Berichtigung
178. Sitzung, Seite 18948 (D), erster Absatz: Der
dritte Satz ist wie folgt zu lesen: „Mir scheint wichtig zu
sein, dass wir Pakistan nicht mehr nur als Helfer und Un-
terstützer im Kampf gegen die Taliban in Afghanistan se-
hen.“
(D)
(B)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19183
(A) (C)
(B) (D)
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung der NATO
zu einer Entlastung der Menschen in unserem Lande
führen sollen, dürfen dem Linksextremismus nicht in die
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Beck (Reutlingen),
Ernst-Reinhard
CDU/CSU 25.09.2008*
Bollen, Clemens SPD 25.09.2008
Brand, Michael CDU/CSU 25.09.2008
Brunnhuber, Georg CDU/CSU 25.09.2008
Dr. Bunge, Martina DIE LINKE 25.09.2008
Dreibus, Werner DIE LINKE 25.09.2008
Grindel, Reinhard CDU/CSU 25.09.2008
Gruß, Miriam FDP 25.09.2008
Gutting, Olav CDU/CSU 25.09.2008
Hänsel, Heike DIE LINKE 25.09.2008
Hintze, Peter CDU/CSU 25.09.2008
Kipping, Katja DIE LINKE 25.09.2008
Klug, Astrid SPD 25.09.2008
Lenke, Ina FDP 25.09.2008
Möller, Kornelia DIE LINKE 25.09.2008
Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 25.09.2008
Schauerte, Hartmut CDU/CSU 25.09.2008
Schily, Otto SPD 25.09.2008
Schmidt (Nürnberg),
Renate
SPD 25.09.2008
Scholz, Olaf SPD 25.09.2008
Staffelt, Grietje BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
25.09.2008
Dr. Troost, Axel DIE LINKE 25.09.2008
Wieczorek-Zeul,
Heidemarie
SPD 25.09.2008
Zeil, Martin FDP 25.09.2008
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 2
Erklärungen nach § 31 GO
zur namentlichen Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung zu dem Antrag: Entfer-
nungspauschale sofort vollständig anerkennen –
Verfassungsmäßigkeit und Steuergerechtigkeit
herstellen (Tagesordnungspunkt 5)
Dorothee Bär (CDU/CSU): Ich bin für die Wieder-
einführung der Pendlerpauschale ab dem ersten Kilome-
ter. Mein Wahlkreis Bad Kissingen besteht aus den
Landkreisen Haßberge, Rhön-Grabfeld und Bad Kissin-
gen. Eine Wiedereinführung der Pendlerpauschale ab
dem ersten Kilometer würde allein in dieser Region
34 000 Menschen entlasten. Tausende unserer Bürger
haben sich an der Unterschriftenaktion zur Wiederein-
führung der Pendlerpauschale der Jungen Union Bayern
beteiligt. Sie haben damit deutlich gemacht, dass sie ent-
lastet werden müssen. Im ländlichen Raum ist es für
viele selbstverständlich, dass sich der Arbeitsplatz nicht
vor der Haustür befindet. Oftmals werden lange Stre-
cken in Kauf genommen, um einer Arbeit nachzugehen
und die Sozialkassen dieses Landes nicht zu belasten.
Der Staat hat sich diesen Menschen an die Seite zu stel-
len. Darüber hinaus stärkt eine Entlastung dieser Men-
schen durch die Wiedereinführung der Pendlerpauschale
auch den ländlichen Raum. Denn Menschen, die sich ei-
nen langen Weg zur Arbeit nicht leisten können, werden
mittelfristig in die Ballungszentren ziehen, sodass sich
der ländliche Raum weiter entvölkert. Die CSU führt
derzeit intensive Verhandlungen mit ihren Koalitions-
partnern, um eine Wiedereinführung zum 1. Januar 2009
zu erreichen. Unterstützt werden wir bei unserem Anlie-
gen durch einen entsprechenden Antrag des Freistaates
Bayern im Bundesrat, der von der CSU-geführten baye-
rischen Staatsregierung auf den Weg gebracht wurde.
Diese Initiative verfolgen wir konsequent und erwarten
am Ende der Verhandlungen, dass eine Entlastung der
Bürgerinnen und Bürger in Deutschland mehrheitsfähig
wird. Davon wollen wir auch die Kolleginnen und Kol-
legen aus den Reihen von SPD und CDU überzeugen,
die sich bisher unserer Forderung nach einer Entlastung
der Bürgerinnen und Bürger bereits ab dem 1. Januar
2009 entziehen.
Unehrliche, wahlkampfmotivierte Schaufensteran-
träge der Fraktion Die Linke bin ich jedoch nicht bereit
zu unterstützen. Ich kann und werde keinem Antrag ei-
ner Partei zustimmen, die die Gesellschaftsordnung un-
seres Landes nicht akzeptiert, sich gegen diese wendet
und die Grundlagen unseres Zusammenlebens wie die
soziale Marktwirtschaft ablehnt. Die Partei Die Linke
wird zu Recht vom Verfassungsschutz beobachtet. Sie ist
die direkte Nachfolgerin der SED, die für die Verbrechen
in der DDR und den Schießbefehl an der innerdeutschen
Grenze verantwortlich ist. Wichtige Entscheidungen, die
19184 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
(A) (C)
(B) (D)
Hand gegeben werden. Unterstützung von Anträgen ei-
ner solchen Partei kann daher von Demokraten nicht er-
wartet werden.
Veronika Bellmann (CDU/CSU): Das Politikspek-
takel, das SED/PDS/Die Linke mit ihrem Antrag be-
zweckt, lehne ich entschieden ab. Die programmatischen
Eckpunkte von SED/PDS/Die Linke fordern eine Poli-
tik, die Deutschland international isoliert, die Funda-
mente des Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft
gefährdet und eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und
Bürger Deutschlands massiv bedroht. Von dieser Partei
grenze ich mich ausdrücklich ab.
Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur
Abstimmung stellt, geht es ihr ganz offensichtlich nicht
um die Sache. Im Gegenteil, alle Sachargumente dienen
der SED/PDS/Die Linke lediglich für ein durchsichtiges
taktisches Manöver, insbesondere im unmittelbaren Vor-
feld der bayerischen Landtagswahl. Das ist meines Er-
achtens ein Missbrauch und eine Instrumentalisierung
des demokratischen Abstimmungsverfahrens zu populis-
tischen Zwecken. Aus diesem Grund lehne ich den An-
trag ab.
Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes-
tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und
Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt
haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke
von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir
deutlich zurückführen können. Der Wegfall der steuerli-
chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome-
ter des Weges zur Arbeit war 2006 der Versuch eines
Beitrags zur Konsolidierung. Die Entspannung der Lage
der öffentlichen Haushalte, die 2007 erstmals wieder
schwarze Zahlen schrieben, macht aus unserer Sicht eine
Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich – auch
ohne den Vorrang der Sanierung der Haushalte des Bun-
des und der Länder, der Kommunen und Sozialversiche-
rungen aufzugeben. Angesichts der konjunkturellen
Lage und der seit der damaligen Entscheidung deutlich
gestiegenen Treibstoffpreise halte ich eine Rückkehr zur
alten Pendlerpauschale für geboten und gerecht.
Dies umso mehr, solange es aus Gleichbehandlungs-
grundsätzen gegenüber Selbstständigen und Freiberuf-
lern geboten erscheint, dass auch Arbeitnehmer die
notwendigen Aufwendungen zur Erzielung von Einkom-
men steuerlich absetzen können. Insofern wiegt dieses
verfassungsrechtliche Argument meines Erachtens nach
schwerer als die notwendige Haushaltskonsolidierung.
Solange also das sogenannte Werkstorprinzip keine ge-
nerelle Gültigkeit für alle hat bzw. es keine Steuerreform
zur Vereinfachung insbesondere im Sinne des Wegfalls
aller derartigen steuerlichen Absetzungsmöglichkeiten
gibt, ist die Wiedereinführung der Fahrtkostenpauschale
ab dem ersten Kilometer gerechtfertigt.
Klaus Brähmig (CDU/CSU): Als CDU, CSU und
SPD nach der letzten Bundestagswahl ihren Koalitions-
vertrag geschlossen und Dr. Angela Merkel zur neuen
Bundeskanzlerin gewählt haben, klaffte im Bundeshaus-
halt eine strukturelle Lücke von 60 Milliarden Euro jähr-
lich. Diese Lücke haben wir deutlich zurückführen kön-
nen. Der Wegfall der steuerlichen Absetzbarkeit für die
ersten 20 Entfernungskilometer des Weges zur Arbeit
war 2006 ein unvermeidbarer Beitrag zur Konsolidie-
rung. Die Entspannung der Lage der öffentlichen Haus-
halte, die 2007 erstmals wieder schwarze Zahlen schrie-
ben, macht aus meiner Sicht eine Rückkehr zur alten
Pendlerpauschale möglich – auch ohne den Vorrang der
Sanierung der Haushalte des Bundes und der Länder, der
Kommunen und Sozialversicherungen aufzugeben.
Persönlich hege ich eine große Sympathie für die For-
derung nach der Wiedereinführung der Pendlerpau-
schale. Denn aufgrund der Reformen am Arbeitsmarkt
haben wir den Arbeitern und Angestellten auch ein deut-
lich höheres Maß an Flexibilität bei der Arbeitsplatzsu-
che abgefordert. Die Wiedereinführung der vollen Pend-
lerpauschale würde die Einnahmen des Staates derzeit
um 2,4 Milliarden Euro senken. Diese Mindereinnah-
men des Staates müssen dann an anderer Stelle durch
Einsparungen, zusätzliche Steuern oder Neuverschul-
dung erwirtschaftet werden.
Angesichts der konjunkturellen Lage und der seit der
damaligen Entscheidung deutlich gestiegenen Treib-
stoffpreise halte ich also eine Rückkehr zur alten Pend-
lerpauschale für geboten und gerecht. Eine sofortige
Umsetzung scheitert aber am Koalitionsvertrag, der ver-
pflichtet, einheitlich abzustimmen.
Außerdem möchte ich daran erinnern, dass das Bun-
desverfassungsgericht im September 2008 die Verhand-
lungen zu diesem Themenkomplex aufgenommen hat
und für Dezember 2008 ein Urteil in Aussicht stellt. In-
sofern halte ich es für richtig, dass wir das Urteil des
BVG abwarten und uns bis dahin Gedanken darüber ma-
chen, wie eine Rückkehr zur Pendlerpauschale solide fi-
nanziert werden soll. Das ist meine Vorstellung von ver-
antwortlicher Politik und deswegen stimme ich heute
gegen den populistischen Antrag der Linkspartei.
Alexander Dobrindt (CDU/CSU): Ich bin für die
Wiedereinführung der Pendlerpauschale ab dem ersten
Kilometer.
Um dieses Ziel in der Großen Koalition zu erreichen,
führt die CSU derzeit intensive Verhandlungen mit ihren
Koalitionspartnern, um eine Wiedereinführung zum
1. Januar 2009 zu erreichen. Unterstützt werden wir bei
unserem Anliegen durch einen entsprechenden Antrag
des Freistaates Bayern im Bundesrat, der von der CSU-
geführten Bayerischen Staatsregierung auf den Weg ge-
bracht wurde. Diese Initiative verfolgen wir konsequent
und erwarten am Ende der Verhandlungen, dass eine
Entlastung der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland
mehrheitsfähig wird. Davon wollen wir auch die Kolle-
ginnen und Kollegen aus den Reihen von SPD und CDU
überzeugen, die sich bisher unserer Forderung nach ei-
ner Entlastung der Bürgerinnen und Bürger bereits ab
dem 1. Januar 2009 entziehen.
Unehrliche, wahlkampfmotivierte Schaufensteran-
träge der Fraktion Die Linke bin ich jedoch nicht bereit
zu unterstützen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19185
(A) (C)
(B) (D)
Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Mit dem
Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur Abstim-
mung stellt, geht es ihr nicht um die Sache, sondern um
ein durchsichtiges taktisches Manöver.
Als CDU/CSU und SPD nach der letzten Bundestags-
wahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und
Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt
haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke
von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir
deutlich zurückführen können. Der Wegfall der steuerli-
chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome-
ter des Weges zur Arbeit war 2006 ein Beitrag zur Kon-
solidierung. Die Entspannung der Lage der öffentlichen
Haushalte, die 2007 erstmals wieder schwarze Zahlen
schrieben, und die inzwischen aufgekommenen rechtli-
chen Zweifel, ob die Abschaffung mit dem Netto-Prin-
zip im Steuerrecht vereinbar ist, machen aus meiner
Sicht eine Überprüfung der Abschaffung erforderlich.
Das Politikspektakel, das die Linken mit ihrem An-
trag bezwecken, lehne ich entschieden ab. Die program-
matischen Eckpunkte der Linken fordern eine Politik,
die Deutschland international isoliert, die Fundamente
des Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft ge-
fährdet und eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und
Bürger Deutschlands massiv bedroht. Ich grenze mich
eindeutig von dieser Partei ab.
Eberhard Gienger (CDU/CSU): Mit dem Antrag,
den die Fraktion Die Linke heute zur Abstimmung stellt,
geht es ihr nicht um die Sache, sondern um ein durch-
sichtiges taktisches Manöver.
Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes-
tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und
Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt
haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke
von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir
deutlich zurückführen können. Der Wegfall der steuerli-
chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome-
ter des Weges zur Arbeit war 2006 ein unvermeidbarer
Beitrag zur Konsolidierung. Die Entspannung der Lage
der öffentlichen Haushalte, die 2007 erstmals wieder
schwarze Zahlen schrieben, macht aus meiner Sicht eine
Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich – auch
ohne den Vorrang der Sanierung der Haushalte des Bun-
des und der Länder, der Kommunen und Sozialversiche-
rungen aufzugeben. Angesichts der konjunkturellen
Lage und der seit der damaligen Entscheidung deutlich
gestiegenen Treibstoffpreise halte ich eine Rückkehr zur
alten Pendlerpauschale für geboten und gerecht.
Das Politikspektakel, das die Linken mit ihrem An-
trag bezwecken, lehne ich entschieden ab.
Die programmatischen Eckpunkte der Linken fordern
eine Politik, die Deutschland international isoliert, die
Fundamente des Rechtsstaats und der sozialen Markt-
wirtschaft gefährdet und eine gute Zukunft für die Bür-
gerinnen und Bürger Deutschlands massiv bedroht. Ich
grenze mich eindeutig von dieser Partei ab.
Robert Hochbaum (CDU/CSU): Die Koalitions-
fraktionen haben nach der Bundestagswahl im Koali-
tionsvertrag beschlossen, den Weg zurück zu solider
öffentlicher Haushaltspolitik zu finden. Bei Regierungs-
übernahme der Union klaffte im Bundeshaushalt eine
strukturelle Lücke von 60 Milliarden Euro jährlich. Fak-
tisch gilt zweierlei – der Staat darf und kann zum einen
nicht dauerhaft mehr ausgeben, als er einnimmt. Zum
anderen sind auch die Einnahmen nicht unbegrenzt zu
steigern. Die Haushaltskonsolidierung bei gleichzeitig
steigenden Investitionen ist einer der zentralen Punkte
dieser Koalition.
Die Haushaltslücke haben wir in den nunmehr rund
drei Regierungsjahren deutlich zurückführen können.
Der Wegfall der steuerlichen Absetzbarkeit für die ersten
20 Entfernungskilometer des Weges zur Arbeit war 2006
dabei ein unvermeidbarer Beitrag zu dieser Konsolidie-
rung.
Die Entspannung der Lage der öffentlichen Haus-
halte, die 2007 insgesamt erstmals wieder schwarze Zah-
len schrieben, ermöglicht nun gewisse Spielräume. Da-
bei darf der Vorrang der Sanierung der Haushalte des
Bundes und der Länder, der Kommunen und Sozialversi-
cherungen nicht aufgegeben werden. Angesichts der gu-
ten konjunkturellen Lage und der seit der damaligen Ent-
scheidung deutlich gestiegenen Kraftstoffpreise, deren
Steigerungen nicht bzw. kaum von der Politik veranlasst
sind, halte ich eine Entlastung der beruflich veranlassten
Mobilität wie auch der gewerblichen Verkehre für drin-
gend nötig und geboten.
Eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale wäre aber
der falsche Weg. Sicher würden damit auch die ersten
20 Kilometer des Arbeitsweges wieder berücksichtigt –
auch die alte Kappungsobergrenze bei 100 Kilometer
würde aber wieder eintreten. Letzteres wäre aber für die
vielen Fernpendler, die es vor allem im Osten Deutsch-
lands gibt, eine massive Benachteiligung.
Bei genauem Hinsehen kommt hinzu, dass es sich ei-
gentlich bei der Pendlerpauschale um eine unsoziale
Maßnahme handelt. Einkommensschwache Pendler un-
terliegen häufig nur der beschränkten Einkommensteuer-
pflicht und können somit keine Pendlerpauschale über
Werbungskosten anrechnen.
Wir brauchen stattdessen eine differenzierte Rege-
lung, die allen Arbeitnehmern und dem gewerblichen
Verkeher gerecht wird. Die Senkung der Lohnnebenkos-
ten, so wie es bei der Arbeitslosenversicherung vorgese-
hen ist, wäre zudem ein entschieden besserer Weg, Ar-
beitnehmer zu entlasten.
Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU): Mit dem
Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur Abstim-
mung stellt, geht es ihr nicht um die Sache, sondern um
ein durchsichtiges taktisches Manöver.
Der Wegfall der steuerlichen Absetzbarkeit für die
ersten 20 Entfernungskilometer des Weges zur Arbeit
war 2006 ein unvermeidbarer Beitrag zur Konsolidie-
rung des Bundeshaushaltes. Die Entspannung der Lage
der öffentlichen Haushalte macht aus meiner Sicht die
19186 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
(A) (C)
(B) (D)
Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich. Vor dem
Hintergrund der seit der damaligen Entscheidung deut-
lich gestiegen Treibstoffpreise halte ich die Rückkehr
zur alten Pendlerpauschale gerade für die Menschen im
ländlichen Raum für geboten.
Ich halte aber nach wie vor daran fest, zunächst das
im Dezember dieses Jahres zu erwartende Verfassungs-
gerichtsurteil abzuwarten und auf dessen Basis zu einer
entsprechenden Veränderung der Pendlerpauschale zu
kommen.
Das Politspektakel der Fraktion Die Linke lehne ich
entschieden ab. Deshalb stimme ich heute gegen diesen
Antrag.
Dr. Peter Jahr (CDU/CSU): Dem Antrag der Frak-
tion Die Linke „Entfernungspauschale sofort vollständig
anerkennen – Verfassungsmäßigkeit und Steuergerech-
tigkeit herstellen“ kann ich nicht zustimmen.
Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes-
tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und
Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt
haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke
von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir
deutlich zurückführen können. Der Wegfall der steuerli-
chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome-
ter des Weges zur Arbeit war 2006 ein unvermeidbarer
Beitrag zur Konsolidierung.
Die Entspannung der Lage der öffentlichen Haus-
halte, die 2007 erstmals wieder schwarze Zahlen schrie-
ben, macht aus meiner Sicht eine Rückkehr zur alten
Pendlerpauschale möglich – auch ohne den Vorrang der
Sanierung der Haushalte des Bundes und der Länder, der
Kommunen und Sozialversicherungen aufzugeben. An-
gesichts der konjunkturellen Lage und der seit der dama-
ligen Entscheidung deutlich gestiegenen Treibstoffpreise
halte ich eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale für
geboten und gerecht. Diese Auffassung wollen die Be-
fürworter der Wiedereinführung der Pendlerpauschale in
der Koalition mit Nachdruck durchsetzen. Auch wenn
die Mehrheit in der Koalition für diese Auffassung noch
nicht gewonnen ist, werde ich mich weiter dafür einset-
zen.
Dr. Hans-Heinrich Jordan (CDU/CSU): Mit dem
Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur Abstim-
mung stellt, geht es ihr nicht um die Sache, sondern um
ein durchsichtiges taktisches Manöver.
Der Wegfall der steuerlichen Absetzbarkeit für die
ersten 20 Entfernungskilometer des Weges zur Arbeit
war 2006 ein unvermeidbarer Beitrag zur Konsolidie-
rung des Bundeshaushaltes. Die Entspannung der Lage
der öffentlichen Haushalte macht aus meiner Sicht die
Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich. Vor dem
Hintergrund der seit der damaligen Entscheidung deut-
lich gestiegenen Treibstoffpreise halte ich die Rückkehr
zur alten Pendlerpauschale gerade für die Menschen im
ländlichen Raum für geboten.
Ich halte aber nach wie vor daran fest, zunächst das
im Dezember dieses Jahres zu erwartende Verfassungs-
gerichtsurteil abzuwarten und auf dessen Basis zu ei-
ner entsprechenden Veränderung der Pendlerpauschale
zu kommen.
Das Politspektakel der Fraktion Die Linke lehne ich
entschieden ab. Deshalb stimme ich heute gegen diesen
Antrag.
Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): Das
Politikspektakel, das SED/PDS/Die Linke mit ihrem An-
trag bezweckt, lehne ich entschieden ab. Die program-
matischen Eckpunkte von SED/PDS/Die Linke fordern
eine Politik, die Deutschland international isoliert, die
Fundamente des Rechtsstaats und der sozialen Markt-
wirtschaft gefährdet und eine gute Zukunft für die Bür-
gerinnen und Bürger Deutschlands massiv bedroht. Von
dieser Partei grenze ich mich ausdrücklich ab.
Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur
Abstimmung stellt, geht es ihr ganz offensichtlich nicht
um die Sache. Im Gegenteil: Die Sachargumente dienen
der SED/PDS/Die Linke lediglich für ein durchsichtiges
taktisches Manöver, insbesondere im unmittelbaren Vor-
feld der bayerischen Landtagswahl. Das ist meines Er-
achtens ein Missbrauch und eine Instrumentalisierung
des demokratischen Abstimmungsverfahrens zu populis-
tischen Zwecken. Aus diesem Grund lehne ich den An-
trag ab.
Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes-
tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und
Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt
haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke
von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir
deutlich zurückführen können. Der Wegfall der steuerli-
chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome-
ter des Weges zur Arbeit war 2006 der Versuch eines
Beitrags zur Konsolidierung. Die Entspannung der Lage
der öffentlichen Haushalte, die 2007 erstmals wieder
schwarze Zahlen schrieben, macht aus unserer Sicht eine
Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich – auch
ohne den Vorrang der Sanierung der Haushalte des Bun-
des und der Länder, der Kommunen und Sozialversiche-
rungen aufzugeben. Angesichts der konjunkturellen
Lage und der seit der damaligen Entscheidung deutlich
gestiegenen Treibstoffpreise halte ich eine Rückkehr zur
alten Pendlerpauschale für geboten und gerecht.
Paul Lehrieder (CDU/CSU): Der Vorstand der CSU
hat am 5. Mai 2008 einstimmig das neue Steuerkonzept
der Partei beschlossen. In diesem Paket war unter ande-
rem – dies erkennt die Linkspartei mit ihrem zur Abstim-
mung gestellten Antrag an – die Wiedereinführung der
Entfernungspauschale für Fahrten zwischen Wohnung
und Arbeitsstätte zum 1. Januar 2009 vorgesehen. Zwi-
schenzeitlich hat die CSU im Bundesrat einen entspre-
chenden Antrag eingebracht, welcher jedoch mit den an-
deren Bundesländern noch abzustimmen ist. In gleicher
Weise verhält es sich mit der Meinungsbildung mit den
Kolleginnen und Kollegen der CDU-Fraktion wie auch
mit den Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion.
Zum jetzigen Zeitpunkt ist eine Mehrheit in der Koali-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19187
(A) (C)
(B) (D)
tion, so sehr das Anliegen aus meiner Sicht auch berech-
tigt ist, bedauerlicherweise noch nicht zu erkennen.
Ein entsprechender Antrag der Linkspartei wurde im
Finanzausschuss am 16. Juni 2008 lediglich mit den
Stimmen der FDP und der Linken befürwortet bei
Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Selbst für den Fall, dass neben der Linkspartei auch
die FDP dem Antrag der Linkspartei zustimmen würde,
ergibt dies auch unter gedachter Einbeziehung der CSU-
Stimmen im günstigsten Fall circa 150 Stimmen. Somit
würde allenfalls ein Viertel der Mitglieder des Bundesta-
ges zustimmen. Der Antrag ist zum jetzigen Zeitpunkt
von einer Mehrheit im Bundestag noch viel zu weit ent-
fernt, um diesen bereits jetzt einzubringen.
Insofern muss der Antrag der Linkspartei schlicht als
populistisch und als Versuch einer Meinungsdifferenz
zwischen den CSU-Kollegen im Bayerischen Landtag
und den CSU-Bundestagsabgeordneten angesehen wer-
den. Nachdem zudem das Finanzministerium und auch
die SPD-Fraktion Bewegung erst für den Zeitpunkt des
Vorliegens der Entscheidung des Bundesverfassungsge-
richts, welche zum Jahresende zu erwarten ist, signali-
siert hat, ist ein entsprechender Antrag auf Wiederein-
führung der Pendlerpauschale erfolgversprechend wohl
erst zum Jahresende im parlamentarischen Verfahren
sinnvoll auf den Weg zu bringen. Nachdem bereits Max
Weber zutreffend den Spruch geprägt hat, dass Politik
das Bohren harter Bretter mit Leidenschaft und Augen-
maß ist, ist dem hier vorliegenden Antrag der Linkspar-
tei das entsprechende Augenmaß bedauerlicherweise ab-
zusprechen.
So sehr das Anliegen in der Sache richtig ist – zum
jetzigen Zeitpunkt ist es zum Scheitern verurteilt. Des-
halb ist ohne entsprechende Meinungsbildung und Über-
zeugungsarbeit in der Schwesterpartei sowie beim
Koalitionspartner der Antrag zum jetzigen Zeitpunkt ab-
zulehnen.
Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur
Abstimmung stellt, geht es ihr nicht um die Sache, son-
dern um ein durchsichtiges taktisches Manöver.
Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes-
tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und
Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt
haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke
von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir
deutlich zurückführen können. Der Wegfall der steuerli-
chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome-
ter des Weges zur Arbeit war 2006 ein unvermeidbarer
Beitrag zur Konsolidierung. Die Entspannung der Lage
der öffentlichen Haushalte, die 2007 erstmals wieder
schwarze Zahlen schrieben, macht aus unserer Sicht eine
Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich – auch
ohne den Vorrang der Sanierung der Haushalte des Bun-
des und der Länder, der Kommunen und Sozialversiche-
rungen aufzugeben. Angesichts der konjunkturellen
Lage und der seit der damaligen Entscheidung deutlich
gestiegenen Treibstoffpreise halten wir eine Rückkehr
zur alten Pendlerpauschale für geboten und gerecht.
Diese Auffassung wollen wir in der Koalition mit Nach-
druck durchsetzen. Die Bayerische Staatsregierung hat
hierzu eine Gesetzesinitiative beschlossen, die im Bun-
desrat beraten wird. Auch wenn wir die Koalition für
unsere Auffassung noch nicht gewonnen haben, den Ko-
alitionsvertrag halten wir ein. Er verpflichtet uns, ein-
heitlich abzustimmen.
Das Politikspektakel, das die Linken mit ihrem
Antrag bezwecken, lehnen wir entschieden ab. Die pro-
grammatischen Eckpunkte der Linken fordern eine Poli-
tik, die Deutschland international isoliert, die Funda-
mente des Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft
gefährdet und eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und
Bürger Deutschlands massiv bedroht. Wir grenzen uns
eindeutig von dieser Partei ab.
Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Ich bin für
die Wiedereinführung der Pendlerpauschale ab dem ers-
ten Kilometer.
Um dieses Ziel in der Großen Koalition zu erreichen,
führt die CSU derzeit intensive Verhandlungen mit ihren
Koalitionspartnern, um eine Wiedereinführung zum
1. Januar 2009 zu erreichen. Unterstützt werden wir bei
unserem Anliegen durch einen entsprechenden Antrag
des Freistaates Bayern im Bundesrat, der von der CSU-
geführten Bayerischen Staatsregierung auf den Weg ge-
bracht wurde. Diese Initiative verfolgen wir konsequent
und erwarten am Ende der Verhandlungen, dass eine
Entlastung der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland
mehrheitsfähig wird. Davon wollen wir auch die Kolle-
ginnen und Kollegen aus den Reihen von SPD und CDU
überzeugen, die sich bisher unserer Forderung nach ei-
ner Entlastung der Bürgerinnen und Bürger bereits ab
dem 1. Januar 2009 entziehen.
Normalverdiener und Familien in Deutschland brau-
chen eine solche Entlastung und erwarten von der Politik
entsprechende Entlastungsschritte. Dies zeigt sich auch
an der Beteiligung Zehntausender Bürgerinnen und Bür-
ger an der Unterschriftenkampagne der Jungen Union
Bayern für die Wiedereinführung der alten Pendlerpau-
schale. Unehrliche und wahlkampfmotivierte Schaufens-
teranträge, die keine Aussicht auf eine Mehrheit im
Deutschen Bundestag haben, helfen den Betroffenen al-
lerdings nicht.
Derartige Anträge der Fraktion Die Linke bin ich
nicht bereit, zu unterstützen. Ich kann und werde keinem
Antrag einer Partei zustimmen, die die Gesellschaftsord-
nung unseres Landes nicht akzeptiert und die Grundla-
gen unseres Zusammenlebens wie die soziale Marktwirt-
schaft ablehnt. Die Partei Die Linke wird zu Recht vom
Verfassungsschutz beobachtet. Unterstützung von Anträ-
gen einer solchen Partei kann daher von Demokraten
nicht erwartet werden.
Henning Otte (CDU/CSU): Mit dem Antrag, den die
Fraktion Die Linke heute zur Abstimmung stellt, geht es
ihr nicht um die Sache, sondern um ein durchsichtiges
taktisches Manöver.
Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes-
tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und
19188 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt
haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke
von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir
deutlich zurückführen können. Der Wegfall der steuerli-
chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome-
ter des Weges zur Arbeit war 2006 ein unvermeidbarer
Beitrag zur Konsolidierung. Die Entspannung der Lage
der öffentlichen Haushalte, die 2007 erstmals wieder
schwarze Zahlen schrieben, macht aus meiner Sicht eine
Rückkehr zur alten Pendlerpauschale oder eine andere
steuerliche Kompensation möglich – auch ohne den Vor-
rang der Sanierung der Haushalte des Bundes und der
Länder, der Kommunen und Sozialversicherungen auf-
zugeben. Angesichts der konjunkturellen Lage und der
seit der damaligen Entscheidung deutlich gestiegenen
Treibstoffpreise halte ich eine Rückkehr zur alten Pend-
lerpauschale oder eine andere steuerliche Kompensation
für geboten und gerecht. Diese Auffassung möchte ich in
der Koalition durchsetzen.
Das Politikspektakel, das die Linken mit ihrem An-
trag bezwecken, lehne ich entschieden ab. Die program-
matischen Eckpunkte der Linken fordern eine Politik,
die Deutschland international isoliert, die Fundamente
des Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft ge-
fährdet und eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und
Bürger Deutschlands massiv bedroht. Ich grenze mich
eindeutig von dieser Partei ab.
Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): Mit Beginn
der Legislaturperiode hat die Koalition aus CDU/CSU
und SPD ein strukturelles jährliches Haushaltsdefizit von
rund 60 Milliarden Euro übernommen. Aus dieser Haus-
haltssituation heraus war es sowohl aus der gesamtstaat-
lichen Verantwortung als auch aus Gründen der Genera-
tionengerechtigkeit geboten, diese fortschreitende
Verschuldung nicht nur zu bremsen, sondern zu stoppen.
Das Ziel eines ausgeglichenen Haushaltes hat sich die
Koalition für 2011 gesetzt, und wir sind durch die Konso-
lidierungsleistungen der Koalition mittlerweile auf ei-
nem guten Weg dorthin.
Vor dem Hintergrund der verfassungswidrigen Haus-
haltssituation am Ende der vergangenen Legislaturperi-
ode war damit neben anderen Maßnahmen der Wegfall
der steuerlichen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfer-
nungskilometer des Weges zur Arbeit ein unvermeidba-
rer Beitrag zur Konsolidierung. Heute stellt sich die
Situation verändert dar. Die Entspannung der Lage der
öffentlichen Haushalte, die 2007 erstmals wieder
schwarze Zahlen schrieben, eröffnet aus meiner Sicht die
Möglichkeit, zur alten Pendlerpauschale zurückzukeh-
ren, ohne den Vorrang der Sanierung der Haushalte des
Bundes und der Länder, der Kommunen und Sozialversi-
cherungen aufzugeben. Angesichts der konjunkturellen
Lage und der seit der damaligen Entscheidung deutlich
gestiegenen Treibstoffpreise halte ich dabei eine Rück-
kehr zur alten „Pendlerpauschale“ für geboten und ge-
recht.
Wenngleich auch ich demnach eine Rückkehr zur al-
ten Pendlerpauschale befürworte, lehne ich den vorlie-
genden Antrag der Linken entschieden ab. Er entspringt
nicht sachpolitischen Erwägungen, sondern erhebt pla-
kativ Forderungen, die zum Beispiel hinsichtlich der
angesprochenen Verfassungsmäßigkeit im Bereich des
Nettoprinzips nicht schlüssig sind. Die jetzige Forde-
rung, vor der endgültigen Klärung der verfassungsrecht-
lichen Lage, entlarvt damit den Antrag als ein rein poli-
tisch-taktisches Manöver.
Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Im Angesicht der
deutlich gestiegenen Kraftstoffpreise bin ich für die Ent-
lastung beruflich veranlasster Mobilität. Insbesondere
Familien in den ländlichen Räumen, die ihren Arbeits-
platz nicht in jedem Falle in der unmittelbaren Umge-
bung finden, brauchen Entlastung.
Die Koalitionsfraktionen haben nach der Bundestags-
wahl im Koalitionsvertrag vereinbart, den Weg zurück
zu solider öffentlicher Haushaltspolitik zu gehen. Bei
Regierungsübernahme der Union klaffte im Bundes-
haushalt eine strukturelle Lücke von 60 Milliarden Euro
jährlich – die Bilanz von sieben Jahren rot-grüner Haus-
haltspolitik, die nicht nachhaltig war und Lasten in die
Zukunft wälzte. Auch der Staat kann und darf nicht dau-
erhaft mehr ausgeben, als er einnimmt, und die Einnah-
men sind nicht unbegrenzt steigerungsfähig – weder tat-
sächlich, noch ist die Steigerung der Staatsquote mein
politischer Anspruch. Die Haushaltskonsolidierung bei
gleichzeitig steigenden Investitionen ist einer der zentra-
len Punkte dieser Koalition, in seiner Wichtigkeit kaum
zu überschätzen. Diese Haushaltslücke haben wir in den
nunmehr rund drei Regierungsjahren deutlich zurück-
führen können. Der Wegfall der steuerlichen Absetzbar-
keit für die ersten 20 Entfernungskilometer des Weges
zur Arbeit war 2006 ein unvermeidbarer Beitrag zu die-
ser Konsolidierung. Unter den damaligen Rahmenbedin-
gungen war die Entscheidung richtig.
Die Entspannung der Lage der öffentlichen Haus-
halte, die 2007 insgesamt erstmals wieder schwarze Zah-
len schrieben, ermöglicht nun gewisse Spielräume. Da-
bei darf der Vorrang der Sanierung der Haushalte des
Bundes und der Länder, der Kommunen und gesetzli-
chen Sozialversicherungen aber nicht infrage gestellt
werden. Angesichts der guten konjunkturellen Lage und
der seit der damaligen Entscheidung deutlich gestiege-
nen Kraftstoffpreise, deren Steigerungen kaum von der
Politik veranlasst sind, halte ich eine Entlastung der be-
ruflich veranlassten Mobilität wie auch des gewerbli-
chen Verkehrs für dringend nötig und geboten.
Die Rückkehr zur alten Pendlerpauschale wäre der
falsche Weg. Sicher würden damit auch die ersten 20 Ki-
lometer des Arbeitsweges wieder berücksichtigt – die
alte Kappungsobergrenze bei 100 Kilometern würde
aber ebenfalls wieder zurückkehren. Das wären für die
Fempendler meiner Heimat Steine statt Brot. Wir brau-
chen eine differenzierte Regelung, die Arbeitnehmern
und gewerblichem Verkehr gerecht wird.
Ohne eine solide haushälterische Gegenfinanzierung,
die – fast bin ich geneigt, zu sagen natürlich – von der
PDS auch hier wie immer nicht angeboten wird, ist eine
Lösung für mich nicht denkbar. Die PDS aber setzt lei-
der auch mit diesem Antrag ein weiteres Mal einseitig
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19189
(A) (C)
(B) (D)
auf populistisches Spektakel, auf leere unfinanzierbare
Versprechungen.
Ein Antrag einer extremistischen Partei, rechts- wie
linksextremistisch, ist für mich zudem generell nicht
zustimmungsfähig. Die SED-Nachfolgepartei stellt per-
manent den gesellschaftlichen Grundkonsens der Demo-
kraten, Grundlagen unseres Zusammenlebens wie die
soziale Marktwirtschaft infrage.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Monika Grütters, Ingo Schmitt
(Berlin), Kai Wegner, und Karl-Georg Wellmann
(alle CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung
über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag:
Entfernungspauschale sofort vollständig aner-
kennen – Verfassungsmäßigkeit und Steuerge-
rechtigkeit herstellen (Tagesordnungspunkt 5)
Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur
Abstimmung stellt, geht es ihr nicht um die Sache, son-
dern um ein durchsichtiges taktisches Manöver.
Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes-
tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und
Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt
haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke
von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir
nach und nach schmaler werden lassen. Der Wegfall der
steuerlichen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfer-
nungskilometer des Weges zur Arbeit war 2006 ein un-
vermeidbarer Beitrag zur Konsolidierung. Die Entspan-
nung der Lage der öffentlichen Haushalte, die 2007
erstmals wieder schwarze Zahlen schrieben, macht aus
unserer Sicht eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale
möglich – ohne den Vorrang der Sanierung der Haus-
halte des Bundes und der Länder, der Kommunen und
Sozialversicherungen aufgeben zu müssen. Angesichts
der konjunkturellen Lage und der seit der damaligen
Entscheidung deutlich gestiegenen Treibstoffpreise hal-
ten wir eine veränderte Pendlerpauschale für geboten
und gerecht. Diese Auffassung wollen wir in der Koali-
tion durchsetzen. Auch wenn uns dies noch nicht ge-
glückt ist – den Koalitionsvertrag halten wir ein, der ver-
pflichtet, einheitlich abzustimmen.
Das Politikspektakel, das die Linken mit ihrem Antrag
bezwecken, lehnen wir entschieden ab. Die programma-
tischen Eckpunkte der Linken fordern eine Politik, die
Deutschland international isoliert, die Fundamente des
Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft gefährdet
und eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und Bürger
Deutschlands massiv bedroht. Wir grenzen uns eindeutig
von dieser Partei ab.
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Monika Brüning und Rita
Pawelski (beide CDU/CSU) zur namentlichen
Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu
dem Antrag: Entfernungspauschale sofort voll-
ständig anerkennen – Verfassungsmäßigkeit und
Steuergerechtigkeit herstellen (Tagesordnungs-
punkt 5)
Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur
Abstimmung stellt, geht es ihr nicht um die Sache, son-
dern um ein durchsichtiges taktisches Manöver.
Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes-
tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und
Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt
haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke
von 60 Milliarden Euro jährlich. Dieses Defizit konnte
deutlich zurückgeführt werden. Der Wegfall der steuerli-
chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome-
ter des Weges zur Arbeit war 2006 ein unvermeidbarer
Beitrag zur Konsolidierung. Die Entspannung der Lage
der öffentlichen Haushalte, die 2007 erstmals wieder
schwarze Zahlen schrieben, macht aus unserer Sicht eine
Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich – auch
ohne den Vorrang der Sanierung der Haushalte des Bun-
des und der Länder, der Kommunen und Sozialversiche-
rungen aufzugeben. Angesichts der konjunkturellen
Lage und der seit 2005 deutlich gestiegenen Treibstoff-
preise halten wir eine Rückkehr zur alten Pendlerpau-
schale für angemessen.
Das Politikspektakel, das die Linken mit ihrem Antrag
bezwecken, lehnen wir entschieden ab. Die programma-
tischen Eckpunkte der Linken fordern eine Politik, die
Deutschland international isoliert, die Fundamente des
Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft gefährdet
und eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und Bürger
Deutschlands massiv bedroht.
Anlage 5
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Karl-Theodor Freiherr
zu Guttenberg, Dr. Klaus W. Lippold, Dr. Georg
Nüßlein, Daniela Raab und Dr. Andreas
Scheuer (alle CDU/CSU) zur namentlichen Ab-
stimmung über die Beschlussempfehlung zu
dem Antrag: Entfernungspauschale sofort voll-
ständig anerkennen – Verfassungsmäßigkeit
und Steuergerechtigkeit herstellen (Tagesord-
nungspunkt 5)
Ich bin für die Wiedereinführung der Pendlerpau-
schale ab dem ersten Kilometer.
Um dieses Ziel in der Großen Koalition zu erreichen,
führt die CSU derzeit intensive Verhandlungen mit ihren
Koalitionspartnern, um eine Wiedereinführung zum
1. Januar 2009 zu erreichen. Unterstützt werden wir bei
unserem Anliegen durch einem entsprechenden Antrag
des Freistaates Bayern im Bundesrat, der von der CSU-
geführten bayerischen Staatsregierung auf den Weg ge-
bracht wurde. Diese Initiative verfolgen wir konsequent
und erwarten am Ende der Verhandlungen, dass eine
Entlastung der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland
mehrheitsfähig wird. Davon wollen wir auch die Kolle-
19190 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
(A) (C)
(B) (D)
ginnen und Kollegen aus den Reihen von SPD und CDU
überzeugen, die sich bisher unserer Forderung nach ei-
ner Entlastung der Bürgerinnen und Bürger bereits ab
dem 1. Januar 2009 entziehen.
Unehrliche, wahlkampfmotivierte Schaufensteran-
träge der Fraktion Die Linke bin ich jedoch nicht bereit
zu unterstützen. Ich kann und werde keinem Antrag ei-
ner Partei zustimmen, die die Gesellschaftsordnung un-
seres Landes nicht akzeptiert und die Grundlagen unse-
res Zusammenlebens wie die soziale Marktwirtschaft
ablehnt. Die Partei Die Linke wird zu Recht vom Verfas-
sungsschutz beobachtet. Unterstützung von Anträgen ei-
ner solchen Partei kann daher von Demokraten nicht er-
wartet werden.
Anlage 6
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Martin Burkert, Dr. Carl-
Christian Dressel, Petra Ernstberger, Gabriele
Fograscher, Günter Gloser, Angelika Graf
(Rosenheim), Frank Hofmann (Volkach),
Brunhilde Irber, Dr. h. c. Susanne Kastner, Dr.
Bärbel Kofler, Walter Kolbow, Anette Kramme,
Heinz Paula, Florian Pronold, Marlene
Rupprecht (Tuchenbach), Marianne Schieder,
Ewald Schurer, Ludwig Stiegler, Jella Teuchner
(alle SPD): zur namentlichen Abstimmung über
die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Ent-
fernungspauschale sofort vollständig anerken-
nen – Verfassungsmäßigkeit und Steuergerech-
tigkeit herstellen (Tagesordnungspunkt 5)
Beim Antrag der Fraktion Die Linke zur Anerken-
nung der Pendlerpauschale handelt es sich um einen
Schaufensterantrag, um die CSU vorzuführen, dessen es
aber gar nicht mehr bedarf.
