auf der Strecke. Es reicht mir nicht, zu wissen,
dass theoretisch eine Postfiliale in allen Regionen
Deutschlands möglich ist. Unsere Aufgabe muss es sein,
sicherzustellen, dass die Menschen überall ihre Briefe
und Pakete – ohne Tageswanderung – an jedem Werktag
verschicken und erhalten können.

Den Übergang von einem ehemals staatlichen Mono-
pol zu einem freien Wettbewerb positiv begleiten, bedeu-
tet für mich daher, einen geregelten Übergang zu schaf-
fen, und zwar unter Berücksichtigung der Interessen der
Kunden und der Beschäftigten der bisherigen Monopol-
branche und ebenso unter Berücksichtigung der berech-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Alexander Dobrindt
tigten Interessen der neuen Marktteilnehmer. Ganz
gewiss werden wir daher die Post-Universaldienstleis-
tungsverordnung an die neuen Marktbedingungen anpas-
sen müssen, um für alle Marktteilnehmer die Chance zum
Erbringen des Universaldienstes zu stärken. Und sicher
werden wir zügig auch eine Lösung in der Frage der glei-
chen Umsatzsteuerbehandlung aller Postdienstleistungs-
unternehmen angehen. Wichtig ist: Wir arbeiten daran
und sind dabei auf einem guten Weg. Und ja, wir wollen
den Wettbewerb im Postmarkt; aber wir setzen uns für ei-
nen Wettbewerb innerhalb der sozialen Marktwirtschaft
ein.


Klaus Barthel (SPD):
Rede ID: ID1617938100

Wir sind der FDP sehr dankbar, dass sie in Form der

vorgelegten Anträge immer wieder daran erinnert, wel-
che verbraucherfeindliche und arbeitsplatzvernichtende
Politik sie auch im Postbereich verkörpert. Dabei geht es
gebetsmühlenartig immer wieder um drei Bereiche: die
Mehrwertsteuer, den Mindestlohn und den Universal-
dienst. Mit der Mehrwertsteuer will sie alle belasten, den
Mindestlohn will sie wieder abschaffen und den Univer-
saldienst will sie zerstören.

Zunächst zur Mehrwertsteuer: Wie allgemein bekannt
ist, wird der Europäische Gerichtshof – voraussichtlich
noch in diesem Jahr – sein Urteil zum Vertragsverlet-
zungsverfahren der Europäischen Kommission fällen,
das sich auch gegen Deutschland richtet. Dabei geht es
um die Frage, inwieweit die im europäischen Recht aus-
drücklich vorgesehene Mehrwertsteuerbefreiung für öf-
fentliche Postdienstleistungen unter den Bedingungen
der bevorstehenden völligen Marktöffnung noch geboten
und möglich ist. Meine Fraktion und ich können nur ra-
ten, dieses Urteil abzuwarten. Deshalb wollen wir auch
die Beratungen über den Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung zu diesem Thema erst nach einem solchen Urteil ab-
schließen.

Unsere inhaltliche Position dazu ist unverändert: Wir
wollen die Pflichtleistungen derjenigen Postdienstleister,
die die Gesamtpalette eines gesetzlich definierten Uni-
versaldienstes erbringen, im Interesse der Kunden von
der Mehrwertsteuer frei halten. Es ist und bleibt ein Un-
terschied, ob ein oder mehrere Unternehmen das flächen-
deckende Postangebot, wie es nach dem Grundgesetz der
Bund zu gewährleisten hat, erbringen oder ob sich Unter-
nehmen auf bestimmte ertragreiche Marktsegmente oder
Regionen konzentrieren.

Einmal mehr entpuppt sich die FDP als Steuererhö-
hungspartei. Sie will Postdienste für die Kleinverbrau-
cher um die Mehrwertsteuer, also 19 Prozent, erhöhen
und explizit sogar einen ermäßigten Steuersatz ausschlie-
ßen.

Da passt es in die ganze Logik nahtlos hinein, dass der
FDP-Antrag unter der Überschrift „wettbewerbliche
Strukturen“ die Axt an den Universaldienst selbst legen
will. Sie will mindestens folgende Leistungen aus dem
Pflichtangebot streichen:

– Briefe zwischen 50 und 2 000 Gramm,

– Pakete zwischen 10 und 20 Kilogramm,
Zu Protokoll
– mindestens 4 000 Filialen durch Streichung der Min-
destzahl von 12 000 Filialen,

– alle Briefsendungen in einer Zahl von über 50 Stück,

– die Laufzeit und Qualität der Briefdienstleistung sowie
die werktägliche Zustellung,

– Eilzustellung,

– Nachnahme.

Was dann noch vom Universaldienst übrig bleibt, mag
sich jeder selbst ausmalen. Auf jeden Fall würde der
Großteil dessen, was heute Postdienste ausmacht, nicht
mehr allen Bürgerinnen und Bürgern zur Verfügung ste-
hen. Als Beispiel will ich den Verein oder den mittelstän-
dischen Betrieb nennen, die Einladungen oder Rechnun-
gen mit einer Zahl von mehr als 50 Stück versenden
wollen. Die bisherigen Erfahrungen machen wenig Hoff-
nung, dass der Markt aus sich heraus all diese Leistungen
erbringen würde – schon gleich gar nicht zu akzeptablen
Bedingungen. Die Koalition ist sich einig, zwar die ein-
zelnen Pflichtleistungen der jetzigen PUDLV zu überprü-
fen, insgesamt aber das derzeitige Leistungsniveau inklu-
sive der Selbstverpflichtung der Deutschen Post zu
erhalten und zu präzisieren. Woher die FDP ihre Erkennt-
nisse über einen diesbezüglichen anders lautenden
„Gesetzentwurf“ bezieht, bleibt eines der vielen Postge-
heimnisse. Die FDP ist also bereit, die Interessen der
Kundinnen und Kunden sowie des ländlichen Raumes auf
dem Altar ihrer pervertierten Wettbewerbsideologie zu
opfern.

Die Krönung dieser Ideologie lesen wir jedoch im Ka-
pitel über die sozialen Aspekte des Postmarktes.

Dort lesen wir:

Die Berücksichtigung sozialer Belange als Ziel der
Regulierung … widerspricht dem wettbewerblichen
Charakter der Regulierung ehemals staatseigener
Netzindustrien … Die Sozialklausel …, welche die
Erteilung einer Lizenz an die Arbeitsbedingungen
… knüpft, ist ein Fremdkörper … Die Einführung
eines Mindestlohns für den Briefbereich verhindert
die Entfaltung eines funktionsfähigen Wettbewerbs


Einmal mehr können wir schwarz auf weiß lesen, dass
die FDP die Existenzsicherung von Arbeitnehmerinnen
und -nehmern nicht im Einklang mit dem Wettbewerb
sieht, sondern als Störfaktoren. Wir stellen den Menschen
in den Mittelpunkt und nicht ein längst widerlegtes Sys-
temmodell.

Sie können sicher sein: Die SPD wird nicht locker las-
sen in ihrem Kampf für flächendeckende Mindestlöhne.
Gerade im Postbereich haben wir gesehen, was sich an
Dumping von Arbeitsbedingungen in jeder Hinsicht ent-
wickelt hat. Einmal mehr halten wir fest, dass die Be-
hauptung, durch Mindestlöhne würden Arbeitsplätze ver-
nichtet, durch nichts belegt ist. Der Hinweis auf die Pleite
der PIN AG, der dann vonseiten der FDP und der Min-
destlohngegner immer wieder kommt, ist schlichtweg
peinlich.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Klaus Barthel
Inzwischen konnte sich jeder davon überzeugen, dass
die PIN AG an ihrem eigenen fehlenden Geschäftsmodell,
an ihrer chaotischen Struktur, an ihrer mangelnden Leis-
tungsqualität, an Managementversagen und ihrem Groß-
aktionär gescheitert ist – längst bevor ein Mindestlohn in
Kraft trat.

Alles in allem freue ich mich darauf, diese Anträge der
FDP ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren. Das wird uns
Gelegenheit geben, einmal mehr die erfolgreiche sozial-
demokratische Linie in der Postpolitik aufzuzeigen: Be-
zahlbare Leistungsqualität für alle erhalten und verbes-
sern, Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen sichern und
ausbauen. Darüber hinaus ist es überfällig, wenn wir
schon über eine Novellierung des Postgesetzes sprechen,
die derzeitige Regulierungsdichte und -tiefe zu überprü-
fen. Der Universaldienst einschließlich seiner Finanzie-
rung, die Zuverlässigkeit der Anbieter, der Daten- und
Verbraucherschutz und der Schutz vor Marktmachtmiss-
brauch sowie faire Wettbewerbsbedingungen – auch im
europäischen Kontext – könnten durch schlanke Regulie-
rung gesichert werden. Mit Recht wirft zum Beispiel das
Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) die
Frage auf, weshalb wir in Deutschland ein Regulierungs-
regime im Postsektor aufgebaut haben, das dem der Tele-
kommunikations- und der Energiebranche an Komplexi-
tät in fast nichts nachsteht.

Mit Recht wird dort festgestellt, dass ein postalisches
Netz materiell und ökonomisch nicht mit den physikali-
schen Netzen der anderen Bereiche vergleichbar ist. So
fehlten hohe Marktzutrittsbarrieren oder „Bottlenecks“,
also schwer überwindbare Monopolstrukturen. Deshalb
sei auf Netzzugangs- und Entgeltregulierung weitgehend
zu verzichten.

Hier, meine Damen und Herren von der FDP, wäre
eine Überprüfung der Notwendigkeit und Angemessen-
heit von Regulierung aller Mühen echter Liberaler wert.
Sonst rufen Sie ständig nach Deregulierung und Bürokra-
tieabbau. Bei der Post hingegen kann die FDP gar nicht
genug regulieren, wie die beiden heute vorliegenden An-
träge erneut beweisen.

Ich hoffe jedenfalls, dass wir die Gelegenheit auch nut-
zen, jenseits der Einzelfragen und Einzelinteressen die
Gesamtkonzeption der Postpolitik wieder in den Mittel-
punkt zu rücken.


Gudrun Kopp (FDP):
Rede ID: ID1617938200

Die gegenwärtige Finanzmarktkrise hat, zumindest

hinsichtlich ihrer Konsequenzen in Deutschland, deutlich
gezeigt, wohin es führt, wenn Staatsbanker mit politischer
Unterstützung agieren können. Eine Staatsbank nach der
anderen hat sich verspekuliert und den Steuerzahler auf
den Verlusten sitzen lassen. Das Gleiche erleben wir in
milderer Form seit Jahren auf dem Postmarkt. Auch hier
wird ein Monopolunternehmen, das noch immer zu
30 Prozent in Staatsbesitz ist, von der Bundesregierung
an allen Ecken und Kanten gepäppelt und privilegiert.
Die Leidtragenden sind einmal mehr die deutschen Steu-
erzahler und Postkunden, die die Steuergeschenke für die
Deutsche Post AG finanzieren dürfen und obendrein noch
auf die Früchte des Wettbewerbs im Postwesen verzichten
Zu Protokoll
müssen, also auch hier wieder höhere Preise als notwen-
dig zahlen.

Dies belegt, dass Union und SPD die Interessen eines
halbstaatlichen Großkonzerns, dessen Spitzenbelegschaft
lieber in Liechtenstein als in Deutschland versteuert, hö-
her achten als die Interessen der anderen 80 Millionen
Bundesbürger. Gerade als der Kunde hoffen konnte, end-
lich einen Wettbewerbsmarkt für Post- und Zustelldienste
genießen zu können, mit dem Fall der Exklusivlizenz für
die Briefbeförderung zum 1. Januar 2008, fiel den Lobby-
isten in der Konzernzentrale der Deutschen Post AG wie-
der ein neuer Kniff ein, um ihr Unternehmen vor dem bö-
sen Wettbewerb zu schützen. Der Post-Mindestlohn war
geboren, und Union und SPD ließen sich von den angeb-
lichen Gutmenschen mehr als nur bereitwillig vor ihren
Monopolkarren spannen. Im Ergebnis kann die Deutsche
Post AG zufrieden sein. Mit einem Postmindestlohn nahe
zehn Euro und einer Umsatzsteuerbefreiung wird der
raue Wind des Wettbewerbs zum milden Lüftchen.

Dieses Manöver mag sich bei den Parteispenden für
Union und SPD auszahlen, den Bürgern in Deutschland
bleibt damit versagt, was längst selbstverständlich sein
sollte: nämlich die Wahl zwischen verschiedenen günsti-
geren Angeboten und innovativen Lösungen.

Damit muss endlich Schluss sein. Die FDP hat deshalb
heute ein Gesetz in den deutschen Bundestag einge-
bracht, mit dem die wesentlichen Wettbewerbshemmnisse
auf dem deutschen Postmarkt endlich zu beseitigen wä-
ren.

So wäre es wesentlich, dass zum Beispiel das Postge-
setz deutlich entschlackt und auf seinen Ursprungszweck,
nämlich die Rahmensetzung für einen wettbewerblichen
Postmarkt, zurückgeführt wird. Wir brauchen keine Sozi-
alklausel und auch keinen Regulierer, der sich um die Ar-
beitsbedingungen in Monopolbereichen kümmert. Dies
kann der Gesetzgeber an anderer Stelle regeln, und zwar
branchen- und sektorenübergreifend. Die Bundesnetz-
agentur sollte sich dagegen auf die Herstellung wett-
bewerblicher Rahmenbedingungen konzentrieren. Ich
denke, die Debatte über die Lohnstrukturen bei den Post-
wettbewerbern hat sogar den Mindestlohnbefürwortern
gezeigt, dass die Bundesnetzagentur hier nicht der rich-
tige Ansprechpartner ist.

In gleicher Weise müssen wir auch die Post-Universal-
dienstleistungsverordnung PUDLV, endlich von überflüs-
sigem Ballast befreien. Nicht nur die Monopolkommis-
sion hat zu Recht darauf hingewiesen, dass zu detaillierte
Vorschriften hier Innovation und Strukturwandel behin-
dern.

Entscheidend für den Wettbewerb auf dem Postmarkt
sind jedoch insbesondere die Frage des Postmindestlohns
und der Umsatzsteuerbefreiung der Deutschen Post AG.
Es kann überhaupt keinen Zweifel geben, dass der von
der Bundesregierung zu verantwortende Mindestlohn für
den Postsektor zu einer umfassenden Marktbereinigung
zugunsten des Ex-Monopolisten geführt hat. Sie, meine
Herren und Damen von den Regierungsfraktionen, tra-
gen die Verantwortung dafür, dass die Liberalisierung im
Keim erstickt wurde und wenigstens 6 000 Menschen ihre



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Gudrun Kopp
Arbeit verloren haben. Vorfahrt für Arbeit sieht anders
aus, Frau Bundeskanzlerin!

Aber es geht ja auch noch weiter. Der renommierte
Wettbewerbsrechtler Wernhard Möschel bezeichnet den
Postmindestlohn als einen verbotenen und nichtigen Kar-
tellvertrag, der gegen deutsches und europäisches Kar-
tellrecht verstößt, und fordert das Bundeskartellamt zum
Handeln auf. Darüber hinaus sieht er die Bundesregie-
rung hier sogar in der Regresspflicht. Das würde dann
wirklich dem Fass den Boden ausschlagen. Erst durch ei-
nen Rechtsbruch ein Monopol zementieren und dann auf
Steuerzahlers Kosten den Schaden reparieren. Hier kann
es für den Augenblick jetzt nur eine Handlungsoption ge-
ben: Der Postmindestlohn gehört ersatzlos gestrichen,
und zwar am besten gestern.

Der zweite wichtige Punkt betrifft die Frage der Um-
satzsteuerbefreiung der Deutschen Post AG. Hier bahnt
sich mit der Kabinettsentscheidung von gestern die
nächste skandalöse Weichenstellung durch die Bundesre-
gierung an. Ausgerechnet der angebliche Sparminister
Peer Steinbrück möchte freiwillig auf rund 500 Millionen
Euro an Einnahmen pro Jahr verzichten, um de facto an
der Umsatzsteuerprivilegierung der Deutschen Post AG
festzuhalten. Es ist doch völlig klar, dass auf lange Sicht
kein anderes Unternehmen in der Lage sein wird, die An-
forderungen für die Erbringung von Universaldienstleis-
tungen zu erfüllen. Vollends absurd wird es dann aber,
wenn künftig neben der Bundesnetzagentur nun auch
noch das Bundeszentralamt für Steuern postwettbewerb-
liche Prüfungen vornehmen soll. Im Übrigen darf nicht
unterschlagen werden, dass die Deutsche Post AG durch
die Aufhebung der Umsatzsteuerbefreiung im Gewerbe-
kundenbereich bei den vorsteuerabzugsberechtigten
Kunden nunmehr sogar Wettbewerbsvorteile gegenüber
dem Status quo gewinnt.

Es bleibt deshalb dabei, die einfachste Lösung wäre
eine Umsatzsteuerpflicht für alle Unternehmen, davon
hätte dann auch der Bundeshaushalt etwas.

Unter dem Strich kann ich nur an alle Beteiligten ap-
pellieren, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen. Der
Wettbewerb muss endlich Einzug halten, die Monopole
sind zu schleifen. Dies ist im Interesse aller Bürger und
Steuerzahler, wenn auch vielleicht nicht im Sinne der Mo-
nopolisten. Denen sind wir als Abgeordnete aber auch
nicht verpflichtet.


Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617938300

„Für mehr Billigjobs und eine schlechtere Versorgung

der Verbraucher“ – das wäre eine ehrliche Überschrift
der FDP-Anträge gewesen, die heute beraten werden.
Denn was verbirgt sich hinter ihrer Forderung nach mehr
Wettbewerb? Die FDP will keine feste Anzahl von Brief-
kästen mehr garantieren und sie will den Post-Mindest-
lohn beseitigen, um nur zwei Punkte zu nennen. Von der
FDP ist man so etwas gewöhnt.

Tragisch ist nur, dass die Bundesregierung dazu keine
wirkliche Alternative bietet. Sicher, wir haben seit diesem
Jahr in Deutschland im Briefdienst einen Mindestlohn.
Dieser war nötig. Schließlich hat die Politik der Regie-
Zu Protokoll
rungen Merkel und Schröder zu der Ausbreitung von Bil-
liglöhnen im Briefdienst beigetragen.

Union und SPD tönen, der Briefmarkt müsse liberali-
siert werden, wir brauchten hier mehr Wettbewerb, wohl-
wissend, dass im Briefgeschäft die Personalkosten einen
Großteil der Unternehmensausgaben ausmachen und
deswegen der Wettbewerb über die niedrigsten Löhne
ausgetragen wird.

Die Bilanz der Privatisierung der Post und der Libe-
ralisierung des Postmarktes in Deutschland ist katastro-
phal: 140 000 Arbeitsplätze hat bisher die Privatisierung
der Post vernichtet – oftmals Vollzeitarbeitsplätze mit or-
dentlichen Einkommen, die nun durch Billigjobs ersetzt
werden. Die Deutsche Post will in diesem Jahr alle ihre
Filialen schließen und zieht sich mit einem kompetenten
und qualifizierten Service aus der Fläche zurück. Die
Preise der Briefbeförderung für den Normalverbraucher
haben sich seit 2005 erhöht. Für Großkunden hat die Post
dagegen Rabatte angekündigt.

Aus dieser katastrophalen Bilanz der Privatisierung
hat die Bundesregierung jedoch keine Konsequenzen ge-
zogen. Im Gegenteil: Sie hat den Briefmarkt in Deutsch-
land 2008 nun völlig für den Wettbewerb geöffnet. Sie ar-
beitet gegenwärtig daran, die Grundversorgung zu
verschlechtern.

Zugleich ist die Deutsche Post ein Global Player auf
dem Weltmarkt. Mit ihrem Abenteuer in den USA hat sie
in den letzten Jahren mehrere Milliarden Euro Verlust ge-
macht. Angesichts dieser Ergebnisse ist ein Kurswechsel
dringend nötig. Die Linke wird hier die Bundesregierung
unter Druck setzen. Schließlich zeigen die Nachbarländer
Deutschlands, dass es auch anders geht.

Die Niederlande haben die angekündigte vollständige
Marktöffnung zurückgezogen. In Frankreich zwangen
massive Proteste der Gewerkschaften den französischen
Präsidenten Sarkozy, seine Privatisierungspläne für die
Post auf Eis zu legen. Dort wird nun eine Volksabstim-
mung zur geplanten Börseneinführung der Post gefor-
dert.

Wir sollten uns in Deutschland daran ein Beispiel neh-
men. Der Postdienst ist nicht dafür da, Profite zu machen,
sondern dafür, die Bürgerinnen und Bürger ordentlich mit
Briefdienstleistungen zu versorgen. Dafür steht die Linke.


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617938400

Die FDP fordert in ihrem Gesetzentwurf eine Stärkung

wettbewerblicher Strukturen auf dem Postmarkt. Das
hört sich zunächst gut an, und auch wir streben einen fai-
ren und funktionierenden Wettbewerb an.

Mit Datum 1. Januar 2008 ist die Exklusivlizenz der
Deutschen Post AG aufgehoben worden. Wir haben dies
unterstützt, weil nur dadurch überhaupt Wettbewerb auf
dem Postmarkt entstehen kann. Die privaten Anbieter auf
dem teilliberalisierten Postmarkt hatten im Hinblick auf
die angekündigte vollständige Marktliberalisierung be-
reits erhebliche Investitionen getätigt.

Nach Auskunft der Bundesregierung auf unsere Kleine
Anfrage auf Drucksache 16/4979 aus dem letzten Jahr



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Kerstin Andreae (Bündnis 90/Die Grünen)

erwartete die Bundesregierung von einer vollständigen
Liberalisierung die Entstehung neuer Arbeitsplätze sowie
ein qualitativ und quantitativ hochwertiges Angebot an
Postdienstleistungen bei sinkenden Preisen. Demnach
hat die bislang vollzogene Marktöffnung zu einer gestie-
genen Dienstleistungsqualität sowie insgesamt tendenzi-
ell niedrigeren Preisen bei Briefen und Paketen geführt.
Zudem hat die Angebotsvielfalt zugenommen. Darüber
hinaus betont die Bundesregierung zu Recht, dass auch
trotz einer einseitigen Liberalisierung des deutschen
Postmarktes nicht von einem unfairen Wettbewerb ausge-
gangen werden kann.

Die Arbeitsplätze bleiben auch bei vollständiger Libe-
ralisierung im Land – unabhängig davon, wer die Post
zustellt. Zudem zeigen die Erfahrungen aus bereits libe-
ralisierten Ländern, dass auch bei vollständiger Markt-
öffnung keine signifikanten Umsatzeinbrüche für den
ehemaligen Monopolisten zu erwarten sind.

Allerdings besteht trotz der beschriebenen Erfolge der
erfolgten Teilliberalisierung berechtigte Kritik an teil-
weise unzureichenden Arbeitsbedingungen im teilprivati-
sierten Postgewerbe. Diese Kritik trifft sowohl einzelne
Wettbewerber als auch Subunternehmen, die im Auftrag
der Deutschen Post AG mit über 20 000 Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmern Dienstleistungen erbringen und
deutlich unterhalb des Lohnniveaus der DPAG bezahlen.

Wir von Bündnis 90/Die Grünen sind der Auffassung,
dass Deutschland endlich zu verbindlichen Regelungen
für Mindestarbeitsbedingungen kommen muss, die die
Lohnspirale nach unten stoppen. Tarifverträge und die
Regelungskraft der Sozialpartner bieten keinen hinrei-
chenden Schutz gegen Fehlentwicklungen mehr. In den
vergangenen Jahren haben tariflich organisierte Bran-
chen mit sehr niedrigen Entgelten genauso zugenommen
wie tariflich nicht organisierte Bereiche mit Niedriglöh-
nen.

Nur umfassende Regelungen für Mindestarbeitsbedin-
gungen, die alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
einbeziehen, sowohl tariflich organisierte wie nicht orga-
nisierte Wirtschaftsbereiche erfassen und die Tarifauto-
nomie wieder stärken, können weiteres Lohndumping
verhindern und zuverlässig vor Armutslöhnen schützen.
80 Prozent der Bevölkerung und eine parlamentarische
Mehrheit hier im Bundestag haben sich klar für Mindest-
löhne ausgesprochen. Auch das jüngste Urteil des Euro-
päischen Gerichtshofs zum Vergaberecht zeigt, wie drin-
gend notwendig branchen- und regionalspezifische
Mindestlöhne sind, um Lohndumping unmöglich zu ma-
chen. Die FDP blendet diese Fakten in Ihrem Gesetzent-
wurf leider vollständig aus.

Die Sozialklausel im Postgesetz erfüllt eine wichtige
Funktion. Durch einen Wegfall dieser Klausel wäre Lohn-
dumping Tür und Tor geöffnet. Die Folgen wären weitere
ergänzende Leistungen nach ALG II. Diese Art von Wett-
bewerb zulasten der Steuerzahler werden wir nicht mit-
tragen.

Wettbewerbsverzerrungen sind aber auch die Folge
der unterschiedlichen steuerlichen Behandlung von
Marktteilnehmern bei Postdienstleistungen, die bereits
im Wettbewerb erbracht werden. Diese einseitige Steuer-
befreiung benachteiligt private Konkurrenten der DPAG
im erheblichen Umfang. Mit der vollständigen Marktlibe-
ralisierung drohen durch die Steuerbefreiung weitere
Wettbewerbsverzerrungen. Wir fordern daher schon seit
langem, die ungleiche Umsatzbesteuerung der Marktteil-
nehmer auf dem Postmarkt zgunsten der Deutschen
Post AG zu beenden und die EU-Rechtsvorschriften ein-
deutig anzuwenden.

Welche Position die Bundesregierung in dieser Sache
vertritt, blieb uns über Monate verborgen. Zunächst war
unser Wirtschaftsminister Glos für, Finanzminister
Steinbrück gegen die Abschaffung der einseitigen Steuer-
privilegierung. Vor wenigen Tagen sprach sich
Steinbrück dann überraschend auch für die Abschaffung
aus. Seit gestern wissen wir: Es bleibt doch weitgehend
alles beim Alten. Dieses Koalitionschaos schadet dem
Wirtschaftsstandort Deutschland. Wir benötigen wieder
Rechts- und Planungssicherheit für alle Beteiligten.

Faire Wettbewerbsbedingungen auf der einen Seite,
wirksame Mittel gegen Lohndumping auf der anderen
Seite. So lautet unsere Botschaft. Die FDP hat da in ihrem
Gesetzentwurf leider nicht genügend nachgedacht. Ein-
fach nur alles dem Markt zu überlassen, das wäre die fal-
sche Botschaft und würde zulasten der Steuerzahler ge-
hen.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617938500

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf

den Drucksachen 16/8906 und 16/8773 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Investitionszulagen-
gesetzes 2010 (InvZulG 2010)


– Drucksache 16/10291 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol-
gende Kolleginnen und Kollegen: Manfred Kolbe, CDU/
CSU, Simone Violka, SPD, Christian Ahrendt, FDP,
Roland Claus, Die Linke, und Peter Hettlich, Bündnis 90/
Die Grünen.


Manfred Kolbe (CDU):
Rede ID: ID1617938600

Mit dem Investionszulagengesetz 2010 wollen wir, wie

im Koalitionsvertrag festgelegt und auf der Klausurta-
gung der Bundesregierung in Meseberg im August 2007
nochmals bekräftigt, auch weiterhin Erstinvestitionen auf
dem Gebiet der östlichen Länder unterstützen. Das ist
auch gut so. Auch wenn der gesamtwirtschaftliche Auf-
schwung sehr gute Fortschritte gemacht hat, bleibt den-
noch bis zur Angleichung an die wirtschaftlichen Verhält-


(A) (C)



(B) (D)


Manfred Kolbe
nisse in den westlichen Ländern weiterhin viel zu tun.
Aufgrund der immer noch doppelt so hohen Arbeitslosig-
keit in den östlichen Ländern ist die Verlängerung der
Investitionsförderung ein wichtiges Instrument, um in
Deutschland gleiche Wirtschaftsverhältnisse zu schaffen.
Mit diesem Investitionszulagengesetz 2010 legen wir für
das weitere Wirtschaftswachstum einen ordentlichen
Grundstein.

Die faktischen Kennzahlen der schwächeren ostdeut-
schen Wirtschaft sind: Die Arbeitslosenquote ist mit rund
13 Prozent doppelt so hoch wie im Westen. Auch der Ab-
wanderungstrend von Ost nach West sowie ins Ausland ist
nach wie vor ungemindert. Per Saldo verloren die östli-
chen Bundesländer zuletzt jährlich über 50 000 zumeist
junger Fachkräfte. Die gesamtwirtschaftliche Leistung
Ostdeutschland beträgt zurzeit knapp 70 Prozent des
westdeutschen Niveaus. Dieses Investitionszulagengesetz
soll, gemäß dem Entwurf der Bundesregierung, zu Inves-
titionszulagen in Höhe von 550 Millionen Euro im Jahr
2011, 770 Millionen Euro in 2012, 540 Millionen Euro
2013, 315 Millionen Euro 2014 und noch einmal 90 Mil-
lionen Euro 2015 führen. Wie in den vergangenen Jahren
werden dadurch sicherlich Investitionen von mehreren
Milliarden Euro in den östlichen Bundesländern ange-
regt.

Die Investitionszulage ist ein sehr beliebtes Förder-
instrumentarium, das vom Handwerk und vom Mittelstand
sehr gern angenommen wird, weil es eine Rechtssicherheit
bietet, wie es kein anderes Förderinstrumentarium ge-
währt. Auch deshalb sollten wir die Gewährung der In-
vestitionszulage fortsetzen. Sie ist unbürokratisch. Sie ist
nicht mit langen Genehmigungsverfahren verbunden.

Nach Art. 87 EG-Vertrag sind staatliche Beihilfen an
Unternehmen mit dem gemeinsamen Markt nur aus-
nahmsweise vereinbar. Solche Ausnahmen liegen – wie
beim Investitionszulagengesetz 2010 – vor, wenn es einen
entsprechenden zeitlichen und regionalen Bezug gibt.
Seitens der Europäischen Kommission wurde dies ent-
sprechend für die östlichen Länder Deutschlands bestä-
tigt. Lassen Sie mich im Folgenden einige Anmerkungen
zum Gesetzentwurf der Bundesregierung machen:

Erstens. Fördergebiet sind weiterhin die Länder Bran-
denburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-
Anhalt, Thüringen und nun auch ganz Berlin.

Zweitens. Begünstigte Investitionen sind Erstinvesti-
tionen, die mindestens fünf Jahre zum Anlagevermögen
eines Betriebs des verarbeitenden Gewerbes, der produk-
tionsnahen Dienstleistungen oder des Beherbergungsge-
werbes gehören. Erstinvestitionen bzw. Erstinvestitions-
vorhaben sind die Errichtung einer neuen Betriebsstätte,
die Erweiterung einer bestehenden Betriebsstätte, die Di-
versifizierung der Produktion und die Vornahme einer
grundlegenden Änderung des gesamten Produktionsver-
fahrens. Die Investition muss mindestens fünf Jahre im
Betrieb verbleiben, um einen tatsächlich nachhaltigen
Beitrag zur Regionalentwicklung zu leisten. Begünstigte
Wirtschaftszweige sind wie bisher das verarbeitende Ge-
werbe, die produktionsnahen Dienstleistungen und das
Beherbergungsgewerbe.
Zu Protokoll
Drittens. Investitionszeitraum ist die Zeit nach dem
Tage der Verkündung des Gesetzes bis zum 31. Dezember
2013.

Viertens. Der Fördersatz beträgt im Jahr 2009 12,5 Pro-
zent, 2010 10 Prozent, 2011 7,5 Prozent, 2012 5 Prozent
und im Jahr 2013 2,5 Prozent.

Meiner persönlichen Meinung nach sollte diese
scharfe Degression nochmals überprüft werden. Die
Wirtschaft im Osten wächst seit 2003 langsamer als die
im Westen, und vor diesem Hintergrund ist ein Auslaufen
der Investitionszulage problematisch. Außerdem wäre im
letzten Förderjahr der Verwaltungsaufwand für die Be-
triebe und die öffentliche Hand dann höher als die eigent-
liche Förderung. Hier erhoffe ich mir im Gesetzgebungs-
verfahren die Prüfung der Einführung eine Veränderung
der Degression der Fördersätze, damit das Verhältnis von
Aufwand und Nutzen gewahrt bleibt.

Alles in allem setzt der vorliegende Entwurf der Bun-
desregierung für ein Investitionszulagengesetz 2010 ein
richtiges Signal an die Wirtschaft in den östlichen Län-
dern. Eine entsprechend schnelle Gesetzesberatung ist im
Sinne der dortigen Wirtschaft notwendig, um weitere Pla-
nungssicherheit zu erhalten. Hierfür sollten wir im Bun-
destag einen Beitrag leisten.


Simone Violka (SPD):
Rede ID: ID1617938700

Obwohl wir uns bereits im Jahr 19 nach der Wende be-

finden und dank dem Engagement von Unternehmerinnen
und Unternehmern, aber auch von Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern und der Gewerkschaften, viele gut am
Markt etablierte Unternehmen im Osten entstanden sind,
ist der Aufbau Ost noch lange nicht abgeschlossen. Vier-
zig Jahre geplante Misswirtschaft lassen sich eben leider
nicht von heute auf morgen beseitigen, und der Nachhol-
bedarf war ja auch riesig. Bevor die Wirtschaft richtig in
Schwung kommen konnte, mussten erst umfangreiche In-
frastrukturmaßnahmen erfolgen. Nicht zu vergessen die
Rückstände bei Umwelt- und Arbeitsschutz und bei der
Infrastruktur der Versorgungsträger. Hier wurde in weni-
gen Jahren unglaubliches geleistet.

Als ein gutes und wirksames Instrument beim Aufbau
Ost hat sich dabei die Investitionszulage erwiesen. Daher
ist es sehr zu begrüßen, dass es für das Investitionszula-
gengesetz 2007, welches Ende des Jahres 2009 ausläuft,
mit dem jetzt einzubringenden Investitionszulagengesetz
2010 ein Nachfolgegesetz gibt, welches die Förderung
auch nach 2009 möglich macht und die geförderten Maß-
nahmen bis 2013 sicherstellt.

Bereits beim Investitionszulagengesetz 2007 waren in-
tensive Verhandlungen mit den zuständigen Stellen in
Brüssel notwendig, die diesem Förderinstrument eher
skeptisch gegenüberstanden und nach wie vor -stehen.
Deshalb geht an dieser Stelle auch mein Dank an die, wel-
che durch intensive Gespräche und Verhandlungen in
Brüssel dieses heute einzubringende Gesetz erst möglich
gemacht haben. Das ging aber nicht, ohne auf Forderun-
gen der Gesprächspartner einzugehen. Eine Forderung
war die Festsetzung eines Endpunktes der Förderung und
ein degressiver Verlauf der Fördersätze bis zu diesem



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Simone Violka
Endpunkt. Dieser Forderung wird mit der vorliegenden
Ausgestaltung des Investitionszulagengesetzes 2010
Rechnung getragen, auch wenn ich als Ostdeutsche mir
gewünscht hätte, dass die Ausgestaltung weniger degres-
siv wäre und es auch keinen Endpunkt 2013 gäbe. Aber da
ich aus eigener Erfahrung die negative Einstellung der
Brüssler Kommission zu diesem Gesetz kenne, weiß ich,
wie gering dabei der Verhandlungsspielraum war. Ohne
diesen Kompromiss wäre bereits 2009 Schluss mit diesem
Förderinstrument.

Wir haben damit für den Osten viel gewonnen, und an-
statt den Zugeständnissen nachzuweinen, sollten wir bis
2013 das Beste daraus machen. Nach wie vor fehlt es im
Osten nicht an Menschen mit innovativen Ideen, sondern
an finanziellen Mitteln, um diese Ideen in Arbeitsplätze
und Wirtschaftswachstum umzuwandeln.

Aufgrund der momentan herrschenden internationa-
len Finanzkrise kann man ja kaum glauben, dass die Ban-
ken häufig Kredite wegen zu hohen Risikos und fehlender
bzw. nicht ausreichender Sicherheiten verwehrten und
verwehren. Ich kann nur hoffen, dass diese Krise auch für
deutsche Banken heilsam ist und man sich dort einmal
überlegt, ob die Geschäftsphilosophie noch stimmt. Denn
wenn man in Banken Kredite für Firmenerweiterungen
wegen erhöhter Auftragseingänge für zu risikoreich hält,
gleichzeitig aber bei hochspekulativen Geldgeschäften
kräftig zuschlägt ohne auch nur den Hauch einer Absi-
cherung, dann komme nicht nur ich ins Grübeln.

Neben anderen Förderinstrumenten wollen wir mit
diesem Gesetz weiter Unterstützung leisten. Die Beträge
zeigen, dass es sich bei dieser Unterstützung um ganz
schöne Brocken handelt. Durch den vorliegenden Gesetz-
entwurf wird es zu folgenden Förderungen kommen: Im
Jahr 2011 sind es 550 Millionen Euro, im Jahr 2012
770 Millionen Euro, 2013 540 Millionen Euro, 2014
315 Millionen Euro und um Jahr 2015 wegen der degres-
siven Ausgestaltung noch einmal 90 Millionen Euro. Das
ist eine gute Nachricht für die Unternehmer, vor allem
aus Mittelstand und Handwerk, die in der Vergangenheit
bereits diese Förderung gern in Anspruch genommen ha-
ben, nicht zuletzt, weil sie rechtssicher, schnell und un-
bürokratisch ist. Das kann leider nicht jede Fördermög-
lichkeit von sich behaupten.

