Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alleherzlich und möchte vor Eintritt in unsere Tagesordnungden Kollegen Rolf Hempelmann und WolfgangNešković zu ihren 60. Geburtstagen gratulieren und imNamen des Hauses noch einmal alle guten Wünscheübermitteln.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführ-ten Punkte zu erweitern:ZP 1 Vereinbarte DebatteBespitzelungsaffäre bei der Deutschen Tele-kom und Konsequenzen
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahren
a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Chris-Redetian Ahrendt, Carl-Ludwig Thiele, Hans-Mi-chael Goldmann, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der FDPOptimaler Darlehensnehmerschutz bei Kre-ditverkäufen an Finanzinvestoren– Drucksache 16/8548 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzb)Beratung des Antrags der Abgeor
Schuster, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPDie Beziehungen zu Lateinamerika und denn der Karibik stärken und den EU-La-erika/Karibik-Gipfel zu einer ehrli-estandsaufnahme nutzendneten Mar-nn), Floriand der Frak-Staateteinamchen B– Drucksachen 16/9056, 16/9475 –
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Präsident Dr. Norbert LammertBerichterstattung:Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Gut-tenbergNiels AnnenMarina SchusterWolfgang GehrckeKerstin Müller
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten BärbelHöhn, Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENHandeln statt Reden – Klimaschutz jetzt– Drucksache 16/9426 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu demAntrag der Abgeordneten Michael Kauch, AngelikaBrunkhorst, Horst Meierhofer, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion der FDPPerspektiven für eine sektorale Ausweitungdes Emissionshandels sowie für die Nutzungerneuerbarer Energien im Wärmesektor– Drucksachen 16/5610, 16/7387 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Maria FlachsbarthDirk BeckerMichael KauchEva Bulling-SchröterBärbel HöhnZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten MichaelKauch, Gudrun Kopp, Angelika Brunkhorst, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der FDPDifferenzierte Mengensteuerung zur Förde-rung erneuerbarer Energien im Stromsektor– Drucksache 16/8408 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll – so-weit erforderlich – abgewichen werden.Die Tagesordnungspunkte 35 a, 36 b und 37 c werdenabgesetzt.Sind Sie mit diesen Änderungsvorschlägen einver-standen? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das sobeschlossenIch rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Sportausschusses zu derUnterrichtung durch die Bundesregierung11. Sportbericht der Bundesregierung– Drucksachen 16/3750, 16/7584 –Berichterstattung:Abgeordnete Klaus RiegertDagmar FreitagDetlef ParrKatrin KunertWinfried Hermannb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Sportausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert,Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKESchutz und Förderung des Sports ernst neh-men – Sportförderungsgesetz des Bundesschaffen– Drucksachen 16/7744, 16/9455 –Berichterstattung:Abgeordnete Klaus RiegertDagmar FreitagDetlef ParrKatrin KunertWinfried HermannNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache insgesamt eineinhalb Stunden vorgese-hen. – Auch dazu höre ich keinen Widerspruch.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächstder Bundessportminister Wolfgang Schäuble.
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des In-nern:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bera-tung des Sportberichts gibt Anlass, zunächst einmal zusagen, dass wir in diesem Haus ein Stück weit Gemein-samkeit hinsichtlich der Unterstützung des Sports undder Förderung des Leistungssports haben und dass wirüber die Legislaturperioden hinweg kontinuierlich Rah-menbedingungen dafür schaffen, dass unsere Sportlerauch in der internationalen Spitze mithalten können.In dem Sportbericht geht es ja im Wesentlichen umdie Sportförderung in der vergangenen Legislaturperio-de. Wir haben die in den zurückliegenden Legislaturperio-den auf hohem Niveau geleistete Förderung in dieserLegislaturperiode fortgeführt. Wir haben in den Haus-haltsberatungen durch die Bemühungen des Bundestagesdeutlich erhöhte Ansätze für das Jahr 2008 erreicht. Ichhoffe, dass wir das im Jahre 2009 fortschreiben können,wir befinden uns ja im Augenblick in den Haushaltsbera-tungen. Ich bedanke mich im Voraus für die Unterstüt-zung.
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Bundesminister Dr. Wolfgang SchäubleVielleicht ist es interessant, die Zahlen zu hören: Inden Jahren 2002 bis 2005 hat die Sportförderung desBundes insgesamt 920 Millionen Euro für den Sport zurVerfügung gestellt, davon entfielen allein 700 MillionenEuro auf die Förderung des Spitzensports im Haushaltdes Bundesministeriums des Innern. Wie gesagt: Wirwerden das fortsetzen.Auch das will ich an dieser Stelle sagen: Wir habenkontinuierlich und zunehmend auch die Förderung desBehindertensports in die Sportförderung einbezogen.Das ist richtig und notwendig, was man auch an demStellenwert erkennt, den die Paralympischen Spiele undauch die Weltspiele für Behinderte national und interna-tional gewonnen haben.Bei der Gelegenheit möchte ich auch darauf hinwei-sen, dass sich die Bundesregierung – auch ich persönlich –sehr dafür einsetzt, dass die Rahmenbedingungen – auchhinsichtlich der beruflichen Möglichkeiten – für Behin-dertensportler verbessert werden. Deswegen bemühenwir uns, in der Bundesverwaltung, auch in den Ministe-rien der Bundesregierung, für behinderte Sportler Be-schäftigungs- und Ausbildungschancen zu schaffen. Auchdas ist richtig.