Die SPD-Bundestagsfraktion und die Bayern-SPD
haben sich von Anbeginn der Diskussion an für den Er-
halt der Entfernungspauschale ab dem ersten. Kilometer
eingesetzt, während die CDU/CSU schon 2005 mit der
Forderung nach deren Kürzung in die Bundestagswahl
und die Koalitionsverhandlungen zogen. Im Koalitions-
vertrag hat die Union die Kürzung der Pendlerpauschale
durchgesetzt. Wir haben im Gegenzug die Steuerfreiheit
der Nacht-, Schicht- und Sonntagsarbeit erhalten.
Alle Versuche der SPD-Bundestagsfraktion danach,
die Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer wieder
einzuführen, hat die CSU in der Koalition abgelehnt.
Die Initiative der bayerischen Staatsregierung auf
Rückkehr zur alten Pendlerpauschale jetzt im Bundesrat
ist reine Wahlkampfshow, denn sie ist zeitlich so gesetzt,
dass sie nicht mehr vor der Landtagswahl in Bayern ins
Gesetzblatt kommen kann.
Wir bayerischen Sozialdemokraten fordern zusätz-
lich die Einführung eines bayerischen Pendlergeldes aus
dem Landeshaushalt nach österreichischem Vorbild, das
aber von der CSU abgelehnt wird. Es kommt gerade den
Pendlerinnen und Pendlern zugute, die von der steuerli-
chen Regelung nicht profitieren, weil sie niedrige Ein-
kommen haben.
Zur Entfernungspauschale wird es in Bälde ein Urteil
des Bundesverfassungsgerichts geben, das abgewartet
werden sollte. Es ist nicht auszuschließen, dass auf
Grund dieses Urteils eine für die Pendlerinnen und Pend-
ler vorteilhaftere Regelung erforderlich ist als die ur-
sprüngliche Rechtslage, zum Beispiel die volle Anerken-
nung der tatsächlichen Kosten.
Deshalb stimmen wir dem Schaufensterantrag der
Fraktion Die Linke nicht zu.
Anlage 7
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Peter Ramsauer, Ilse
Aigner, Dorothee Bär, Alexander Dobrindt,
Maria Eichhorn, Herbert Frankenhauser, Dr.
Hans-Peter Friedrich (Hof), Norbert Geis, Josef
Göppel, Dr. Wolfgang Götzer, Dr. Karl-Theodor
Freiherr zu Guttenberg, Gerda Hasselfeldt,
Ernst Hinsken, Klaus Hofbauer, Bartholomäus
Kalb, Alois Karl, Hartmut Koschyk, Dr. Max
Lehmer, Paul Lehrieder, Eduard Lintner,
Stephan Mayer (Altötting), Dr. h. c. Hans
Michelbach, Marlene Mortler, Dr. Gerd Müller,
Stefan Müller (Erlangen), Dr. Georg Nüßlein,
Franz Obermeier, Eduard Oswald, Daniela
Raab, Hans Raidel, Kurt J. Rossmanith, Dr.
Christian Ruck, Albert Rupprecht (Weiden),
Christian Schmidt (Fürth), Dr. Andreas
Scheuer, Marion Seib, Johannes Singhammer,
Thomas Silberhorn, Max Straubinger, Dr.
Hans-Peter Uhl, Dagmar Wöhrl, Wolfgang
Zöller und Carsten Müller (Braunschweig) (alle
CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung
über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag:
Entfernungspauschale sofort vollständig aner-
kennen – Verfassungsmäßigkeit und Steuerge-
rechtigkeit herstellen (Tagesordnungspunkt 5)
Mit dem Antrag, den die Fraktion Die Linke heute zur
Abstimmung stellt, geht es ihr nicht um die Sache, son-
dern um ein durchsichtiges taktisches Manöver.
Als CDU, CSU und SPD nach der letzten Bundes-
tagswahl ihren Koalitionsvertrag geschlossen und
Dr. Angela Merkel zur neuen Bundeskanzlerin gewählt
haben, klaffte im Bundeshaushalt eine strukturelle Lücke
von 60 Milliarden Euro jährlich. Diese Lücke haben wir
deutlich zurückführen können. Der Wegfall der steuerli-
chen Absetzbarkeit für die ersten 20 Entfernungskilome-
ter des Weges zur Arbeit war 2006 ein unvermeidbarer
Beitrag zur Konsolidierung. Die Entspannung der Lage
der öffentlichen Haushalte, die 2007 erstmals wieder
schwarze Zahlen schrieben, macht aus unserer Sicht eine
Rückkehr zur alten Pendlerpauschale möglich – ohne
den Vorrang der Sanierung der Haushalte des Bundes
und der Länder, der Kommunen und Sozialversicherun-
gen aufzugeben. Angesichts der konjunkturellen Lage
und der seit der damaligen Entscheidung deutlich gestie-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19191
(A) (C)
(B) (D)
genen Treibstoffpreise halten wir eine Rückkehr zur al-
ten Pendlerpauschale für geboten und gerecht. Diese
Auffassung wollen wir in der Koalition mit Nachdruck
durchsetzen. Die Bayerische Staatsregierung hat hierzu
eine Gesetzesinitiative beschlossen, die im Bundesrat
beraten wird. Auch wenn wir die Koalition für unsere
Auffassung noch nicht gewonnen haben – den Koali-
tionsvertrag halten wir ein, der verpflichtet, einheitlich
abzustimmen.
Das Politikspektakel, das die Linken mit ihrem Antrag
bezwecken, lehnen wir entschieden ab. Die programma-
tischen Eckpunkte der Linken fordern eine Politik, die
Deutschland international isoliert, die Fundamente des
Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft gefährdet
und eine gute Zukunft für die Bürgerinnen und Bürger
Deutschlands massiv bedroht. Wir grenzen uns eindeutig
von dieser Partei ab.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Entwurfs eines ... Strafrechts-
änderungsgesetzes – Bestechung und Bestech-
lichkeit von Abgeordneten – (... StrÄndG) (Ta-
gesordnungspunkt 14)
Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Zurzeit gibt es
zwei Gesetzentwürfe, die darauf abzielen, die Beste-
chung und die Bestechlichkeit von Abgeordneten end-
lich wirkungsvoll unter Strafe zu stellen: einen Entwurf
der Linksfraktion und einen Entwurf der Grünen, der
heute beraten wird. Beide verfolgen das gleiche Ziel.
Ich möchte noch einmal aus der Sicht der Linksfrak-
tion hervorheben, von welchen Überlegungen beide Ge-
setzentwürfe getragen sind. Es sind die Gründe, die dazu
geführt haben, dass die Bundesrepublik Deutschland
Übereinkommen der Vereinten Nationen und des Euro-
parates unterzeichnet hat, die dazu auffordern, die Beste-
chung und Bestechlichkeit auch von Abgeordneten kon-
sequent unter Strafe zu stellen. Es sind die Gründe, die
den Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom
9. Mai 2006 bewegt haben, eine gleichlautende Auffor-
derung an den Gesetzgeber zu richten. Es sind die
Gründe, denen der aktuelle Korruptions-Paragraf des
Strafgesetzbuches in keiner Weise genügt.
Die Bestechung und Bestechlichkeit von Abgeordne-
ten untergräbt die Grundprinzipien der Demokratie und
beschädigt in krasser Weise das Vertrauen der Bürgerin-
nen und Bürger in die Demokratie. Das sind schwere
Verletzungen, die kein äußerer Feind der Demokratie zu-
fügen könnte. Diese Art der Beschädigung kann sich die
Demokratie nur selbst zufügen. Das sollten die Regie-
rungsfraktionen in den Zeiten einer überbordenden Si-
cherheitspolitik einmal zur Kenntnis nehmen.
Die hier angesprochenen Beschädigungen unserer
Gesellschaft sind hausgemacht. Eine Grundidee der De-
mokratie ist die Freiheit des Mandates, das auf der
Gleichheit der Wählerstimmen beruht. Die Gleichheit
der Stimmen wird ad absurdum geführt, wenn zwischen
den Wahlen ein kleiner Teil des Wahlvolkes politische
Entscheidungen vergoldet. Die Freiheit des Gewissens
wird ad absurdum geführt, wenn das Gewissen dem ge-
wissen Vorteil zugeneigt ist.
Das Parlament ist kein Marktplatz und politische Ent-
scheidungen sind keine Waren. Bestechung und Bestech-
lichkeit beginnen nicht erst beim Stimmenkauf, den das
Strafgesetzbuch bereits unter Strafe stellt. Diese Vor-
schrift ahndet nur die ganz schlecht eingefädelte Beste-
chung; sie bestraft nur den ganz dummen Mandatsträger.
Die klugen Bestochenen und die cleveren Bestecher sind
aber das viel größere Problem. Jeder erhebliche geld-
werte Vorteil, der für jedes politische Tun oder Unterlas-
sen eines Mandatsträgers gewährt oder angenommen
wird, gehört unter Strafe gestellt, wenn er der rechtlichen
Stellung des Abgeordneten widerspricht.
Bestechlichkeit liegt vor, wenn das Abgeordneten-
mandat und seine politischen Handlungsmöglichkeiten
zum Handelsgut werden. Dazu gehört der Beratervertrag
ohne Beratung. Dazu gehört der gut bezahlte Stuhl im
Aufsichtsrat, auf dem der Mandatsträger nahezu nie
Platz nimmt. Dazu gehört die All-inklusive-Einladung
zu einer Konferenz, bei der man sich unter südlicher
Sonne am Swimmingpool bespricht.
Was für jede Richterin, jeden Richter, jeden Amtsträ-
ger in jeder Behörde dieses Landes gilt, muss grundsätz-
lich auch und gerade für Abgeordnete gelten: Entschei-
dungen im Namen der Allgemeinheit dürfen weder
gekauft, noch verkauft werden. Dieses Ziel verfolgt un-
ser Antrag. Dieses Ziel verfolgt der Antrag der Grünen.
Deswegen verdienen diese Anträge eine ernsthafte Dis-
kussion und im Ergebnis Zustimmung.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Modernisierung des Bilanzrechts (Bilanzrechts-
modernisierungsgesetz – BilMoG) (Tagesord-
nungspunkt 13)
Antje Tillmann (CDU/CSU): In den letzten Jahr-
zehnten wurde das deutsche Bilanzrecht grundlegend ge-
ändert. Ein Meilenstein wurde für die Geschäftsjahre ab
2005 gesetzt, weil seither kapitalmarktorientierte Kon-
zerne ihren Konzernabschluss nach internationalen Rech-
nungslegungsstandards aufstellen. Angestrebt wurde eine
einheitliche Weltsprache der Bilanzierung, die eine län-
derübergreifend vergleichbare Bilanzanalyse ermöglicht.
Diese sogenannten IFRS werden in mehr als 100 Län-
dern angewendet und gelten verbindlich für die rund
8 000 börsennotierten Unternehmen in der EU. Die sich
daraus ergebene Vergleichbarkeit erleichtert den interna-
tionalen Firmen die Suche nach Kapitalgebern.
Die internationalen Rechnungslegungsstandards sind
auf kapitalmarktorientierte Unternehmen und die Be-
dürfnisse der Investoren zugeschnitten. Für den Mittel-
stand, das Rückgrat der europäischen Wirtschaft, sind
diese Regeln viel zu komplex. Ihre Interessen wurden
19192 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
(A) (C)
(B) (D)
beim Erarbeiten der bestehenden Regeln auch nicht be-
rücksichtigt.
Es ist daher auf keinen Fall zu rechtfertigen, alle Un-
ternehmen, die zur Rechnungslegung verpflichtet sind,
auch auf diese komplexen IFR-Standards zu verpflich-
ten. Der vom International Accounting Standards Board
veröffentlichte Entwurf eines internationalen Rech-
nungslegungsstandards für kleine und mittelgroße Un-
ternehmen ist ebenfalls keine Alternative. Er beinhaltet
Regelungslücken, bei denen wiederum auf die vollen
IFR-Standards und somit auf 2 400 Seiten Regelungsin-
halt verwiesen wird. Zudem ist der Entwurf äußerst um-
stritten und der demokratischen Kontrolle durch uns, das
Gesetzgebungsorgan, entzogen. Darüber hinaus haben die
Vertreter der Praxis in Deutschland den Entwurf scharf kri-
tisiert, weil seine Anwendung – im Verhältnis zum HGB-
Bilanzrecht – immer noch viel zu kompliziert und kos-
tenträchtig wäre.
Aus diesen Gründen kann es nur ein Ziel für uns ge-
ben, nämlich den kleinen und mittelständischen Unterneh-
men – im Verhältnis zu den internationalen Rechnungsle-
gungsstandards – eine gleichwertige, aber einfachere und
kostengünstigere Alternative zu bieten. Dabei soll der
handelsrechtliche Jahresabschluss Grundlage der Ge-
winnausschüttung bleiben. Die Vorzüge der Einheitsbi-
lanz sollen so weit wie möglich bewahrt werden.
Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir den Infor-
mationsgehalt der HGB-Bilanz ausbauen und verbes-
sern, denn der Wettbewerb um Kapital beschäftigt auch
den Mittelstand. Wie erfolgreich ein Unternehmen in
diesem Wettbewerb ist, hängt auch davon ab, wie aussa-
gekräftig seine Bilanzen sind. Dabei müssen wir aber
sehr behutsam vorgehen und von den Unternehmen nicht
mehr verlangen, als für die Erreichung der Ziele erfor-
derlich ist.
Was sind diese Ziele? Sie können in drei Gruppen un-
terteilt werden: Erstens: die Deregulierung und Kosten-
senkung, insbesondere für kleine und mittelständische
Unternehmen. Zweitens: die Verbesserung der Aussage-
kraft der HGB-Jahresabschlüsse. Drittens: die Umset-
zung der EU-rechtlichen Vorgaben.
Zum ersten Ziel: Deregulierung und Kostensenkung.
Einzelkaufleute, die nur einen kleinen Geschäftsbetrieb
unterhalten, sollen von der handelsrechtlichen Buchfüh-
rungs- und Bilanzierungspflicht befreit werden. Der Mit-
telstand soll so um Bürokratiekosten in Höhe von etwa
1 Milliarde Euro pro Jahr entlastet werden.
Alle sprechen von Deregulierung und Bürokratieab-
bau; sobald wir als Gesetzgeber aber Ernst machen, gibt
es Bedenken. So auch hier: Die doppelte Buchführung
sei aus Gründen des Gläubigerschutzes, der Vorbeugung
der Insolvenzgefahr und als Warnzeichen auch im Be-
reich der kleinen Unternehmen nötig.
Wir sollten hier trotzdem den Mut zum Bürokratieab-
bau haben. Kein Unternehmer ist daran gehindert, aus
den oben genannten Gründen trotzdem eine Bilanz auf-
zustellen oder ein sonstiges Risikomanagement einzu-
führen. Ich bin optimistisch, dass Steuerberater auch bei
einer Einnahmen- bzw. Überschussrechnung auf Risiken
in der Gewinnermittlung hinweisen.
Ganz im Gegenteil glaube ich, wir sollten prüfen, ob
wir die Erleichterung nicht wieder auf Personenhandels-
gesellschaften ausweiten, wie es der Referentenentwurf
vorgesehen hatte. Bei Personenhandelsgesellschaften
stellt sich im Gegensatz zu Einzelkaufleuten unter ande-
rem die Frage der Gewinnverteilung auf Basis der Kapital-
konten. Ich stimme hier der Auffassung des Bundesrates
zu, dass möglicherweise verbundene gesellschaftsrecht-
liche Folgefragen auch in Bezug auf die Gewinnvertei-
lung in den betroffenen Personenhandelsgesellschaften
auf der Grundlage zumeist dispositiver gesetzlicher Re-
gelungen regelmäßig einer Lösung durch die Gesell-
schaften selbst zugeführt werden können. Die kom-
mende Anhörung wird Klarheit bringen.
Bei Kapitalgesellschaften sollen die Schwellenwerte
für Veröffentlichung und Prüfung um 20 Prozent ange-
hoben werden. Es sind also Befreiungen und Erleichte-
rungen bei der Bilanzierung vorgesehen, indem die
Größenklassen, die darüber entscheiden, welche Infor-
mationspflichten ein Unternehmen treffen, angehoben
werden. Beispielsweise sollen rund 7 400 Kapitalgesell-
schaften künftig nicht mehr mittelgroß, sondern klein
sein. Diese Kapitalgesellschaften brauchen dann unter
anderem ihren Jahresabschluss nicht von einem Ab-
schlussprüfer prüfen zu lassen.
Insgesamt soll aufgrund dieser Maßnahmen mit einer
Senkung der Gesamtkosten der Buchführung, Ab-
schlussaufstellung, -prüfung und -offenlegung in Höhe
von ungefähr 1,3 Milliarden Euro pro Jahr zu rechnen
sein.
Zum zweiten Ziel: Verbesserung der Aussagekraft der
HGB-Abschlüsse. Es muss für den Mittelstand weiterhin
möglich bleiben, ohne großen Aufwand von der Han-
delsbilanz zur Steuerbilanz zu kommen. Daher begrüße
ich es – wie auch die Wirtschaft – sehr, dass eine Reihe
von Wahlrechten gestrichen werden sollen, die aus be-
triebswirtschaftlicher Sicht angreifbar sind und steuer-
rechtlich sowieso nicht anerkannt werden. Hierzu zählen
unter anderem die Streichung des Wahlrechts zur Akti-
vierung der Aufwendungen für die Ingangsetzung und
Erweiterung des Geschäftsbetriebes, die Abschaffung
der fakultativen Aufwandsrückstellungen und die Auf-
hebung des Aktivierungswahlrechts für Material- und
Fertigungsgemeinkosten.
Eine Anhebung des Informationsniveaus des handels-
rechtlichen Jahresabschlusses soll zudem durch die Akti-
vierungspflicht aktiver latenter Steuern und durch die
bessere Ablesbarkeit der wirtschaftlichen Situation von
Zweckgesellschaften in der Konzernbilanz erreicht wer-
den.
Zukünftig gilt im Zuge eines Unternehmenserwerbs
der entgeltlich erworbene Geschäfts- und Firmenwert als
ein zeitlich begrenzter nutzbarer Vermögensgegenstand,
der in der Bilanz ausgewiesen werden muss. Mit dieser
Einführung geht eine Verbesserung der Vergleichbarkeit
des handelsrechtlichen Jahresabschlusses einher, da nach
aktueller Rechtslage die Unternehmen wählen können,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19193
(A) (C)
(B) (D)
ob sie den Firmenwert aktivieren. Darüber hinaus wird
die Darstellung der Vermögens-, Finanz- und Ertrags-
lage stärker als bisher an die tatsächlichen Verhältnisse,
den tatsächlichen Werteverzehr angenähert. In steuerli-
cher Hinsicht ist der entgeltlich erworbene Geschäfts-
und Firmenwert ebenfalls zu aktivieren.
Zudem sieht der Gesetzentwurf vor, dass Finanzin-
strumente wie Aktien, Fondsanteile und Derivate, so-
weit sie zu Handelszwecken erworben sind, künftig bei
allen Unternehmen zum Bilanzstichtag mit dem Markt-
wert – Fair Value – bewertet werden. Dadurch soll sich
die Aussagekraft des Jahresabschlusses im Hinblick auf
jederzeit realisierbare Gewinne und Verluste erhöhen;
die noch nicht realisierten Gewinne werden jedoch
grundsätzlich mit einer Ausschüttungssperre verbunden.
Die Fair-Value-Bewertung ist ja aufgrund der Ban-
kenkrise sehr in die Kritik geraten. Hier wird deshalb ein
Schwerpunkt in der Anhörung liegen. Wir werden hin-
terfragen, ob diese Regelung tatsächlich im allgemeinen
Teil des HGB implementiert werden soll oder besser un-
ter den Spezialvorschriften.
Bei den Rückstellungen von Unternehmen für Ver-
pflichtungen sollen Entwicklungen künftig – wie Lohn-,
Preis- und Personalentwicklungen – berücksichtigt wer-
den. Rückstellungen mit einer Laufzeit von mehr als ei-
nem Jahr sollen mit dem ihrer Laufzeit entsprechenden
durchschnittlichen Marktzinssatz der vergangenen sie-
ben Geschäftsjahre abgezinst werden. Die Art, wie
Rückstellungen gegenwärtig bilanzrechtlich behandelt
werden, wird in der öffentlichen Diskussion immer wie-
der als Schwachstelle der handelsrechtlichen Rech-
nungslegung bezeichnet. Steuerrechtlich bleiben dage-
gen die Wertansätze am Bilanzstichtag maßgebend.
Viele Verbände unterstützen das Vorhaben, bei der
Rückstellungsbewertung erwartete Preiseffekte zu be-
rücksichtigen. Bezüglich der geplanten Abzinsungsrege-
lung gibt es jedoch auch kritische Stimmen, die zum
Beispiel hohe Kosten darin sehen, dass Unternehmen
verschiedene Bewertungsansätze für die Steuer- und
Handelsbilanz bilden müssen. Die Anhörung wird die
Vor- und Nachteile abwägen.
Für viel Unruhe hat der Ansatz gesorgt, das Prinzip
der wirtschaftlichen Zurechnung von Vermögensgegen-
ständen einer gesetzlichen Verankerung zu unterziehen.
Wenn auch in der Begründung darauf hingewiesen wird,
dass sich „keine Veränderungen des bisherigen Rechts-
zustandes“ ergeben, so führt die neue Formulierung
trotzdem zu Verunsicherung. Der Vorschlag des Bun-
desrates, indem für die Zurechnung auf die aus dem
Steuerrecht bekannte und bewährte Formulierung zur
Zurechnung von Wirtschaftsgütern des § 39 der Abga-
benordnung zurückgegriffen werden soll, sollte in Erwä-
gung gezogen werden.
Immaterielle selbstgeschaffene Vermögensgegen-
stände des Anlagevermögens wie zum Beispiel Patente
oder Know-how sind künftig in der HGB-Bilanz anzu-
setzen. Das ist vor allem für innovative Unternehmen
wichtig, die intensiv forschen und entwickeln, beispiels-
weise die chemische oder pharmazeutische Industrie
oder die Automobilindustrie nebst ihren Zulieferern. Ins-
besondere profitieren auch kleine und sogenannte Start-
Up-Unternehmen von der Vorschrift. Auch sie können
ihre Entwicklungen – ihr Potenzial – künftig in der Han-
delsbilanz zeigen. Dadurch können die Unternehmen
ihre Eigenkapitalbasis ausbauen und ihre Fähigkeit ver-
bessern, sich am Markt kostengünstig weiteres Kapital
zu beschaffen. Steuerlich bleiben die Aufwendungen
aber nach wie vor abzugsfähig; sie stehen auch nicht für
die Gewinnausschüttung zur Verfügung. Das fördert die
Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands als Standort für in-
novative Unternehmen.
Dieses Instrument ist bei dieser Reform aber auch das
am heftigsten diskutierte. Die Bedenken gegen diese Ak-
tivierung, unter anderem, dass dem Gut nur schwer ein
objektiver Wert zugewiesen werden könne, dass die Ab-
grenzung zwischen Forschungs- und Entwicklungskos-
ten schwierig sei oder dass eine Abweichung der Han-
dels- von der Steuerbilanz vorliege, werden wir in einer
Anhörung versuchen auszuräumen. Ein hinreichender
Gläubigerschutz und eine Anhebung des Informationsni-
veaus soll erreicht werden, indem die Aktivierungs-
pflicht mit einer Ausschüttungssperre gekoppelt wird.
Das Wahlrecht der Kapitalgesellschaften, ihren Jah-
resabschluss nach den IFR-Standards aufzustellen, wird
im Gesetzentwurf nicht weiter verfolgt. Kapitalgesell-
schaften können – anders als im Referentenentwurf vor-
gesehen – nun doch keinen befreienden Jahresabschluss
nach den internationalen Rechnungslegungsstandards
aufstellen. Ursprünglich sollte dies möglich sein, sofern
die Unternehmen im Anhang zum Jahresabschluss wei-
ter eine Bilanz sowie eine Gewinn- und Verlustrechnung
nach HGB vorlegen.
Viele Unternehmen haben diese Möglichkeit abge-
lehnt, weil sie darin keine wirkliche Entlastung sahen,
solange sie die HGB-Bilanz trotzdem im Anhang auf-
führen müssen. Andere Verbände betrachteten kritisch,
dass durch diese Regelung faktisch der Druck auf kleine
Unternehmen erhöht wird, internationale Rechnungsle-
gungsstandards anzuwenden.
Ich begrüße die Entscheidung des Justizministeriums,
das Wahlrecht – entgegen dem Referentenentwurf –
nicht einzuführen. Die IFRS sind umstritten, und wir ha-
ben als Gesetzgebungsorgan der Bundesrepublik
Deutschland keinen Einfluss auf ihre Entwicklung. Wir
brauchen eine gangbare Alternative zu den internationa-
len Rechnungslegungsstandards, die keinesfalls dadurch
erreicht wird, dass wir weitere Wahlrechte schaffen.
Zum dritten Ziel: Umsetzung weiterer Änderungen,
die aus EU-rechtlichen Vorgaben resultieren. Mit der Re-
form sollen auch die EU-rechtlichen Vorgaben unter an-
derem zum Unternehmensführungsbericht und zur Er-
richtung eines Prüfungsausschusses umgesetzt werden.
Dabei ist es für uns überaus wichtig, dass die Vorgaben
mit einer möglichst geringen Belastung für die Unter-
nehmen umgesetzt werden.
Abschließend möchte ich noch auf zwei weitere we-
sentliche Punkte hinweisen.
19194 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
(A) (C)
(B) (D)
Erstens: Die Bilanzreform darf keine steuerliche Be-
lastungswirkung haben. Wir wollen durch die Deregulie-
rung eine Entlastung für die Unternehmen erreichen und
sie nicht dadurch zunichte machen, dass wir an anderer
Stelle steuerliche Mehrbelastungen produzieren. Die
Verwirklichung dieses Ziels werden wir auch im weite-
ren Gesetzgebungsverfahren verfolgen.
Zweitens: Die erstmalige Anwendung der Vorschrif-
ten muss praxisgerecht ausgestaltet werden. Die Über-
gangszeiträume müssen in Anbetracht des Umstellungs-
aufwands, gerade im IT-Bereich, so ausgestaltet sein,
dass jedes betroffene Unternehmen genug Zeit hat, sich
darauf einzustellen. Bei einigen Vorschriften, die auf der
Umsetzung von EU-Richtlinien beruhen, unter anderem
zum Risikobericht und zu Aufsichtsratskompetenzen, ist
eine frühzeitige Anwendung erforderlich, andere könn-
ten für 2009 wahlweise und erst 2010 verpflichtend ein-
geführt werden.
Das BilMoG ist die größte Bilanzrechtsreform seit
über 20 Jahren mit weitreichenden Auswirkungen für
alle bilanzierenden Unternehmen. Deshalb ist im Einzel-
nen zu prüfen, ob die Zielsetzungen des Gesetzentwurfs
eingehalten werden. Ich freue mich auf diese Diskussio-
nen.
Klaus Uwe Benneter (SPD): Der vorgelegte Ent-
wurf befreit Einzelkaufleute mit einem Gewinn unter
50 000 Euro oder einem Jahresumsatz unter 500 000 Euro
von der handelsrechtlichen Buchführung und Bilanzie-
rung. Das ist eine enorme Deregulierung und eine gute
Sache. Auch der Nationale Normenkontrollrat begrüßt
diese Regelung als Abbau von Bürokratie in nennens-
werter Größe. Der Normenkontrollrat hat in seiner Stel-
lungnahme sehr viel dazu ausgeführt, dass er diesen Bü-
rokratieabbau gerne in seine eigene Erfolgsbilanz
aufnehmen möchte, das Justizministerium diese Ansicht
aber nicht teile. Wichtig ist aus meiner Sicht aber vor al-
lem, dass unnötige Bürokratie verschwindet. Ob sich der
Normenkontrollrat oder die Justizministerin diese Ent-
bürokratisierung auf die Fahnen schreiben wollen, ist
mir egal. Jedenfalls sind wir es als Parlament, die das
Leben einfacher machen.
So weit, so gut. Jetzt kommen wir allerdings zum
schwierigeren Teil des Gesetzentwurfs; denn die Bilanz-
rechtsmodernisierung ist ein schwieriges Vorhaben. Wir
wollen den Jahresabschluss nach dem Handelsgesetz-
buch behalten, der auf den bewährten Grundsätzen ord-
nungsgemäßer Buchführung beruht. Darunter fallen so
schöne Grundsätze wie Bilanzwahrheit, Bilanzklarheit,
Bilanzvollständigkeit und Bilanzkontinuität – und über
allem schwebt der Grundsatz der Vorsicht. Grundsätze,
die altmodisch klingen. In Zeiten des nicht für möglich
gehaltenen Zusammenbruchs der Finanzmärkte erhalten
diese Grundsätze jedoch neuen Glanz.
Der Jahresabschluss nach dem HGB ist in Gefahr;
denn er wird zunehmend verdrängt, verdrängt durch in-
ternationale Rechnungslegungsregelungen, die soge-
nannten IFRS – International Financial Reporting Stan-
dard –, die ohne irgendeine demokratische Kontrolle von
einem internationalen, privatrechtlich organisierten Nor-
mungsgremium namens IASB – International Accoun-
ting Standards Board – erarbeitet werden. Solche ein-
heitlichen internationalen Rechnungslegungsregeln
werden in einer globalisierten Wirtschaft gebraucht und
verlangt; denn natürlich sind internationale Rechnungs-
legungstandards attraktiv. Jede Bank, jeder Geldgeber
weltweit kann eine Rechnungslegung nach diesem Sys-
tem verstehen. Die Bilanzen der Unternehmen und Ban-
ken werden so weltweit miteinander vergleichbar. Die
globalisierte Wirtschaft hat deshalb kein Interesse an
lauter verschiedenen nationalen Bilanzierungsregeln.
Wer international agiert, muss international verständlich
bilanzieren. Das ist die einfache Regel einer globalisier-
ten Wirtschaft.
Die Europäische Union hat dementsprechend bereits
festgelegt, dass kapitalmarktorientierte Unternehmen
ihre Konzernabschlüsse nach diesen IFRS aufstellen
müssen. Allerdings gibt es doch noch eine Überlebens-
chance für unser HGB; denn die Anforderungen an die
Rechnungslegung sind bei kapitalmarktorientierten Un-
ternehmen sehr hoch. Die IFRS haben deshalb – um die-
sen Anforderungen gerecht zu werden – einen enormen
Regelungsumfang. Entsprechend den Wünschen der
Wirtschaft nach einer weniger komplexen internationa-
len Regelung für kleine und mittlere Unternehmen gibt
es zwar inzwischen einen Entwurf für eine abgespeckte
IFRS-Version für KMU. Diese „IFRS-light“ haben aber
immer noch eine enorme Regelungsdichte und enthalten
außerdem zahlreiche Verweise auf die „großen“ IFRS.
Wir glauben, dass auch diese „IFRS-light“ unsere Un-
ternehmen zu unnötig kostenintensiver Rechnungsle-
gung zwingen würden. Wenn wir aber nichts unterneh-
men, werden wir einen faktischen Zwang zur IFRS-
Bilanzierung bekommen, zunächst für den gehobenen
Mittelstand und nach und nach für immer mehr Unter-
nehmen. Denn unser HGB ist zu weit entfernt von den
internationalen Rechnungslegungsstandards. Das liegt
unter anderem daran, dass HGB und IFRS anderen Prin-
zipien folgen. Während das HGB das Vorsichtsprinzip
hochhält, verfolgen die IFRS den Fair-Value-Grundsatz.
Danach soll der wahre Wert des Unternehmens in der
Bilanz sichtbar werden. Deshalb werden eben nicht nur
die Risiken, sondern auch die möglichen Chancen eines
Unternehmens in der Bilanz bewertet. Dieses Auseinan-
derlaufen von HGB und IFRS führt dazu, dass die HGB-
Abschlüsse für Banken und potenzielle Geldgeber zu
wenig Aussagekraft haben und einen echten Vergleich
mit anderen Unternehmen nicht ermöglichen.
Ich sehe deshalb unsere Aufgabe darin: Wir müssen
das Handelsgesetzbuch so modernisieren, dass die HGB-
Abschlüsse in ihrer Aussagekraft mit IFRS-Abschlüssen
vergleichbar sind, aber mit deutlich geringerem Auf-
wand erstellt werden können. Wir müssen also unser
HGB an die IFRS annähern. Wir müssen aber gleichzei-
tig berücksichtigen, dass die HGB-Bilanz maßgeblich ist
für die Gewinnausschüttung, und wir müssen weiter be-
denken, dass die HGB-Bilanz im Grundsatz maßgeblich
für die Steuerbilanz sein soll und Steuererhöhungsef-
fekte nicht eintreten sollen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19195
(A) (C)
(B) (D)
Unser Mittelstand baut auf die Bilanzrechtsmoderni-
sierung; das wurde uns Abgeordneten schnell klar.
Schon die Veröffentlichung des Referentenentwurfs ist
auf reges Interesse gestoßen und hat zu vielen Gesprä-
chen, Stellungnahmen und Fachveranstaltungen geführt,
die wiederum bei der Abfassung des Regierungsent-
wurfs eingearbeitet wurden. Tenor der Stellungnahmen
zum Kabinettsentwurf: Das Bundesministerium der Jus-
tiz hat einen sehr gut durchdachten Entwurf vorgelegt.
Über Einzelheiten werden wir aber noch beraten müs-
sen. Deshalb werden wir zügig eine Sachverständigen-
anhörung durchführen und danach entscheiden. Es ist
unsere Aufgabe, die Bilanzrechtsmodernisierung erfolg-
reich abzuschließen. Auf der Grundlage eines ausge-
zeichneten Regierungsentwurfs wird uns das auch gelin-
gen.
Mechthild Dyckmans (FDP): Heute beraten wir
parlamentarisch das erste Mal die Modernisierung des
deutschen Bilanzrechts. Über diese Reform wird bereits
seit vielen Jahren diskutiert. Von interessierter Seite
wurden mehrfach Vorschläge vorgelegt. Der Mittelstand
wartet auf ein entrümpeltes und zukunftstaugliches
HGB-Bilanzrecht.
Der erstmals für Sommer 2004 angekündigte Refe-
rentenentwurf wurde immer wieder verschoben. Nicht
zuletzt die Notwendigkeit der Umsetzung einiger EU-
Richtlinien hat nun dazu geführt, dass wir seit Mai 2008
endlich den Kabinettsentwurf und jetzt auch den Regie-
rungsentwurf vorliegen haben.
Der Regierungsentwurf hat im Vergleich zum Refe-
rentenentwurf – und da sind wir sehr froh – einige ent-
scheidende Änderungen erfahren. Während es zunächst
den Anschein hatte, als sollten die internationalen Bilan-
zierungsregeln ganz entscheidenden Einfluss auf das
HGB nehmen, hat man dies im Regierungsentwurf weit-
gehend aufgegeben. Wir begrüßen, dass die Aussage-
kraft der HGB-Abschlüsse durch den Entwurf gestärkt
und der Versuch unternommen wird, durch eine mode-
rate Annäherung an internationale Vorschriften ein ein-
facheres, praktikableres Regelwerk zu schaffen.
Zu Recht hatten gerade mittelständische Unternehmen
Bedenken, dass sie durch die Hintertür gezwungen wer-
den sollten, sich auf die komplizierten und umfangrei-
chen internationalen IFRS einzustellen. Die zahlreichen
Verweise auf die IFRS, insbesondere bei der Definition
von Begriffen, sind weggefallen. Der Gesetzentwurf ent-
hält jetzt eigene Begriffsbestimmungen. Das HGB wird
dadurch verständlicher und leichter handhabbar.
Bei der Überarbeitung des Gesetzentwurfs wurden je-
doch auch Änderungen vorgenommen, über die wir noch
einmal reden müssen.
Sah der Referentenentwurf noch die an Schwellen-
werte gebundene Befreiung von der Buchführungs- und
Bilanzierungspflicht sowohl für Einzelkaufleute als auch
für Personenhandelsgesellschaften vor, so soll diese Be-
freiung nach dem Regierungsentwurf nur noch für Ein-
zelkaufleute gelten. Der Bundesrat spricht sich dafür
aus, auch Personenhandelsgesellschaften zu befreien.
Dies macht sowohl im Hinblick auf eine weitere Deregu-
lierung als auch hinsichtlich einer Kostenentlastung für
die betroffenen Unternehmen Sinn. Auch wenn wir Un-
ternehmen von der Buchführungs- und Bilanzierungs-
pflicht befreien, dürfen sie immer noch nach HGB bilan-
zieren. Die Entscheidung hierüber würden wir dann der
Eigenverantwortung der Unternehmen überlassen. In
den parlamentarischen Beratungen sollten wir alle Argu-
mente noch einmal sorgfältig abwägen.
Der Gesetzentwurf räumt begrüßenswerterweise mit
einigen Wahlrechten auf. Hierdurch fördern wir unter
anderem die Annäherung von Handels- und Steuerbilanz
hin zur sogenannten Einheitsbilanz – in erstrebenswertes
Ziel.
Wenn ich eben erwähnt habe, dass zu Recht zahlrei-
che Verweise auf die IFRS und einige Wahlrechte weg-
gefallen sind, so sollten wir aber doch noch einmal da-
rüber nachdenken, ob es bei der Streichung des Wahl-
rechts hinsichtlich eines befreienden IFRS-Abschlusses
für Kapitalgesellschaften, das der Referentenentwurf
vorsah, bleiben muss. Wir sollten versuchen, auch für
diejenigen Unternehmen, die bereits heute ihren Kon-
zernabschluss nach IFRS bilanzieren, Deregulierungs-
möglichkeiten zu finden. Das Bundesjustizministerium
ging im Referentenentwurf diesbezüglich von einer
messbaren Kostensenkung um immerhin 18 Millionen
Euro aus. Ich weiß um die Befürchtung kleiner und mitt-
lerer Unternehmen, dadurch mittelfristig doch zur IFRS-
Bilanzierung gezwungen zu werden. Wir sollten uns im
Rahmen einer Sachverständigenanhörung erläutern las-
sen, wo Vorteile und Nachteile eines entsprechenden
Wahlrechts liegen, und dann über weitere Schritte ent-
scheiden.
Soweit möglich, sollte – ich habe es schon erwähnt –
versucht werden, die Einheit von Handels- und Steuerbi-
lanz zu erreichen. Daher ist zu überdenken, ob nicht
hinsichtlich der selbstgeschaffenen immateriellen Ver-
mögensgegenstände und der Entwicklungskosten ein
Aktivierungswahlrecht eingeführt werden könnte.
Zusätzlich könnte man sich der Einheitsbilanz nähern,
wenn hinsichtlich der Pensionsverpflichtungen nur ein
Verfahren zur Bewertung von Rückstellungen anzuwen-
den ist. Damit ließe sich zusätzlicher Aufwand für die
Unternehmen vermeiden.
In diesem Zusammenhang wäre es sicher für alle Be-
teiligte hilfreich, zu wissen, ob die Bundesregierung
plant, ein eigenes Steuerbilanzrecht zu erlassen, und wie
weit die Planungen und Arbeiten im dafür zuständigen
Finanzministerium sind. Der diesbezügliche Hinweis in
der Gesetzesbegründung, dass zu analysieren sei, ob zur
Wahrung einer nach der individuellen Leistungsfähigkeit
ausgerichteten Besteuerung eine eigenständige steuerli-
che Gewinnermittlung notwendig sei und wie sie erfor-
derlichenfalls zu konzipieren sei, hat uns alle hellhörig
gemacht. Hier sollte mit offenen Karten gespielt werden,
da die Unternehmen bei Verabschiedung des BilMoG
wissen sollten, ob auf sie noch eine neue Bilanz mit all
den damit zusammenhängenden Kosten zukommt oder
nicht.
19196 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
(A) (C)
(B) (D)
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen ganz wichti-
gen Punkt ansprechen: die Frist des Inkrafttretens. Nach
dem Regierungsentwurf sollen die Regelungen erstmals
auf die nach dem 31. Dezember 2008 beginnenden Ge-
schäftsjahre Anwendung finden. Dies ist jedoch insbe-
sondere aufgrund des hohen Umstellungsaufwands bei
den Unternehmen nicht mehr denkbar. Ich hoffe, dass
wir uns zumindest diesbezüglich zügig einigen können,
um den Unternehmen ein entsprechendes Signal zu ge-
ben.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Mit dem vorliegen-
den Gesetzentwurf diskutieren wir die umfassendste Re-
form des Handelsbilanzrechts seit 1965. Der ursprüngli-
che Referentenentwurf datiert im November 2007. Ein
Jahr wird seither zwischen Justizministerium sowie Ex-
perten und Expertinnen aus der Wirtschaftswissenschaft
und der Beratungsbranche diskutiert, und das aus gutem
Grund – immerhin handelt es sich beim Bilanzrecht um
eine komplexe, hochkomplizierte und gewachsene Ma-
terie. Dazu kommt, dass die Änderung eines Satzes oder
Halbsatzes wesentliche materielle Auswirkungen bei der
Ermittlung des – auch steuerlichen – Gewinns haben
kann.
Worum geht es? Der handelsrechtliche Jahresab-
schluss soll – so das Ziel der Bundesregierung – den in-
ternationalen Rechnungslegungsvorschriften IFRS ange-
passt werden. Gleichzeitig sollen Buchführung und
Bilanzierung billiger und weniger bürokratisch werden.
Durch die Übernahme internationaler Rechnungsle-
gungsvorschriften sollen auch bei kleinen Unternehmen
internationale Standards in die Bilanz einfließen, ohne
dass diese gleich eine Bilanz nach den International Fi-
nancial Reporting Standards (IFRS) erstellen müssen.
Dies stärkt zweifellos deren Position, wenn es bei Kre-
ditinstituten darum geht, kreditfähig zu sein.
Bürokratieabbau, Kostensenkung und Anpassung an
die Internationalisierung sind als Ziele einer Reform des
Bilanzrechts sicherlich nicht abzulehnen. Allerdings sind
die Grundsätze der Handelsbilanz, nämlich der Gläubi-
gerschutz sowie die Transparenz gegenüber den Gläubi-
gern und der Öffentlichkeit, aus unserer Sicht zu wahren.
Vor diesem Hintergrund steht für uns hinter einigen
Neuregelungen ein großes Fragezeichen. Nur zwei Bei-
spiele: So sollen Kaufleute von der Buchführungspflicht
befreit werden, wenn sie in zwei aufeinanderfolgenden
Geschäftsjahren einen Jahresüberschuss von 50 000 Euro
und einen Umsatzerlös von 500 000 Euro nachweisen.
Allein bezogen auf die Umsatzgröße wäre damit übri-
gens die Mehrheit der Unternehmen vom Jahresab-
schluss befreit: bei den Einzelunternehmern rund 90 und
den Offenen Handelsgesellschaften 80 Prozent.
Wir halten die Befreiungsvorschrift aus verschiede-
nen Aspekten für ein Problem: Die doppelte Buchfüh-
rung ist ein wichtiges Zahlenwerk für Unternehmer und
Unternehmerinnen, um Forderungen und Verbindlich-
keiten und den Status bei Anlage- und Umlaufvermögen
oder etwa auch eine Überschuldung festzustellen. Sie ist
damit ein wichtiges Instrument für die Führung von Un-
ternehmen mit einem – wie es im Handelsgesetzbuch so
schön heißt – „voll eingerichteten Geschäftsbetrieb“.
Aus unserer Sicht sollte deshalb die Befreiungsvorschrift
nicht an quantitativen, sondern qualitativen Maßstäben
ausgerichtet sein. Das heißt, nicht die Höhe des Jahres-
überschusses und Umsatzes, sondern der Umfang des
Betriebes entscheidet über die Buchführungspflicht –
wie derzeit auch.