Dank dem Entgegenkommen von Brüssel konnte mit
dem Investitionszulagengesetz 2010 auch die Förderlü-
cke abgeschafft werden. Möglich wurde das, weil die
Europäische Kommission am 6. August 2008 eine allge-
meine Gruppenfreistellungsverordnung verabschiedet
hat, wonach eine Förderung von kleinen und mittleren
Unternehmen im D-Fördergebiet, also Berlin, weiterhin
möglich ist. Vorher war eine Förderung in diesem Gebiet
auf bis Ende 2008 begonnene Investitionsvorhaben be-
schränkt.

Dadurch wurde ein nahtloser Übergang der Förde-
rung für alle Gebiete ermöglicht. Neu ist auch, dass
kleine Unternehmen jetzt stärker gefördert werden. Für
Erstinvestitionen bei kleinen Unternehmen beträgt die In-
vestitionszulage 20 Prozent der Bemessungsgrundlagen,
und für mittlere Unternehmen beträgt sie zukünftig
Zu Protokoll
10 Prozent. Auch damit wird einer Forderung aus Brüssel
Rechnung getragen.

Wir werden uns im Ausschuss sicher noch ganz genau
mit diesen Veränderungen beschäftigen. Allerdings muss
es unser aller Ziel sein, dass ein Investitionszulagenge-
setz 2010 das Plenum verlässt, welches auch in Brüssel
seine Zustimmung findet. Denn wir sind auf diese Zustim-
mung angewiesen, wenn wir auch für die nächsten Jahre
den wirtschaftlichen Aufbau im Osten mit Fördermitteln
unterstützen wollen.


Christian Ahrendt (FDP):
Rede ID: ID1617938800

Die Fortführung von Investitionszulagenförderung

nach 2009 bis zum Ende des Jahres 2013 ist begrüßens-
wert. Die FDP-Fraktion wird der Verlängerung des In-
vestitionszulagengesetzes daher erneut zustimmen.

Auch heute noch stellt die Förderung von betriebli-
chen Investitionen in den neuen Ländern ein zentrales
und vor allem verlässliches Instrument für die kleinen
und mittelständischen Unternehmen dar. Die degressive
Ausgestaltung der Fördersätze berücksichtigt hingegen
die Interessen der öffentlichen Haushalte und hat zum
Ziel, dass kontinuierlich eine Basis für eine selbsttra-
gende wirtschaftliche Entwicklung geschaffen wird. Die
Absicht, die Investitionszulage langfristig auslaufen zu
lassen, ist daher grundsätzlich erstrebenswert. Es bleibt
nur zu hoffen, dass die errechneten Staffelsätze für den
benötigten Wirtschaftsaufschwung ausreichen, um vor al-
lem der Abwanderung und der hohen Arbeitslosigkeit
entgegenzuwirken.

Das noch geltende Investitionszulagengesetz 2007 hat
erstmals das Beherbergungsgewerbe berücksichtigt, was
im Hinblick auf die Attraktivität vieler Gebiete als Reise-
ziel ein wichtiger Schritt war. So konnte sich insbesondere
Mecklenburg-Vorpommern in den letzten Jahren zu einem
Topstandort im Deutschlandtourismus entwickeln. In An-
betracht dessen, dass Übernachtungsgäste und Tagesaus-
flügler jedes Jahr fast 100 Millionen Aufenthaltstage in
Mecklenburg-Vorpommern verbringen und der Tourismus
damit mit einem Bruttoumsatz von über 3,5 Milliarden
Euro einen der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren darstellt,
wird die überragende Bedeutung von Investitionszulagen
klar. Daher freue ich mich ganz besonders, dass diese
Branche auch nach dem Investitionszulagengesetz 2010
weiterhin unterstützt wird.

Aus aktuellem Anlass möchte ich jedoch auf einen ne-
gativen Umstand bei Investitionszulagen hinweisen.
Wenn Kontrollmechanismen versagen, ist leider überall
dort, wo es um Rechtsansprüche auf Geld oder geldwerte
Vorteile geht, kriminellen Gemütern Tür und Tor geöff-
net. Im konkreten Beispiel geht es um den Missbrauch
von Investitionszulagen. Wie dubios Mitarbeiter der Ge-
meindebehörden handeln können, zeigt der neue alte
Subventionsskandal im Finanzministerium Mecklenburg-
Vorpommerns.

Nach dem Investitionszulagengesetz 1999 galten die
Anschaffung und Herstellung neuer Gebäude als begüns-
tigte Investitionen, wenn sie sich in besonders förderfähi-
gen Gebieten befanden. Eine traurige Berühmtheit er-
langten in diesem Zusammenhang die sogenannten



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Christian Ahrendt
Kerngebiete. Diese dienen vorwiegend der Unterbrin-
gung von Handelsbetrieben. Für die Überprüfung des
Tatbestandsmerkmals „Kerngebiet“ genügt ein Blick in
den entsprechenden Bebauungsplan. Leider neigten in
den vergangenen Jahren einige Sachbearbeiter der Bau-
ämter zur Bescheinigung solcher Kerngebiete, obgleich
dies nicht zutraf. Auf diese Weise erbrachte der vermeint-
lich Anspruchsberechtigte die erforderliche Bescheini-
gung der Gemeindebehörde und erwarb damit die Vo-
raussetzungen für eine Investitionsmaßnahme. So gilt als
sicher, dass den Verantwortlichen im Finanzministerium
seit längerem bekannt ist, dass es überwiegend von 2000
bis 2003 insgesamt 48 Veranlagungen gab, die – diplo-
matisch ausgedrückt – Anlass zu Nachfragen gaben. In
mindestens drei Fällen wurde die Investitionszulage un-
rechtmäßig ausgezahlt. Weil sich hier die Aufklärung der
Betrugsfälle aus verschiedenen Gründen äußerst schwie-
rig gestaltet, beschränke ich mich auf die obige Schilde-
rung.

Man kann nur hoffen, dass diese Fälle zu den Ausnah-
men gehören. Daher möchte ich gerne erläutern, warum
es auch 2008, 18 Jahre nach der Wiedervereinigung, er-
forderlich ist, die Förderungsdauer zu verlängern.

Die neuen Bundesländer sind auf ihrem Weg zu einer
wettbewerbsfähigen Wirtschaft seitdem ein beträchtli-
ches Stück vorangekommen. Trotz dieser Erfolge sind
weiterhin offensichtliche Defizite vorhanden. Um An-
schluss an das Niveau in den alten Bundesländern zu er-
reichen, ist ein mühsamer Weg zu durchschreiten, mit dem
kaum jemand zu Beginn des Umstrukturierungsprozesses
gerechnet hatte. Insbesondere die hohe Arbeitslosigkeit
ist zu einer Belastungsprobe für die neuen Bundesländer
geworden, die es auch mittels Investitionszulagen abzu-
bauen gilt. Weitere Probleme stellen die mangelnde Ei-
genkapitaldecke der Kleinunternehmen, die gerade die
mittelständische Landschaft in den neuen Bundesländern
prägen, und der damit mittelbar zusammenhängende
Rückzug der Geschäftsbanken aus der Kreditwirtschaft
insbesondere in Ostdeutschland dar. Ohne eine ausrei-
chende Eigenkapitaldecke ist es schwierig, Erweite-
rungsinvestitionen vorzunehmen, die gerade in Zeiten ei-
ner wirtschaftlichen Erholung wichtig sind, um
Marktpositionen zu behaupten und selbstverständlich
auch auszubauen. Die Investitionszulage bleibt weiterhin
ein zentraler Bestandteil ihrer Finanzierbarkeit, weil die
Zulage den Anteil benötigter Fremdmittel reduziert. Nun
verbessert die Investitionszulage zwar nicht die Kredit-
versorgung, sie verbessert aber als direkte Unterneh-
mensförderung die Kapitaldienstfähigkeit der Unterneh-
men. Auch unter diesem Gesichtspunkt kommt der
Verlängerung des Investitionszulagengesetzes weiterhin
eine hohe Bedeutung zu.

Alles in allem ist die Verlängerung des Investitionszu-
lagengesetzes für den Aufbau Ost unerlässlich und damit
zwingend geboten.


Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617938900

Das Gesetz regelt eine Fortführung der Investitions-

förderung in den neuen Bundesländern über das Jahr
2009 hinaus. Das begrüßen wir. Der Bundesrat hat in sei-
ner Stellungnahme zutreffend hervorgehoben:
Zu Protokoll
Der Bundesrat begrüßt den vorliegenden Gesetz-
entwurf. Er trägt den immer noch bestehenden
Defiziten der ostdeutschen Wirtschaft Rechnung
und ermöglicht daher auch in den nächsten Jahren
noch eine Fortsetzung der intensiven Investitions-
förderung. Gleichzeitig aber wird ein Endpunkt für
dieses Förderinstrument festgelegt, indem ein de-
gressiver Verlauf der Fördersätze nach 2009 festge-
schrieben wird, der das endgültige Auslaufen der
Investitionszulage nach 2013 zum Ziel hat.

Weiterhin merkt der Bundesrat dazu an, dass die Ge-
meinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirt-
schaftsstruktur“ (GRW)


für ganz Deutschland eine hohe Bedeutung hat.
Dies gilt natürlich vor allem für einen großen Teil
der ostdeutschen Regionen, aber auch für Regionen
in Westdeutschland – auch hier gibt es viele Städte
und Gemeinden, die auf Grund struktureller Um-
brüche mit hoher Arbeitslosigkeit und geringen
Steuereinnahmen kämpfen. Die Folge sind Haus-
haltsnotlagen und immer neue Schulden, die keine
Spielräume für dringend notwendige Maßnahmen,
insbesondere im Bereich der Infrastruktur, lassen.

Die GRW bietet das in Ost- und Westdeutschland
dringend benötigte Instrumentarium für die Verbes-
serung der wirtschaftsnahen Infrastruktur und die
Schaffung von Anreizen für Unternehmensansied-
lungen und -erweiterungen und damit die Schaffung
neuer Arbeitsplätze.

Dies setzt aber auch eine angemessene und dem
ausgeweiteten Aufgabenspektrum angepasste Mit-
telausstattung voraus. Der Bundesrat erwartet von
der Bundesregierung, dass ein überwiegender Teil
der durch den vorliegenden Gesetzentwurf entste-
henden Steuermehreinnahmen durch eine nachhal-
tige Aufstockung der GRW für die Instrumente der
Regionalen Strukturpolitik wieder zur Verfügung
gestellt wird.

Die Mittelausstattung der GRW ist seit 1998 dras-
tisch verringert worden, obwohl sie durch die unmit-
telbare Abhängigkeit der Förderhöhe von der Anzahl
der neu geschaffenen oder gesicherten Arbeitsplätze
nachweisbar zielgenaue Effekte erzielt …“

Der vorliegende Entwurf verstetigt also die Trennung
zwischen Ost und West. Solange jedoch im Grundgesetz
die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse postuliert
wird, ist es politisch nahezu fahrlässig, die Investitions-
zulage für die neuen Länder ab 2009 kontinuierlich abzu-
senken, um sie dann nach 2013 auslaufen zu lassen. Na-
türlich unterstützt Die Linke die weitere Förderung,
gleichzeitig setzt sie sich jedoch gegen die Einstellung der
Investitionszulage nach 2013 und damit eines Instrumen-
tes zur Förderung des Mittelstandes in den neuen Län-
dern ein. Denn niemand wird bezweifeln wollen, dass die
besondere Förderung gerade des ostdeutschen Mittel-
standes notwendig ist, um den neuen Ländern zu dem
selbsttragenden Aufschwung zu verhelfen, der ihnen von
der Großen Koalition immer versprochen wird. Eine dop-
pelt so hohe Arbeitslosigkeit, kaum Forschung und Ent-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Roland Claus
wicklung, die Verfestigung prekärer Arbeitsverhältnisse,
ein geringeres Lohn- und Rentenniveau sprechen eine an-
dere Sprache. Nun trifft es ja zu, dass aufgrund des öko-
nomischen Wandels auch in den alten Bundesländern
strukturschwache Regionen entstanden sind, die staat-
licher Hilfe bedürfen. Dies aber zulasten der ostdeut-
schen strukturschwachen Regionen zu machen, spottet je-
der nachhaltigen Politik Hohn. Hier wird offensichtlich
Ost gegen West bei der Wirtschaftsförderung ausgespielt.

Apropos sozial: Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass
durch die Kürzung der Investitionszulage und der Auftei-
lung der Gelder zwischen Ost und West irgendeine Struk-
turschwäche behoben werden kann? Wie sollen denn
durch die allgemeine Ausdünnung des Förderniveaus
die bestehenden und anwachsenden Probleme sinnvoll
und nachhaltig bekämpft werden? 49 der 50 struktur-
schwächsten Landkreise Deutschlands befinden sich laut
dem Prognos-Zukunftsatlas in den neuen Ländern. An-
stelle den Osten erfolgreich zu fördern, wie es Die Linke
immer fordert, und die strukturschwachen Regionen im
Westen ebenso nachhaltig zu unterstützen, helfen Sie we-
der den Menschen im Osten noch im Westen. Dass diese
Regierung jedoch statt langfristig und finanzpolitisch
sinnvoll zu agieren, jeden finanzökonomischen Unsinn
mitmacht, ist den Steuerzahler leider schon mehr als
teuer zu stehen gekommen. Dass diese Regierung die
schwächeren Regionen – gleich ob Ost oder West – per-
spektivisch ihrem Schicksal überlässt, wird die Menschen
darin ebenfalls noch teuer zu stehen kommen. Dass Sie
dann jedoch versuchen, diesen von ihrer Politik mehrfach
benachteiligten Menschen ein X für ein U vorzumachen,
zeugt schlichtweg von schlechtem politischem Stil.

Die Fraktion Die Linke wird in den Ausschussberatun-
gen Vorschläge zur nachhaltigen Verbesserung des Ge-
setzentwurfes einbringen.


Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617939000

Der wirtschaftliche Aufholprozess Ostdeutschlands

stagniert seit Mitte der 1990er-Jahre. Das Wirtschafts-
wachstum in den neuen Bundesländern lag selbst mitten
im konjunkturellen Aufschwung 2007 um 0,3 Prozent hin-
ter dem Wachstum in den alten Bundesländern zurück.
Und auch für 2008 wird ein Wachstumsrückstand pro-
gnostiziert. Damit findet trotz aufwendiger Wirtschafts-
förderung und rückläufiger Bevölkerungszahlen in
Ostdeutschland keine Angleichung des Bruttoinlandspro-
duktes pro Einwohner zwischen Ost und West statt. Das
Institut für Wirtschaftsforschung Halle errechnete, dass
bei diesem Tempo die Angleichung der Pro-Kopf-Ein-
kommen noch 320 Jahre dauern wird.

Den neuen Ländern stehen nur noch bis 2019 überpro-
portionale Finanzmittel aus dem Solidarpakt II zur Ver-
fügung. Im sogenannten Korb 2 des Solidarpakts II sind
die überproportionalen Leistungen des Bundes an die
neuen Länder und Berlin zusammengefasst. Von dem zu-
gesagten Gesamtvolumen in Höhe von 51 Milliarden
Euro bis 2019 sind im Zeitraum 2005 bis 2007 bereits
circa 16 Milliarden Euro abgeflossen.

Angesichts dieser ernüchternden gesamtwirtschaftli-
chen Erfolgsbilanz fordert Bündnis 90/Die Grünen schon
Zu Protokoll
seit langem, dass die Wirtschaftsförderung des Bundes in
den neuen Bundesländern auf den Prüfstand gehört. Das
bedeutet, dass die uns noch verbleibenden 35 Milliarden
Euro des Korbes 2 des Solidarpakts II zielgerichteter und
wirksamer eingesetzt werden müssen.

Die Investitionszulage ist die volumenmäßig größte
Einzelmaßnahme innerhalb des Korbes 2. Anerkannte
Wirtschaftsinstitute und der Sachverständigenrat hatten
bereits vor der letzten Verlängerung der Investitionszu-
lage im Jahr 2006 kritisiert, dass die Investitionszulage
aufgrund des Rechtsanspruchs zu geringe Steuerungs-
möglichkeiten aufweist und zu viele Mitnahmeeffekte er-
zeugt. Einen erheblichen Missbrauch bei dieser Steuer-
subvention belegten die Nachschauen der Finanzämter in
Brandenburg und Thüringen. In Brandenburg forderten
die Finanzämter 24,2 Millionen Euro Investitionszulage
zurück – ein Viertel der beantragten Summe. In Thürin-
gen waren es 13 Millionen Euro. Die anderen Bundeslän-
der verzichten lieber auf derartige Nachschauen und neh-
men den Missbrauch damit billigend in Kauf.

Geradezu skandalös ist, dass die Investitionszulage
weder statistisch erfasst noch evaluiert wird. Die Bundes-
regierung weiß weder, wer die Förderung beansprucht,
noch wie viel Unternehmen gefördert wurden, ob die För-
dervoraussetzungen eingehalten oder die Förderungen
missbräuchlich in Anspruch genommen wurden.

Das ist ein verantwortungsloser Umgang mit Steuer-
geldern!

Mit der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der
regionalen Wirtschaftsstruktur – GA – steht den neuen
Bundesländern dagegen ein Förderprogramm mit identi-
schem Wirkungsmechanismus wie bei der Investitionszu-
lage zur Verfügung. Auch bei der GA werden Investitio-
nen in das Sachanlagevermögen bezuschusst.

Aber im Gegensatz zur Investitionszulage können die
Länder mit der GA regionale und sektorale Schwerpunkte
setzen und somit zielgerichtet fördern. Eine Verlängerung
der Investitionszulage, wie im vorliegenden Gesetzent-
wurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD gefordert,
geht bei feststehenden Gesamtvolumen des Korbes 2 des
Solidarpakts II zulasten anderer, für die wirtschaftliche
Entwicklung in den neuen Bundesländern weitaus be-
deutsamerer Maßnahmen.

Die noch zur Verfügung stehenden 35 Milliarden Euro
müssen vor allem in das ebenfalls im Korb 2 definierte
Politikfeld „Innovation, Forschung und Entwicklung,
Bildung“ fließen. Darüber hinaus müssen mit den Korb-
2-Mitteln verstärkt innovative Konzepte für die Entwick-
lung in peripheren Regionen Ostdeutschlands gefördert
werden.

Wir schlagen vor, dass zum Beispiel revolvierende
Fonds eingerichtet werden, aus denen zinsgünstige Dar-
lehen mit Eigenkapital ersetzendem Charakter – Mezza-
nine-Finanzierungen – ausgereicht werden. Dadurch
können Mittel für eine nachhaltige Wirtschaftsforschung
auch über das 2019 hinaus sichergestellt werden.

Die Investitionszulage muss in eine Innovationszulage
umgewandelt werden. So werden statt verlängerter Werk-



gegebene Reden






(A) (C)



(D)


Peter Hettlich
bänke Unternehmen mit strategischen Unternehmens-
funktionen in Ostdeutschland gefördert.

Wir fordern darüber hinaus die Einrichtung eines ziel-
und wirkungsorientierten Controllings der eingesetzten
Fördermittel und endlich die Fortschreibung der Fort-
schrittsberichte wirtschaftswissenschaftlicher Forschungs-
institute.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617939100

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-

fes auf Drucksache 16/10291 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Spieth, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Das Gesundheitssystem nachhaltig und paritä-
tisch finanzieren – Gesundheitsfonds, Zusatz-
beiträge und Teilkaskotarife stoppen

– Drucksache 16/10318 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol-
gende Kolleginnen und Kollegen: Dr. Rolf Koschorrek,
CDU/CSU, Peter Friedrich, SPD, Dr. Konrad Schily,
FDP, Frank Spieth, Die Linke, Birgitt Bender, Bünd-
nis 90/Die Grünen.


Dr. Rolf Koschorrek (CDU):
Rede ID: ID1617939200

Seit 1989 gab es in Deutschland sechs Gesundheitsre-

formgesetze, deren Ziel es war, die Kosten bzw. den Kos-
tenanstieg im Gesundheitswesen zu begrenzen. Darüber
hinaus gab es von 2001 bis 2006 fünf Gesetze zur Begren-
zung der Arzneimittelkosten.

Das jüngste Reformgesetz, das GKV/WSG, das wir An-
fang 2007 beschlossen haben, ist die bislang erste Reform
in unserem Gesundheitswesen, die für die Patienten statt
Leistungseinschränkungen sogar eine Erweiterung der
Leistungen, zum Beispiel im Bereich der Rehabilitation
und Palliativmedizin, bringt. Diesmal steht nicht die Kos-
tenbegrenzung im Zentrum der Reform. Im Mittelpunkt
des GKV/WSG steht vielmehr der Wettbewerb unter den
GKV-Kassen und der Gesundheitsfonds mit dem Umbau
der gesamten Finanzierung, der Einnahmen- und Ausga-
benseite unseres Gesundheitssystems.

Richtig ist: Die Union favorisiert nach wie vor das
Konzept der Gesundheitspauschale und die Abkopplung
der Gesundheits- von den Lohnkosten. Wir akzeptieren
den Gesundheitsfonds als Kompromiss und Wegmarke.
Der bundeseinheitliche Beitragssatz, den die Versicher-
ten und ihre Arbeitgeber in den Fonds einzahlen, trägt
dazu bei, einen Finanzausgleich zwischen den Bundes-
ländern und einen Ausgleich der bisherigen regionalen
Unterschiede in der medizinischen Versorgung zu schaf-
fen. Nicht zuletzt machen wir mit dem Gesundheitsfonds
den Anfang zu einer Steuerfinanzierung von gesamtge-
sellschaftlichen Aufgaben in der Krankenversicherung.

Der im vorliegenden Antrag kritisierte Zusatzbeitrag
wird in Form einer Nachzahlung oder Rückerstattung er-
hoben. Soweit sollten auch die Kollegen von der Fraktion
Die Linke das Gesetz und das Konzept des Gesundheits-
fonds kennen und verstanden haben. Dieser Betrag sorgt
dafür, dass die GKV-Kassen in einen Wettbewerb unterei-
nander treten. Er veranlasst die Kassen zur Reduzierung
ihrer Verwaltungskosten und bietet den Versicherten eine
erheblich höhere Transparenz bei den Kosten und Leis-
tungen der Kassen, als wir sie jetzt im System haben.
Seine Höhe, das heißt, ob ein Plus oder ein Minus unterm
Strich steht, ist ganz wesentlich davon abhängig, wie
wirtschaftlich eine Kasse zu arbeiten vermag und welche
Leistungen sie den Versicherten bietet.

Der Zusatzbetrag, das heißt Nachzahlung oder Rück-
erstattung, ist unabhängig von dem Einkommen des Ver-
sicherten, und damit haben wir zumindest eine partielle
Abkopplung der Gesundheits- von den Lohnkosten.

Darüber hinaus sorgt der Zusatzbetrag zusammen mit
der ebenfalls im GKV/WSG neu geschaffenen Möglich-
keit der Wahltarife dafür, dass die Versicherten sich die
Kasse verstärkt nach ihren persönlichen Prioritäten aus-
suchen können und werden. Das heißt, sie können unter
finanziellen Kriterien die kostengünstigste Kasse wählen
oder unter qualitativen Kriterien eine Kasse, die ihren in-
dividuellen Anforderungen und Bedürfnissen am besten
entspricht. Dies ist ein wichtiger, nach meiner Überzeu-
gung schon lange überfälliger Schritt, mit dem der Versi-
cherte im GKV-System vom pauschalen Beitragszahler
und Leistungsempfänger zum selbstbestimmten und ver-
antwortlichen Akteur wird, der seine individuelle Ent-
scheidung treffen und Einfluss nehmen kann. Umfragen
unter GKV-Versicherten zeigen seit einigen Jahren schon,
dass diese sich mehr Flexibilität und Gestaltungsmög-
lichkeiten für ihren Krankenversicherungsschutz wün-
schen. Dabei geht es nicht nur um die in dem vorliegen-
den Antrag der Linken kritisierten Selbstbeteiligungs-
oder Kostenerstattungstarife. Neben einer ganzen Reihe
von anderen Wahltarifen, können die gesetzlichen Kassen
jetzt zum Beispiel eben auch spezielle Tarife mit einer Er-
stattung für Naturarzneimittel anbieten. Früher gab es
solche Tarife lediglich in der privaten Krankenversiche-
rung und war den privat Versicherten vorbehalten. Ein
solches Angebot stößt vor allem bei Frauen unter den
GKV-Versicherten auf Interesse, die zum Beispiel bei der
Techniker-Krankenkasse rund 90 Prozent der Versicher-
ten in diesem Tarif ausmachen.

Ein weiterer zentraler Faktor im Konzept des Gesund-
heitsfonds ist die Erweiterung des bisherigen RSA zum
MorbiRSA. Durch ihn erhalten die Krankenkassen für die
chronisch Kranken unter ihren Versicherten einen finan-
ziellen Ausgleich für den krankheitsbedingten erhöhten
Versorgungsbedarf. Der neue MorbiRSA erfüllt im Zu-
sammenhang mit dem Gesundheitsfonds zwei zentrale
Funktionen: zum Einen schafft er faire und soweit als
möglich gleiche und gerechte Voraussetzungen für den

(B)



(A) (C)



(B) (D)


Dr. Rolf Koschorrek
Wettbewerb unter den Kassen, zum Zweiten verlagert er
das Gesundheitsrisiko der Versicherten von den Ärzten
auf die Kassen, auch dies ist ein Schritt, der lange über-
fällig ist.

Schwierig ist die Frage der konkreten Ausgestaltung
des MorbiRSA, der laut Gesetz 50 bis 80 schwerwiegende
und kostenintensive Krankheiten umfassen soll, bei denen
die durchschnittlichen Ausgaben der betroffenen Versi-
cherten um 50 Prozent höher liegen als bei den nicht be-
troffenen Versicherten.

Der „einfache“ RSA wurde 1994 im Zusammenhang
mit der Ausweitung des Kassenwahlrechts eingeführt.
Auch damals war es das Ziel, mit dem RSA Wettbewerbs-
verzerrungen zwischen den GKV-Kassen abzubauen. Er
berücksichtigte die Höhe der beitragspflichtigen Einnah-
men der Mitglieder, die Zahl der beitragsfrei mitversi-
cherten Familienmitglieder sowie das Alter und Ge-
schlecht der Versicherten und die Zahl derjenigen, die
eine Erwerbsminderungsrente beziehen. Diese über-
schaubare Anzahl konkreter Kriterien wurde 2002 er-
gänzt durch einen „Risikopool“ der Krankenkassen für
Versicherte mit besonders teuren Krankheiten und für
Versicherte, die zum Beispiel als Diabetiker an Disease-
Management-Programmen teilnehmen.

Zurzeit arbeitet das BVA an der Gewichtung und Be-
wertung einer Auswahl von 80 Krankheitsgruppen mit
Hunderten von Einzeldiagnosen, die als Grundlage des
Finanzausgleichs unter den Krankenkassen dienen wird.
Es ist dringend erforderlich, dass alle Kriterien einer wis-
senschaftlichen Evaluation der Daten und Verteilungs-
mechanismen erfüllt sind, um zielgenau die Finanzmittel
der einzelnen Kasse vorausberechnen zu können.

Es wäre wünschenswert, dass auch die Fraktion Die
Linke im Interesse eines dauerhaft leistungsfähigen Ge-
sundheitssystems einmal ihre ideologische Vorurteile und
linken Reflexe hintanstellt. Wer die Fakten kennt und
weiß, dass bei Fortbestehen des heutigen Systems der
Beitragssatz im Jahr 2050 auf 25 bis 29 Prozent anstei-
gen würden, der weiß auch, dass wir eine grundlegende
Reform in unserem Gesundheitswesen brauchen.

Wer den Gesundheitsfonds vorurteilsfrei und mit einer
gewissen Bereitschaft, auch einmal etwas Neues zu ak-
zeptieren, betrachtet, der wird zu dem Fazit kommen: Der
Fonds enthält vernünftige, zukunftsweisende und tragfä-
hige Regelungen für unser Gesundheitssystem. Er stellt
richtige Weichen für ein zukunftsfähiges System mit mehr
Eigenverantwortung und der Abkoppelung der Gesund-
heitskosten von den Lohnkosten. Der Gesundheitsfonds
wurde bereits – und das nicht ganz zu Unrecht – als „wohl
größte Veränderung seit dem Weltkrieg“ im Bereich der
Sozialpolitik bezeichnet. Unter organisatorischen Ge-
sichtspunkten bedeutet dies eine große Herausforderung
für alle Beteiligten. Wir arbeiten auf Hochtouren daran.


Peter Friedrich (SPD):
Rede ID: ID1617939300

Heute diskutieren wir im Deutschen Bundestag einen

Antrag der Linksfraktion, in dem der Gesundheitsfonds
abgelehnt wird, da er angeblich die „Entsolidarisierung
der Versichertengemeinschaft“ und eine „Privatisierung
Zu Protokoll
von Gesundheitsrisiken“ betreibe, wie es in dem vorlie-
genden Papier heißt. Morgen debattieren wir an gleicher
Stelle über einen Antrag der FDP, der mit dem Gesund-
heitsfonds den angeblichen „Einstieg in ein staatlich zen-
tralistisches Gesundheitswesen“ verbindet. Wie so häufig
in den Debatten um die Gesundheitsreform dieser Legis-
laturperiode trifft keines der populär klingenden Argu-
mente beider Fraktionen zu. Im Gegenteil: Wir stärken
Solidarität und Wettbewerb im Gesundheitswesen zum
Wohle der Patientinnen und Patienten.

Zumindest die Linksfraktion weiß dies auch. Herr Kol-
lege Spieth hat mehrfach an dieser Stelle den Gesund-
heitsfonds gelobt. Das System der einheitlichen Beitrags-
sätze in der gesetzlichen Krankenversicherung, das wir
mit dem Gesundheitsfonds begründen wollen, haben Sie
in der Plenardebatte vom 24. April 2008 im Deutschen
Bundestag als „einen der wenigen positiven Punkte der
letzten Gesundheitsreform“ bezeichnet. Und am 18. Ja-
nuar 2008 haben Sie den Fonds sogar gegenüber den Ver-
treterinnen und Vertretern der FDP-Fraktion verteidigt.
Sie sagten damals – laut Plenarprotokoll –:

Der Gesundheitsfonds ist nicht das Problem.

Und weiter:

Unter anderem die FDP schlägt jetzt aus nachvoll-
ziehbaren Gründen auf den Sack Gesundheitsfonds.
Eigentlich meint sie etwas ganz anderes: Der FDP
geht es im Kern um die Stärkung von Privilegien
– das ist meine feste Überzeugung – und nicht da-
rum, etwas mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen.

Genau um die Herstellung von mehr sozialer Gerech-
tigkeit geht es uns mit der Einführung des Fonds, meine
Damen und Herren von der Linkspartei. Wir wollen mit
dem Gesundheitsfonds die Gerechtigkeit unter den Bei-
tragszahlerinnen und Beitragszahlern stärken. Schon
heute leistet jede Krankenkasse beinahe identische Leis-
tungen, der Beitragssatz variiert aber erheblich. Dies ist
unter Solidaritätsaspekten nicht länger hinzunehmen.
Auch nicht länger hinzunehmen ist die bisherige Risiko-
selektion der Krankenkassen, weshalb wir mit der Ein-
führung des Gesundheitsfonds auch den Risikostruktur-
ausgleich verbessern. Dies wird die Solidarität in
unserem Gesundheitssystem ebenfalls spürbar stärken.

Mit dem Gesundheitsfonds setzen wir dem Wettbewerb
im Gesundheitswesen einen starken, verlässlichen Rah-
men, der für mehr Gerechtigkeit unter den Beitragszahle-
rinnen und Beitragszahlern führen wird. Bei gleichen
Beitragssätzen und nahezu identischen Leistungen im
Krankheitsfall verbessern wir für die Menschen die Ver-
gleichbarkeit einzelner Krankenkassen spürbar. Heute
noch haben wir einen Wettbewerb um gesunde, möglichst
junge und bestenfalls einkommensstarke Versicherte, die
der Krankenkasse viel Geld einbringen und wenig kosten.
Ab dem neuen Jahr werden wir einen neuen Wettbewerb
unter den Krankenkassen um möglichst gute Leistungen
für die Versicherten erleben. Wenn die Beitragssätze für
alle Kassen gleich sind, wird sich der Wettbewerb unter
den Krankenkassen auf möglichst gute Leistungen im
Krankheitsfall und zur Vermeidung von Krankheiten so-
wie auf eine hohe Kundenorientierung konzentrieren.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Peter Friedrich
Der Patient und die Patientin an sich werden im Mittel-
punkt der Bemühungen stehen – und nicht ein möglichst
junger, möglichst gesunder oder möglichst zahlungskräf-
tiger Versicherter. Heute noch ist die Risikoselektion der
Krankenkassen ein Wettbewerbsinstrument. Das ist unso-
lidarisch, deshalb beenden wir dieses System.

Zudem werden wir einen Wettbewerb um die Vermei-
dung des Zusatzbeitrages erleben. Es ist doch ganz lo-
gisch, dass keine Kasse den Zusatzbeitrag erheben will,
sondern interne Betriebskosten soweit als möglich senken
und die Wirtschaftlichkeitsreserven zu heben versuchen
wird, um den Zusatzbeitrag zu vermeiden. Umfragen le-
gen nahe, dass ein Drittel der Versicherten von ihrem au-
ßerordentlichen Kündigungsrecht Gebrauch machen und
zu einer anderen Kasse wechseln werden, sofern ihre bis-
herige Kasse einen Zusatzbeitrag erheben möchte. Da ist
es doch ganz klar, dass alle Kassen sich auf diesen Wett-
bewerb um möglichst gute Leistungen für die Versicher-
ten und um eine möglichst wirtschaftliche Versorgung
einlassen werden.

Für die Versicherten wird bei der Entscheidung für
oder gegen eine Krankenkasse viel stärker als bislang das
Preis-/Leistungsverhältnis im Mittelpunkt ihrer Entschei-
dung stehen. Ist der Preis bei allen gleich, rückt die Leis-
tung in den Vordergrund. Die Krankenkassen überlassen
wir aber auch nicht einfach nur sich selbst und dem Wett-
bewerb. Vielmehr öffnen wir den Kassen erweitere Hand-
lungsmöglichkeiten für eine möglichst wirtschaftliche
Versorgung ihrer Versicherten. Die Kassen können bei-
spielsweise Leistungen ausschreiben, Rabattverträge ab-
schließen und Wahltarife anbieten. Damit führen wir die
Krankenkassen in eine neue Verantwortung als aktive Ak-
teure des Gesundheitssystems.

Mit dem Gesundheitsfonds, meine Damen und Herren
von der Linksfraktion und von der FDP, schaffen wir ei-
nen solidarischen Wettbewerb im Sinne der Versicherten.
Der Wettbewerb ist solidarisch, weil er für alle Versicher-
ten die gleichen Bedingungen schafft. Aber wir schaffen
trotzdem einen Wettbewerb der Kassen untereinander, der
sich aber nicht negativ auf die Versicherten auswirken
wird. Deshalb bringt uns der Antrag der Linksfraktion,
der unserer Debatte zugrunde liegt, nicht voran. Und des-
halb kann man auch den Widerstand der FDP gegen den
Fonds nicht verstehen. Wir verbinden genau die beiden
Werte, die ihre beiden Parteien gegeneinander auszuspie-
len versuchen. Messen Sie uns am Ergebnis, den die Ein-
führung des Fonds mit sich bringen wird.


Dr. Konrad Schily (FDP):
Rede ID: ID1617939400

Der Antrag der Fraktion Die Linke ist völlig einseitig

aufgebaut. Er zielt expressis verbis auf die Einführung ei-
ner Bürgerversicherung, die staatlich administriert wer-
den soll, ab. Auf den Gesundheitsfonds bezogen findet
sich im Antrag ein richtiger Satz: „Der Gesundheitsfonds
löst keine Probleme, sondern schafft nur neue“. Diesem
Satz können wir uns anschließen, allerdings mit völlig an-
derer Begründung.

Es muss Gestaltungsfreiheit geschaffen werden, nicht
staatliche Verwaltung, die meistens eine Mangelverwal-
tung ist. Wir benötigen eine ganzheitliche Souveränität
Zu Protokoll
der Bürger als Versicherte mit voller Eigenverantwortung
und einem Höchstmaß an wirtschaftlicher Transparenz.
Erreichen wir dies nicht, wird die Therapiefreiheit und
Freiberuflichkeit bald auf der Strecke bleiben. Die zu die-
sem Thema unterbreiteten Vorschläge der FDP weisen in
die richtige Richtung.

Wir lehnen den Antrag der Fraktion Die Linke ab.