In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dasses neben der Sportförderung generell wichtig ist, mit derStiftung Deutsche Sporthilfe, aber auch sonst die Bemü-hungen um das, was man als duale Karriere bezeichnet,fortzusetzen und zu intensivieren und für junge Men-schen, die sich einen wesentlichen Teil ihrer Jugend- undjüngeren Erwachsenenzeit darauf konzentrieren, Spit-zensport zu treiben, zugleich Ausbildungs- und Beschäf-tigungsmöglichkeiten für das Leben nach der Konzentra-tion auf Leistungssport zu schaffen. Dies kann der Staatallein nicht leisten. In einer freiheitlichen Gesellschaftsoll er dies auch nicht. Umso wichtiger ist es, dass wirdie Gesellschaft und die Wirtschaft immer wieder daranerinnern. Im Übrigen bin ich ganz sicher, dass es für vie-lerlei Arten von Tätigkeiten kaum qualifiziertere Men-schen gibt als die Männer und Frauen, die sich Jahre ih-res Lebens darauf konzentriert haben, neben Ausbildungund Beruf Spitzenleistungen im Sport zustande zu brin-gen. Dies erfordert ein Maß an Konzentrationsfähigkeitund an Disziplin, das man in jedem Lebensbereich drin-gend gebrauchen kann.
In diesem Zusammenhang: Die finanzielle Ausstat-tung der Stiftung Deutsche Sporthilfe wird uns in denkommenden Jahren zunehmend beschäftigen. Ich werbedafür, dass wir bei dem Grundgedanken bleiben, dass dieStiftung Deutsche Sporthilfe ein Sozialwerk unserer frei-heitlich verfassten Gesellschaft und nicht etwas ist, dasder Steuerzahler zu finanzieren hat. Aber es ist wichtig,was die Stiftung Deutsche Sporthilfe für die soziale Ab-sicherung und die Herstellung gleicher Wettbewerbs-chancen von Leistungssportlern auf internationalem Ni-veau leistet; das ist unersetzbar und muss auch unter ver-änderten Rahmenbedingungen fortgesetzt werden. Die-ses Thema wird uns in den kommenden Jahrenzunehmend beschäftigen.Zu dem Großartigen unseres Sports und seiner gesell-schaftlichen Bedeutung – das ist bereits oft gesagt wor-den, und ich will dies nochmal unterstreichen – gehörtdie Freiheit: Die Freiheit für Sportler, die Freiheit unse-rer Sportorganisationen und das ehrenamtliche Engage-ment sind entscheidende Rahmenbedingungen dafür,dass unser Spitzensport mit seiner Vorbildwirkung fürden Breitensport und der Sport insgesamt in allen gesell-schaftlichen Bereichen so Großartiges leisten können.Deswegen müssen wir diese freiheitliche Sportorganisa-tion auch unter dem Aspekt der Subsidiarität immer wie-der verteidigen. Selbst wenn wir es als Politiker gutmeinen, sollten wir die vorrangige Entscheidungszustän-digkeit des Sports und ihrer gewählten Repräsentantenrespektieren und akzeptieren. Das ist die Voraussetzungfür eine freiheitliche Sportorganisation.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, dies bedeutet,dass wir uns – übrigens zunehmend auch auf europäi-scher Ebene – darum bemühen müssen, dem freiheitli-chen Sport in den Rahmenbedingungen den notwendigenFreiraum zu verschaffen. Sobald der Lissabon-Vertrag inKraft getreten sein wird, wird der Art. 165 des EU-Ver-trags, der die gesellschaftspolitische Bedeutung desSports anerkennt, auf europäischer Ebene eine Grund-lage dafür schaffen, dass man die Autonomie und die be-sondere gesellschaftliche Eigenart des Sports stärker be-rücksichtigt und in Europa nicht mehr alles nur unter denRegeln der wirtschaftlichen Grundfreiheiten des Binnen-markts betrachtet. Deswegen setze ich mich dafür ein,dass wir das im Weißbuch der EU für den Sport auf euro-päischer Ebene stärker berücksichtigen und dass wir beiFragen, die die Selbstorganisation des Sports betreffen,uns auf europäischer Ebene einsetzen und bei allen euro-päischen Institutionen um Verständnis werben, dass wirdas Großartige im Sport erhalten, wozu auch seine Selbst-organisation gehört.Ähnliches gilt im Hinblick auf das nationale und eu-ropäische Wettbewerbsrecht für die Rahmenbedingun-gen des professionell organisierten Sports und seinerVermarktung. Sie kennen die aktuelle Debatte, die nichteinfach ist. Aber wem die Freiheit und die gesellschafts-politische Bedeutung einer freien Sportorganisation amHerzen liegen, der muss wissen, dass nicht alles über ei-nen Leisten geschlagen werden darf. In diesem Falle ge-fährdeten wir zu viel von dem Großartigen des Sportsund seiner Selbstorganisation. Deswegen nutze ich dieGelegenheit, dafür zu werben.
Wir haben im Übrigen auch in der Steuerpolitik derBundesregierung in dieser Legislaturperiode die Rah-menbedingungen für ehrenamtliches Engagement imSport weiter verbessert. Das heißt, wir reden nicht nurbei Sportdebatten über die Grundsätze, sondern wir han-
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäubledeln auch in den konkreten Schritten nach diesen Prinzi-pien. Das ist entscheidend wichtig.Ich habe von den Rahmenbedingungen für den Leis-tungssport auf internationaler Ebene gesprochen. In die-sem Zusammenhang möchte ich festhalten: Wenn wirjungen Menschen die Chance bieten, im internationalenWettbewerb mitzuhalten, und wenn wir uns auch für diesoziale Absicherung und für die duale Karriere einset-zen, dann ist dies das Beste, was wir tun können, um denMissbrauch von Doping zu bekämpfen. Denn wer guteTrainingsbedingungen hat und über eine hinreichendesoziale, berufliche Absicherung verfügt, ist weniger an-fällig für die Versuchung, durch den Missbrauch leis-tungssteigernder Mittel die Fairness im Sport zu unter-graben. Die schlimmste Gefahr für den Sport ist, dass dieRegeln nicht mehr beachtet werden. Wir müssen für FairPlay eintreten, sonst würde der Sport das verlieren, wasihn so großartig macht.