Aus unserer Sicht ist diese Befreiungsvorschrift auch
keine tatsächliche Entlastung, da zahlreiche Unterneh-
men zum Beispiel für Verhandlungen mit Banken ohne-
hin Bilanzen erstellen müssen. Fragen entstehen auch,
wenn man sich diese Vorschrift in der Praxis vorzustel-
len versucht: Der Gewinn ist – kurz gesagt – bei Bilan-
zierenden immer der Unterschiedsbetrag zwischen dem
Betriebsvermögen am Schluss des aktuellen Wirtschafts-
jahres und dem Betriebsvermögen am Schluss des vo-
rangegangene Wirtschaftsjahres. Was aber, wenn in den
vorangegangenen Wirtschaftsjahren aufgrund der Befrei-
ung gar keine Bilanz erstellt werden musste, im aktuellen
jedoch schon? Wo knüpft die Ermittlung des Gewinns
an? Muss das Unternehmen dann eine Eröffnungsbilanz
erstellen?
Unverständlich ist uns – damit komme ich zum zwei-
ten Beispiel –, weshalb an einigen Stellen von dem im
Handelsrecht bewährten Vorsichtsprinzip abgegangen
wird: So sollen zukünftig selbst geschaffene immate-
rielle Vermögensgegenstände, wie zum Beispiel Patente,
im Anlagevermögen der Unternehmen aktiviert werden
können. Zwar werden diese Posten mit einer Ausschüt-
tungssperre belegt, die Eigenkapitalbasis des Unterneh-
mens verbreitert sich aber trotzdem. Dies soll – so die
Begründung der Regierung – deren Fähigkeit verbes-
sern, sich Eigen- und Fremdkapital zu beschaffen. Dies
ist aber aus meiner Sicht bedenklich: In der Begründung
des Gesetzentwurfes selbst wird darauf hingewiesen,
dass die Posten selbst geschaffener immaterieller Ver-
mögenswerte kaum objektiven Werten entsprechen. Das
ist richtig. Sie sind abhängig von der internen Kosten-
rechnung des Unternehmens. Um so fragwürdiger ist,
dass Unternehmen auf einer so unsicheren, schwer ob-
jektivierbaren Basis mehr Kapital beschaffen können
sollen. Aus unserer Sicht ist der Ausweis der selbst er-
stellten Vermögenswerte im Anlagevermögen hierfür
auch nicht nötig, denn im Rahmen einer Kreditgewäh-
rung können Unternehmen über die Bilanz hinaus Unter-
lagen beibringen, die einen Überblick über zum Beispiel
das Vorhandensein von Patenten und ähnlichem geben.
Fragwürdig ist hier auch, weshalb bei der Erstellung der
Handelsbilanz das Vorsichtsprinzip aufgegeben wird –
nicht aber bei der Steuerbilanz. Bei letzterer ist eine Ak-
tivierung selbst erstellter immaterieller Wirtschaftsgüter
auch zukünftig nicht zulässig. Der Aufwand für die Her-
stellung dieser Vermögensgegenstände mindert weiter-
hin den steuerlichen Gewinn.
Die Kritik zahlreicher Sachverständiger, dass unter
anderem durch die letztgenannte Regelung Handels- und
Steuerbilanz weiter auseinanderdriften, teilen wir expli-
zit nicht. Im Gegenteil: Wir haben im Rahmen der Re-
form der Unternehmensbesteuerung die Aufhebung der
Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz
gefordert, da mit Handels- und Steuerbilanz zwei unter-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19197
(A) (C)
(B) (D)
schiedliche Ziele verfolgt werden: Entsprechend dem
bereits erwähnten Vorsichtsprinzip sind die Ansätze in
der Handelsbilanz niedrig angesetzt. Ergebnis ist damit
– aufgrund des Prinzips der Maßgeblichkeit – ein niedri-
ger steuerbilanzieller Gewinn. Dies ist aber problema-
tisch, denn Adressat der Steuerbilanz sind die Finanzbe-
hörden. Die steuerliche Bemessungsgrundlage soll die
reale wirtschaftliche Leistungsfähigkeit in einem kon-
kreten Veranlagungszeitraum widerspiegeln. Das Durch-
schlagen des handelsbilanzrechtlichen Vorsichtsprinzips
auf die Höhe von Ertragsteuern ist also nicht sachge-
recht. Im Rahmen der internationalen Rechnungslegung
existiert eine derartige Verknüpfung zwischen handels-
und steuerbilanziellen Vorschriften auch nicht. Im Übri-
gen geben uns wissenschaftliche Arbeiten der Professo-
ren Spengel und Herzig darin auch Recht.
Fragen ergeben sich für uns auch bezüglich der zu-
künftigen Zurechnung wirtschaftlichen und nicht mehr
zivilrechtlichen Eigentums zum Unternehmensvermögen –
was heißt dies für die Gewinnrealisierung? Wie werden
selbst erstellte immaterielle Vermögenswerte – also „Alt-
fälle“ –, die aber im Unternehmen permanent weiterent-
wickelt werden, behandelt – weiterhin als Aufwand oder
als Aktivposten? Ein Beispiel hierfür ist selbst entwi-
ckelte Software. Wie verträgt sich das Abzinsungsgebot
von Rückstellungen mit dem Realisationsprinzip? Wa-
rum geht die Bundesregierung bei der Vorschrift über die
Bildung von Bewertungseinheiten bei Sicherungsge-
schäften weit über die Richtlinien der internationalen
Rechnungslegung hinaus? Und nicht zuletzt: Wie schla-
gen die handelsbilanziellen Änderungen auf den steuerli-
chen Gewinn durch?
Zwar wird die Steuerneutralität der Reform betont.
Geklärt werden müsste jedoch zum Beispiel wie sich der
Wegfall der umgekehrten Maßgeblichkeit zum Beispiel
auf die Bildung steuerfreier Rücklagen auswirkt. Gerade
bei der Frage der Auswirkungen der Reform auf das
steuerliche Ergebnis ist uns die Zurückhaltung des Fi-
nanzministeriums bei diesem Thema auch völlig unver-
ständlich. Für den weiteren Gesetzgebungsprozess, die
Anhörung und Beratung im Ausschuss, bleiben aus un-
serer Sicht also noch wesentliche Fragen zu klären, Un-
genauigkeiten klarzustellen und Korrekturen vorzuneh-
men.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Kleine und mittelständische Unternehmen in Deutsch-
land sind das Rückgrad der Wirtschaft. Sie garantieren
Millionen von Arbeitsplätzen und tragen Verantwortung
für die Berufsausbildung. Es ist deshalb ein Anliegen
meiner Fraktion, besonders diese Unternehmen von un-
nötigem Bürokratieaufwand und Bürokratiekosten zu
entlasten. Wir begrüßen deshalb im Grundsatz den von
der Bundesregierung eingebrachten Vorschlag zur Mo-
dernisierung des Bilanzrechts.
Ein wichtiger Punkt des Reformvorhabens ist die Be-
freiung von Einzelkaufleuten, die innerhalb von zwei
Geschäftsjahren nicht mehr als 500 000 Euro Umsatzer-
löse und 50 000 Euro Jahresüberschuss aufweisen, von
den bisherigen handelsrechtlichen Buchführungspflich-
ten. Diese Regelung entbindet also von dem kostenauf-
wendigen Erstellen einer handelsrechtlichen Bilanz. Das
kann gerade Betriebsgründerinnen und Betriebsgründern
zugutekommen. Hinter den handelsrechtlichen Buchfüh-
rungspflichten steht das Interesse der Handelspartner an
Offenlegung der wirtschaftsrelevanten Daten. Zudem
dienen die Buchführungspflichten auch den Unterneh-
men selbst, weil sie veranlasst werden, eine betriebswirt-
schaftlich sinnvolle Mindestkontrolle der eigenen Be-
triebstätigkeit auszuüben. Das kann sie auch vor
Insolvenzgefahr schützen.
Einzelkaufleute, die von den handelsrechtlichen
Buchführungspflichten befreit sind, bleiben jedoch zur
Einnahme-Überschuss-Rechnung nach dem Einkom-
mensteuergesetz verpflichtet. Zwar ist eine Überschuss-
rechnung nicht im gleichen Maße wie ein handelsrechtli-
cher Bestandsvergleich zur Kontrolle der betrieblichen
Situation eines Unternehmens geeignet. Wir halten sie
aber dennoch für kleine und mittlere Unternehmen für
ausreichend. Hier überwiegt für uns der positive Aspekt
der Kosten- und Aufwandserleichterung für diese Unter-
nehmen. Im Handelsgesetzbuch – konkret in § 241 a
HGB – sollte aber klargestellt werden, dass die Pflicht
zum Erstellen einer Überschussrechnung weiterhin be-
steht.
Ein weiter Punkt ist mir an dieser Stelle wichtig:
Buchführungspflichten haben, wie gesagt, eine Schutz-
funktion sowohl für die Unternehmen selbst als auch für
Gläubiger und Handelspartner. Wenn die Buchführungs-
pflichten erleichtert werden, sind damit gewissen Risi-
ken verbunden. Denen kann und muss mit einem verbes-
serten Insolvenzrecht begegnet werden. Die
Bundesregierung ist in der Pflicht, eine kohärente Re-
form des Insolvenzrechts vorzulegen. Mit dem Bilanz-
rechtsmodernisierungsgesetz wird deutschen Unterneh-
men eine einfachere und kostengünstigere Alternative zu
den internationalen Rechnungslegungsstandards angebo-
ten. Auch diesen Punkt des Gesetzesvorhabens begrüßen
wir. Die internationalen Rechnungslegungsstandards be-
trachten wir weiterhin kritisch, weil diese Standards
nicht in einem demokratisch legitimierten Gesetzge-
bungsverfahren oder wenigstens in der gebotenen Trans-
parenz und Mitwirkung parlamentarischer Gremien zu-
stande kommen. Vielmehr werden sie von dem IAS-
Board, einem privaten Gremium mit Sitz in London, das
von Industrieunternehmen, Banken, Versicherungsunter-
nehmen und Wirtschaftsprüfern finanziert wird, erarbei-
tet. Ein solches Vorgehen führt zu einem Verlust von
Transparenz und Demokratie. Darauf haben wir bereits
2004 bei der Debatte um das Bilanzkontrollgesetz und
das Bilanzrechtsreformgesetz hingewiesen. Insofern se-
hen wir es positiv, wenn den mittelständischen und nicht
kapitalmarktorientierten Unternehmen eine Alternative
zu den internationalen Rechnungslegungsstandards an-
geboten wird. Dennoch verlieren auch für diese Unter-
nehmen die Internationalen Rechnungslegungsstandards
nicht an Relevanz; denn für die Unternehmen, die inter-
national agieren, kann ein wirtschaftlicher Druck beste-
hen, gemäß den internationalen Regeln zu bilanzieren.
Zudem enthält das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz
19198 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
(A) (C)
(B) (D)
zumindest mittelbare Bezüge zu den Internationalen
Rechnungslegungsstandards.
Wir fordern deshalb die Bundesregierung heute zum
wiederholten Male auf, sich zumindest auf europäischer
Ebene nachhaltig für ein demokratisch legitimiertes Zu-
standekommen der Internationalen Rechnungslegungs-
standards einzusetzen. Diese dürfen von der EU nicht
blind übernommen werden, sondern müssen unter Mit-
wirkung des Europäischen Parlaments und der nationa-
len Parlamente erarbeitet und beschlossen werden.
Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin der Justiz, Die Bundesregierung hat
den Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Bi-
lanzrechts vorgelegt. Wir wollen mit diesem Gesetz da-
für sorgen, dass mittelständische Unternehmen noch bes-
sere Rahmenbedingungen in Deutschland vorfinden. Die
Wirtschaft braucht moderne und effiziente Bilanzie-
rungsregeln. Nur dann bleibt das notwendige Vertrauen
in die Finanzinformationen der Unternehmen erhalten.
Dabei muss man unterscheiden:
Die großen, börsennotierten Unternehmen orientieren
sich an den internationalen Rechnungslegungsstan-
dards, den sogenannten IFRS. 2004 haben wir daher mit
dem Bilanzrechtsreformgesetz vor allem der IFRS-An-
wendung im Konzernabschluss kapitalmarktorientierter
Unternehmen aufgrund der europäischen IAS-Verord-
nung Rechnung getragen.
Für kapitalmarktorientierte Unternehmen haben sich
die IFRS inzwischen zu den weltweiten Rechnungsle-
gungsstandards entwickelt. Eine Erfolgsgeschichte, die
nur wenige für möglich gehalten haben. Und Europa war
von Anfang an mit dabei und hat mit der IAS-Verord-
nung eine wichtige Vorreiterrolle eingenommen.
Für die kleinen und mittelständischen Unternehmen,
also für das Gros der deutschen Kapitalgesellschaften,
sind die IFRS hingegen zu kompliziert und deshalb nicht
brauchbar. Daran werden auch die als Entwurf vorlie-
genden „IFRS für KMU“ nichts ändern. Diese Unterneh-
men richten sich nach dem deutschen HGB-Bilanzrecht,
das ihnen ein bewährtes und kostengünstiges Regelwerk
an die Hand gibt.
Allerdings sehen sich die kleinen und mittleren Un-
ternehmen vermehrt unter einem gewissen Druck, auf
die internationalen Standards umschwenken zu müssen.
Dieser Druck kommt teils von den Banken teils von aus-
ländischen Unternehmen. Wir wollen diesen Druck von
den Mittelständlern nehmen und müssen deshalb dafür
sorgen, dass die Handelsbilanz noch aussagekräftiger
wird und das HGB-Bilanzrecht im Wettbewerb mit den
internationalen Rechnungslegungsstandards bestehen
kann. Das HGB-Bilanzrecht soll eine vollwertige Alter-
native zu den internationalen Standards bieten, ohne de-
ren Nachteile übernehmen.
Stichworte sind hier: die Aktivierung selbstgeschaffe-
ner immaterieller Vermögensgegenstände des Anlage-
vermögens; die Zeitwertbewertung von Finanzinstru-
menten, die zu Handelszwecken erworben worden sind;
die zukunftsgerichtete Rückstellungsbewertung und die
Abschaffung nicht mehr zeitgemäßer Bilanzierungs-
wahlrechte und der umgekehrten Maßgeblichkeit.
Zur Verbesserung der Aussagekraft gehört auch, dass
die wirtschaftlichen Risiken bei den sogenannten Zweck-
gesellschaften künftig besser aufgedeckt werden müssen
– eine Lehre aus der Finanzmarktkrise der letzten Mo-
nate.
Daneben wollen wir deregulieren und den Bilanzie-
rungsaufwand für kleinere und mittlere Unternehmen re-
duzieren. Mittelständische Einzelkaufleute, die nur einen
kleinen Geschäftsbetrieb unterhalten, werden von han-
delsrechtlichen Buchführungs- und Bilanzierungspflich-
ten befreit. Und durch die Anhebung der Schwellen-
werte für kleine und mittlere Kapitalgesellschaften
können in Zukunft mehr Unternehmen in den Genuss der
entsprechenden Erleichterungen bei Buchführung, Bi-
lanzierung, Abschlussprüfung und Offenlegung kom-
men. Für die betroffenen Unternehmen bedeutet das
1,3 Milliarden Euro weniger Kosten pro Jahr!
Die bisherigen Stellungnahmen von Verbänden, Wis-
senschaft und Praxis haben gezeigt, dass wir mit der
Grundlinie des BilMoG richtig liegen: Verbesserung der
Aussagekraft der HGB-Abschlüsse so weit notwendig;
Deregulierung so weit möglich; Erhaltung des HGB-Bi-
lanzrechts als eigenständige Regelung; Beibehaltung der
Maßgeblichkeit sowie Steuerneutralität des BilMoG.
Diese Bilanzrechtsmodernisierung ist weder Anlass
für Steuergeschenke, noch sollen zusätzliche Steuerbe-
lastungen auf die betroffenen Unternehmen zukommen.
Einige Punkte, deren Prüfung auch der Bundesrat in
seiner Stellungnahme angeregt hat, werden wir im wei-
teren Verfahren nochmals diskutieren. Dabei wird es bei-
spielsweise darum gehen, ob sich die Regelungen noch
klarer fassen lassen – zum Beispiel im Hinblick auf die
Zeitwertbewertung von Finanzinstrumenten, Bewer-
tungseinheiten oder das Prinzip der wirtschaftlichen Zu-
rechnung.
Es ist jedoch zu berücksichtigen: Wir wollen uns be-
wusst nicht in die Hände der internationalen Standards
begeben. Unterschiede zu IFRS werden bleiben, um im
Interesse der kleinen und mittleren Unternehmen Rege-
lungen zu schaffen, die möglichst einfach zu handhaben
sind, die aber auch genügend Rechtssicherheit bieten.
Dem dient unter anderem auch die Beibehaltung der
Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die steuerliche
Gewinnermittlung: Die Unternehmen sollen grundsätz-
lich weiterhin in der Lage sein, eine Einheitsbilanz auf-
zustellen. Der handelsrechtliche Jahresabschluss bleibt
Grundlage der Gewinnausschüttung und Besteuerung.
Ich hoffe, dass wir die Beratungen hier im Bundestag
zügig abschließen können. Dies ist nicht nur im Interesse
unserer Unternehmen, die möglichst bald Rechtssicher-
heit wollen. Wir setzen mit dem BilMoG auch zwei EU-
Richtlinien mit Regelungen zur Corporate Governance
von Kapitalmarktunternehmen und zur Abschlussprü-
fung um, deren Frist gerade abgelaufen ist.
Die Bundesregierung wird sich in jedem Fall für eine
praxisgerechte Ausgestaltung der Übergangsvorschriften
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19199
(A) (C)
(B) (D)
des BilMoG einsetzen. Es ist klar, dass die Unternehmen
eine ausreichende Umstellungszeit brauchen.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebenen Reden
zur Beratung:
– Unterrichtung: Bundesbericht zur Förde-
rung des Wissenschaftlichen Nachwuchses
– Antrag: Wissenschaft als Beruf attraktiver
machen – Den wissenschaftlichen Nach-
wuchs besser unterstützen
(Tagesordnungspunkt 15 a und b)
Marion Seib (CDU/CSU): Deutschlands wichtigste
Ressource sind – und darüber sind wir uns alle einig –
die Menschen. Der Innovationsstandort Deutschland
braucht exzellenten wissenschaftlichen Nachwuchs und
beste Bedingungen. Sie sind das Fundament, auf denen
die Zukunft Deutschlands entsteht. Ziel der Nachwuchs-
förderung ist es, die besten Bedingungen zu schaffen,
damit gut qualifizierte Menschen ihre Chancen in Wis-
senschaft und Forschung in Deutschland wahrnehmen
können. In Deutschland wird auf höchstem Niveau ge-
forscht und gelehrt. Das ist nur möglich, wenn Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftler exzellente Bedingun-
gen vorfinden und sich die Klügsten für eine Karriere in
Wissenschaft und Forschung entscheiden.
Wir brauchen auch in Zukunft wissenschaftlichen
Nachwuchs. Das heißt, dass wir unbedingt die Weichen
dafür stellen müssen, dass die Abiturientenquote dras-
tisch erhöht wird. Dies soll nicht auf dem Weg der An-
forderungsabsenkung, sondern auf dem Weg der Indivi-
dualförderung geschehen. Die Zeit drängt. Das, was wir
heute regeln und entscheiden, wird erst in zehn bis zwölf
Jahren zum Tragen kommen. Deshalb sind alle an dieser
Aufgabe Beteiligten aufgerufen, hier mitzuwirken.
Die Diskussion um die Schulstruktur, ob gegliedert
oder nicht gegliedert, ist dabei eine vollkommen über-
holte Diskussion. Mit der Föderalismusreform haben wir
das entschieden. Die Länder sind zuständig. Sie sind da-
bei auch zuständig, die Konkurrenzsituation um die bes-
ten Schulen zu organisieren.
Viel wichtiger ist, dass wir uns darum kümmern,
„was“ an Lerninhalten und „wie“ diese vermittelt wer-
den. Kreativität und Begeisterungsfähigkeit, gepaart mit
breitem Allgemeinwissen und sicherem mathematischen
Denken und naturwissenschaftlichen Grundkenntnissen,
sind die Grundlage für künftige berufliche Erfolge im
akademischen und nichtakademischen Bereich. Hierauf
unser Augenmerk zu legen, halte ich für ungeheuer
wichtig.
Einiges wurde in der Programm- und Projektförde-
rung bereits geleistet, wie beispielsweise die Mittelbe-
reitstellung für die Begabtenförderung in Höhe von
113 Millionen Euro für das Jahr 2008, sodass wesentlich
mehr junge Menschen in ihrem Studium und im Rahmen
ihrer Promotion finanziell unterstützt werden können,
die Erhöhung der Promotionsstipendien auf 1 050 Euro
monatlich, das Programm „Zeit gegen Geld“, das dazu
beiträgt, dass Familie und Karriere für Begabte im
Hochschulbereich besser vereinbar werden, das Wissen-
schaftszeitvertragsgesetz, das die Sonderregelungen für
die Qualifizierungsphase von jungen Wissenschaftlerin-
nen und Wissenschaftlern um eine familienpolitische
Komponente ergänzt, damit zur Familiengründung er-
mutigt wird, die ins Leben gerufene Alexander-von-
Humboldt-Professur, mit der ausländische Wissenschaft-
ler und Wissenschaftlerinnen aller Fachgebiete in
Deutschland und deutsche Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler im Ausland mit hervorragenden Leis-
tungen angeworben werden können.
Wichtig ist der Hochschulpakt, mit dem sichergestellt
wird, dass bis 2010 insgesamt über 90 000 zusätzliche
Studienanfängerinnen und Studienanfänger an den
Hochschulen aufgenommen werden können. Auch der
Pakt für Forschung und Innovation, der den drei großen
Forschungs- und Wissenschaftsorganisationen einen
jährlichen Mittelzuwachs von mindestens 3 Prozent ga-
rantiert, ist von entscheidender Bedeutung. Für Interes-
sierte aus dem In- und Ausland wurde ein Kommunika-
tions- und Informationssystem Wissenschaftlicher Nach-
wuchs, KISSWIN, eingerichtet, das schnell und pro-
blemlos über Karrierewege und Fördermöglichkeiten
informiert. Auch die Exzellenzinitiative, durch die ins-
gesamt bisher 39 Graduiertenschulen mit jährlich rund
1 Million Euro gefördert werden, ist zu begrüßen. Die
Nachwuchsförderung wird damit nachhaltig gestärkt,
und ein derartiges Exzellenznetzwerk zwischen den
Hochschulen trägt dazu bei, dass die Hochschulfor-
schung mit den übrigen Säulen der deutschen For-
schungslandschaft Schritt halten kann. Wissenschaftli-
cher Nachwuchs braucht attraktive Rahmen- und
Arbeitsbedingungen, um exzellent, effizient und interna-
tional wettbewerbsfähig arbeiten zu können. Daher brau-
chen wir das Wissenschaftsfreiheitsgesetz. Die Förde-
rung des wissenschaftlichen Nachwuchses ist in unser
aller Interesse und im Interesse unseres Landes. Die Zu-
kunft unserer Kinder und Enkel ist unmittelbar betrof-
fen. Daher ist eine verstärkte Förderung des wissen-
schaftlichen Nachwuchses unabdingbar.
Dieter Grasedieck (SPD): „Ich habe mich in den
USA und in Europa beworben. Das beste Angebot be-
kam ich aus Deutschland“, sagte Professor Seifert von
der Universität Bochum Anfang September auf der
GAIN-Tagung in Boston, USA. Professor Seifert
forschte an einer amerikanischen Universität und bekam
dann eine Forschungsförderung von der Deutschen For-
schungsgemeinschaft, DFG. Nach dem Emmy-Noether-
Programm können sich die Wissenschaftler mit dem
Programm an deutschen Universitäten bewerben. Als Ju-
niorprofessor arbeitet der junge Wissenschaftler jetzt in
Bochum und kann natürlich auch Doktoranden betreuen:
„Es hat sich etwas bewegt in Deutschland. Ideen haben
in Deutschland eine Zukunft“, sagte er in seinem Vor-
trag.
19200 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
(A) (C)
(B) (D)
Es hat sich etwas bewegt in Deutschland: Das Promo-
tionsstipendium ist auf 1 050 Euro erhöht worden. Jähr-
lich werden zehn weltweit führende Wissenschaftler al-
ler Fachrichtungen aus dem Ausland angeworben. Diese
Professoren sollen langfristig in Deutschland forschen.
Bis 2004 wurden vom Bund 850 Stellen für Juniorpro-
fessoren eingerichtet. Gefördert werden 40 Graduierten-
schulen und 30 Exzellenzcluster mit 1,9 Milliarden Euro
von 2006 bis 2011. Ein Professorinnenprogramm ist
vom Bund und von den Ländern beschlossen worden. In
den nächsten fünf Jahren sollen 200 neue Stellen für
Professorinnen eingerichtet werden. Der Bund zahlt
75 Millionen Euro. Die Zusammenarbeit von Hoch-
schule und Wirtschaft für anwendungsorientierte For-
schung und Entwicklung wird durch den Bund mit
319 Millionen Euro gefördert. Fachhochschulen, Uni-
versitäten und mittelständische Unternehmen forschen
gemeinsam anwendungsorientiert.
Der Bundesbericht zur Förderung des wissenschaftli-
chen Nachwuchses weist aber auch auf zukünftige Ver-
besserungen hin: So benötigen wir an unseren Hoch-
schulen eine längerfristige Karriereplanung. Deshalb
wird in der Zukunft eine differenzierte Feststellung der
jährlichen, neu zu besetzenden Professorenstellen für
Nachwuchswissenschaftler zusammengestellt. In Zu-
kunft muss die Anerkennung von Studien und Beschäfti-
gung im Ausland verbessert werden.
Wir müssen unseren deutschen und auch ausländi-
schen Wissenschaftlern deutlich machen: Die Universi-
tätstüren in Deutschland sind weit geöffnet. Junge Ta-
lente sind in Deutschland willkommen. Wir brauchen
Akademiker. Die Zahl der Studienanfänger steigt im
Jahr 2012 um circa 22 Prozent gegenüber 2004; bis 2014
steigt die Zahl bis zu 36 Prozent. Deutsche Universitäten
benötigen junge Wissenschaftler. Bis zum Jahre 2013
gehen 330 000 Akademiker in Pension. Und schon heute
suchen wir 100 000 Ingenieure. Junge Menschen haben
eine gute Chance. Unsere Industrie und das Handwerk
suchen Ingenieure, auf der anderen Seite sind viele ältere
Ingenieure arbeitslos. Das Wissen verändert sich drama-
tisch, deshalb ist es wichtig, dass unsere Ministerin
Annette Schavan auf dem Bildungsgipfel einen Hoch-
schulwettbewerb für intelligente Weiterbildungskon-
zepte startet und ab 2010 200 Millionen Euro bereitstel-
len will. Wir brauchen lebenslanges Lernen sowohl für
jeden Facharbeiter, für jeden Akademiker, für jeden Po-
litiker und für jeden Spitzenmanager. Einige Universitä-
ten wie die Elite Universität in Aachen bieten für Akade-
miker aus aller Welt Managementseminare an. „Hier in
Aachen können die Teilnehmer mit Experten über die
wichtigen Themen der nächsten 50 Jahre diskutieren und
Szenarien entwickeln“, sagte ein Inder am Ende der Ta-
gung. Nur so können wir in der Gesellschaft die Wis-
sensexplosion meistern. Auch für diese wichtige Auf-
gabe benötigen unsere Universitäten junge Professoren.
85 Prozent der jungen deutschen Forscher, die in Ame-
rika oder in anderen Ländern arbeiten, kommen nach
zwei bis drei Jahren nach Deutschland zurück. Diesen
Prozentsatz müssen wir steigern und mehr ausländische
Forscher müssen davon überzeugt werden. Die besten
Forschungsbedingungen finde ich in der deutschen In-
dustrie oder an deutschen Universitäten.
Unsere Bundesregierungen haben im letzten Jahr-
zehnt viel erreicht. Hier müssen wir weitermachen.
Deutschlands Hochschulen sollen das Kraftzentrum der
Wissensgesellschaft bleiben, und Deutschlands Industrie
muss Exportweltmeister bleiben. Wir benötigen dazu
weitere finanzielle Förderung. Deshalb war ich begeis-
tert, dass unsere Bundeskanzlerin in der vergangenen
Woche im Plenum sagte: „Aus der Bundesrepublik muss
eine Bildungsrepublik werden. Diese Bildungsrepublik
ist der beste Sozialstaat.“ Ich möchte noch ergänzen:
Kostenlose Bildung für alle, von der Kita bis zur Uni,
damit auch in 20 Jahren deutsche Forscher den Nobel-
preis in Schweden erhalten. Hier stehen wir fest an der
Seite unserer Bundeskanzlerin. Die Union sollte bei die-
ser wichtigen Frage mitmachen. Mehr Mut ist gefragt.
Uwe Barth (FDP): Die Bundesregierung legt heute
ihren Bericht zur Förderung des wissenschaftlichen
Nachwuchses vor. Auf über 300 Seiten wird im wahrsten
Sinne des Wortes berichtet. Zu politischen Überlegungen
und Plänen äußert sich die Regierung allerdings nur auf
knappen zwei Seiten stichpunktartig in sogenannten
Handlungsansätzen. Alleine dieser Umstand spricht
Bände! Insgesamt ist der Bericht – vielleicht gerade auf-
grund der ausgesparten politischen Prosa – so erhellend
wie ausführlich. Er zeichnet ein vielfach positiveres Bild
von der ausgerufenen „Bildungsrepublik Deutschland“
als wir es in den vergangenen Jahren gewohnt waren. Es
scheint, zumindest auf den ersten Blick, dass es gar nicht
so übel um den wissenschaftlichen Nachwuchs bestellt
ist. Doch bei genauerer Betrachtung finden sich auch
hier Schattenseiten, über die wir nicht leichtfertig hin-
weggehen dürfen. Gerade die altbekannten Defizite exis-
tieren fort – und die sparsamen Vorschläge der Bundes-
regierung geben keinen berechtigten Anlass, um auf eine
Lösung dieser Probleme hoffen zu dürfen.
Die Zahl der postgradualen Abschlüsse an deutschen
Hochschulen lässt aufatmen. Beim Blick auf unsere Pro-
motionsquote könnte man sogar geneigt sein, in Jubel
auszubrechen: Kein anderes Land schafft es, so viele
junge – oder auch nicht mehr ganz so junge Menschen
(die meisten sind zwischen 30 und 35 Jahre alt) – zum
Doktortitel zu bringen. Während der EU-27-Durch-
schnittwert bei 2,73 Promotionen je 100 Hochschulab-
schlüssen liegt, kann Deutschland eine Quote von stol-
zen 11,7 Prozent vorweisen. Damit liegen wir erheblich
über dem Anteil Frankreichs (2,09 Promotionen) oder
Großbritanniens (2,63). Doch wer nun meint, dass – in
Anbetracht dieser schönen Zahlen und der doch sehr be-
eindruckenden Werte – man sich nun getrost zurückleh-
nen könne, der irrt gewaltig. Denn der Promotion kommt
in Deutschland eine ganz andere Bedeutung zu als in un-
seren Nachbarstaaten. Während sie andernorts den ers-
ten Meilenstein einer akademischen Karriere darstellt,
neudeutsch „Tenure Track“ genannt, ist der Weg zum
Doktor in Deutschland häufig eine Verlegenheitslösung,
meist markiert er dann auch das Ende des akademischen
Werdegangs. Zu häufig wird die Promotion aus Furcht
vor Arbeitslosigkeit gewählt (und wird beim Eintritt in
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19201
(A) (C)
(B) (D)
ein reguläres Beschäftigungsverhältnis aufgegeben),
dient der Überbrückung von Wartezeiten, die wiederum
überalterten Studienstrukturen geschuldet sind, oder
dient der Statussicherung – wohlgemerkt – außerhalb
des Wissenschaftssystems.
Dies wird besonders deutlich, wenn man sich unsere
angehenden Juristen anschaut. 76 Prozent der Studentin-
nen und Studenten lehnen eine künftige Tätigkeit an ei-
ner Hochschule rundweg ab – nur 2 Prozent dieser Stu-
dierenden streben mit Bestimmtheit einer akademischen
Tätigkeit entgegen. Dennoch sind 25 Prozent dieser
Gruppe gewillt, eine Promotion aufzunehmen. Der
10. Studierendensurvey an Universitäten und Fachhoch-
schulen hat diesen Befund nochmals empirisch unter-
legt. Denn obwohl die Zufriedenheit der Studierenden
mit dem Studienangebot gewachsen ist – 72 Prozent
schätzen es als gut oder sehr gut ein –, erscheint den Stu-
dierenden der „Verbleib an der Hochschule eher als eine
Notlösung“. Im Bericht heißt es, dass „über die Hälfte
aller Studierenden beabsichtigt, weiterzustudieren, falls
der Berufseinstieg nicht gelingen sollte“ (Seite 54). Ge-
rade einmal 3 Prozent eines Jahrganges wollen aber un-
bedingt an einer Hochschule arbeiten (Seite 49).
Eine solche Entwicklung ist einmalig, für den deut-
schen Hochschulraum jedoch leider kennzeichnend.
Grundsätzlich muss die Frage erlaubt sein, ob die vom
Staat investierten Ressourcen optimal eingesetzt werden
oder ob hier nicht mit der Lebenszeit junger Menschen
fahrlässig umgegangen wird. Die Promotion sollte nicht
regelmäßig den Endpunkt oder Ausstiegspunkt darstel-
len, sondern vielmehr einen Zwischenschritt auf der Lei-
ter im Wissenschaftssystem markieren. Zu den dafür nö-
tigen Voraussetzungen gehört zum Beispiel der Aufbau
von Graduiertenkollegs. Durch eine adäquate Betreuung
und Austauschmöglichkeiten wird hier den Studierenden
ein Arbeitsumfeld geboten, welches Supervision ohne
allzu enge Fesseln ermöglicht. Das ist nur ein denkbares
Mittel, Promovierende zu unterstützen.
Wir müssen jedoch auch zusätzliche Möglichkeiten
zur Absicherung des Lebensunterhalts für die Nach-
wuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zur
Verfügung stellen. Auf der Suche nach geeigneten Bei-
spielen lohnt es sich, nach Holland zu schauen. Dort er-
halten die an den Graduiertenkollegs eingeschriebenen
Studierenden ein Stipendium – als Gegenleistung sind
sie dazu verpflichtet, einen gewissen Anteil ihrer Ar-
beitszeit (circa 10 Prozent) der Betreuung der Studieren-
den in Bachelorstudiengängen zu widmen. So werden
Forschung und Lehre zu einem frühen Zeitpunkt in der
wissenschaftlichen Karriere verbunden, Studierende und
Promovierende profitieren von der Erfahrung gleicher-
maßen. Gerade deswegen ist das Ziel der FDP, die Sti-
pendienquote auf mindestens 10 Prozent anzuheben,
richtig und wird – auch gegen den Widerstand von SPD,
der Linken und den Grünen – weiterhin mit Nachdruck
verfolgt.
Eine erfolgreiche Wissenschaftspolitik hängt jedoch
maßgeblich davon ab, inwiefern es uns gelingt, unsere
Universitäten konsequent zu stärken. Neben der Einrich-
tung der Graduiertenkollegs und der Verankerung des
Promotionsrechts müssen wir die Qualität der Lehre ent-
sprechend absichern. Wenn Bund und Länder den Hoch-
schulpakt verramschen, indem sie die Studienplatzkos-
ten auf Billigstniveau veranschlagen, dann geht dies
zwangsläufig zulasten der Hochschulqualität. Der zu-
ständige Staatssekretär hat in der Ausschusssitzung die-
ser Woche bestätigt, dass die veranschlagten 5 500 Euro
zu knapp bemessen seien. Dies kann und darf nicht hin-
genommen werden, denn durch diesen Selbstbetrug ge-
fährden wir den Wissenschaftsstandort Deutschland. Ge-
rade deswegen hat die FDP-Bundestagsfraktion eine
Initiative verabschiedet, die eine Korrektur der Kalkula-
tion vorsieht. Damit würde der Forderung der Hochschu-
len entsprochen, und eine 25-Prozent-Erhöhung der Stu-
dienplatzpauschale wäre realisierbar.
Schließlich will ich das Plädoyer der FDP-Bundestags-
fraktion für die Verabschiedung eines Wissenschaftstarif-
vertrags abermals erneuern. Wir Liberale setzen uns seit
Jahren dafür ein, dass der Wissenschaftsbetrieb die so
dringend benötigte Flexibilität bei der Vergütung des
Personals erhält. Es ist unfassbar, dass sich hier nichts
tut. Denn gerade diese überkommenen Entlohnungs- und
Arbeitszeitstrukturen, mit denen wir uns in Deutschland
konfrontiert sehen, behindern Vergleichbarkeit, Wettbe-
werbsfähigkeit und Mobilität innerhalb und außerhalb
Deutschlands. Hier muss die Bundesregierung die Part-
ner an einen Tisch bringen und dafür sorgen, dass wir für
das Wissenschaftssystem förderliche Lösungen entwi-
ckeln.
In den kommenden Jahren wird sich entscheiden, ob
es uns gelingt, die Situation des wissenschaftlichen
Nachwuchses in Deutschland nachhaltig zu stabilisieren
und unsere Vorsprünge zu wahren. Dabei ist es zwin-
gend erforderlich, dass wir die Funktionalität der post-
gradualen Studiengänge überprüfen, eine Verbesserung
der Karriereplanung für Nachwuchswissenschaftler her-
beiführen sowie unsere Universitäten – als Zentren der
Nachwuchsförderung – adäquat mit Mitteln ausstatten.
Die Bundesregierung und die Länder haben diese Auf-
gabe bislang nicht in einem ausreichenden Maße erfüllt –
und deswegen müssen sie sich nun mit Nachdruck die-
sen Problemstellungen widmen!
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Lassen Sie mich mit
einer Merkwürdigkeit des deutschen Wissenschaftssys-
tems beginnen. Diese dürfte auch Demografen irritieren.
Es ist nämlich gar nicht so selten, dass man in Deutsch-
land bis zum zarten Alter von gut vierzig Jahren noch
zum wissenschaftlichen Nachwuchs zählt. Und das
kommt so:
Während in anderen Ländern die Qualifizierung for-
mal mit Promotion und Lehrberechtigung abschließt,
kann man in Deutschland sogar noch mit der Habilitie-
rung zum wissenschaftlichen Nachwuchs gehören. Bis
dahin sitzt man auf sogenannten Qualifizierungsstellen.
Diese sind fast immer befristet. Solange diese Nach-
wuchswissenschaftlerinnen nicht den Sprung auf einen
Lehrstuhl geschafft haben, hangeln sie sich also durch
eine akademische Laufbahn, ohne klare Aussichten, ob
sie dort auch jemals richtig ankommen. Zwischenzeit-
19202 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
(A) (C)
(B) (D)
lich erfüllen sie voll und ganz Aufgaben in Forschung
und Lehre. Zudem betreuen und beraten sie Studierende,
korrigieren Klausuren, bereiten aufwendige Anträge in-
nerhalb diverser Förderprogramme von Bund, Ländern
und EU namens ihrer Professorinnen vor, schreiben an
Veröffentlichungen mit und anderes mehr. Sie zählen als
Nachwuchs, erfüllen mit diesem Beschäftigungsprofil
faktisch aber reguläre Aufgaben in Forschung und
Lehre. Vor diesem Hintergrund wird klar, dass man im
Grunde nur über wissenschaftlichen Nachwuchs reden
kann, wenn zugleich die Zukunft des Konzepts „akade-
mischer Mittelbau“ thematisiert wird.
Damit sind wir mitten in einer Debatte von Beschäfti-
gungsbedingungen, Personalstrukturen und Tarifrege-
lungen des Wissenschaftssystems. Denn es gibt im deut-
schen System nicht nur Merkwürdigkeiten, sondern auch
Anachronismen. Die gesamte akademische Laufbahn
richtet sich auf die Berufung zum Professor. Da jedoch
die Zahl der Professuren um ein Mehrfaches unter der
Zahl der Bewerberinnen liegt, müssen zwangsläufig
viele aus der Kurve fliegen. Unterhalb von Professuren
ist das deutsche Hochschulsystem für Beschäftigte aber
ausgesprochen unattraktiv. Nur ein Fünftel der Stellen
sind dauerhafte Hochschullehrerstellen. In anderen Staa-
ten ist dieser Anteil deutlich höher. Die restlichen vier
Fünftel sind in Deutschland großenteils schlecht be-
zahlte Stellen oder von Professuren abhängende
Zeitverträge – fast die Hälfte davon in Teilzeit, da die
Mittel nicht zu mehr reichen. Auf halben Stellen ganz zu
arbeiten, wird unterschwellig erwartet und getan. Eine
Stelle teilen sich oftmals zwei Nachwuchskräfte.
Damit klar wird, welche Einkommenshöhe erreicht
wird, sei ein Beispiel angeführt: Diese halben Stellen
bringen dem oder der Inhaber/in dann nach Bundesange-
stelltentarif etwa 1 000 Euro netto monatlich. Promotion
oder Habilitation werden häufig nebenbei geschrieben.
Folge: Wissenschaftliche Laufbahnen sind nicht planbar.
Es kann passieren, dass man nach Jahren auf diesen Stel-
len mit oder ohne Qualifizierung ausscheidet und ar-
mutsbedroht ist. Dann ist man nicht mehr wissenschaftli-
cher, sondern Hartz-IV-Nachwuchs. Zudem kann die
unmittelbar persönliche Abhängigkeit von Professoren
die Selbstständigkeit in Lehr-, Forschungs- und Mitbe-
stimmungsrechten an der Hochschule erheblich ein-
schränken. Nicht unbedingt die hohe Schule für innova-
tives, unabhängiges Denken!
Daher fordert die Linke: erstens das System so zu ge-
stalten, dass Wissenschaft nicht nur als Berufung im
Sinne von Hingabe, sondern auch in sozialer Verantwor-
tung als Beruf verstanden wird. Entsprechend müssen
Bund und Länder endlich für wissenschaftspezifische
Regelungen in den Tarifverträgen sorgen, die ein flexib-
les Arbeiten mit auf Dauer angelegten Entwicklungs-
möglichkeiten der Beschäftigten zum Ziel haben. Das ist
eine Grundvoraussetzung, um endlich auch deutlich
mehr Frauen Chancen auf Qualifikation und Berufung
zu verschaffen. Zur dieser Problematik – mehr Frauen in
die Wissenschaft und Gender in der Forschung – liegen
aktuell von allen Fraktionen umfangreiche Anträge vor.
Zweitens müssen die Stellen für wissenschaftlichen
Nachwuchs Qualifizierung in Forschung und Lehre glei-
chermaßen ermöglichen. Die Einheit von Forschung und
Lehre muss auch personalisiert umgesetzt werden.
Drittens müssen im Wissenschaftszeitvertragsgesetz
die Endlosschleifen der Befristung von Verträgen und
die sogenannte Tarifsperre gelöscht werden. Bevor der
Weg für nach oben offene Spitzengehälter für wenige
bereitet wird, muss die Bundesregierung dem Nach-
wuchs entsprechend der EU-Forschercharta optimale
Bedingungen bieten.
Viertens bedarf es einer verlässlichen Sockelfinanzie-
rung von Wissenschaftseinrichtungen. Der normale Wis-
senschaftsbetrieb darf nicht auf Auftragsforschung ange-
wiesen sein. Diese Einnahmen machen ja auch nur
befristete Beschäftigung und keine verlässlichen Bedin-
gungen in Arbeitszeit und Bezahlung möglich. Schon
heute wird ein Fünftel der wissenschaftlichen Mitarbei-
ter von Hochschulen aus dieser Auftragsforschung be-
zahlt.
Mit dieser Entwicklung verlieren die Hochschulen
Schritt für Schritt die verfassungsrechtlich garantierte
Freiheit von Forschung und Lehre. Immer mehr erfolgen
Forschungs- und Lehrprofilierung nach nicht wissen-
schaftsgeleiteten Kriterien. Vor diesem Hintergrund
sollte die Exzellenzinitiative auslaufen und beabsichtigte
Finanzierungen in einen Hochschulpakt II überführt
werden, um mehr Mittel für grundständige Forschung
und Lehre freizumachen. Spezielle Nachwuchspro-
gramme außerhalb klassischer Hochschulstrukturen, wie
Emmy-Noether-Programm und Heisenberg-Professur,
sollten deutlich aufgestockt werden.