Frank Spieth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617939500

Vor 125 Jahren wurde die gesetzliche Krankenversi-

cherung in Deutschland geschaffen. Sie war Vorbild für
den Aufbau der Krankenversicherung in vielen europäi-
schen Ländern. Dieses Erfolgsmodell wird in seinen
Grundfesten seit 20 Jahren erschüttert. Gerade in den
letzten fünf Jahren gab es eine Lawine von Leistungskür-
zungen. Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz 2004
– eineinhalb Jahre vor dem offiziellen Beginn der Großen
Koalition – wälzten SPD und Union zusammen mit den
Grünen Gesundheitskosten auf die Versicherten ab. So
wurden einige Leistungen ganz gestrichen und bei ande-
ren müssen wir jetzt erheblich zuzahlen. Das Konzept der
Schröder’schen Agenda-2010-Politik, „den Armen neh-
men, den Reichen geben“, wird auch in der Großen Ko-
alition fortgesetzt.

Die neue Sozialstaatsdoktrin lautet „Senkung der
Lohnnebenkosten“. Im GKV-Modernisierungsgesetz ist
siebenmal das Wort „Lohnnebenkosten“ zu lesen und
dass diese für die Arbeitgeber gesenkt werden sollen. Die
logische Schlussfolgerung ist, dass Arbeitnehmer und
Rentner alleine zahlen.

Konkret wurden das Sterbegeld, das Entbindungsgeld
und die Kostenübernahme rezeptfreier Medikamente aus
dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen
gestrichen.

Nur noch in Ausnahmefällen, bei extrem starken Seh-
behinderungen werden die Kosten für Brillen übernom-
men. Die künstliche Befruchtung wird nur noch zur Hälfte
gezahlt und auch maximal mit drei Versuchen statt wie zu-
vor vier. Sterilisationen werden nur noch übernommen,
wenn sie medizinisch notwendig sind. Die Übernahme
der Kosten für Fahrten zum Arzt oder ins Krankenhaus
wurde gestrichen und/oder erheblich eingeschränkt.

Ganz neu eingeführt wurden Eintrittsgebühren zu
Arztpraxen, Zahnarztpraxen und zu Notfalldiensten.
Diese 10 Euro Praxisgebühr pro Quartal können sich
aufsummieren auf bis zu 120 Euro im Jahr.

Krankenhausaufenthalte und Kuren kosten seither
10 Euro am Tag und bis zu 280 Euro im Jahr. Gleiches gilt
für häusliche Krankenpflege. Zuzahlungen für Medika-
mente wurden auf 5 bis 10 Euro je Packung angehoben.
Für Hilfsmittel und Heilmittel muss man ebenfalls 5 bis
10 Euro pro Verordnung hinlegen.

Der Durchschnittsverdiener in der gesetzlichen Kran-
kenversicherung mit circa 2 600 Euro kann bei Anwen-
dung aller vorgenannten Regelungen mit über 600 Euro
im Jahr zusätzlich zu seinem Krankenversicherungsbei-
trag belastet werden.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Frank Spieth
Neu ist auch, dass auch die Geringverdiener nun
grundsätzlich Zuzahlungen zahlen müssen. Die Härte-
fallregelung wurde abgeschafft. Würde die Regelung von
Norbert Blüm noch gelten, brauchten Menschen mit ei-
nem Einkommen bis etwa 1 000 Euro nicht zuzahlen.
Dank der Politik der Bundesregierung gibt es ohne Cash
heute keine Behandlung mehr.

Doch damit nicht genug: Ohne Arbeitgeberbeitrag fi-
nanzieren die Arbeitnehmer und Rentner seit Mitte 2005
das Krankengeld und den Zahnersatz, Durch einen juris-
tischen Kniff wurde es möglich, Rentner de facto für
Krankengeld zahlen zu lassen, obwohl ein Rentner natür-
lich niemals Krankengeld bezieht. Dazu wurde ein Son-
derbeitrag in Höhe von 0,9 Prozent des Einkommens ein-
geführt, den die Versicherten ohne Beteiligung der
Arbeitgeber zu zahlen haben. Damit wurde der Grundsatz
der paritätischen Finanzierung, also das Prinzip halbe-
halbe, erstmals direkt abgeschafft.

Dieser Sonderbeitrag kostet die Mitglieder der gesetz-
lichen Krankenversicherung 9 Milliarden Euro, also je-
den Beitragszahler durchschnittlich zusätzlich 180 Euro
pro Jahr.

Mit der „Reform“ 2007, dem GKV-Wettbewerbsstär-
kungsgesetz, wurde der Weg der einseitigen Belastung
konsequent fortgesetzt. Der geplante Gesundheitsfonds,
der zum 1. Januar 2009 in Kraft treten soll, wird es nicht
schaffen, dass endlich alle für die gleiche Leistung auch
den gleichen prozentualen Anteil ihres Einkommens zah-
len.

CDU/CSU und SPD haben beschlossen, dass die Kos-
tensteigerungen im Gesundheitswesen zulasten der Versi-
cherten gehen. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es ein
komplexes Konstrukt innerhalb des Gesundheitsfonds:
Anfang 2009 sollen die Krankenkassen 100 Prozent ihrer
Ausgaben aus dem Fonds erhalten. Schon Ende 2009
werden die Einnahmen des Fonds dazu nicht mehr aus-
reichen. Aber die Beiträge werden erst wieder erhöht,
wenn die Kosten zu weniger als 95 Prozent gedeckt sind.
Nach unseren Berechnungen wird dies voraussichtlich
2012 oder 2013 der Fall sein. Da aber die Kostensteige-
rungen bei Ärzten, Krankenhäusern und Medikamenten
weiter stattfinden werden, haben die Kassen nur eine
Alternative: Sie müssen den sogenannten Zusatzbeitrag
erheben. Dies kann auch in Form einer „kleinen Kopf-
pauschale“ erfolgen. Ab 2010 werden alle Kassen vo-
raussichtlich Zusatzbeiträge von ihren Versicherten ver-
langen müssen.

Und natürlich: Die Lohnnebenkosten-Senkungs-Ideo-
logie wirkt weiter: Es zahlt erneut nur der Versicherte!
Das sind weitere bis zu 10 Milliarden Euro, die nicht
mehr paritätisch finanziert werden. Diese politische Ent-
scheidung belastet jeden Beitragszahler mit durchschnitt-
lich 200 Euro pro Jahr. Halbe-halbe? Das war einmal!

Die Linke ist gegen diesen Gesundheitsfonds, weil er
den falschen Weg von Rot-Grün unter Schwarz-Rot fort-
setzt. Diese Politik führt zu steigenden Kosten für Arbeit-
nehmer, Rentner, Arbeitslose Studenten, aber nicht zu ei-
ner besseren Gesundheitsversorgung.
Zu Protokoll
Die politisch gewollten Mehrbelastungen kosten ins-
gesamt jeden Beitragszahler zusätzlich durchschnittlich
466 Euro pro Jahr. Die Arbeitgeber freuen sich über satte
Entlastungsgeschenke. Die Linke lehnt diese Art der ge-
setzlich verordneten Umverteilung von unten nach oben
ab.

Wir wollen stattdessen eine solidarische Bürgerinnen-
und Bürgerversicherung. Das heißt: Wir wollen, dass
jede und jeder, egal ob angestellt, selbstständig, Rentner,
Beamter, Pensionär, arbeitslos, Student oder Politiker in
der solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung
abgesichert ist. Jeder zahlt den gleichen Prozentsatz sei-
nes gesamten Einkommens als Beitrag. Bei Erwerbsein-
kommen zahlt der Arbeitgeber wieder die Hälfte der Bei-
träge.

Wenn dann alle aus allen Einkommensarten die Ge-
sundheitsversorgung finanzieren, und nicht nur Erwerbs-
tätige und Rentner, dann kann der Beitragssatz deutlich
gesenkt werden. Statt mit 15,5 Prozent unter den Bedin-
gungen dieses Gesundheitsfonds, käme das Bürgerversi-
cherungsmodell rechnerisch mit 8,6 Prozent Beitragssatz
aus und das bei gleichen Leistungen. Da wir die Zuzah-
lungserhöhungen und Leistungskürzungen der letzten
Jahre wieder rückgängig machen und den medizinischen
Fortschritt für alle gewähren wollen, ist ein Beitragssatz
von etwa 10 Prozent für alle erforderlich. Solidarität
rechnet sich!


Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617939600

Vor vier Wochen hat die Bundesfamilienministerin den

gesetzlich Krankenversicherten einen guten Rat auf den
Frühstückstisch gelegt. Per Sonntagszeitung teilte sie ih-
nen mit, dass sie ihre Krankenkasse verlassen sollen,
wenn diese einen Zusatzbeitrag von ihnen verlangt; denn
den müssten nur solche Kassen verlangen, die schlecht
wirtschaften. Gut wirtschaftende Kassen könnten ihren
Versicherten Geld zurückgeben.

Dieser Sonntagsgruß der Ministerin passte sich naht-
los in die gewohnte Rhetorik der Koalition ein, wenn die
Sprache auf den Zusatzbeitrag kommt. Der wird der Öf-
fentlichkeit als Gradmesser für die Wirtschaftlichkeit ei-
ner Krankenkasse verkauft.

Das ist selbstverständlich Unsinn, weil die Konstruk-
tion des Zusatzbeitrags dessen Höhe von ganz anderen
Faktoren abhängig macht als vom verantwortungsvollen
Umgang einer Krankenkasse mit Versichertengeldern.
Der Koalition wurde schon während des Gesetzgebungs-
verfahrens durch von ihr selbst bestellte Gutachter ge-
zeigt, dass durch die Kombination von Zusatzbeitrag und
1-prozentiger Belastungsobergrenze die Höhe des Zu-
satzbeitrags bzw. der Beitragsrückerstattung davon be-
stimmt wird, wie viel oder wenig die Mitglieder einer
Kasse verdienen. Eine Kasse mit vielen Geringverdienern
muss einkalkulieren, dass viele ihrer Mitglieder den Zu-
satzbeitrag nicht vollständig bezahlen können. Diese Bei-
tragsausfälle muss sie dann durch einen höheren Zu-
schlag – und damit durch die Belastung ihrer besser
verdienenden Mitglieder – wieder ausgleichen. Diesen
Zusammenhang kann sie auch durch noch so gutes Wirt-
schaften nicht außer Kraft setzen. Von diesen Erkenntnis-



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Birgitt Bender
sen hat sich die Koalition aber nicht beirren lassen und
die Gutachten einfach in den Schreibtisch gesteckt.

Unsinn ist das Gerede vom Zusatzbeitrag als Grad-
messer der Wirtschaftlichkeit aber vor allem, weil für die
Koalition dieser Zuschlag ein zentraler Bestandteil der
künftigen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversi-
cherung ist. Ab dem Jahr 2010 soll der Gesundheitsfonds
nur noch 95 Prozent der Leistungsausgaben der Kranken-
kassen finanzieren müssen. Die restlichen 5 Prozent – das
entspricht nach heutigem Stand einem Betrag von
7,5 Milliarden Euro – soll dann über Zusatzbeiträge auf-
gebracht werden.

Das heißt, weil die Koalition keine vernünftige Finanz-
reform der Krankenversicherung hinbekommen hat,
greift sie den Versicherten tief in die Tasche. Damit es
aber niemand merkt, ruft sie selbst am lautesten: „Haltet
den Dieb!“ Dabei werden die Versicherten die Auswir-
kungen des Zusatzbeitrags nicht nur in ihren Geldbeuteln
spüren. Durch ihre Ratschläge, sich bei der Kassenwahl
vor allem an Zusatzbeitrag und Rückerstattung zu orien-
tieren, fördert die Bundesregierung eine Schnäppchen-
mentalität, die in der Gesundheitsversorgung nichts zu
suchen hat. Die Krankenkassen setzt sie damit wiederum
unter Druck, die Erhebung des Zusatzbeitrags so lange
wie nur irgend möglich hinauszuzögern. In den nächsten
beiden Jahren werden die Kassen vor allem darum kon-
kurrieren, wer den längsten Atem hat und möglichst lange
ohne Zuschlag auskommt. Das wird zu einem rigiden
Sparregime in den Kassen führen. Patientinnen und Pa-
tienten, die auf besonders teure Therapien angewiesen
sind, werden das zu spüren bekommen. Für innovative
Versorgungsformen, die erst einmal Anlaufkosten verur-
sachen, wird kein Geld übrig sein.

Eine veränderte Grenzziehung zwischen eigenverant-
wortlich und solidarisch zu tragenden Lasten kann kein
Tabu sein. Das gilt auch, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Linken, für die Reduzierung der Lohnnebenkos-
ten. Allerdings muss es dafür gute Gründe geben und die
dafür verantwortlichen Politikerinnen und Politiker müs-
sen auch bereit sein, für diese Gründe und die von ihnen
ergriffenen Reformmaßnahmen einzustehen. Das ist bei
der Gesundheitsreform 2004 der Fall gewesen. Ange-
sichts der Situation auf dem Arbeitsmarkt haben wir uns
damals bewusst dafür entschieden, die Parität zu ver-
schieben und Selbstbeteiligungen auszubauen. Und wird
haben diese Reformen damals auch offen vertreten. Vieles
Weitere ist im Rahmen der Agenda 2010 dazugekommen.
Ein Blick auf die Arbeitslosenzahlen zeigt, dass diese Po-
litik erfolgreich war.

Allerdings ist die Situation heute eine sehr viel andere.
Gesundheitsfonds und Zusatzbeitrag sind nicht zustande
gekommen angesichts steigender Arbeitslosenzahlen und
zu hoher Arbeitskosten. Mit Problemen im Gesundheits-
wesen oder in anderen gesellschaftlichen Bereichen ha-
ben sie nichts zu tun. Tatsächlich sind sie Ausdruck einer
Koalition, die so in ihren inneren Widersprüchen gefan-
gen ist, dass sie sich nur noch mit sich selbst beschäftigt.
Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass diese Re-
form der Koalition so peinlich ist, dass sie es nicht gewe-
sen sein will.

Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617939700

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf

Drucksache 16/10318 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Gesundheit und zur Mitberatung an
den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie sowie an
den Ausschuss für Arbeit und Soziales zu überweisen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren
Wettbewerb

– Drucksache 16/10145 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Dr. Günter Krings, CDU/CSU, Dirk Manzewski, SPD,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP, Ulla Lötzer,
Die Linke, Nicole Maisch, Bündnis 90/Die Grünen, und
des Parlamentarischen Staatssekretärs Alfred
Hartenbach.1)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/10145 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Winfried Nachtwei, Marieluise
Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für klare menschen- und völkerrechtliche
Bindungen bei Auslandseinsätzen der Bundes-
wehr

– Drucksache 16/8402 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Holger
Haibach, CDU/CSU, Christoph Strässer, SPD, Florian
Toncar, FDP, Dr. Norman Paech, Die Linke, Volker Beck

(Köln), Bündnis 90/Die Grünen, und des fraktionslosen

Gert Winkelmeier.

1) Anlage 14


(A) (C)



(B) (D)


Holger Haibach (CDU):
Rede ID: ID1617939800

Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr leisten seit

vielen Jahren in Auslandseinsätzen einen wichtigen Bei-
trag nicht nur für die Sicherheit Deutschlands, sondern
auch für den Schutz der Menschenrechte. Sie nehmen teil
an humanitären und friedenssichernden Missionen und
sorgen durch ihre Präsenz für den notwendigen Schutz,
der in einer Krisenregion erst die unabdingbaren Voraus-
setzungen für den Wiederaufbau schafft: Stabilität und Si-
cherheit! Dafür gebührt ihnen unser tief empfundener
Dank.

Militärisches Handeln findet allerdings nicht im luft-
leeren Raum statt. Das bedeutet, dass das Handeln von
Soldatinnen und Soldaten von verschiedenen Faktoren
abhängig ist: vom Einsatzgebiet, von der Aufgabenstel-
lung und nicht zuletzt von den anderen Akteuren vor Ort –
ob feindlich, freundlich oder neutral. Militärisches Han-
deln wird schließlich nicht alleine von der Bundeswehr
geleistet, sondern in der Regel in Zusammenarbeit mit
anderen Partnern im Rahmen der UN, der EU oder der
NATO.

Vor diesem Hintergrund entstehen neue Fragestellun-
gen und Probleme, die der Antrag, den wir heute debat-
tieren, aufgreift. Diese Fragestellungen sind auch des-
halb wichtig, weil die Bundeswehr über mehr als vier
Jahrzehnte nicht in Auslandseinsätze eingebunden war
und sich somit viele Fragen bis Mitte der 90er-Jahre ein-
fach nicht gestellt haben.

Ich möchte in diesem Zusammenhang eine Bemerkung
vorausschicken: Jeder militärische Einsatz, der auf den
Schutz der Menschenrechte zielt, verliert in dem Augen-
blick dramatisch an Legitimation, in dem die militärisch
Handelnden Mittel und Wege nutzen, die den Men-
schrechten zuwiderlaufen. Schon aus dieser Erwägung
heraus – ohne auf die zwingende moralische Notwendig-
keit zur Einhaltung der Menschenrechte einzugehen –
muss sich das Handeln der internationalen Staatenge-
meinschaft und damit eben auch der Bundeswehr an men-
schenrechtlichen Standards orientieren. Ich bin der festen
Überzeugung, dass der Bundesverteidigungsminister, die
militärische Führung der Bundeswehr und auch die Sol-
datinnen und Soldaten sich dieser Tatsache bewusst sind
und auch in den allermeisten Fällen danach ihr Handeln
ausrichten.

Es ist jedoch nicht zu bestreiten, dass es in der Vergan-
genheit vereinzelt zu nicht hinnehmbaren Verletzungen
dieser Prinzipien gekommen ist. Diese müssen aufgeklärt
und die Ursachen hierfür beseitigt werden. Es ist mir al-
lerdings wichtig, darauf hinzuweisen, dass es sich tat-
sächlich um Einzelfälle und nicht um ein „Massenphäno-
men“ handelt.

Dennoch hat der vorliegende Antrag insofern seine
Berechtigung, als er die Schwerpunkte anspricht, die für
ein an menschenrechtlichen Standards orientiertes Han-
deln entscheidend sind: entsprechende Ausbildung, klare
Befehlsstrukturen und ebenso klare Vorgaben für das Ver-
halten im Einsatz. Allerdings versucht der Antrag, den
Anschein zu erwecken, diese Punkte seien bisher ver-
nachlässigt oder gar nicht beachtet worden. Und diesen
Versuch kann man getrost und mit guten Gründen als ge-
scheitert ansehen.
Zu Protokoll
Gehen wir die Punkte im Einzelnen durch: „Klarheit
über die menschen- und völkerrechtlichen Bindungen und
die Grenzen des zulässigen Vorgehens bei Auslandsein-
sätzen zu schaffen“, wie es der erste Punkt Ihres Antrags
fordert, ist doch mindestens genauso eine Herausforde-
rung an den Deutschen Bundestag wie an die Bundesre-
gierung. Wenn dem nicht so wäre, dann hätten wir als Ab-
geordnete im Rahmen der Mandatsverlängerung, aber
auch im Rahmen unserer Mitwirkungsrechte im Wege des
Parlamentsbeteiligungsgesetzes unsere Arbeit schlecht
gemacht. Diesen Eindruck habe ich aber vor dem Hinter-
grund der intensiven, oft kritischen Debatten in diesem
Haus und der noch intensiveren Arbeit in den beteiligten
Ausschüssen nicht.

Sie fordern weiterhin, dass Soldatinnen und Soldaten
bei Auslandseinsätzen nicht durch Befehle Vorgesetzter in
eine Lage gebracht werden sollen, in der sie zu Handlun-
gen angehalten werden, die völker- und menschenrechtli-
chen Standards widersprechen. Diese Forderung ist, so
richtig sie sein mag, doch ein wenig banal. Das Verbot
von Befehlen, die gesetzlichen Bestimmungen zuwider-
laufen, ist ein alt hergebrachter Grundsatz der Bundes-
wehr und gilt im In- wie im Ausland. Das soll nicht hei-
ßen, dass es solche Fälle nicht hin und wieder gibt. Aber
die Regelungen, die solches verbieten, gibt es eben auch.
Ich verweise hier nur auf § 10 Abs. 4 des Soldatengeset-
zes, der es deutschen Soldaten verbietet, strafrechtswid-
rige Befehle anzunehmen und auszuführen. Konkret heißt
es: „Er (der Vorgesetzte) darf Befehle nur zu dienstlichen
Zwecken und nur unter Beachtung der Regeln des Völker-
rechts, der Gesetze und der Dienstvorschriften erteilen.“
Hier wird das Völkerrecht ausdrücklich erwähnt.

Im Übrigen will ich an dieser Stelle betonen und deut-
lich machen, dass die Bundeswehr schon seit langer Zeit
ihre Soldatinnen und Soldaten intensiv auf Auslandsein-
sätze vorbereitet und dass dabei der Aspekt „Einhaltung
von menschenrechtlichen und völkerrechtlichen Stan-
dards“ eine wichtige Rolle spielt. Ich möchte in diesem
Zusammenhang auf das VN-Ausbildungszentrum der
Bundeswehr in Hammelburg verweisen. Da diese Ein-
richtung über eine Homepage verfügt, kann man sich im
Internet über die Aktivitäten informieren, die unternom-
men werden, um militärisches und ziviles Personal für
Einsätze im Rahmen der UN zu schulen. Dabei kann man
auch feststellen, dass es eine intensive Zusammenarbeit
auch mit Institutionen der Zivilgesellschaft und auch mit
dem Zentrum für internationale Friedenseinsätze gibt. In-
sofern werden hier unter anderem genau die Inhalte ver-
mittelt, die in dem vorliegenden Antrag eingefordert wer-
den.

Darüber hinaus werden die Einsatzkräfte auch mit so-
genannten Taschenkarten ausgestattet, die ihnen in Kurz-
form im Einsatzfall als Informationsquelle über die Gren-
zen ihres Handelns zur Verfügung stehen.

Für uns als CDU/CSU-Fraktion ist klar, dass wir die
Einsätze der Bundeswehr und das Verhalten der Soldatin-
nen und Soldaten immer im Einklang mit den Standards
des Völkerrechts und der Menschenrechte sehen wollen.
Dass dies, besonders bei dem letztem Punkt, den der An-
trag erwähnt, nämlich der Zusammenarbeit mit anderen



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Holger Haibach
militärischen Verbänden aus anderen Nationen, manch-
mal zu schwierigen Situationen geführt hat und vielleicht
auch führen wird, ist klar. Aber auch hier sollten wir uns
davor hüten, Verbündete sozusagen unter Generalver-
dacht zu stellen, auch wenn bestimmte Vorfälle in der Ver-
gangenheit Besorgnis erregt haben.

Die Verantwortung, die Bundeswehr im Rahmen des
Völkerrechts und in Übereinstimmung mit menschen-
rechtlichen Standards operieren zu lassen, sehen wir in
gleicher Weise wie die Antragsteller. Der Eindruck, hier
werde zu wenig getan, wird aber von uns nicht geteilt.
Schließlich haben wir als Parlament die Verantwortung,
Ja oder Nein zu sagen zu einem Einsatz. Diese Verant-
wortung schließt die Prüfung der Frage mit ein, ob der je-
weilige Einsatz vertretbar ist und im Einklang mit den
oben genannten Grundsätzen steht.


Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1617939900

Die Bundesrepublik Deutschland ist seit vielen Jahren

Vollmitglied der Vereinten Nationen. Mit dem Beitritt ha-
ben wir die Geltung der Charta anerkannt, und zwar ins-
gesamt und nicht nur in Teilbereichen. Anerkannt haben
wir damit auch Kapitel VII, wonach bei „Bedrohung“
oder einem „Bruch des Friedens oder einer Angriffs-
handlung“ auch militärische Sanktionsmaßnahmen nach
Art. 42 durchgeführt werten können, wenn andere Maß-
nahmen nach Art. 41 VN-Charta unzulänglich sind oder
sein würden. Unter diesen Obliegenheiten muss auch
Deutschland sich der Verantwortung als Mitglied der
Vereinten Nationen stellen und bei Vorliegen der völker-
rechtlichen Voraussetzungen politisch entscheiden, ob
und in welchem Umfang nach entsprechender Anforde-
rung die Bundeswehr sich an derartigen friedenssichern-
den Maßnahmen der Vereinten Nationen beteiligt. Die
einfache wie populistische Forderung „Keine Auslands-
einsätze der Bundeswehr“ ist insofern verantwortungs-
los, die Bundeswehr ist fester Bestandteil internationaler
Bündnissysteme.

Sie übernimmt seit Jahren wichtige internationale Ver-
antwortung und leistet mit ihren Auslandseinsätzen einen
wichtigen Beitrag zur Friedenssicherung in Krisenregio-
nen. Sie unterstützt die Vereinten Nationen bei der Wah-
rung der Menschenrechte, bei der Herstellung und
Wahrung der Sicherheit in Krisengebieten und schafft da-
mit Räume für zivile Organisationen bei der Auslieferung
humanitärer Hilfsgüter und zum zivilen Wiederaufbau.
Dabei finden militärische Einsätze nicht in rechtsfreien
Räumen statt. Im Zentrum jedes Einsatzes muss die Wah-
rung der Menschenrechte stehen, wie sie sich aus den
Grundsätzen des humanitären Völkerrechts, aber auch
aus den Wertentscheidungen unseres Grundgesetzes er-
geben. Sicherheitspolitik kann nur dann glaubwürdig
sein, wenn sie bereit und fähig ist, Freiheit und Men-
schenrechte auch durchzusetzen – und vor allem auch
selbst danach zu handeln.

Deshalb geht die grundsätzliche Stoßrichtung des An-
trages auch unter dem Aspekt einer notwendigen sachlich
und öffentlich geführten Debatte zu diesem Thema in
Ordnung. Wir müssen uns in Zukunft verstärkt die Fragen
stellen: Wie weit reichen die Menschenrechtsverpflich-
Zu Protokoll
tungen der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen? Wie wer-
den die Soldaten informiert und geschult? Wie kann die
Einhaltung der Verpflichtungen kontrolliert werden? Das
sind Fragen, mit denen sich die zuständigen Ressorts und
der Deutsche Bundestag weiter zu beschäftigen haben.

Vor einigen Monaten berichtete das Magazin „Der
Spiegel“ von einem Einsatz der Krisenreaktionkräfte in
Afghanistan. Die Einheit sollte einen Taliban-Komman-
deur dingfest machen, auf dessen Konto eine Reihe von
Sprengfallen ging. Er wurde ausfindig gemacht, die Ope-
ration wochenlang geplant. Kurz vor dem Zugriff wurden
die Pläne entdeckt. Der Verdächtige entkam, obwohl er
hätte getötet werden können. Deutsche Soldaten beteili-
gen sich nicht am Targeting – dem gezielten Ausschalten
von Feinden. Andere Nationen sehen das anders, was
durchaus zu Reibungspunkten und Zielkonflikten führt.
Die deutschen Soldaten brauchen Klarheit und Rechts-
sicherheit für ihr Handeln. Das gilt auch für die Gewahr-
sam- und Festnahme von Personen. Wie lange dürfen
diese festgehalten werden, wem dürfen sie übergeben
werden, welche Regeln gelten? Nach einem von Amnesty
International vorgelegten Afghanistan-Report sei zum
Beispiel nicht auszuschließen, dass überstellte Personen
von afghanischer Seite misshandelt würden. Aus diesem
Grunde wird derzeit auch ein Abkommen zwischen
Deutschland und Afghanistan vorbereitet, um sicherzu-
stellen, dass an staatliche afghanische Behörden zu über-
gebende Personen nach den internationalen und vertrag-
lichen menschenrechtlichen Verpflichtungen behandelt
werden und die Todesstrafe nicht an ihnen vollstreckt
wird. Dies ist zur Herstellung von Rechtssicherheit drin-
gend erforderlich, sogenannte Diplomatische Zusiche-
rungen reichen hierfür nach meinem Verständnis nicht
aus.

Die Verpflichtung auf das Grundgesetz war und ist ei-
nes der Gründungsprinzipien der Bundeswehr. Bundes-
wehrsoldaten sind wie jeder andere Bürger auch den
Werten des Grundgesetzes verpflichtet – auch bei Aus-
landseinsätzen. Es gibt keinen begründeten Zweifel da-
ran, dass die Bundeswehr nicht alles unternimmt, die Ein-
haltung des Völkerrechts und der Menschenrechte zu
gewährleisten. Die Ausrichtung ihres Handelns an die
Einhaltung der elementaren Menschenrechte gehört zum
Selbstverständnis der Soldatinnen und Soldaten. Gleich-
zeitig stellt der „Staatsbürger in Uniform“ den demokra-
tischen Gegenentwurf zum unkritischen Befehlsempfän-
ger dar.

Dabei sind zwei Ebenen zu unterscheiden – zum einen
die Ebene der dienstrechtlichen Vorgaben, zum anderen
die Ebene des höherrangigen Rechts. Die Soldatinnen
und Soldaten werden im Rahmen ihrer Ausbildung, ein-
satzlandspezifisch vor jedem Auslandseinsatz und auch
während des Einsatzes über die Grundlagen des Huma-
nitären Völkerrechts und des Internationalen Rechts aus-
gebildet. Auf die allgemeinen und besonderen Bestim-
mungen beim Festhalten oder Festnehmen von Personen
wird in den sogenannten Taschenkarten, die den Soldatin-
nen und Soldaten zur Verfügung gestellt werden, ein-
gegangen. Die Rechtsgarantien für Personen, die bei
Auslandseinsätzen der Bundeswehr in Gewahrsam ge-
nommen werden, wurden unter anderem in einem Befehl



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Christoph Strässer
vom 26. April 2007 im Einzelnen aufgeführt. Doch letzt-
lich stellen die zentralen Dienstvorschriften der Bundes-
wehr eine untergesetzliche Normbasis ohne Außenwir-
kung dar.

Deshalb bleibt weiter zu fragen, inwieweit auf der
Ebene des höherrangigen Rechts Grundrechte aus dem
Grundgesetz oder völkerrechtliche Verpflichtungen wie
die Europäische Konvention zum Schutz der Menschen-
rechte oder der Internationale Pakt über bürgerliche und
politische Rechte mittelbar oder besser unmittelbar An-
wendung finden.

Die Bundesregierung erklärt dazu, bei Einsätzen der
Bundeswehr im Ausland, insbesondere auch im Rahmen
von Friedensmissionen, sichere Deutschland allen Per-
sonen, soweit sie der Herrschaftsgewalt der Bundeswehr
unterstehen, die Gewährung der im Zivilpakt anerkann-
ten Rechte zu. Diese Erklärung stößt bei großen Teilen
der Nichtregierungsorganisationen zu Recht auf Kritik.
Juristisch spitzfindig verberge sich hinter der Erklärung
nur eine Zusicherung der Paktrechte. Im Umkehrschluss
könne man daraus schließen, dass die völkerrechtlichen
Regelungen eigentlich keine unmittelbare Anwendung
fänden, man sich aber freiwillig bereit erkläre, sie anzu-
wenden. Außerdem würden die Rechte nur Personen
zugesichert, die der deutschen Herrschaftsgewalt unter-
stehen. Die Bundesregierung vertrete die Auffassung, die
Bundeswehr übe ausschließlich Hoheitsgewalt der Ver-
einten Nationen aus, wenn sie im Rahmen eines Mandats
des Sicherheitsrates handele, sodass die Grundrechte, die
EMRK und der Zivilpakt keine Anwendung fänden. Denn
auf Handlungen der Vereinten Nationen finden insbeson-
dere internationale Menschenrechtsabkommen keine An-
wendung, weil nur Staaten Vertragspartner dieser Über-
einkommen sind. In diesem Fall würde nur das zwingende
Völkerrecht gelten, dessen Schutzstandard unter dem der
Menschenrechtsabkommen liegt. Eine solche Positionie-
rung halte ich für unzureichend, relativiert sie doch den
Charakter und die Verbindlichkeit der von uns ratifizier-
ten Übereinkommen.

Gerade in den Rechtswissenschaften finden auch an-
dere Auslegungen Gehör. Für Einsätze der Bundeswehr
nach Art. 24 Abs. 2 GG, der für internationale Organisa-
tionen wie die Vereinten Nationen gilt, dürfen keine Ho-
heitsrechte vollständig übertragen werden. Beim Einsatz
multinationaler Kontingente übertragen die Entsende-
staaten nicht die vollständige Kommandogewalt. Auch
Bundesregierung und Bundestag gehen schließlich davon
aus, dass sie das Recht haben, für Auslandseinsätze der
Bundeswehr nationale Bedingungen und Beschränkun-
gen vorzusehen. Neben dem Mandat der Vereinten Natio-
nen existiert also auch ein nationales Mandat. Es gelte
eine Mehrebenenverantwortlichkeit. Aus diesem Grund
bestehe kein Anlass, die Grundrechte des Grundgesetzes
auf extraterritoriale Handlungen der Bundeswehr nicht
anzuwenden. Die Solange-Entscheidung des Bundesver-
fassungsgerichts und die Bosphorus-Entscheidung des
Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte lassen
es sogar geboten erscheinen, jeweils zu überprüfen, ob in
materieller Hinsicht ein vergleichbarer Grundrechts-
schutz besteht. Es bleibt zu überprüfen, ob und inwieweit
kontextbezogen Modifikationen des Schutzumfanges zu-
Zu Protokoll
lässig sind. Modifikationen können sich im Rahmen der
Verhältnismäßigkeitsprüfung oder mit Blick auf die
praktische Konkordanz im Widerstreit mit anderen
Grundrechten und Verfassungsgütern ergeben. Doch im
Ergebnis gilt die Verpflichtung der Gewährleistung des
höchstmöglichen Schutzniveaus, und zwar verbindlich
und ausnahmslos.

Ein weiterer zentraler Punkt ist die unmittelbare An-
wendbarkeit der Europäischen Menschenrechtskonven-
tion und des Zivilpaktes. Im Fall Saramati hat der EGMR
entschieden, die Menschenrechtskonvention sei nicht an-
wendbar, weil nationale Kontingente bei Friedensmissio-
nen der Vereinten Nationen ausschließlich deren Hoheits-
rechte ausüben wurden. Die Entscheidung wurde zu
Recht mit Verwunderung aufgenommen, da das Gericht
zum einen nicht die Frage aufwarf, ob nationale Kontin-
gente parallel auch nationale Hoheitsgewalt ausüben,
zum anderen weil der Gerichtshof von seiner eigenen
Rechtsprechung abwich, wonach es bei der Anwendung
der Menschenrechtskonvention bleibt, wenn ansonsten
kein gleichwertiger Menschenrechtsschutz gewährleistet
wäre. Aus der Intension der Konvention heraus dürfe kein
schutzloser menschenrechtsfreier Raum geduldet werden.

Die aktuelle Debatte in der Zivilgesellschaft und
Fachöffentlichkeit zeigt, dass noch nicht auf alle Fragen
und Herausforderungen die abschließenden Antworten
gefunden wurden, weder von juristischer Seite, was auch
auf sich widersprechende Urteile der nationalen und in-
ternationalen Gerichte zurückzuführen ist, noch von
politischer Seite. Richtig ist es, auf konkrete Fragen im
Rahmen jeden Einsatzes auch pragmatische Antworten
zu suchen, wie die Verhandlungen mit der afghanischen
Regierung über ein Abkommen zur Überstellung festge-
nommener Personen. In der Fachöffentlichkeit ist in der
Diskussion den verfahrensrechtlichen Schwierigkeiten
bei vorübergehend festgehaltenen Personen und der ge-
gebenenfalls gebotenen Richtervorführung mit einer Zu-
ordnung von Richtern im Einsatzgebiet oder der Möglich-
keit der Videokonferenz zu begegnen. Gleichzeitig gilt es
aber auch, quasi auf der Metaebene die menschen- und
völkerrechtlichen Rahmenbedingungen weiter zu konkre-
tisieren. Dazu gehören sicherlich auch die Überlegungen
einer expliziten Verankerung der Menschenrechte in den
Mandaten der Vereinten Nationen und des Bundestages,
ein Weg, den ich vom Ansatz her nachdrücklich befür-
worte. Grundsätzlich bin ich auch der Auffassung: je kon-
kreter die Mandatierung erfolgt, je mehr Wert auf den zi-
vilen Wiederaufbau, auf Nation Building und Capacity
Building gelegt wird, je konkreter die Menschenrechte
Verankerung finden, desto besser.

In diesem Zusammenhang möchte ich noch abschlie-
ßend darauf hinweisen, dass der Ausschuss für Men-
schenrechte und Humanitäre Hilfe anlässlich des 60. Jah-
restages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
plant, im Dezember eine Anhörung zum Thema „Men-
schenrechte und extraterritoriale Staatenpflichten“
durchzuführen. Das Thema bleibt also auf der politischen
Agenda, ich freue mich auf eine sachgerechte und ange-
messene Debatte in den Ausschüssen. Alle Beteiligten,
insbesondere auch die Soldatinnen und Soldaten, die in
solchen Einsätzen viel riskieren müssen, haben Anspruch



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Christoph Strässer
auf Klarheit und Rechtssicherheit. Den kann nur die
Politik schaffen.


Dr. Florian Toncar (FDP):
Rede ID: ID1617940000

Der vorliegende Antrag lenkt die Aufmerksamkeit auf

die Frage, welche völker- und menschenrechtlichen
Grundsätze die Soldaten der Bundeswehr bei Auslands-
einsätzen binden. Damit soll sichergestellt werden, dass
die Soldaten die Menschenrechte der Bevölkerung im
Einsatzland achten. Zudem soll die Truppe klare Hand-
lungsanweisungen erhalten, um zu verhindern, dass die
Soldaten möglicherweise an Aktionen beteiligt werden,
die ihr Mandat überschreiten und für die sie später zur
Rechenschaft gezogen werden. Die Sicherstellung beider
Ziele ist unerlässlich, um die Unterstützung der Bevölke-
rungen für die Präsenz der Bundeswehr in Einsatzgebie-
ten zu bewahren und so zur Sicherheit der Soldaten bei-
zutragen.