Wir haben in diesem Bundestag das Gesetz zur Verbes-serung der Bekämpfung des Dopings im Sport verabschie-det. Wir haben die rechtlichen Grundlagen geschaffen. Wirhaben die finanziellen Mittel der Dopingbekämpfungs-agentur erhöht. Auch dieser Weg muss fortgesetzt wer-den. Aber allein mit gesetzlichen Maßnahmen und Kon-trollen ist das nicht zu schaffen.Gestatten Sie mir eine Bemerkung zu den Olympi-schen Spielen, die dieses Jahr in Peking stattfinden wer-den. Wir haben in den vergangenen Wochen viele undauch nicht gerade einfache Debatten zu diesem Themageführt. Ich habe bei meinem Besuch in Peking mit mei-nem chinesischen Kollegen sehr ausführlich und intensivüber dieses Thema gesprochen. Wir haben Vereinbarun-gen über die Zusammenarbeit in der Sportwissenschaft– übrigens insbesondere im Bereich der Dopingbekämp-fung – geschlossen. China hat in den letzten Jahren inder Dopingbekämpfung beachtliche Anstrengungen un-ternommen. Ich glaube, wir haben nicht nur national,sondern auch international eine Chance, im Kampf fürfaire Bedingungen und für das Verbot von Doping er-folgreicher zu sein, als wir es in den vergangenen Jahrenwaren. Ich bin alles andere als naiv; es wird weiter Ver-stöße geben. Wir müssen den Kampf gegen Doping wei-terhin ernst nehmen, aber ich glaube, dann besteht einegute Chance, dass wir Spiele miterleben dürfen, bei de-nen wir Freude an den Leistungen der Athleten habenkönnen.Ich hoffe, dass die chinesische Führung besser ver-steht, dass die Olympischen Spiele vor allem Spiele derFreude sein sollen, ein Fest und eine Begegnung derVölker – etwas, was China von den Olympischen Spie-len genauso erwartet, wie wir es uns in Deutschland vonder Fußballweltmeisterschaft erwartet und auch erreichthaben. Das gibt einem Land die Chance, sich stärker zuöffnen. Das muss man nicht fürchten; dem muss mansich vielmehr anvertrauen.Die Vorbereitungen, die China getroffen hat, sind res-pekterheischend. Dass es Probleme gibt, ist wahr. Da-rüber haben wir bereits gesprochen. Man darf dem nichtausweichen. Das liegt auch im Interesse Chinas selbst.Ich glaube, dass wir insgesamt bei allen schwierigenDiskussionen auf einem zuversichtlich stimmenden Wegsind.Die Fußballeuropameisterschaft liegt unmittelbar voruns. Manche sind sicherlich in Gedanken schon bei demSpiel in Klagenfurt am Sonntagabend. Wir müssen aberin einer Debatte über die Bedeutung des Sports immerdaran erinnern, dass wir alles tun müssen, um Gewalt imSport – insbesondere in Fußballstadien – mit aller Ent-schiedenheit zu bekämpfen, um den Sport nicht den Ge-walttätern, den Radikalen und den Krawallmachern zuüberlassen.Ich habe großen Respekt und Dankbarkeit gegenüberdem Engagement und der Verantwortung der zuständi-gen Verbände, insbesondere des Deutschen Fußball-Bundes. Die Polizeien in Bund und Ländern unterstützensie nach Kräften.Wie Sie wissen, haben wir bei der Fußballweltmeis-terschaft die Unterstützung von Polizisten aus allen eu-ropäischen Ländern bekommen. Bei der Fußballeuro-pameisterschaft in der Schweiz und in Österreichwerden insgesamt 1 700 Polizisten Deutschlands ausBund und Ländern im Einsatz sein. Eine vergleichbareGrößenordnung hat es zuvor nie gegeben.Das zeigt erstens, dass wir in der internationalen poli-zeilichen Zusammenarbeit wirklich vorankommen, undzweitens, dass alle Länder – auch unsere Nachbarstaaten –sehr froh sind, dass wir in Deutschland in Bund und Län-dern eine so gute Polizei haben. Es zeigt drittens, dassdie Polizei, wie alle Sicherheitsorgane – das sage ichauch im Hinblick auf andere Debatten, die wir diese Wo-che geführt haben –, Freiheit und Friedlichkeit schütztund dafür notwendig ist.Die Anstrengungen, die wir in der Politik – Gesetzge-ber, Parlament, Regierung und Verwaltung – unterneh-men, ist etwas, was sich nicht nur auf die Fußballeuropa-meisterschaft, sondern auch auf viele andere nationaleund internationale Wettbewerbe in der Vergangenheitoder in der Zukunft wie die Hockeyweltmeisterschaft unddie Handballweltmeisterschaft in den vergangenen Jah-ren oder die Leichtathletikweltmeisterschaft im nächstenJahr, auf die wir uns freuen, bezieht. Es dient dem Anse-hen unseres Landes und der Steigerung der Lebensfreudein unserem Land.Sport ist etwas von dem Schönsten, was wir haben.Die Qualität, die Leistungen und die Attraktivität derWettbewerbe auf höchstem internationalen Niveau moti-vieren zugleich viele Menschen, selber Sport zu treibenund damit ein Stück weit glücklicher zu werden und bes-sere Chancen auf ein erfülltes Leben zu haben. Deswe-gen bin ich sicher, dass die Bemühungen, die wir ge-meinsam – auch in der Verantwortung für Steuergelder –in der Sportpolitik unternehmen, mit das Beste sind, waswir für die Nachhaltigkeit unserer freiheitlichen Ord-nung tun können.Herzlichen Dank.