Fünftens sollte der Wissenschaftsrat mit einer Studie
zur Reform der Nachwuchsförderung beauftragt werden.
Diese müsste insbesondere konkrete und verlässliche
Vorschläge zu Laufbahnplanungen und -beratungen, zu
Mentoring- und Personalentwicklungsprogrammen der
Hochschulen und Forschungseinrichtungen enthalten.
Mein Fazit: Die Bundesregierung sollte die Förde-
rung des Nachwuchses in der Breite mindestens genauso
wichtig nehmen wie ihre exorbitant teuren Exzellenz-
und Hightechinitiativen.
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es gibt
in Deutschland zu wenige Forscherinnen und Forscher
und zu wenige junge Menschen, die sich für eine Karrie-
re in der Wissenschaft entscheiden. Über diese Dia-
gnose sind wir uns alle einig – und auch darüber, dass
angesichts des demografischen Wandels und der Anfor-
derungen unserer modernen Wissensökonomie Bund,
Länder und die anderen Wissenschaftsakteure dieser zu-
kunftsfeindlichen Entwicklung entgegensteuern müssen.
Nach dieser Absichtserklärung ist es aber meist auch
schon vorbei mit der Einigkeit. Die Bundesbildungs-
ministerin scheint die Wissenschaft und vor allem den
wissenschaftlichen Nachwuchs gedanklich schon kom-
plett aus ihrer Zuständigkeit entlassen zu haben. Das ist
aber ein fataler Trugschluss!
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19203
(A) (C)
(B) (D)
Die Wertschätzung von Wissenschaft, das Wecken
von Forscherdrang und das Fördern aller Potenziale und
Talente müssen so früh wie möglich ansetzen. Die Wei-
chen werden von Anfang an gestellt: durch eine stärkere
frühkindliche Bildung, durch eine individuelle Förde-
rung und längeres gemeinsames Lernen anstatt Aussor-
tierens im mehrgliedrigen Schulsystem. Hier brauchen
wir schleunigst Strukturreformen.
Aber ich will mich auf die Nadelöhre zu und an den
Hochschulen konzentrieren. Fangen wir bei den Studie-
renden an: Die Bundesregierung lobt sich in der Unter-
richtung selbst, wie deutlich sie die Talentförderung ge-
steigert habe. Da muss ich gleich das erste Wasser in den
Wein kippen: Der Hochschulpakt I hat das Zeug dazu,
sich zum Rohrkrepierer zu entwickeln. Die erste Zwi-
schenbilanz zeigt, dass er keine 13 000, sondern nur gut
3 000 zusätzliche Studienanfänger gebracht hat. Wie soll
das Potenzial von Zehntausenden Studienberechtigten
gefördert werden, wenn sie es nicht einmal auf den Uni-
Campus schaffen, und vor verschlossenen Hörsaaltüren
stehen bleiben? Dass Sie diesen überaus mageren Start
tatsächlich als „Teilerfolg“ bewerten, ist unerhört! Sie
müssen beim Bildungsgipfel mit den Ländern alles da-
ransetzen, den Pakt I zu retten und nachzuverhandeln.
Als Nächstes fällt der Blick auf erfolgreiche Hoch-
schulabsolventinnen und -absolventen. Wie werden die
finanziellen und strukturellen Promotionsbedingungen
umfassend verbessert? Was wird getan, damit mehr Ab-
solventinnen und Absolventen eine Promotion als sinn-
volle Bildungsinvestition ansehen und als ersten Schritt
in die Wissenschaft als Beruf angehen?
Ihre Maßnahmen im Rahmen der Exzellenzinitiative
reichen nicht aus. Es müssen mehr Promotionsstellen
und Graduiertenkollegs geschaffen werden. Daneben
muss auch für Promovierende mit Stipendien die Anbin-
dung an Hochschulen und Forschungseinrichtungen er-
leichtert werden. Auch ist die systematische Weiterbil-
dung über das eigentliche Promotionsprojekt hinaus
nötig. Hier sollten unserer Auffassung nach die Begab-
tenförderungswerke stärker einbezogen werden.
Das Promotionsrecht wiederum darf keinesfalls zu
einer Statusfrage verkommen. Es muss von den Univer-
sitäten nicht nur lautstark reklamiert, sondern auch ver-
antwortlich ausgeübt werden. Wir wollen auch die Fach-
hochschulen stärker für die Nachwuchsqualifizierung
gewinnen. Deswegen sollten Unis und FHs verstärkt ge-
meinsame Teams zur Promotionsbetreuung einrichten
können.
Ein leidiges Thema ist und bleibt die lange wissen-
schaftliche und tatsächliche Abhängigkeit deutscher
Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler.
Warum, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union,
sperren Sie sich noch immer gegen die Juniorprofessur?
Natürlich lässt sich über den Umfang der Lehrverpflich-
tung streiten. Aber warum erkennen Sie die Attraktivität
dieser Stellen, die darin besteht, nach der Promotion
selbstständig forschen zu können, nicht endlich an? Wir
fordern Sie auf, beim Hochschulpakt II die Juniorprofes-
sur endlich aufzunehmen und sie zu fördern. Dazu müs-
sen von Beginn an klare Bedingungen für die weitere
Karriereplanung feststehen. Wissenschaft als Beruf kann
für junge Frauen und Männer nur attraktiv sein, wenn
eine dem angelsächsischen „Tenure Track“ entspre-
chende Planbarkeit der Karriereschritte geschaffen wird.
Hochschulen und Forschungseinrichtungen müssen in
der Lage sein, eine mittel- und langfristige Personalpoli-
tik mit transparenten Entscheidungsverfahren zu ma-
chen. Wo die Habilitation als Qualifikationsweg beste-
hen bleibt, muss gewährleistet werden, dass sie in
größerer wissenschaftlicher Unabhängigkeit als bisher
durchgeführt werden kann. Warum intensivieren Sie
nicht die Förderung von Nachwuchsgruppenleitungen?
Was mich ebenfalls umtreibt: Denken Sie ernsthaft,
mit dem Professorinnenprogramm sei alles Mögliche
und Notwendige für mehr Chancengerechtigkeit für
Frauen getan? Sicher nicht! Denn die Gleichstellung der
Geschlechter muss umfassend durchgesetzt werden.
Dazu müssen sich Hochschulen und Wissenschaftsein-
richtungen zu messbaren und realistischen Steigerungs-
quoten des Frauenanteils verpflichten. Diese Kaskaden
müssen gewährleisten, dass auf allen Ebenen und in al-
len Fachbereichen unseres Wissenschaftssystems ein
Frauenanteil von mindestens 40 Prozent erreicht wird.
Daneben müssen unsere Hochschulen familien-
freundlicher werden – andernfalls müssen sich Nach-
wuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler weiter-
hin zwischen Kind und wissenschaftlicher Karriere
entscheiden. Gerade für junge Männer hat die Kombina-
tion „Kinder, Küche, Kolloquium“ absoluten Selten-
heitswert. Daher brauchen wir einen Aufbruch zu mehr
Familienfreundlichkeit. Dies sind im internationalen
Wissenschaftsraum wichtige Voraussetzungen für eine
hohe Mobilität und eine produktive Brain Circulation
der Talente. Gute Arbeitsbedingungen hierzulande ent-
scheiden darüber, ob wissenschaftliche Nachwuchs-
kräfte im Inland bleiben bzw. nach Auslandsaufenthalten
zurückkehren. Dazu gehört übrigens auch eine bessere
Bezahlung. Daher müssen wir alles daransetzen, die Ar-
beitsbedingungen und Karriereperspektiven in der Wis-
senschaft zu verbessern. Unser Ziel muss sein, dass die
akademische Laufbahn wieder beliebter wird. Packen
wir es endlich an!
Andreas Storm, Parl. Staatsekretär bei der Bundes-
ministerin für Bildung und Forschung: Wenn wir uns
Gedanken machen über die Zukunft Deutschlands, dann
müssen wir uns vor allem auch Gedanken machen über
die Zukunft des wissenschaftlichen Nachwuchses. Mehr
denn je sind wir angewiesen auf Kreativität und fundier-
tes Wissen, um die Probleme von morgen erfolgreich be-
wältigen zu können. Das bedeutet, liebe Kolleginnen
und Kollegen, dass wir die klügsten Köpfe für eine Kar-
riere in Wissenschaft und Forschung gewinnen und dass
wir ihnen bei ihrer wissenschaftlichen Karriere die bes-
ten Bedingungen bieten müssen.
Beste Bedingungen können wir aber nur schaffen,
wenn wir die Belange unseres Forschernachwuchses
auch wirklich kennen, wenn wir uns um die Rahmenbe-
dingungen ihrer Arbeit an den Universitäten, an den au-
ßeruniversitären Forschungseinrichtungen und in der In-
19204 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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dustrie kümmern und die Sorgen der jungen
Forscherinnen und Forscher ernst nehmen. Die Bundes-
regierung hat daher sehr frühzeitig den Dialog mit dem
wissenschaftlichen Nachwuchs gesucht und ein Forum
für den Austausch zwischen jungen Forscherinnen und
Forschern, Entscheidungsträgern aus Bund und Ländern,
Wissenschafts- und Mittlerorganisationen sowie For-
schungseinrichtungen geschaffen. Zwei Konferenzen
– in Berlin (2006) und in Stuttgart (2007) – haben sich
intensiv mit der Lage des wissenschaftlichen Nachwuch-
ses beschäftigt und relevante Themen wie beispielsweise
Begabtenförderung, intersektorale Mobilität oder Bere-
chenbarkeit von Karrierewegen diskutiert.
Ein wichtiges Ergebnis dieses Dialogs mit den jungen
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, der durch
eine umfassende Studie ergänzt und fundiert wurde,
stellt der von der Bundesregierung im Februar 2008 vor-
gelegte erste Bundesbericht zur Förderung des Wissen-
schaftlichen Nachwuchses, kurz: BuWiN, dar. Der Be-
richt analysiert die Situation junger Forscherinnen und
Forscher in Deutschland und bietet zum allerersten Mal
einen fundierten Überblick über die Maßnahmen und
Förderprogramme von Bund, Ländern und Wissen-
schaftsorganisationen.
Der Bericht bestätigt die Vielfalt und die hohe Quali-
tät der Nachwuchsförderung in Deutschland. Mit einer
Vielzahl von Maßnahmen fördert die Bundesregierung
junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im
Rahmen der Programm- und Projektförderung sowie in
erheblichem Umfang indirekt durch die institutionelle
Förderung von Wissenschafts- und Mittlerorganisatio-
nen. Exemplarisch verweise ich auf die deutliche Erhö-
hung der Mittel für die Begabtenförderung, aber auch
auf die Exzellenzinitiative, den Pakt für Forschung und
Innovation und den Hochschulpakt, die jeweils einen ge-
wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Situation des
Forschernachwuchses leisten.
Gemeinsam mit den Ländern, Hochschulen und
außeruniversitären Forschungsinstitutionen tragen wir
Verantwortung dafür, dass Deutschland seinen ausge-
zeichneten Ruf als Wissenschafts- und Forschungsstand-
ort behält und weiter festigt. Der Bundesbericht zur För-
derung des Wissenschaftlichen Nachwuchses zeigt uns
aber auch, wo wir noch handeln müssen, um noch bes-
sere Bedingungen für eine wissenschaftliche Karriere zu
schaffen. In fünf Reformbereichen werden dazu Hand-
lungsansätze formuliert. Lassen Sie mich einige zentrale
Erfordernisse herausstellen:
Es bleibt eine vordringliche Aufgabe, dafür zu sorgen,
dass Nachwuchskräfte aus der ganzen Welt dauerhaft für
den Wissenschafts- und Forschungsstandort Deutsch-
land gewonnen werden. Wir brauchen dafür ein interna-
tional konkurrenzfähiges Wissenschaftssystem, das dem
wissenschaftlichen Nachwuchs vor allem berechenbare
und attraktive Karrierewege bietet. Alle künftigen Maß-
nahmen zur Förderung des wissenschaftlichen Nach-
wuchses sind deshalb der Nagelprobe zu unterziehen, ob
sie hierzu einen wirksamen Beitrag leisten. Es gilt, wis-
senschaftliche Qualifizierung, Exzellenz und ein ange-
messenes Maß an Planbarkeit erfolgreich mit mehr
Selbstständigkeit und größerer Freiheit in Wissenschaft
und Forschung zu verbinden. Der Ausbau von sogenann-
ten „Tenure-Track-Stellen“ für den wissenschaftlichen
Nachwuchs an den Hochschulen und Forschungseinrich-
tungen in ganz Deutschland ist dafür sicherlich ein er-
folgversprechender Weg.
Einigkeit unter den Experten besteht darüber, dass die
Promotionsphase in ihrer Qualität noch weiter verbessert
werden muss. Die deutschen Wissenschaftsorganisatio-
nen gehen gemeinsam mit den Hochschulen die erkann-
ten Defizite bereits entschlossen an. Im Mittelpunkt der
Reform steht vielfach eine klarer strukturierte Promo-
tion, die unter anderem zu kürzeren Promotionszeiten,
mehr Selbstständigkeit und Eigenverantwortung der
Doktorandinnen und Doktoranden und zu einer gezielten
Qualifizierung auch für die Anforderungen des Arbeits-
marktes außerhalb der Wissenschaft führen soll. Das
heißt auch, dass es verschiedene Wege zu einer guten
Promotion geben kann, da die Bedarfe der Doktoranden
und auch der potenziellen Arbeitgeber unterschiedlich
sind. Die Hochschulen stellen sich auch hier einem inter-
nationalen Wettbewerb um die besten Talente.
Bemerkenswert finde ich in diesem Zusammenhang
die erst vor wenigen Tagen von acatech, der Deutschen
Akademie der Technikwissenschaften, vorgelegten Emp-
fehlungen zur Zukunft der Ingenieurpromotion. Sie hebt
die Qualitätsmerkmale der klassischen Ingenieurpromo-
tion in Deutschland klar hervor und zeigt zugleich eine
ganze Reihe wertvoller Ansätze zur weiteren Verbesse-
rung und Modernisierung der Promotion auf.
Mehr als bisher müssen wir uns darum kümmern,
dass das wissenschaftliche Potenzial von Frauen stärker
einbezogen wird. Vor allem muss der Anteil von Frauen
in Führungspositionen nachhaltig gesteigert werden. Das
von Bundesforschungsministerin Dr. Annette Schavan
ins Leben gerufene Professorinnenprogramm leistet
dazu einen entscheidenden Beitrag: Bereits in der ersten
Runde werden bis zu 140 Stellen für Spitzenwissen-
schaftlerinnen an 79 deutschen Hochschulen gefördert.
Aber auch das Potenzial behinderter und chronisch
kranker Nachwuchswissenschaftler wird noch zu selten
erkannt, und es wird höchste Zeit, dass zum Beispiel völ-
lig unnötige Barrieren bei der Aufnahme in Fördermaß-
nahmen so schnell wie möglich beseitigt werden.
Weiterentwicklungsbedarf besteht auch mit Blick auf
den internationalen Austausch junger Wissenschaftlerin-
nen und Wissenschaftler. Mobilität über Ländergrenzen
hinweg kann in ihrem Wert für unsere Hochschul- und
Forschungslandschaft kaum überschätzt werden. In die-
sem Zusammenhang begrüßt die Bundesregierung die
Initiative der EU-Kommission „Better careers and more
mobility: A European partnership for researchers“, die
von der Bundesregierung intensiv begleitet werden wird.
Im Rahmen der geplanten Partnerschaft wird zum Bei-
spiel die Verbesserung der Altersversorgung mobiler
Forscher ein wichtiges Thema sein.
Und noch eines macht der Bundesbericht zur Förde-
rung des Wissenschaftlichen Nachwuchses sehr deut-
lich: Es besteht erheblicher Informationsbedarf! Kaum
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19205
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zu glauben ist zum Beispiel, dass wir noch immer auf
Schätzungen angewiesen sind, wenn es um die Gesamt-
zahl der aktuell Promovierenden geht. Damit fehlen uns
beispielsweise belastbare Daten zu den Abbrecherquoten
in diesem für den wissenschaftlichen Nachwuchs so zen-
tralen Qualifizierungsabschnitt. Ein wichtiges Hand-
lungsfeld für die Zukunft muss daher der Ausbau der
Hochschulforschung und der Statistik sein.
Neben dem BuWiN wird deshalb künftig auch das
neu geschaffene Kommunikations- und Informationssys-
tem „Wissenschaftlicher Nachwuchs“, kurz: KISSWiN,
dazu beitragen, dass schnell und unkompliziert Informa-
tionen zur Situation, zu Karrierewegen und Fördermög-
lichkeiten in Deutschland für jeden zugänglich gemacht
werden.
Der vorgelegte Bundesbericht zur Förderung des Wis-
senschaftlichen Nachwuchses schafft die Transparenz,
die wir brauchen, um ein effizientes und aufeinander ab-
gestimmtes System der Nachwuchsförderung in
Deutschland zu etablieren. Wir wollen den Bericht zu ei-
nem wirksamen Instrument ausbauen, mit dem künftig
regelmäßig und mit unterschiedlicher Schwerpunktset-
zung über Erfolge, aber auch über Schwachstellen der
Nachwuchsförderung informiert wird.
Doch nach den Daten kommen die Taten! Damit der
BuWin nicht nur ein Analyseinstrument bleibt, sondern
zu einem Instrument des Handelns wird, laden wir die
Länder ein, mit uns in der Gemeinsamen Wissenschafts-
konferenz (GWK) weitere Schritte zu vereinbaren. Die
Bundesregierung jedenfalls wird ihren Teil dazu beitra-
gen, dass die Stärkung des wissenschaftlichen Nach-
wuchses eine Erfolgsgeschichte wird.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Unterrichtung: Nationales
Reformprogramm Deutschland 2008 bis 2010
Umsetzungs- und Fortschrittsbericht 2008 (Ta-
gesordnungspunkt 17)
Doris Barnett (SPD): Mit der Lissabon-Strategie ha-
ben sich die Mitgliedstaaten der EU verpflichtet, größt-
mögliche Anstrengungen zu unternehmen, um Vollbe-
schäftigung zu erreichen und die EU zu der
Wissensgesellschaft in der globalisierten Welt zu ma-
chen. Nach dem ernüchternden Zwischenbericht, den die
EU in 2005 ziehen musste, bilden die Nationalen Re-
formprogramme das zentrale Gestaltungselement der
von den Regierungschefs in 2005 verabschiedeten Neu-
ausrichtung eben dieser Lissabon-Strategie. Jeder Staat
beschreibt jetzt ausführlich – und zwar so, dass es nicht
nur die Kommission in Brüssel weiß, sondern jeder Bür-
ger und jede Bürgerin nachlesen kann – wie er gedenkt,
Wachstum und Beschäftigung für sein Land voranzu-
bringen.
Im letzten Jahr konnten wir uns bereits davon über-
zeugen, wie das vorangegangene Reformprogramm
(2005 bis 2007) umgesetzt worden ist. Die Erfahrung
mit dieser Selbstüberprüfung zeigt, wo und mit welchem
Tempo bestimmte Politikfelder angegangen werden kön-
nen und welche Erfolge auch zu erzielen sind. Wir kön-
nen feststellen, dass wir ganz ordentlich die selbst ge-
setzten Ziele abgearbeitet haben: Die Strukturreformen
waren erfolgreich, und zwar gerade am Arbeitsmarkt.
Hier haben wir einen Zuwachs an Arbeitsplätzen erlebt,
den viele nicht zu hoffen wagten. Ich will dabei nicht
verhehlen, dass ich nicht mit allen neu entstandenen Ar-
beitsplätzen zufrieden bin, besonders wenn es nur solche
für 400 Euro im Monat sind bzw. mit extrem niedrigen
Stundenlöhnen vergütet werden. Dennoch ist uns hier
ein wichtiger Schritt gelungen: Arbeitsplätze entstehen,
und zwar „im Lichte der Öffentlichkeit“ – nicht im Dun-
keln als Schwarzarbeit!
Jetzt gilt es, den Fuß, den wir in der Tür haben, nicht
zurückzuziehen, sondern die Tür zu einer weiterhin er-
folgreichen Wachstums- und Beschäftigungspolitik ganz
weit aufzustoßen, damit viele – möglichst alle – hin-
durchgehen können!
Grundlage dafür – und das ist nun wirklich keine neue
Erkenntnis – ist und bleibt die Bildung. Deshalb müssen
unsere gemeinsamen Anstrengungen, also die von Bund,
Land und Kommunen, darauf gerichtet sein, Bildung als
Bestandteil des gesamten Lebens zu betrachten, nicht
nur als eine Zeiterscheinung zwischen dem siebten und
maximal siebenundzwanzigsten Lebensjahr. Wie aber
vermitteln wir das den Eltern? Natürlich werden wir als
Bund uns daran beteiligen, dass die Länder mit den
Kommunen den unter Dreijährigen eine dem Bedarf ent-
sprechende Anzahl von Betreuungsplätzen anbieten kön-
nen. Dafür werden wir als Bund uns mit 4 Milliarden
Euro bis zum Jahr 2013 beteiligen. Und ab dann wollen
wir einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für
Kinder unter drei Jahren geben.
Auch wenn die jungen Menschen die Schulen verlas-
sen, werden wir ihnen eine Perspektive geben, weil wir
für ein solides Wirtschaftswachstum bei voller Beschäf-
tigung einen entsprechenden Fachkräftenachwuchs brau-
chen. Deshalb bleibt es dabei: die Unternehmen bleiben
nach wie vor in der Pflicht, genügend – auch über Bedarf –
Ausbildungsplätze zu schaffen. Schließlich sind fertig
ausgebildete Facharbeiter nicht aus den Bäumen zu
schütteln. Die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbil-
dungsverträge ist erfreulicherweise in 2007 gestiegen,
was aber nicht nur den Betrieben zu verdanken ist. Auch
die Bundesagentur für Arbeit hat die Anzahl der außer-
betrieblichen Berufsausbildungsplätze erhöht und wird
dies auch in diesem Jahr fortführen.
Gut ausgebildete und qualifizierte Facharbeiter, viele
mit Techniker- bzw. Meister-Prüfung, dürfen in ihrer be-
ruflichen Weiterentwicklung nicht durch eine gläserne
Decke gehindert werden. Deshalb muss an einer Weiter-
entwicklung des Hochschulzulassungsrechts gearbeitet
werden – und ich darf an dieser Stelle darauf hinweisen,
dass es Ministerpräsident Kurt Beck war, der schon vor
vielen Jahren den Zugang zur Hochschule gerade von
diesen Bildungswilligen in Rheinland-Pfalz ermöglichte.
19206 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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Um exzellent zu bleiben bzw. die Exzellenz weiter zu
steigern, werden wir bis zum Jahr 2010 drei Prozent des
Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung
investieren. Für das kommende Jahr haben wir auch
schon rund 7 Milliarden Euro bereitgestellt. Weitere
Gelder werden wir für die Infrastruktur und die Ausstat-
tung aufbringen. Die Gelder, die wir in Bildung stecken,
und zwar von der Kindertagesstätte bis zur Graduierten-
Forschung, werden helfen, Wachstum, Beschäftigung
und Wohlstand für die Menschen in unserem Land zu
halten.
Gut ausgebildete Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer sorgen dafür, Mehrwert zu schaffen – die Grundlage
also auch zur Finanzierung unseres Landes. Allerdings
ist es wichtig, dass der Staat hilft, nicht hindert! Deshalb
werden wir uns auch um das Patentrecht zu kümmern
haben, nämlich die Möglichkeit der Verwertung von Er-
findungen, insbesondere denen, die durch Arbeitnehmer
gemacht wurden. Erfindungen nützen niemandem, wenn
sie nur in Schubladen schlummern, wie der Präsident des
Europäischen Patentamtes im letzten Jahr feststellte. Im
Gegenteil – er fordert vielmehr, dass es viel schneller zu
einer Verwertung kommen müsste, weil so Innovation,
Beschäftigung, Mehrwert für viele entstehen könne –
statt geistiges Eigentum verstauben und vergessen zu
lassen.
Wir haben in unserem Land die Kompetenz für Inno-
vation – wir wollen und werden sie auch nutzen. Wir för-
dern Kompetenznetze und Kooperationen gerade im
Hightech-Bereich. Da die größten Innovationsschübe al-
lerdings von den KMU ausgehen, werden wir dort anset-
zen und haben das ZIM, das Zentrale Innovationspro-
gramm Mittelstand, auf den Weg gebracht. In dieses
Programm werden wir im kommenden Jahr auch die ein-
zelbetriebliche Förderung in den neuen Ländern inte-
grieren.
Die derzeitigen hohen Energiepreise dürfen sich nicht
zum Bremsklotz unserer wettbewerbsfähigen Wirtschaft
entwickeln. Deshalb müssen wir uns langfristig für Ver-
sorgungssicherheit bei der Energiebeschaffung einset-
zen. Grenzüberschreitende Kooperationen sind dabei ein
wichtiger Baustein, wie zum Beispiel das Pentalaterale
Energieforum.
Bei anderen Dienstleistungen, die der Allgemeinheit
jederzeit und kostengünstig zur Verfügung stehen müs-
sen, müssen wir ein Auge auf deren Liberalisierungspra-
xis werfen. So sind wir bei der Liberalisierung des Post-
sektors zwar Vorreiter in der EU – haben also den
Postmarkt viele Jahre schon geöffnet, bevor die letzten
EU-Mitgliedstaaten das tun werden (Ende 2012). Aller-
dings bleibe ich dabei, dass die Absprachen in der
PUDLV (Postuniversaldienstleistungsverordnung) – bis
auf die Anzahl der posteigenen Filialen – Bestand haben
müssen.
Im Schienenverkehr haben wir einen breit getragenen
Kompromiss zur Teilprivatisierung gefunden. Das ist
nicht unerheblich für den Ausbau einer leistungsfähigen
Infrastruktur eines erfolgreichen Güterverkehrs- und Lo-
gistiksystems. Denn schließlich verfolgen wir mit der
Strategie „Güter auf die Bahn“ nicht nur eine erhebliche
Entlastung des Straßennetzes, sondern diese Strategie
dient auch einer effizienteren und umweltfreundlicheren
Gestaltung des Gesamtverkehrssystems. Deutschland
behauptet sich damit auch als starker Logistikstandort in
Europa. Bei dieser Gelegenheit will ich es nicht versäu-
men darauf hinzuweisen, dass trotz aller Begeisterung
über die Zuwachsraten der Schienentransporte der
Mensch als Nachbar zur Schiene nicht vergessen wird.
Hier haben wir auch eine Verantwortung, was den Lärm
angeht! Lärmschutz und Lärmvermeidung muss die stär-
kere Streckennutzung begleiten, ebenso wie die For-
schung auf diesem Gebiet. Ich weiß, wovon ich spreche,
da wir in meinem Wahlkreis demnächst den größten
Kombi-Terminal und damit Umschlagplatz von Gütern
auf die Bahn haben werden.
Bei allen Anstrengungen, die wir für ein Wachstum
und damit für mehr Beschäftigung unternehmen, dürfen
wir die zukunftsfeste Gestaltung unserer sozialen Siche-
rungssysteme nicht außer Acht lassen, weil diese Garant
für den sozialen Zusammenhalt und sozialen Frieden
sind. Dabei werden wir keinesfalls den Blick für reale
Entwicklungen, die der demografische Wandel mit sich
bringt, verlieren. Zur Demonstration möchte ich fol-
gende Zahlen nennen: Im gesamten Bundesland Rhein-
land-Pfalz gab es im Jahr 1973 13 Bürgerinnen und Bür-
ger die ihren 100. Geburtstag feierten. Heute gratuliert
allein der Sozialdezernent meiner Heimatstadt Ludwigs-
hafen jährlich 31 Personen, die hundert Jahre und älter
sind.
Diese Entwicklung lässt sich nicht schönreden oder
wegdiskutieren – auf diese Entwicklung haben wir ange-
messen zu reagieren: Finanzströme der gesetzlichen
Krankenversicherung sind grundlegend neu zu ordnen
bei gleichzeitiger Einführung von Versicherungspflicht
und -recht für alle; die Finanzierung der Rentenversiche-
rung darf nicht zu einer immer höheren dauerhaften Zu-
satzbelastung der Beitragszahler führen. Dabei muss die
Schutzklausel in der Rentenanpassungsformel unberührt
bleiben, was dann allerdings zu einer Anpassungsdämp-
fung bei realen Rentensteigerungen führen wird.
Was sich da so nüchtern anhört, ist für den Bürger
kaum verständlich. Deshalb wird es unsere wichtigste
und zugleich vornehmste Aufgabe sein, die wichtige und
richtige Politik, die wir für die Menschen in unserem
Lande machen, diesen auch zu erklären. Mit dem natio-
nalen Reformprogramm, gehen wir in die Offensive.
Glücken wird uns das aber nur, wenn die Menschen es
verstehen, einverstanden sind und mitmachen. Wir alle
werden jetzt unseren Teil dazu beitragen können – pa-
cken wir’s an!
Rainer Brüderle (FDP): Die Bundesregierung hat
uns hier wieder einmal einen Tätigkeitsbericht vorgelegt.
Leider ist der Bericht alles andere als eine ehrliche Be-
schreibung dessen, was diese Regierung in der Wirt-
schafts- und Arbeitsmarktpolitik getan hat. Er ist im bes-
ten Falle noch geschönt.
Die Regierung möchte mit diesem sogenannten Pro-
gramm demonstrieren, wie viel sie für Wachstum und
Beschäftigung tut. Sie lässt aber völlig unerwähnt, was
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19207
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sie alles tut, um Wachstum und Beschäftigung zu be-
schränken.
Über die Lissabon-Strategie der Europäischen Union,
die ja der Grund für diesen Bericht der Bundesregierung
ist, ließe sich vieles sagen – auch viel Kritisches. Es ist
ohne Zweifel ehrenwert, den europäischen Wirtschafts-
raum wettbewerbsfähiger und dynamischer machen zu
wollen. Dagegen hat selbstverständlich niemand etwas.
Entscheidend ist aber, mit welchen Mitteln man zum
Ziel kommen möchte.
Was die europäischen Staats- und Regierungschefs im
März 2000 in Lissabon beschlossen haben, lässt weiten
Interpretationsspielraum. Man kann die Lissabon-Strate-
gie als ein Programm zur Umstrukturierung der EU ver-
stehen, als ein Programm für mehr Flexibilisierung und
mehr Freiheiten im Binnenmarkt. Das wäre ein hehres
Ziel.
Man kann den Lissabon-Prozess aber auch als zentra-
listischen Aktionismus verstehen: als einen Versuch, mit
Zielvorgaben die Wirtschaft zu lenken, als Beitrag zu der
Idee, dass Wachstum zentral planbar ist.
Jeder kann in der Lissabon-Strategie sehen, was er se-
hen will. Die Bundesregierung hat sich, was das betrifft,
aber immer noch nicht entschieden.
Wenn wir Europa, wenn wir Deutschland weiterbrin-
gen wollen, müssen wir ein Europa des Wettbewerbs
schaffen. Dazu gehört eine Europäisierung der Wettbe-
werbspolitik, dazu gehört weniger Bürokratie beim
innereuropäischen Güter- und Dienstleistungshandel,
dazu gehört Wettbewerb zwischen den Mitgliedsländern
in der Arbeitsmarkt-, Steuer- und Standortpolitik.
Man hat sich vom Lissabon-Prozess eine günstige
Stimmung für wachstumsfreundliche Reformen in ganz
Europa versprochen. Aber in den Bereichen, in denen
Europa mehr Wettbewerb im Binnenmarkt schaffen
könnte, scheitern die Ansätze kläglich an nationalem
Protektionismus.
Erinnern wir uns nur an das Schicksal der Dienstleis-
tungsrichtlinie. Das gleicht einer Beerdigung zweiter
Klasse. Europa – und an entscheidender Stelle auch die
Bundesregierung – hat nicht nur an dieser Stelle bewusst
auf Wachstum verzichtet.
Wir müssen Deutschland als Wirtschaftsstandort stär-
ken. Das funktioniert aber nicht, indem man sich als
Bundesregierung den Erfolg früherer Arbeitsmarktrefor-
men an die Brust heftet, aber selbst mit seiner Arbeits-
marktpolitik neue Hürden für mehr Beschäftigung
aufbaut. Mit staatlich festgesetzten überhöhten Mindest-
löhnen verbessern sich die Zukunftschancen der deut-
schen Wirtschaft ganz sicher nicht.
Die Bundesregierung stellt sich als Vorreiter der Post-
marktliberalisierung dar. Tatsächlich aber verhindert
diese Regierung ebenso wie ihre Vorgängerregierung
mehr Wettbewerb im Postwesen. Immer noch hat die
Deutsche Post Wettbewerbsvorteile durch ihr Mehrwert-
steuerprivileg. Das soll auch noch im kommenden Jahr
erhalten bleiben. Und der Post-Mindestlohn hat den ein-
setzenden Wettbewerb genau in dem Moment wieder be-
hindert und verhindert, als die Exklusivlizenz der Deut-
schen Post ausgelaufen ist. Wer Monopole stützt, hat
noch nicht verstanden, wie die Marktwirtschaft, wie
Wettbewerb funktioniert.
Wir brauchen bessere Bedingungen für die Schaffung
neuer Arbeitsplätze. Dazu gehört mehr Flexibilität, dazu
gehören betriebliche Bündnisse für Arbeit und eine deut-
liche Senkung der Lohnnebenkosten. Dann werden un-
sere Unternehmen im Wettbewerb beweglicher.
Für all das ist keine Koordination auf europäischer
Ebene nötig. Auch nationale Tätigkeitsberichte helfen
nicht weiter. Europa sollte sich in den wirtschaftsrele-
vanten Politikbereichen auf die Durchsetzung von Wett-
bewerb konzentrieren, auf die Umstellung seines Haus-
halts von Subventionen auf Investitionen. Für alles
Übrige ist eine Politikkoordination nicht nötig. Das kann
dem Wettstreit um die besten Lösungen und die attrak-
tivsten Standorte in den Mitgliedstaaten überlassen blei-
ben.
Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): In Ihrem Bericht
über das Nationale Reformprogramm loben Sie Ihre Po-
litik über die Maßen. Dazu allerdings gibt es keinen
Grund. Sie behaupten, der Wohlstand der großen Mehr-
heit der Bevölkerung steigt. Das trifft nicht zu. Der Le-
bensstandard hat sich verschlechtert. Da ist kein Auf-
schwung zu sehen.
Die Zunahme der Beschäftigung ist nicht höher als
beim letzten Aufschwung vor Hartz IV. Und vor allem:
Die Beschäftigung steigt deswegen, weil es immer weni-
ger Vollzeitbeschäftigung gibt. Der gesamtwirtschaftli-
che Bedarf an Arbeitsstunden verteilt sich auf immer
mehr Personen. Als Folge der Zunahme von Teilzeitar-
beit schrumpfen die Realeinkommen der Beschäftigten
während eines Aufschwungs. Das ist das Ergebnis Ihrer
Politik.
Die Lissabon-Strategie führt in die Irre. Die einseitige
Ausrichtung auf mehr Wettbewerb, Preisstabilität und
Haushaltskonsolidierung macht die Reichen reicher und
die Armen ärmer. Dies senkt die Binnennachfrage und
damit das Wachstum. Die strikten Vorgaben der
Maastricht-Kriterien und des Stabilitäts- und Wachstums-
pakts lassen keinen Spielraum für öffentliche Investitio-
nen. Die Senkung der Unternehmensteuer entzieht dem
Staat die notwendigen Mittel, um konjunkturell gegen-
steuern zu können. Die falsche, auf Preisstabilität fi-
xierte Geldpolitik der EZB verneint jegliche Verantwor-
tung für Wachstum und Beschäftigung.
Wettbewerb ist in Ihrer Strategie nichts weiter als
Wortgeklingel. Sie fragen nicht, wie der Wettbewerb zu
organisieren wäre, um bei den Unternehmen bessere
Produktionstechniken und neue Produkte zu fördern. Sie
reden viel von Innovationen. Aber sie beantworten nicht
die Frage, wie Sie sich den Zusammenhang von Wettbe-
werb und Innovation vorstellen. Sie kennen für jede
Frage nur eine Lösung: Unternehmensteuern und Löhne
senken, die Gewinne steigern.
Wettbewerb ist für Sie nur Kostenwettbewerb. Und
Kostenwettbewerb nicht etwa durch verbesserte Produk-
19208 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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tionsprozesse, sondern durch Lohn- und Steuersenkung.
Da ist selbst Ihr Lissabon-Prozess besser als Sie: Denn
Ziel der Lissabon-Strategie war wenigstens noch, die
Forschungsausgaben auf 3 Prozent des Bruttoinlands-
produkts zu erhöhen. Das haben Sie nicht erreicht. Ihre
Forschungspolitik, die Ausrichtung der Forschung, bringt
die notwendigen Innovationen – wenn überhaupt – nur
schleppend in Gang. Nach einer raschen Steigerung der
Energieeffizienz sucht man vergeblich, ebenso nach nen-
nenswerten Fortschritten bei der Entwicklung von Moto-
ren mit geringem Kraftstoffverbrauch, um wenige Bei-
spiele zu nennen. Hier vertrauen Sie auf die privaten
Unternehmen, statt der Forschung insgesamt eine politi-
sche Richtung zu geben.
Zu mehr Wettbewerb wollen Sie kommen durch Pri-
vatisierung. Die aber führt in der Regel nicht zu mehr
Wettbewerb, sondern häufig genug zur Herausbildung
eines privaten Monopols und damit zu steigenden Kos-
ten für die Verbraucher. Dies ist bei der Post oder der
Bahn der Fall. Die Post investiert international in Logis-
tikunternehmen; sie erwirtschaftet dabei Verluste, die sie
mit höheren Preisen in Deutschland, niedrigeren Löhnen
und schlechterem Service ausgleicht. Die Bahn erhöht
über Jahre hinweg die Preise, um den Renditeanforde-
rungen der privaten Investoren gerecht zu werden. Sin-
kende Preise oder gar bessere Leistungen sind für die
Kunden nirgends in Sicht. Von der Privatisierung der
Stromversorgung brauche ich gar nicht erst zu reden.
Mit dieser Politik werden Sie kein andauerndes
Wachstum erreichen. Das erfordert einen gesetzlichen
Mindestlohn, weniger prekäre Beschäftigungsverhält-
nisse, mehr Sozialstaat. Mit Ihrer Politik geben Sie das
Geld bloß denen, die es eh schon haben.
Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die europäischen Staaten haben sich vorgenommen, die
EU bis 2010 zum weltweit wettbewerbsfähigsten wis-
sensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu entwickeln.
Zwei Jahre vor dieser Zielmarke kann man sagen: die
EU wird es nicht schaffen. Auch Deutschland wird seine
Ziele verpassen.
Dies ist keineswegs überraschend. Schon vor zwei
Jahren haben wir Grüne in einem Antrag, mehr Ehrgeiz
bei der Erreichung der Lissabon-Ziele gefordert. Schon
damals war absehbar, dass die Lissabon-Ziele nur er-
reichbar sind, wenn die Bundesregierung in dieser Le-
gislaturperiode hierfür die entscheidenden Weichen
stellt. Dies ist nicht geschehen.
Mein Hauptvorwurf an die Bundesregierung ist, dass
sie den Lissabon-Prozess nie ernst genommen hat. Unter
der Bundesregierung funktioniert der Lissabon-Prozess
faktisch folgendermaßen: Es wird in den verschiedenen
Ministerien abgefragt, was man denn so gemacht habe
seit dem letzten Bericht, und irgendein Referent muss
das dann rhetorisch so fassen, als sei all dies ein inten-
dierter Beitrag zur Erreichung der Lissabon-Ziele gewe-
sen. Was von Lissabon übrig geblieben ist, ist ein lästi-
ges alljährliches Berichtschreiben.
Die Lissabon-Strategie dient jedoch nicht dazu, viel
Papier zu produzieren, sondern es geht darum, in der Sa-
che voranzukommen. Da ist bei der Bundesregierung
leider nichts zu erkennen, und ein Blick in den diesjähri-
gen Fortschrittsbericht belegt dies. Wegen der Kürze der
Redezeit will ich nur kurz auf zwei Bereiche eingehen:
Energie und Bildung.
Die Europäische Kommission hat der Bundesregie-
rung ins Stammbuch geschrieben, endlich den Wettbe-
werb auf den Strom- und Gasmärkten zu stärken. Anstatt
diese Mahnung ernst zu nehmen, hat die Bundesregie-
rung bekanntlich im letzten Jahr alles dafür getan, dass
die großen Energiekonzerne die Netze behalten dürfen
und es nicht zu einem sogenannten Unbundling kommt.
Selbst als die Konzerne schon eingelenkt haben, hat die
Bundesregierung an ihrer wettbewerbsfeindlichen Posi-
tion noch festgehalten. Zum wettbewerbsfähigsten wis-
sensbasierten Wirtschaftsraum der Welt wird man aber
nicht, indem man den Wettbewerb verhindert und einzel-
nen Unternehmen Monopole garantiert.
In dem Fortschrittsbericht, über den wir heute disku-
tieren, schafft es die Bundesregierung, diesen zentralen
Konfliktpunkt in diesem zentralen Politikfeld noch nicht
einmal in einem Halbsatz zu erwähnen. Ich frage Sie:
Was ist denn eine gemeinsame Strategie wert, bei der die
Bundesregierung nicht nur den Empfehlungen der Kom-
mission nicht nachkommt, sondern dies noch nicht ein-
mal begründet, ja nicht einmal erwähnt?
Auch bei der Bildung kommt Deutschland nicht
voran. Daran ändert auch eine medienwirksame Bil-
dungsreise der Kanzlerin nichts. Gerade hat uns der
OECD-Bildungsreport bescheinigt, dass Deutschland
bei der Ausbildung von Hochqualifizierten den interna-
tionalen Anschluss verliert. In keinem anderen EU-Land
entscheiden sozialer Status und Bildungsstand der Eltern
so sehr über die Bildungschancen des Kindes wie in
Deutschland. Diesen Befund haben wir jedes Jahr aufs
Neue, ohne Besserung.
Die Bundesregierung hat sich mit der Föderalismus-
reform I selbst die Hände gebunden. Im vorliegenden
Fortschrittsbericht verschweigt sie auch die Bilanz. Laut
Benchmarks der EU soll die Schulabbrecherquote auf
10 Prozent gesenkt werden; Deutschland liegt bei
12,7 Prozent. 85 Prozent der Schülerinnen und Schüler
sollen einen Abschluss der Sekundarstufe II erreichen.
In Deutschland sind es nur 72,5 Prozent und damit deut-
lich weniger als im EU-Durchschnitt. Der Anteil der Er-
wachsenen, die an Weiterbildungsmaßnahmen teilneh-
men, soll auf 12,5 Prozent steigen. Deutschland liegt nur
bei 7,8 Prozent und damit deutlich unter dem EU-Durch-
schnitt. Und so weiter und so fort. All dies findet sich in
dem Bericht nicht wieder. Kritische Zahlen werden lie-
ber verschwiegen.
So könnte man Punkt für Punkt des Berichts durchge-
hen. Was bleibt ist, dass Deutschland seine Ziele verfeh-
len wird, und dies trotz der auch von der Bundesregie-
rung selbst eingeräumten Reformdividende und des
starken Wachstums der letzten Jahre. Schlimm, dass
Deutschland bei den Lissabon-Zielen nicht gut dasteht.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19209
(A) (C)
(B) (D)
Viel schlimmer aber ist, dass diese Regierung weder
Konzept noch Ehrgeiz hat, dies zu ändern.