Auch wenn der vorliegende Antrag sich mit einer
wichtigen Thematik befasst, wählen die Grünen leider ei-
nen Zungenschlag, der dem engagierten Verhalten der
deutschen Soldaten nicht gerecht wird. Der Antrag im-
pliziert ein breites Fehlverhalten der Bundeswehr bei
Auslandseinsätzen. Die Formulierungen erwecken den
Eindruck, als ob die Soldaten ohne menschen- und völker-
rechtliche Bindungen bei Auslandseinsätzen vorgehen
würden. Ferner unterstellen sie, dass bei Auslandseinsät-
zen grund- und menschenrechtliche Verpflichtungen nicht
eingehalten werden und Soldaten möglicherweise zu
Handlungen angeleitet werden, für die sie später straf-
rechtlich belangt werden können. Diese Prämissen treffen
nicht zu. Richtig ist jedoch, dass der Dienstherr in einigen
Fällen in seiner Befehlslage Unklarheit für die Soldaten
geschaffen hat, die behoben werden müssen.

Zur Rechtslage ist zu sagen, dass die Soldaten der
Bundeswehr wie alle anderen deutschen Bürger an das
deutsche Grundgesetz gebunden sind, in dem es in Art. 1
Abs. 1 GG heißt: „Die Würde des Menschen ist unantast-
bar“. Bedeutsam ist auch, dass die Bundeswehr als Teil
der deutschen öffentlichen Gewalt bei Handlungen im
Ausland nicht nur den Verpflichtungen der völkerrecht-
lich normierten Menschenrechte unterliegt, sondern auch
in die durch Art. 1 Abs. 3 GG normierte Bindung an die
deutschen Grundrechte einbezogen ist.

Die Antragssteller führen am Anfang des Begrün-
dungsteils treffend aus: „Auslandseinsätze der Bundes-
wehr sind zwingend an das Völkerrecht und die Men-
schenrechte gebunden“. Seit ihrer Gründung gilt für die
Soldaten der Bundeswehr, dass Befehlen, die das huma-
nitäre Völkerrecht verletzen, nicht Folge zu leisten ist.
Dabei ist weder die Erteilung solcher Befehle noch ihre
Ausführung erlaubt.

Ich möchte an dieser Stelle unterstreichen, dass das
Verhalten der deutschen Soldaten bei Auslandseinsätzen
den grund- und völkerrechtlichen Verpflichtungen ge-
recht wird. Vereinzelte Fälle von individuellem Fehlver-
halten sind konsequent geahndet worden.

In der Befehlslage hat das Bundesministerium der Ver-
teidigung jedoch nicht immer die notwendige Sorgfalt
Zu Protokoll
walten lassen. Dazu möchte ich Ihnen ein Beispiel geben:
Das Bundesverteidigungsministerium stellt den Soldaten
wichtige Informationen oder Merksätze in Form von so-
genannten Taschenkarten zur Verfügung. Dies sind kom-
pakte Faltblättchen, welche die Soldaten griffbereit bei
sich tragen sollen. In der 2006-er Ausgabe der Taschen-
karte mit dem Titel „Humanitäres Völkerrecht in bewaff-
neten Konflikten“ wurde die Anweisung, dass die Solda-
ten der Bundeswehr die Regeln des humanitären
Völkerrechts zu beachten haben, durch den Zusatz „so-
weit praktisch möglich“ eingeschränkt. Solche Fehler
dürfen nicht vorkommen. Das Verteidigungsministerium
ersetzte diese Textfassung im Juni 2008 durch eine For-
mulierung, die die vorbehaltlose Geltung des humanitä-
ren Völkerrechts wieder festschreibt.

Der Antrag der Grünen geht auch auf die Behandlung
von festgenommenen Personen durch die Bundeswehr
ein. Das Bundesministerium der Verteidigung hat letzt-
malig durch den Befehl vom 26. April 2007 die Behand-
lung von Gefangenen durch die Bundeswehr geregelt.
Mit diesem Befehl reagierte die Bundesregierung auf ei-
nen Antrag der FDP-Bundestagsfraktion auf Drucksa-
che 16/2096 vom 30. Juni 2006. Es waren die Liberalen,
die sich bereits vor über zwei Jahren mit diesem Themen-
komplex befasst haben. Insofern hinken die Grünen der
Debatte deutlich hinterher. Der Befehl des Ministeriums
legt die menschenrechtskonforme Behandlung von Ge-
fangenen fest. Da die Bundeswehr in Afghanistan keine
Gefängnisse betreibt, werden Gefangene bisher an die
örtlichen Behörden überstellt. Der angesprochene Befehl
legt dazu fest: „Die Übergabe der in Gewahrsam genom-
menen Personen an Sicherheitskräfte aus Drittstaaten ist
untersagt, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die
Beachtung menschenrechtlicher Mindeststandards nicht
gewährleistet ist.“ Auch wenn der angesprochene Befehl
einen Fortschritt bedeutet, besteht ein Defizit fort. So ver-
lässt sich die Bundesregierung bei Überstellungen von
Gefangenen weiterhin auf diplomatische Versicherungen
des Empfängerstaates, anstatt sich durch regelmäßige,
unangekündigte Kontrollbesuche ein eigenes Bild über
die Haftbedingungen von überstellten Gefangenen zu ma-
chen. Also besteht hier noch Verbesserungsbedarf. Auf
dieses Defizit zielt der vorliegende Antrag der Grünen je-
doch leider nicht ab.

In der Summe erweckt der Antrag der Grünen den Ein-
druck, dass die Einsätze der Bundeswehr nicht in einem
klaren menschen- und völkerrechtlichen Rahmen statt-
fänden. Ferner seien die Soldaten der Gefahr ausgesetzt,
zu Handlungen herangezogen zu werden, für die sie spä-
ter strafrechtlich belangt werden könnten. Diese von den
Antragsstellern vermutete rechtswidrige Praxis existiert
so nicht. Daher zielt der Kern des Antrags ins Leere.

Dennoch muss das Bundesministerium der Verteidi-
gung weitere Verbesserungen in der konkreten Befehlslage
vornehmen. Dies gilt insbesondere für die Sicherstellung
der rechtsstaatlichen Behandlung von Gefangenen nach
Überstellungen durch deutsche Stellen im Ausland. Die
FDP hat auf diese Lücke bereits vor zwei Jahren aufmerk-
sam gemacht.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Florian Toncar
Der in dem Antrag enthaltene Zungenschlag ist ein
sprachlicher Duktus, der dem pflichtbewussten und enga-
gierten Einsatz unserer Soldaten nicht gerecht wird. Da-
her lehnen wir diesen Antrag der Grünen ab.


Dr. Norman Paech (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617940100

In ihrem Antrag fordert die Fraktion Bündnis 90/Die

Grünen menschen- und völkerrechtliche Standards für
die Einsatzregeln der Bundeswehrsoldaten in Auslands-
einsätzen. Diese müssen aber nicht nur mit dem Men-
schen- und Völkerrecht, sondern auch mit dem Grundge-
setz vereinbar sein. Ebenfalls soll die Bundesregierung
sich verpflichten, ihre Soldatinnen und Soldaten vor Ein-
sätzen, die mit den Menschen- und Völkerrechten sowie
mit dem Grundgesetz nicht kompatibel sind, zu bewahren.

Das findet in vielen Punkten unsere Zustimmung. Al-
lerdings gibt es einen zentralen Punkt, der unserer Auf-
fassung nach fehlt: die generelle Vereinbarkeit von Aus-
landseinsätzen mit dem Völkerrecht. So fordert Die Linke
seit langem, dass Auslandseinsätze nur dann gestattet
werden, wenn sie völkerrechtskonform sind. Leider war
und ist dies bis dato nicht immer der Fall. Sie erinnern
sich nicht gerne daran: Aber die Bombardierung Jugos-
lawiens war ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht.
Der damalige Außenminister Fischer hat seinerzeit mit
dem untauglichen Argument der sogenannten humanitä-
ren Intervention versucht, den Überfall völkerrechtlich zu
rechtfertigen. Es lag jedoch weder ein Fall der Selbstver-
teidigung noch ein Mandat des UN-Sicherheitsrats vor.
Das war eine dreiste Verletzung des Völkerrechts. Die
NATO hat Soldatinnen und Soldaten in einen völker-
rechtswidrigen Krieg geschickt, in dem zudem zahlreiche
Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung begangen
wurden.

Aber auch der gegenwärtige Einsatz im Rahmen des
Antiterrorkampfes der OEF in Afghanistan ist völker-
rechtlich nicht gedeckt. Auch wenn man mit Art. 51 der
UN-Charta argumentiert – nach sieben Jahre Besatzung
in Afghanistan ist der Verteidigungsfall längst hinfällig
geworden.

Und selbst die indirekte Beteiligung der Bundeswehr
am Irakkrieg ist völkerrechtlich nicht gedeckt. Das Bun-
desverwaltungsgericht hat im Fall Pfaff eindeutig bestä-
tigt, dass die Unterstützungsleistung gegen das Völker-
recht verstieß. Das BVerwG sagt in seinen Leitsätzen sehr
deutlich, ich zitiere:

6. … Für den Krieg konnten sich die Regierungen
der USA und des UK weder auf sie ermächtigende
Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates noch auf das in
Art. 51 UN-Charta gewährleistete Selbstverteidi-
gungsrecht stützen.

7. Weder der NATO-Vertrag, das NATO-Truppen-
statut, das Zusatzabkommen zum NATO-Truppen-
statut noch der Aufenthaltsvertrag sehen eine Ver-
pflichtung der Bundesrepublik Deutschland vor,
entgegen der UN-Charta und dem geltenden Völ-
kerrecht völkerrechtswidrige Handlungen von
NATO-Partnern zu unterstützen.

Wenn ein Auslandseinsatz der Bundeswehr völker-
rechtskonform ist, so müssen es auch die Regeln für die
Zu Protokoll
Soldatinnen und Soldaten sein. So wird in dem Antrag
richtig festgestellt, dass es der Bundesregierung bisher
nicht gelungen ist, „die menschen- und völkerrechtlichen
Grenzen und Bindungen bei Auslandseinsätzen klar zu
definieren und erlaubtes von unerlaubtem Handeln deut-
lich abzugrenzen.“ Die Soldatinnen und Soldaten der
Bundeswehr sind zwar mit einer sogenannten Taschen-
karte ausgestattet, aber diese lässt genug Spielräume, das
humanitäre Völkerrecht zu brechen. Deutsche Soldatin-
nen und Soldaten laufen deshalb permanent Gefahr, das
humanitäre Völkerrecht zu brechen: bei Gefangennah-
men und bei der Behandlung von Gefangenen, mit der
Auslieferung von Gefangenen an Dritte und mit den Auf-
klärungsflügen. Die Kriegsführung der USA in Afghanis-
tan hat schon seit langem und in unerträglichem Maße
die Regeln des humanitären Völkerrechts verletzt. Und je
tiefer sich die Bundeswehr in diesen Krieg hineinziehen
lässt, umso stärker läuft sie Gefahr, sich in die gleiche
völkerrechtswidrige Kampfführung zu verstricken.

Nach dem humanitären Völkerrecht sollte bei jedem
Einsatz der Schutz der Zivilbevölkerung oberstes Gebot
sein. Dies ist oft nicht der Fall, wie wir in Afghanistan fast
täglich sehen. Bundesregierung und NATO sprechen von
Kollateralschäden, wenn sie Tote in der Zivilbevölke-
rung, die Zerstörung von Krankenhäusern und wichtiger
Infrastruktur meinen. Dies ist nicht nur eine zynische Ver-
harmlosung, sondern auch eine Verschleierung der Tat-
sache, dass diese Kampfeinsätze sich außerhalb des Völ-
kerrechts bewegen.

Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ver-
fehlt zwar unserer Meinung nach das Kernproblem von
Auslandseinsätzen und sogenannten Friedensmissionen.
Dennoch ist es schon ein Fortschritt, dass er sich mit den
Einsatzregeln für Soldatinnen und Soldaten auseinander-
setzt und die Bundesregierung auffordert, hier Klarheit zu
schaffen. Dies verlangt der vorliegende Antrag, und er
findet deshalb unsere Zustimmung.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617940200

Es ist schon bemerkenswert, dass wir die Bundesregie-

rung auffordern müssen, endlich Klarheit über die men-
schen- und völkerrechtlichen Bindungen bei Auslands-
einsätzen der Bundeswehr zu schaffen. Auslandseinsätze
der Bundeswehr – auch schwierige und gefahrvolle – fin-
den ja schon seit einigen Jahren statt. Erst in den vergan-
genen Woche haben wir die Verlängerung der deutschen
Beteiligung an den UN-Einsätzen im Sudan und vor der
libanesischen Küste beschlossen. Die Beratung über die
Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan
steht im kommenden Monat an.

Umso beachtlicher ist es, dass es weiterhin keine Klar-
heit über den rechtlichen Rahmen dieser Einsätze gibt.
Dies stellt nicht nur der Bundesregierung ein Armuts-
zeugnis aus, sondern auch die beteiligten Soldaten vor
große Probleme.

Nach Art. 1 des Grundgesetzes binden die Grund-
rechte die vollziehende Gewalt, also auch die Streitkräfte,
und zwar auch, soweit die Wirkungen ihrer Betätigung im
Ausland eintreten. Einen territorialen Vorbehalt kennt
das Grundgesetz nicht. Diese Feststellung ist auch in ei-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Volker Beck (Köln)

nem anderen aktuellen Kontext von Bedeutung: Bei Ein-
sätzen außerhalb des deutschen Staatsgebiets, beispiels-
weise auf Hoher See im Rahmen von FRONTEX zur
Abwehr unerwünschter Zuwanderung.

Im Hinblick auf den Einsatz der Bundeswehr im Aus-
land geht es um ganz konkrete Sachverhalte von großer
praktischer Relevanz: Dürfen Personen festgenommen
und festgehalten werden? Wenn ja, auf welcher Rechts-
grundlage und für welche Dauer? Wie steht es mit dem
Gesetzesvorbehalt und dem Richtervorbehalt? Dürfen
Festgenommene an andere Institutionen überstellt wer-
den? Insbesondere letztere Frage stellt sich aktuell in Af-
ghanistan, wenn Personen an den afghanischen Geheim-
dienst überstellt werden. Wie will die Bundesregierung
sicherstellen, dass sie nicht gefoltert werden, ein faires
Gerichtsverfahren erhalten und nicht zum Tode verurteilt
und hingerichtet werden? Denn eines muss unmissver-
ständlich klar sein: Jegliche deutsche Unterstützungs-
leistungen – auch unterhalb der direkten Übergabe selbst
ergriffener Verdächtiger – begründen im Falle von Ver-
stößen gegen die Menschenrechte eine Mitverantwor-
tung. Deutsche staatliche Gewalt darf keine Beihilfe zur
Folter oder unrechtmäßiger Inhaftierung leisten!

Der Untersuchungsausschuss zu Murat Kurnaz und
dem Einsatz der KSK in Afghanistan im Jahre 2002 hat in
der vergangenen Woche seine abschließende Sitzung ab-
gehalten. Sein Bericht wird uns hier im Hause noch be-
schäftigen. Schon jetzt lässt sich aber sagen: Der Aus-
schuss hat die Erkenntnis zu Tage gefördert, dass die
Sondereinsatzkräfte damals nach Afghanistan beordert
wurden, ohne dass diese Fragen auch nur ansatzweise
geklärt waren. Das hat zu den bekannten Problemen ge-
führt, unter anderem dem fragwürdigen Einsatz deut-
scher Soldaten bei der Bewachung von Personen, die im
US-Gefangenenlager in Kandahar interniert wurden, be-
vor sie widerrechtlich nach Guantanamo verschleppt
wurden.

Erst im Jahre 2007 wurden durch einen Befehl des Ver-
teidigungsministeriums grundlegende Handlungsanwei-
sungen an die Soldaten gegeben: Festgenommene sind
menschlich zu behandeln, müssen versorgt und dürfen
nicht gefoltert werden.

So begrüßenswert wie selbstverständlich diese Anwei-
sungen sind, fällt doch auf, dass sie jegliche Bezugnahme
auf die Grundrechte des Grundgesetzes, die Europäische
Menschenrechtskonvention (EMRK) oder Normen des
humanitären Völkerrechts vermeiden. Dadurch wird die
Unsicherheft darüber, welchem Rechtsregime das Han-
deln unterliegt, eher noch vergrößert. Gelten die Grund-
rechte des Grundgesetzes? Gelten die internationalen
Abkommen zum Schutz der Menschenrechte? Unterliegt
der Einsatz den Regeln des humanitären Völkerrechts?

Der sogenannte bewaffnete Kampf gegen Straftäter,
wie der Einsatz von der Bundesregierung bezeichnet
wird, findet mangels Festlegung in einer rechtlichen
Grauzone statt. Das Konstrukt der „Strafverfolgung mit
militärischen Mitteln“ führt dazu, die rechtlichen Grund-
lagen des Einsatzes zu vernebeln und sich von rechtlichen
Bindungen zu lösen.
Zu Protokoll
Der ehemalige Beauftragte der Bundesregierung für
Menschenrechtsfragen im Bundesministerium der Justiz.
Stoltenberg, hat jüngst in einer juristischen Fachzeit-
schrift erneut den Finger in die Wunde gelegt und gefor-
dert, die Bundesregierung solle unmissverständlich zum
Ausdruck bringen, dass sie bei Auslandseinsätzen der
Bundeswehr die grundsätzliche Geltung der Grundrechte
des Grundgesetzes sowie die Anwendbarkeit der Euro-
päischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und des
UN-Zivilpakts anerkennt.

Denn die Grundrechte des Grundgesetzes finden auch
dann Anwendung, wenn Handlungen der deutschen öf-
fentlichen Gewalt außerhalb des deutschen Staatsgebie-
tes stattfinden. Allein aus der Eingliederung in eine inter-
nationale Organisation oder aus der Zusammenarbeit mit
Sicherheitskräften anderer Staaten folgt keine Verände-
rung des grundrechtlichen Prüfungsmaßstabs. Auch für
die Ausübung von deutscher Hoheitsgewalt im Ausland
gibt es keine grundrechtsfreien Räume.

Nicht nur der Deutsche Bundestag braucht Klarheit
über den Umfang und die rechtlichen Grenzen eines von
ihm zu verantwortenden Auslandseinsatzes. Insbesondere
die beteiligten Soldatinnen und Soldaten benötigen
Rechtssicherheit. Sie dürfen nicht in rechtlichen Grauzo-
nen operieren, und sie dürfen nicht im Unklaren gelassen
werden, ob ihr Vorgehen rechtlich zulässig ist oder einen
Rechtsverstoß darstellt


Gert Winkelmeier (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617940300

Als ich den vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die

Grünen durchgelesen hatte, war ich versucht, wie die
Götter in der Odyssee in homerisches Gelächter auszu-
brechen.

Ich möchte kreativ zitieren:

Jetzo standen die Götter, die Geber des Guten, im
Vorsaal; und ein langes Gelächter erscholl bei den
seligen Göttern, als sie die Künste sahn des klugen
Erfinders Volker Beck.

Ich habe mir das Lachen allerdings verkniffen, denn
dazu ist das Thema viel zu ernst. Schon der erste Satz des
Antragsbegehrens hat es in sich. Da ist von der „völker-
rechtlich korrekten“ Mandatierung von Auslandseinsätzen
die Rede, als ob das bisher alles völlig in Ordnung gewesen
wäre: vom gegen die Charta der UNO verabschiedeten
Vorratsbeschluss am 16. Oktober 1998 zum Luftkrieg ge-
gen Jugoslawien bis zur Beteiligung der Bundeswehr an
der Operation Enduring Freedom. Demnächst, im No-
vember, werden wir wieder erleben, dass alle Befürworter
und auch die möglichen grünen Gegner einer OEF-Man-
datsverlängerung wahrheitswidrig Stein und Bein be-
haupten, die Resolutionen 1368 und 1373 ließen die An-
wendung militärischer Gewalt zu. Ich sage hier jetzt
schon einmal an die Adresse der Bundesregierung: Legen
Sie dem Deutschen Bundestag nicht zum x-ten Mal einen
Antrag vor, der sich auf eine nicht existierende Rechts-
grundlage beruft!

Zurück zum heutigen Antrag. Es ist einfach unglaub-
lich, mit welcher Chuzpe Sie, die Grünen, hier argumen-
tieren. Jahrelang haben Sie sich ohne Widerstand von Ih-



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Gert Winkelmeier
rem informellen Anführer „an der Nase der humanitären
Intervention“ – so der vorwurfsvolle Bundestags-Origi-
nalton Fischer an die Regierung des Bundeskanzlers
Kohl im Jahre 1995 – in Kriege führen lassen, um die Re-
gierungsbeteiligung nicht aufs Spiel zu setzen. Und nun
entdecken Sie Mängel bei der Einhaltung der Standards
des humanitären Kriegsvölkerrechts, die Sie längst hätten
abstellen können. Denn Sie trugen doch länger Regie-
rungsverantwortung als die jetzige Koalition. Unter Ihrer
aktiven Mitwirkung hat doch der Kriegskurs dieses Lan-
des begonnen. Sie haben doch den Nachkriegskonsens
Deutschlands aufgekündigt, dass von deutschem Boden
nie wieder Krieg ausgehen sollte, weil Herr Fischer sonst
nicht hätte Außenminister werden können. Allein aus die-
sem Grunde haben Sie den Bürgerkrieg im Kosovo zum
Genozid umgelogen und die Basis dafür gelegt, dass
Art. 26 des Grundgesetzes, das Verbot des Angriffskrie-
ges, droht, zur Worthülse zu verkommen.

Damit jetzt keine Missverständnisse aufkommen: Das
Anliegen des Antrags unterstütze ich. Selbstverständlich
dürfen unsere Soldaten nicht in rechtlichen Grauzonen
allein gelassen werden. Und selbstverständlich haben
Regierung und Bundeswehrführung alles zu tun, um ein
völkerrechtlich einwandfreies Verhalten sicherzustellen.
Da gibt es in der Tat Mängel, die abgestellt werden
müssen. Das gebietet schon allein die Pflicht zur Für-
sorge.

Aber – das ist doch der entscheidende Punkt –: Diese
Fürsorge fängt hier im Deutschen Bundestag an. Hier
wird über die Auslandseinsätze der Bundeswehr entschie-
den. Und dies darf nur auf einer glasklaren Rechtsgrund-
lage erfolgen. Das ist jenseits der politischen Beurteilung
des Einzelfalls über die Parteigrenzen hinweg unser aller
Verantwortung und Verfassungspflicht. Beidem ist die
Mehrheit hier im Parlament seit 1998 nur in Einzelfällen
gerecht geworden. Das kann natürlich auch nicht gelin-
gen, wenn die eigentlichen Gründe für einen militäri-
schen Einsatz nicht benannt und stattdessen Vorwände
konstruiert werden. Die erste Lüge gebiert dann automa-
tisch die nächste.

Die Fraktion der Antragsteller hat 1998 mehrheitlich
entschieden, dass sich die Piloten der ECR-Tornados an
Operationen beteiligen, die nach den für deutsches Han-
deln geltenden Normen nicht zulässig waren. Nun fordern
sie, dass dies künftig nicht mehr der Fall sein dürfe; und
begründen Ihren Antrag mit der völlig richtigen Aussage:
„Auslandseinsätze der Bundeswehr sind zwingend an das
Völkerrecht ... gebunden.“ Das will ich gerne als Aus-
druck eines Lernprozesses in der Opposition werten, und
ich hoffe, dass ich Sie bei künftigen Entscheidungen nicht
mehr daran erinnern muss.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617940400

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 16/8402 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas-
sung von Vorschriften auf dem Gebiet des öko-
logischen Landbaus an die Verordnung (EG)

Nr. 834/2007 des Rates vom 28. Juni 2007 über
die ökologische/biologische Produktion und
die Kennzeichnung von ökologischen/biologi-
schen Erzeugnissen und zur Aufhebung der
Verordnung (EWG) Nr. 2092/91

– Drucksache 16/10174 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Marlene
Mortler, CDU/CSU, Gustav Herzog, SPD, Hans-
Michael Goldmann, FDP, Dr. Kirsten Tackmann, Die
Linke, Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen.


Marlene Mortler (CSU):
Rede ID: ID1617940500

Wir führen heute zu später Stunde keine Diskussion um

die Henne und das Ei, und wir stellen auch nicht die
Frage, ob Biolebensmittel nun zu einer gesünderen Le-
bensweise führen als konventionell produzierte Lebens-
mittel. Nein, wir befassen uns heute in erster Lesung mit
der Anpassung der Vorschriften des Öko-Landbaugeset-
zes und des Öko-Kennzeichengesetzes an die geänderten
EG-rechtlichen Bestimmungen. Es ist notwendig und er-
forderlich, die Märkte zu beobachten und legislative Rah-
menbedingungen an die Bedürfnisse anzupassen.

Schauen wir uns einmal die Daten an. 2007 konnte der
ökologische Landbau in Deutschland sowohl beim Zu-
wachs der ökologisch bewirtschafteten Flächen als auch
bei der Zahl der ökologisch wirtschaftenden landwirt-
schaftlichen Unternehmen ein deutliches Wachstum er-
zielen. Dies geht aus den Jahresmeldungen der Länder
über den ökologischen Landbau für 2007 hervor. Sehr gut
vertreten war wieder einmal mein Heimatland Bayern.
Für das erste Halbjahr 2008 sieht die Lage etwas ernüch-
ternder aus. Wachsende Kaufunlust und durch Rohstoff-
engpässe gestiegene Lebensmittelpreise kennzeichnen
aktuell den Markt.

Erste Zeitungsartikel fragen nach dem Anfang vom
Ende des Biobooms. So schwarz malen möchte ich hier
nicht, sondern eher von einer Konsolidierungsphase
sprechen. Die Branche holt wohl nur Luft für die nächsten
Erfolgsmeldungen. Warnen möchte ich diejenigen, die re-
volutionäre Neuerungen vom vorliegenden Gesetzent-
wurf erwarten und einfordern. Die vorgesehenen Ände-
rungen sind lediglich aufgrund von EU-Vorgaben
erforderlich. Bewährt hat sich in Deutschland die bun-
desweite Zulassung privater Kontrollstellen. Diese wer-
den jetzt mit der Einführung des Elements der Aufgaben-
übertragung verknüpft.

Die neue Struktur des Ökokontrollsystems der Europäi-
schen Union wird nunmehr in die amtliche Kontrolle der
Einhaltung des Lebensmittel- und Futtermittelrechts so-


(A) (C)



(B) (D)


Marlene Mortler
wie der Bestimmungen über Tiergesundheit und Tier-
schutz eingebettet. Begrüßenswert ist die durch die EG-
Öko-Basisverordnung geschaffene neue Möglichkeit, ei-
gene nationale Vorschriften für die Kennzeichnung von
ökologischen Erzeugnissen in Einrichtungen der Außer-
Haus-Verpflegung und deren Kontrolle zu erlassen. Wir
wollen dies schnellstmöglich umsetzen.

Wenn ich schon beim Thema Kennzeichnung bin, muss
ich kritisch hinterfragen, warum die EU unbedingt ein
einheitliches verpflichtendes Biosiegel vorschreiben
möchte. Es soll ab 1. Juli 2010 zusätzlich auf alle Pro-
dukte gedruckt werden. Ich sehe für unsere Verbraucher
keine Vorteile. Wichtig ist für mich, das deutsche Biosie-
gel weiterzuentwickeln, auch gegen den Widerstand des
Deutschen Einzelhandels und einiger Anbauverbände.
Derzeit enthält das Biosiegel lediglich die Information,
dass das entsprechende Ökoprodukt nach den Richtlinien
der EG-Öko-Verordnung produziert und kontrolliert
wurde. Die Transparenz der Herkunft der Ökoprodukte
hat aber eine hohe Bedeutung. Daher ist die ablehnende
Reaktion des Bioland-Verbandes zur geforderten Weiter-
entwicklung des Biosiegels völlig unverständlich.

Der Verbraucher hat ein Recht, von allen Bioproduk-
ten zu erfahren, woher die enthaltenen Nahrungsmittel-
rohstoffe stammen. Deshalb muss die Angabe über die
Herkunft als eigenständige Information in Kombination
mit dem Biosiegel verpflichtend sein. Hiervon würden
alle profitieren: Bauern, Verarbeiter, Handel und Ver-
braucher; denn ein Mehr an Transparenz sorgt nicht nur
für eine bessere Information, sondern letztlich auch für
mehr Sicherheit.

Weiterer Änderungsbedarf im Öko-Landbaugesetz er-
gibt sich aus einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs
über Niederlassungserfordernisse für Kontrollstellen aus
dem EU-Ausland im Öko-Landbaugesetz. Streichungen
sind hierzu erforderlich. Dies trägt auch Anforderungen
der EU-Dienstleistungsrichtlinie Rechnung. Die konzep-
tionellen Überlegungen für die kontinuierliche Überwa-
chung von Kontrollstellen in Drittländern durch die EU-
Kommission mit Unterstützung der Mitgliedstaaten ste-
cken noch in der Anfangsphase. Dessen ungeachtet ist
Deutschland gezwungen worden, die Forderung aufzuge-
ben, nur Kontrollstellen mit Sitz oder Niederlassung im
Inland zuzulassen. Weiter müssen Straf- und Bußgeldvor-
schriften überarbeitet und an die neue EG-Öko-Basisver-
ordnung angepasst werden.

Die Ideen des Bundesrates müssen wir uns in der Aus-
schussberatung sorgfältig ansehen. Eventuell können sie
dann noch in unsere Beschlussempfehlung mit aufgenom-
men werden. Der Agrarausschuss des Bundesrates hat in
seiner Sitzung vom 16. Juni 2008 beispielsweise einen
Antrag Bayerns mit großer Mehrheit beschlossen. Er
sieht vor, dass die Zollbehörden die Kontrollstellen der
Länder über die Einfuhr von Ökowaren aus dem Ausland
informieren. Der Antrag Bayerns wurde maßgeblich vom
Land Hamburg unterstützt, da es Hauptumschlagspunkt
für Importe ist. Die Kontrollstellen würden zeitnah einen
Überblick erhalten und könnten so ein Risikomanage-
ment durchführen. Außerdem würden die Zollbehörden
ab dem 1. Januar 2009 unterstützt, wenn sie klären müs-
Zu Protokoll
sen, ob es sich bei dem Import um ein konformes, also der
EU-Öko-Verordnung entsprechendes Produkt, oder um
ein gleichwertiges, also nicht zu 100 Prozent der EU-
Öko-Verordnung entsprechendes Produkt handelt.

Erfreulich ist, dass die vorgesehenen Änderungen im
Gesetzentwurf keine finanziellen Auswirkungen auf die
allseits belasteten öffentlichen Haushalte haben, und
dass sie mit keiner Ausweitung der behördlichen Tätigkeit
bei Bund und Ländern einhergehen. Die Union meint es
ernst mit dem Thema Bürokratieabbau: Wir sehen daher
den Vorschlag kritisch, eigens einen Beirat zur Interpre-
tation und Umsetzung der EU-Öko-Verordnung zu schaf-
fen. Die Einrichtung eines weiteren Gremiums ist nicht
nötig. Schließlich tauschen sich die zuständigen Referen-
ten der Länder ohnehin bei regelmäßigen Treffen intensiv
über Erfahrungen ihrer Ressorts aus. Ein Mehr an Büro-
kratie ist überflüssig und wird es mit uns nicht geben.


Gustav Herzog (SPD):
Rede ID: ID1617940600

Wir beraten heute über ein neues Gesetz zur Anpas-

sung der Vorschriften für den ökologischen Landbau.
Hierbei reden wir über einen der kräftigsten Wachstums-
märkte, die wir haben – auf der Welt, in Europa und vor
allem in Deutschland. Das nach wie vor ungebrochene
Wachstum geht auf eine immer größer werdende Anzahl
von Konsumentinnen und Konsumenten zurück, die bereit
sind, für Zusatzleistungen höhere Preise zu zahlen.

Dass das Umsatzplus im ersten Halbjahr 2008 „nur“
noch 3,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr beträgt – was
manch einer schon gerne als schwächelnden Markt oder
das Ende des Biotraums verkauft – findet seine Ursachen
zum großen Teil auch darin, dass wir in diesem Jahr
schon Angebotsengpässe am Markt verzeichnen. Es wird
mehr nachgefragt, als nachgeliefert werden kann. Zudem
macht sich der allgemeine Rückgang der Kaufkraft be-
merkbar, und das lenkt den Verbraucher auch schon ein-
mal in die niederpreisigen, aber gleichen Regale.

Deutschland hielt auch 2007 mit einem Umsatz von
5,45 Milliarden Euro und einem Bio-Anteil von 3 Prozent
am gesamten Lebensmittelmarkt mit Abstand Platz 1 der
größten Absatzmärkte in Europa. Auch wenn andere Mit-
gliedstaaten in Europa große Zuwächse verzeichnen, ist
und bleibt Deutschland die größte und für viele Impor-
teure wichtigste Absatzregion in Europa.

Das ist erfreulich, und es ist gewollt. Wir haben diese
Entwicklung nicht nur als Glanzleistung der beteiligten
Wirtschaft beobachtet, sondern auch politisch unterstützt
und befördert. Das Bundesprogramm Ökolandbau und
speziell das Biosiegel hat durch seine geschaffene Trans-
parenz die Nachfrage nach Bioprodukten verstärkt.

Das Vertrauen der Verbraucher ist eine der wichtigs-
ten Grundlagen für den wachsenden Absatz, Vertrauen in
die Annahme, dass Bioprodukte einen Mehrwert an ge-
sellschaftlich gewollten Leistungen für unsere Umwelt
und die Nachhaltigkeit haben. Dieses Vertrauen ist ge-
rechtfertigt, und, man darf dabei nicht vergessen, dass
der Sektor auch einem strengen Kontrollregime unter-
liegt. Vertrauen ist gut, Kontrolle noch besser.

Doch ein Nachfrageüberhang bringt nicht nur stei-
gende Preise mit sich, sondern auch unerwünschte Tritt-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Gustav Herzog
brettfahrer, die mit krimineller Energie den schnellen
Profit suchen und damit des Vertrauen in eine ganze
Branche riskieren. Hier brauchen wir eine eng verzahnte
Kontrolle, nicht nur der Kontrollstellen, sondern auch ein
brancheninternes Selbstverständnis, das Trittbrettfah-
rern die Luft dünn werden lässt.

Auch brauchen wir mehr Landwirte, die auf ökologi-
sche Wirtschaftsweise umstellen und so den Nachfrage-
druck abfedern. Der Ökolandbau ist ein wichtiger und
wachsender Teil der Landwirtschaft. 865 000 Hektar der
landwirtschaftlichen Nutzfläche in Deutschland wurden
2007 ökologisch bewirtschaftet. Das sind 5,1 Prozent,
Tendenz weiter steigend, da immer mehr Landwirte se-
hen, dass wir es hier mit einem stabilen Markt zu tun ha-
ben.

Wir brauchen mehr Landwirte, die umstellen. Nicht
nur, um den Importanteil wieder zu senken und somit die
Vorteile der Regionalität zu stärken, sondern auch, um
die gesellschafts- und umweltpolitischen Vorteile nicht zu
exportieren. Wir wollen die Mehrbeschäftigung im ökolo-
gischen Landbau hier haben, wir wollen unsere natürli-
chen Ressourcen hier schonen, wir wollen die Wertschöp-
fungskette hier ausschöpfen, und wir wollen unserer
Umwelt Schäden ersparen, unsere Biodiversität schützen
und die bunte Vielfalt in unseren ländlichen Räumen be-
fördern.

Aus diesen Gründen stehen wir auch jetzt hier; denn
um all dieses zu erreichen, müssen wir auch die rechtli-
chen Grundlagen weiterentwickeln. Am 28. Juni 2007 hat
der Rat die lange verhandelte EU-Verordnung 834/2007
angenommen. Diese löst die lang und gut gediente Öko-
basisverordnung 2092/91 ab. Das macht es notwendig,
unser Ökolandbaugesetz in verschiedenen, doch zumeist
unstrittigen Punkten anzupassen.

Die Vorlage der Bundesregierung greift auf, was not-
wendigerweise und mit wenig Spielraum umzusetzen ist.
Neben den Folgeänderungen aus der neuen Basisverord-
nung geht es auch um die Umsetzung des anhängigen
EuGH-Urteils zur derzeit vorgeschriebenen Niederlas-
sungspflicht ausländischer Kontrollstellen. Die Umset-
zung des EuGH-Urteils beschert uns einen sehr engen
Zeitplan für das parlamentarische Verfahren, das wir
pünktlich zum 1. Januar 2009 umgesetzt haben müssen.