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
Nächster Redner ist der Kollege Detlef Parr, FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrMinister, herzlichen Dank für Ihr leidenschaftliches Plä-doyer für die Freiheit und die Schönheit des Sports. Da-mit sprechen Sie uns Liberalen aus dem Herzen. Hier ha-ben wir viele Gemeinsamkeiten.Der Auslöser für die heutige Grundsatzdebatte warallerdings ein anderer. Monatelang bestimmten Schlag-zeilen über Medikamentenmissbrauch, Gewalt und Ras-sismus, Betrug, Leistungsmanipulationen, Verdächtigun-gen, Boykottdrohungen und Maulkörbe für Athleten dasöffentliche Bild des Sports, zum Teil sogar aus diesemHohen Hause befördert. Durch diese Dominanz der Ka-tastrophenmeldungen entstand der Eindruck, der Sportbewege sich am Abgrund, ein Zerrbild, das aber ein Gu-tes hat: Wir denken über die gesellschaftliche Bedeu-tung des Sports neu nach und stellen seine Strukturenauf den Prüfstand. Wir erkennen, dass der Sport Teil ei-nes gesamtgesellschaftlichen Netzes, gleichsam einSpiegel des Zustands unserer Gesellschaft ist.Missstände sind vor dem Hintergrund von 27 Millio-nen Menschen in 90 000 Vereinen plus unzähliger nichtorganisierter Sporttreibender nicht die Regel, wie man-che Berichterstattung glauben machen will. Sie sindvielmehr das unbeabsichtigte Ergebnis des Zusammen-wirkens unterschiedlicher Interessen aus Leistungs-sport, Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Massenmedienund Publikum. Daraus ergibt sich folgende, etwas plaka-tiv dargestellte Handlungskette: Das Publikum will Re-korde, Spannung, Unterhaltung, Brot und Spiele. DieMedien greifen dieses Bedürfnis auf und berichten vor-zugsweise über die Erfolgreichen. Diese wecken das In-teresse der Wirtschaft, die über Sponsoring den Sport alsattraktives Werbemedium unterstützt. Die Wissenschaftentwickelt – teilweise am Rande des Erlaubten – innova-tive Methoden, um die Athleten zu Höchstleistungen zuanimieren. Die Politik subventioniert den Spitzensport– wenn wir ehrlich sind – auch, um Begleitaufmerksam-keit herzustellen und Profil zu gewinnen. Wir müssenzugeben: All diese Akteure – auch wir – haben ihren An-teil an der Entstehung der Probleme, an denen ein Teildes Sports heute leidet. Deshalb müssen wir den Sportneu denken, müssen wir auch Verantwortung neu undanders einfordern und uns von den strukturellen Zwän-gen so weit wie möglich lösen. Wir dürfen nicht bei je-dem Kritikpunkt gleich „Skandal“ rufen. Ein bisschenmehr Gelassenheit und Sachlichkeit tun auch dem Sportgut.
Willi Weyer, der unvergessene Präsident des ehemali-gen Deutschen Sportbundes, hat vor vielen Jahren in sei-ner burschikosen Art gesagt: „Sport ohne Leistung istKappes!“ Recht hat er. Aber darf Leistung angesichts derEntwicklung der Ergebnisse etwa in der Leichtathletikoder beim Schwimmen immer nur absolut gesehen wer-den, mit dem manischen Blick auf die Anzeigentafel undder Gier nach neuen, absoluten Höchstleistungen? Sokönnen und dürfen wir nicht länger das olympischeMotto „schneller, höher, stärker“ auslegen. Wir müs-sen vielmehr Zuschauern, Medien, der Wirtschaft, derWissenschaft und auch uns selbst als verantwortlichenSportpolitikern klarmachen: Die wachsende Nachfragenach immer hochkarätigeren Leistungen hat in vielenDisziplinen längst ihre Grenzen an den körperlichen undpsychischen Möglichkeiten des Einzelnen erreicht. Wiralle dürfen keine Beiträge mehr leisten, die dazu führen,dass Körper und Psyche unserer Athletinnen und Athle-ten überfordert werden und zu hohe Erwartungen entste-hen. Die Bedeutung des Wettkampfes muss über demRekordgedanken stehen. Anreize wie Rekordprämienoder der Einsatz von sogenannten Hasen als Tempo-macher müssen der Vergangenheit angehören. Das giltauch für die Einblendungen von Rekordzeiten im Fern-sehen oder ihrer Veröffentlichung in Programmheften.Wir müssen einen neuen Anfang wagen. Wir müssen unsauf Werte des Sports zurückbesinnen, die verschüttetwurden.