Denn: Letztlich geht es bei der Lissabon-Strategie um
die Frage: Welches Europa wollen wir? Wir Grüne wol-
len ein Europa, das mehr ist als eine große Freihandels-
zone mit angeschlossenem Debattierclub. Wir Grüne
wollen ein soziales, ökologisches und wettbewerbsfähi-
ges Europa. Wenn wir die Menschen für Europa gewin-
nen wollen, müssen die Bürgerinnen und Bürger die
konkreten Vorteile Europas erfahrbar machen. Deshalb
ist auch die Lissabon-Strategie so wichtig, und deshalb
ist es so bedauerlich, dass die Bundesregierung das
Ganze nur noch als rhetorische Pflichtübung behandelt.
Dagmar Wöhrl, Parl. Staatssekretärin beim Bundes-
minister für Wirtschaft und Technologie: Die Bundesre-
gierung hat am 20. August 2008 den vom Bundesmi-
nister für Wirtschaft und Technologie vorgelegten
Entwurf des Nationalen Reformprogramms Deutsch-
lands 2008 – 2010“ beschlossen. Wir werden ihn unmit-
telbar nach der Behandlung in Bundestag und Bundesrat
nach Brüssel senden.
Wir wissen: Nationale Reformprogramme sind ein
zentrales Element der Neuausrichtung der Lissabon-
Strategie, die im Jahr 2005 vom Europäischen Rat ver-
abschiedet wurde. Die Mitgliedstaaten haben ihre natio-
nalen Beiträge zur Erreichung der Lissabon-Ziele erst-
mals im Herbst 2005 dargestellt, und zwar für den
Zeitraum 2005 bis 2008. In den Jahren 2006 und 2007
hat die Bundesregierung dann über den Stand der Um-
setzung und Fortschritte bei den Reformen berichtet. In
diesem Jahr steht nun ein neues strategisches Nationales
Reformprogramm auf der Tagesordnung. Die Bundesre-
gierung informiert damit über die Schwerpunkte ihrer
Reformpolitik für den Zeitraum von 2008 bis 2010. Auf
Basis der Umsetzungs- und Fortschrittsberichte in den
vergangenen beiden Jahren hatte der Europäische Rat
integrierte Leitlinien für Wachstum und Beschäftigung
beschlossen. Unser Bericht berücksichtigt die Empfeh-
lungen an Deutschland.
Er richtet sich an die EU, die Legislative in Deutsch-
land sowie an die europäische und deutsche Öffentlich-
keit. Die Bundesregierung hat außerdem die Kommuni-
kation mit denen gesucht, die zur Erreichung der
Lissabon-Ziele beitragen: Wir haben die Länder beteiligt
sowie die Verbände und Gewerkschaften angehört.
Zum Inhalt: Der Titel des aktuellen NRP lautet „Auf
den Erfolgen aufbauen – die Reformen für mehr Wachs-
tum und Beschäftigung fortsetzen.“ Damit macht die
Bundesregierung deutlich: Die Strukturreformen der
vergangenen Jahre waren erfolgreich, insbesondere ge-
messen an der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Die
deutsche Wirtschaft ist heute flexibler und damit auch
widerstandsfähiger gegenüber externen Schocks als
noch vor wenigen Jahren; das ist gerade jetzt besonders
wichtig.
Auch die Wirtschafts- und Finanzpolitik hat dazu bei-
getragen: Mit der Unternehmenssteuerreform von 2007
wurde die durchschnittliche Gesamtsteuerbelastung der
Unternehmen zum 1. Januar 2008 auf knapp unter
30 Prozent gesenkt. Im Jahr 2007 haben wir das Ziel er-
reicht, die Lohnzusatzkosten unter 40 Prozent zu senken.
Entscheidend war die Senkung der Beiträge zur Arbeits-
losenversicherung von 6,5 Prozent auf 3,3 Prozent. Da-
mit wurden Arbeitnehmer und Arbeitgeber gegenüber
2006 um rund 25 Milliarden Euro jährlich entlastet.
Richtig ist allerdings auch: Die konjunkturelle Lage
hat sich aktuell verschlechtert; die zu Jahresanfang noch
positiven Erwartungen haben einen deutlichen Dämpfer
erhalten. Denn wir sind keine „Insel der Glückseligen“,
die allein den Stürmen der Weltwirtschaft trotzen kann.
Die hohe Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen
auf den Weltmärkten hilft nicht mehr weiter, wenn die
Nachfrage weltweit einbricht. Die Anpassungsprozesse
in den USA und auch in Europa werden also nicht spur-
los an uns vorübergehen. Umfragen und wirtschaftliche
Indikatoren zeigen abwärts. Viele Wirtschaftsinstitute
nehmen ihre Wachstumsprognosen für das kommende
Jahr zurück.
Sicher ist momentan vor allem eines: Es ist Zeit zum
Handeln. Das gilt auch angesichts der langfristigen He-
rausforderungen wie der Globalisierung, der demokrafi-
schen Entwicklung und des Klimawandels. Vor diesem
Hintergrund ist es jetzt umso notwendiger, die Reform-
politik fortzusetzen.
Dementsprechend hält die Bundesregierung inhaltlich
an den sechs Reformprioritäten fest. Diese hatte sie be-
reits Ende 2005 im ersten NRP auf der Basis des Koali-
tionsvertrages gesetzt. Diese Prioritäten lauten:
Erstens: Wissensgesellschaft und Innovation voran-
bringen. Als ressourcenarmes Land müssen wir auf un-
sere wichtigsten Ressourcen setzen: Bildung, Forschung
und Innovation. Wir müssen die Chancen der Wissens-
gesellschaft besser nutzen; wir werden wettbewerbsfähig
bleiben, nur wenn wir wirklich spitze sind.
Zweitens: Märkte offen gestalten und Wettbewerb
stärken. Wir setzen uns hier für eine Weiterentwicklung
des europäischen Binnenmarktes und eine Intensivie-
rung des innereuropäischen Wettbewerbs ein.
Drittens: Rahmenbedingungen für unternehmerische
Tätigkeit verbessern. Wir wollen hier unter anderem die
Unternehmensnachfolge mit der Reform der Erbschaft-
steuer steuerlich erleichtern und Bürokratie weiter ab-
bauen.
Viertens: Öffentliche Finanzen tragfähig gestalten,
nachhaltiges Wachstum sichern, soziale Sicherheit wah-
ren. Bundesregierung und Länder werden weiterhin an
ihrem Kurs festhalten, den Staatshaushalt zu konsolidie-
ren, aber auch Spielräume zu nutzen, um Impulse für
Wachstum und Beschäftigung zu geben.
Fünftens: Ökologische Innovation als Wettbewerbs-
vorteil nutzen, Energieversorgung sichern, Klimawandel
bekämpfen. Schlüsselwort ist hier vor allem: Energieef-
fizienz. Wir müssen die Energieeffizienz verbessern,
wollen wir die ehrgeizigen Klimaziele erreichen und
gleichzeitig die Energieversorgung langfristig sichern.
19210 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
(A) (C)
(B) (D)
Sechstens: Arbeitsmarkt auf neue Herausforderungen
ausrichten, demografischen Veränderungen begegnen.
Fakt ist: Der Arbeitsmarkt hat sich schneller und deutli-
cher erholt als in früheren Aufschwungphasen. Um Ar-
beitslosigkeit weiterhin nachhaltig abzubauen, wird die
Bundesregierung unter anderem die arbeitsmarktpoliti-
schen Instrumente neu ausrichten.
Über diese sechs Prioritäten hinaus gibt es weitere
wichtige Handlungsfelder. Die Bundesregierung wird
– gemeinsam mit den Ländern – Bildungsanstrengun-
gen verstärken, unter anderem in einer Qualifizierungs-
initiative. Ziel ist es, mehr Aufstiegschancen zu schaf-
fen.
Ein weiteres Handlungsfeld sind die Finanzmärkte.
Wir müssen die Finanzmärkte krisenfester gestalten, auf
europäischer und internationaler Ebene.
Der aktuelle NRP für die Jahre 2008 bis 2010 liegt
vor. Die Inhalte der deutschen Reformpolitik für Wachs-
tum und Beschäftigung stehen voll im Einklang mit der
europäischen Strategie. Sie kräftigen Wachstum und Be-
schäftigung, wahren die soziale Sicherheit und schützen
die Umwelt. Ich bitte Sie, den Bericht zustimmend zur
Kenntnis zu nehmen.
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Unterrichtung: Nationales
Reformprogramm Deutschland 2008 bis 2010
Umsetzungs- und Fortschrittsbericht 2008 (Ta-
gesordnungspunkt 17)
Markus Grübel (CDU/CSU): Wir unterhalten uns
heute über einen sehr kurzen Antrag der Oppositions-
fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der lediglich zwei Sei-
ten umfasst, der aber dennoch ein wichtiges und span-
nendes Thema, nämlich die Altersgrenzen, thematisiert.
Ich denke, es ist an der Zeit, dieses Thema aufzugreifen,
denn es bewegt auch die Menschen in unserem Land.
Ich vermute, Ihr Antrag wurde motiviert durch die
Antwort der Bundesregierung vom 29. Februar 2008 auf
Drucksache 16/8823 auf ihre Kleine Anfrage zum
Thema „Diskriminierende Altersgrenzen im Bereich des
bürgerschaftlichen Engagements“. Sie haben dann ein-
fach Ihrem jetzigen Antrag das Wort „aufheben“ ange-
hängt.
In diesem Zusammenhang kann ich allen Seniorenpoliti-
kern und Ehrenamtspolitikern die Lektüre der Antwort der
Bundesregierung auf eine Große Anfrage der FDP-Bundes-
tagsfraktion „Seniorinnen und Senioren in Deutschland“
vom 21. August 2008 auf Drucksache 16/10155 empfeh-
len. Dort wird eine umfassende Bestandsaufnahme der
Seniorenpolitik vorgenommen. Eine Vielzahl von The-
men, unter anderem Altersgrenzen, Altersdiskriminie-
rung, demografischer Wandel und bürgerschaftliches
Engagement werden aufgegriffen und exakt dargestellt.
Von daher gibt allein schon der Inhalt dieser Drucksache
einige Antworten auf Ihren Antrag bzw. Ihre Forderun-
gen.
Es ist schade, dass wir heute über dieses Thema reden
und nicht in vier Monaten, denn dann wären wir alle ein
wenig schlauer und hätten das lang erwartete Gutachten
zum Thema „Altersgrenzen und gesellschaftliche Teil-
habe“, welches vom BMFSFJ in Auftrag gegeben wurde
und bis Ende November 2008 vorliegen soll, lesen kön-
nen. So müssen wir uns noch ein wenig gedulden. Die
bisher zum Thema Altersgrenzen vorliegenden Untersu-
chungen wie das Gutachten des Wissenschaftlichen
Dienstes des Deutschen Bundestages aus dem Jahr 2001
und die Zusammenstellung gesetzlicher Altersgrenzen
durch das BMJ im Jahr 2005 sind entweder veraltet oder
erfassen nur einen Teilaspekt des Problems.
Ziel des Gutachtens ist es, im Lichte des Allgemei-
nem Gleichbehandlungsgesetzes, AGG, eine Bestands-
aufnahme der in Deutschland bestehenden Altersgrenzen
zu erhalten. Dabei sollen nicht nur gesetzliche bzw.
rechtlich festgelegte Altersgrenzen erfasst werden, son-
dern auch untergesetzliche „weiche“ Altersgrenzen, die
älteren Menschen die Teilhabe an der Gesellschaft ver-
wehren, zum Beispiel im Hinblick auf freiwilliges und
bürgerschaftliches Engagement. Das Gutachten soll eru-
ieren, in welchen Bereichen derartige Altersgrenzen be-
stehen, die dahinterstehenden Gründe und Motive be-
schreiben und die für die Bewertung ihrer Sinnhaftigkeit
und fortbestehenden Notwendigkeit erforderlichen
Grundlagen liefern. In diese Bewertung sollen Aspekte
der demografischen Entwicklung und des Allgemeinem
Gleichbehandlungsgesetzes einfließen.
Beispielhaft möchte ich auf folgende Altersgrenzen
hinweisen: Höchstaltersgrenzen als Zugangsvorausset-
zungen zum Beruf, zum Beispiel im öffentlichen Dienst;
Schöffen sollen noch nicht das 70. Lebensjahr vollendet
haben, § 33 GVG; eine erstmalige Bestellung zum Notar
ist nach Vollendung des 60. Lebensjahres nicht mehr
möglich, § 6 Abs. 1 BnotO; Banken binden die Vergabe
von Darlehen, Vereine die Übernahme von Ehrenämtern
häufig an eine Höchstaltersgrenze; Beendigung der kas-
senärztlichen Zulassung mit Vollendung des 68. Lebens-
jahres, § 95 Abs. 7 SGB V, wobei wir diese Regelung im
Rahmen des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Orga-
nisationsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversiche-
rung streichen werden. Die Regelung soll rückwirkend
zum 1. Oktober 2008 in Kraft treten, sodass Ärzte zu-
künftig über das 68. Lebensjahr hinaus Patienten behan-
deln dürfen.
Auch das gesetzliche Renteneintrittsalter ist nichts
anderes eine „Regelaltersgrenze“ für das Ausscheiden
aus dem Beruf. Menschen, die noch gesund und fit sind
und noch weiter arbeiten wollen und können, werden un-
gefragt in Rente geschickt. Es gibt einige Ausnahmen,
aber die Zahl ist verschwindend klein.
In einigen Jahren benötigen wir viele erfahrene und
hoch qualifizierte ältere Arbeitnehmer, da immer weni-
ger junge Menschen nachkommen. Die Rente mit 67 ist
ein richtiger und notwendiger Schritt der Anpassung an
die demografische Wirklichkeit. Jedoch sollte man auch
über die Individualisierung der Lebensarbeitszeit und
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19211
(A) (C)
(B) (D)
über flexiblere Ausstiegsmöglichkeiten aus dem Berufs-
leben nachdenken. Starre Altersgrenzen sind diskrimi-
nierend für diejenigen, die noch länger in ihrem Beruf
arbeiten wollen. Bei diesem Personenkreis wird durch
gesetzlich normierte Altersgrenzen die Leistungsfähig-
keit infrage gestellt und Potenzial vergeudet.
Verrentungsgrenzen werden auch von der Wissen-
schaft durchaus kritisch und als nicht zukunftsfähig
gesehen. So sprach sich die renommierte Altersforsche-
rin der Charité Berlin, Frau Professor Dr. Adelheid
Kuhlmey, im November 2007 für flexible und indivi-
duelle Altersgrenzen aus und forderte ein Überdenken
des gängigen Renteneintrittsalters. Sie hält flexible und
individuelle Regelungen für sinnvoller, was ich persön-
lich nur unterstützen kann.
Ähnlich äußerte sich auch der vor zwei Jahren ver-
storbene Gerontologe Professor Paul B. Baltes in der
FAZ vom 12. Mai 2004: „Je älter die Bevölkerung, um so
weniger tragfähig sind altersbezogene Regeln. Dies ist
einer der Gründe, warum Wissenschaftler abraten, eine
feste Altersgrenze etwa für den Einstieg in das Pensions-
alter zu postulieren. Alterspolitik muss variabel und dif-
ferenziert sein. Altershomogene Politik ist zum Schei-
tern verurteilt.“
Wir alle können uns noch an die öffentlich diskutier-
ten Beispiele des deutschen Nobelpreisträgers für Phy-
sik, Theodor Hänsch, und des Immunologen und Geneti-
kers Klaus Rajewsky erinnern. Diese Beispiele führen
deutlich vor Augen, dass vor allem deutsche Professo-
ren jenseits der gesetzlichen Altersgrenze für Professo-
ren in Deutschland, ihr Heil in Amerika suchen, wo
allein Leistungskraft und Kreativität zählen. Die Beur-
teilung nach dem Lebensalter würde dort als schwerwie-
gende Diskriminierung gewertet werden.
Die demografische Entwicklung ist eindeutig: Die
Zahl der jüngeren Menschen nimmt ab und die der Älte-
ren steigt. Das hat verschiedene Ursachen: Seit den 60er-
Jahren werden weniger Kinder geboren und die Lebens-
erwartung der Menschen steigt weiter an. Die längere
Lebenszeit ist in der Regel mit einer besseren Gesund-
heit und mehr Vitalität verbunden als in den vergange-
nen Jahrzehnten. Ältere Menschen haben zudem mehr
Möglichkeiten zur Lebensgestaltung. Der demografische
Wandel geht einher mit einem Gewinn an gestaltbarer
Lebenszeit für den Einzelnen und bietet damit auch ver-
mehrt Chancen und nicht nur Risiken, wie das gerne und
oft in der Öffentlichkeit und den Medien dargestellt
wird, was mitunter zu einem verzerrten und falschen
Bild vom Alter führt. Steigendes Alter wird häufig mit
einem Rückgang der Innovationskraft, Produktivität und
der Güter- und Dienstleistungsnachfrage assoziiert. Da-
bei wird übersehen, dass die Innovationskraft und Pro-
duktivität Älterer durch lebenslanges Lernen, eine ange-
messene Gestaltung der Arbeitsbedingungen und eine
aktive Gesundheitsförderung erhöht werden kann.
Der fünfte Altenbericht hat sich mit den Potenzialen
des Alters beschäftigt. Wir haben genau vor einem Jahr
über das Thema im Parlament gesprochen. Senioren sind
eine Bereicherung. Deutschland braucht das Zukunfts-
potenzial der Senioren dringender denn je; denn ältere
Menschen verfügen über Erfahrungen und Stärken, die
unsere Gesellschaft wirtschaftlich benötigt und sozial
bereichert.
Aufgabe der Politik ist es, den Veränderungsprozess
zu fördern und mitzugestalten. Einerseits geht es darum,
die erforderliche Absicherung im Alter zu gewährleis-
ten, und andererseits darum Partizipation, ehrenamtli-
ches- und bürgerschaftliches Engagement zu ermögli-
chen bzw. zu erleichtern.
Grundlegendes Ziel unserer Senioren- und Altenpoli-
tik ist es, die Entwicklung und Verankerung eines neuen
Leitbildes des Alters voranzutreiben. Der sechste Alten-
bericht wird sich dem Thema Altersbilder widmen. Mit
dem sich wandelnden Bild vom Alter nicht vereinbar
sind alle Formen der Altersdiskriminierung, verstanden
als soziale und ökonomische Benachteiligung von Perso-
nen aufgrund ihres Lebensalters. Die Betroffenen wer-
den daran gehindert, in angemessener Weise am Arbeits-
leben und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. In
diesem Zusammenhang rücken Altersgrenzen – ich habe
vorhin schon einige Beispiele angeführt – in das Blick-
feld, da sie geeignet sind, institutionelle Barrieren und
Ausgrenzungen in der gesellschaftlichen Realität zu ver-
ankern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen, unser Ansatz bezüglich der Alters-
grenzen ist etwas weitergehender als der Ihrige, auch
wenn wir in manchen Punkten sicherlich Übereinstim-
mung erreichen können. Fakt ist: Für eine ganze Reihe
von Berufen und öffentlichen Tätigkeiten gibt es gesetz-
lich normierte oder tarifrechtliche Altersgrenzen. Diese
Altersgrenzen sind aber zum Teil unzeitgemäß und dis-
kriminierend. Die AG Familie der CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion und die zuständigen Berichterstatter zur Se-
niorenpolitik haben sich bereits im Januar 2007 zu
diesem Thema öffentlich geäußert. Wir halten es für not-
wendig, die starren Altersgrenzen zu überprüfen. Dies
ergibt sich nicht nur aufgrund der ökonomischen Not-
wendigkeit durch den Bevölkerungsschwund, sondern
ist auch der Tatsache geschuldet, dass in vielen Staaten
das Verbot, Menschen allein aufgrund ihres Lebensalters
zu benachteiligen, bereits Verfassungsrang genießt. Zu-
dem stellt das Europarecht bindende Vorgaben zum Ver-
bot der Altersdiskriminierung auf.
Die Senioren- und Familienpolitiker der CDU/CSU-
Bundestagsfraktion halten es für berechtigt, dass starre
Altersgrenzen durch objektive Kriterien ersetzt werden.
Wer körperlich und geistig die nötigen Voraussetzungen
mitbringt und sich weiterbildet, muss auch arbeiten dür-
fen: Piloten, Statiker, Ärzte, ehrenamtliche Schöffen
usw. Wir werden sehen, was das Gutachten hierzu sagt,
und dann können wir gerne wieder an dieser Stelle darü-
ber diskutieren.
Noch einige Ausführungen zum Thema „Ausbau der
Beteiligungsmöglichkeiten älterer Bürgerinnen und Bür-
ger bzw. Sicherung und Unterstützung des Infrastruktur-
ausbaus für das bürgerschaftliche Engagement“: Gerade
das unionsgeführte BMFSFJ leistet in diesem Bereich
vorbildhafte Arbeit. Natürlich kann man immer mehr
machen, und als Oppositionsfraktion gehört es ja auch
19212 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
(A) (C)
(B) (D)
zu ihren Aufgaben, immer mehr zu fordern, das ist ja
auch ganz einfach, denn sie tragen ja auch nicht die fi-
nanzielle Verantwortung und ich bin mir sicher, dass
auch Sie mir nicht sagen können, wo das zusätzliche
Geld herkommen soll. Trotzdem denke ich, dass wie auf
einem guten Weg sind. Auch Modellprogramme und
Leuchttürme können eine Initialzündung geben und bür-
gerschaftliches Engagement verstetigen. Mit der Initia-
tive ZivilEngagement fördert das BMFSFJ eine Reihe
von Modellvorhaben zur Stärkung des zivilgesellschaft-
lichen Engagements. Mit dem Modellprogramm „Gene-
rationenübergreifende Freiwilligendienste“ – bis zum
30. Juni 2008 – wurde erstmals ein Freiwilligendienst
für alle Generationen angeboten. Die größte Gruppe der
Freiwilligen sind Rentnerinnen und Rentner mit 23 Pro-
zent. In dem neuen Freiwilligendienst aller Generatio-
nen, der ab 1. Januar 2009 startet und mit 22,5 Millionen
Euro ausgestattet ist, ist ein Schwerpunkt die Zielgruppe
der Älteren. Die positiven Erfahrungen – 42 Prozent der
Einsatzstellen möchten den Einsatz von älteren Men-
schen weiter steigern – zur Gewinnung und zum Einsatz
von Seniorinnen und Senioren sollen durch gezielte
Maßnahmen zu einem weiteren Anstieg der Freiwilli-
genzahlen in dieser Altersgruppe führen.
Auch mit dem Aktionsprogramm „Mehrgenerationen-
häuser“ wird das Miteinander der Generationen gestärkt.
Mehr als 500 Mehrgenerationenhäuser bundesweit ver-
binden bürgerschaftliches Engagement, Selbsthilfe und
professionelle Unterstützung zu einem umfassenden
Angebot für Menschen jeden Alters. Ziel des Aktions-
programms ist es ja gerade, dass alle Generationen in
Verbindung kommen und Erfahrungen und Wissen un-
tereinander austauschen. Ich kann das aus eigener Erfah-
rung bestätigen. In meiner Heimatstadt Esslingen haben
wir ein Mehrgenerationenhaus, und da funktioniert dies
wunderbar. In gut 75 Prozent der 9 100 Angebote in den
Mehrgenerationenhäusern begegnen sich Jung und Alt.
Beide Generationen – sowohl Jung als auch Alt – profi-
tieren in den Mehrgenerationenhäusern voneinander.
Durch die bewusste Verbindung von professioneller und
ehrenamtlicher Tätigkeit in den Häusern wird der Wert
des gegenseitigen Gebens und Nehmens aktiv gelebt.
Das vom BMFSFJ von 2002 bis 2006 geförderte Bun-
desmodellprogramm „Erfahrungswissen für Initiati-
ven“, EFI, hatte zum Ziel, das Erfahrungswissen älterer
Menschen für freiwillige Projekte und Initiativen nutz-
bar zu machen. Nach dem Auslaufen der Bundesförde-
rung Ende 2006 wird das Programm von den beteiligten
Ländern fortgeführt und weiter ausgebaut. EFI ist ein
Qualifizierungsprogramm für ältere Menschen zu Se-
niortrainerinnen und -trainern. Das Programm dient dem
Aufbau einer neuen Verantwortungsrolle für ältere Men-
schen in der Kommune. Sie setzen ihr Erfahrungswissen
und ihre Kenntnisse zum Beispiel in Projektentwick-
lung, Gesprächsführung, Konfliktmanagement und Öf-
fentlichkeitsarbeit bei der Begleitung und Beratung von
Freiwilligeninitiativen, Einrichtungen, Vereinen, Ver-
bänden in Kommunen ein bzw. bauen eigene Projekte
gemäß der kommunalen Bedarfslage auf. Seit 2003 ha-
ben rund 1 000 Seniortrainerinnen und -trainern mehr als
4 000 Projekte zum Beispiel in Schulen, Altenpflege, In-
ternet, Kultur, Sport aufgebaut oder begleitet. Daneben
fördert auch das BMZ ehrenamtliches Engagement älte-
rer Menschen seit vielen Jahren gezielt über den Senior
Expert Service. Ich könnte die Liste noch weiterführen,
aber ich denke die Projekte sind Ihnen bekannt.
Ich fasse kurz zusammen: Erstens. Bürgerschaftliches
Engagement fördern steht ganz vorne auf der Agenda
des BMFSFJ und der unionsgeführten Bundesregierung.
Zweitens. Auf der Grundlage der Ergebnisse des Gut-
achtens sollten wir entscheiden, ob und, wenn ja, welche
Maßnahmen zur Veränderung oder Beseitigung beste-
hender Altersgrenzen zu ergreifen sind.
Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Das Wichtigste
vorweg: Ich finde es gut, dass wir hier im Deutschen
Bundestag über Alter und Altern reden und auch über
die Altersdiskriminierung, die immer noch ein gesell-
schaftliches Problem ist. Ziel des Allgemeinen Gleich-
behandlungsgesetzes (AGG) war und ist es, für eine
Antidiskriminierungskultur in Deutschland zu sensibili-
sieren, und dazu kann eine Debatte im Deutschen Bun-
destag einen Beitrag leisten.
Ich bin wirklich sehr froh, dass es uns Sozialdemokra-
tinnen und Sozialdemokraten gelungen ist, das Gleich-
behandlungsgesetz im zivilrechtlichen Teil um das
Merkmal Alter zu erweitern, und dass wir damit auch ei-
nen Beitrag dazu geleistet haben, dass viele möglicher-
weise veraltete Regelungen sukzessive auf den Prüfstand
kommen werden. Ich hätte mir allerdings gewünscht,
dass die Grünen ihren Antrag nicht so eng gefasst hätten
und neben der Situation im Ehrenamt auch andere
Punkte der Diskriminierung Älterer angesprochen hät-
ten, bei der Kreditvergabe zum Beispiel oder im Bereich
der Werbung. Und ein kleines Lob für die vielen Älteren,
die ehrenamtlich arbeiten, zum Beispiel als Quali-Paten,
in der Altenbetreuung oder beim Senior-Expert-Service,
hätte wohl auch nicht geschadet.
Aber: Wo Menschen sind, „menschelt’s“, und ich be-
zweifle nicht, dass es auch im ehrenamtlichen Bereich
Altersdiskriminierung gibt. Wir sollten in der Tat überle-
gen, ob die eine oder andere Altersgrenze – nach oben
und unten übrigens – in einer Reihe von Gesetzen und
Verordnungen tatsächlich ihren Sinn erfüllen. Die im
Antrag angesprochene Regelung im Gerichtsverfas-
sungsgesetz, wonach Personen ab dem 70. Lebensjahr
das Ehrenamt des Schöffen nicht mehr ausüben sollen,
scheint mir aber nur bedingt für eine solche Kritik geeig-
net zu sein.
Leider sind – ich weiß nicht, ob der grünen Bundes-
tagsfraktion dies bewusst ist – die Regelungen bei den
Schöffen kein Bestandteil der Rechtsmaterie des AGG.
Auch wenn Sie das AGG nicht explizit nennen, so ist
doch das AGG die Basis ihrer Argumentation. Hier hätte
ich mir in Ihrem Antrag mehr Klarheit gewünscht.
Näher erläutert wird dies auch in einer Antwort der
Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage. Das AGG
könne, heißt es dort, im Hinblick auf das Schöffenamt
nicht angewendet werden, weil es sich weder um eine
Erwerbstätigkeit handelt, noch ein zivilrechtliches
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19213
(A) (C)
(B) (D)
Schuldverhältnis begründet wird. Zudem handelt es sich
bei der Altersregelung nur um eine Sollbestimmung. Der
Gesetzgeber hat hier bereits den Zuständigen einen Er-
messensspielraum eingeräumt, den ich mir im Übrigen
auch für andere Regelungen wünschen würde. Außer-
dem ist die Periode für ein Schöffenamt mit Rechtswir-
kung zum 21. Dezember 2004 erst auf fünf Jahre verlän-
gert worden, womit es praktisch möglich ist, dass auch
noch 75-Jährige ein Schöffenamt bekleiden können.
Aus diesen genannten Gründen ist der Antrag der
Grünen abzulehnen. Vielleicht sollten sie noch mal bes-
ser recherchieren und nach Gesetzen Ausschau halten,
die tatsächlich ein Verbot zum Inhalt haben.
Ich wiederhole aber an dieser Stelle, dass ich Ihr
grundsätzliches Anliegen durchaus teile: Wir sind als
Gesetzgeber natürlich angehalten, altersdiskriminie-
rende Regelungen auf den Prüfstand zu stellen. Insbe-
sondere im bürgerschaftlichen Engagement haben diese
nichts zu suchen! Ehrenamtliche Arbeit ist ein Stück
Teilhabe an der Gesellschaft und an unserer Demokratie.
Wer hier ausgrenzt, zeigt, dass er unsere Staatsform, die
immer noch die beste der Welt ist, nicht verstanden hat.
Das sollte sich auch der aufstrebende Berliner Jungpoli-
tiker der Union hinter die Ohren schreiben, der dafür
plädiert hat, das Wahlrecht Älterer mit der Begründung
zu beschneiden, sie würden keinen aktiven Beitrag für
die Gesellschaft leisten. Die Berliner CDU hat mit dieser
Meinung allerdings offenbar kein Problem; sie hat ihn
nun als Bundestagskandidaten in Berlin-Pankow aufge-
stellt.
Kommen wir zum AGG zurück: Dass 24,32 Prozent
der Anfragen an die Antidiskriminierungsstelle des Bun-
desministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend das Merkmal Alter betreffen, zeigt nicht nur, dass
es richtig war, Alter als Merkmal ins Gesetz aufzuneh-
men; es zeigt auch die hohe gesellschaftspolitische Rele-
vanz des Themas.
Mein ceterum censeo als Seniorenpolitikerin ist, dass
wir mit dem AGG ein Gesetz verabschiedet haben, wel-
ches viele Bürgerinnen und Bürger – übrigens junge
ebenso wie alte – ermächtigt, sich gegen Diskriminie-
rung wegen des Lebensalters zu wehren. Dazu sind die
Bürgerinnen und Bürger ganz offensichtlich bereit, wenn
man der Rechtsprechungsübersicht der Antidiskriminie-
rungsstelle im BMFSJ folgt.
Mir macht allerdings ein wenig Sorge, dass vor allem
Altersgrenzen von jungen Menschen, denen beispiels-
weise Höchstaltersgrenzen bei Laufbahnbewerbungen
ein Hindernis waren, gerichtlich überprüft wurden und
eher selten ältere Menschen, um die es hier heute gehen
soll. Auch vor diesem Hintergrund sage ich zu den ande-
ren Forderungen Ihres Antrags: Die Bundesregierung
kann und muss Vorbild sein. Bei sämtlichen Program-
men des Bundes wird deshalb auf die Offenheit für alle
Altersgruppen geachtet. Wir müssen selbstverständlich
unsere Gesetze und Verordnungen nach diskriminieren-
den Regelungen durchforsten. Ich bin mir auch sicher,
dass die Länder diesem Beispiel folgen werden. Aber
grundsätzlich gilt: Wo kein Kläger, da kein Richter. Im
Kleinen muss jeder alte Mensch selbstbewusst sein
Recht einfordern, egal ob bei der Feuerwehr oder im
Sportverein. Nur so entsteht auch Bewusstsein. Das kann
ihm übrigens auch das beste AGG nicht abnehmen.
Sönke Rix (SPD): Heute sprechen wir über den An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel
„Diskriminierende Altersgrenzen im Bereich des bürger-
schaftlichen Engagements aufheben“. Ich glaube, dort
wo es gesetzliche Altersgrenzen gibt, beispielsweise im
FSJ/FÖJ, weltwärts und bei Schöffen, sind sie sachlich
begründet und nachvollziehbar. Aber natürlich müssen
die bisher bestehenden Altersgrenzen im Bereich bürger-
schaftlichen Engagements überprüft werden. Allein die
höhere Lebenserwartung und die Erhöhung des Renten-
eintrittsalters machen diese Überprüfung notwendig.
Deshalb hat die Bundesregierung ein Gutachten in
Auftrag gegeben, um einen umfassenden Überblick über
die Altersgrenzen zu erhalten, die auch untergesetzlich
in Vereinen und Verbänden bestehen. Die erste Forde-
rung Ihres Antrags ist also bereits erfüllt.
Außerdem beschäftigen wir uns seit geraumer Zeit mit
dem Engagement von älteren Menschen. Mit dem Mo-
dellprojekt „Generationenübergreifende Freiwilligen-
dienste“ und den „Mehrgenerationenhäusern“ werden
explizit auch ältere Bürgerinnen und Bürger angespro-
chen. Wohlgemerkt: explizit, nicht exklusiv. Denn das ist
mir wichtig beim Thema „Bürgerschaftliches Engage-
ment“: dass es generationenübergreifend stattfindet. Ich
möchte nicht, dass wir die Generationen anhand von Al-
terstabellen in Gruppen einteilen und sie dann unter-
schiedlichen Projekten zuteilen. Das Miteinander ist ent-
scheidend. So können die Jüngeren von den Älteren
lernen, und natürlich ist das auch umgekehrt so.
Das soziale Engagement von Menschen für Men-
schen ist der eigentliche Kitt unserer Gesellschaft. Ne-
ben denjenigen, die soziale Tätigkeiten hauptamtlich
ausführen, gibt es zahlreiche freiwillig Engagierte; 2004:
23 Millionen. Ohne die ginge es nicht. Ohne die würde
etwas fehlen in unserer Gesellschaft. Zwischenmensch-
lichkeit, Aufmerksamkeit und Zuspruch leisten die frei-
willig Engagierten, zusätzlich zu dem, was der Staat leis-
ten kann. Dieses Engagement brauchen wir, sowohl das
der jungen Generation als auch das der älteren.
Der Leitgedanke einer idealen generationenübergrei-
fenden Engagementpolitik sollte meiner Vorstellung
nach lauten: Wer will, der darf. Oder besser noch: Wer
will, der soll können. Und es gibt viele Ältere, die wol-
len und können.
Die Initiative „Alter schafft Neues“ konzentriert sich
auf das Potenzial und die Kompetenz von Seniorinnen
und Senioren. Mithilfe dieser Initiative sollen ältere Bür-
gerinnen und Bürger angesprochen und motiviert werden
– auch zum freiwilligen Engagement.
Im jetzt gerade auslaufenden Programm „Generatio-
nenübergreifende Freiwilligendienste“ hatten Menschen
aller Generationen die Möglichkeit, sich zu engagieren;
und das in einem geregelten Rahmen zwischen 8 und
20 Stunden pro Woche. Die Erfolge dieses Projektes
werden aufgegriffen. Das neue Programm „Freiwilligen-
19214 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
(A) (C)
(B) (D)
dienste aller Generationen“ gewährleistet Qualitätsstan-
dards, Qualifizierungsmöglichkeiten, Verbindlichkeit
und passgenaue Angebote für Freiwillige, egal wie alt
sie sind oder woher sie kommen. Es gelten keine Alters-
grenzen für das bürgerschaftliche Engagement. Und
dort, wo es welche gibt, werden sie gerade überprüft. Im
Anschluss daran müssen wir entscheiden, ob sie geän-
dert oder abgebaut werden.
Das Motto der Woche des bürgerschaftlichen Engage-
ments lautet: Engagement macht stark. Und das gilt für
Jung und Alt. Dass alle Generationen davon profitieren,
daran arbeiten wir seit langem und gerade jetzt. Ihr An-
trag greift die richtigen inhaltlichen Punkte auf, jedoch
werden diese bereits umgesetzt. Somit ist er überflüssig.
Sibylle Laurischk (FDP): Solidarität und Verant-
wortungsbewusstsein, die Weitergabe von Wissen und
Erfahrungen, die Suche nach sozialen Kontakten, der
Wunsch, sich neue Erlebniswelten zu erschließen oder
einfach das Gefühl, gebraucht zu werden, sind nur einige
Motive, sich sozial zu engagieren. Dies gilt in ganz be-
sonderem Umfang für den älteren Teil der Bevölkerung.
Gerade für Liberale ist bürgerschaftliches Engage-
ment Ausdruck einer lebendigen Bürgerkultur. Eine Ge-
sellschaft, in der Probleme nicht wie selbstverständlich
bei öffentlichen Einrichtungen abgegeben werden, eine
Gesellschaft, in der Bürger für Bürger da sind. Der Ein-
zelne ist selbst gefordert, in eigener Verantwortung, mit
eigener Kraft, mit der Bereitschaft, Risiken zu überneh-
men; auch mit der Bereitschaft, den wirklich Schwachen
und Benachteiligten solidarisch zur Seite zu stehen. Nur
durch einen solchen Bürgersinn wird eine Gesellschaft
entstehen, die eher als jede andere in der Lage ist, mit
den Herausforderungen der Zukunft fertig zu werden.
Eine dieser Zukunftsaufgaben ist der demografische
Wandel. Der demografische Wandel bringt es mit sich,
dass die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zu-
kunftsaufgaben von weniger und im Durchschnitt älteren
Menschen bewältigt werden müssen. In der Öffentlich-
keit wird allerdings mit dem demografischen Wandel
vielfach noch eine verkürzte Debatte über die sozialen
Sicherungssysteme verbunden. Die FDP tritt konsequent
dafür ein, das gesellschaftliche Altenbild zu entstauben
und den Realitäten anzupassen. Die Seniorenpolitik hat
nach unserem Verständnis die Aufgabe, dieses neue
Leitbild des Alters voranzutreiben. Die Folgen des de-
mografischen Wandels sind gestaltbar, aber nur, wenn
eine ehrliche und umfassende Analyse der Fakten er-
folgt. Politische Fehler, wie das jahrzehntelange Ignorie-
ren des längst bekannten demografischen Wandels, dür-
fen sich nicht wiederholen. Diese Ignoranz hatte und hat
verheerende Auswirkungen auf die Sozialsysteme.
Für Liberale bedeutet dies: Alle politischen Zukunfts-
betrachtungen müssen die heute bereits bekannten Fak-
ten mit einbeziehen. Hierzu gehören auch alle Alters-
grenzen. Nicht nur diejenigen des bürgerschaftlichen
Engagements, sondern generell alle Altersgrenzen, auch
diejenigen zur Ausübung bestimmter Berufe, müssen
kritisch hinterfragt und überprüft werden. Ich bin sicher,
dass sich der überwiegende Teil dieser Altersgrenzen als
verzichtbar erweisen wird.
Ich möchte Ihnen hier das Beispiel der KfW-Kredit-
vergabe näherbringen, welches von der FDP seit Jahren
kritisiert wurde. Für die Kreditvergabe bei den ERP- und
KfW-Förderprogrammen existierte für das Programm
„ERP-Kapital für Gründung“ eine Altersbegrenzung.
Das Darlehen wurde nur vergeben, wenn sichergestellt
war, dass es spätestens mit Vollendung des 70. Lebens-
jahres getilgt war. Diese Begrenzung wurde mit der
durchgeführten Überarbeitung des Programms zum
1. Juli 2008 aufgehoben; ein großer Erfolg auch unserer
beharrlichen Politik.
Für die FDP ist die Frage der Altersgrenzen, wie be-
reits geschildert, seit geraumer Zeit ein wichtiges Thema
der Politik, da die Altersgrenzen eine direkte Auswir-
kung auf die Wahrnehmung von Alter, also das gesell-
schaftliche Altenbild haben. Aus diesem Grund haben
wir dieser Fragestellung auch in unserer Großen Anfrage
an die Bundesregierung „Seniorinnen und Senioren in
Deutschland“, Drucksache 16/10155, thematisiert.
Am 18. März des Jahres 2008 hat das Bundesfamili-
enministerium einen Forschungsauftrag ausgeschrieben,
dessen Ziel es ist, existierende Altersgrenzen zu recher-
chieren und zu überprüfen. Die FDP begrüßt dies außer-
ordentlich, wenn wir uns auch eine wesentlich frühere
Befassung mit der Thematik gewünscht hätten.
Das zu erstellende Gutachten zum Thema „Alters-
grenzen und gesellschaftliche Teilhabe“ wurde mittler-
weile in Auftrag gegeben. Dieses Gutachten soll eine
Bestandsaufnahme der in der Bundesrepublik Deutsch-
land bestehenden Altersgrenzen enthalten, die ein Aus-
schlusskriterium für gesellschaftlich relevante Tätigkei-
ten älterer Menschen darstellen könnten. Dabei sollen
nicht nur gesetzliche bzw. rechtlich festgelegte Alters-
grenzen erfasst werden, sondern auch untergesetzliche
„weiche“ Altersgrenzen, die geeignet sind, älteren Men-
schen die Teilhabe an der Gesellschaft, auch im Hinblick
auf freiwilliges und bürgerliches Engagement in der
Zivilgesellschaft, zu verwehren. Das Gutachten soll
eruieren, in welchen Bereichen derartige Altersgrenzen
bestehen, die dahinterstehenden Gründe und Motive be-
schreiben und die für die Bewertung ihrer Sinnhaftigkeit
und fortbestehenden Notwendigkeit erforderlichen
Grundlagen liefern. In diese Bewertung sollen Aspekte
der demografischen Entwicklung und des Allgemeinen
Gleichbehandlungsgesetzes einfließen.
Beispielhaft kann auf folgende Altersgrenzen hinge-
wiesen werden: Höchstaltersgrenzen als Zugangsvoraus-
setzungen zum Beruf, zum Beispiel im öffentlichen
Dienst; Beendigung der kassenärztlichen Zulassung mit
Vollendung des 68. Lebensjahres – § 95 Abs. 7 SGB V –;
Schöffen sollen noch nicht das 70. Lebensjahr vollendet
haben – § 33 GVG –; eine erstmalige Bestellung zum
Notar ist nach Vollendung des 60. Lebensjahres nicht mehr
möglich – § 6 Abs. 1 BnotO –; Banken binden die Ver-
gabe von Darlehen, Vereine die Übernahme von Ehren-
ämtern häufig an eine Höchstaltersgrenze.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19215
(A) (C)
(B) (D)
Auf der Grundlage der Ergebnisse dieses Gutachtens
soll und wird zu entscheiden sein, ob und, wenn ja, wel-
che Maßnahmen zur Veränderung oder Beseitigung be-
stehender Altersgrenzen zu ergreifen sind.
Ich möchte hier ausdrücklich betonen, dass wir das
Grundanliegen des vorliegenden Antrages der Fraktion
der Grünen für sehr unterstützenswert halten. Gleichzei-
tig ist aber festzustellen, dass der Hauptpunkt ihres An-
trages, nämlich der erste Punkt Ihres Forderungskatalo-
ges, „sämtliche Gesetze und sonstige Vorschriften des
Bundes dahingehend zu überprüfen, ob diskriminierende
Altersgrenzen bestehen und diese ggf. zu ändern bzw.
Änderungsentwürfe vorzulegen“ von der Bundesregie-
rung zumindest angegangen wurde, und – so viel Ehr-
lichkeit muss sein – bereits vor der Einbringung Ihres
Antrages in den Deutschen Bundestag am 18. Juni 2008.