Das war Grund für mich, schon frühzeitig die Gesprä-
che aufzunehmen, nicht nur überfraktionell hier im
Hause sondern auch mit den Wirtschaftsbeteiligten und
der Bundesregierung. Besonderes Augenmerk bekam hier
die vielfach heterogene Umsetzung und Interpretation
der Kontrollvorschriften durch die Länder und die
schwierige Lage der beauftragten Kontrollstellen. Beson-
ders in verschiedenen Bundesländern tätige Kontrollstel-
len berichten von erheblichen Problemen, für die wir
noch nach Lösungen suchen. Auch prüfen wir noch ver-
schiedene Möglichkeiten, um die Kontrollqualitäten noch
besser zu machen, als sie heute schon sind, ohne einen
Zusatzaufwand zu produzieren.

Hierüber und über die Vorschläge der Länder werden
wir in den Ausschussberatungen ausführlich beraten, um
in der Sache konstruktiv weiterzukommen. Der Zeitdruck
Zu Protokoll
lässt uns zwar wenig Spielraum, doch die bisherige gute
Zusammenarbeit über die Fraktionsgrenzen hinweg
macht mir Hoffnung auf einen guten und schnellen Ab-
schluss des parlamentarischen Verfahrens.


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1617940700

Wegen der geänderten Rechtslage in der EU müssen

wir das Öko-Landbaugesetz ändern. Ich hätte mir ge-
wünscht, dass die Regierung die Gelegenheit beim
Schopfe packt, die Mängel, die seit über einem Jahr dis-
kutiert werden, mit dieser Novelle abzuräumen.

Wir dürften uns doch in diesem Hause alle einig sein,
dass es für eine erfolgreiche Zukunft der ökologischen
Landwirtschaft unerlässlich ist, dass die Verbraucher
Vertrauen in die Qualität der Produkte haben. Gerade an-
gesichts steigender Importe ist es wichtig, dass die Kon-
trollen transparent und effektiv sind. Und doch hapert es
in dem Gesetzentwurf gerade in diesem Punkt an der not-
wendigen Klarheit.

Sowohl der Bauernverband als auch der Bundesver-
band Ökologischer Landbau und die Vereinigung der
Kontrollstellen haben bereits im Vorfeld darauf hingewie-
sen, dass die bisherige Rechtspraxis geprägt ist von Zer-
splitterung zwischen den einzelnen Bundesländern. Diese
Zersplitterung wirkt sich natürlich auf die Kontrollstellen
und die auf die Ökobauern umgelegten Kosten aus. Des-
wegen ist es dringend erforderlich, einen bundeseinheit-
lichen Rahmen vorzugeben, um Wettbewerbsnachteile
der deutschen Ökobauern gegenüber der europäischen
Konkurrenz abzubauen. Derzeit haben wir Dreifachprü-
fungen durch unterschiedliche staatliche Stellen oder In-
stitutionen, die staatlich überwacht werden.

Selbstverständlich sind die Lebensmittel- und damit
auch die Ökokontrollen Ländersache. Doch bei allem Be-
kenntnis zum deutschen Föderalismus dürfen die
Ökokontrollen nicht in Kleinstaaterei verharren. Die kos-
tenträchtigen und zeitintensiven Doppel- und Dreifach-
prüfungen müssen endlich ein Ende haben. In diesem
Punkt muss der Gesetzentwurf dringend nachgebessert
werden.

Auch die Forderung des BÖLW nach einem nationalen
Beirat für die Interpretation und Umsetzung der EG-Öko-
Verordnung sollte im Ausschuss noch einmal ernsthaft ge-
prüft werden. Denn die Novelle sollte das Ziel haben, die
Überregulierung abzubauen, die Prüfqualität effizienter
zu erreichen und damit die Kontrollen kostengünstiger
und transparenter zu gestalten.

Im Übrigen muss künftig auch verhindert werden, dass
ungeprüfte angebliche oder tatsächliche Ökoprodukte in
den Markt gelangen; das setzt die Glaubwürdigkeit der
gesamten Branche aufs Spiel.

Im weiteren Verfahren gilt es also noch, intensiv in den
Gesetzestext einzusteigen, um die erkannten Schwächen
auszuräumen. Es bleibt zu hoffen, dass die Große Koali-
tion sich einsichtig zeigt.


Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617940800

Es gab nicht viele Beispiele für einen derart geschlos-

senen inner- und außerparlamentarischen Protest gegen



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Kirsten Tackmann
einen Verordnungsvorschlag der EU-Kommission wie vor
einem Jahr gegen den Entwurf einer neuen Verordnung
zum ökologischen Landbau. Dieser Protest hat zu Verän-
derungen geführt, die auch für deutsche Bio-Bäuerinnen
und -Bauern sowie Verbraucherinnen und Verbraucher
tragbar sind. EU-Verordnungen müssen auf nationaler
Ebene umgesetzt werden. Der hier vorliegende Gesetz-
entwurf dient der Umsetzung der neu gefassten EU-Ver-
ordnung zur Kontrolle und Kennzeichnung von Ökopro-
dukten.

Dass die EU-einheitliche Kennzeichnung von Ökopro-
dukten auf das Jahr 2011 verschoben wird, kann man be-
dauern. Aber es ist immer noch die bessere Entscheidung
angesichts der Situation, dass es noch immer kein einheit-
liches Siegel gibt, das in der Lage ist, die Kriterien in
Sachen Verbrauchervertrauen und Erkennbarkeit zu er-
füllen. Die Kommission hat nun vorgeschlagen, der Ent-
wicklung eines Siegels mehr Zeit zu geben und diese mit
einem EU-weiten Wettbewerb zu verbinden. Wir werden
darauf achten, dass das dann auch zu einem akzeptablen
Ergebnis führt. Der Markt für Ökoprodukte boomt. Über
die vergangenen Jahre konnten zweistellige Zuwachsra-
ten im Verbrauch registriert werden. Es gibt hierzulande
unterdessen kein Unternehmen im Lebensmitteleinzel-
handel mehr, das nicht Ökoprodukte anbietet. Das ist
durchaus eine erfreuliche Entwicklung und widerspricht
so mancher Behauptung, den Menschen wäre es letztlich
egal, was sie essen, Hauptsache es ist billig. Wobei die
allgemeine Armutsentwicklung die Entscheidungsspiel-
räume vieler Menschen deutlich einschränkt.

Dennoch ist es Realität: Nicht zuletzt aufgrund eines
staatlich anerkannten Kontrollsystems genießen Ökopro-
dukte ein großes Vertrauen bei den Verbraucherinnen und
Verbrauchern. In den vielen Kontrolluntersuchungen, die
zum Beispiel für Obst, Gemüse oder Fleisch außerhalb
der biointernen Richtlinienkontrollen laufen, fallen Bio-
produkte meist positiv auf. Wobei hier nicht nur die Qua-
lität der Produkte, sondern die ökologische Erzeugung im
Mittelpunkt steht.

Dieser großen Beliebtheit auf dem Lebensmittelmarkt
hinkt die einheimische Erzeugung von Bioprodukten hin-
terher. Das Wachstum in der landwirtschaftlichen Erzeu-
gung und in der Weiterverarbeitung stagniert. Die Folge:
Immer mehr Ökoprodukte und auch Rohstoffe werden im-
portiert. Das ist bedauerlich, liegt der Flächenanteil bun-
desweit doch gerade einmal bei 5 Prozent.

Die Linke unterstützt das Ziel, das schon von der rot-
grünen-Regierung formuliert wurde, bis 2020 einen An-
teil von 20 Prozent Bio auf dem Acker zu haben. Nur muss
seitens der Politik mehr getan werden, um dieses Ziel zu
erreichen. Als neue Barriere erweisen sich übrigens die
spekulativen Pacht- und Bodenpreiserhöhungen, zu de-
nen auch der Verkauf ehemals volkseigener Flächen
durch die BVVG beiträgt. Gerade der Ökolandbau ist auf
eine verlässliche Verfügbarkeit des Bodens angewiesen.

Steigende Preise für konventionelle Agrarrohstoffe
und die Verdienstmöglichkeiten durch das Energie-Ein-
speise-Gesetz haben die Verdienstoptionen für die Land-
wirtschaftsbetriebe erweitert, auch wenn die Wirkung
durch explodierende Betriebsmittel- und Pachtpreise teil-
Zu Protokoll
weise wieder zunichte gemacht wird. Wo es dennoch ei-
nen Zugewinn gibt, ist das auch in Ordnung. Nur redu-
ziert sich damit auch die Bereitschaft, ökologisch zu
wirtschaften. Anders gesagt: Die Umstellungsförderung
und die Marktanreize für den Ökolandbau haben in der
bisherigen Höhe keine ausreichende Wirkung mehr. Für
Die Linke bedeutet das, dass positive Potenziale für Ein-
kommen und Arbeitsplätze in den ländlichen Räumen
nicht genutzt werden. Ökolandbau ist auf die Fläche und
die Tierhaltung bezogen arbeitsintensiver und bringt we-
gen des höheren Preisniveaus der Erzeugnisse eine hö-
here Wertschöpfung. Die betrieblichen Einkommen der
Biobetriebe lagen in den Agrarberichten der letzten Jahre
immer deutlich über denen der konventionellen Ver-
gleichsbetriebe. Nur reicht das allein offensichtlich nicht,
um mehr Betriebe zur Umstellung zu motivieren.

Denn die zwei- bis dreijährige Umstellungszeit ist sehr
schwierig: Das Ertragsniveau sinkt, die Ernte darf nur
als Umstellungsware verkauft werden, und das optimale
und standortangepasste Bewirtschaftungssystem muss oft
erst entwickelt werden. Eine schwierige Phase, die mit
hohen Risiken verbunden ist, auch wegen fehlender Kon-
tinuität und Verlässlichkeit der politischen Rahmenbedin-
gungen. Auf der anderen Seite wächst die Nachfrage nach
Ökoprodukten, und das nicht nur in Deutschland, auch
andere EU-Länder ziehen nach, allen voran Skandina-
vien, Tschechien, aber auch die Beneluxstaaten und
Frankreich. Ökoprodukte werden inzwischen in ganz
Europa produziert und konsumiert. Ein einheitliches
Regelwerk für die Erzeugung und Vermarktung von Öko-
produkten in Europa ist daher unumgänglich und eine zü-
gige nationale Umsetzung im Interesse aller. Minister
Seehofer muss darüber hinaus dazu beitragen, dass der
einheimische Ökolandbau seine sozialen und ökologi-
schen Potenziale erschließen kann.


Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617940900

Der Biomarkt in Deutschland boomt. Das vierte Jahr

in Folge wachsen die Umsätze für Bioprodukte zweistel-
lig. 2007 waren es 15 Prozent. Ein Segen für unsere Land-
wirtschaft? Leider nein. Die Schere zwischen Kunden-
nachfrage und Angebot an deutschen Bioprodukten geht
immer weiter auseinander. Denn die Zahl ökologisch
wirtschaftender Betriebe erhöhte sich nur um 2,8 Pro-
zent.

Die ideologische Landwirtschaftspolitik der Union
verschenkt lieber Jahr für Jahr Marktanteile ans Aus-
land, anstatt mit einer dringend benötigten Erhöhung der
Umstellungs- und Beibehaltungsprämie den deutschen
Bauern neue Einkommensmöglichkeiten zu sichern.

Besonders gravierend sind für die Biobauern die der
Kompromisspolitik von Bundeskanzlerin Merkel geschul-
deten massiven Kürzungen der Gelder für die sogenannte
zweite Säule der gemeinsamen Agrarpolitik. Seit 2007
fehlen damit für die ländlichen Räume jährlich 300 Mil-
lionen Euro EU-Mittel und weitere 100 bis 200 Millionen
Euro aus den Etats von Bund und Ländern.

Bund und Länder haben den Rotstift bei den Prämien
für Ökolandwirte angesetzt. Ökobetriebe mussten ab
2007 auf bis zu 40 Prozent ihrer Förderung verzichten.



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Cornelia Behm
Diese drastische Verschlechterung der Wettbewerbsbe-
dingungen schreckt nun Landwirte von der Umstellung
ab, obwohl sie die wachsende Nachfrage gerne bedienen
würden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, legen
Sie endlich Ihre ideologischen Scheuklappen ab und
schauen Sie auf die Fakten. Die herausragenden Leistun-
gen des Ökolandbaus für Klima, Umwelt und Natur, für
die Entwicklung der ländlichen Räume weltweit sowie für
die Ernährungssicherung und Lebensmittelqualität sind
klar und deutlich belegt. Beenden Sie Ihre Blockade der
dringend benötigten finanziellen Aufstockung der zweiten
Säule im Rahmen der aktuellen Überprüfung der europäi-
schen Agrarpolitik. Beenden Sie endlich Ihre fadenschei-
nige Argumentation um die Verlässlichkeit. Denn den
Landwirten, die sich mit der Erbringung gesellschaftli-
cher Leistungen zum Beispiel im Bereich des Naturschut-
zes, ein zweites Standbein erarbeitet hatten, haben Sie mit
den Kürzungen bei der zweiten Säule jegliche verlässli-
che Grundlage entzogen. Ihre Politik ist keine Bauernpo-
litik, sondern Klientelpolitik für rationalisierte Großbe-
triebe und die Agrarindustrie, und zwar auf Kosten der
bäuerlichen Betriebe und der Landwirte, die im Einklang
mit der Natur wirtschaften wollen.

Auch das heute vorliegende Öko-Landbaugesetz ist
kein Ruhmesblatt. Obwohl die Ökobranche uns eindrück-
lich auf Probleme mit dem Gesetz hinweist, lehnen Sie es
ab, gemeinsam mit den Länderagrarministern noch ein-
mal nachzubessern.

So bestehen in Deutschland seit geraumer Zeit erheb-
liche Probleme mit der uneinheitlichen Interpretation der
EG-Öko-Verordnung, sei es bei der Biokennzeichnung
von verarbeitetem Fisch aus Wildfang, der Etikettierung
von Ökolebensmitteln oder der Verwendung von Aromen.
Entscheidungen hierzu werden auf den Verwaltungsebe-
nen der Länder und nicht im Bund und schon gar nicht in
Zusammenarbeit zwischen Behörden, Branche und Wis-
senschaft getroffen. Diese uneinheitliche Interpretation
führt jedoch zu enormen Wettbewerbsverzerrungen und
damit zu Nachteilen für die Branche.

Im Gesetz wird außerdem versäumt, die Rolle und die
Aufgaben der Kontrollstellen sowie die Rechte und
Pflichten der Unternehmen im Rahmen der Kontrolle
rechtssicher zu definieren. Dies zementiert die sehr unter-
schiedliche Handhabung in den Bundesländern, die in
der Branche und bei den Kontrollstellen zu hohen zusätz-
lichen Belastungen und Unsicherheiten führt.

Ein Problem stellt auch dar, dass es keinen Überwa-
chungsmechanismus gibt, um Unternehmen, die ihre Pro-
dukte als „Bio“ bezeichnen, obwohl sie nicht nach EG-
Öko-Verordnung kontrolliert werden, zu identifizieren
und zu sanktionieren.

Bessern Sie deshalb nach. Schaffen Sie gleiche Bedin-
gungen für die deutschen Ökolandwirte und die Herstel-
ler von Bioprodukten in allen Bundesländern.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617941000

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 16/10174 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Michael Leutert, Hüseyin-
Kenan Aydin, Monika Knoche, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE

Für die soziale Rehabilitation von Kindersol-
daten eintreten

– Drucksachen 16/6358, 16/8789 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Hartwig Fischer (Göttingen)

Christoph Strässer
Burkhardt Müller-Sönksen
Michael Leutert
Volker Beck (Köln)


Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Hartwig
Fischer (Göttingen), CDU/CSU, Angelika Graf (Rosen-
heim), SPD, Burkhardt Müller-Sönksen, FDP, Michael
Leutert, Die Linke, Volker Beck (Köln), Bündnis 90/Die
Grünen.


Hartwig Fischer (CDU):
Rede ID: ID1617941100

Wir debattieren hier heute über den Antrag der Frak-

tion Die Linke mit dem Titel „Für die soziale Rehabilita-
tion von Kindersoldaten eintreten“. Aber leider steckt in
dem Antrag nicht einmal ansatzweise das drin, was oben
draufsteht.

Nein, vielmehr benutzt die Fraktion Die Linke das
Thema Kindersoldaten, um Ihre antiamerikanischen An-
sichten kundzutun.

Im Antrag wird das Schicksal des jungen Omar Khadr
beschrieben, welcher als 15-jähriger Kindersoldat durch
die amerikanischen Streitkräfte in Afghanistan gefangen
genommen und in Guantánamo inhaftiert wurde. Mehr ist
zu dem Thema „Kindersoldat“ und „Rehabilitierung“ in
dem Antrag nicht zu lesen.

Vielmehr macht die Linke nochmals deutlich, dass sie
noch heute den Ansichten der SED nachhängt, die in den
Vereinigten Staaten von Amerika den Erzfeind gesehen
hat. Aber der Kalte Krieg ist zum Glück vorbei.

Durch den Antrag wird nicht nur das Thema Kinder-
soldaten missbraucht, nein, er ist auch noch schlecht re-
cherchiert. Es wird nämlich einfach nicht erwähnt, dass
der angesprochene Omar Khadr bereits volljährig ist.
Des Weiteren ist Herr Khadr kanadischer Staatsbürger,
und Kanada hat sich bis heute geweigert, Herrn Khadr in
Kanada aufzunehmen. Allein das zeigt, dass dieser An-
trag so schlecht und widersprüchlich ist, dass die Linke
nicht wirklich erwarten kann, dass die Fraktionen dieses
Hauses auf einen solchen populistischen Antrag herein-
fallen.


(A) (C)



(B) (D)


Hartwig Fischer (Göttingen)

Und ich muss Ihnen sagen, dass das Thema dafür viel
zu wichtig ist. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen
werden weltweit noch immer 250 000 Kinder als Soldaten
missbraucht. Besonders gravierend ist die Situation in
Ländern wie Kolumbien, Burma oder der Demokrati-
schen Republik Kongo. Erst gestern erreichten uns neue
Nachrichten, dass im Osten der Demokratischen Repu-
blik Kongo Hunderte von Kindern verschollen sind. Es
wird berichtet, dass die Kinder durch die Rebellengruppe
von Laurent Nkunda entführt worden sind und nun als
Kindersoldaten oder Sexsklaven missbraucht werden.

Aber Deutschland verschließt seine Augen nicht vor
dieser Tatsache. Ich selber habe im Grenzgebiet zwischen
Ruanda und der Demokratischen Republik Kongo Pro-
jekte der Gesellschaft fürTechnische Zusammenarbeit
– GtZ – besucht, die Kindersoldaten resozialisieren. Das
geht allerdings nur, wenn sich die Anführer der Rebellen
und somit der Kindersoldaten ergeben. Erst dann haben
die Kinder die Möglichkeit, in die Gemeinschaft zurück-
zukehren, aus der sie oft geraubt wurden.

Auf diesem schweren Weg müssen wir die Kinder un-
terstützen. Wir müssen ihnen zeigen, dass es ihnen nicht
besser geht, wenn sie eine Waffe in der Hand halten. Wir
müssen ihnen in ihrer jeweiligen Gesellschaft Wege auf-
zeigen, auf denen sie sich entwickeln können. Und da hilft
uns ein solcher Antrag, wie ihn heute die Linke hier vor-
legt, nicht weiter.

Ich glaube, dass ich hier für fast alle Abgeordneten des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
sagen kann, dass wir eine Position bezüglich der Kinder-
soldaten haben, die weit über diesen Antrag hinausgeht.
Wir verurteilen den Missbrauch von Kindern als Kinder-
soldaten zutiefst. Daher muss es in unserem Interesse
sein, dass Thema ernst zu diskutieren. Wir müssen es auch
bei unseren Besuchen in den Ländern und bei Regie-
rungsgesprächen ansprechen. Nur so und nicht durch sol-
che hetzerischen Anträge wie der der Linken können wir
eine Verbesserung für die Kinder vor Ort erreichen.


Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1617941200

Im vorliegenden Antrag geht es nicht, wie der Titel

glauben macht, allgemein um die soziale Rehabilitation
von Kindersoldaten. Vielmehr wird das bedauerliche
Schicksal eines minderjährig inhaftierten und aus Afgha-
nistan nach Guantanamo verschleppten kanadischen
Staatsbürgers herangezogen, um daraus abgeleitet an die
Bundesregierung allgemeine Forderungen bezüglich des
Umgangs mit den USA zu stellen.

Ich bin der Meinung, dass es einer im Parlament ver-
tretenen Partei möglich sein muss, einen von ihr formu-
lierten Antrag auch mit einem Titel zu versehen, der hält
was er verspricht und nicht in die Irre führt. Ein irrefüh-
render Titel ist für mich bereits ein hinreichender Grund,
einen Antrag abzulehnen.

Warum sehe ich das so hart? Es ist wirklich schwierig,
zu Ihrem Antrag Stellung zu nehmen. Denn wozu sollen
wir eigentlich Stellung nehmen? Sollen wir zu Ihrer in der
Überschrift geäußerten angeblichen Absicht Stellung
nehmen, Kindersoldaten sozial zu rehabilitieren – dafür
Zu Protokoll
sind wir sicher alle –, oder zu der im Text geäußerten Auf-
forderung, die USA darauf aufmerksam zu machen, dass
die inhaftierten Minderjährigen in Guantanamo entlas-
sen werden müssen, oder zur Forderung, dass die Bun-
desregierung die Vereinigten Staaten an die Einhaltung
des Fakultativprotokolls zum Übereinkommen über die
Rechte des Kindes erinnern soll?

Den Eiertanz der Linken, wie er sich während der An-
tragsberatungen im Ausschuss für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe zugetragen hat, möchte ich gern an die-
ser Stelle darlegen: Die Fraktion Die Linke wollte nicht
akzeptieren, dass wir den Antrag mit dem Verweis auf ei-
nen unpassenden Titel ablehnen würden. Sie meinten, sie
hätten den Antrag aber ganz bewusst auf Kinder, die in
Guantanamo inhaftiert sind, abgestellt. Erinnern Sie sich
an den Titel Ihres eigenen Antrages? Guantanamo kommt
darin nicht vor.

Weiter argumentierten Sie, dass die Forderung,
Guantanamo zu schließen, zu einer Ablehnung des Antra-
ges geführt hätte. Als Begründung hätten wir vorgetra-
gen, dass dies im Ausschuss schon mehrmals untermauert
worden ist. Das ist korrekt. Aber ich frage Sie: Muss man
Dinge, die man längst festgeschrieben hat, wirklich im-
mer wieder beschließen?

Lassen Sie mich Folgendes klarstellen: Wir, die Frak-
tion der SPD und auch die Bundesregierung, wollen, dass
Guantanamo endlich geschlossen wird. Die Bundeskanz-
lerin und der Bundesaußenminister haben das in Gesprä-
chen mehrfach gegenüber der amerikanischen Regierung
deutlich gemacht. Diese Ansicht teilen wohl alle hier im
Bundestag vertretenen Fraktionen. Dieses Lager hätte
niemals eröffnet werden dürfen. Dort werden alle Men-
schenrechte mit Füßen getreten. Guantanamo ist eines
demokratisch gewählten amerikanischen Präsidenten
und der Regierung der ältesten Demokratie der Welt un-
würdig und schädigt das Ansehen der westlichen Welt
nachhaltig immens.

Und gerade weil wir uns da alle einig sind, finde ich es
sehr bedauerlich, dass Sie diese Angelegenheit populis-
tisch zweckentfremden, denn die fehlende handwerkliche
Qualität bei der Erstellung Ihres Antrages zeigt, dass Sie
dieses Thema leider nicht so ernst nehmen, wie wir alle es
sollten.

Den jungen Mann, Omar Khadr, den Sie in ihrem An-
trag erwähnen, hat ein solches Schicksal ereilt, dass wohl
keiner von uns mit ihm tauschen wollte. Sein Beispiel in
Ihrem Antrag aufzugreifen, ist aus mehreren Gründen
dennoch schwierig: Er war zum Zeitpunkt seiner Verhaf-
tung 15 Jahre alt, also minderjährig. Wäre er als Minder-
jähriger entlassen worden, hätte sich seine Rückführung
wohl einfacher gestaltet. Doch heute ist er volljährig.
Und genau hier liegt das Problem, denn die Kanadier
verlangen erst eine gerichtliche Verhandlung, weil sie ei-
nen verurteilten Terroristen nicht mehr zurücknehmen
wollen, einen unschuldig Verschleppten aber wohl. Ein
solches Verfahren scheint aber noch immer in weiter
Ferne zu liegen.

Sie sehen, wie schwierig dieses Feld und jeder Einzel-
fall sind. Rechtspolitisch gesehen ist dieser Fall bei-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Angelika Graf (Rosenheim)

spielsweise eine Angelegenheit zwischen den Kanadiern
und den USA. Deutschland ist sich – der fehlenden for-
malen Zuständigkeiten zum Trotz – seiner moralischen
Verantwortung bewusst und aus diesem Grunde nicht un-
tätig. Der Außenminister und die Bundeskanzlerin brin-
gen dieses Thema in diplomatischen Gesprächen immer
wieder mit dem Blick fürs Ganze aufs Tableau.

Ich hoffe sehr, dass ein neuer US-Präsident die Situa-
tion wandelt und dass die USA ihren Verpflichtungen, die
sich aus dem Fakultativ-Protokoll zum Übereinkommen
über die Rechte des Kindes ergeben, nachkommen,
Guantanamo schließen, den Verschleppten ein rechts-
staatliches Verfahren vor einem ordentlichen Gericht er-
möglichen, die Unschuldigen entschädigen und die tat-
sächlich Schuldigen bestrafen.


Burkhardt Müller-Sönksen (FDP):
Rede ID: ID1617941300

Wir sind uns alle darin einig, dass wir Politikerinnen

und Politiker uns mit allen zur Verfügung stehenden Mit-
teln gegen Menschenrechtsverletzungen jeglicher Art
einsetzen müssen. Dies trifft insbesondere für Kinder als
eine besonders schutzbedürftige Gruppe zu. Im Einklang
mit der Kinderrechtskonvention der VN von 1990 und den
menschenrechtlichen Grundsätzen der Freien Liberalen
setze ich mich neben der Schutzbedürftigkeit auch für die
Rechtsansprüche von Kindern ein.

Die Fraktion Die Linke greift in ihrem Antrag die Pro-
blematik der Kindersoldaten auf. Im Positionspapier der
FDP-Bundestagsfraktion „Menschenrechte. Universal,
unteilbar, bedroht“ setzen wir uns intensiv mit dem
Thema auseinander:

Es ist in vielen Ländern trauriger Alltag, dass Kin-
der als Kindersoldaten – darunter bis zu 40 Prozent
Mädchen – missbraucht werden. Ihre Zahl wird auf
weltweit rund 300 000 geschätzt, wobei nicht nur
Rebellengruppen wie die „Lord’s Resistance Army“

(LRA) in Uganda,


– aktuelle Anmerkung: Erst am 23. September 2008 be-
richtete dpa, dass ugandische Rebellen 90 Kinder in
Nordostkongo verschleppten und sie mit hoher Wahr-
scheinlichkeit zum Kämpfen gezwungen werden –,

die „Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colom-
bia“ (FARC) in Kolumbien oder Milizen im Kongo
Kinder rekrutieren, sondern auch einige reguläre
Armeen, wie zum Beispiel die Streitkräfte in Burma/
Myanmar. Oftmals werden sie vergewaltigt und un-
ter dem Einfluss von Drogen zum Kämpfen gezwun-
gen. Diese menschenverachtende Praxis einiger
Bürgerkriegsparteien steht in eklatantem Wider-
spruch zur Allgemeinen Menschenrechtserklärung
der Vereinten Nationen sowie zum Internationalen
Pakt für bürgerliche und politische Rechte.

Auf dieser Grundlage fordern wir Liberale, dass
„der Einsatz von Kindersoldaten von den UN er-
fasst und vom Internationalen Strafgerichtshof in
Den Haag konsequent verfolgt werden muss. Eine
effektive Prävention gegen ungesetzliche Rekrutie-
rung kann durch die Sicherstellung des Schulbe-
Zu Protokoll
suchs, die Vermeidung von Familientrennungen,
Früherkennungs-, Schutz- und Zusammenführungs-
programme für Kinder, die von ihren Familien ge-
trennt wurden, sowie Bildungs- und Berufsausbil-
dungsprogramme erreicht werden.

In ihrem Antrag fordert Die Linke, die USA dazu auf-
zufordern, ihren Verpflichtungen nachzukommen, die sich
aus der Unterzeichnung des Fakultativprotokolls zum
Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend
die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten
ergeben. Die Linke bezieht sich auf den Fall des kanadi-
schen Staatsbürgers Omar Khadr, der 15-jährig von der
US-Armee nach einem Angriff in Afghanistan festgenom-
men und später nach Guantánamo gebracht wurde. Da
die USA gemäß Art. 6 Abs. 3 des Fakultativprotokolls zum
Zeitpunkt der Festnahme Hoheitsgewalt über den Inhaf-
tierten ausübten, waren sie verpflichtet, erforderlichen-
falls jede geeignete Unterstützung zur physischen und
psychischen Genesung und sozialen Wiedereingliederung
zu ergreifen. Omar Khadr soll von den USA freigelassen
und als ehemaliger Kindersoldat wieder in die Gesell-
schaft integriert werden.

Leider ist es der FDP-Bundesfraktion nicht möglich,
diesen Antrag zu unterstützen. Lassen Sie mich dies kurz
erläutern:

Erstens. Wir fordern eine umfassende Auseinanderset-
zung bezüglich der Einbeziehung von Minderjährigen in
Kampfhandlungen, wo auch immer diese geschehen. Eine
Konzentration auf Einzelfälle, wie sie hier im Antrag der
Linken vorgestellt werden, entspricht nicht dem Ausmaß
dieser brisanten Menschenrechtsverletzung an Kindern
und Jugendlichen. An dieser Stelle verweise ich auf den
umfangreichen Bericht „Global Report 2008“ der Coali-
tion to Stop the Use of Child Soldiers, einem Zusammen-
schluss internationaler Organisationen. Dieser Bericht
dokumentiert die Rekrutierungspraxis und den Einsatz
minderjähriger Soldaten sowie ihre Entlassung und
Reintegration in 197 Ländern.

Zweitens. In Bezug auf die Kinderrechte in den Verei-
nigten Staaten von Amerika fordern wir nachdrücklich
eine vorbehaltlose Ratifizierung der Kinderrechtskon-
vention der Vereinten Nationen durch die USA. Es ist für
uns Liberale in keiner Weise zu akzeptieren, dass die USA
als eines der weltpolitisch bedeutendsten Länder die Kin-
derrechtskonvention nicht unterstützen und neben Soma-
lia zu den beiden letzten Ländern gehören, die dieser fast
universell unterzeichneten VN-Konvention nicht beige-
treten sind.

Drittens. Außerdem geht uns der Antrag nicht weit ge-
nug. Die FDP steht den Haftgründen und den Haftbedin-
gungen in Guantánamo kritisch gegenüber und plädiert
schon länger für eine sofortige Schließung des US-Ge-
fängnisses auf Kuba. Dieser Aspekt kommt im Antrag
überhaupt nicht zur Sprache.

Der Antrag der Linken ist für uns Liberale somit ins-
gesamt nicht weitgehend genug. Er lässt viele Aspekte un-
beachtet und ist deshalb abzulehnen.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Michael Leutert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617941400

Mit der Ablehnung des von der Linken eingebrachten

Antrages, sich für Omar Kahdr einzusetzen, beweist die
Große Koalition einmal mehr, dass sie bei Menschen-
rechtsverletzungen mit zweierlei Maß misst. Gerade vor
dem Hintergrund der Geschichte dieses Guantanamo-
Häftlings erscheint mir eine auch nur irgendwie geartete
juristische wie auch politische Abwägung unangebracht.

Dieser junge Mann hat wahrscheinlich in Afghanistan
an Gefechten gegen Truppen der USA teilgenommen.
Aber dieser junge Mann war zum Zeitpunkt der Kämpfe
gerade einmal 15 Jahre alt. Sieht man sich dazu seine
Biografie etwas genauer an, dann wird auch schnell klar,
warum er da kämpfte, wo er kämpfte.

Es ist gute deutsche Rechtstradition, gerade im Ju-
gendstrafrecht und auch im Jugendstrafvollzug zum einen
den Grundsatz der Resozialisierung und Erziehung in den
Mittelpunkt zu stellen und sich zum anderen im Gerichts-
prozess die Biografie des beschuldigten Minderjährigen
genauer anzusehen, um die Geschichte, wie und warum
er zur Straftat gekommen ist, zu verstehen. Ich denke, Sie
stimmen mir zu, wenn ich behaupte, dass Guantanamo
diese Anforderungen nicht erfüllt.

Natürlich habe ich zur Kenntnis genommen, dass Sie
Guantanamo missbilligen und die Schließung des Lagers
fordern. Nur wird diese allgemeine Forderung genau die-
sem Einzelfall, diesem jungen Mann nicht gerecht. Hier
hätte ich mir gewünscht, dass Sie sich für diesen jungen
Mann stark machen und die Bundesregierung auffordern,
sich für eine schnellstmögliche und rechtsstaatlich ange-
messene Lösung des Falls einzusetzen.

Und dies kann nur heißen:

Erstens. Die USA muss nachdrücklich aufgefordert
werden, alle durch sie in Guantanamo inhaftierten Min-
derjährigen freizulassen und geeignete Maßnahmen zur
sozialen Wiedereingliederung zu ergreifen.

Zweitens. Die USA muss nachdrücklich aufgefordert
werden, ihren Verpflichtungen, die sich aus dem Fakulta-
tivprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des
Kindes betreffend die Beteiligung an bewaffneten Kon-
flikten ergeben, nachzukommen.

Schaut man sich jedoch Beschlussempfehlung und Be-
richt des Ausschusses zum Antrag genauer an und ver-
sucht man, die Argumente, die SPD und Grüne im Aus-
schuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe gegen
den Antrag vorbringen, nachzuvollziehen, dann kann
man nur verwundert den Kopf schütteln. Zum einen argu-
mentiert die SPD, dass sie generell für die Schließung von
Guantanamo ist und deshalb keine Einzelforderungen
aufgestellt werden dürfen, die man nicht überblicken
kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
traue ihnen ohne Weiteres zu, diesen konkreten Fall zu
überblicken.

Der dem Antrag zugrunde liegende Sachverhalt ist so
klar und eindeutig, dass die Gegenargumente seitens der
SPD nur vorgeschoben sein können.

Ein weiteres Argument, welches von der SPD vorge-
bracht worden ist, um dem Antrag nicht zuzustimmen, ist,
Zu Protokoll
dass sich der Antrag der Linken auf Minderjährige be-
zieht, der im Antrag benannte Mensch nunmehr jedoch
volljährig sei. Hier aber übersieht die SPD Punkt zwei
unseres Antrages.

Wir sind uns wohl darüber einig, dass die Pubertät ein
einschneidender Abschnitt im Leben eines Menschen ist.
Wenn man diese Zeit dann auch noch in Guantanamo ver-
bringen muss, ist dies wohl nicht sehr förderlich.

Da Omar Kadhr nun in Guantanamo volljährig ge-
worden ist, glaubt die SPD nunmehr, den Antrag ableh-
nen zu können. Durch den Fall Omar Kadhr wird exem-
plarisch gezeigt, wie im Kampf gegen den sogenannten
internationalen Terrorismus Menschenrechte keinerlei
Beachtung mehr finden und selbst auf besonders Schutz-
bedürftige keine Rücksicht mehr genommen wird. Die
Intention hinter diesem Antrag bleibt aber, zum einen
Minderjährige sofort freizulassen, und zum anderen Men-
schen, die zur Zeit ihrer Inhaftierung minderjährig wa-
ren, die Hilfe und Unterstützung zukommen zu lassen, die
sie ohne Zweifel benötigen und zu denen sich die Völker-
rechtsgemeinschaft im benannten Fakultativprotokoll
verpflichtet hat.

Es ist und bleibt Aufgabe des Parlamentes, die Regie-
rung hierzu zu verpflichten.

Dass dies nicht geschehen ist, dass Koalition, FDP
und Grüne diesem jungen Mann die ihm zustehende Hilfe
versagten, bleibt rätselhaft. Ich habe dafür keine Erklä-
rung. Die vorgebrachten Gegenargumente können nicht
überzeugen. Sie sind zynisch.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617941500

Die Zahl der Kindersoldaten wird weltweit auf

250 000 geschätzt. Minderjährige werden dabei sowohl
von regulären Armeen als auch von Rebellengruppen re-
krutiert. In den meisten Fällen handelt es sich um
Zwangsrekrutierungen. Größte Anstrengungen sind not-
wendig, um den Minderjährigen, die heute in bewaffneten
Konflikten als Soldaten eingesetzt werden, die Rückkehr
in ein ziviles Leben zu ermöglichen.

Auch in der Bundesrepublik leben Kindersoldaten. Seit
1991 hält die Bundesregierung ihren Vorbehalt gegen die
UN-Kinderrechtskonvention aufrecht und verweigert da-
durch Flüchtlingskindern international anerkannte Min-
destrechte. Der mehrfachen Aufforderung durch den Bun-
destag, diese Vorbehaltserklärung zurückzunehmen,
verweigert sich die Bundesregierung. Damit bleibt die
Möglichkeit, Flüchtlingskinder weiter drangsalieren zu
können, bestehen.