Nun zur Sportförderung. Wir als Bundestag sind dergrößte Geldgeber des Spitzensports. Im engen Schulter-schluss mit dem DOSB und den Fachverbänden werdendie Mittel leistungsorientiert eingesetzt. Bundeswehr,Bundespolizei und Zoll geben unseren Hochleistungs-sportlern den erforderlichen Rückhalt. Darüber dürfenwir aber die zweite wesentliche Säule nicht vergessen,die Herr Minister Schäuble auch angesprochen hat, näm-lich die Sponsoren aus der Wirtschaft. Die herausra-gende Bedeutung der Stiftung Deutsche Sporthilfe istuns erneut am vergangenen Wochenende bei der Verlei-hung der Goldenen Sportpyramide vor Augen geführtworden. Das Sponsoring muss weiter wachsen. Nichtnur für den Spitzensport, sondern auch für die kleinenVereine ist in Zeiten knapper Kassen die Beteiligung derprivaten Wirtschaft unabdingbar geworden. Die FDP be-obachtet allerdings mit Sorge, dass die Bundesregierungmit ihrem fatalen Hang zum Aufbau einer Verbotsrepu-blik
Deutschland die Rahmenbedingungen für eine guteSportförderung durch die Wirtschaft deutlich ver-schlechtern will. Staatliche Überreglementierung, neueWerbeverbote in den Medien oder im Internet, Ver-kaufsverbote und Konsumverbote prägen die aktuelleSituation, zum Beispiel die Diskussion über Tabak- undAlkoholprävention oder Ernährungsfragen. Bei allemVerständnis für einen fürsorgenden Staat: Er darf dieMenschen in ihrem privaten Bereich nicht übermäßigbevormunden. Aufklärung und Information im Zusam-
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Detlef Parrmenwirken mit der Industrie, auch Selbstverpflichtun-gen im Bereich des Kinder- und Jugendschutzes führenzu besseren Ergebnissen und sichern zugleich die Mög-lichkeiten des Sponsorings auch als soziale Leistung.Auch darauf hat der Sportminister hingewiesen.
An die Substanz der Sportförderung geht der neueGlücksspielstaatsvertrag. Viele Millionen Euro ausden Erlösen flossen bisher über die Länder in die Vereineund Verbände. Die Antworten auf erste Anfragen meinerLandtagskollegen nach Inkrafttreten des Vertrages sindalarmierend. In Schleswig-Holstein gingen die Einnah-men aus der Oddset-Sportwette in den ersten vier Mona-ten bei der Kombiwette um 40 Prozent und bei der Top-wette um 50 Prozent zurück, in Sachsen um 52 Prozent.Zusammengerechnet sind das 4,5 Millionen Euro. ImLottobereich verzeichnen wir in beiden Ländern insge-samt 12,5 Millionen Euro Mindereinnahmen, unter an-derem wegen der Restriktionen für gewerbliche Spiel-vermittler. Das geschieht in einem Glücksspielbereich,in dem das Suchtverhalten am unproblematischsten ist,wie die Drogenbeauftragte der Bundesregierung gesternnoch im Gesundheitsausschuss bestätigt hat.Wir sind auf dem falschen Weg. Bereits im Februar2006 hatte eine Kommission „Sportwetten der Bundes-länder“ erstaunliche Erkenntnisse, die die FDP in zweiAnträgen hier in das Haus eingebracht hat. Sie weist beieiner möglichen Neuordnung des Rechts der Sportwet-ten auf die Erschließung von bislang dem Sport nicht zu-gänglicher Wertschöpfung hin. Sie zieht eine Konzessio-nierung gewerblicher Anbieter in Erwägung und fordert– ich zitiere – „bei der Zulassung gleiche Bedingungenfür alle Bewerber, auch für die bisherigen staatlichenSportwettanbieter, die sich gegebenenfalls zusammen-schließen könnten, um ein konkurrenzfähiges Angebotabgeben zu können.“ Ich fordere die Regierungen inBund und Ländern auf: Schluss mit dieser Vogel-Strauß-Politik! Nehmen Sie die Realitäten wahr! Ordnen Sieeuroparechtskonform die Sportwetten neu, wie es Groß-britannien, Österreich und Spanien vorgemacht habenund Frankreich es künftig tun wird.
Dann könnten wir auch anderen wichtigen Bereichen desSports, die bisher eher stiefmütterlich behandelt wurden,wie dem Deutschen Behindertensportverband oderSpecial Olympics, der Vereinigung, die für die geistigBehinderten und ihre Sportmöglichkeiten eintritt, neueQuellen eröffnen und für eine gesichertere Zukunft sor-gen.Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Das Wort erhält nun die Kollegin Dagmar Freitag,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! Die heutige Debatte über den Sportbericht istmit einer Debatte über einen Antrag der Linksfraktionverbunden. Frau Kollegin Kunert, zu Beginn eine posi-tive Bemerkung hierzu: Wir freuen uns, dass Sie sich derForderung meiner Fraktion nach Aufnahme des Sportsins Grundgesetz angeschlossen haben.
Damit endet aber auch bereits die Übereinstimmung.Ihrem propagierten Anliegen, den Sport in Bund, Län-dern und Gemeinden auf eine solidere Basis zu stellen,erweisen Sie mit dem vorliegenden Antrag jedenfallskeinen guten Dienst. Jeder Verfassungsrechtler hätte Ih-nen erklären können, dass der Bund keine hinreichendeGesetzgebungskompetenz hinsichtlich Ihrer Forderun-gen hat.Andere Bestandteile hat die Regierungskoalitionlängst abgearbeitet – ich nenne nur die Stärkung desEhrenamtes –, und das im Übrigen weit über den Sporthinaus. Auch da unterscheiden wir uns von Ihnen. Siehätten unserem Gesetzentwurf einfach nur zustimmenmüssen.
Wie auch immer, der vorliegende Antrag ist jedenfallsnicht dazu angetan, die Sportförderung in Deutschlandzu verbessern. Die verfassungsrechtlichen Probleme tunein Übriges. Deshalb werden wir diesen Antrag ableh-nen.