Meine Fraktion hofft sehr, dass die politische Diskus-
sion über die Altersgrenzen nun endlich aufgenommen
wird und die dringend notwendigen Veränderungen auch
vollzogen werden. Dies ist ein wichtiger Schritt, damit
der Gedanke von wachsender Eigenverantwortung und
Engagements im Alter keine bloße politische Rhetorik
bleibt.
Elke Reinke (DIE LINKE): Die große Bedeutung des
bürgerschaftlichen Engagements wird überall in höchs-
ten Tönen angepriesen. Diese große Bedeutung ist auch
unbestritten, aber manchmal fehlt dabei schon der Blick
fürs Wesentliche: Am vergangenen Freitag wurde die
„Woche des bürgerschaftlichen Engagements“ feierlich
eröffnet. Doch dort schien Selbstbeweihräucherung
wichtiger zu sein als die jungen Menschen mit ihren tol-
len Projekten selbst.
Von Regierungsseite werden außerdem viele Pro-
gramme zur Stärkung ehrenamtlichen Engagements auf-
gelegt. Dabei geraten zunehmend auch die Seniorinnen
und Senioren in den Blickpunkt. Als Beispiel sei nur die
Initiative „Alter schafft Neues“ des Familienministe-
riums genannt.
Wie in dem Antrag der Grünen zu Recht steht, dehnt
sich die Phase des aktiven Alters zunehmend aus. Über
eine immer größer werdende Zahl von Jahren bleibt eine
selbstständige, eigenverantwortliche Lebensführung mög-
lich.
Die Fraktion Die Linke möchte die Diskussion um ein
positives Altersbild vorantreiben, das die Fähigkeiten
der Seniorinnen und Senioren betont. Gleichzeitig dür-
fen aber diejenigen, die auf Unterstützung angewiesen
sind, nicht ausgegrenzt werden.
Eine vorausschauende, moderne Seniorenpolitik muss
sich eines vor Augen halten: Die Gruppe der Seniorin-
nen und Senioren ist ebenso verschiedenartig wie die an-
derer Altersphasen. Und Seniorenpolitik ist eine Quer-
schnittsaufgabe, die sehr viele Politikbereiche berührt.
Die Linke orientiert sich dabei an einem Leitmotiv:
Ältere Menschen sind in allen sie betreffenden Lebens-
bereichen als Expertinnen und Experten in eigener Sache
einzubeziehen.
Wir unterstützen grundsätzlich das Anliegen, bürger-
schaftliches Engagement für ältere Menschen – aber
eben nicht nur für diese! – attraktiver zu machen und be-
stehende Diskriminierungen abzubauen.
Wir brauchen deshalb dringend eine verbesserte An-
erkennungskultur, regelmäßige Berichterstattung in den
Medien, konsequenten Versicherungsschutz, kostenlose
Qualifikations- und Fortbildungskurse und auch eine
bessere finanzielle Anerkennung bzw. Aufwandsent-
schädigung. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen
wie auch Die Linke fordern einen Ausbau der Infrastruk-
tur, das heißt einen Ausbau der Unterstützung von Verei-
nen, Verbänden, Organisationen.
Sorgen bereitet mir hingegen die momentane Ent-
wicklung, dass Unterstützung und Förderung in man-
chen Bereichen abgebaut werden, weil erstens angeblich
die Gefahr einer Dauerförderung bestehe, zweitens die
haushaltspolitische Handlungsfähigkeit eingeschränkt
und drittens zivilgesellschaftliche Akteure an ihrer eige-
nen Selbstständigkeit gehindert würden.
Als Beispiel sei nur daran erinnert, dass die Förde-
rung der NAKOS (Nationale Kontakt- und Informations-
stelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfe-
gruppen) durch das Familienministerium zum Ende des
Jahres eingestellt wird. Die NAKOS ist eine sehr effek-
tiv arbeitende, hoch anerkannte zentrale Aufklärungs-,
Service- und Netzwerkeinrichtung im Bereich der
Selbsthilfe. Hier wird ganz klar am falschen Ende ge-
spart!
Dem Antrag der Grünen hinsichtlich diskriminieren-
der Altersgrenzen im Ehrenamt können wir zustimmen.
Allerdings ist der Forderungsteil doch sehr allgemein ge-
halten. Es wäre schön gewesen, wenn Sie aus ihrem
reichhaltigen Erfahrungsschatz doch noch ein paar mehr
Beispiele für diskriminierende Altersgrenzen aufgezeigt
hätten.
Die einzige einigermaßen konkrete Forderung im
Grünen-Antrag betrifft die Aufhebung der oberen Al-
tersgrenzen für Schöffinnen und Schöffen. Diesem An-
liegen können wir zustimmen, weil es hier genügt, auf
den gesundheitlichen Zustand und nicht auf ein mögli-
ches Höchstalter abzustellen.
Ich habe mal wegen weiterer Beispiele bei der Anti-
diskriminierungsstelle nachgefragt: Dort wurden bislang
zwei Fälle von diskriminierenden Altersgrenzen im Be-
reich des bürgerschaftlichen Engagements gemeldet: Ein
Fall betraf die schon erwähnte Altersgrenze für Schöf-
finnen und Schöffen, der andere die oberste Altersgrenze
für ehrenamtlich Tätige in einer freiwilligen Feuerwehr.
Warum aber soll ein 54-Jähriger tätig werden dürfen und
ein 56-Jähriger nicht? Ist das nachvollziehbar und ge-
recht? Ich möchte die Betroffenen ermutigen, Diskrimi-
nierungen zu melden oder anderweitig auf ihre Problem-
lage aufmerksam zu machen!
Ehrenämter eröffnen nach wie vor viele Kontaktmög-
lichkeiten, um die Teilhabe älterer Menschen an der Ge-
sellschaft zu sichern. Doch ich halte es für falsch, nur
das Engagementpotenzial ausschöpfen zu wollen.
19216 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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(B) (D)
Die Linke kritisiert grundsätzlich: Gestiegene Selbst-
ständigkeit und eine längere Aktivitätsphase der älteren
Menschen gehen nicht mit einer gestiegenen Selbstbe-
stimmung und Mitwirkung einher. Die Linke fordert
daher für ältere Menschen mehr Mitwirkungsrechte und
mehr Selbstbestimmung – nicht nur im Engagementbe-
reich!
In der Politik sind Seniorinnen und Senioren deutlich
stärker einzubeziehen. Ein Mitspracherecht in Gemein-
deratssitzungen und Arbeitskreisen der Kommunen
muss selbstverständlich werden. Mehr politische Weiter-
bildungsangebote sind mit Unterstützung von Bund und
Ländern anzubieten.
Die Linke tritt dafür ein, gesetzliche Voraussetzungen
zu schaffen, um auf allen parlamentarischen Ebenen, vor
allem in den Kommunen, selbst gewählte Seniorenver-
tretungen bilden zu können. Diesen ist Rede-, Anhö-
rungs- und Antragsrecht zu gewähren. Eine Beteiligung
älterer Menschen kann auch verstärkt werden durch re-
gelmäßig tagende Altenparlamente. Auf Bundes- und
Landesebene fordern wir Seniorenmitwirkungsgesetze.
Schauen Sie sich als Ausgangspunkt doch beispielsweise
das seit 2006 bestehende Berliner Seniorenmitwirkungs-
gesetz an.
Die Bereitschaft der Seniorinnen und Senioren zu
freiwilliger Tätigkeit darf jedoch nicht dazu missbraucht
werden, reguläre Arbeitsplätze zu ersetzen und Lücken
zu schließen, die durch eine unzureichende öffentliche
Daseinsvorsorge entstehen. Mit Schrecken ist festzustel-
len, dass Seniorinnen und Senioren immer häufiger in
der Kinderbetreuung oder Pflege eingesetzt werden,
während qualifizierte Vollzeitstellen abgebaut werden.
Altersdiskriminierung, wie sie etwa in der Finanzwirt-
schaft zum Beispiel bei der Kreditvergabe betrieben
wird, ist ebenfalls strikt zu bekämpfen.
Seniorinnen und Senioren werden häufig einerseits
als potenzielle Pflege- oder Fürsorgefälle gesehen, die
nur satt, sauber, trocken zu sein haben. Im Hinblick auf
ihre Verwertbarkeit werden sie andererseits oft nur als
Konsumenten, wie in der Initiative „Wirtschaftsfaktor
Alter“ vom BMFSFJ, oder zum Teil als billige Arbeits-
kräfte, wie in den „Generationsübergreifenden Freiwilli-
gendiensten“, gesehen, die es auszuschöpfen gilt.
Aber mehr Mitwirkungsrechte will die Bundesregie-
rung unseren Seniorinnen und Senioren nicht geben! Ge-
rade im politischen Bereich könnten wir gleichfalls von
ihrer großen Lebenserfahrung profitieren. Die Linke ver-
schließt sich nicht vor Altersweisheit!
Genauso ignorieren CDU/CSU und SPD das Problem
Altersarmut. Nein! Sie ignorieren nicht nur, sie treiben
Altersarmut voran! Wie sonst ist die Rente ab 67 oder
die niedrige Grundsicherung im Alter zu verstehen? Sie
malen das Schreckgespenst „demografischer Wandel“ an
die Wand, zerschlagen damit eine solidarische Renten-
versicherung und treiben die Menschen in die private
Vorsorge. Sie verriestern und verrüruppen die Men-
schen!
Es muss meiner Meinung nach darum gehen, die Le-
bensqualität zu erhöhen sowie soziale und finanzielle
Sicherheit zu gewährleisten. Ältere Menschen sind Bür-
gerinnen und Bürger mit einem Anspruch auf selbstbe-
stimmtes Leben bei gleichzeitigen Mitgestaltungsmög-
lichkeiten.
Der Missbrauch des Altersbegriffes, des bürgerschaft-
lichen Engagements und auch des Demografiebegriffs
führt zu mehr Sozialabbau, Privatisierung sozialer Risi-
ken und Entsolidarisierung.
Sozialabbau, unter welchem Deckmantel auch immer,
ist mit der Linken aber nicht zu machen!
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Lassen sie mich ein paar Zahlen an den Anfang meiner
Rede stellen: Schon heute leben über 20 Millionen Men-
schen im Alter von über 60 Jahren in diesem Land. Rund
80 Prozent der über 70-Jährigen leben weitgehend
selbstständig. Die verbesserte Gesundheitsversorgung
und die gestiegene Lebenserwartung ermöglichen für
immer mehr Menschen für einen immer längeren Zeit-
raum ein selbstständiges Leben.
Und ein Blick in die Zukunft zeigt, dass dieser Trend
sich verstärkt fortsetzen wird: Bereits in 25 Jahren wird
der Anteil der Menschen, die das 65. Lebensjahr über-
schritten haben, auf über 30 Prozent steigen. Die Le-
benserwartung wird für Frauen dann voraussichtlich
rund 87 Jahre betragen und für Männer 81 Jahre. Danach
beträgt die Altersphase nach der gängigen Einteilung
Ausbildung – Erwerbsarbeit – Alter ein Drittel der ge-
samten Lebenszeit.
Doch trotz dieser beeindruckenden Veränderungen
rückt die Zeit nach der beruflichen Phase bisher kaum in
das Blickfeld der politischen Aufmerksamkeit. Dabei
drängt die Zeit. Denn die Auswirkungen des demografi-
schen Wandels sind bereits da. In der Bevölkerungspyra-
mide finden enorme Verschiebungen statt. Und lassen
sie es mich ganz deutlich sagen: Wir haben einen enor-
men Nachholbedarf, dem oberen Drittel dieser Pyramide
– den Älteren – Chancen der aktiven gesellschaftlichen
Teilhabe einzuräumen.
Wer weiterhin an Altersgrenzen im bürgerschaftli-
chen Engagement festhält, übersieht die Signale, die
diese aussenden. Altern im 21. Jahrhundert ist vielfältig.
Es gibt keine magische Altersschwelle, die wir alle ge-
meinsam irgendwann überschreiten. Denn altern ist nicht
nur vielfältig, sondern auch individuell. Nicht jeder ist
noch fit im Alter – aber immer mehr sind es.
Und es zeugt von einer ungeheuren Ignoranz, wenn
die Bundesregierung, auf den Altersgrenzen für das
Schöffenamt beharrt. Die Antwort der Bundesregierung
auf die Kleine Anfrage der Kolleginnen und Kollegen
der FDP-Fraktion zeigt es schwarz auf weiß: Die Bun-
desregierung traut dieses Schöffenamt den älteren Bür-
gerinnen und Bürgern ganz einfach nicht zu. Ich frage
mich, ob die Bundeskanzlerin bereits an Senator McCain
einen Brief verschickt hat, in dem sie ähnliche Bedenken
äußert. Denn bei aller Hochachtung für die vielen akti-
ven Schöffinnen und Schöffen sind die Anstrengungen,
die ein mögliches Präsidentenamt in den USA mit sich
bringen werden, wohl höher einzuschätzen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19217
(A) (C)
(B) (D)
Die Bereitschaft Älterer sich bürgerschaftlich zu enga-
gieren, müssen wir stützen, nicht unterbinden. Wir müs-
sen positive Signale setzen, dass Engagement gewünscht,
Einmischen und Teilhabe Älterer an der Gesellschaft ge-
fördert wird. Es liegt an uns, an einem neuen Bild des Al-
ters mitzuzeichnen. Deshalb fordere ich sie auf, einen
Entwurf des § 33 Gerichtsverfassungsgesetz vorzulegen,
in dem die bestehende obere Altersgrenze für Schöffin-
nen und Schöffen aufgehoben wird. Den vielen formellen
und informellen Altersgrenzen, denen ältere Menschen
im Bereich des bürgerschaftlichen Engagements begeg-
nen, will ich entgegentreten. Dafür müssen wir sämtliche
Gesetze und Vorschriften des Bundes daraufhin überprü-
fen, ob diskriminierende Altersgrenzen bestehen und ge-
gebenenfalls Änderungen vornehmen.
Denn ohne selber im Farbtopf zu rühren, wird es näm-
lich schwer werden, Altersbildern einen neuen Anstrich
zu geben.
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Dritten Geset-
zes zur Änderung des Energieeinsparungsgeset-
zes (Tagesordnungspunkt 19)
Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU): Spätestens seit
dem Gipfel des Europäischen Rates im März 2007 sind
die klimapolitischen Ziele bis 2020 politisch definiert.
Wir müssen aus ökologischer Verantwortung heraus
Treibhausgas-Emissionen um 20 Prozent reduzieren,
deshalb besonders die Energieeffizienz um 20 Prozent
steigern und den Anteil erneuerbarer Energien auf
20 Prozent anheben.
Daher ist es nur folgerichtig, dass das besondere Au-
genmerk auf den Gebäudebereich gerichtet wird. Wir in-
vestieren hier immerhin 40 Prozent unseres gesamten
Energieverbrauchs. 30 Prozent Energieeinsparung im
Gebäudebereich helfen da enorm. Trotzdem darf auch
hier die ökonomische Verantwortung, besonders für die
Hausbesitzer mit geringem Einkommen, nicht auf der
Strecke bleiben.
Die Klimaschutz-Ziele müssen erreicht werden – das
steht außer Frage –, aber mit möglichst geringem finan-
ziellen Aufwand für Staat und Bürger.
Mit der heutigen ersten Lesung zum dritten Gesetz
zur Änderung des Energieeinspargesetzes betreten wir
kein Neuland Wir sind vielmehr hier, um funktionie-
rende gesetzliche Elemente, die zur Verwirklichung der
ökologischen Verantwortung für unsere Heimat erdacht
wurden, auszubauen, anzupassen und auf den neuesten
Stand zu bringen.
Wir müssen es auch überarbeiten, da nur so die ent-
scheidenden und schon diskutierten Veränderungen in
der nachgeordneten Heizkosten- und besonders der
Energieeinsparverordnung in Kraft treten können.
Was soll geändert werden? Und warum?
Erstens. Die Anforderungen an die Wärmedämmung
und die Außenteile von Gebäuden werden um 30 Pro-
zent erhöht. Effizientere Wärmenutzung erspart uns
Energiegewinnung, egal ob konventionell oder durch er-
neuerbare Energien.
Zweitens. Durch eine stufenweise und wirtschaftlich
vertretbare Außerbetriebnahme von Nachtstromspei-
cher-Heizungen, die älter als 30 Jahre sind und in größe-
ren Gebäuden eingesetzt werden, wird diese ineffektive
Heizmethode bald der Vergangenheit angehören.
Drittens. Ermittlung des energetischen Zustands, die
Kontrolle der Anforderungen und die Umsetzung muss
mit geringem bürokratischen und finanziellen Aufwand
erfolgen. Synergien sind zu nutzen. Zertifizierte Unter-
nehmen können das effektiv umsetzen. Der Schornstein-
feger kann das auch in Verbindung mit seinen bestehen-
den Aufgaben umsetzen.
Als Baupolitiker kann ich Ihnen versichern: Dies sind
überaus effektive Maßnahmen, unabhängig davon, ob
Sie diese nun aus ökologischer, ökonomischer oder bü-
rokratischer Sicht betrachten wollen.
Bei der Erreichung der Klimaschutz-Ziele ist das
richtige Zusammenspiel der einzelnen Elemente, zum
Beispiel das des Energieeinspargesetzes, mit der EnEV
und der HeizkV, des EEG und des EEWärmeG, kurz ge-
sagt das Integrierte Energie- und Klimaprogramm von
entscheidender Bedeutung! Alles hängt mit allem zu-
sammen.
Der Leitsatz wird umgesetzt: Nutze Energie sparsam,
dämme unnötige Energieverluste ein, und für den Rest
bediene dich, wenn möglich, erneuerbarer Energien.
Ich kann Ihnen versichern, wir sind auf dem richtigen
Weg, weil so Energie eingespart wird und weil Effi-
zienzgewinn und der Einsatz erneuerbarer Energien
technologieoffen sind. Das fordert und fördert die Krea-
tivität und den Erfindungsreichtum des heimischen Bau-
gewerbes in allen Bereichen.
Es ist auch deshalb der richtige Weg, weil dem einzel-
nen Bauherrn Wahlmöglichkeiten offengehalten werden.
Die Verpflichtung zur Energieeffizienzsteigerung am
Bau soll die einzige Vorgabe sein.
Zur Umsetzung muss der Bauherr vielfältige Mög-
lichkeiten haben, und die müssen für ihn wirtschaftlich
vertretbar bleiben. Darauf legt die Union besonderen
Wert. Daher darf das Wirtschaftlichkeitsgebot an keiner
Stelle außer Acht gelassen werden. Aber diese Sorge be-
steht, Gott sei Dank, in diesem Bereich nicht. Denn im
Zusammenspiel zwischen Vorgaben und den flankieren-
den Programmen können Differenzen zwischen Ökolo-
gie und Ökonomie abgemildert werden.
Dank des CO2-Gebäudesanierungprogramms konnten
von 2005 bis 2007 bereits 650 000 Wohneinheiten sa-
niert werden. Dies sparte bislang jährlich zwei Millionen
Tonnen CO2 und 500 Millionen Euro Energiekosten ein.
Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm ist auch aktuell
so erfolgreich und gefragt, dass in diesem Jahr zusätzli-
che 500 Millionen Euro bereitgestellt wurden, um allen
Anträgen gerecht zu werden.Gleichzeitig ist es auch ein
19218 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
(A) (C)
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Konjunkturprogramm, denn es sorgt für einen Schub in
der Bauindustrie, im Mittelstand, beim Handwerk und
den Baustoffherstellern.
Bitte lassen Sie nicht außer Acht, dass 1 Milliarde
Euro an Investitionen 25 000 Arbeitsplätze sichert oder
schafft. Anreize schaffen statt Befehle erteilen, finan-
zielle Unterstützungen anstatt reiner gesetzlicher Vorga-
ben, fördern die Akzeptanz bei allen Akteuren. Für die
Union steht fest – die bisherigen Ergebnisse geben uns
Recht –: Das ist der richtige Weg!
Lassen Sie uns so weitermachen und hier vielleicht
noch ein wenig mehr das Potenzial nutzen, beispiels-
weise durch verbesserte Steuerabschreibungen für Inves-
titionen in Energieeffizienz und erneuerbare Energien.
Dabei ist es nicht entscheidend, welche steuerlichen
Maßnahmen ins Auge gefasst werden. Wichtig ist nur,
dass beispielsweise eine befristete Verdoppelung des
Abschreibungssatzes, höhere Abschreibungssätze oder
eine sofortige Absetzbarkeit von Aufwendungen den
Bürger spürbar entlasten.
Aber auch bei der Aufstockung von einmaligen Zu-
schüssen, im CO2-Gebäudesanierungsprogramm für die-
jenigen Hausbesitzer, die zwar sanieren wollen, es je-
doch schwer haben, noch einen weiteren Kredit von der
Bank zu bekommen, ist im Sinne der Politik der Union.
Es muss auch dem finanziell schwachen Hausbesitzer
möglich werden, sein Gebäude klimaverantwortlich um-
zubauen und in den Genuss von dauerhaft niedrigeren
Energiekosten zu kommen.
Außerdem wäre mit diesen zusätzlichen Instrumenten
sichergestellt, dass mehr Bestandsgebäude in Deutsch-
land vom Klimaschutz erreicht werden. Deswegen bitte
ich Sie um Ihre Unterstützung im Allgemeinen zu dem
Komplex des Integrierten Klima- und Energiepro-
gramms der Bundesregierung und im Speziellen zu dem
vorliegenden dritten Gesetz zur Änderung des Energie-
einspargesetzes.
Rainer Fornahl (SPD): Wer A sagt, der sollte auch B
sagen. Das machen wir heute mit der Einbringung des
Gesetzentwurfs zur Änderung des Energieeinsparungs-
gesetzes.
Am 6. Juni 2008 haben wir im Deutschen Bundestag
ein Paket von Gesetzen zum Klimaschutz und zur Erhö-
hung der Energieeffizienz in Gebäuden verabschiedet
(IKEP-I-Umsetzung). Am 18. Juni 2008 hat die Bundes-
regierung einen weiteren Teil ihres Klimaschutzpro-
gramms verabschiedet (IKEP-II-Umsetzung), darunter
die Änderung des Energieeinsparungsgesetzes (EnEG)
und damit den Auftrag zur Novellierung der Energieein-
sparverordnung (EnEV). Das Änderungsgesetz beraten
wir heute in der ersten Lesung und überweisen es an die
Ausschüsse, in dringender Erwartung zügiger Verab-
schiedung im Hohen Hause. Damit schaffen wir erst die
erforderlichen Ermächtigungen zur Änderung der EnEV,
in der Einzelheiten im Vollzug des Energieeinsparungs-
rechts für Gebäude geregelt sind. Inhaltlich ist die Ände-
rung der EnEV also in mehreren Punkten von den Geset-
zesänderungen abhängig, wie zum Beispiel für die
Außerbetriebnahme von Nachtstromspeicherheizungen
oder für Maßnahmen zur Stärkung des Vollzugs der Ener-
gieeinsparverordnung. Es geht um einen am Stand der
Technik und der Wirtschaftlichkeit orientierten zuverläs-
sigen rechtlichen Rahmen für die zahlreichen im Gebäu-
debereich beteiligten Branchen und Energieverbraucher.
Die Änderung des Energieeinsparungsgesetzes und
auf dessen Grundlage der Energieeinsparverordnung
sind zentrale Elemente der Energiespar- und Klimapoli-
tik der Großen Koalition. Danach werden ab 2009 die
Mindestanforderungen an die energetische Qualität von
Neubauten und sanierten Altbauten durch eine Überar-
beitung der Energieeinsparverordnung (EnEV) ver-
schärft. Es geht um die die Anhebung der energetischen
Anforderungen an Neubauten um durchschnittlich
30 Prozent; die Anhebung der energetischen Anforde-
rungen an wesentliche Änderungen im Gebäudebestand
um durchschnittlich 30 Prozent; die Ausweitung einzel-
ner Nachrüstpflichten bei Anlagen und Gebäuden, die
die Verpflichteten unabhängig von geplanten eigenen
Maßnahmen oder Vorhaben erfüllen müssen.
Dies ist gut und richtig so, denn dem Gebäudesektor
kommt bei dem Bestreben, Energie einzusparen, eine
ganz erhebliche Bedeutung zu. Gebäude haben mit mehr
als 40 Prozent einen erheblichen Anteil am gesamten
Energieverbrauch. Davon entfallen 75 Prozent auf das
Heizen, 10 Prozent für Warmwasser und 15 Prozent für
mechanische Energie und Strom. Der Anteil des Gebäu-
debereichs an CO2-Emissionen beträgt 20 Prozent. Ziel
muss es daher sein, bei der Neuerrichtung von Gebäuden
mit möglichst sparsamer Energiebilanz zu erstellen und
im Gebäudebestand die Möglichkeiten zur Energieein-
sparung zu mobilisieren. Gerade im Gebäudebestand
liegt die größte Energiesparreserve. Dieser umfasst knapp
19 Millionen Gebäude, davon 17,3 Millionen Wohnge-
bäude und 1,5 Millionen Nichtwohngebäude. 75 Prozent
des Gebäudebestandes wurden vor 1979 mit zum Teil
schlechter energetischer Qualität erreichtet. Ab 1979
stellte die 1. Wärmeschutzverordnung Mindestanforde-
rungen an die energetische Qualität der Gebäude. Ziel ist
es, dass jährlich 3 Prozent des vor 1979 errichteten Alt-
baubestandes grundlegend saniert werden. Derzeit sind
es 2,2 Prozent. Das sind jährlich 420 000 Gebäude oder
bis 2020 ein Drittel des Altbaubestandes. Es gilt die
enormen Einsparpotenziale zu erschließen.
Dazu bedarf es auch einer offenen und ehrlichen Dis-
kussion über die Verteilung der Kostenbelastungen. Es
darf nicht verschwiegen werden, dass es den Einzelnen
etwas kosten wird – für Gebäudesanierung, Austausch
alter Heizkessel und Fenster, Dämmung von Decken und
Wänden. Es muss klar sein, dass es nicht ausreicht, da-
rauf zu hoffen, dass die Politik mit Gesetzen und Koh-
lendioxid-Zielen es schon richtet, ohne dass der Einzelne
in den eigenen vier Wänden selber Hand anlegt. Auf der
anderen Seite müssen wir bei den energie- und klima-
politischen Zielsetzungen stets im Auge behalten, was
den Bürgerinnen und Bürgern abverlangt werden kann.
Die Belastungen des Einzelnen dürfen nicht durch neue
Verpflichtungen überzogen werden. Nicht jede junge Fa-
milie und nicht jedes Rentnerehepaar kann den finanziel-
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len Mehraufwand und die Vergrößerung der Baustelle im
bewohnten Haus tragen. Nicht jeder Wohneigentümer
verfügt über so viele Mittel, um mehr als beabsichtigt zu
investieren. Auch wenn sich die Kosten bald rentieren,
weil eben auch der Energieverbrauch massiv gesenkt
werden kann. Ein weitreichender Modernisierungszwang
könnte das Hemmen sinnvoller freiwilliger Investitionen
erheblich verstärken. Hier greift die weitere Unterstützung
der freiwilligen Entscheidung durch Förderung. CO2-Ge-
bäudesanierungsprogramm, Investitionspaket zur ener-
getischen Sanierung von Schulen, Kindergärten und
sonstigen sozialen Infrastrukturen, Energieeinsparpro-
gramm Bundesliegenschaften und Wohngeldnovelle ver-
deutlichen diesen Teil der Strategie für mehr Energieeffi-
zienz und Klimaschutz im Gebäudebereich.
Auf der andere Seite stehen die ordnungsrechtlichen
Maßnahmen, das Fordern. Energieausweise für Gebäude
und das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz sind bereits
verabschiedet. Die Novellierung von Heizkostenverord-
nung und Energieeinsparverordnung werden folgen. Mit
diesem ausbalancierten Mix aus Fördern und Fordern
werden wir die Gesamtemissionen des Wohngebäudebe-
standes von 120 Millionen Tonnen CO2 im Jahr 2005 um
20 Millionen Tonnen auf 100 Millionen Tonnen CO2 im
Jahr 2020 senken.
Dazu trägt auch bei, die Potenziale des Energie-Con-
tractings in kluger Abwägung der Interessen von Mie-
tern und Vermietern sinnvoll zu nutzen. Alle, die damit
befasst sind, sind aufgefordert, zügig nach tragfähigen
Lösungen zu suchen. Gerade im Verhältnis von Mieter
und Vermieter im laufenden Mietverhältnis sind bei der
energetischen Modernisierung noch einige Fragen offen.
So sollte der Mieter ein Druckmittel haben, wenn der
Vermieter notwendige Modernisierungsmaßnahmen
nicht durchführt. Darüber wird noch zu sprechen sein.
Ich komme zum Schluss noch zu einem Problem,
welches alle Anstrengungen für Klimaschutz und Ener-
gieeinsparung konterkariert. Dies betrifft die Qualität der
energetischen Sanierung. Eine Untersuchung des Ver-
bandes Privater Bauherren lässt auf bedenklich Weise
aufhorchen. Hier werden erhebliche Mängel bei energie-
sparenden Neubauten festgestellt. So sind in 59,3 Pro-
zent aller Fälle die Berechnungen im Nachweis zur
EnEV falsch, in 53,0 Prozent der Fälle wird der Bau ge-
fördert, obwohl er nicht den Förderbedingungen ent-
spricht, in 66 Prozent der Fälle werden falsche oder nicht
mit dem Bauherrn abgestimmte Voraussetzungen im
Nachweis zur EnEV angenommen, in 54,1 Prozent der
Fälle werden die Berechnungen zur EnEV nicht korrekt
umgesetzt und in 40,6 Prozent der Fälle entspricht das
Haus überhaupt nicht den Anforderungen der EnEV.
Deshalb ist ein Controlling-System von öffentlich-recht-
lichen Institutionen und Privatwirtschaft unverzichtbar.
Hier werden Milliarden Steuermittel ausgegeben – mit
dem Ziel die CO2-Emissionen im Gebäudebereich signi-
fikant zu reduzieren.
Planer und Bauherrn, respektive Baufirmen, müssen
konsequent die Vorgaben einhalten und dies verbindlich
nachweisen. Schwarzen Schafen müssen wir hart auf die
Finger klopfen – wegen des Klimas.
Angesichts der weltweit steigenden Energienach-
frage, der steigenden Energiepreise und der Herausfor-
derungen des Klimawandels dürfen die Anstrengungen,
Energie einzusparen, nicht nachlassen. Mit der Ände-
rung des EnEG und der Novelle der EnEV treibt die
Große Koalition dies ehrgeiziger als sonstwo weiter
voran. Das ist auch für die internationale Klimapolitik
ein wichtiges Signal.
Joachim Günther (Plauen) (FDP): Heute befassen
wir uns mit dem Entwurf der Bundesregierung eines
Dritten Gesetzes zur Änderung des Energieeinsparungs-
gesetzes.
Der Entwurf dient der Schaffung von Ermächtigungs-
grundlagen für Änderungen in der Energieeinsparver-
ordnung sowie im Schornsteinfegergesetz.
Wesentliche Neuregelung in der Energieeinsparver-
ordnung sind die Nachrüstungspflichten bei Anlagen
und Gebäuden (§ 10 EnEV) sowie die Außerbetrieb-
nahme von elektrischen Speichersystemen (§ 10 a
EnEV) – dies soll durch § 4 Abs. 3 des oben genannten
Entwurfes des EnEG ermöglicht werden.
Die FDP steht auch für die Verbesserung der Energie-
effizienz im Gebäudebereich und für die Senkung von
CO2-Emissionen – sie hat deshalb auch der Einführung
eines Energiegebäudeausweises zugestimmt.
Die zunächst von der Bundesregierung angekündig-
ten radikalen Betriebsverbote für Nachtspeicheröfen
zeugten wieder einmal von blindem Aktionismus. Elek-
trische Speicheröfen verbieten = Klimaschutz wesent-
lich vorangetrieben: Die Formel funktioniert so leider
nicht!
Der Widerstand vor allem der FDP gegen dieses Vor-
haben führte offenbar zu einem Nachdenken bei
Schwarz-Rot. Jedenfalls gibt es nun doch sehr deutliche
Veränderungen in der Energieeinsparverordnung gegen-
über den ursprünglichen Überlegungen: Der Kreis der
Betroffenen ist wesentlich kleiner geworden und die
Übergangsfristen von 30 Jahren sind moderat. Auch die
Härtefallregelung macht den Entwurf insgesamt etwas
freundlicher.
Auch die Bußgeldvorschriften sollen harmonisiert
werden.
Die Ankündigung der Bundesregierung vom letzten
Jahr, Gebäudeeigentümern Geldbußen von bis zu
50 000 Euro aufzuerlegen, wenn sie nicht bereit sind,
künftig erneuerbare Energien zum Heizen zu verwenden,
ist mir noch gut in Erinnerung. Die Einsicht, dass „eine
Bußgeldbewehrung bereits bei leichter Fahrlässigkeit
unangemessen“ sei und dies nun in die Bußgeldvor-
schriften so eingebracht wurde, möchte ich begrüßen.
Politik mit der Brechstange kann auch eine Große
Koalition nicht durchsetzen.
Dennoch hält die FDP nichts von solchen Einzellö-
sungen, weil diese nicht wirklich einen Sinn machen. Es
wird im Laufe des parlamentarischen Verfahrens zu klä-
19220 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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ren sein, wie der in Schwachlastzeiten erzeugte Strom
künftig verwendet werden soll.
Wie mir die Umweltpolitiker meiner Fraktion bestäti-
gen, ist der ökologische Effekt des Verbots von Strom-
heizungen unklar. Da beispielsweise für den Stromsektor
der Emissionshandel mit einer festen Obergrenze der
CO2-Emissionen gilt, bringt das Verbot von Stromhei-
zungen keine CO2-Einsparung, dafür aber immense Kos-
ten für eine neue Heizungsanlage, die jetzt teilweise mit
Steuergeldern aufgefangen werden sollen. Und viele der
betroffenen Hausbesitzer werden auf hohen Kosten sit-
zen bleiben, obwohl sie über Jahre von der Politik in
diese Technologie gelockt wurden. Übrigens ein kleiner
Denkanstoß an die Atomstromgegner: Auch Atomstrom
wäre CO2-frei.
Jetzt wäre die Frage zu klären, in welchem Verhältnis
Energieeffizienz und Belastung der Gebäudeeigentümer
durch diese Änderungen zueinander stehen. Von der Be-
antwortung dieser Frage wird es im Wesentlichen abhän-
gen, wie sich die FDP zu diesem Entwurf positionieren
wird.
Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Wärmeschutz an Ge-
bäuden und moderne Heiztechnik entlasten die Mieterin-
nen und Mieter deutlich. So bremst wirksamer Klima-
schutz die Teuerung der Energie. Denn durch kluge
Maßnahmen können die Heizkosten halbiert werden.
Die Bundesregierung folgt diesem Grundsatz leider nur
halbherzig und lässt die Verbraucherinnen und Verbrau-
cher auch weiterhin auf den hohen Heizkosten sitzen.
Das Prinzip der Großen Koalition ist auch hier: Poli-
tik ist der kleinste gemeinsame Nenner. Das Ergebnis ist
nicht nur ein deutliches Verfehlen der Klimaschutzziele,
die sich die Bundesregierung selbst gesetzt hat. Das
Nichthandeln verschärft auch die soziale Schieflage im
Land. Denn die rasant steigenden Energiepreise werden
für private Haushalte zunehmend zu einer existenziellen
Belastungsprobe. Der Begriff „Energie-Armut“ be-
schreibt hier ein immer deutlicher hervortretendes Phä-
nomen: Zunehmend können sich Menschen in Deutsch-
land eine angemessene Nutzung von Energie nicht mehr
leisten, während die Energiekonzerne Rekordprofite ein-
streichen. Das ist nicht hinnehmbar.
Eines muss gesagt sein: Die Bundesregierung ver-
dient bei den gestiegenen Energiepreisen über die Mehr-
wertsteuer ordentlich mit. Insgesamt hat Bundesfinanz-
minister Steinbrück im letzten Jahr gegenüber 2004 mit
der immer teureren Energie 5,3 Milliarden Euro zusätz-
lich eingenommen. Die Linke fordert: Geben Sie das
Geld an die gebeutelten Verbraucherinnen und Verbrau-
cher zurück!
Ein Wort auch zum Klimaschutz: Umweltminister
Sigmar Gabriel behauptet ja immer gern, die Bundesre-
gierung würde den CO2-Ausstoß mit ihren Maßnahmen
um 36 Prozent senken. Dazu beruft er sich auf die „Me-
seberger Beschlüsse“. Entscheidend ist aber nicht, was
die Regierung irgendwann einmal beim Kaffeekränz-
chen besprochen hat, sondern was in den Gesetzen steht,
die am Ende dabei herauskommen. Und hier wirkt das
Gemisch aus Christ- und Sozialdemokraten wie ein
Weichspülgang. Das Ergebnis ist dann Klimaschutz
light. Die Klimagassenkung wird deshalb nur 25 Prozent
betragen. Und weniger Klimaschutz bedeutet eben auch
weiter hohe Energiepreise.
Sehen wir uns den vorliegenden Gesetzentwurf ge-
nauer an: Mit dem geplanten Energieeinsparungsgesetz
werden zwar die größten Energiefresser wie Nachtspei-
cheröfen und alte Ölheizungen aus Altbauten verbannt,
doch machbare Einsparpotenziale werden hier bei wei-
tem nicht gehoben. Denn die anspruchsvollen Ziele, die
für Neubauten vorgegeben werden, unterliegen beim Ge-
bäudebestand weitgehend der Entscheidungsfreiheit der
Vermieter – und die reichen die Energiekosten ohnehin
an die Mieterinnen und Mieter durch. Das Interesse an
einer energetischen Sanierung, die alle Einsparmöglich-
keiten ausschöpft, ist deshalb oft gering.
Nun ist es aber so, dass der überwiegende Teil der
Menschen in älteren Gebäuden zur Miete wohnt. Und
gerade da, wo das Einkommen knapp bemessen ist, sind
Altbauten in schlechtem Zustand, haben hohe Heizkos-
ten. Um auch Menschen mit kleinem Geldbeutel, die un-
ter der Energieteuerung am meisten leiden, zu helfen,
reichen die Vorschläge von CDU/CSU und SPD bei wei-
tem nicht aus.
Die Linke fordert deshalb klare Vorgaben und ein-
klagbare Rechte für die Mieterinnen und Mieter.
Erstens: Ein Energiepass muss aufzeigen, welche
Maßnahmen bei einer Energiesanierung machbar sind,
und nicht bloß den bisherigen Verbrauch anzeigen.
Zweitens: Mieterinnen und Mieter müssen das Recht
haben, die Miete zu kürzen, wenn Gebäudeeigentümer
machbare Maßnahmen zum Energiesparen nicht umset-
zen.
Drittens: Die Nutzung erneuerbarer Energien wie So-
larkollektoren und Erdwärme muss zur Pflicht werden,
um teures Öl und Gas zu ersetzen.
Nur so gelingt es, bezahlbare Energie und Klima-
schutz unter einen Hut zu bekommen und die Energie-
versorgung nachhaltig zu gestalten.
Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Änderung des Energieeinsparungs-Gesetzes (EnEG) ist
die Grundlage dafür, die groß angekündigte Energieein-
sparungs-Verordnung (EnEV) überhaupt novellieren zu
können. Neben sinnvollen Ansätzen – so sollen Nacht-
stromspeicherheizungen außer Betrieb genommen wer-
den – gibt es im Gesetz seltsam verschwiemelte Ansätze,
die weit hinter den Notwendigkeiten zurückbleiben.
Dazu gehören zum Beispiel die Einführung der privaten
Nachweispflicht oder die künftige Selbstausstellung von
Fachunternehmer- und Eigentümererklärungen.
Zugegeben, im Falle der energetischen Gebäudesa-
nierung steckt nicht nur die Bundesregierung in dem Di-
lemma, dass sinnvoller Ressourcen- und Klimaschutz oft
mit privatwirtschaftlichen Erwägungen kollidiert. Dieses
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klassische Marktversagen nur ordnungsrechtlich zu kor-
rigieren, birgt aber Risiken – Risiken, die uns auf Schritt
und Tritt im Entwurf des EnEG, aber auch der EnEV be-
gegnen. Dazu zwei eklatante Beispiele: Da wird in § 7 a
zwar eine Bestätigungspflicht der durchführenden Fach-
betriebe festgelegt, aber von einer Kontrolle oder einer
Sanktionsmöglichkeit bei Nichteinhaltung der Sanie-
rungsziele ist keine Rede. Im Gegenteil, den ausführen-
den Firmen wird die Möglichkeit gegeben, die Qualität
ihrer Arbeit selbst zu bestätigen. Hier wäscht nicht eine
Hand die andere, hier wäscht sich eine Hand selber. Wie
dürfte die Praxis aussehen? Nach zwei, drei kälteren
Wintern stellt der Auftraggeber fest, dass die Sanie-
rungsmaßnahme offensichtlich ihr Ziel verfehlt hat.
Falls er sich dann nicht auf Nachbesserungen mit der
Baufirma einigen kann, bleibt ihm nur der kostenträch-
tige und langwierige Klageweg. Im Neubaubereich sind
Versäumnisse besonders gravierend, da die Nutzungs-
dauer bis zur nächsten Renovierung – Grundinstandset-
zung – besonders lang ist. Analysen des Verbandes Pri-
vater Bauherren e. V. – VPB – haben ergeben, dass in
mehr als 50 Prozent der untersuchten Fälle Materialien,
die auf der Rechnung standen, auf der Baustelle gar
nicht verwendet wurden. So wurde oftmals die vorgese-
hene Dämmung durch dünnere oder andere Materialien
ersetzt. Der Auftraggeber zahlt hier doppelt: für die
schlecht ausgeführte Sanierung und die weiterhin hohen
Energiekosten. Das gilt auch – und dies ist für uns be-
sonders schmerzlich – für Bauten, die mit öffentlichen
Mitteln gefördert werden, Stichwort: KfW 60/KfW 40.
Wenn hier laut VPB mehr als 50 Prozent der Bauten die
Förderbedingungen der KfW nicht erfüllen, ist etwas
grundsätzlich faul im System.
Da hilft uns auch eine Verschärfung der Randbedin-
gungen um 30 Prozent wie jetzt bei der EnEV 2009 nicht
weiter. Symbolpolitik nutzt weder dem Klima- und Res-
sourcenschutz noch den Mietern und Bewohnern kleiner
Häuser. Wir brauchen eine Verstetigung und Verlässlich-
keit bei den Rahmenbedingungen, eine funktionierende
Qualitätskontrolle und Rechtssicherheit; denn Bauen ist
so risikoträchtig, dass Rechtsschutzversicherungen das
Baurisiko generell ausschließen.
Wenn wir so weitermachen, dann wird es 150 Jahre
dauern, bis der Gebäudebestand auf einen vernünftigen
energetischen Standard gebracht ist. Das ist unverant-
wortlich gegenüber unseren nachfolgenden Generatio-
nen.
Wir fordern, der Aufklärung und der qualifizierten
Beratung der Gebäudenutzer eine stärkere Aufmerksam-
keit zu schenken. 20 bis 30 Prozent der Einsparungen
lassen sich alleine durch ein verändertes Heizverhalten
und mit einem vergleichsweise geringen Mitteleinsatz
durch Beratung erreichen. Wir fordern endlich verbindli-
che und realistische Gebäude-Effizienzstandards für Be-
stands- und Neubauten, deren Wirkungen auf die kurz-
fristigen – bis 2020 – und langfristigen – bis 2050 –
Klimaschutzziele ausgerichtet sind. Wir fordern ein
Recht der Mieter bzw. Nutzer auf Einhaltung dieser Effi-
zienzstandards. Dann machen Kürzungsrechte bei den
Betriebskosten auch Sinn, wie sie noch im ersten Ent-
wurf des EnEG zu finden waren und die auf Betreiben
des Bundeswirtschaftsministers offensichtlich herausge-
strichen wurden. Wir fordern die stärkere Berücksichti-
gung von Lösungsansätzen in der Förderpolitik, mit de-
nen die größten Klimaschutz- und Einsparpotenziale bei
geringstem Mitteleinsatz gehoben werden können. Wir
fordern bauliche und modulare Lösungen in der energe-
tischen Gebäudesanierung für heute, die uns bei der Er-
reichung der langfristigen Ziele morgen nicht im Wege
stehen. Wir fordern zusätzliche Sanierungshilfen und
Lösungen für ökonomisch schwache Vermieter oder
Hauseigentümer, gerade in den peripheren Regionen
Deutschlands. Wir fordern einen Energieausweis, der die
energetische Qualität eines Gebäudes tatsächlich abbil-
det und nicht als unseriöse Lachnummer im Internet für
Dumpingpreise von 1,99 Euro ersteigert werden kann.