Der Umgang der deutschen Behörden mit geflüchteten
Kindersoldaten ist beschämend. Dies gilt selbst dann,
wenn die Kinder schlimmste körperliche und seelische
Verletzungen erlitten haben, bei der Rückkehr in ihr Land
verfolgt würden und unter Lebensgefahr stünden. Sie
werden in Deutschland bis auf wenige Ausnahmen nicht
als Flüchtlinge anerkannt, sondern erhalten eine Dul-
dung, also eine ausgesetzte Abschiebung.

Auf die Große Anfrage unserer Fraktion zum Thema
Kinderrechtskonvention antwortete die Bundesregierung



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Volker Beck (Köln)

im Juli 2007, dass sie eine Rücknahme dieses Vorbehalts
gegen die UN-Kinderrechtskonvention zum einen für
nicht erforderlich, zum anderen für „migrationspolitisch
bedenklich“ halte, „da sie zu einem Anstieg der Einreise
unbegleiteter minderjähriger Ausländer“ führen könne.
Dies ist zynisch und inhuman. Wer aufgrund des Titels des
Antrages der Linken „Für die soziale Rehabilitation von
Kindersoldaten eintreten“ erwartet hat, der Antrag
würde sich mit Kindersoldaten und den Herausforderun-
gen ihrer Rehabilitation beschäftigen, wird enttäuscht.

Eines ist klar: Omar Khadr und auch die anderen in-
haftierten Minderjährigen müssen endlich aus Guanta-
namo freigelassen und bei ihrer Rehabilitation unter-
stützt werden. Es wäre gut, wenn die Bundesregierung
dies gegenüber den USA deutlich machen würde. Das Vi-
deo der Befragung von Omar Kahdr, das vor kurzem ver-
öffentlicht wurde, zeigt, dass in Guantanamo nicht nur
gegen geltendes US-Recht verstoßen wird, sondern auch
gegen jegliches internationales Recht zum Schutz von
Kindern.

Gleichwohl präsentiert die Linke mit ihrem Antrag
einmal mehr eine Mogelpackung. Man nimmt Ihnen Ihr
Engagement für Omar Khadr nicht ab. Das Thema Kin-
dersoldaten wird von Ihnen nur benutzt, um die USA zu
kritisieren. Das ist schäbig. Bei aller Anteilnahme am
Schicksal von Omar Khadr findet sich in dem Antrag kein
einziges Wort der Verurteilung der Taliban für deren Ein-
satz jugendlicher Kämpfer. Kein einziges Wort geht auf
die 250 000 Kindersoldaten ein, die übrigens auch in ehe-
mals sozialistischen Bruderstaaten wie Angola oder
Birma zum Einsatz gekommen sind, kein Wort geht auf die
skandalöse Haltung der Bundesregierung zur Kinder-
rechtskonvention ein.

Meine Fraktion wird sich bei der Abstimmung über
diesen Antrag enthalten. Offenbar war der Drang der al-
ten Kader bei den Linken, den USA eins auf die Mütze zu
geben, wieder einmal stärker. Sie sollten sich für ihren in-
strumentellen Umgang mit Menschenrechtsthemen schä-
men.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617941600

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-

empfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8789, den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/6358 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU
und FDP bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen
und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenom-
men.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neufas-
sung des Raumordnungsgesetzes und zur Än-
derung anderer Vorschriften (GeROG)


– Drucksachen 16/10292, 16/10332 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Enak Ferlemann, CDU/CSU, Petra Weis, SPD, Patrick
Döring, FDP, Heidrun Bluhm, Die Linke, Peter Hettlich,
Bündnis 90/Die Grünen, und des Parlamentarischen
Staatssekretärs Uli Kasparick.1)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf den Drucksachen 16/10292 und 16/10332 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Lazar, Volker Beck (Köln), Kai Gehring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Verbot der Nazi-Jugendorganisation „Heimat-
treue Deutsche Jugend e.V.“ prüfen

– Drucksache 16/9801 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Kristina
Köhler, CDU/CSU, Gabriele Fograscher, SPD, Christian
Ahrendt, FDP, Ulla Jelpke, Die Linke, Monika Lazar,
Bündnis 90/Die Grünen, und des fraktionslosen Kolle-
gen Gerd Winkelmeier.


Dr. Kristina Köhler (CDU):
Rede ID: ID1617941700

Halten wir zunächst fest: Die Heimattreue Deutsche

Jugend ist ein neonazistischer Verein mit engen Verknüp-
fungen ins rechtsextremistische Spektrum. Daran gibt es
nach den veröffentlichten Erkenntnissen der Verfassungs-
schutzämter keinen Zweifel. So wurden bundesweit so-
wohl Verbindungen zur NPD als auch zu der neonazisti-
schen Kameradschaftsszene festgestellt. Nicht umsonst
gilt die HDJ vielen Experten zumindest als in der Tradi-
tion der 1994 verbotenen rechtsextremistischen „Wiking-
Jugend“ stehend.

Zielsetzung der HDJ ist es – ich zitiere aus dem neues-
ten Bericht des Verfassungsschutzes –, „über zunächst
unpolitisch erscheinende Aktivitäten Jugendliche und
Kinder an rechtsextremistisches Gedankengut heranzu-
führen“. Die Indoktrination und die Aufhetzung von Kin-
dern und Jugendlichen ist eine der Hauptaktionsfelder al-
ler Formen des Extremismus; sie ist wahrscheinlich

1) Anlage 15


(A) (C)



(B) (D)


Kristina Köhler (Wiesbaden)

zugleich die widerlichste. Als die Polizei vor wenigen
Monaten ein HDJ-Zeltlager in Mecklenburg-Vorpom-
mern aufgelöst hatte, fand man dort nicht nur verbotene
NS-Symbole, sondern auch unterschiedliche Medien wie
Kassetten und Landkarten, die klar dafür sprechen, dass
hier die Kindern mit rechtsextremen Inhalten auf einen
tiefbraunen Weg gebracht werden sollen.

Ein Kamerateam, welches eines dieser Zeltlager
filmte, zeigt Bilder, auf denen Zelte mit dem Schild „Füh-
rerbunker“ beschriftet waren und auf denen sich Kinder
mit dem Hitlergruß begrüßten. Über die Gesinnung, wel-
che dort verbreitet wird, kann es also kaum Zweifel ge-
ben.

Gleiches gilt für das HDJ-Magazin „Funkenflug“,
welches das Motto „Jung – stürmisch – volkstreu“ trägt.
In diesem Heft fanden die Verfassungsschutzämter anti-
semitische und den Nationalsozialismus verherrlichende
Inhalte.

Die HDJ ist also kein harmloser Pfadfinderverein,
auch wenn sie immer wieder versucht, sich als solcher
darzustellen. Die HDJ ist vielmehr ein rechtsextremisti-
scher Verein, der unter Vorspiegelung jugendpflegeri-
scher Tätigkeit Kinder und Jugendliche ideologisiert.

Umso wichtiger ist die öffentliche Aufklärung über die
HDJ. Auf ihrer Homepage versucht der Verein nämlich,
gezielt auch Kinder und Jugendliche zu werben, die au-
ßerhalb des rechtsextremistischen Spektrums stehen. Er
sucht gezielt nach Grundstücken, auf denen Lager statt-
finden können, nach Räumen für Heimatabende etc. Je-
dem, der diesen Verein unterstützt, muss klar sein, was er
da tut. Er unterstützt keine demokratische Jugendarbeit
und er unterstützt auch keine heimatverbundene Jugend-
arbeit. Denn die dort propagierte Heimat ist eine andere,
als wir sie alle kennen und uns wünschen.

Wenn wir über den Neonazismus in der HDJ reden,
muss eines freilich auch deutlich gemacht werden: Der
Rechtsextremismus-Vorwurf zielt auf die Köpfe dieses
Vereins, nicht auf die Kinder. Das möchte ich für meine
Fraktion klarstellen. Zumindest die 8- bis 14-Jährigen,
die in solche Zeltlager gesteckt werden, sind keine Täter,
sondern Opfer. Sie sind keine Rechtsextremisten, sondern
sie werden von Rechtsextremisten missbraucht. Sie wer-
den auf ein Leben jenseits dieser Gesellschaft vorbereitet.
Auch wenn Sie es aus anderen Zusammenhängen kennen:
Was hier passiert, ist nichts anderes als der Versuch, eine
Parallelgesellschaft aufzubauen und die Kinder und Ju-
gendlichen aus unserer freiheitlich-demokratischen Ge-
sellschaft zu desintegrieren. Das können und das dürfen
wir nicht zulassen.

Dabei sollten wir uns auch nicht von der scheinbar ge-
ringen Größe dieser Organisation blenden lassen. Die
Zahlen variieren hier deutlich, aber in jedem Fall reden
wir von 100 bis 400 Mitgliedern. Es muss aber klar sein:
Jedes Kind, welches neonazistisch ideologisiert wird, ist
eines zu viel. Und jede Familie, die ihr Kind auf solche
Lager schickt, ist eine zu viel, zumal die Zahlen eher da-
für sprechen, dass es gewisse Wanderungsbewegungen
aus der rechtsextremen Szene hin zur HDJ gibt. Die HDJ
scheint also zurzeit im organisierten Rechtsextremismus
Zu Protokoll
sogar eher noch wichtiger zu werden. Das ist umso
schlimmer.

In den letzten Wochen und Monaten hat es von einigen
Seiten den Ruf nach einem Verbot der HDJ gegeben. Das
ist legitim, denn das Verbot ist und bleibt nun mal das
schärfste Schwert in der Auseinandersetzung mit extre-
mistischen Vereinen. Deshalb liegt die Latte hier aber
auch um einiges höher, als das hier oftmals durchklingt.
Ich warne deshalb davor, wenn hier mancher Kollege aus
übertriebenem Geltungsbedürfnis so tut, als müsste der
Bundesinnenminister doch einfach nur par ordre de Mufti
entscheiden, die HDJ zu verbieten. Ein solches Verbot
muss aber – das wissen wir alle – hundertprozentig ge-
richtsfest sein. Ansonsten droht ein Propagandaerfolg für
den extremistischen Verein vor Gericht. Wie schwer ein
solcher Propagandaerfolg wirken kann, wissen wir alle.
Für die CDU/CSU kann ich sagen: Wir haben auch in
dieser Frage vollstes Vertrauen in das Bundesinnen-
ministerium und in den Bundesinnenminister.


Gabriele Fograscher (SPD):
Rede ID: ID1617941800

Die SPD-Bundestagsfraktion ist der Meinung, dass in-

zwischen ausreichend Gründe vorliegen, den Verein
„Heimattreue Deutsche Jugend e.V.“ zu verbieten. Der
Verein „Heimattreue Deutsche Jugend – Bund zum
Schutz für Umwelt, Mitwelt und Heimat e. V.“ – HDJ – ist
eine bundesweit tätige Jugendorganisation, die ein ras-
sistisches Weltbild vertritt und durch eine rechtsextremis-
tische Ideologie geprägt ist.

Mit mehreren Hundert Mitgliedern ist die HDJ, die im
Jahr 2001 aus dem 1990 gegründeten „Bund Heimat-
treuer Jugend“ hervorging, fester Bestandteil des rechts-
extremen Spektrums in Deutschland und verfügt über um-
fangreiche szeneübergreifende Kontakte. Zudem gibt es
enge personelle Verflechtungen mit der NPD und der
neonazistischen Kameradschaftszene.

Ähnlich wie die im Jahre 1994 verbotene „Wiking Ju-
gend“, man könnte die HDJ ebenso als deren Nachfolge-
organisation bezeichnen, zielt auch die HDJ mit ihrem so-
genannten Lebensbund-Konzept darauf ab, Freizeit-
angebote für Familien und Kinder anzubieten, die der
Verbreitung antisemitischer und völkischer Ideologie die-
nen. Die HDJ ist bestrebt, ganze Familien an die rechts-
extreme Szene zu binden, denn nach Eigendarstellung der
HDJ sollen bereits „Kleinstkinder“, aber auch Jugendli-
che für den Rechtsextremismus rekrutiert und nach Fami-
liengründung ein Ausscheiden aus der rechtsextremisti-
schen Szene verhindert werden.

Besonders durch die im Internet zum Beispiel auf
„youtube“ veröffentlichten Werbefilme versucht die Or-
ganisation gezielt, neue junge Mitglieder zu werben. Der
Verein veranstaltet Zeltlager, Fahrten und Wanderungen
mit dem Zweck einer paramilitärischen Ausbildung der
Kinder und Jugendlichen. Durch ideologische Schulun-
gen und die Ausübung militärischer Rituale wird für die
Kinder eine völkisch-nationalistische Parallelwelt ge-
schaffen.

Nach Einschätzung des Bundesamtes für Verfassungs-
schutz betreibt die HDJ – ich zitiere – „unter Vorspiege-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Gabriele Fograscher
lung einer jugendpflegerischen Tätigkeit … eine gezielte
Ideologisierung ihrer Mitglieder“. Weiterhin weist der
Verfassungsschutz darauf hin, dass die HDJ versucht,
ihre rechtsextremistische, nationalistische Ideologie hin-
ter einer Selbstcharakterisierung als traditionsbewusst
und wertorientiert zu verbergen.

Als die Polizei im August 2008 erstmals ein Zeltlager
der HDJ im Landkreis Güstrow in Mecklenburg-Vorpom-
mern in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt auflöste,
wurden bei den allesamt uniformierten Teilnehmern zahl-
reiche Gegenstände mit Symbolen der rechten Szene si-
chergestellt. Die Polizei erklärte dazu, dass die bei der
Durchsuchung aufgefundenen und sichergestellten Un-
terlagen belegen würden, dass die gezielte Verbreitung
rechtsextremistischer Inhalte den Tagesablauf der Teil-
nehmer bestimme und die Kinder im Zeltlager mit natio-
nalistischem Gedankengut regelrecht beschult würden.

Trotz des 2007 erlassenen Uniformierungsverbotes
durch das Bundesministerium des Innern zeichnen sich
die Auftritte der HDJ durch Uniformen oder uniformähn-
liche Pflichtkleidung, oftmals mit Verbands- und Sonder-
zeichen, aus. Im Stile militärischer Abzeichen erkennt
man das Führungspersonal durch farbige Balken am
Oberarm der Hemden. Fahnenappelle, das Marschieren
in Reih und Glied sowie Fanfarenzüge konstituieren zu-
dem den paramilitärischen Charakter der HDJ. Eine von
der HDJ beim Bundesministerium des Innern beantragte
Ausnahmegenehmigung vom in Deutschland geltenden
generellen Uniformierungsverbot ist mit der Begründung
abgelehnt worden, dass „eine Gesamtschau der Aktivitä-
ten ergibt, dass die politische gegenüber der jugendpfle-
gerischen Betätigung überwiegt.

Ungeachtet des Verbotes und unbeeindruckt posieren
die Mitglieder der HDJ weiterhin in Uniformen oder uni-
formähnlichen Kleidungsstücken in Werbefilmen, Kalen-
dern oder im Verbandsorgan „Funkenflug“. In Ausgabe
4/2007 dieses Verbandsorgans wurden alle Mitglieder
dazu aufgefordert, sich nicht an das Uniformierungsver-
bot zu halten. Das ist ein Zeichen dafür, dass sich die HDJ
nicht an die Einhaltung von Recht und Gesetz hält. Au-
ßerdem finden sich in dieser Zeitung stark geschichtsre-
visionistische, rassistische und antisemitische Inhalte.

Die HDJ lehnt unsere freiheitlich demokratische
Grundordnung strikt ab. Auch tolerantes Verhalten ge-
genüber Schwächeren wird im „Funkenflug“ 2/2006 als
niedere Charaktereigenschaft eingestuft. Laut Bundes-
amt für Verfassungsschutz werden in dem Verbandsorgan
der HDJ Texte publiziert, „in denen der Nationalsozialis-
mus verherrlicht wird sowie antisemitische Einstellungs-
muster deutlich werden.“

Inzwischen ermittelt auch die Staatsanwaltschaft zum
wiederholten Male wegen Volksverhetzung, Verwendung
verfassungsfeindlicher Symbole, Verstoßes gegen das
Uniformverbot, Körperverletzung sowie Bildung bewaff-
neter Gruppen.

Ich meine, es ist Zeit, das längst überfällige Verbot
auszusprechen. In diesem Zusammenhang begrüße ich
den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Jahressteu-
ergesetz 2009, der in § 51 Abgabenordnung neu regelt,
Zu Protokoll
dass extremistische Vereine von der Gemeinnützigkeit
ausgeschlossen werden sollen. Eine Steuervergünstigung
setzt voraus, dass die Körperschaft nach ihrer Satzung
und ihrem tatsächlichen Handeln keine Bestrebungen ge-
gen unsere freiheitlich demokratische Grundordnung för-
dert oder dem Gedanken der Völkerverständigung zuwi-
derläuft.

Durch diese längst überfällige Regelung in der Abga-
benordnung wird ein wichtiger Beitrag geleistet, den
rechtsextremistischen Organisationen finanziellen Spiel-
raum zu nehmen. Solche rechtsstaatlichen Schritte sind
neben repressiven und präventiven Maßnahmen wichtig
im Kampf gegen den Rechtsextremismus und extremisti-
sche Bestrebungen. Doch wo Verbote von extremistischen
Vereinen nötig sind, sollte der Bundesinnenminister nicht
zögern, diese auch zügig auszusprechen.


Christian Ahrendt (FDP):
Rede ID: ID1617941900

Die Forderung nach einem Vereinsverbot der Heimat-

treuen Deutschen Jugend, HDJ, die die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen mit dem heute zur Debatte stehenden
Antrag stellt, zeigt das Bedürfnis, aber auch die Notwen-
digkeit, rechtsextremistische Aktivitäten und Bestrebun-
gen konsequent und nachhaltig zu bekämpfen. Diese For-
derung hat die FDP-Fraktion als Gegenstand einer
laufenden parlamentarischen Initiative ebenfalls zum
Ausdruck gebracht. Es besteht Einigkeit darüber, dass die
HDJ verboten gehört.

Positiv hervorzuheben ist, dass das gegen die HDJ
ausgesprochene Uniformverbot im Falle des Zuwider-
handelns im Benehmen mit den zuständigen Landes-
behörden durchgesetzt wird. Fast wäre der Antrag
allumfassend, beinhaltete er die Prüfung des Gemeinnüt-
zigkeitsstatus – dies ändert aber nichts an dessen Zustim-
mungswürdigkeit.

Auf der Homepage der HDJ ist nämlich zu lesen, dass
sich der Verein über Spenden finanziert. Daher liegt die
Vermutung nahe, dass der rechtsextremistische Verein als
gemeinnützig anerkannt ist und dadurch steuerliche Vor-
teile erlangt. An dieser Stelle möchte ich nur an den Ver-
ein Collegium Humanum erinnern, der über Jahre vom
zuständigen Finanzamt als gemeinnützig eingestuft
wurde. Für diejenigen, die es nicht mehr wissen: Colle-
gium Humanum war ein rechtsextremistischer Verein, der
erst durch massiven politischen und medialen Druck im
Mai dieses Jahres nach über 40 Jahren seines Bestehens
verboten worden ist. Mir drängt sich daher die Frage auf,
ob rechtsextremistische Vereine in Deutschland eine Art
Bestandschutz genießen.

Neben der HDJ gibt es noch weitere Vereine, die im
Verfassungsschutzbericht aufgeführt werden und bei de-
nen der Verdacht besteht, dass sie mit ihren Aktivitäten
die freiheitliche demokratische Grundordnung bedrohen.
Wie erklärt man sich, dass Extremisten ganz besonders
aus dem rechten, aber auch aus dem linken Lager unge-
hindert ihr Unwesen treiben? Dieser Zustand ist in einem
demokratischen Rechtsstaat schlichtweg inakzeptabel.
Der Jugendverein „für alle deutschen Mädel und Jungen
im Alter von 7 bis 29 Jahren“ ist hochgefährlich, nicht zu-
letzt weil er über zunächst unpolitisch erscheinende Akti-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Christian Ahrendt
vitäten Jugendliche und Kinder an rechtsextremistisches
Gedankengut heranführt. Dabei wird eine jugendpflege-
rische Tätigkeit vorgespiegelt, in Wahrheit jedoch eine
gezielte Ideologisierung im Sinne einer nationalsozialis-
tischen Gesinnung betrieben.

Eine der Haupttätigkeiten der HDJ ist die Organisa-
tion von Freizeitcamps im Sinne einer „paramilitärischen
Ausbildung der Jugend.“ So wurde beispielsweise An-
fang August ein von der HDJ organisiertes Ferienlager
bei Hohen Sprenz in Mecklenburg-Vorpommern polizei-
lich aufgelöst. Hakenkreuze, uniformierte Kinder und na-
tionalsozialistische Lehrinhalte sprachen dort eine deut-
liche Sprache. In diesen Freizeitcamps wird offenbar die
NS-Zeit durch Anlehnung an nationalsozialistische Insig-
nien und Flaggenspiele als „selbstbewusster und unver-
krampfter“ Umgang mit der Vergangenheit belebt.

Mit mehreren Hundert Mitgliedern ist die HDJ ein fes-
ter Bestandteil der rechtsextremistischen Szene. Dabei
hat die Heimattreue Deutsche Jugend, HDJ, nach Er-
kenntnissen des Bundesamtes für Verfassungsschutz ihre
Wurzeln in der Wiking-Jugend, WJ. Es bestehen neben
gemeinsamen Themen auch personelle Verbindungen zu
der verbotenen Jugendorganisation, die erst nach 42 Jah-
ren ihres Bestehens verboten wurde.

Wie die Historie aufzeigt, lässt sich die Bundesregie-
rung in diesen Angelegenheiten öfter Zeit. Wie bereits er-
wähnt, hat es beim Collegium Humanum ähnlich lange
gedauert. Dies ist genau der Dreh- und Angelpunkt für
die Unzulänglichkeit der Bundesregierung bei der Be-
kämpfung des Radikalismus. Anstatt sich auf das rechts-
extremistische Umfeld zu konzentrieren, befasste sie sich
viel zu lange mit einem aussichtslosen NPD-Verbotsver-
fahren.

Die HDJ wird bereits vom Verfassungsschutz beobach-
tet und ein Vereinsverbot vom Bundesministerium des In-
nern hoffentlich konsequent vorbereitet. Jedoch muss ich
betonen, dass das rechtsstaatliche Instrument des Ver-
einsverbotes nicht das Allheilmittel darstellt. Die Politik
muss auch mit vollem Engagement an der Bekämpfung
der Ursachen von Rechtsradikalismus arbeiten. Ein
wichtiges Ziel soll daher ebenfalls sein, über Rechts-
extremismus nicht mit dem erhobenen Zeigefinger zu
informieren, sondern auf Aufklärung und nachhaltige
Prävention zu setzen. So muss der Populismus, der von
den „Rechten“ praktiziert wird, entlarvt werden.

Was Rechtsextreme vor Ort machen, ist nichts anderes,
als die Sorgen der Bürger für die Durchsetzung ihrer de-
mokratiefeindlichen Ziele auszunutzen. Es ist daher die
Pflicht der Demokraten, die Probleme in unserem Land
offen anzusprechen. Nur durch einen ehrlichen Dialog,
ehrliche Lösungen und Konzepte können wir den Bürgern
die Absurdität der „rechten“ Scheinlösungen klarma-
chen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Bürger diese
Offenheit langfristig honorieren werden. Die Bürger müs-
sen das Bewusstsein dafür entwickeln, dass sie auch für
den Bestand der freiheitlichen demokratischen Grund-
ordnung verantwortlich sind.

Der Verherrlichung des Nationalsozialismus muss
konsequent entgegengetreten werden, und Maßnahmen
Zu Protokoll
zur Prävention und Strafverfolgung müssen vollumfäng-
lich ausgeschöpft werden.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617942000

Dieser Sommer hat wieder einmal gezeigt, dass die

Heimattreue Deutsche Jugend ein wichtiger Teil des or-
ganisierten Neofaschismus ist. Ein von ihr veranstaltetes
Sommerlager wurde von der Polizei aufgelöst, nachdem
die Neofaschisten dort gegen das Uniformierungsverbot
verstoßen hatten. Doch nicht immer sind aufmerksame
Bürgerinnen und Bürger zur Stelle, die gegen ein solches
Treiben vorgehen. Von einzelnen Strafverfahren wird sich
die Heimattreue Deutsche Jugend nicht in ihren Umtrie-
ben abbringen lassen. Auch die Fraktion Die Linke setzt
sich deshalb mit einem Antrag für das Verbot dieser neo-
faschistischen Organisation ein.

Mit mehreren hundert Mitgliedern und einem bundes-
weiten Organisationsnetz stellt die HDJ eine der größten
und wichtigsten Nachwuchs- und Rekrutierungsorgani-
sationen der neofaschistischen Szene in Deutschland dar.
Es liegen längst ausreichende Beweise dafür vor, dass die
HDJ eine Nachfolgeorganisation der 1994 vom Bundes-
innenministerium verbotenen Wiking-Jugend darstellt.
So war der „Bundesführer“ der HDJ, Sebastian Räbiger,
bis zum Verbot der Wiking-Jugend Leiter von „Gau Sach-
sen“. Auch weitere Spitzenfunktionäre der Wiking-Ju-
gend finden sich heute an führender Stelle in der HDJ
wieder.

Schon die neonazistische Wiking-Jugend, die sich ganz
bewusst an ihr Vorbild, die SS-Division „Wiking“ an-
lehnte, war seit ihrer Gründung 1952 jahrzehntelang in
der BRD unbehelligt geblieben. Doch schließlich musste
die Bundesregierung zugeben, dass die Wiking-Jugend
das Ziel verfolgte, die verfassungsmäßige Ordnung zu be-
seitigen. Viel zu lange haben die staatlichen Behörden an-
schließend das braune Treiben der HDJ als Nachfolgeor-
ganisation der Wiking-Jugend schlicht ignoriert. Nicht
Polizei und Verfassungsschutzbehörden, sondern enga-
gierte Einzelpersonen haben die Aktivitäten der HDJ in
diesem Sommer öffentlich gemacht.

Die HDJ bietet einen wichtigen Anlaufpunkt für neo-
faschistische Familien, die bei ihr im Freizeit- und Ju-
gendbereich umfassende Angebote finden. Des Weiteren
wird somit der Etablierung einer rechtsextremen Paral-
lelwelt Vorschub geleistet. Kinder und Jugendliche aus
neonazistischen Elternhäusern werden dort bei Lagerfeu-
erromantik mit der menschenverachtenden Ideologie der
Neonazis, mit rassistischem und antidemokratischem Ge-
dankengut indoktriniert. Paramilitärische Ausbildung,
die von der HDJ sogenannte soldatische Erziehung, ist
wichtiger Bestandteil ihrer Kinder- und Jugendcamps.
Selbst Scheinhinrichtungen werden in Wehrsportübungen
vollzogen.

Die HDJ operiert in enger Verbindung mit der NPD
und den Neonazikameradschaften sowie anderen recht-
extremen Gruppierungen. Immer wieder treten führende
Funktionäre der NPD als Schulungsleiter bei der HDJ
auf. Der inzwischen zum stellvertretenden NPD-Vorsit-
zenden aufgestiegene Jürgen Rieger stellte jahrelang sei-
nen Hof in der Lüneburger Heide für Versammlungen der



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Ulla Jelpke
HDJ zur Verfügung. Im Gegenzug übernehmen ältere
HDJ-Mitglieder immer wieder Ordnerfunktionen bei
NPD-Veranstaltungen oder treten dort mit Kulturbeiträ-
gen auf.

Das Vorbild der HDJ ist eindeutig die Hitlerjugend.
Jahreskalender der HDJ verzeichnen den Geburtstag von
Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß. Die HDJ beteiligt sich
an einem jährlichen Gedenkmarsch, der dem Nazi-Idol,
SA-Mann Horst Wessel, gewidmet ist. Ihre Zelte tragen
Namen wie „Führerbunker“ und selbst Hakenkreuzsym-
bole wurden bei der Durchsuchung eines Zeltlagers ge-
funden. Bei den Lagern und Veranstaltungen der HDJ
wird im Sinne ihres „soldatischen Erziehungsideals“
Uniform getragen. Über das allgemein geltende Uni-
formverbot im Versammlungsgesetz setzt sich die Grup-
pierung hinweg.

Ein Verbot allein ist selbstverständlich nicht ausrei-
chend. Gesellschaftliches Engagement ist weiterhin die
zentrale Säule des Kampfs gegen rechts. Vorbildlich sind
in diesem Zusammenhang eine Elterndemonstration in
Detmold gegen die Verführung von Kindern und Jugend-
lichen durch die HDJ-Einheit Hermannsland, oder Hin-
weise aufmerksamer Bürger, die zur raschen Auflösung
eines HDJ-Camps in Hohen Spenz führten. Begrüßens-
wert ist zudem die Entfernung eines HDJ-Führers aus
dem Technischen Hilfswerk in Greifswald. Denn gerade
bei der politischen Jugendarbeit gilt die antifaschistische
Losung „Wehret den Anfängen“.

Ich will am Schluss aber auch noch auf das Verhalten
der Regierungskoalition zu sprechen kommen. Von allen
drei Oppositionsfraktionen lagen dem Innenausschuss in
seiner gestrigen Sitzung Anträge zu diesem Thema vor.
Eine Entscheidung wurde aber vertagt. Offensichtlich ist
den Regierungsfraktionen das Thema „Kampf gegen
Rechtsextremismus“ nicht wichtig genug, um einmal die
parlamentarischen Spielchen sein zu lassen und einem
Antrag der Opposition zuzustimmen. Dieses Verhalten ist
wirklich ungeheuerlich. Die Beratungen über ein Verbot
der HDJ müssen jetzt zügig zu einem Ende geführt wer-
den. Dafür wird sich meine Fraktion weiter entschieden
einsetzen.


Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617942100

Nazi-Kinderlager haben in unserem Land nichts zu su-

chen. Darin besteht sicher bei allen demokratischen Po-
litikerinnen, und Politiker Einigkeit. Dennoch gibt es den
Verein Heimattreue Deutsche Jugend e. V. Unter seinem
Vereinsdach haben sich Rechtsextreme zusammengetan
und umgarnen Kinder und Jugendliche. mit Freizeitange-
boten wie zum Beispiel Zeltlagern, Kanufahrten, Wande-
rungen und Lagerfeuern. Das weckt Gemeinschaftssinn,
bringt Spaß und Abenteuer. Langsam werden Heran-
wachsende in die Gruppe integriert und geraten so
schleichend in den Dunstkreis aggressiver Nazi-Ideologie
hinein.

Der Verein Heimattreue Deutsche Jugend e. V., kurz
HDJ genannt, verfügt über .eine feste Einbindung in die.
rechtsextreme Szene und hält Kontakt zu Kameradschaf-
ten, Parteien und anderen Vereinen. Die HDJ ist bundes-
weit aktiv und gut organisiert. Ihre Bundesgeschäftsstelle
Zu Protokoll
befindet sich in Berlin; koordiniert wird die Arbeit über
vier sogenannte Leitstellen, welche sich wiederum in
mehrere sogenannten Einheiten unterteilen.

Ideologisch bekennt sich die HDJ zum sogenannten
Neuheidentum, welches teilweise ein rassistisches Welt-
bild und nationalistische „Blut- und Bodenmythen“ ver-
herrlicht. Der Bezug zum Nationalsozialismus lässt sich
nicht leugnen. Dies belegen auch Fotos und Filmaufnah-
men mutiger Journalistinnen und Journalisten. Dort sieht
man zum Beispiel HDJ-Zelte mit Aufschriften wie „Füh-
rerbunker“ und „Germania“. Kinder begrüßen einander
und ihre Ausbilder mit dem Hitlergruß. Fahnenappelle,
Wehrsportübungen, Fackelmärsche bereiten auf parami-
litärische Schulungen und Nazi-Propaganda vor.

Bei ihren gemeinsamen Veranstaltungen tragen die
HDJ-Mitglieder eine uniformartige Kleidung mit militä-
risch anmutenden Verbands- und Sonderabzeichen. Dies
ist im Versammlungsrecht verboten; im Jahr 2007 unter-
sagte das Bundesinnenministerium der HDJ ausdrück-
lich das Tragen von Uniformen. Die Organisation nimmt
das jedoch nicht ernst. In ihrem Kalender „Unser Leben
2008“ sowie einem Internet-Werbefilm sind weiterhin
uniformierte Mitglieder zu sehen.

Die HDJ selbst beschreibt sich auf ihrer Internetseite
als „traditionsbewusst und werteorientiert“. Ihr Selbst-
verständnis wird in folgendem Zitat deutlich:

Wir sind uns unserer eigenen Herkunft und der Ge-
schichte unseres Volkes bewusst Als junge Deutsche
können wir so manches aus den Erfahrungen unse-
rer Vorfahren lernen. Dies gelingt aber nur, wenn
wir uns selbstbewusst und unverkrampft der eige-
nen Vergangenheit stellen.

Völlig „unverkrampft“ knüpfen sie denn auch an die
Traditionen der Hitlerjugend an. Gegen einen ihrer Füh-
rer ist zum Beispiel ein Verfahren anhängig wegen Vor-
führung des antisemitischen NS-Propagandafilms „Der
ewige Jude“ in einem Freizeitlager. Ewiggestrige Werte
und Geschichtsverfälschung verbreiten sie zudem in ihrer
vierteljährlichen Broschüre „Funkenflug – jung – stür-
misch – volkstreu“. Dort wird auch über das staatliche
Uniformverbot gespottet und betont, dass man trage, was
man wolle.

Die HDJ muss als eine Nachfolgeorganisation der
1994 verbotenen Wiking-Jugend angesehen werden. Es
sind personell und inhaltlich deutliche Kontinuitäten zu
beobachten, wie auch die Bundesregierung bestätigte. Es
gab schwerwiegende Gründe, die Wiking-Jugend zu ver-
bieten. Dass ihre Anhänger heute unter anderem Vereins-
namen wieder auf Seelenfang gehen, können wir nicht ak-
zeptieren. Deshalb fordert die grüne Bundestagsfraktion
in ihrem Antrag die Bundesregierung auf, die Vorausset-
zungen eines HDJ-Verbotes zu prüfen und bei positivem
Prüfergebnis – wovon wir ausgehen – den Verein zu ver-
bieten. Zu lange hat der Staat diesen Neonazis freie Hand
gelassen. Das ist verschenkte Zeit, in der Kindern und Ju-
gendlichen eine gefährliche Gehirnwäsche verpasst wird.

Ziel der HDJ ist es, genügend Hass gegen unser demo-
kratisches System, zu schüren, um dieses schließlich stür-
zen zu können. Bei ihren Treffen und Ferienlagern rekru-



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Monika Lazar
tieren sie dazu gezielt eine „Nachwuchsarmee“. Wir
dürfen diesem Treiben nicht länger zusehen! Der Verein
Heimattreue Deutsche Jugend e. V. muss schnellstmög-
lich verboten werden Es freut mich persönlich sehr, dass
auch FDP und Linksfraktion in ihren Anträgen gleichlau-
tende Forderungen erheben und auch aus der Großen
Koalition positive Signale zu hören sind. Im Fall der HDJ
ist ein Konsens aller demokratischen Kräfte im Bundes-
tag also sogar zwischen Opposition und Koalition er-
reicht.

Einen solchen Konsens wünschte ich mir auch bei der
Ausgestaltung der Bundesprogramme gegen Rechts-
extremismus. Verböte sind ja nur geeignet als Mittel zur
Schadensbegrenzung. Repressive Maßnahmen, wie zum
Beispiel Verbote, bringen nicht automatisch mehr Demo-
kratie mit sich. Dafür brauchen wir attraktive demokra-
tische Angebote für Kinder, Jugendliche und deren El-
tern. Denn wo die Menschen sozial und kulturell
eingebunden werden und sich vom Staat wertgeschätzt
fühlen, können Nazis gar nicht erst landen.


Gert Winkelmeier (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617942200

Man spreche nicht über Verbote, man spreche sie aus.

Aber warum passiert dann nichts? Seit Jahren liegen die
Beweise offen, aber die rechtsextreme Heimattreue Deut-
sche Jugend kann weiterhin ungestört ihr Unwesen
treiben. Es reicht eigentlich schon, bei Wikipedia die per-
sonellen Übereinstimmungen zwischen der 1994 verbote-
nen „Wiking-Jugend“ und der HDJ zu lesen, um zu er-
kennen, dass sie de facto deren Nachfolgeorganisation
ist. Genau das aber war mit dem Verbot ebenfalls unter-
sagt worden.

Ich verstehe das Zögern des Herr Minister nicht. Ob
nun im ARD-Magazin „Panorama“ oder in den im Inter-
net abrufbaren Werbefilmen für die HDJ: Es lassen sich
ausreichend Gründe finden, diesen rechten Hetzern das
Handwerk zu legen. Die Opfer, über die wir hier spre-
chen, sind Kinder. Sechsjährige werden schon zum
Strammstehen gezwungen, auch bei Schnee und Kälte,
wie es, ein Jugendherbergsbetreiber in Franken beobach-
tet hat. Einer der Propagandafilme wurde im Übrigen in
dieser Burg in Wunsiedel gedreht, ohne Wissen des oder
Genehmigung durch den Hausherren.

Seit Mitte 2007 besteht wenigstens ein Uniformverbot
für die HDJ, das diese allerdings alles andere als ernst
nimmt: „Wir entscheiden immer noch selbst, welche Klei-
dungsstücke wir tragen.“ Es wäre an den Ländern, dem
Verstoß gegen das Verbot nachzugehen, aber es passiert
nichts. Dabei liegen inzwischen ausreichend Beweise vor,
dass die HDJ in mehreren Fällen gegen das Verbot ver-
stoßen hat.