Die rot-grüne Koalition war diejenige, die die Doping-bekämpfung auf die Tagesordnung gehoben hat – nachlangen Jahren beschwichtigender Untätigkeit der Vor-gängerregierung. Wir haben eine teilweise heftig ge-führte öffentliche Debatte angestoßen. Massive Wider-stände, insbesondere vonseiten des organisierten Sports,haben damals verhindert, dass es schon in der rot-grünenZeit zu einer schärferen gesetzlichen Regelung kam. Dashat die Große Koalition mittlerweile nachholen können.Ich bleibe bei meiner damaligen Einschätzung: Die Ver-weigerungshaltung war nicht zum Nutzen, sondern zumSchaden des deutschen Sports.
Eine konsequente Dopingbekämpfung war und bleibtvon existenzieller Bedeutung für die Zukunft des Spit-zensports. Das haben aber noch immer nicht alle ver-standen. So hat der Deutsche Eishockey-Bund noch imMärz dieses Jahres geglaubt, man könne Dopingverge-hen getrost abseits geltender Regularien sanktionieren.Er hat gegen einen Dopingprobenverweigerer statt einerobligatorischen Sperre eine Ministrafe verhängt. Daswar ein Schlag ins Gesicht der Verbände, die ihren Ath-
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Dagmar Freitagleten in vergleichbaren Fällen eine solch zweifelhafteUnterstützung nicht gewähren.
In diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich diekonsequente Haltung von NADA und Bundesinnenminis-terium hervorheben. Gemeinsam haben wir erreichenkönnen, dass der Deutsche Eishockey-Bund eingelenkthat und die Angelegenheit vor einem unabhängigenSchiedsgericht nachverhandeln lässt, leider – auch dassollte gesagt werden – erst nach langem Zögern und Tak-tieren.Machen wir uns nichts vor: Ohne unsere konsequenteHaltung wäre es hierzu nicht gekommen. Deshalb erneu-ere ich an dieser Stelle die ausdrückliche Forderungmeiner Fraktion an die deutschen Spitzenverbände: Un-terwerfen Sie sich dem nationalen unabhängigenSchiedsgericht! Einige Verbände – allerdings viel zu we-nige – haben das bislang getan.
Dieses Signal sollte nun wirklich endgültig verstandenworden sein. Für Verbände, die die Dopingbekämpfungnicht ernst nehmen, kann es keine staatliche Förderunggeben.
Sportpolitik ist vor allem, doch nicht nur eine Sachedes Sportministeriums. Ein Beispiel: Für meine Fraktionhat der Sport in der auswärtigen Kultur- und Bil-dungspolitik einen ausgesprochen hohen Stellenwert.Allein an der Trainerschule in Mainz sind bislang rund330 Leichtathletiktrainer aus 80 Ländern ausgebildetworden. Eine Besonderheit dabei ist: Diese Kurse wer-den auf Deutsch gehalten. Deutschland, unsere Men-schen, unsere Kultur, wird den angehenden Trainern da-durch vertraut.Interessant ist: Viele der Absolventen sind heute inFührungspositionen in Sport und Politik in ihren Hei-matländern. Wann und wo auch immer man diese Men-schen trifft: Die Zeit in Deutschland wird von ihnen alsHighlight in der persönlichen und beruflichen Entwick-lung geschildert. Daher wird es niemanden verwundern,dass Außenminister Steinmeier unsere ausdrücklicheUnterstützung für diese und andere Maßnahmen hat,
seien es die Kurz- und Langzeitprojekte in Afrika oderMaßnahmen zum Wiederaufbau der Sportstrukturen inAfghanistan.
Das Auswärtige Amt leistet an dieser Stelle einen unver-zichtbaren Beitrag zum Aufbau zivilgesellschaftlicherStrukturen in vielen Ländern.Sportförderung durch Bund, Länder und Kommunenerreicht einen großen Teil der Menschen in unseremLand. Der in den Vereinen und Verbänden organisierteSport und seine Mitglieder erfahren ein hohes Maß anFörderung, auch im finanziellen Bereich. Aber wichtigist an dieser Stelle der Hinweis: Der Sport gibt der Ge-sellschaft ein Vielfaches davon zurück. Das belegt imÜbrigen auch der vorliegende Bericht.Spannende Monate liegen, sportlich gesehen, vor uns.Fußballeuropameisterschaft und Olympische Spiele war-ten auf ihre Sieger.Da Rückblick und Ausblick immer zusammengehö-ren, stellt sich natürlich auch die Frage, welchen Wegder Sport und die Sportförderung zukünftig gehen wer-den. Die Antwort kann nicht allein im Zählen von Me-daillen und Meistertiteln liegen. Möglichst viele Medail-len und saubere Sportler – diese Gleichung wird inZeiten des Hightechdopings nicht aufgehen können. Da-her muss eines der wichtigsten Ziele deutscher Sportpo-litik sein, eine strikte Anti-Doping-Politik auch auf inter-nationaler Ebene einzufordern.
Ich erinnere hier an das unter großem Beifall der Athle-ten gegebene Versprechen der Bundeskanzlerin vor derdeutschen Leichtathletik-Nationalmannschaft in Osaka,sich auf internationaler Ebene entschieden dafür einzu-setzen.Erwartungen auf ein realistisches Maß zurückzu-schrauben, ist keine Abkehr vom Leistungsprinzip. EineStärkung der Sportwissenschaft ist ein Baustein für eineleistungsorientierte Sportförderung. Daher befürwortenwir ausdrücklich eine stärkere Einbeziehung der Sport-wissenschaft, allerdings unter der selbstverständlichenVoraussetzung ethischer Grundprinzipien.
Ich sage ganz deutlich: Freiburg darf sich nicht wieder-holen!