Und wir fordern einen Energieausweis, der allen Mietern
– Bestands- und Neumietern – in schriftlicher Form ohne
gesonderte Aufforderung zugänglich gemacht wird.
Gut gemeint ist nicht gut gemacht. Das neue EnEG
wird in Verbindung mit der EnEV 2009 leider dazu füh-
ren, dass die Bundesregierung ihr selbst gestecktes Kli-
maziel 2020 auch im Baubereich grandios verfehlen
wird.
Den Schaden haben nicht nur die kommenden Gene-
rationen, den Schaden haben schon die heutigen Bauher-
ren, die in gutem Glauben und mit ehrbaren Absichten
für untaugliche Vorgaben aus dem EnEG und der EnEV
die Zeche zahlen. Denn das, was sie erhalten, ist häufig
eine Mogelpackung.
Hier wäre die Bundesregierung gefragt gewesen, aber
da versagt sie auch mit diesem Gesetzentwurf.
Karin Roth Parl. Staatssekretärin beim Bundes-
minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Der
Klimawandel, die weltweit steigende Nachfrage nach
Energie und die steigenden Energiepreise sind Heraus-
forderungen, denen wir uns stellen müssen. Hier müssen
wir Lösungen finden. Im Gebäudebereich bedeutet dies
vor allem, dass Energie so effizient wie möglich genutzt
werden muss. Geschieht dies nicht, lässt sich eine be-
zahlbare Energieversorgung auf lange Sicht nicht si-
chern. Wir wollen bei der Neuerrichtung Gebäude mit
möglichst sparsamer Energiebilanz erstellen und im Ge-
bäudebestand vorhandene Einsparpotenziale mobilisie-
ren. Um dies zu erreichen, setzt die Bundesregierung die
Akzente sowohl beim Fördern als auch beim Fordern.
Heute geht es um die Novellierung des Energieeinspar-
rechts des Bundes.
Dies müssen wir in zwei Schritten tun, zum einen,
durch die Änderung des Energieeinsparungsgesetzes und
zum zweiten durch eine Novellierung der Energieein-
sparverordnung.
Das Energieeinsparungsgesetz bildet die gesetzliche
Grundlage zum Erlass der Energieeinsparverordnung.
Seine Verordnungsermächtigungen müssen erweitert
werden, damit der Verordnungsgeber sich bei der Novel-
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lierung der Energieeinsparverordnung, mit der letztlich
die inhaltlichen Regelungen im Einzelnen festgelegt
werden, auf sicherem Boden bewegen kann. Mit anderen
Worten: Es wird hierdurch der Gestaltungsrahmen für
den Verordnungsgeber abgesteckt.
Mit der Gesetzesänderung werden allerdings noch
keine inhaltlichen Entscheidungen im Einzelnen getrof-
fen. Ich möchte deshalb nur kurz auf die wesentlichen Er-
weiterungen der gesetzlichen Verordnungsermächtigun-
gen im Energieeinsparungsgesetz eingehen. Es geht vor
allem um die Schaffung der Grundlagen für folgende
Maßnahmen: die Außerbetriebnahme von Nachtstrom-
speicherheizungen; Regelungen zur Stärkung des Voll-
zugs der Energieeinsparverordnung, insbesondere die
Einführung privater Nachweispflichten wie etwa Fachun-
ternehmer- und Eigentümererklärungen und ihre Vorlage
bei Behörden; das Tätigwerden des Bezirksschornstein-
fegermeisters bei der Überwachung energieeinsparrecht-
licher Anforderungen an haustechnische Anlagen; Har-
monisierungen bei den Bußgeldvorschriften.
Klimaschutz und Energieeinsparung haben für die
Bundesregierung hohe Priorität Wir wollen die hierfür
erforderlichen Maßnahmen gemeinsam und im Konsens
mit den Bürgerinnen und Bürgern ergreifen. So stehen
alle Regelungen des Energieeinsparrechts des Bundes
unter dem Grundsatz der wirtschaftlichen Vertretbarkeit
Im Rahmen des Integrierten Energie- und Klimapro-
gramms setzt die Bundesregierung im Gebäudebereich
auf einen notwendigen Instrumentenmix. Energieeinspa-
rungsgesetz und Energieeinsparverordnung, also das
Ordnungsrecht, sind ein zentraler Bestandteil dieses In-
strumentenbündels. Nicht weniger wichtig ist das CO2-
Gebäudesanierungsprogramm, also die Förderung von
Investitionen zum Einsparen von Energie im Gebäude-
bestand.
In diesem Jahr führte die sehr erfreuliche Inanspruch-
nahme des Programms dazu, dass die für 2008 zur Ver-
fügung stehenden Haushaltsmittel bereits Ende Juli aus-
geschöpft waren. Die Bundesregierung hat im Wege
einer überplanmäßigen Verpflichtungsermächtigung durch
Umschichtung von Mitteln aus den Folgejahren, 2010/
2011, kurzfristige Mittel in Höhe von 500 Millionen
Euro bereitgestellt. Dies ermöglicht die Fortführung des
Programms.
Die Maßnahmen der Bundesregierung sind unerläss-
lich, wenn wir beim Klimaschutz vorankommen wollen.
Dies ist nicht nur wirtschaftlich für die Eigentümer, son-
dern zudem auch gut für unsere Bauwirtschaft zur Siche-
rung der Arbeitsplätze in Deutschland.
Mit dem Ihnen heute vorliegenden Gesetzentwurf zur
Änderung des Energieeinsparungsgesetzes legen wir den
Grundstein für die Umsetzung der Meseberger Be-
schlüsse zum Integrierten Energie- und Klimaprogramm
im Gebäudebereich. Ich möchte Sie schon heute um eine
breite Unterstützung und eine zügige Beratung dieser
Vorlage bitten.
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Ersten Geset-
zes zur Änderung des Gesetzes gegen den un-
lauteren Wettbewerb (Tagesordnungspunkt 23)
Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Bislang zeichnet
sich in der Europäischen Union im Wettbewerbsrecht ein
sehr uneinheitliches Bild aus.
Was unter unlauteren Geschäftspraktiken verstanden
wird, ist in den einzelnen Mitgliedstaaten sehr unter-
schiedlich.
Die Probleme, die sich hier auftun, liegen auf der
Hand: Es kommt innerhalb der EU zu deutlichen Wett-
bewerbsverzerrungen.
Die Leidtragenden einer solchen Situation sind in ers-
ter Linie die Verbraucher. Viele Menschen können nicht
nachvollziehen, warum für sie in anderen europäischen
Ländern jeweils andere Regelungen gelten sollen. Ein
europäischer Mindestschutz vor irreführender Werbung
ist notwendig. Und mehr sieht die Richtlinie auch nicht
vor.
Falls der nationale Gesetzgeber Bestimmungen
geschaffen hat, die über diesen Mindeststandard hinaus-
gehen, kann er diese aufrechterhalten. Dies tut die Bun-
desregierung auch mit ihrem Gesetzentwurf zur Richtli-
nienumsetzung. Es wird also durch die Richtlinie keinen
Abbau von Verbraucherrechten geben, sondern es wird
ein Mehr an Verbraucherrechten geben.
Ob allerdings gleich das Vertrauen der Verbraucher in
den gesamten Binnenmarkt durch die unterschiedliche
Handhabung von unlauteren Geschäftspraktiken in Eu-
ropa untergraben wird, wie es die Richtlinie in ihren Er-
wägungsgründen formuliert, wage ich zu bezweifeln.
Bei allen berechtigten Harmonisierungsbedürfnissen
sollte man die Ziele der Richtlinie auch nicht zu hoch-
hängen und sich nicht in ein falsches EU-Gesetzge-
bungspathos hineinsteigern.
War nach der Begründung im Referentenentwurf des
Bundesjustizministeriums noch vorgesehen, eine mög-
lichst schlanke Umsetzung der Richtlinie über unlautere
Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäfts-
verkehr zwischen Unternehmern und Verbrauchern in
das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vorzuneh-
men, hat man sich jetzt doch dazu entschlossen, weite
Teile der Richtlinie wörtlich zu übernehmen.
Die Bedenken des Bundesrates dagegen sind nicht
ganz von der Hand zu weisen. Das Gesetz gegen den un-
lauteren Wettbewerb wurde erst 2004 einer Generalüber-
holung unterzogen. Nur vier Jahre später müssen das
UWG und seine Anwender schon wieder einen größeren
Eingriff des Gesetzgebers verkraften.
Einen solch weitreichenden Eingriff erfährt das UWG
durch die Ersetzung des zentralen Begriffs „Wettbe-
werbshandlung“ durch den der „geschäftlichen Hand-
lung“. Die Einführung neuer Begriffe bringt in der
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19223
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Rechtsetzung immer ein großes Maß an Gefahr mit sich,
da eine gefestigte Rechtsprechung infrage gestellt wird.
Dennoch teile ich die Bedenken nicht. Schließlich
geht es bei der Begriffsumwandlung nicht um eine in-
haltliche Neubestimmung. Die Umformulierung wird
nur vorgenommen, um sich an den Text der Richtlinie
anzupassen, der eben von einer geschäftsähnlichen
Handlung spricht und nicht von einer Wettbewerbshand-
lung. Das ist im Ergebnis nachvollziehbar und rechtspo-
litisch vertretbar.
Es gibt jedoch auch Punkte in der Novellierung zum
Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, die sich leider
nicht an der Richtlinie orientieren. Dazu gehört auch die
im Gesetzentwurf aufgenommene Vorschrift zur uner-
laubten Telefonwerbung.
§ 7 Abs. 2 Nr. 2 UWG-E sieht nun vor, dass Telefon-
werbung verboten werden soll, wenn der Verbraucher
dazu nicht seine ausdrückliche Einwilligung erteilt hat.
Das ist zwar in der Sache begrüßenswert, aber kein gutes
Beispiel systematischer Gesetzgebungsarbeit. Denn dies
greift einem zeitlich fast parallelen Gesetz vor, welches
erst letzten Freitag durch den Bundesrat gegangen ist. Es
handelt sich dabei um den Gesetzentwurf zur Bekämp-
fung unerlaubter Telefonwerbung und zur Verbesserung
des Verbraucherschutzes bei besonderen Vertriebsfor-
men. In diesem Zusammenhang wird auch eine Ände-
rung des § 7 Abs. 2 Nr. 2 UWG vorgeschlagen, wobei
die Ansichten von Bundesregierung und Bundesrat aus-
einandergehen.
Bislang wurde diese Vorschrift von den Gerichten so
ausgelegt, dass eine Einwilligung schon dann angenom-
men wird, wenn sie durch schlüssiges Verhalten des Ver-
brauchers erfolgt. Hier hat sich eine Missbrauchslücke
aufgetan, die mit dem Gesetzentwurf gegen unerlaubte
Telefonwerbung geschlossen werden soll. Während der
Bund vorschlägt, eine konkludente Einwilligung nicht
mehr ausreichen zu lassen, sondern eine ausdrückliche
Einwilligung bei einem Werbeanruf vorliegen muss,
schlagen die Länder einen anderen Weg vor. Sie wollen
sogar ein schriftliches Einverständnis des Verbrauchers
voraussetzen, damit ein Unternehmen bei einem poten-
tiellen Kunden für seine Waren oder Dienstleistungen
werben kann.
Der § 7 UWG ist durchaus für das Gesetzesvorhaben
gegen unerlaubte Telefonwerbung zentral. Daher halte
ich es nicht für besonders glücklich, ihn in diesem Ge-
setzentwurf, der nur der Richtlinienanpassung dient, be-
reits einzufügen bzw. zu ändern und damit auf das
bevorstehende Gesetzgebungsverfahren gegen Telefon-
werbung vorzugreifen. Wir sind im Rechtsausschuss des
Deutschen Bundestages gut beraten, beide Gesetzesvor-
schläge gemeinsam zu beraten. Wenn sich Bundesregie-
rung und Bundesrat in dieser Frage nicht einigen kön-
nen, werden wir das gerne im Bundestag für beide Seiten
übernehmen!
Verhindern werden wir auf jeden Fall das groteske Er-
gebnis, dass der § 7 Abs. 2 UWG innerhalb kürzester
Zeit zweimal geärgert werden würde. Die Halbwertszeit
unserer Gesetze darf sich nicht in Wochen bemessen!
Gerade das UWG sollte man nicht im Monatstakt ei-
ner Novellierung unterziehen. Und wir kommen bei der
unerlaubten Telefonwerbung ohnehin nicht darum he-
rum, bald wiederum Änderungen am UWG vorzuneh-
men, da die neuen Bußgeldvorschriften ebenfalls einer
Regelung, bedürfen. Daher lautet meine Devise: Machen
wir aus der Telefonwerbung im UWG keine Dauerbau-
stelle, sondern lassen Sie uns ganz zügig alle Aspekte
dieses Themas gemeinsam beraten und im Interesse der
Verbraucher und ihrer Rechtssicherheit rasch etwas aus
einem Guss beschließen.
Noch in einem anderen Punkt weicht der Entwurf der
Bundesregierung zum Umsetzungsgesetz von der EU-
Richtlinie ab. Dies betrifft den Anhang zum § 3 Abs. 3
UWG, in dem es um geschäftliche Handlungen geht, die
stets unzulässig sind.
Er spricht mit Sicherheit einiges für die Ansicht der
Bundesregierung, dass die Neuordnung des Kataloges in
sich schlüssig ist. Das will auch niemand in Abrede stel-
len, gleichwohl aber ist das Argument des Bundesrates
ernst zu nehmen. Hält man sich hier an die Nummern-
folge der Richtlinie, erhöht man die Vergleichbarkeit na-
tionaler Vorschriften mit dem vorgegebenen Richtlinien-
text. Dies sorgt sicherlich für mehr Transparenz, da der
Bürger vergleichen kann, wie die Umsetzung ins natio-
nale Recht erfolgt ist Daher kann ich der Forderung des
Bundesrates einiges an Sympathie abgewinnen und halte
sie für durchaus erwägenswert.
Insgesamt bleibt abschließend festzuhalten, dass die
Bundesregierung einen sehr ordentlichen Gesetzentwurf
vorgelegt hat. Er bewegt sich dicht am Richtlinientext
und erfüllt daher fast vollständig unser politisches Ziel
einer Eins-zu-eins-Umsetzung. An der einen oder ande-
ren Stelle mögen wir ihn noch zu verbessern haben.
Aber mit etwas guten Willen auf allen Seiten des Hauses
werden wir zügig zum Abschluss kommen können.
Dirk Manzewski (SPD): Wir debattieren hier heute
in erster Lesung die UWG-Novelle. Mit diesem Gesetz
setzen wir nicht nur die entsprechende EU-Richtlinie
endgültig um. Wir bauen auch weiter das hohe Verbrau-
cherschutzniveau im Wettbewerbsrecht weiter aus und
führen damit die Politik der letzten Reform des UWG
aus dem Jahre 2004 fort. Bei dieser Reform im Jahre
2004 hatten wir schon im Vorgriff auf die damals noch
zu erwartende EU-Richtlinie bereits viel von dem umge-
setzt, was sich dann letztendlich in der EU-Richtlinie
auch wiedergefunden hat. Insofern ist der Umsetzungs-
bedarf bei uns nicht mehr so hoch, was es leichter macht,
da die Richtlinie den nationalen Parlamenten bei der
Umsetzung kaum noch Spielraum lässt. Durch das jetzt
hier diskutierte Gesetz wird deshalb aber nicht nur ein
weiterer wichtiger Beitrag zur Stärkung des europäi-
schen Binnenmarkts geleistet. Vor allem den Verbrau-
cherinnen und Verbrauchern wird hierdurch mehr
Rechtssicherheit gegeben.
Stärkung des europäischen Binnenmarktes und der
Verbraucherrechte, das passt hier beides zusammen, und
das ist so, weil die Verbraucher den europäischen Bin-
nenmarkt nur noch verstärkter annehmen werden, wenn
19224 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
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sie keine Angst mehr vor ihm haben. Diese Angst wer-
den wir ihnen nur nehmen, wenn es uns gelingt hier
Rechtssicherheit schaffen. Die UWG-Novelle leistet
hierzu einen wesentlichen Beitrag, da sie zu dieser
Rechtssicherheit vor allem durch Rechtsvereinheitli-
chung beitragen wird. Das heißt letztendlich, dass die
Verbraucher einerseits im Ausland oder auf einer auslän-
dischen Webseite die Vorteile des europäischen Binnen-
marktes nutzen können, wie ein größeres Produktange-
bot oder niedrigere Preise, andererseits dort ebenso vor
unlauteren geschäftlichen Handlungen und betrügeri-
schen Unternehmen geschützt werden wie bei Käufen im
Inland. Ich finde es deshalb richtig, dass das UWG um
eine sogenannte schwarze Liste ergänzt wird, also um ei-
nen Anhang mit 30 irreführenden und aggressiven ge-
schäftlichen Handlungen, die unter allen Umständen
verboten sind. Dies wird dem Verbraucher nicht nur die
Durchsetzung seiner Rechte erleichtern. Es wird auch zu
einer größeren Transparenz darüber führen, welches Ver-
halten ihm gegenüber erlaubt ist und welches eben nicht.
Wir müssen uns allerdings darüber im Klaren sein,
dass es gleichwohl Sachverhalte geben wird, die diese
Handlungen zumindest in ihrem genauen Wortlaut so
nicht umfassen werden und auch ein Problem darin liegt,
dass bestimmte Verhalten nun zunächst immer gleich un-
lauter sein werden und unsere Rechtsprechung gefordert
sein wird, durch die Frage nach der Erheblichkeit des
Verstoßes durch dieses Verhalten korrigierend und aus-
füllend tätig zu sein.
Gut ist auch, dass das UWG künftig ausdrücklich
auch für das Verhalten der Unternehmen während und
nach Vertragsschluss gilt. Macht zum Beispiel der Ver-
braucher gegenüber einem Versicherungsunternehmen
mehrfach schriftlich einen Anspruch geltend und wird
auf dieses Schreiben systematisch nicht geantwortet, um
den Verbraucher von der Ausübung seiner Rechte abzu-
halten, so ist dieses Verhalten unzulässig.
Zu begrüßen ist zudem, dass Unternehmen Verbrau-
chern solche Informationen nicht vorenthalten dürfen,
die sie für ihre wirtschaftliche Entscheidung benötigen.
Wird zum Beispiel etwas verkauft, dessen Einbau, Ein-
pflanzung oder Nutzung in Deutschland verboten ist,
und wurde hierüber nicht entsprechend informiert, so ist
dieses Verhalten unlauter.
Ehrlicherweise muss darauf hingewiesen werden,
dass aufgrund unseres vorzüglichen Lauterkeitsrechts
vieles von dem, was ich eben angeführt habe, bereits
Eingang in unsere Rechtsprechung gefunden hat und in
Deutschland auch dementsprechend bereits so gehand-
habt wird. Die Vorteile liegen daher insoweit eher in
Klarstellungen und eben in den Anpassungen der EU-
Richtlinie im Ausland.
Wir werden jedenfalls zügig an das Gesetzgebungs-
verfahren herangehen. Ich würde mich freuen, wenn Sie
sich hieran konstruktiv beteiligen würden.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
Erst vier Jahre ist es her, dass die Neufassung des Geset-
zes gegen den unlauteren Wettbewerb, UWG, mit dem
Ziel einer Deregulierung und europaverträglichen Re-
form des Lauterkeitsrechts beschlossen wurde. Seit ei-
nem Monat liegt der Gesetzentwurf der Bundesregierung
vor. In der umzusetzenden Richtlinie – RL 2005/29/
EG – ist vorgesehen, dass diese bis zum 12. Juni 2007
umzusetzen war. Dass der Gesetzentwurf dem Deut-
schen Bundestag endlich vorliegt, ist erfreulich; denn die
Regelungen zum UWG betreffen alle Bürgerinnen und
Bürger, die am Wettbewerb in unserer Gesellschaft teil-
nehmen, angefangen bei Zeitungswerbung bis zu Ver-
steigerungen bei ebay.
Der Zweck der genannten Richtlinie besteht in der
Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften
der Mitgliedstaaten über unlautere Geschäftspraktiken.
Beim Einkauf im europäischen Ausland werden Ver-
braucher endlich ebenso geschützt wie im Inland; der
einheitliche europäische Binnenmarkt rückt dadurch
wieder ein Stück näher. Die Richtlinie gilt für alle Ge-
schäftspraktiken, die Unternehmen mit Verbrauchern tä-
tigen, nicht jedoch für Geschäftspraktiken zwischen
zwei Unternehmen. Das bisherige deutsche UWG kennt
einen weiteren Anwendungsbereich, in dem auch Mitbe-
werber, sonstige Marktteilnehmer sowie das Interesse
der Allgemeinheit an einem unverfälschten Wettbewerb
geschützt werden. Dieser Schutzbereich hat sich bewährt
und bleibt zu Recht erhalten.
Die deutlichste Änderung stellt die Einführung der
sogenannten schwarzen Liste dar. Durch sie werden Tat-
bestände, die unter allen Umständen als unlauter einzu-
stufen sind, in einem Anhang zum UWG-E aufgezählt.
Problematisch erscheint nur die Nr. 28 dieses Anhangs,
in der auf den Begriff „Kinder“ Bezug genommen wird.
Welche Altersgruppe unter diesen Begriff fällt, lassen
das Gesetz und auch die Richtlinie offen. Es ist deshalb
notwendig, dass der Gesetzgeber der Wirtschaft eine De-
finition des Begriffs Kinder an die Hand gibt, die eine
nachvollziehbare Altersangabe enthält. Der Verweis in
der Gesetzesbegründung, dass die Definition der Recht-
sprechung überlassen bleiben soll, ist nicht ausreichend.
Zu groß wäre das Risiko unlauteren Verhaltens für alle
Wettbewerbsteilnehmer.
Ein zweiter Punkt, den die FDP für verbesserungs-
würdig hält, sind die Informationspflichten. Nach § 5 a
Abs. 3 UWG-E zählen dazu unter anderem die wesentli-
chen Merkmale der Ware, die Identität des Unterneh-
mers, der Endpreis und die Zahlungs- und Lieferbedin-
gungen. Im Interesse der Verbraucher sind diese
Angaben grundsätzlich zu unterstützen. Der Gesetzent-
wurf verweist aber darüber hinaus allgemein auf die im
gesamten Gemeinschaftsrecht festgelegten Informa-
tionsanforderungen in Zusammenhang mit kommerzieller
Kommunikation. Diese vorgeschlagene Regelung birgt
für die deutsche Wirtschaft eine große Rechtsunsicher-
heit. Insbesondere kleine und mittelständische Unterneh-
men werden mit dieser Regelung stark belastet; denn für
den Rechtsanwender ist in keiner Weise erkennbar, wel-
che Richtlinien mit der Formulierung gemeint sind. Ich
stelle mir allen Ernstes die Frage, wer alle diese europa-
rechtlichen Informationsanforderungen kennt. Die dem
Gesetzentwurf zugrunde liegende Richtlinie enthält in
ihrem Anhang zumindest eine, wenn auch nicht ab-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19225
(A) (C)
(B) (D)
schließende, Aufzählung. Über eine solche Aufzählung
sollte auch im deutschen Recht nachgedacht werden,
wobei nur eine vollständige Aufzählung den Unterneh-
men wirklich helfen würde. Sollte der Gesetzgeber dazu
nicht in der Lage sein, ist es bedenklich, die Rechtsunsi-
cherheit den Unternehmen aufzubürden. In der Geset-
zesbegründung wird darauf verwiesen, die Einzelheiten
würden sich durch die Rechtsprechung und deren Ausle-
gung der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsakte ergeben.
Das ist nach Auffassung der FDP-Fraktion nicht ausrei-
chend. Gesetze sollten dann abstrakt sein, wenn Einzel-
falllösungen in der Praxis besser gefunden werden kön-
nen. Der Praxis wäre aber in diesem Fall besser
geholfen, wenn sie wüsste, was sie künftig unter Kosten-
risiko unterlassen soll und was nicht.
Im Gegensatz zum Referentenentwurf hat der vorlie-
gende Gesetzentwurf zahlreiche Änderungen erfahren.
Insgesamt ist der Wortlaut des Gesetzentwurfes viel nä-
her an den Richtlinientext angepasst worden. Von der
grundsätzlich richtigen Idee einer möglichst schlanken
Umsetzung hat sich die Bundesregierung damit bedauer-
licherweise ein großes Stück entfernt. So wird der zen-
trale Begriff der Wettbewerbshandlung durch den Be-
griff der geschäftlichen Handlung ersetzt. Der An-
wendungsbereich des UWG würde sich dadurch be-
trächtlich vergrößern. Was das für die Praxis bedeuten
würde, wird noch in einer Expertenanhörung geklärt
werden müssen.
Dass sich mit diesem Gesetzentwurf nun endlich auch
etwas in dem Bereich Telefonwerbung bewegt, wird von
der FDP-Bundestagsfraktion unterstützt. Die FDP-Bun-
destagsfraktion hat zu diesem Thema bereits im März
2008 mit einem eigenen Antrag – Bundestagsdrucksache
16/8544 – Stellung bezogen. Darin macht die FDP-Frak-
tion klar, dass es zur Lösung des Problems mehr bedarf
als einer Änderung im UWG. Dazu zählt die Verpflich-
tung zur Rufnummernanzeige, die Verwendung einer
einheitlichen Vorwahl zur Identifizierung, die Auswei-
tung des Widerrufsrechts und die Verpflichtung neuer
Telekommunikationsanbieter, dem bisherigen Telekom-
munikationsanbieter den Nachweis einer Kündigung
bzw. Bevollmächtigung zur Kündigung vorzulegen.
Von Verbraucherschutzseite werden weitere Forde-
rungen vorgetragen, die in das vorliegende Gesetzesvor-
haben aufgenommen werden sollen. Dazu zählt unter an-
derem die Ausdehnung der Gewinnabschöpfung. Das im
UWG für die Gewinnabschöpfung vorgesehene Vor-
satzerfordernis sollte beibehalten werden. Die Gewinn-
abschöpfung stellt eine Ausnahme im deutschen Recht
dar; denn mit dieser Norm erhält das Zivilrecht eine
quasi strafende Funktion. Aus diesem Grunde müssen
auf der Tatbestandsebene strenge Maßstäbe angelegt
werden.
Ulla Lötzer (DIE LINKE): Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf wird sich der Verbraucherschutz in
Deutschland verbessern. Dies ist jedoch nicht der Erfolg
einer guten Verbraucherschutzpolitik der Bundesregie-
rung. Ganz im Gegenteil. Bereits im Juni 2007 hätte die
EU-Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt sein müs-
sen. Über ein Jahr sind Sie zu spät, Herr Glos, und dann
nutzen Sie nicht einmal die Ermessensspielräume, die
die Richtlinie zugunsten der Verbraucherinnen und Ver-
braucher einräumt. Ja sogar die zwingenden Vorgaben
der Richtlinie werden mit diesem Gesetzentwurf nicht
erfüllt.
Die Richtlinie sieht eindeutig vor, dass die Mitglied-
staaten sicherstellen, dass geeignete und wirksame Mit-
tel zur Bekämpfung unlauterer geschäftlicher Handlun-
gen zu Verfügung stehen müssen. Die Erfahrungen
haben eindeutig gezeigt, dass die derzeitigen rechtlichen
Regelungen in Deutschland zahnlos sind und die irrefüh-
renden und betrügerischen Geschäftspraktiken von Un-
ternehmen nicht wirksam bekämpfen können. Solange
den Unternehmen kein wirtschaftlicher Schaden droht,
wenn sie die Kunden irreführen und betrügen, so lange
wird sich an ihren Methoden nichts ändern – das liegt
doch auf der Hand.
Das Erste wäre deshalb, den Unternehmen ihren Ge-
winn, den sie durch solche sittenwidrige Praktiken er-
zielt haben, zu entziehen. Doch auch nach der Novelle
bleibt die Beweislast bei den Verbraucherschutzverbän-
den. Sie müssen weiterhin nachweisen, dass die Unter-
nehmen vorsätzlich gehandelt haben. Beweisen Sie das
mal! Bisher kommen die Unternehmen jedenfalls in der
Regel vor den Gerichten ganz gut damit durch, dass sie
sich darauf berufen, dass es sich um einen Irrtum, ein
Missverständnis oder bloße Fahrlässigkeit gehandelt
habe. Das heißt, sie dürfen die Gewinne aus ihren unlau-
teren Praktiken behalten. Das wirkt doch geradezu wie
ein Anreiz, damit weiterzumachen.
Selbst wenn ein Verbraucherverband eine Unterlas-
sungsklage gewinnt, bewirkt dies nur, dass dieses eine
Unternehmen seine irreführende Werbung in genau der-
selben Form nicht mehr weiterführen darf. Ändert dieses
Unternehmen seine Werbung nur ein kleines bisschen,
muss eine erneute Unterlassungsklage eingereicht wer-
den. Andere Unternehmen sind von dem Gerichtsurteil
gar nicht betroffen. Dass dieVerbraucherverbände im
diesem „Hase und Igel“-Spiel nur der Igel sein können,
liegt auf der Hand. Außerdem wirkt die Unterlassungs-
klage nur in die Zukunft. Das heißt, Verträge, die in der
Vergangenheit geschlossen wurden, bleiben bestehen,
mit allen Pflichten für den Kunden, auch wenn er belo-
gen und in die Irre geführt wurde. Und daran ändern Sie
nichts.
Zur Telefonwerbung. Das ist ein wirklich großes Är-
gernis, das schon viele Menschen teuer zu stehen ge-
kommen ist. Besonders ältere Menschen sind solchen
Praktiken oft hilflos ausgeliefert. Hier führen Sie zwar
Verbesserungen ein. Aber das einfache Mittel, das end-
lich die Abzocke über Telefon stoppen würde, ergreifen
Sie wieder nicht. Wir fordern – übrigens gemeinsam mit
Verbraucherschutzverbänden und der Verbraucher-
schutzministerkonferenz –, dass ein Vertrag, der am Te-
lefon scheinbar abgeschlossen worden ist, erst dann
wirksam ist, wenn der Kunde ihn schriftlich bestätigt.
Die EU-Richtlinie hat zum Ziel, den Schutz für Ver-
braucherinnen und Verbraucher zu stärken; Sie schützen
mit Ihrem Gesetzentwurf soweit wie möglich die Unter-
19226 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
(A) (C)
(B) (D)
nehmen vor den Verbrauchern. Da ist der Titel des Ge-
setzes Programm. Eigentlich müsste es „Gesetz gegen
unlautere Geschäftspraktiken“ heißen und im Verbrau-
cherministerium angesiedelt sein. Dann gäbe es viel-
leicht eine größere Chance, dass der dringend notwen-
dige Schutz der Verbraucherinnen vor aggressiven,
irreführenden und betrügerischen Geschäftspraktiken
besser umgesetzt würde.
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Heute steht erneut eine Änderung des Gesetzes gegen
den unlauteren Wettbewerb zur Debatte. Mit dieser Re-
form soll die EU-Richtlinie über unlautere Geschäfts-
praktiken umgesetzt werden. Verbraucherinnen und Ver-
braucher sollen damit besser vor unlauterem Verhalten
von Unternehmen geschützt werden. Das begrüßen wir
ausdrücklich. Bereits bei der Reform des Gesetzes gegen
unlauteren Wettbewerb aus dem Jahr 2004 hat die grüne
Bundestagsfraktion maßgeblich zu einem verbesserten
Verbraucherschutz beigetragen. Erstmalig sind durch die
damalige Reform Vorschriften zum Schutz der Verbrau-
cherinnen und Verbraucher in das UWG aufgenommen
worden.
Die jetzt von der Bundesregierung vorgeschlagenen
Änderungen des Gesetzes gehen uns aber nicht weit ge-
nug. Defizite sehen wir vor allem bei den Sanktionsmög-
lichkeiten gemäß Art. 13 der EU-Richtlinie. Denn nach
wie vor kann die Möglichkeit zur Gewinnabschöpfung
nicht effektiv umgesetzt werden. Es können zwar Ge-
winne von Unternehmen abgeschöpft werden, die durch
unlauteres Verhalten erlangt wurden. Aber dazu muss
den Unternehmen zunächst nachgewiesen werden, dass
sie auch vorsätzlich gehandelt haben. Das ist in der Pra-
xis kaum realisierbar. Der Nachweis einer „grob fahrläs-
sigen Zuwiderhandlung“ der Unternehmen muss deshalb
ausreichen, um Gewinne abschöpfen zu können. Darü-
ber hinaus sind Verbraucherinnen und Verbraucher noch
immer nicht effektiv gegen untergeschobene Verträge
und Abzocke am Telefon geschützt. Hier schafft auch
der von der Bundesregierung lange verschleppte und im
Juli 2008 endlich vorgelegte Gesetzentwurf zur Be-
kämpfung unerlaubter Telefonwerbung keine Abhilfe.
Vielmehr sind wirksame Sanktionen gegen rechtswidrig
vorgehende Unternehmen erforderlich. Bündnis 90/Die
Grünen fordern deshalb schon lange eine schriftliche Be-
stätigung von Verträgen, die vermeintlich am Telefon
abgeschlossen wurden, damit niemand einen Vertrag un-
tergeschoben bekommt, den er gar nicht haben wollte.
Also: Ohne Unterschrift kein Vertrag – das ist einfach
und schützt die Verbraucherinnen und Verbraucher ef-
fektiv vor Abzocke.
Ein weiterer Kritikpunkt am vorliegenden Entwurf
ist, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher keinen
Anspruch darauf haben, dass sie sich von Verträgen, die
durch wettbewerbswidriges Verhalten zustande kamen,
auch wieder lösen können. Wir fordern deshalb ein
Recht auf Vertragsauflösung nach festgestellter Wettbe-
werbswidrigkeit.
Wir stehen für eine Reform des unlauteren Wettbe-
werbsrechts ein. Aber die Reform muss für die deut-
schen Verbraucherinnen und Verbraucher auch einen
verbesserten Schutz gegen unlautere Geschäftspraktiken
bieten. Deshalb setzten wir uns im weiteren parlamenta-
rischen Verfahren dafür ein, dass weitergehende Schutz-
vorschriften in das Gesetz aufgenommen werden.
Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister der Justiz: Das deutsche Lauterkeitsrecht
wird zunehmend von europäischen Einflüssen geprägt.
Deshalb ist auch das Gesetz gegen den unlauteren Wett-
bewerb – UWG – vor vier Jahren grundlegend reformiert
worden. Dies geschah bereits in Erwartung der Richtli-
nie des Europäischen Parlaments und des Rates über un-
lautere Geschäftspraktiken, die am 11. Mai 2005 dann
auch erlassen worden ist.
In zahlreichen Punkten ist die Richtlinie komplexer
und detaillierter ausgefallen als erwartet. Dies muss nun
durch eine weitere Novellierung des UWG nachvollzo-
gen werden. Es geht hier nicht um grundlegende Ände-
rungen, wohl aber um zahlreiche Neuerungen im Detail.
Unser Ziel bleibt es, keine unnötige Bürokratie zu
schaffen. Auf der anderen Seite bedarf es aber einer voll-
ständigen und transparenten Umsetzung. Die Richtlinie
sieht eine vollständige Rechtsangleichung – eine soge-
nannte Vollharmonisierung – der innerstaatlichen Rechts-
ordnungen in der Europäischen Union vor, soweit es um
den Schutz der Verbraucher vor unlauterem Verhalten
von Unternehmen geht.
II.
Um der Systematik des deutschen Rechts gegen den
unlauteren Wettbewerb Rechnung zu tragen, macht der
Gesetzentwurf von einer wichtigen Gestaltungsmöglich-
keit Gebrauch, die sich aus dem beschränkten Anwen-
dungsbereich der Richtlinie ergibt. Diese ist nämlich auf
das Verhältnis der Unternehmen zu Verbrauchern – busi-
ness to consumer oder B to C bzw. B2C – beschränkt,
während in Deutschland von jeher eine ganzheitliche
Betrachtungsweise maßgebend war. Nach unserem Ver-
ständnis sind marktbezogene Lauterkeitsstandards im
Allgemeinen unteilbar, das heißt sie gelten auch für den
Mitbewerberschutz, business to business oder B to B
bzw. B2B. Dass das Wettbewerbsgeschehen insgesamt
„lauter“ zu sein hat, ist eine gute Tradition des UWG, die
wir beibehalten wollen.
Aus Sicht der Bundesregierung wäre es sogar wün-
schenswert gewesen, wenn das Lauterkeitsrecht europa-
weit für Verbraucher und Mitbewerber harmonisiert
worden wäre. Diesem Anliegen, das Deutschland schon
seit Jahrzehnten verfolgt, hat sich die Europäische Kom-
mission leider stets verschlossen.
Wir können es jedenfalls besser. Deshalb wird die be-
währte „Schutzzwecktrias“ des UWG, die dem Schutz
der Mitbewerber, der Verbraucher und auch bestimmter
Allgemeininteressen dient, beibehalten. Dass das UWG
weiterhin sowohl für B to B als auch für B to C gilt,
schließt Differenzierungen im Einzelfall nicht aus. Be-
stimmte Vorschriften, die im Interesse des Verbraucher-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19227
(A) (C)
(B) (D)
schutzes besonders streng ausgefallen sind, kommen ge-
genüber Geschäftsleuten nicht zur Anwendung.
III.
Was aber bringt die Umsetzung der Richtlinie für den
Verbraucherschutz?
Ich meine, wir leisten mit dieser Umsetzung nicht nur
einen Beitrag zur Stärkung des europäischen Binnen-
markts, sondern verbessern auch den Verbraucherschutz.
Ein Vorteil für Verbraucher liegt darin, dass sie nun-
mehr beim Einkauf im Ausland – sei es in einem Geschäft
oder beim Einkauf über eine ausländische Website – vor
unlauteren geschäftlichen Handlungen und betrügeri-
schen Unternehmern genauso wie im Inland geschützt
werden. Das wird ihr Vertrauen in grenzüberschreitende
Transaktionen stärken und ihnen damit eine bessere Nut-
zung der Vorteile des Binnenmarkts – wie ein größeres
Produktangebot und niedrigere Preise – ermöglichen.
Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass das UWG den
Verbraucher künftig auch gegen unlautere geschäftliche
Handlungen während und nach Vertragsschluss schützt,
ohne dass hiervon allerdings das deutsche Vertragsrecht
betroffen wäre. Verbraucherinnen und Verbraucher wer-
den nun beispielsweise davor geschützt, dass Schreiben,
mit denen sie ihre Forderungen gegenüber Versicherun-
gen geltend machen, systematisch nicht beantwortet
werden, um so die Geltendmachung ihrer Rechte fak-
tisch zu verhindern.
Ferner wird ausdrücklich festgeschrieben, dass dem
Verbraucher solche Informationen nicht vorenthalten
werden dürfen, die dieser für eine geschäftliche Entschei-
dung benötigt. Hier geht es um das Thema „Irreführung
durch Unterlassen“. Ein Katalog von Informationsanfor-
derungen schafft zukünftig Transparenz und Rechtssi-
cherheit.
Darüber hinaus wird das UWG um eine „schwarze
Liste“ mit 30 irreführenden und aggressiven geschäftli-
chen Handlungen ergänzt, die unter allen Umständen
verboten sind. Diese absoluten Verbote werden es dem
Verbraucher erleichtern, seine Rechte zu erkennen und
zu verteidigen. Denn bislang waren zahlreiche Fallgrup-
pen nur durch die Rechtsprechung als unlauter eingestuft
worden. Diese einschneidenden Verbote bleiben aber auf
geschäftliche Handlungen gegenüber Verbrauchern be-
schränkt.
Geschäftliche Handlungen, die nicht von der „schwar-
zen Liste“ erfasst werden, unterliegen dem allgemeinen
Lauterkeitsgebot und müssen sich vor allem auch an der
Generalklausel des UWG messen lassen.
Weitere Verbesserungen des Verbraucherschutzes ent-
hält der Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung uner-
laubter Telefonwerbung und zur Verbesserung des Ver-
braucherschutzes bei besonderen Vertriebsformen, den
das Bundeskabinett am 30. Juli 2008 beschlossen hat.
Dort geht es allerdings nicht um die Umsetzung dieser
Richtlinie.
Die europaweite Vereinheitlichung des Lauterkeits-
rechts macht sich auch für die Unternehmer bezahlt.
Denn aufgrund des EU-weit einheitlichen Rechtsrah-
mens können sie nun mit ein und demselben Marketing-
konzept, durch das sie bisher Kunden in ihrem Her-
kunftsland angesprochen haben, gleich 450 Millionen
Verbraucher in der gesamten EU erreichen.
Lassen Sie mich abschließend zusammenfassen, wo-
rum es bei der Richtlinie und ihrer Umsetzung im Kern
geht In erster Linie geht es darum, für alle 27 Mitglied-
staaten einen einheitlichen Rechtsrahmen zu schaffen.
Nationale Traditionen können dabei naturgemäß nicht in
vollem Umfang aufrechterhalten bleiben. Die bei uns zur
Umsetzung erlassenen Vorschriften sind die Richtschnur
für die Rechtsanwendung in Deutschland. Es müssen
sich aber auch Verbraucher und Mitbewerber anderer
Mitgliedstaaten, die bezogen auf das hiesige Wettbe-
werbsgeschehen geschäftliche Handlungen vornehmen
oder von ihnen betroffen sind, an diesem Gesetz orien-
tieren und es beachten. In diesem Sinne soll das novel-
lierte UWG in der gesamten EU als richtlinienkonforme
Umsetzung europäischen Rechts wahrgenommen und
respektiert werden.
Anlage 15
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Neufas-sung des Raumordnungsgesetzes und
zur Änderung anderer Vorschriften (GeROG)
(Tagesordnungspunkt 27)
Enak Ferlemann (CDU/CSU): Mit der Föderalis-
musreform I ist die Rahmengesetzgebungskompetenz
des Bundes zur Raumordnung ganz entfallen. Die
Raumordnung fällt jetzt in die konkurrierende Gesetzge-
bung.
Das alte, aufgrund der Rahmengesetzgebung erlas-
sene Raumordnungsgesetz kann nicht mehr auf Dauer
weiter gelten. Ich bin der Bundesregierung daher für ihr
Bemühen sehr dankbar, das parlamentarische Verfahren
mit der Vorlage der Neufassung des Raumordnungsge-
setzes nun in Gang gesetzt zu haben.
Das Ziel der Regierungskoalition ist, das Gesetz zü-
gig und konstruktiv zu beraten, damit es zum Jahres-
wechsel 2008/2009 verkündet werden und noch in dieser
Legislaturperiode in Kraft treten kann.
Auf Grund der verfassungsrechtlichen Lage hat der
Bund nunmehr die Kompetenz, die Raumordnung in den
Ländern umfassend zu regeln. Allerdings sollen durch
bundesrechtliche Vollregelungen nur die Bereiche der
Raumordnung geregelt werden, in denen eine bundes-
einheitliche Regelung aus fachlichen Gründen angezeigt
ist. Ansonsten soll gesetzgeberische Zurückhaltung zu-
gunsten des Landesrechts geübt werden.