So berichtet beispielsweise ein Herbergsvater aus dem
rheinland-pfälzischen St. Goarshausen, in der Nähe von
Koblenz, dass in seiner Herberge zum Jahreswechsel
2007/2008 114 mehr oder weniger gleich gekleidete Kin-
der ihr Winterlager abgehalten hätten. Veranstalter war
die Heimattreue Deutsche Jugend. Ist das keine Unifor-
mierung?
Dieser Herbergsvater schildert zudem seine Eindrü-
cke einer paramilitärischen Atmosphäre; eine andere
Mitarbeiterin spricht von Straf-Liegestützen gegen ein-
zelne Teilnehmer des Lagers. Wir sprechen hier weiterhin
über Kinder. Inzwischen liegen nämlich auch Bilder vor,
die zeigen, wie Ausbildungslagers eine Hinrichtung
nachstellen.

Es ist schlicht nicht mehr verantwortbar, dass die Or-
ganisation ungehindert Kinder zu strammen Neonazis he-
ranzieht. Hier muss der Rechtsstaat endlich eingreifen;
denn es geht um die freiheitliche demokratische Grund-
ordnung dieses Landes, die von derartigen Vereinen un-
tergraben wird. Intern machen die Mitglieder doch gar
kein Hehl aus ihrer Einstellung. Als inhaltlicher Bezugs-
punkt dient dabei der Nationalsozialismus, dessen Ideo-
logieelemente sich wie ein roter Faden durch die Aktivi-
täten der HDJ ziehen. Ein völkischer Nationalismus ist
ebenso zu erkennen wie die Verherrlichung des Todes
oder die Kritik an der Gleichheit der Menschen.

Wenn sich aber die Justiz – in diesem Fall die Staats-
anwaltschaft Rostock, die die Ermittlungen wegen der
Vorfälle in dem im August aufgelösten HDJ-Sommerlager
einstellte – darauf zurückzieht, dass es gegen privat ge-
nutzte verbotene Symbole keine Handhabe gebe, dann
muss das lnnenministerium endlich handeln.

Irgendwann muss jeder Prüfvorgang ein Ende haben.
Der Verfassungsminister Dr. Schäuble sollte der HDJ
endlich das Handwerk legen.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617942300

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache16/9801 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Winfried Nachtwei, Alexander
Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Die Zeitbombe der Munitionsaltlasten in
Nord- und Ostsee entschärfen

– Drucksache 16/9103 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Ingbert
Liebing, CDU/CSU, Detlef Müller, SPD, Dr. Christel
Happach-Kasan, FDP, Lutz Heilmann, Die Linke, und
Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.


(A) (C)



(B) (D)


Ingbert Liebing (CDU):
Rede ID: ID1617942400

Die Problematik, mit der wir uns heute beschäftigen,

ist seit Jahren in vielen Variationen Thema in den Medien.
Besonders in den Sommermonaten reicht die Bandbreite
der Berichterstattung von der eindringlichen Warnung,
sich überhaupt der Nord- oder Ostsee zu nähern, bis hin
zur völligen Entwarnung. Was also sind die Fakten, wenn
wir von Munitionsaltlasten vor der deutschen Küste spre-
chen?

Fakt ist, dass tatsächlich Grund zur Sorge besteht. Un-
bestritten ist, dass es in regelmäßiger Folge zu Unfällen
kommt, die auf versenkte Kriegsmunition zurückzuführen
sind. Dies sind bis heute auch an der Ostsee, die beson-
ders betroffen ist, glücklicherweise Einzelfälle. Dennoch:
Gerade vor ein paar Tagen haben Mitarbeiter eines Bau-
ernhofs in Timmendorf erst wieder ein 4 Meter langes
Torpedoteil aus dem Wasser gefischt. Der Strand musste
von der Polizei abgesperrt werden, und es dauerte meh-
rere Stunden, bis der Kampfmittelräumdienst Entwar-
nung geben konnte.

Die Wissenschaft ist sich hingegen nicht einig, wie das
Gefahrenpotenzial einzuschätzen ist. Grundsätzlich las-
sen sich in der Betrachtung der Thematik drei wesentli-
che Probleme definieren:

Erstens. Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs wurde im großen Stil Kriegsmunition in Küs-
tengewässern versenkt. Zuweilen geschah dies chaotisch,
was angesichts der Gesamtsituation im Nachkriegs-
deutschland nicht verwundert. Die genaue Lage dieser
Altlasten ist in den seltensten Fällen bekannt. Wenn es zur
damaligen Zeit Aufzeichnungen gegeben hat, stimmen
diese aufgrund der Meeresströmung kaum noch mit der
Realität überein. Größere Mengen Munition sind zudem
nicht wie vorgesehen an besonders tiefen Stellen versenkt
worden. Entsprechend verstreut liegen heute die Kampf-
stoffe am Meeresboden. Zusätzlich besteht Gefahr durch
im Krieg verlegte Minen und auch durch gesunkene
Kriegsschiffe, deren Waffen- und Munitionsbestand in der
Regel nicht erfasst ist.

Zweitens. Der Forschungsstand zur Gefährdung von
Mensch und Natur ist niedrig. Für die Küsten bestehe im
Moment kaum eine Bedrohung, weil sich viele Gifte im
Wasser schnell verflüchtigten, sagt etwa der finnische
Forscher Tapani Stipa vom Finnish Institute of Maritime
Research in Helsinki. Er betont aber, auch sein Kenntnis-
stand sei gering. Hingegen hält der Meeresforscher
Stefan Nehring, der eine viel beachtete Studie zum Thema
herausgegeben hat, die verklappte Munition für eine Zeit-
bombe. Toxikologen der Universität Kiel befürchten, dass
sich Gifte aus Brandbomben und Gasmunition über die
Nahrungskette in Tieren anreichern könnten. Aber auch
die kritischen Stimmen bestätigen schlussendlich, dass
die bisherigen Erkenntnisse vollkommen unzureichend
sind.

Drittens. Die oftmals erhobene Forderung, die Muni-
tion umgehend zu bergen, könnte das Problem verschär-
fen, statt es zu lösen und zu einer erheblichen Gefährdung
sowohl für das Ökosystem Meer als auch für den Men-
schen führen. Führende Experten haben wiederholt auf
die Gefahren einer möglichen Bergung hingewiesen.
Zu Protokoll
Nach 60 Jahren sind viele der Ummantelungen durchge-
rostet, ein Einsammeln birgt daher im Zweifel unkalku-
lierbare Risiken. Und eine mögliche Sprengung kann
wiederum wegen des damit verbundenen Lärms mögli-
cherweise gravierende Gefahren für die insbesondere in
der Ostsee ohnehin gefährdeten Meeressäuger haben.

Die vordringlichste Aufgabe besteht also zunächst in
der Erfassung der Menge und Lage der versenkten Muni-
tion sowie in der wissenschaftlichen Bewertung der mög-
lichen Gefährdung. Was wir brauchen, ist eine verlässli-
che Gefährdungsabschätzung.

Unabhängig von der Sache selbst stellt sich aber zu-
nächst die Frage der Zuständigkeit. Die Beseitigung von
Kampfmitteln aus der Zeit der Weltkriege ist als Gefah-
renabwehr nach der föderalen Kompetenzverteilung des
Grundgesetzes eine Aufgabe der Länder. Für das Aufspü-
ren und die Bergung von Kampfmitteln im Meer ist daher
grundsätzlich das jeweilige Küstenland zuständig. Der
Bund veranlasst die Beseitigung von Kampfmitteln, wenn
diese die Sicherheit des Schiffsverkehrs beeinträchtigen.
Ungeklärt ist, wie mit Kampfmitteln verfahren wird, die
außerhalb der deutschen Hoheitsgewässer liegen – dies
trifft auf den größten Teil der bekannten Munitionsaltlas-
ten zu. Einerseits ist die Gefahrenabwehr also Sache des
Bundes. Andererseits ist der Schutz für Badende, Sport-
taucher und Fischer, die sich außerhalb der Seewasser-
straßen bewegen, Ländersache, obwohl es sich um die
gleiche Gefahr, nämlich Kampfmittel aus dem Zweiten
Weltkrieg, handelt. Dieser Wirrwarr an Zuständigkeiten
und zu beachtender Gesetze muss beendet werden. Hier
gab es in der Vergangenheit Versäumnisse, und hier be-
steht Handlungsbedarf. Insbesondere trifft dies auf die
Koordination von Maßnahmen des Bundes mit denen der
Länder zu.

Dieses Problem ist keineswegs neu. Schon 1999 gab es
Ergebnisse einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe. Aber of-
fensichtlich sind Probleme ungelöst geblieben. Aber Sie
als grüne Antragsteller müssen sich schon an Ihre eigene
Vergangenheit erinnern lassen: Im November 2001 kam
die damalige rot-grüne Bundesregierung zu der Ein-
schätzung, dass angesichts der Menge der versenkten
Munition und ihrer weiten Verbreitung eine Bergung we-
der technisch durchführbar noch finanziell realisierbar
sei. Eine unmittelbare Gefahr – so der Bericht – gehe von
der Munition auch grundsätzlich nicht aus, da sie regel-
mäßig mit einer bis zu mehreren Metern starken Sedi-
mentschicht überdeckt sei. Nachzulesen ist dies in der
Drucksache 14/7277. Der Tenor des heute vorliegenden
Antrages, dass hier ein vergleichsweise neues Problem
vorliegt und die jetzige Bundesregierung etwa versäumt
hat, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, wird mir
angesichts der Faktenlage nicht ganz verständlich. Schon
im Jahr 2000 hatte die CDU-Fraktion im schleswig-hol-
steinischen Landtag eine Anfrage an die damalige rot-
grüne Landesregierung gestellt. Die Antwort des damali-
gen grünen Umweltministers Klaus Müller: „In den deut-
schen Hoheitsgewässern der Ostsee wurde keine Kampf-
munition versenkt, so dass hier auch keine Bedrohung
vorhanden ist.“ Aus den verschiedenen Antworten aus
dem Hause Müllers ergibt sich, „dass hier kein Hand-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Ingbert Liebing
lungsbedarf gegeben ist“. Nachzulesen ist das in der
Landtagsdrucksache 15/479.

Es passt nicht zusammen, wenn die Grünen heute zum
Handeln drängen, während Sie in Ihrer eigenen Regie-
rungsverantwortung das Thema unter den Teppich ge-
kehrt haben. Dazu passt auch nicht, dass Sie heute einen
20 Punkte umfassenden Maßnahmenkatalog vorlegen,
obwohl doch eine Ihrer sicherlich berechtigten Forderun-
gen nach Gefährdungsabschätzung ausdrücklich sagt,
dass wir noch deutlich mehr Erkenntnisse brauchen, be-
vor wir falsche Maßnahmen ergreifen. Wir brauchen eine
gemeinsame Lösung – in der Sache selbst genauso wie im
Kompetenzgerangel. Es gibt viele Versuche einer ver-
nünftigen Lösung, zum Beispiel auch durch die schles-
wig-holsteinische Landesregierung in Verantwortung von
Umweltminister Christian von Boetticher. Wir brauchen
langfristig tragfähige Lösungen, aber keine unausgego-
renen Schnellschüsse.

Einige Forderungen aus dem vorliegenden Antrag
sind daher zum Teil bereits Realität, andere illusorisch
und mit den Mitteln des Bundes kaum zu verwirklichen:
Das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie hat
Bestandsaufnahmen über Munitionsversenkungsgebiete
in Nord- und Ostsee durchgeführt. Die bekannten Versen-
kungsgebiete sind seit langem in den amtlichen Seekarten
gekennzeichnet. Darüber hinaus wird bei Baumaßnah-
men an Seewasserstraßen der Baustellenbereich regel-
mäßig untersucht, um Personen- und Sachschäden vorzu-
beugen. Innovative Methoden im Umgang mit den
Munitionsaltlasten werden längst erfolgreich angewandt –
etwa im vergangenen April durch Probesprengungen öst-
lich der Kieler Außenförde. Eine Offenlegung sämtlicher
Koordinaten oder auch nur eine annähernd verlässliche
Datenbasis über Art und Umfang versenkter Giftstoffe
aus Zeiten der Sowjetunion einzufordern, brächte kaum
verwertbare Ergebnisse, ebenso wie einseitige Vor-
schläge an die Russische Föderation zur „Entsorgung
militärischer Altlasten im Raum Kaliningrad“. Vielmehr
brauchen wir gemeinsame Lösungen aller Ostseeanrai-
ner etwa im Rahmen von HELCOM oder dem Ostseerat.

Ich denke, wir alle stimmen darin überein, dass das
Problem der versenkten Munitionsaltlasten aus dem
Zweiten Weltkrieg auf die Tagesordnung gehört. Die öko-
logischen und im Übrigen auch die wirtschaftlichen Fol-
gen einer Vernachlässigung dieser Thematik wären äu-
ßerst bedenklich. Daher muss das Kompetenzgeflecht
aufgelöst und der Meeresboden langfristig zentral koor-
diniert nach versenkter Munition abgesucht werden.
Ganz wesentlich ist, dass Sanierungskonzepte für die am
stärksten belasteten Seegebiete entwickelt und umgesetzt
werden. Nicht zuletzt die touristische Wirtschaft unserer
Küste, aber auch die Fischerei ist an einer Lösung dieses
Themas interessiert.

Der Antrag der Grünen ist einerseits scheinheilig, weil
Sie Ihre eigenen Versäumnisse in Ihrer Regierungszeit
verschweigen. Andererseits handelt es sich um ein objek-
tives Problem, das gelöst werden muss. Es ist eine kom-
plexe Thematik, die nicht mit Schnellschüssen zu erledi-
gen ist. Wir brauchen eine Schrittfolge: erstens Klärung
der Kompetenzen, zweitens Gefährdungsabschätzung,
Zu Protokoll
drittens Maßnahmenkatalog, viertens internationale Ver-
ständigungen.

Ich hoffe, dass wir in den Ausschussberatungen einer
Lösung einen deutlichen Schritt näherkommen können.


Detlef Müller (SPD):
Rede ID: ID1617942500

Seit mehr als 60 Jahren bergen Nord- und Ostsee ein

gefährliches Sprengstoffpotenzial, denn an zahlreichen
Stellen liegen auf dem Meeresgrund oftmals stark giftige
Munitionsreste aus dem Zweiten Weltkrieg.

In der Hektik der letzten Kriegstage hatten deutsche
Soldaten die Munition versenkt, damit sie nicht den Alli-
ierten in die Hände fällt. Weil die Kapitäne früher nach
der Anzahl der Entsorgungsfahrten bezahlt wurden, wa-
ren diese sehr engagiert und kippten deshalb die gefähr-
liche Fracht häufig schon auf dem Weg zum Versenkungs-
gebiet über Bord.

Wer damit gerechnet hätte, dass diese Praxis nach
Ende des Krieges der Vergangenheit angehört hätte,
wurde bitter enttäuscht. Die unkontrollierte Entsorgungs-
praxis wurde von den Alliierten einfach übernommen und
in noch viel größerem Maße durchgeführt. Bis 1948 be-
zahlten die Alliierten einfache Fischer dafür, Munitions-
reste in ausgewiesenen Seegebieten zu versenken. Dabei
handelte es sich um Bomben, Granaten und ganze Con-
tainer – gefüllt mit einer tödlichen Fracht aus Senfgas,
Phosgen oder Sarin. Allein auf dem Meeresgrund der
Ostsee sollen in Fässern, Bomben etc. bis heute mindes-
tens 65 000 Tonnen chemischer Kampfstoffe wie Senfgas,
Tabun, Zyklon B und Sarin lagern.

Hinzu kommt, dass nach Meinung von Experten nach
dem letzten Krieg zusätzlich mehrere hunderttausend
Tonnen konventioneller Munition in der Nord- und Ostsee
versenkt wurden. Diese verklappten Kampfmittel führen
bis heute vereinzelt bei der Schleppnetzfischerei zu Pro-
blemen.

Die Problematik wird noch zusätzlich dadurch ver-
schärft, dass die Giftladungen, wie bereits erwähnt, häu-
fig weit vor Erreichen der angeordneten Versenkungsstel-
len über Bord gelassen wurden, sodass heute niemand
mehr weiß, wo sich die Altlasten wirklich befinden. Hinzu
kommt, dass seit Jahren durch die Grundschleppnetz-
fischerei die Munitionsreste immer weiträumiger verteilt
werden.

Auch existieren bis zum heutigen Zeitpunkt keine ver-
lässlichen Schätzungen darüber, wie viele Minen, Torpe-
dosprengköpfe, Bomben und Giftgasgranaten sich in
Küstennähe wirklich auf dem Meeresboden befinden.

Dies alles stellt ein bedrückendes Szenario dar, und ich
halte es für gut, dass der Antrag der Grünen das Thema
der Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee wieder in un-
ser Blickfeld rückt. Ich halte auch die Forderung der Grü-
nen für richtig, dass wir eine klare Regelung der Zustän-
digkeiten zwischen Bund und Ländern brauchen, weil
sich Bund und Länder oftmals gegenseitig die Verantwor-
tung für die Entsorgung der Altlasten zugeschoben ha-
ben.



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Detlef Müller (Chemnitz)

Allerdings, und das sage ich auch deutlich, halte ich
auch nichts von übertriebener Panikmache. Wir haben es
ja nicht mit einer plötzlich aufgetretenen Gefahr zu tun,
sondern das Problem ist schon lange bekannt. Die Bun-
desregierung ist in dieser Angelegenheit nicht untätig ge-
wesen. Und viele Forderungen, die im Antrag der Grünen
enthalten sind, werden in der Praxis bereits umgesetzt. So
ist Deutschland als Mitglied des OSPAR-Abkommens sei-
nen Verpflichtungen nachgekommen. Die Abfrage und
Bewertung erfolgt dazu alle drei Jahre, zuletzt in diesem
Jahr, unter anderem als Beitrag zu einer Bewertung im
Rahmen des OSPAR-Qualitätszustandsberichts 2010.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, be-
vor Sie nach einer gesetzlichen Meldepflicht für alle Un-
fälle mit Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee rufen,
hätten Sie sich lieber mal kundig gemacht. Bei den Län-
dern bestehen längst etablierte Meldewege. Im Falle von
Niedersachsen erfolgt dies zum Beispiel über die Behör-
den der Gefahrenabwehr. Die Ordnungsverwaltungen
der Städte und Gemeinden oder die Polizei werden bei ei-
nem Fund von Munition tätig. Die Beseitigung der Muni-
tion obliegt dann der Verantwortung des Kampfmittelbe-
seitigungsdienstes. Im Bereich der niedersächsischen
Küste gibt es sogar noch einen zweiten Meldeweg – eine
Direktmeldung durch Küstenfischer direkt an den Kampf-
mittelbeseitigungsdienst.

Sie fordern in Ihrem Antrag auch gründliche Untersu-
chungen. Wir haben ja bereits Forschungsberichte vor-
liegen, die nach bisherigem Stand keine unmittelbare
Gefahr für Menschen, die Meeresumwelt oder die Küs-
tenregion befürchten. Diese sind im Rahmen der von
HELCOM und OSPAR zusammengetragenen Informatio-
nen auch öffentlich zugänglich.

So haben zum Beispiel Untersuchungen für das Born-
holm- und Gotlandbecken ergeben, dass in den Becken
der Ostsee Munitionsaltlasten weitgehend mit Sediment
bedeckt wurden, soweit sie nicht schon beim Einbringen
in das weiche Oberflächensediment eingesunken sind.
Aufgrund der geringen Bodenströmungen sind Freile-
gungen der Munitionsaltlasten hierbei nicht zu erwarten.

Auch die Gefahr des Durchrostens der in der Ostsee la-
gernden und mit chemischen Kampfstoffen gefüllten Fäs-
ser wurde untersucht. Aufgrund der physikalisch-chemi-
schen Eigenschaften der versenkten Kampfstoffe und der
hydrographischen Gegebenheiten in den Versenkungsge-
bieten kann man davon ausgehen, dass für das Wasser
keine großräumige Gefährdung entsteht. Die schwer ab-
baubaren Verbindungen sind nämlich meist sehr schlecht
wasserlöslich, sodass sie im Sediment – also am Boden –
verbleiben. Nur in der Nähe der Versenkungen ist lokal
begrenzt mit höheren Konzentrationen zu rechnen. Die
besser löslichen Verbindungen wie Phosgen oder Lost
werden relativ schnell im Wasser zu unschädlichen Ver-
bindungen abgebaut. Daher sind im Wasser keine höhe-
ren Konzentrationen zu erwarten.

Auch sind die gefährlichen Gebiete in allen Seekarten
vermerkt. In den amtlichen Seekarten sind im deutschen
Teil der Ostsee zum Beispiel dreizehn Gebiete als „Un-
rein (Munition)“ eingezeichnet. Eine Eintragung erfolgt,
wenn als zuverlässig angesehene Quellen das für die Er-
Zu Protokoll
stellung der Seekarten zuständige Bundesamt für See-
schifffahrt und Hydrographie (BSH) auf Munitionsfunde
hinweisen. Die Kennzeichnung in den Seekarten und er-
gänzende Warnhinweise, zum Beispiel, dass Ankern und
Fischen verboten sind, warnt die Schifffahrtstreibenden
und insbesondere die Fischer und soll somit das Unfall-
risiko reduzieren. Auch die Bundesmarine ist angewie-
sen, die zuständigen Stellen kontinuierlich über Munition
und Kampfmittel, die zum Beispiel im Rahmen des jährli-
chen multinationalen Ostseemanövers „Open Spirit“ ge-
ortet werden, zu informieren.

Trotzdem, und auch das gehört auch zur Wahrheit, fah-
ren einige Fischer in diese eigentlich gesperrten Berei-
che, um dort zu fischen, weil sich in diesen Bereichen
Rückzugsgebiete der Fische befinden und sie deshalb auf
eine höhere Fangquote hoffen. Diese Fischer verhalten
sich illegal, sie gehen bewusst ein hohes Risiko ein, weil
es natürlich passieren kann, dass sich Granaten in den
Schleppnetzen verfangen können.

Zusammenfassend kann man feststellen, dass nach den
uns vorliegenden Berichten zumindest hinsichtlich der
Munitionsaltlasten keine großräumige Gefährdung in Re-
lation zur gesamten Schadstoffbelastung zu erwarten ist.
In diesem Zusammenhang verweise ich auf die Antwort
der Bundesregierung in der Drucksache 16/353. Nach
dem HELCOM-Abschlussbericht besteht nach den vor-
liegenden Kenntnissen demnach kein weitreichendes Ri-
siko durch im Wasser gelöste Kampfstoffe für die Umwelt
der Ostsee.

Außerdem möchte ich darauf hinweisen, dass viele
Forderungen im Antrag der Grünen bereits längst Reali-
tät und deshalb überflüssig sind. Sie dienen nur der Pa-
nikmache, dies können wir allerdings bei diesem zugege-
ben sensiblen Thema nicht gebrauchen.

Trotzdem bedarf es in Zukunft vor allem einer besseren
Verzahnung und Kompetenzzuweisung zwischen Bund
und Ländern, es darf kein Kompetenzwirrwarr mit even-
tuellen Sicherheitsrisiken für die Bürger geben. Der Fö-
deralismus in unserem Land darf uns an dieser Stelle
nicht behindern!


Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1617942600

Die Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee sind seit

Jahrzehnten ein schwer abschätzbares Risiko für Umwelt
und Gesundheit von Menschen. Fischer können bei Mu-
nitionsfunden, Urlauber durch die Verwechselung von
Phosphor mit Bernstein gefährdet werden. In der letzten
Woche wurde auf dem Timmendorfer Strand ein mehrere
Meter langes Mittelteil eines Torpedos angespült. Die
Beispiele zeigen: Wir werden mit diesen Hinterlassen-
schaften des Zweiten Weltkriegs noch viele Jahrzehnte le-
ben müssen.

Die FDP-Bundestagsfraktion hat in dieser wie auch in
der vorletzten Legislaturperiode die Bundesregierung in
Kleinen Anfragen nach ihren Kenntnissen, Bewertungen
und Maßnahmen befragt (Bundestagsdrucksache16/353).
Doch weder die jetzige schwarz-rote, noch die vorherige
rot-grüne Regierung erwiesen sich als besonders aus-
kunftsfreudig. Wenn Nord- und Ostsee betroffen sind, hal-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Christel Happach-Kasan
ten sich die jeweiligen Bundesregierungen für nicht zu-
ständig. Jüngstes Beispiel: Drei Wochen hat es gedauert,
bis das illegale Versenken von Felsblöcken auf dem Au-
ßenriff von Sylt beendet wurde. Jeder in der Regierung
wusste, es ist illegal, doch gegen den Zustandsstörer
Greenpeace wollte keiner tätig werden, obwohl der
Rechtsbruch offensichtlich war und der Schutz von FFH-
Gebieten durch die Duldung eines solchen Rechtsbruchs
ein Präzedenzfall wäre, der den Schutz von FFH-Gebie-
ten erschwerte.

Im vergangenen Sommer fand in Berlin die 16. Ost-
seeparlamentarierkonferenz statt. Im Juli haben wir auf
der Grundlage zweier Anträge der Koalition sowie eines
umfassenden Antrags der FDP mit dem Titel „Zukunfts-
chancen des Ostseeraums – Wirtschaft; Ökologie; Kultur

(Bundestagsdrucksache 16/5251)

selbstverständlich auch das Thema Munitionsaltlasten,
das von uns auch berücksichtigt wurde.

Ein Jahr später nun spricht Bündnis 90/Die Grünen
von der „Zeitbombe der Munitionsaltlasten in Nord- und
Ostsee“, so der Titel des Antrags. Vor einem Jahr war die
Ostsee den Grünen nicht einmal einen eigenen Antrag
wert, und jetzt auf einmal sind die seit über 60 Jahren auf
dem Grund der Ostsee liegenden Munitionsaltlasten eine
Zeitbombe. Als Herr Trittin Umweltminister war, hat
diese sogenannte Zeitbombe wohl auch schon getickt,
aber der damalige Umweltminister hat dennoch absolut
nichts unternommen. Dafür stellen die Grünen jetzt einen
Katalog mit 20 Forderungen auf. Das ist entweder das
Eingeständnis, dass sie selbst auf dem Gebiet nichts ge-
leistet haben, oder ein weiteres Beispiel für die bei den
Grünen zum Politikstil gehörende Panikmache. Wir soll-
ten uns nichts vormachen: Wir können auch bei hohem
Mitteleinsatz das Problem nicht aus der Welt schaffen,
aber auch wir als FDP haben Vorschläge für einen bes-
seren Umgang mit dem Problem.

Nach offiziellen Unterlagen des Munitionsbergungs-
dienstes Mecklenburg-Vorpommern verfehlten über
600 Tonnen Sprengbomben und etwa 110 Tonnen Brand-
bomben bei der Bombardierung der Heeresversuchsan-
stalt für Raketenforschung in Peenemünde ihr Ziel und

(bis maximal zwei Kilometer seewärts)

bergungsdienstes ergaben, dass sich circa 60 Tonnen
weißer Phosphor in dieser Bombenfracht befunden ha-
ben. Weißer Phosphor ist im Meer persistent, das heißt, er
wird nicht natürlich abgebaut und ist auch nach Jahr-
zehnten noch vollständig vorhanden. Der Schwerpunkt
für Unfälle mit Phosphor liegt an den Stränden im nord-
östlichen Bereich von Usedom, wo phosphorhaltige
Brandmittel regelmäßig angeschwemmt und mit Bern-
stein verwechselt werden, was zu schweren Verbrennun-
gen führen kann.

Nach dem Krieg haben die Alliierten chemische
Kampfmittel in großen Mengen in der Ostsee verklappt.
In Fässern, Bomben etc. lagern bis heute mindestens
65 000 Tonnen chemischer Kampfstoffe wie Senfgas, Ta-
bun, Zyklon B und Sarin auf dem Meeresgrund der Ost-

(offizielle Zahlen sind Zu Protokoll für die Ostsee nicht bekannt)

Krieg zusätzlich mehrere Hunderttausend Tonnen kon-
ventioneller Munition in der Ostsee versenkt. Diese ver-
klappten Kampfmittel führen bis heute besonders bei der
Schleppnetzfischerei zu Problemen.

Die Bundesregierung ist bisher von der Einschätzung
ausgegangen, dass von den Munitionsaltlasten keine Ge-
fahr ausgehe. Sie stützt sich dabei auf Angaben der
HELCOM von 1994, dass ein Großteil der in der Ostsee
versenkten Munitionsaltlasten in Wassertiefen zwischen
70 und 120 Metern, im Skagerrak zwischen 200 und
700 Metern liege. In diesen Wassertiefen herrscht meist
eine stabile Wassermassenschichtung mit einer nur
schwachen Bodenströmung, weshalb der vertikale Stoff-
transport sehr gering ist, sodass keine direkte Gefahr von
der Altmunition ausgeht.

Die Bergung von Munitionsaltlasten aus dem Meer ist
mit einem sehr hohen Risiko für das Ökosystem verbun-
den, da durch mechanische Beschädigungen größere
Mengen der Kampfstoffe freigesetzt werden könnten, so
das Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für
Umweltfragen aus dem Jahr 2004.

Die Bundesregierung bezeichnet die Kennzeichnungen
gefährdeter Gebiete als ausreichend. Verletzungen von
Touristen zeigen jedoch, dass diese besser über das Ri-
siko informiert werden müssen, das in der Verwechselung
von Phosphor mit Bernstein liegt. Die Bundesregierung
ist außerdem in der Pflicht, für mehr Aufklärung und
Transparenz im Zusammenhang mit der möglichen Ge-
fährdung der Ostsee durch Munitionsaltlasten zu sorgen.
Angesichts der regelmäßig wiederkehrenden öffentlichen
Diskussion über die Altlasten in der Ostsee wäre eine ab-
gestimmte Informationspolitik von Bund und Ländern
über das Thema sinnvoll und vertrauensbildend. Auch die
Einführung einer deutschlandweiten Meldepflicht für
Unfälle mit Munitionsaltlasten an Stränden und in der Fi-
scherei ist sinnvoll und überfällig. Dänemark hat eine
solche Meldepflicht.

Es drängt sich der Gedanke auf, dass die Bundesregie-
rung die Sorgen von Bevölkerung und Fachleuten nicht
ernst nimmt. Hier besteht Handlungsbedarf, den die Bun-
desregierung entweder bisher nicht gesehen hat oder
nicht sehen will. Da die Bundesregierung sich bisher als
weitgehend handlungsunwillig erwiesen hat, ist es gut,
dass jetzt immerhin in Schleswig-Holstein eine Arbeits-
gruppe gebildet wurde, die sich mit den Munitionsaltlas-
ten im Meer beschäftigt und dabei hoffentlich zu befriedi-
genden Ergebnissen kommen wird.


Lutz Heilmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617942700

Vergraben, Versenken und Vergessen ist das Rezept al-

ler bisherigen Bundesregierungen für unseren Sonder-
müll. Seit kurzem hält das Endlager Asse II die Öffent-
lichkeit in Atem. Wie hier gepfuscht und vertuscht wurde,
ist atemberaubend. Aber auch „gewöhnlicher“ Müll be-
schäftigt uns immer wieder, wenn Wohnungen auf alten
Müllkippen gebaut wurden. Eine besondere Gefahr stellt
die halbe Million Tonnen Altmunition dar, die seit Jahr-
zehnten auf dem Grund von Nord- und Ostsee verfallen.
Die haben entweder im Krieg ihr Ziel verfehlt. Oder sie



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Lutz Heilmann
wurden nach dem Krieg von Ost wie West einfach im
Meer entsorgt. Sieht ja keiner, war wohl die Devise.
Atommüll sieht man auch nicht. Aber dass der gefährlich
ist, bestreitet nicht einmal die Atompartei CSU.

Minen, Torpedos, Granaten und ungezählte Bomben
der Kategorie „Großkampfstoffe“ sind extrem gefähr-
lich. Das, was die Bomben im Krieg zum Glück nicht ge-
schafft hatten, nämlich Schiffe zu versenken, das kann
aber heute jederzeit passieren. Außer durch spontane De-
tonationen explodieren Bomben auch dann, wenn am
Meeresboden schleifende Schiffsanker dagegenstoßen.
Da kann auch mal ein Schiff untergehen.

Besonders gefährdet sind Fischer, die mit ihren Netzen
die Bomben an Bord holen. Erst im Frühjahr starben drei
niederländische Fischer, als eine Bombe an Deck ihres
Schiffes explodierte. Wenn sie nicht explodieren, dann
zerfallen die Bomben an Deck. Atemnot, Erstickungen
und Verätzungen sind die Folge, wenn Giftstoffe, die in
den Bomben sind, freigesetzt werden.

Für Badende und Erholungssuchende besteht die Ge-
fahr von Verbrennungen durch an Strände gespülte Phos-
phorteilchen alter Brandbomben. Diese sind leicht mit
Bernstein zu verwechseln. Sobald der Phosphor jedoch
getrocknet ist, verursacht er starke Verbrennungen.

Das Ökosystem ist ebenso betroffen. Fische und Pflan-
zen nehmen die Gifte auf, viele Fische verenden daran.
Insbesondere die am Meeresboden lebenden Flundern
sind betroffen. Und wer isst nicht gerne einmal die Ost-
seescholle? Sie sollte aber nicht vergiftet sein.

Seit dem Zweiten Weltkrieg sind bislang 581 Menschen
zu Schaden gekommen. 283 Todesfälle sind zu beklagen.
Wir reden hier also nicht über irgend so ein spinnertes
Ökothema, wie das manche vielleicht abtun wollen. Wir
reden hier ganz konkret über die Rettung von Menschen-
leben. Und was passiert? Nichts. Dabei sind viele Lager-
stätten bekannt. Und technisch ist die Bergung, wenn
auch aufwendig, möglich. Aber statt Menschenleben zu
retten erleben wir seit Jahren einen kleinkarierten Streit
zwischen Bund und Ländern. Dabei geht es – worum auch
sonst – ums Geld.

Offiziell geht es natürlich um die formale Zuständig-
keit. Aber wer die hat, muss eben auch die Bergung der
Munition zahlen. Derzeit ist nur die Gefahrenabwehr für
den Schiffsverkehr dem Bund zugewiesen. Die Abwehr
von Gefahren für Badende, Sporttaucher und Fischer au-
ßerhalb der Seewasserstraßen hingegen ist Ländersache.

Den Verletzten oder den Angehörigen der Toten ist es
aber völlig egal, ob nun der Bund oder die Länder Schuld
haben, dass eine Bombe auf einem Schiff explodiert. Es
kann nicht sein, dass für jede Bombe die Zuständigkeit er-
neut geprüft werden muss. Dann passiert nämlich lange
erst einmal gar nichts. Ich fordere deshalb, dass die
einheitliche Zuständigkeit des Bundes hergestellt wird.
Warum? Es handelt sich überwiegend um ehemals reichs-
eigene Munition aus dem Zweiten Weltkrieg. Der Rechts-
nachfolger des deutschen Reiches ist unbestritten der
Bund. Der Bund ist Eigentümer der Gewässer vor den
Küsten. Und die Länder sind damit schlicht finanziell
überfordert. Deshalb unterstütze ich den Antrag der Grü-
Zu Protokoll
nen. Der ist zwar etwas schwammig formuliert, aber in
der Sache richtig.

Deswegen meine konkreten Forderungen an die Bun-
desregierung:

Erstens. Innerhalb des nächsten halben Jahres soll der
Bund die alleinige Zuständigkeit für Munitionsaltlasten
in Nord- und Ostsee übernehmen.

Zweitens. Es ist innerhalb des nächsten Jahres eine
umfassende öffentliche Meldepflicht für Sprengstoff-
funde, Munitionsunfälle sowie Munitionsverluste einzu-
führen.

Drittens. Spätestens in einem Jahr ist mit der umfas-
senden und einheitlichen Katalogisierung und Kartogra-
fierung aller Munitionsfunde zu beginnen.

Viertens. Sofort ist mit der raschen und systematischen
Bergung und dem Unschädlichmachen der Altmunition
zu beginnen.

Meine Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
Sie könnten hier noch einmal Tatkraft demonstrieren.
Oder wollen Sie sich bis zum Ende der Legislaturperiode
nur noch streiten?

Last but not least frage ich die Bundesregierung:
Wurde die Ortung und Bergung von Munition bei den
Kosten der Fehmarnbelt-Querung eingerechnet? Im Feh-
marnbelt liegt meines Wissens jedenfalls eine Menge da-
von rum.

60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sollte neben dem
geschichtlichen Aspekt endlich auch damit begonnen
werden, die äußerst realen explosiven Hinterlassenschaf-
ten der Nazi-Diktatur aufzuarbeiten. Es muss Schluss
sein mit dem Verbrennen, dem Vergraben und dem Ver-
gessen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auf den Böden von Nord- und Ostsee rosten noch im-
mer mindestens 700 000 Tonnen Munition und Kampf-
stoffe aus dem Zweiten Weltkrieg und der Zeit danach.
Seit 1945 sind mindestens 581 Menschen Opfer von Un-
fällen geworden, 283 Menschen verloren ihr Leben.
Heute geht von den tickenden Zeitbomben eine erhebliche
Gefahr für Mensch, Umwelt, Fischerei und Tourismus
aus. Regelmäßig werden Munitionsrückstände an deut-
sche Strände gespült. Dort stellen sie nicht nur eine er-
hebliche Gefahr für Urlauber und Badegäste, sondern
auch für die touristische Attraktivität ganzer Regionen
dar.