Die Sportförderung in unserem Land ist von einer ex-zellenten Qualität. Dennoch haben wir sie weiterzuent-wickeln. Damit entwickeln wir auch unsere Gesellschaftweiter. Das ist nicht voneinander zu trennen. Die SPD-Bundestagsfraktion stand und steht an der Seite desSports.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Die Linke hat Katrin Kunert dasWort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! 64 Tage vor Beginn der Olympischen Spiele– später folgen noch die Paralympics – in Pekingwünscht die Linke allen Sportlerinnen und Sportlerneine optimale Vorbereitung – verletzungsfrei –, das Er-reichen der hochgesteckten Normen, viel Erfolg undschöne Spiele.
Fest steht: Deutschland wird mit einer starken Mann-schaft nach Peking fahren. Die Erwartungen sind sehrhoch. Fest steht auch, dass die weitere Förderung durchden Bund maßgeblich vom Abschneiden der Mannschaftabhängen wird. Aber die Förderung des Spitzensports istnur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Me-daille ist die Förderung des Breitensports. Von daher istes gut, dass wir vor Olympia den 11. Sportbericht derBundesregierung und den Antrag der Fraktion Die Linkefür ein Sportförderungsgesetz des Bundes beraten. Fürdie Linke ist klar: Ohne eine bessere Unterstützung desBreitensports wird der Spitzensport in Zukunft auf derStrecke bleiben.
Daher muss die Sportförderung im weiten Sinn imfrühkindlichen Alter beginnen und bis ins hohe Alter er-folgen. In einer modernen Gesellschaft muss der Sportmehr sein als nur Wettlauf um höhere Leistungen. DurchSport werden Werte vermittelt und wird die Gesundheitgefördert. Bei großen internationalen Wettkämpfen wiein Peking trägt der Sport zur Völkerverständigung undzum friedlichen Zusammenleben der verschiedenstenNationen bei.Aber nun zum Bericht. Darin heißt es – ich zitiere –:Auch der Spitzensport leistet einen wichtigen Bei-trag für die Gesellschaft insgesamt. ErfolgreicheSportler haben insbesondere für Kinder und Ju-gendliche oftmals Vorbildfunktion und stehen fürLeistungswillen, Ausdauer, Fairness und Team-geist. Die Förderung des Leistungssports ist des-halb zugleich ein Beitrag zur gesellschaftlichenWertedebatte.Dem stimmen wir zu. Nur: Über welche Werte redenwir? Welche Werte erfahren die Menschen im Leben?Die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Armund Reich ermöglicht vielen Menschen die Teilnahme anSportkursen oder Veranstaltungen erst gar nicht, weil ih-nen schlicht und einfach das Geld fehlt, und sie habenauch andere Sorgen. Der Sport hätte das Potenzial, dieGesellschaft zusammenzuhalten, aber das Potenzial wirdnicht ausgeschöpft.Deshalb sagt die Linke:Erstens. Alle Kinder und Jugendlichen sowie Erwach-senen bis hin zu den Seniorinnen und Senioren, egal obmit oder ohne Behinderung, müssen freien Zugang zumSport haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will Ihnen vonBianca erzählen. Sie besucht seit zwei Jahren die Lan-dessportschule in Halle. Sie ist mit Leib und Seele Bas-ketballerin. Ihr großes Vorbild ist Dirk Nowitzki. Siewurde 2007 deutsche Meisterin, 2008 Landesmeisterinin Sachsen-Anhalt, mitteldeutsche Meisterin, ostdeutscheMeisterin, norddeutsche Meisterin, und vor zwei Wochenwurde sie mit ihrer Mannschaft, den Halle Lions, deut-sche Vizemeisterin. Wenn sie so weitermacht, wird sieeines Tages in der Nationalmannschaft für Deutschlandspielen. Man könnte meinen, das sei eine steile Karriere.Aber ihr Besuch der Sportschule konnte nur durch pri-vate Förderer gesichert werden, da beide ElternteileArbeitslosengeld II beziehen.
In dem Regelsatz von 347 Euro sind nun einmal keineInternatskosten enthalten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, stellen Sie sich ein-mal vor: Bürgerinnen und Bürger in diesem Land gebenihr privates Geld, damit ein Kind eine weiterführendeSchule besuchen kann, und zum Dank streicht der Staatder Bedarfsgemeinschaft die Leistung für das Kind. DerStaat spart auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger. Dasist ein Skandal. Das sage ich Ihnen ganz deutlich.
Dass der Staat diese Schulen nicht kostenlos zur Verfü-gung stellt, ist schon ein Armutszeugnis. Aber dass manes den Familien auch noch schwerer macht, wenn siesich selbst darum kümmern, dass die Kinder solcheSchulen besuchen können, ist ein Punkt, über den Sie,wie ich denke, nachdenken sollten. Das ist auch ein Bei-spiel dafür, dass die Bundesgesetzgebung in die Tiefendes Breitensportes und bis hin zur Basis wirkt.
Über diesen Punkt sollten wir wirklich reden.An Talenten mangelt es in Deutschland nicht. Aber esist nur einem Teil der Kinder und Jugendlichen möglich,sich sportlich weiterzuentwickeln. Genau wie in derschulischen Bildung hängen die Chancen der Kinder inerster Linie vom Geldbeutel der Eltern ab. Schon dieMitgliedschaft in manchen Sportvereinen stellt für vieleKinder eine finanzielle Hürde dar.Zweitens. Im Schulsport liegt vieles im Argen, unddas seit Jahren: Sportstunden werden gestrichen; es gibtnicht genügend Sportlehrerinnen und Sportlehrer; dieAus- und Weiterbildung ist absolut unzureichend, undder Schwimmunterricht wird privatisiert.