Gesetzestechnisch betreten wir also Neuland. Denn
die Raumordnung wird in den neu geschaffenen Kompe-
tenztyp der umfassenden Bundesgesetzgebung mit Ab-
weichungsmöglichkeiten der Länder überführt. Meiner
Fraktion ist es wichtig, eine Balance zwischen der Rege-
19228 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
(A) (C)
(B) (D)
lung weitgehender bundeseinheitlicher Standards und
der gesetzgeberischen Zurückhaltung des Bundes hin-
sichtlich landesspezifischer Besonderheiten zu finden.
Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Beteiligten
aufseiten des Bundes, dass mit den Ländern im Vorfeld
intensiv zusammengearbeitet worden ist und einige An-
liegen der Länder nach der Vorstellung des Entwurfs im
Frühjahr noch aufgegriffen worden sind. Wenn die Län-
der wenig Anlass haben, ihren Spielraum für ergänzen-
des Landesrecht zu nutzen, haben wir das Ziel, eine
bundesweite Rechtseinheit im Raumordnungsrecht zu
schaffen, erreicht.
Ich bin daher froh über das Signal der Länder, grund-
sätzlich mit dem Gesetzentwurf im Konsens zu sein.
Aber klar geworden ist auch, dass noch Einwendungen
der Länder im Raum stehen, über die wir im parlamenta-
rischen Verfahren reden werden. Denn Gegensätzlich-
keiten, so ergibt die Stellungnahme des Bundesrates, ha-
ben wir unter anderem gerade da, wo der Bund die
Koordination übernehmen will. Betroffen sind das Flug-
hafenkonzept, das Seehafenkonzept wie auch die im Ge-
setzentwurf enthaltenen Veränderungen, die den
Bundesverkehrswegeplan betreffen oder die Rohstoffla-
gerstätten. Damit werden wir uns in den Ausschüssen zu
befassen haben.
Die Neufassung des Raumordnungsgesetzes muss vor
allem eins sein: zukunftsfähig. Denn wir brauchen es als
eine moderne Grundlage für eine effiziente und zu-
kunftsfähige koordinierende Raumentwicklung in
Deutschland. Mit der Neuordnung der Raumordnung
wollen wir verschiedene Aspekte in Einklang bringen.
Wir wissen, dass uns der demografische Wandel vor
große strukturverändernde Herausforderungen stellt.
Unsere Aufgabe ist es, vorausschauende Lösungen zu
finden, zum Beispiel für den Bevölkerungsrückgang.
Aber auch die absehbaren Folgen des Klimawandels for-
dern uns heraus. Wir müssen unsere Ressourcen schonen
und Entwicklungspotenziale erkennen und nutzen. Wir
müssen zukunftsweisende Wirtschaft unterstützen. Wir
müssen dafür sorgen, dass die Daseinsvorsorge gesichert
bleibt.
Auch deshalb möchte ich ausdrücklich begrüßen, dass
wir in den anstehenden Ausschussberatungen einen Be-
richt über das Planspiel erhalten werden, dass das Ge-
setzgebungsverfahren begleitet hat. An anderer Stelle, es
ging um das Baugesetzbuch, haben wir ebenfalls die
Praktikabilität des Gesetzes vor der Verabschiedung auf
diese Weise vorab überprüft. Das war ein ausgezeichne-
tes Vorgehen, wie wir heute feststellen können, nachdem
seit einiger Zeit mit dem Baugesetzbuch erfolgreich ge-
arbeitet wird.
Worum geht es bei der Raumordnung? Sie soll für ei-
nen Ausgleich der vielfältigen Ansprüche an den Raum
sorgen, indem sie den Gesamtraum der Bundesrepublik
Deutschland und seine Teilräume durch das Aufstellen
zusammenfassender, übergeordneter Raumordnungs-
pläne und durch Abstimmung raumbedeutsamer Planun-
gen und Maßnahmen entwickelt, ordnet und sichert. Mit
den Raumordnungsplänen sollen die gesetzlichen
Grundsätze für ein bestimmtes Gebiet konkretisiert und
festgelegt werden. Diese sind dann für die nachfolgen-
den raumbedeutsamen Projekte bindend.
In der Neufassung setzt die Bundesregierung Schwer-
punkte. Insbesondere werden die gesetzlichen Grund-
sätze der Raumordnung überarbeitet, die Regelungen
über die Planerhaltung genauer gefasst, die Regelungen
über die Möglichkeiten des raumordnerischen Zusam-
menwirkens von Regionen, Kommunen und Personen
des Privatrechts und die informelle Planung erweitert,
die Regelungen über den Planungs- und Koordinierungs-
auftrag des Bundes geändert. Die EU-Richtlinie zur stra-
tegischen Umweltprüfung wird im neuen Gesetz unmit-
telbar und vollständig umgesetzt. Das hat sich auch beim
Baugesetzbuch bewährt und als Erleichterung erwiesen.
Raumordnung muss vor allen Dingen eines sein, näm-
lich praktikabel und koordiniert, um aus vielen Einzel-
bausteinen ein sinnvolles Ganzes zu formen. Dafür, wel-
che Bedeutung die Raumordnung hat, liefert der
Raumordnungsplan für die deutsche Ausschließliche
Wirtschaftszone (AWZ) nach § 18 des jetzigen ROG, der
im Oktober in die Erörterung geht, aktuell ein gutes Bei-
spiel.
Bei der AWZ handelt es sich um das Meeresgebiet
seewärts des Küstenmeeres, also zwischen der 12-See-
meilen-Zone bis maximal zur 200-Seemeilen-Zone. Auf
diesem Teil des Meeres haben wir es zunehmend mit
Nutzungskonflikten zu tun. Hier müssen wir die Off-
shore-Windenergienutzung, den Meeresumweltschutz,
die herkömmliche Nutzung für Schifffahrt und Fischerei
koordinieren.
In der AWZ sind Ziele und Grundsätze der Raumord-
nung hinsichtlich der wirtschaftlichen und wissenschaft-
lichen Nutzung, der Gewährleistung der Sicherheit und
Leichtigkeit der Seeschifffahrt sowie zum Schutz der
Meeresumwelt aufzustellen. Es müssen koordinierte
Festlegungen für die einzelnen Nutzungen und Funktio-
nen Schifffahrt, Rohstoffgewinnung, Rohrleitungen und
Seekabel, wissenschaftliche Meeresforschung, Wind-
enenergiegewinnung, Fischerei und Marikultur sowie
den Meeresschutz getroffen werden.
Alles hat seine Wichtigkeit und seine Berechtigung.
Aber nicht alles kann gleichzeitig an gleichem Ort statt-
finden. Durch die Raumordnung werden deshalb Vor-
ranggebiete geschaffen, damit Konflikte, die durch sich
ausschließende gleichzeitige Nutzungen entstehen und
zum Nachteil würden, vermieden werden.
Für die Realisierung der klimapolitischen Ziele der
Bundesregierung braucht Deutschland die Offshore-
Windenergie. Das heißt, mit der Raumordnung müssen
wir der Windenergiebranche Möglichkeiten eröffnen,
dieses politische Ziel zu erreichen.
Mir ist bekannt, dass die Unternehmen umfangreiche
Planungen projektiert haben. Meine Erwartung an den
Entwurf des Raumordnungsplanes AWZ für das Gebiet
der Nordsee ist deshalb, dass bei der Festlegung der Vor-
ranggebiete mit politischem Weitblick vorgegangen
wird. Die Branche braucht langfristige Zukunftsperspek-
tiven, damit die Investitionen sich lohnen. Vergessen wir
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19229
(A) (C)
(B) (D)
auch eines nicht: diese Branche schafft viele neue Ar-
beitsplätze.
Ich freue mich auf eine interessante Diskussion über
die Neufassung des Raumordnungsgesetzes in den kom-
menden Ausschusssitzungen. Es gibt genügend Aspekte,
die eine lebendige Debatte erwarten lassen. Wichtig für
die Regierungskoalition ist, dass wir den Gesetzentwurf
zur Neufassung des Raumordnungsgesetzes zügig bera-
ten, damit die Raumordnungsgesetzgebung am Jahres-
ende verkündet werden kann. Dazu sind alle herzlich
eingeladen.
Petra Weis (SPD): Mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf für die Neufassung des Raumordnungsrechts rea-
giert die Bundesregierung auf die 2006 in Kraft getre-
tene Föderalismusreform I. Der dort festgeschriebene
Wegfall der Rahmengesetzgebungskompetenz hat zur
Folge, dass das Raumordnungsrecht in seiner bisherigen
Form reformiert werden muss. Die Raumordnung fällt
nun in die konkurrierende Gesetzgebung. Der Bund
braucht daher zukünftig nicht mehr nachzuweisen, dass
ein Bundesgesetz erforderlich ist, die Länder haben ein
Abweichungsrecht.
Der Koalition ist es mit der Vorlage dieses Gesetzent-
wurfes für ein neues Raumordnungsrecht gelungen, den
Anforderungen an eine zukunftsgerichtete Raumord-
nung in Deutschland gerecht zu werden. Um weiterhin
eine möglichst große bundesweite Einheitlichkeit im
Raumordnungsrecht zu erhalten, gibt das neue Raum-
ordnungsgesetz den Ländern möglichst wenig Anlass
zur Abweichungsgesetzgebung. Die bewährten, von
Bund und Ländern gemeinsam getragenen Regelungen
wurden weitgehend in das neue Gesetz überführt. Die
Länder haben weiterhin Spielraum für ergänzendes
Landesrecht. Gleichzeitig berücksichtigt das künftige
Raumordnungsgesetz neue Entwicklungen und nimmt
praktische Erfahrungen mit dem bisherigen Raumord-
nungsrecht auf.
Aus unserer Sicht ist es erforderlich, eine bundespoli-
tische Planung und Koordinierung mit Blick auf die neu
entstandenen Herausforderungen an die Raumordnung
in einer globalisierten Welt herzustellen – den Klima-
wandel und den Bevölkerungsrückgang möchte ich hier
nur beispielhaft anführen. Und so begrüßen wir es, dass
die „Grundsätze der Raumordnung“ überarbeitet und an
die aktuellen Leitbilder und Handlungsstrategien für die
Raumentwicklung in der Bundesrepublik angepasst wer-
den.
Was sind die herausragenden Ziele des Gesetzent-
wurfs? Da sind neben dem schon erwähnten Klima-
schutz und der Sicherung der Daseinsvorsorge vor dem
Hintergrund einer rückläufigen Bevölkerungsentwick-
lung vor allem die Betonung der Innenentwicklung der
Städte und damit einhergehend die Reduzierung der Flä-
cheninanspruchnahme zu nennen. Ich erinnere in diesem
Zusammenhang auch an unsere Diskussionen im Rah-
men der Novellierung des Baugesetzbuches. Aber natür-
lich sind auch die interkommunale Zusammenarbeit
– insbesondere zwischen Städten und ländlichem Raum –
und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in ihrer
Bedeutung nicht zu unterschätzen. Und selbstverständ-
lich ist in diesem Zusammenhang auch darauf hinzuwei-
sen, dass die EU-Richtlinie zur strategischen Umwelt-
prüfung im neuen Gesetz vollständig umgesetzt wird.
Damit wird die Rechtsanwendung, wie schon beim Bau-
gesetzbuch, erleichtert.
Die Raumordnung hat die Aufgabe, für einen nach-
haltigen Ausgleich der vielfältigen ökonomischen, öko-
logischen und sozialen Ansprüche an den Raum sorgen.
Sie ist damit die Basis einer nachhaltigen Infrastruktur-
politik und damit gleichzeitig unverzichtbare Vorausset-
zung für eine moderne Wirtschafts- und Gesellschafts-
politik. Ich betone das deswegen an dieser Stelle
ausdrücklich, um die besondere Bedeutung dieses ja kei-
neswegs „populären“, weil in der Öffentlichkeit manch-
mal geradezu unbekannten Themas, herauszustellen. Die
Raumordnung ermöglicht somit also die unverzichtbare
raumordnerische Abstimmung raumbedeutsamer Pla-
nungen und Maßnahmen und die raumordnerische Zu-
sammenarbeit der verschiedenen Ebenen und Akteure.
Sie ermöglicht darüber hinaus die Entwicklung länder-
übergreifender Standortkonzepte von nationaler und in-
ternationaler Bedeutung, und sie tut das mit Blick auf
wirtschaftliche Entwicklung und nachhaltige Mobilität
gleichermaßen. Sie tut es auch mit Blick auf eine koordi-
nierte Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern zur
Stärkung des Wirtschaftsstandortes Deutschland unter
Berücksichtigung der Nachhaltigkeitsziele. Sie ist eine
gesellschaftliche und politische Gemeinschaftsaufgabe,
und sie gelingt auch nur als solche.
Um diesen zweifellos ambitionierten Anforderungen
gerecht zu werden, muss die Raumordnung in Zukunft
von Anfang an und flexibel auf besondere Entwicklun-
gen reagieren können. Dem trägt der vorliegende Ge-
setzentwurf in besonderem Maße Rechnung.
Die Raumordnung in der Bundesrepublik ist und
bleibt eine wichtige öffentliche Aufgabe mit einer lan-
gen Tradition. Ihre Bedeutung wird angesichts der be-
schriebenen Herausforderungen noch zunehmen. Nach
wie vor gilt das Ziel der Raumordnungspolitik, den ein-
zelnen Räumen und Regionen optimale Entwick-
lungschancen zu ermöglichen. Dies gilt für die Ballungs-
räume wie für die ländlichen Räume gleichermaßen. Ich
bin mir sicher, dass die Neufassung des Raumordnungs-
gesetzes dazu in besonderer Weise beitragen wird.
Abschließend bleibt mir noch der Hinweis, dass wir
die Ergebnisse des Planspiels, das den Gesetzentwurf
auf seine Praxistauglichkeit hin überprüft hat, in die nun
folgenden Ausschussberatungen mit einbeziehen wer-
den. Ich freue mich auf eine konstruktive Diskussion.
Patrick Döring (FDP): In den zehn Jahren, die seit
der Verabschiedung des geltenden ROG vergangen sind,
ist nicht nur viel Wasser den Rhein hinuntergeflossen,
sondern es haben sich auch in Deutschland viele Dinge
verändert, die eine Anpassung des Raumordnungsrechts
notwendig machen. Vor allem der demografische Wan-
del stellt uns in vielen Regionen Deutschlands vor He-
rausforderungen: Auf der einen Seite haben wir
schrumpfende und alternde Regionen in Ost wie West
19230 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
(A) (C)
(B) (D)
– und auf der anderen Seite gibt es auch, oft in unmittel-
barer Nähe, Wachstumsregionen mit ihren ganz eigenen
Problemen. Auch die Raumordnung muss auf solche
Probleme reagieren. Hier liefert der vorliegende Gesetz-
entwurf einige richtige Ansätze. Die Erhaltung dezentra-
ler Siedlungsstrukturen etwa ist in Zukunft nicht mehr
Grundsatz der Raumordnung. Damit wird es uns erleich-
tert, die Zersiedlung ländlicher Räume und den Flächen-
verbrauch zu reduzieren – und umgekehrt eine vorsich-
tige Stärkung lokaler Zentren vorzunehmen. Wohnen,
Arbeiten und Einkaufen an einem Ort – das ist nicht nur
aus Gründen des Klimaschutzes ein Zukunftskonzept,
sondern auch ein Rezept, um insbesondere in sich ent-
leerenden Räumen die Infrastruktur- und Lebenshal-
tungskosten auf einem vertretbaren Niveau zu halten. Es
ist daher richtig, wie hier geschehen, die Kooperation
von Regionen, die räumliche Konzentration der Sied-
lungstätigkeit und den Vorrang der Nachverdichtung und
Entwicklung von Innenstädten zu Grundsätzen der
Raumordnung zu machen.
Für zukunftsweisend halte ich auch das Vorhaben,
dem Bund eine Zuständigkeit für bundesweite Raumord-
nungspläne zu geben. Damit können in Zukunft auch
großräumigere Bezüge einfacher als bisher angemessen
berücksichtigt werden. Insbesondere die Anbindung von
See- und Flughäfen, deren verkehrliche Wirkung in vie-
len Fällen weit über eine Region oder ein Bundesland hi-
nausgeht, begrüße ich außerordentlich. Allerdings muss
darauf geachtet werden, dass dies in der Praxis nicht un-
erwünschte Folgen hat, wie wir sie leider gerade bei den
Planungen für die Ausschließliche Wirtschaftszone
beobachten müssen. Dort liegt das Planungsrecht ja
schon seit längerem beim Bund – der nun einen Entwurf
für einen Raumordnungsplan vorlegt, der das Ende für
die sich gerade entwickelnde Offshore-Windenergie be-
deuten könnte. Denn wie das so ist: Die Bürokratie hat
an der Wirklichkeit vorbei geplant, sodass viele Areale,
in denen Windkraftanlagen geplant sind, demnächst au-
ßerhalb der Vorranggebiete liegen werden.
Das spricht allerdings natürlich nur gegen die gegen-
wärtige Bundesregierung, die mal wieder das eine sagt
und das andere tut, und nicht pauschal gegen die Schaf-
fung einer solchen Bundeskompetenz. Wir sollten uns
nur des Umstands gewahr sein, dass durch Raumord-
nungspläne des Bundes bestehende Probleme nicht wirk-
lich gelöst werden. Das Gesetz schafft nur einen Rah-
men, der durch die Bundesregierung und die Länder
ausgefüllt werden muss.
Auch darf dies keinesfalls bedeuten, dass der Bund
über seine Raumordnungspläne und Standortkonzepte
quasi planwirtschaftliche Vorgaben für die Entwicklung
einzelner See- oder Flughäfen entwickelt. Die Infra-
strukturentwicklung muss sich auch in Zukunft an den
tatsächlichen Bedürfnissen und nicht an politischen
Wünschen orientieren. Dies muss im Rahmen der Ge-
setzgebung meines Erachtens eindeutig klargestellt wer-
den, um entsprechende – nicht gänzlich unberechtigte –
Bedenken der Länder auszuräumen. Die Raumordnungs-
pläne des Bundes sollen dazu dienen, zentrale Verkehrs-
achsen für die Zukunft zu definieren und ihre weitere
Entwicklung zu ermöglichen und zu vereinfachen. Sie
dürfen nicht zu einer Aushebelung des bedarfsorientier-
ten Bundesverkehrswegeplans führen.
Sosehr ich die Schaffung von Raumordnungsplänen
des Bundes und die Berücksichtigung des demografi-
schen Wandels im Grundsatz begrüße – der hier vorlie-
gende Gesetzentwurf kann dennoch in dieser Form nicht
die Zustimmung der FDP-Fraktion finden. Denn ich be-
fürchte, dass mit diesem Entwurf die Belange des Um-
weltschutzes in einem Maße aufgewertet werden, das in
Zukunft die Infrastruktur- und Wirtschaftsentwicklung
in Deutschland in erheblichem Maße einschränken und
behindern wird.
Nun werden die Abgeordneten der Koalition wahr-
scheinlich darauf hinweisen, dass in diesem Gesetzent-
wurf die Belange der Wirtschaft erstmalig in einer ge-
sonderten Ziffer ausgewiesen werden. Das ist richtig und
an sich auch begrüßenswert. Doch komme ich nicht um-
hin, festzustellen, dass zugleich wichtige Elemente für
eine positive Entwicklung unserer Wirtschafts- und In-
frastrukturen fehlen – und auf der anderen Seite neue
Tatbestände eingeführt werden, die in der Abwägung die
Belange des Umweltschutzes in vielen Fällen nahezu un-
überwindlich machen.
Das gilt insbesondere für die von der Koalition gefor-
derte Schaffung eines, ich zitiere, „großräumig übergrei-
fenden, ökologisch wirksamen Freiraum-Verbundsys-
tems“. Die bestehenden Freiräume sollen dabei durch
übergreifende Siedlungs- und weitere Fachplanung ge-
schützt und die weitere Zerschneidung freier Flächen
vermieden, die Flächeninanspruchnahme im Freiraum
begrenzt werden. Auch unabhängige Experten sehen
dies nicht eben als einen Beitrag zur Deregulierung und
Vereinfachung an.
Auf der anderen Seite entfällt gegenüber dem alten
Raumordnungsgesetz der Grundsatz, dass zur Verbesse-
rung der Standortbedingungen in erforderlichem Um-
fang Flächen vorzuhalten, die wirtschaftsnahe Infra-
struktur auszubauen sowie die Attraktivität der Standorte
zu erhöhen sind. Auch das bisherige Strukturbekenntnis
zur bäuerlich strukturierten Land- und Forstwirtschaft
hat in dem vorliegenden Regierungsentwurf keinen Platz
mehr gefunden – ebenso wie der alte Grundsatz, dass
dem Wohnbedarf der Bevölkerung Rechnung zu tragen
ist. Es befriedigt mich nicht, dass es dafür jetzt heißt, in
der Raumordnung sei dafür Sorge zu tragen sei, dass
Städte und ländliche Räume ihre vielfältigen Aufgaben
für die Gesellschaft erfüllen könnten. Nach dieser Logik
könnte man zugunsten dieses einen Satzes auf das ge-
samte Gesetz verzichten.
Denn letztlich geht es bei diesem ganzen Unterfangen
doch eben nur um das eine: dass unsere Städte und länd-
lichen Räumen ihre vielfältigen Aufgaben für die Gesell-
schaft erfüllen können. Ein bisschen konkreter darf man
daher schon formulieren, was wir unter „vielfältigen
Aufgaben“ verstehen, meine Damen und Herren in den
Regierungsfraktionen! Mit solchen wohlklingenden,
aber inhaltsleeren Formulierungen brauchen wir jeden-
falls gar nicht erst ein Gesetz zu machen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19231
(A) (C)
(B) (D)
Überhaupt hätte ich mir ein wenig mehr Mut zur Be-
stimmtheit gewünscht. Die erwähnten „vielfältigen Auf-
gaben“ sind zwar ein trauriger Höhepunkt – aber auch
insgesamt sind die Formulierungen des Gesetzentwurfs,
wie schon das alte Raumordnungsgesetz, hinreichend
unkonkret. Feste Handreichungen, wie einzelne Belange
der Raumordnung und Landesplanung zu bewerten sind,
vermisse ich auch in dieser Novelle völlig. Die Folge ist,
dass die Behörden wieder von vorne damit beginnen
können, im Trial-and-Error-Verfahren herauszufinden,
welche Bewertungen und Abwägungen am Ende vor den
Gerichten Bestand haben, ich befürchte, dass wir zumin-
dest in der Anfangsphase daher keine Beschleunigung,
sondern im Gegenteil eine Verlangsamung der Planungs-
verfahren erleben werden.
Um dies zu verhindern, könnte ich mir zum Beispiel
vorstellen, in einer Anlage zu dem Gesetz einen Krite-
rienkatalog zu schaffen, der hier den Verwaltungen und
Gerichten eine konkrete Orientierungshilfe gibt. Was für
die Umweltprüfung möglich ist, wäre ja vielleicht auch
für das gesamte Verfahren vorstellbar.
In jedem Fall bin ich für jeden Versuch dankbar, der
den Bestimmungen dieses Gesetzes einen konkreteren
Charakter verleiht.
Eine weitere Vereinfachung und Beschleunigung des
Verfahrens wäre auch zu erreichen, indem man bei
raumordnungsrelevanten Vorhaben im Rahmen des
Raumordnungsgesetzes Fristen für die prüfenden Behör-
den verankert. Auch das System von Umweltprüfung,
Umweltbericht, landespflegerischem Begleitplan und
grundstücksbezogenem Grünordnungsplan – man lasse
sich den Bürokratiesprech hier noch einmal fein auf der
Zunge zergehen! – könnte man, wenn man wirklich
wollte, durchaus weiter vereinfachen. Zumindest könnte
festgesetzt werden, dass das Ergebnis der Umweltprü-
fung im Rahmen des Raumordnungsverfahrens für ein
Projekt auch für alle nachfolgenden Verfahren Geltung
hat – etwa bei einer Änderung des Flächennutzungs-
plans.
Kurz und gut: Den großen Wurf haben Sie, meine Da-
men und Herren auf den Regierungsbänken, in jedem
Fall verpasst. Im Gegenteil! Mit diesem Gesetzesvor-
schlag gehen Sie zwar in einigen Punkten in die richtige
Richtung – doch auf der anderen Seite setzen Sie die
Prioritäten sehr einseitig für die Belange des Umwelt-
schutzes. Dessen Bedeutung will ich keineswegs in Ab-
rede stellen. Doch auch in Zukunft muss die Raumord-
nung auch die Wirtschafts- und Infrastrukturentwicklung
unserer Gesellschaft gewährleisten können. Denn nur
dann wird aus einer Landschaft auch eine Heimat
– wenn die Menschen dort Arbeit und Wohnung finden
können. Dieser zentrale Aspekt der Raumordnung droht
in meinen Augen durch diese Gesetzesnovelle zu ver-
kümmern. Von daher sehe ich noch einigen Änderungs-
bedarf in den kommenden Ausschusssitzungen, bevor
ich diesem Gesetz meine Zustimmung geben werde.
Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Hintergrund für den
jetzt von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzent-
wurf zur Neufassung des Raumordnungsgesetzes sind
nach eigener Darstellung im Zuge der Föderalismusre-
form geänderte Gesetzgebungskompetenzen. Dabei
seien zum einen die „bewährten, von Bund und Ländern
gemeinsam getragenen bisherigen Regelungen weitge-
hend übernommen“ worden, und zum anderen sei in der
Gesetzesnovelle gleichzeitig „den praktischen Erfahrun-
gen mit dem bisherigen Raumordnungsgesetz“ Rech-
nung getragen worden. Demnach dürfte uns offenbar ein
nahezu perfekter Gesetzentwurf vorliegen, der bewährte
Regelungen und praktische Erfahrungen miteinander
verbindet. Nach dem bewährten Grundsatz gesunden
Menschenverstandes, das Alte und das Neue gründlich
zu prüfen und das Beste von Beidem zu behalten, sollte
die Raumordnungsgesetznovelle also gründlich geprüft
werden – ob wirklich das Beste bewährter Regelungen
und praktischer Erfahrungen in diese Neufassung einge-
flossen ist, wie es im Vortext zu dem eigentlichen Gesetz
heißt.
Insgesamt gesehen stellt sich der vorliegende Gesetz-
entwurf als ein Werk dar, das der Nachhaltigkeit der
Raumentwicklung und der Kontinuität der Raumord-
nung sowohl landesweit als auch regional angemessen
Raum gibt.
Aus Sicht der Linken geht es vor allem um drei wich-
tige Fragen: Welchen raumordnerischen Spielraum ha-
ben künftig die Länder, und wie flexibel können sie das
Gesetz für ergänzendes Landesrecht nutzen? Wie soll
künftig mit natürlichen Ressourcen umgegangen wer-
den? Welche Möglichkeiten haben Vereine, Verbände
und Bürger, sich früher als bisher an planerischen Über-
legungen zu beteiligen, damit nicht immer schon alle
Messen gesungen sind? Heute kommen sie oft erst sehr
spät und oft zu spät zum Zuge.
Diese Passagen des Gesetzentwurfs lassen den Län-
dern auch künftig Spielraum, ihre eigenen raumordneri-
schen Vorstellungen zu verwirklichen und vom Bund ab-
weichende landesgesetzliche Regelungen zu treffen,
ohne dass es dazu im Sinne einer möglichst großen bun-
desweiten Rechtseinheit viel Anlass geben sollte. Das
gilt insbesondere für bisherige Regelungen zum Natur-
schutz, der auch künftig eine hohe Priorität behalten
muss.
Ein wichtiges Thema für die Raumordnung sind
„schrumpfende Regionen und Städte“, mit denen wir uns
in Zukunft noch weit mehr als bisher angenommen aus-
einandersetzen müssen. Vor dem Hintergrund des demo-
grafischen Wandels ist in Deutschland – besonders in
seinem östlichen Teil – ein weiterer Bevölkerungsrück-
gang zu erwarten. Zugleich wächst die Zahl der älteren
Menschen und ihrer Ansprüche an Wohnung und Versor-
gung. Um adäquat auf diese zu erwartenden Veränderun-
gen reagieren zu können, muss die Raumordnung für die
einzelnen Länder flexible und damit durchaus unter-
schiedliche Lösungsansätze zulassen. Diesem Grundsatz
trägt das neue Gesetz Rechnung.
Oberste Priorität in der Planung hat die Nachhaltig-
keit. Es geht um das Schützen und Schonen natürlicher
Ressourcen, damit die kommenden Generationen mög-
lichst unbelastet von Sünden der – aus ihrer Sicht – Ver-
gangenheit leben können. Nachhaltigkeit bedeutet im
19232 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
(A) (C)
(B) (D)
Kern das Wahrnehmen von Zukunftsverantwortung, und
zwar ganz genau in dem Sinne wie es der „Vater der
Nachhaltigkeit“, der sächsische Forstmann Carl von
Carlowitz 1713 – also vor nunmehr fast 300 Jahren – in
seinem Werk Sylvicultura oeconomica, oder haußwirth-
liche Nachricht und Naturmäßige Anweisung zur wilden
Baum-Zucht formuliert hatte:
Wird derhalben die größte Kunst/Wissenschaft/
Fleiß und Einrichtung hiesiger Lande darinnen be-
ruhen / wie eine sothane Conservation und Anbau
des Holtzes anzustellen / daß es eine continuierliche
beständige und nachhaltende Nutzung gebe / weiln
es eine unentberliche Sache ist / ohne welche das
Land in seinem Esse nicht bleiben mag.
Das Wort „Esse“ steht in diesem Zitat im heutigen
Sprachgebrauch für Wesen oder Dasein.
In diesem Zusammenhang ist auch anzumerken, dass
ein vereinfachtes Raumordnungsverfahren nur dann
möglich sein sollte, wenn keine erheblichen Umweltaus-
wirkungen zu erwarten sind und keine Pflicht zum
Durchführen einer FFH-Verträglichkeitsprüfung entspre-
chend dem Bundesnaturschutzgesetz besteht. Allerdings
sollte immer die Balance zwischen zu viel und zu wenig
Regelung gewahrt werden. Ob das mit dem neuen Ge-
setz gelingt, muss sich in der Praxis erweisen. In diesem
Zusammenhang sollte uns eine Einschätzung des Publi-
zisten Wolfgang Kil zu denken geben:
Um viele, vor allem regional wirkende Schrump-
fungsprobleme offensiv als fantasieforderndes poli-
tisches Projekt anzugehen, hat sich ein Hinderungs-
grund bislang als besonders hartnäckig erwiesen:
Das im deutschen Raumordnungsgesetz und abge-
wandelt sogar im Grundgesetz fixierte Gebot zur
Gewährleistung gleichartiger anstatt gleichwertiger
Lebensbedingungen im ganzen Land.
Ein weiteres sehr wichtiges Anliegen der Linken ist
das zugegebenermaßen schwierige Thema der „Flä-
cheninanspruchnahme“ oder einfacher und deutlicher
formuliert des Flächenverbrauchs. Wie aus einer aktuel-
len Antwort der Bundesregierung auf eine Große An-
frage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu Instru-
menten zur Reduzierung des Flächenverbrauchs
hervorgeht, soll der Flächenverbrauch in Deutschland
bis 2020 auf 30 Hektar pro Tag gesenkt werden. 2006
betrug er 113 Hektar pro Tag. 30 Hektar pro Tag wären
also schon eine deutliche Reduzierung, aber dennoch
keineswegs ausreichend. Denn die wachsende oder zu-
mindest nicht in genügendem Maße zurückgehende Zer-
siedelung hat laut Umweltbundesamt Konsequenzen für
Klimaschutz und Ressourcenschonung: Mehr Siedlungs-
und Verkehrsflächen bedeuteten mehr Gebäude, die zum
Beispiel gewartet, beheizt oder gekühlt werden müssten,
weitere Entfernungen verursachten mehr Verkehr und
ein höheres Fahrzeugaufkommen. Das absehbare Ergeb-
nis seien höhere Treibhausgasemissionen sowie ein hö-
herer Energie- und Materialverbrauch, so das Umwelt-
bundesamt. Das unterstreicht den Zusammenhang von
Raumordnung und Klimawandel. Es gilt auch hier,
rechtzeitig zu reagieren. Gerade die Raumordnungspoli-
tik hat im Sinne eines gesamtheitlichen Politikansatzes
eine aktiv steuernde und koordinierende Rolle zu über-
nehmen, wie es Bundesminister Wolfgang Tiefensee im
April dieses Jahres zur Eröffnung der Ministerkonferenz
in Stuttgart sagte. Diesen richtigen Worten müssen die
richtigen Taten folgen. Im Übrigen muss nicht jede
Straße, die einmal im Bundesverkehrswegeplan aufge-
führt wird und für die theoretisch genügend Geld vor-
handen wäre, tatsächlich auch gebaut werden.
Ein wichtiger Aspekt der Novelle ist das frühzeitige
und aktive Einbinden der zentralen Akteure. Vereine,
Verbände und Bürger sind demnach nicht nur zu infor-
mieren, sondern bereits zu einem frühen Zeitpunkt in die
Planungen miteinzubeziehen. Das hat zwei Vorteile:
Zum einen wird mehr gedanklicher Reichtum gesichert.
Zum anderen wächst die Akzeptanz raumordnerischer
Ideen und Entscheidungen.
Es bleibt eine Aufgabe der Zukunft, nicht nur gesetz-
liche Grundlagen zu schaffen, sondern diese durchaus
positiven Absichten in praktische Politik umzuwandeln:
Wie kann zum Beispiel der Bürgerwille bei komplexen
Großvorhaben tatsächlich berücksichtigt werden? Wel-
che Instrumente für eine erfolgreiche Kommunikation
gibt es bereits? Welche müssten entwickelt, ausprobiert
und weiterentwickelt werden? Es geht um nicht mehr,
aber auch nicht weniger als um die demokratischen
Rechte von Bürgerinnen und Bürgern sowie von Natur-
schutzverbänden und Umweltschutzorganisationen. Es
geht insbesondere in Ostdeutschland darum, immer wie-
der den Ordnungsrahmen zu überprüfen, ob er denn genü-
gend Kreativität und unternehmerischen Handlungsspiel-
raum zulässt. Auch daran ist die Zukunftsverantwortung
der Raumordnung zu messen.
Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Novellierung des Raumordnungsrechts steht seit langem
an, einerseits formell, denn die Förderalismusreform er-
fordert eine Neufassung des Gesetzes, andererseits in-
haltlich, denn das Gesetz ist verstaubt und bedarf einer
Modernisierung. Nach drei schwarz-roten Jahren befas-
sen wir uns nun – kurz vor dem Ende der Legislatur-
periode – mit der Neufassung des Raumordnungsgeset-
zes. Das zeigt auch, welchen geringen Stellenwert die
Raumplanung für diese Bundesregierung hat. Offenbar
ist die Raumordnung für Schwarz-Rot ein ungeliebtes
Stiefkind.
Zunächst das Erfreuliche. Richtig ist, dass aktuelle
Entwicklungen und sich daraus ableitende Handlungs-
bedarfe im Gesetzentwurf berücksichtigt wurden. Die
Raumplanung muss zum Klimaschutz beitragen; sie
muss helfen, Energie zu sparen; sie muss auf die demo-
grafische Entwicklung reagieren, den fortschreitenden
Flächenverbrauch begrenzen, zum Lärmschutz beitra-
gen. Ansätze für diese Zielrichtungen kann man im Ge-
setzentwurf finden.
Wichtig ist auch, dass künftig Raumordnungspläne
des Bundes möglich sind. Diese Regelung ist längst
überfällig; denn in zahlreichen Fachgebieten planen die
Länder aneinander vorbei oder – schlimmer noch – kon-
kurrieren miteinander, und das geht häufig auf Kosten
ihrer Haushalte. Insbesondere im Infrastrukturbereich ist
eine bundesweite Raumplanung dringend erforderlich;
denn der Tellerrand, über den Landesregierungen bei-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008 19233
(A) (C)
(B) (D)
spielsweise bei Flughafenplanungen oder vielen überre-
gionalen Fernverkehrsverbindungen blicken müssten,
scheint häufig zu hoch.
Die ohnehin notwendige Novellierung des Raumord-
nungsgesetzes gibt die Möglichkeit zu zahlreichen wei-
teren Klarstellungen und zeitgemäßen Regelungen.
Schlaglichtartig will ich Punkte benennen, bei denen ich
Änderungsbedarf sehe.
Da kann ich gleich bei der eben angesprochenen
Kompetenzzuweisung an Bund und Länder anknüpfen.
Keiner Bürgerin und keinem Bürger, der von raumbe-
deutsamen Maßnahmen betroffen ist, kann man erklären,
dass sich die Transparenz von Planungen nach Landes-
zugehörigkeit richtet. Warum kann beispielsweise ein
Verkehrsprojekt in einem Bundesland ein Raumord-
nungsverfahren erfordern und in einem anderen Bundes-
land ein gleichartiges Vorhaben nicht? Oder warum kann
in einem Bundesland ein Raumordnungsverfahren mit
und im benachbarten Bundesland ohne Öffentlichkeits-
beteiligung ablaufen? Die parallele Erarbeitung des Um-
weltgesetzbuches sollte Anlass sein, diese beiden Ge-
setze miteinander zu verzahnen.
Mir fehlen im Gesetzentwurf die Ziele der nationalen
Nachhaltigkeitsstrategie. Das Raumordnungsgesetz ist
beispielsweise hervorragend als Grundlage für eine Re-
duzierung des täglichen Landschaftsverbrauches in
Deutschland auf 30 Hektar geeignet. Ebenfalls vermisse
ich in dem vorliegenden Gesetzentwurf die Konsequen-
zen aus der Biodiversitätsstrategie. Warum werden bei-
spielsweise nicht Biotopverbundsysteme – insbesondere
das Netz Natura 2000 – im Gesetz als verbindliche Fest-
legungen in Raumordnungsplänen benannt?
Der Vergangenheit muss die Aufgabenstellung der
Raumordnung angehören, „die räumlichen Vorausset-
zungen für die Aufsuchung und Gewinnung von stand-
ortgebundenen Rohstoffen“ zu schaffen; vergleiche § 2
Abs. 2 Nr. 3. Mit solchen Regelungen unterstützt die
Raumordnung das bürgerferne und umweltunverträgli-
che Bergrecht aus Kaiser- und Nazizeiten. Es wird Zeit,
dass sich die Bundesregierung von solchen undemokrati-
schen gesetzlichen Regelungen verabschiedet.
Woran unser Planungsrecht im Allgemeinen krankt,
ist die mangelnde Transparenz. Ein wertvoller Schritt in
Richtung Transparenz wäre die obligatorische Beteili-
gung von Naturschutz- und Umweltverbänden bei der
Aufstellung von Raumordnungsplänen des Bundes.
Sinnvoll wäre auch die Festlegung, dass diese Planwerke
im Internet zur Verfügung gestellt werden.
Ich begrüße, dass die Bundesregierung nun endlich
einen Entwurf eines Gesetzes zur Raumordnung vorlegt;
mir erscheint auch die Zielrichtung vieler Festlegungen
richtig. Allerdings wünsche ich mir, dass die Bundesre-
gierung nicht so halbherzig ans Werk geht und dass das
zuständige Ministerium das Raumordnungsgesetz als
Chance für eine ressortübergreifende Planungsgrundlage
begreift. In diesem Sinne wird sich meine Fraktion in
den folgenden Beratungen einbringen.
Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Als
Folge der Umsetzung der Föderalismusreform I im Jahre
2006 und vor dem Hintergrund der derzeitigen struktur-
fördernden Herausforderungen, insbesondere hinsicht-
lich des demografischen Wandels und des Klimawan-
dels, soll das Raumordnungsgesetz neu gefasst werden.
Im Zuge der Föderalismusreform wurde die Raumord-
nung in den neu geschaffenen Kompetenztyp einer (um-
fassenden) konkurrierenden Gesetzgebung mit Abwei-
chungsmöglichkeit der Länder überführt. Mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf zum Raumordnungsrecht
wird somit gesetzgeberisches Neuland betreten. Um
trotz des Abweichungsrechts der Länder die Rechtsein-
heit möglichst zu wahren, zielt der Gesetzentwurf auf
eine Balance zwischen der Regelung weitgehender bun-
deseinheitlicher Standards und der gesetzgeberischen
Zurückhaltung des Bundes hinsichtlich landesspezifi-
scher Besonderheiten.
Inhaltliche Schwerpunkte und Zielsetzungen der Ge-
setzesnovellierung sind:
Erstens. Die bewährten Regelungen des geltenden
Raumordnungsgesetzes werden übernommen. Dies gilt
insbesondere für das klassische Instrument der Raum-
ordnung, den Raumordnungsplan. Damit besteht auch
weiterhin die rechtliche Grundlage für eine effiziente
raumordnerische Steuerung von aktuell und zukünftig
sensiblen raumwirksamen Projekten wie zum Beispiel
Factory-Outlet-Centern oder Windenergieanlagen.
Zweitens. Praktischen Erfahrungen mit dem gelten-
den Raumordnungsrecht wird Rechnung getragen. Stich-
worte sind hier Rechtsvereinfachung und Deregulierung.
Drittens. Die gesetzlichen Grundsätze der Raumord-
nung werden aktualisiert: Der demografische Wandel
wird berücksichtig. Die interkommunale Zusammenar-
beit wird gestärkt. Die Erhaltung der Innenstädte wird
betont. Erstmalig wird der Schutz kritischer Infrastruktu-
ren in das Raumordnungsgesetz aufgenommen. Die
Wiedernutzung von Flächen und die Reduzierung der
Flächeninanspruchnahme sind ebenfalls wichtige Anlie-
gen des neuen Gesetzes. Zudem werden die Erforder-
nisse des Klimaschutzes berücksichtigt. Die bisherigen
Grundsätze für den ländlichen Raum sowie für die Land-
und Forstwirtschaft werden in die Grundsätze für Raum-
strukturen, Infrastrukturen, Wirtschaft, Kulturlandschaf-
ten und Umwelt/Klimaschutz integriert.
Viertens: Die Regelungen über die Planerhaltung
werden präzisiert. Dies ist ein Beitrag zur Rechtssicher-
heit von Raumordnungsplänen.
Fünftens: Die Regelungen über den Planungs- und
Koordinierungsauftrag des Bundes werden ergänzt. Da-
mit kann den neuen Herausforderungen an die Raumord-
nung durch länderübergreifende und europäische Ent-
wicklungen begegnet werden. Bei der Raumordnung des
Bundes sieht § 17 Abs. l des Gesetzes – gewissermaßen
als Service für die Länder – die Möglichkeit vor, die ge-
setzlichen Grundsätze auch in Raumordnungsplänen zu
konkretisieren.
Der nachfolgende Absatz 2 ermöglicht dem Bund,
Raumordnungspläne als Beitrag für eine integrierte Ver-
kehrsplanung aufzustellen, die den Bund binden sollen
(A) (C)
(B) (D)
und länderübergreifende Standortkonzepte für Häfen
und Flughäfen als Grundlage für deren Anbindung, das
heißt Erschließung mit Bundesverkehrswegen darstel-
len. § 17 Abs. 3 stellt die gesetzliche Grundlage dar, um
den auch im Integrierten Energie- und Klimaprogramm
(IEKP) der Bundesregierung angesprochenen Plan zur
Raumordnung in Nord- und Ostsee, in der sogenannten
ausschließlichen Wirtschaftszone Deutschlands, aufzu-
stellen.
Der Gesetzentwurf wurde in enger Abstimmung mit
den für die Raumordnung zuständigen Landesministe-
rien und den kommunalen Spitzenverbänden entwickelt.
Zudem wird der Gesetzentwurf im Rahmen eines beglei-
tenden Planspiels von sieben Landes- und Regionalpla-
nungen aus allen Teilen Deutschlands auf seine Praxis-
tauglichkeit, insbesondere hinsichtlich der Verzahnung
mit dem bestehenden Verfahrens- und Organisations-
recht der Länder, überprüft.
sellschaft mbH, Amsterdamer Str. 19
19234 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 179. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
nd 91, 1
2, 0, T
22
179. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 25. September 2008
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13
Anlage 14
Anlage 15