Auch die Schifffahrt ist in erheblichem Maße betrof-
fen: Fischer finden in ihren Netzen nach Angaben des
Umweltgutachters Dr. Stefan Nehring durchschnittlich
3 000 Kilogramm Munitionsrückstände im Jahr, mehrere
Fischkutter sanken bis heute. Der letzte große Unfall er-
eignete sich 2005, als drei niederländische Fischer getö-
tet wurden. Große Fanggebiete in der Nordsee sind be-
reits für die Fischerei gesperrt. Kartierungen – wenn
überhaupt vorhanden – erlauben es nur bedingt, Rück-
schlüsse auf die tatsächliche Gefährdung von Gebieten zu



gegebene Reden






(A) (C)



(B) (D)


Rainder Steenblock
ziehen: Durch Meeresströmungen kommt es zu teilweise
erheblichen Abweichungen zwischen angegebenen Ge-
fährdungsgebieten und tatsächlichen Fundstellen.

In einer der meist frequentiertesten Wasserstraßen der
Welt, der Kadetrinne, liegt das Wrack eines Kriegsschif-
fes mit mindestens drei Bomben an Bord. Rund 200
Schiffe passieren täglich die schwer schiffbare Passage,
die durch ein ökologisch hoch sensibles Gebiet führt, da-
runter viele Öltanker. Ein Unfall an dieser Stelle hätte ka-
tastrophale Folgen für die Meeresumwelt.

Die Antwort auf meine Kleine Anfrage „Munitionsalt-
lasten in der Kadetrinne“ vom 27. Juni 2008 ist bezeich-
nend für das bisherige Vorgehen der Bundesregierung in
Sachen Munitionsrückstände: Mit dem Hinweis darauf,
dass die Kadetrinne innerhalb der deutschen Ausschließ-
lichen Wirtschaftszone (AWZ) läge, dort Internationales
Seerecht gelte, welches die Rechte und Pflichten nicht
klar regele, weist die Bundesregierung jede Zuständigkeit
von sich.

Sollte von den Bomben eine Gefahr für die Schifffahrt
ausgehen, was zum heutigen Zeitpunkt keinesfalls ausge-
schlossen werden kann, wäre die Bundesregierung jedoch
durch die von ihr geschlossenen internationale Verträge
zwingend zum Handeln verpflichtet. Zu diesem Ergebnis
kommt eine von mir in Auftrag gegebene Untersuchung
des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages.

Die Bundesregierung hat sich in der Vergangenheit als
unfähig erwiesen, sich dem Problem der Munitionsaltlas-
ten in einem Maße anzunehmen, welches der Risiken und
Gefahren auch nur ansatzweise gerecht wird: Nach wie
vor sind die Kompetenzenregelungen zwischen Bund,
Ländern und Behörden auf der einen Seite, zwischen der
Bundesrepublik Deutschland, anderen Meeresanrainern
und der Europäischen Union auf der anderen Seite völlig
unzureichend geregelt. Grundlegende Daten für die Be-
wertung der von den Munitionsrückständen ausgehenden
Gefahren und Risiken sowie offizielle Statistiken über Un-
fälle fehlen noch immer. So ist unklarer denn je, welche
reellen Gefahren von den Munitionsaltlasten für die Mee-
resumwelt und den Menschen, für die Fischerei und Un-
terwasserbauvorhaben wie der Ostseepipeline tatsäch-
lich ausgehen. Anstatt endlich zu handeln, betreibt die
Bundesregierung frei nach dem Motto „Aus den Augen,
aus dem Sinn“ ein gefährliches Spiel.

Meine Fraktion fordert die Bundesregierung seit lan-
gem dazu auf, endlich klare Zuständigkeiten zu benennen,
Statistiken als Grundlage einer seriösen Bedrohungsana-
lyse für Mensch und Umwelt zu erstellen, eine deutlich
verbesserte Informationspolitik zu betreiben und effektive
Sicherungsmaßnahmen, die die größten Risiken einzu-
dämmen in der Lage sind, vorzunehmen.

Die Zeit drängt: Die Durchrostung der Kampfmittel
schreitet weiter voran, Spreng- und Kampfstoffe werden
verstärkt freigesetzt. Kürzlich stellten Kieler Toxikologen
eine zunehmende Konzentration von Arsen in Ostsee-
schollen fest. Sowohl der Mensch, der diese Giftstoffe
über die Nahrungskette aufnimmt, als auch die Meeres-
umwelt sind zunehmend gefährdet.
Mit unserem Antrag, der eine Reihe ganz konkreter
Maßnahmen enthält, fordern wir die Bundesregierung
nochmals entschieden dazu auf, sich der Problematik der
tickenden Zeitbomben in unseren Meeren – sowohl auf
deutscher als auch auf europäischer Ebene – endlich an-
zunehmen. Die Bundesregierung muss sich gegenüber
der Europäischen Kommission im Rahmen der Europäi-
schen Meerespolitik für effektive Managementkonzepte
und klare Kompetenzzuweisungen einsetzen. Ein Aktions-
programm unter Einbeziehung aller Ost- und Nordsee-
Anrainerstaaten ist lange überfällig. Die Sanierung der
Ost- und Nordsee ist nur als Gemeinschaftsaufgabe der
Anrainerstaaten zu realisieren. Weitere Untersuchungen
und wissenschaftliche Forschungen müssen dringend
durchgeführt werden. Wenn vier Meter lange Torpedos an
deutsche Strände gespült werden, muss selbst die Bundes-
regierung endlich begreifen, dass die Zeit des Wegguckens
ein für allemal vorbei ist.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617942800

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache16/9103 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten

Markus Kurth, Brigitte Pothmer, Irmingard
Schewe-Gerigk, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Arbeitslosengeld II unbürokratisch berech-
nen und auszahlen – Rechts- und Planungs-
sicherheit für Leistungsbeziehende schaffen

– Drucksachen 16/7838, 16/8445 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Stefan Müller (Erlangen)


Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol-
gende Kolleginnen und Kollegen: Karl Schiewerling,
CDU/CSU, Angelika Krüger-Leißner, SPD, Dirk Niebel,
FDP, Katja Kipping, Die Linke, und Markus Kurth,
Bündnis 90/Die Grünen.


Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1617942900

Mit diesem Antrag spricht sich die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen grundsätzlich für die Beibehal-
tung des Prinzips pauschalierter Sozialleistungen aus.
Die Pauschalierung ist ein wichtiges Prinzip im SGB II.
Auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat dies gefor-
dert und in die Reform der Sozialhilfe und der Arbeitslo-
senhilfe mit hineingeschrieben; zum einen deshalb, weil
die pauschalierte Regelleistung mehr Selbstständigkeit
für Leistungsbeziehende bedeutet, zum anderen, weil So-
zialverwaltungen von aufwendigen Einzelfallprüfungen
verschont bleiben.


(A) (C)



(B) (D)


Karl Schiewerling
Soweit abweichend von der Pauschalisierung der Re-
gelleistung die Schaffung individueller Sonderbedarfe,
insbesondere auch für Kinder und Jugendliche, gefordert
wird, lehnen wir das grundsätzlich ab. Man kann indivi-
duellen Einzelfällen nicht durch eine gesetzliche Verord-
nung gerecht werden, ohne ein System aufbauen zu müs-
sen, das hinterher kaum noch zu durchblicken ist. Zudem
kann man nicht gleichzeitig bürokratische Einzelfallprü-
fungen bemängeln und auf der anderen Seite einen An-
spruch auf individuelle Mehraufwandsentschädigung
fordern. Diese Ansprüche müssten ebenfalls durch die
Jobcenter überprüft werden, die bereits mit bürokrati-
schen Einzelfallprüfungen überfrachtet sind.

Sie kritisieren in ihrem Antrag die Arbeitslosengeld-II-
Verordnung. Die Berücksichtigung von Sachleistungen,
etwa der unentgeltlich bereitgestellten Verpflegung, ist
erforderlich, weil die Betroffenen insoweit Leistungen er-
halten, die den Lebensunterhalt teilweise sichern und
dem gleichen Zweck wie die Leistungen zum Lebensun-
terhalt nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch dienen.
Würde keine Anrechnung erfolgen, würden die Betroffe-
nen insoweit doppelte Leistungen erhalten.

Die Neuregelung enthält aber auch eine Bagatell-
grenze, die Härten vermeiden und die Verwaltung von der
Rückforderung kleinerer Beträge entlasten soll: Erst
wenn das Einkommen aus dem Sachbezug der bereitge-
stellten Verpflegung in einem Monat einen Betrag in
Höhe von derzeit 83,28 Euro monatlich übersteigt, wird
es nach Abzug der Zuzahlungen als notwendige Ausga-
ben als Einkommen berücksichtigt.

Da die durchschnittliche Dauer eines Krankenhaus-
aufenthaltes in Deutschland bei 8,5 Tagen liegt, wird für
die überwiegende Zahl der Betroffenen mit der Rechts-
verordnung die Klarheit geschaffen, dass es zu keiner
Minderung der Leistungen der Grundsicherung für Ar-
beitsuchende kommt.

Mit der Bagatellgrenze ist auch sichergestellt, dass
beispielsweise ein kostenloses Mittagessen in der Schule
oder im Kindergarten nicht als zusätzliches Einkommen
angerechnet wird.

Die Forderung der Grünen nach einer Nichtanrech-
nung karitativer Zuwendungen wie beispielsweise Le-
bensmittel- oder Möbelspenden ist bereits geltende
Rechtslage und ist somit erfüllt.

Ich finde die ganze Diskussion um Sonderbedarfe und
die Höhe des Regelsatzes überflüssig. Immer wieder heißt
es, die Kinderregelsätze seien unzureichend und ihre Be-
messung nicht sachgerecht, und deshalb sei eine Erhö-
hung notwendig. Derzeit beziehen etwa 2,1 Millionen
Kinder bis 17 Jahren Leistungen nach dem SGB II und
etwa 16 000 nach dem SGB XII. Fälschlicherweise wer-
den diese Kinder immer als arm bezeichnet. Würde man
der Forderung nachkommen und die Kinderregelsätze er-
höhen, würde wegen der steigenden Zahl der Anspruchs-
berechtigten die Zahl der so definierten „Armen“ nicht
sinken sondern steigen. Im Übrigen ist das Sozialgeld für
Kinder in der Grundsicherung deutlich höher als das
Kindergeld, das die Familien erhalten, die knapp über
den Sätzen des SGB II liegen.
Zu Protokoll
Wir müssen vielmehr dafür Sorge tragen, dass allen
erwerbsfähigen Menschen – und somit den Eltern dieser
Kinder – eine Chance auf Erwerbsarbeit eröffnet wird.
Dahinter steht auch die Grundüberzeugung, wie sie unter
anderem auch in der katholischen Soziallehre deutlich
wird, dass staatliche monetäre Zuwendungen allein nicht
zum Zustand sozialer Gerechtigkeit führen. Bloße Ali-
mentation stellt menschenwürdige Lebensbedingungen
und gerechte Verwirklichungschancen noch nicht sicher.
Sie kann sogar das Gegenteil bewirken, wenn sie zu Pas-
sivität führt.

Die Menschen brauchen verlässliche, langfristig an-
gelegte Hilfestrukturen und Personen, die sie begleiten.
Das verlangt gesicherte Finanzen und Rahmenbedingun-
gen. Bund, Länder und Kommunen sind gefordert.

Statt Leistungsausweitung ist es zielgerichteter, den
Langzeitarbeitslosen eine Perspektive dahingehend zu
eröffnen, dass sie einen Job bekommen und am Erwerbs-
leben teilnehmen können. Das ist und muss das Ziel der
Grundsicherung für Arbeitsuchende sein.

Im Mittelpunkt der Grundsicherung steht die Aktivie-
rung der Hilfeempfänger. Das große Ziel ist, nicht vom
Staat finanziell abhängig zu sein, sondern aus eigener
Kraft das Leben zu finanzieren. Das ist auch menschen-
würdiger.


Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Rede ID: ID1617943000

Zunächst das Positive: Die Grünen stehen weiterhin

zur Pauschalierung der Regelleistungen. Das ist erfreu-
lich, schließlich haben wir das mal zusammen beschlos-
sen.

Früher mussten die Betroffenen wegen jeder noch so
kleinen Kleinigkeit beim Sozialamt um Bewilligung bit-
ten. Dieser Praxis haben wir gemeinsam einen Riegel
vorgeschoben. Die Vorteile unserer Entscheidungen, das
Arbeitslosengeld II stärker zu pauschalieren als die alte
Sozialhilfe, sind offensichtlich: geringerer Verwaltungs-
aufwand und damit Bürokratieabbau, größere Entschei-
dungsfreiheit der Betroffenen und Transparenz.

Das war es dann aber auch schon mit den positiven As-
pekten im Antrag der Grünen. Denn ansonsten zeichnet
der Antrag ein unvollkommenes Bild. Zum einen bemän-
geln Sie bürokratische Einzelfallprüfungen und fordern
eine stärkere Pauschalierung. Zum anderen fordern Sie
aber die Berücksichtigung individueller Mehrbedarfe.
Ihr Beispiel verdeutlich das: Mögliche Mehrbedarfe
könnten durch den Kauf von Kleidung in Übergröße ent-
stehen. Da frage ich Sie, was gilt als Übergröße? Wollen
Sie festlegen, ob nun XL oder XXL als Übergröße gilt? Ist
es nicht so, dass manchmal XL passt und manchmal XXL?
Gilt das eine Sweatshirt dann als Mehrbedarf und das an-
dere nicht? Stellen Sie sich vor, die Fallmanager müssten
sich jeden Kassenzettel zeigen lassen, um zu kontrollie-
ren, in welcher Größe Kleidungsstücke gekauft wurden.
Dieser Vorschlag trägt mit Sicherheit nicht zum Bürokra-
tieabbau bei. Bereits heute schon äußerst knappe perso-
nelle Ressourcen in den Arbeitsgemeinschaften und Op-
tionskommunen würden zusätzlich gebunden. Der Auftrag,
Menschen Alternativen zum ALG-II-Bezug aufzuzeigen



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Angelika Krüger-Leißner
und sie in Arbeit zu vermitteln, würde vernachlässigt. Ich
möchte nicht, dass wir Arbeitslosigkeit verwalten, son-
dern wir müssen sie aktiv bekämpfen.

Lassen Sie mich in dem Zusammenhang etwas zu den
Bedarfen von Kindern sagen. Ich unterstelle mal, dass je-
der hier in diesem Saal sich der Bedeutung von Kindern
in unserer Gesellschaft bewusst ist. Ich unterstelle auch,
dass jeder sich der Bedeutung von Kinderarmut bewusst
ist. Keine Frage, Kinderarmut gründet sich in der Regel
in der Armut der Eltern. Aber es ist nicht nur ein finan-
zielles Problem. Es ist auch ein Problem fehlender Chan-
cengleichheit in der Bildung und der gesellschaftlichen
Teilhabe. Die Auffassung, dass allein monetäre Anreize
das Problem der Kinderarmut lösen, halte ich für falsch.
Wir müssen andere Wege beschreiten.

Die SPD – als treibende Kraft in dieser Koalition – ist
da auf dem richtigen Weg. Denn entgegen den Widerstän-
den aus der konservativen Ecke haben wir mit dem El-
terngeld zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Be-
ruf beigetragen. Und bereits nach einem Jahr können wir
sagen: Das Eltergeld kommt gut an.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Kinderbetreuung.
Mit dem Kinderförderungsgesetz, das wir am morgigen
Freitag in erster Lesung behandeln, haben wir einen
Rechtsanspruch für jedes Kind auf einen Betreuungsplatz
durchgesetzt. Das gilt ab 2012. Auch die Zusage von Peer
Steinbrück einer Beteiligung des Bundes an den Betriebs-
kosten der Kitas macht deutlich: Wir meinen es ernst mit
unseren Kindern. Wir haben in diesem Bereich viel getan.
Und wenn Sie mich jetzt fragen, ob wir genug getan ha-
ben, dann sage ich Ihnen, man kann nie genug tun! Den-
noch bin ich froh über das, was wir erreicht haben.

Ein Wort noch zum Kindergeld. Für uns Sozialdemo-
kraten ist klar: Jedes Kind ist uns gleich viel wert. Eine
Staffelung des Kindergeldes nach erstem, zweitem oder
drittem Kind, wird es mit uns nicht geben. Darüber hi-
naus ist es nur richtig, den Existenzminimumbericht der
Bundesregierung in die Entscheidungsfindung mit einzu-
beziehen. Warten wir ihn ab – diskutieren dann und han-
deln zielorientiert.

Lassen Sie mich zurückkommen zum Antrag. Es ist är-
gerlich, wie Sachverhalte einfach falsch dargestellt wer-
den. Der Antrag zeichnet nicht nur ein unvollständige
sondern auch ein falsches Bild. Fakt ist, mit der Arbeits-
losengeld-II-Verordnung ist eine Klarstellung der gelten-
den Rechtslage erfolgt. Mit anderen Worten, die Verord-
nung bedarf keiner Klarstellung, sie ist die Klarstellung!
Und insbesondere bei dem von Ihnen angesprochenen
Problem der Anrechnung von Verpflegung wurde Rechts-
klarheit geschaffen. Grundsätzlich gilt Verpflegung als
Einkommen bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes II.
Damit ist klar, dass es sich hier nicht um eine Absenkung
der Regelleistung handelt oder ein Bedarf abweichend
festgesetzt wird. Die Berücksichtigungen von Einkommen
und Vermögen sind Grundprinzipien des Leistungsbezu-
ges im SGB II. Einkommen und Vermögen sind Ausdruck
der eigenen Leistungsfähigkeit und daher zu berücksich-
tigen. Ein doppelter Leistungsbezug wird verhindert. Das
ist auch eine Frage der Gerechtigkeit.
Zu Protokoll
Trotz dieser prinzipiellen Überlegungen gilt unser
Blick immer den Betroffenen, insbesondere bei der von
Ihnen angesprochenen Verpflegung bei einem Kranken-
hausaufenthalt. Wir haben mit der Einführung der Baga-
tellgrenze von derzeit 83,28 Euro soziale Härten vermie-
den. Diese gilt grundsätzlich pro Monat. Das heißt in der
Praxis, für einen Patienten, der ein Jahr lang den
Höchstregelsatz an Arbeitslosengeld II bezieht, wird die
Vollverpflegung erst ab dem 21. Tag des Aufenthaltes
angerechnet. Bei einer durchschnittlichen Krankenhaus-
aufenthaltsdauer von 8,5 Tagen ist ein Großteil von der
Anrechnung gar nicht betroffen.

Lassen sie mich abschließend noch zur Anpassung der
Regelsätze etwas sagen. Als Grundlage für Anpassungen
der Regelsätze brauchen wir valide Daten, die nach ei-
nem verlässlichen und transparenten Verfahren bestimmt
werden. Willkür ist hier nicht geboten. Richtig ist, dass
sich das Verfahren der Einkommens- und Verbrauchs-
stichprobe zur Ermittlung der Regelsätze bewährt hat.
Richtig ist aber auch, dass der Zeitraum, diese Daten nur
alle 5 Jahre zu erheben, zu lang ist. Ein Zeitraum von ma-
ximal 3 Jahren ist denkbar. Die Veränderungen vollzie-
hen sich einfach schneller als zu früheren Zeiten.

Zum Ende des Jahres erwarten wir die Ergebnisse der
Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008. Darüber
hinaus prüft das BMAS derzeit die Auswirkungen der ak-
tuellen Preisentwicklung für Empfänger von ALG II. Auf
Grundlage der Ergebnisse werden wir dann über eine An-
passung der Regelsätze reden und entsprechend handeln.


Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1617943100

Die Grundsicherung für Arbeitsuchende sollte den bü-

rokratischen Aufwand bei der Antragsbearbeitung von
Arbeitslosen- und Sozialhilfe eindämmen und Verwal-
tungskosten einsparen. Dennoch steigt die Klageflut an
den Sozialgerichten seit Jahren, weil viele Details im Ge-
setz ungeklärt geblieben sind. Die meisten Fälle drehen
sich um die Bedarfsberechnung, die Anrechnung von Ein-
kommen und Vermögen, angemessene Wohnungskosten
und Sanktionen. Diese Verfahren kosten die Zeit und das
Geld aller Beteiligten. Die Gerichte geben bei ähnlichen
Fallgestaltungen in Einzelfällen den Betroffenen Recht,
in anderen machen sie eine Ablehnung nachvollziehbar.
Das zeigt, wie groß die Unsicherheit ist.

In diesem Antrag wird gefordert, die Arbeitslosen-
geld II-Sozialgeld-Verordnung des Arbeitsministeriums,
die seit 1. Januar 2008 in Kraft ist, nach dem Grundsatz
pauschalierter Regelleistungen zu überarbeiten. Außer-
dem sollen Verpflegungsleistungen bei stationären Auf-
enthalten grundsätzlich nicht als Einnahme auf die Re-
gelleistung angerechnet werden.

Die FDP hat sich für die Pauschalierung von Sozial-
leistungen eingesetzt. Die pauschalierten Regelsätze ge-
ben den Menschen die Freiheit, ihr Geld so einzusetzen,
wie sie es brauchen. Deshalb unterstützen wir auch die
grundsätzliche Forderung, bedürftigkeitsabhängige So-
zialtransfers weitgehend zu pauschalieren. Das ist eine
Maßnahme zur Schaffung größerer Transparenz und
Rechtsklarheit.

Leider weicht der Antrag von dieser Forderung wieder
ab. Er hebt hervor, dass das Prinzip der individuellen Be-



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Dirk Niebel
darfsdeckung durch die Pauschalierung nicht ausgehe-
belt werden darf. Dabei scheint es auch wieder weniger
um Entbürokratisierung und Vereinfachung zu gehen als
darum, einen höheren Leistungsumfang bei den Arbeits-
losengeld-II-Beziehern zu erreichen. Dies wird belegt
durch die Formulierung, dass die Bundesregierung es
versäumt, durch die Festlegung bedarfsgerechter Regel-
sätze das soziokulturelle Existenzminimum sicherzustel-
len, und die Forderung, bereitgestellte Verpflegungsleis-
tungen grundsätzlich nicht auf die Regelleistung als
Einnahme anzurechnen.

Die gute Arbeitsmarktlage ist an den ALG-II-Empfän-
gern vorbeigegangen. Ihre Situation hat sich nicht we-
sentlich verbessert. Eine schnellere Vermittlung in Be-
schäftigung hat nicht stattgefunden. Das Personal ist mit
Verwaltungs- statt Vermittlungsaufgaben befasst. Weder
wurden neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze
für Geringqualifizierte und Langzeitarbeitslose geschaf-
fen, noch wurden die Anreize zur Arbeitsaufnahme attrak-
tiv gesetzt. Statt einen geregelten Niedriglohnsektor ein-
zuführen, der auch diesen Menschen die Chance auf
Beschäftigung gibt, werden weitere Arbeitsplätze durch
die geplante Einführung von flächendeckenden Mindest-
löhnen gefährdet. Mindestlöhne werden Arbeitsplätze in
die Schwarzarbeit verdrängen und dadurch die Chancen
von Langzeitarbeitslosen verschlechtern.

Auch das Chaos bei der Betreuung von Langzeitar-
beitslosen durch Arbeitsagenturen, Kommunen und Ar-
beitsgemeinschaften muss beendet werden. Wir wollen,
dass alle Arbeitslosen in kommunalen Jobcentern betreut
und beraten werden, weil die Kommunen besser auf indi-
viduelle Problemlagen und den regionalen Arbeitsmarkt
reagieren können. In dieser Auffassung werden wir von
vielen Optionskommunen unterstützt; nur die Bundesre-
gierung weigert sich, dies zur Kenntnis zu nehmen.

Das Arbeitslosengeld soll und kann durch Hinzuver-
dienste aufgestockt werden. Statt ständig einen höheren
Leistungsbezug zu fordern, sollte alles unternommen
werden, um den Betroffenen eine Perspektive auf Be-
schäftigung zu geben. Die Aufnahme einer auch nur ge-
ring entlohnten Beschäftigung muss gegenüber der allei-
nigen Inanspruchnahme staatlicher Transferleistungen
attraktiver werden. Dazu müssen auch die bestehenden
Regelungen zur sozialen Absicherung vereinfacht und un-
bürokratischer ausgestaltet werden.

Unser Bürgergeld-Konzept bedeutet den notwendigen
Systemwechsel. Unser Bürgergeld-Konzept ist ein trans-
parentes Steuer- und Transfersystem aus einem Guss und
bietet einen gleitenden und lohnenden Übergang in die
Erwerbstätigkeit. Das Bürgergeld stellt ein Mindestein-
kommen für jeden sicher, und zugleich schafft es zusätzli-
che Anreize, durch Arbeit ein höheres Netto-Einkommen
zu erzielen. Damit ist es gerechter und wirksamer als jede
Mindestlohnregelung. Das Bürgergeld muss individuell
ausgestaltet werden, je nach Lebenssituation. Das Bür-
gergeld muss so berechnet werden, dass es bezahlbar
bleibt und eine hinreichende Versorgung gewährleistet.

Leistungsbezieher brauchen eine andere Perspektive
als mehr Anträge für mehr Leistung, sie brauchen eine
Perspektive auf einen Arbeitsplatz. Wir brauchen auch
Zu Protokoll
für diejenigen, die die finanzielle Grundlage des Leis-
tungsbezuges sichern, eine andere Perspektive. Die Men-
schen in der Mitte der Gesellschaft müssen entlastet statt
immer weiter belastet werden. Sie fragen sich zu Recht,
warum der Aufschwung bei ihnen nicht angekommen ist,
wo der Abschwung schon vor der Tür steht.


Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1617943200

Sowohl die grundsätzlichen Erwägungen als auch die

konkreten Forderungen des Antrags 16/7838 werden von
meiner Fraktion geteilt. Insbesondere bedarf es einer
dringenden und gründlichen Überarbeitung der ALG-II-
Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur
Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen im
Sinne des Grundsatzes pauschalierter Leistungen, die wir
aktuell als vollkommen falsch konzipiert betrachten.

Auch sind wir nach wie vor der Auffassung, dass Ver-
pflegungsleistungen bei stationären Aufenthalten oder
Teilverpflegungen in Kindertagesstätten und Schulen
grundsätzlich nicht auf die Regelleistung angerechnet
werden dürfen. Dahin gehende Forderungen hat meine
Fraktion ja auch immer wieder in eigenen Anträgen er-
hoben, so bereits mehrfach die deutliche Anhebung des
Regelsatzes, die Berücksichtigung kinder- und ju-
gendspezifischer Bedarfe und zuletzt die Nichtanrech-
nung von Verpflegung bei stationärem Aufenthalt auf die
Regelleistung. Hier teilen wir die Sicht der Grünen, dass
eine solche Anrechnung – auch jenseits einer Bagatell-
grenze – dem Grundsatz der Pauschalierung wider-
spricht, und weisen die Interpretation des Ministeriums

(siehe Antwort auf unsere Kleine Anfrage 16/7922), dass

mit der Verordnung dem Votum des Petitionsausschusses
weitgehend entsprochen wurde, aufs Schärfste zurück.

Insbesondere möchte ich noch einmal hervorheben,
dass wir eine Ermessensentscheidung durch die Grundsi-
cherungsträger bei der Überprüfung der Betriebsausga-
ben von Selbstständigen, die ergänzendes ALG II bezie-
hen, ablehnen. Statt noch mehr unangemessenen
bürokratischen Aufwand zu erzeugen, indem ein Streit um
jeden Bleistift und jede Druckerkartusche stattfindet,
sollte bei der Berechnung von Einkommen und der Abset-
zung von Betriebsausgaben von selbstständig Tätigen das
Steuerrecht zum Maßstab gemacht werden und nicht, wie
in der Verordnung vorgesehen, eine zweite Prüfung durch
das Jobcenter vollzogen werden.

So hätten die Jobcenter auch mehr Freiraum, um sich
auf eine deutlich verbesserte Beratung und Vermittlung
von Hilfesuchenden zu konzentrieren. Denn aktuell lässt
die Beratungsqualität in staatlichen bzw. amtlichen Stel-
len immer noch sehr zu wünschen übrig.

In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf unsere
Forderungen nach der Stärkung von unabhängigen Bera-
tungsstellen aufmerksam machen; denn sehr viele Hilfe-
suchende wenden sich in ihrer Not an solche Einrichtun-
gen und suchen dort Rat und Unterstützung. Einer
unserer Vorschläge dazu ist, zum Beispiel diese Einrich-
tungen mit qualifiziertem Personal zu verstärken. Das
hätte zudem die Konsequenz, dass die Jobcenter etwas
entlastet würden.

Weitere positive und weitreichende Effekte kann die
Bundesregierung aber vor allem dadurch erzielen, indem



gegebene Reden


(A) (C)



(B) (D)


Katja Kipping
als erster Schritt die Regelsätze bei Hartz IV endlich in
Richtung einer armutsfesten Grundsicherung und in
Übereinstimmung mit dem geltenden Recht auf 435 Euro
pro Monat angehoben werden. In einem zweiten Schritt
muss dann eine repressionsfreie soziale Grundsicherung
eingeführt werden, die diesen Namen auch wirklich ver-
dient.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1617943300

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales


(BMAS) hat zum 1. Januar 2008 eine neue Verordnung

zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberück-
sichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeits-
losen II/Sozialgeld, kurz: ALG-II-Verordnung, auf den
Weg gebracht. Diese Verordnung klingt nicht nur büro-
kratisch, sie enthält auch Regelungen, die selbstständi-
gen Leistungsbeziehern eigene unternehmerische Ent-
scheidungen nahezu unmöglich machen. Seit dem
1. Januar 2008 soll der Abzug von Betriebsausgaben
nicht mehr nach den Maßstäben des Steuerrechtes erfol-
gen, sondern weitgehend dem Ermessen der Fallmanager
in den Jobcentern unterliegen. Mit dieser Vorgabe wer-
den nicht nur die Leistungsbehörden, sondern auch die
Selbstständigen im ALG-II-Bezug über Gebühr belastet.
Zum einen sind die Fallmanager für unternehmerisches
Handeln nicht ausgebildet. Zum anderen sind Selbststän-
dige aufgrund der neuen Regelung gezwungen, eine dop-
pelte Buchführung ganz eigener Art aufzustellen: eine für
das Finanzamt und eine für die Sozialbehörde.

Die Zahl der Selbstständigen ist seit Einführung des
Arbeitslosengeld II kontinuierlich gestiegen. Allein im
Zeitraum von Januar 2007 bis April 2008 stieg die Zahl
der selbstständig tätigen Leistungsbeziehenden, die nicht
ohne ein ergänzendes ALG II über die Runden kommen,
von 56 250 auf 96 940 Personen. Ohne das Abschre-
ckungsinstrument der ALG-II-Verordnung wäre die Zahl
der selbstständig tätigen Leistungsbeziehenden voraus-
sichtlich deutlich höher. Das Arbeitslosengeld II hat dem-
nach für Selbstständige eine zunehmende Bedeutung und
wichtige Unterstützungsfunktion. Gleichwohl gängelt das
BMAS den unternehmerischen Geist. Wieder einmal wird
das überbordende Kontrollbedürfnis des BMAS getragen
vom Gedanken des Sozialmissbrauchs. Dabei kann von
Sozialmissbrauch im großen Stil keine Rede sein. Tat-
sächlich sind die aufgedeckten Missbrauchsfälle rapide
zurückgegangen. In 2005 waren es noch 206 000 Fälle,
2007 wurden 87 000 Fälle nachgewiesen. Bis Juli dieses
Jahres hat die Bundesagentur für Arbeit nur noch
9 000 ungerechtfertigte Zahlungen erfasst. Bundes-
arbeitsminister Scholz wäre deshalb gut beraten, wenn er
die Selbstbestimmungsrechte der ALG-II-Beziehenden
– hier der Selbstständigen – stärken würde, damit diese
die notwendige Handlungsfreiheit gewinnen, sich selbst
aus dem Leistungsbezug zu befreien.

In dem hier zur Diskussion stehenden Antrag betonen
Bündnis 90/Die Grünen die Notwendigkeit einer pau-
schaliert ausgezahlten Regelleistung. Das Prinzip pau-
schalierter Regelleistungen wurde erstmals mit den soge-
nannten Hartz-Reformen eingeführt. Unserer Meinung
nach ist es nach wie vor sinnvoll, Sozialtransfers wie das
Arbeitslosengeld II als pauschalen Betrag auszuzahlen.
Zu Protokoll
Dies schafft Planungssicherheit für die Leistungsbezie-
henden und entlastet die Leistungsbehörden von bürokra-
tischen Einzelentscheidungen, vorausgesetzt, die Regel-
leistungen sichern das soziokulturelle Existenzminimum.
Vor diesem Hintergrund wurde zum 1. Januar 2005 das
Arbeitslosengeld II eingeführt. Bedauerlicherweise ist
die Bundesregierung auch im dritten Jahr nach Einfüh-
rung dieser Leistung nicht in der Lage, die notwendigen
Anpassungen vorzunehmen. Weder wurden die Regelleis-
tungen auf ein existenzsicherndes Niveau angepasst,
noch werden sie unbürokratisch ausgezahlt. So hat das
BMAS trotz einer Vielzahl anderslautender Sozialge-
richtsentscheidungen die Verrechnung von Krankenhaus-
kost auf den Regelsatz in der hier zur Debatte stehenden
ALG-II-Verordnung festgeschrieben. Zwischenzeitlich
hat das Bundessozialgericht mit dem Urteil vom 18. Juni
2008 (Az.: B 14 AS 22/07 R) jedoch grundsätzlich die
Möglichkeit verneint, die Regelleistung bei Gewährung
von Krankenhauskost zu kürzen. Das Bundessozialge-
richt hebt ausdrücklich den Grundsatz der Pauschalie-
rung des Arbeitslosengeld II hervor und verneint die
Rechtsauffassung der Bundesregierung, dass das Be-
darfsdeckungsprinzip Grundlage für die Kürzung der Re-
gelleistung bei Gewährung von Krankenhauskost sei.

Die hier zur Debatte stehende Verordnung zur Berech-
nung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung
von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosen II/
Sozialgeld stellt nicht nur eine bürokratische Gängelung
en détail dar, sie hält auch nicht, was ihr Titel verspricht.
Der Gesetzgeber hat das BMAS in seiner Verordnungser-
mächtigung lediglich dazu ermächtigt, zu regeln, „wel-
che weiteren Einnahmen nicht als Einkommen zu berück-
sichtigen sind“ (§ 13 SGB II). Genau deshalb heißt es im
Titel der Verordnung auch: „Nichtberücksichtigung von
Einkommen und Vermögen“. Gleichwohl regelt das
BMAS ohne die nötige Rechtsetzungskompetenz, welche
Einnahmen als Einkommen zu berücksichtigen sind, so
auch bei der Regelung zur Verrechnung von Kranken-
hauskost mit dem Regelsatz. Eine Vielzahl von Sozialge-
richten hat in diesem Jahr wenige Monate nach Inkraft-
treten der ALG-II-Verordnung dem BMAS die nötige
Rechtsetzungskompetenz in dieser Frage abgesprochen.
Dieser Eingriff in die Leistungsauszahlung müsse durch
ein Gesetz geregelt werden. Auch das Bundessozialge-
richt hat in der genannten Entscheidung deutliche Zwei-
fel an der Rechtsetzungskompetenz des BMAS geäußert,
obwohl es in seiner Entscheidung nicht über die neue
ALG-II-Verordnung zu entscheiden hatte.

Trotz dieser erdrückenden juristischen Niederlage ist
das BMAS offenbar nicht bereit, sich die schweren hand-
werklichen Mängel der Verordnung einzugestehen und
die rechtswidrige Verordnungsregelung zurückzunehmen.
Aufgrund der nach wie vor bestehenden Rechtslage
musste die Bundesanstalt für Arbeit in der Geschäftsan-
weisung Nr. 28 vom 20. Juli 2008 die Leistungsbehörden
anweisen, die Entscheidung des Bundessozialgerichts
nicht anzuwenden. Die Sozialgerichte werden weiterhin
mit Klagen überhäuft, obwohl schon heute abzusehen ist,
dass das Bundessozialgericht in letzter Instanz auch die
neue Regelung zur Verrechung von Krankenhauskost auf



gegebene Reden






(A) (C)

Markus Kurth

den Regelsatz in der zum 1. Januar 2008 gültigen ALG-II-
Verordnung verwerfen wird.

Ich bitte Sie, mit uns der Uneinsichtigkeit von Arbeits-
minister Scholz ein Ende zu bereiten. Ich fordere Sie auf,
unserem Antrag, die ALG-II-Verordnung im Sinne des
Grundsatzes unbürokratischer, pauschalierter Leistungs-
gewährung zu überarbeiten, zuzustimmen.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1617943400

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-

schusses für Arbeit und Soziales. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/8445, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/7838 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –

Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD, CDU/CSU bei Gegenstimmen von
Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei
Enthaltung der Fraktion der FDP angenommen.

Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesord-
nung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 26. September 2008,
9 Uhr, ein.

Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen und al-
len Mitarbeitern noch einen schönen Abend.

Die Sitzung ist geschlossen.