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Katrin KunertDabei ist gerade der Schulsport ein wichtiges Binde-glied zwischen gesunder Lebensweise, Bewegung undLernfähigkeit. Wir können punktgenau sagen, wie hochdie Gesundheitskosten später sein werden, weil Kinderzu dick sind, sich falsch ernähren oder sich nicht ausrei-chend bewegen und damit krankheitsanfälliger sind.Eine gute Sportpolitik ersetzt jede Gesundheitsreform.
In den Kindertagesstätten und Schulen müssen ge-sunde Ernährung und Bewegung als Ganzes vermitteltwerden. Wir fordern bundeseinheitliche Qualitätsstan-dards zur Weiterentwicklung des Schulsports. Die dritteSportstunde muss überall, also in jedem Bundesland undin jeder Schule, zur Pflicht werden.
Nur so kommen wir aus dem Dilemma der Streiterei umdie Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern heraus.Gleiche Bildungsstandards, liebe Kolleginnen und Kol-legen, tragen ja auch zur Angleichung der Lebensver-hältnisse in Deutschland bei – ein Ziel, das wir uns ein-mal gestellt haben.
Drittens. Der Zustand vieler Sportstätten ist mangel-haft. Im Sportbericht wird die stolze Zahl von63 Millionen Euro genannt, die im Rahmen des Bundes-programms „Goldener Plan Ost“ von 1999 bis 2005 zurSanierung und zum Neubau von Sportstätten ausgegebenworden sind.
Aber im eigentlichen Berichtszeitraum, also von 2002bis 2005, waren es nur noch 26 Millionen Euro, und imHaushalt für 2008 stehen ganze 2 Millionen Euro. Dasbezeichne ich als einen Witz. In der letzten Debatte überden Haushalt haben Sie unseren Antrag, diesen Betragwenigstens auf 10 Millionen Euro anzuheben, abgelehnt.
Die Grünen haben leider sogar signalisiert, dass sie dieseFörderung am liebsten ganz abschaffen wollen. KlugeSportpolitik sieht aber anders aus, meine Damen undHerren.
Fest steht: 70 Prozent der Sportanlagen im Osten und40 Prozent der Sportanlagen im Westen sind sanierungs-bedürftig. Für die Sanierung werden nach Auskunft vonFachleuten 40 Milliarden Euro benötigt, davon entfallen20 Milliarden Euro auf die öffentlichen Träger, also inerster Linie auf die Kommunen. Auch wenn wir heuteüber Sport reden, stelle ich fest: Die Finanzausstattungder Kommunen steht unter keinem guten Stern. Es gibtbei den Kommunen große Unterschiede zwischen Armund Reich. Das sieht man auch am Zustand der Sport-stätten.
Die Linke fordert, auch die Sportstätten am Aufschwungin Deutschland teilhaben zu lassen.
Das heißt im Klartext: Mindestens 20 Millionen Euro indas Programm „Goldener Plan“ einstellen und dieses aufdie alten Bundesländer ausdehnen.Im gleichen Kontext sage ich auch: Die Finanzaus-stattung der Kommunen muss vom Kopf auf die Füßegestellt werden, damit die Sportinfrastruktur auch nach-haltig verbessert werden kann. Vielleicht, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, gelingt es Ihnen auch noch, in derFöderalismusreform II die Entschuldung der Kommunenunterzubringen. Das ist nämlich genauso wichtig.
Viertens. Der Sport braucht insgesamt noch mehr An-erkennung und Verbindlichkeit. Die Linke unterstütztdeshalb den Vorschlag des DOSB, Sport als Staatsziel indas Grundgesetz aufzunehmen. Mit einem Sportförder-gesetz des Bundes muss die derzeitige Förderung desSpitzensportes mit der des Breitensportes zusammenge-führt werden.Sport als aktives Gesundheitsprogramm und als In-strument zur Integration und Chancengleichheit fürFrauen und Menschen mit Behinderungen muss in einemSportfördergesetz festgeschrieben werden. Ihre födera-len Hinderungsgründe und Ihr Hinweis, dafür seien wirnicht zuständig, greifen eben nicht immer. In den Haus-halten des Innenministeriums, des Verteidigungsministe-riums, des Gesundheitsministeriums, des Familienminis-teriums oder des Auswärtigen Amtes sind entsprechendeGelder eingestellt und werden zum Teil als Bundespro-gramme bis in die Kommunen und Einrichtungen ausge-reicht. Ein Sportfördergesetz bietet die Chance, alleMaßnahmen, die den Sport betreffen, zu bündeln undaufeinander abzustimmen.Fünftens. Das bürgerschaftliche Engagement mussweiter gestärkt werden. Die Anhebung der Übungsleiter-pauschale und steuerrechtliche Vergünstigungen könnennur ein erster Schritt sein. Viele Studentinnen und Stu-denten, Rentnerinnen und Rentner, Arbeitslose undMenschen mit einem geringen Einkommen leisten wert-volle ehrenamtliche Arbeit. Diese haben aber nichts vonSteuervergünstigungen.
Die Linke fordert daher nach wie vor, dass diese Ehren-amtlichen finanzielle Anerkennung bekommen müssen.Tatsächliche Kosten müssen erstattet werden.
In diesem Zusammenhang will ich noch auf ein Pro-blem hinweisen. Vor kurzem ist das Einkommensteuer-recht geändert worden. Für die Beschaffung von gering-wertigen Wirtschaftsgütern ist die Grenze von 400 Euro
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Katrin Kunertauf 150 Euro gesenkt worden. Das stellt sich in denSportvereinen jetzt als Problem dar.
Wir sollten überlegen, ob wir hier nicht nachjustierensollten, damit diese Beeinträchtigung der Sportvereinenicht fortbesteht.Sechstens. Öffentlich geförderte Beschäftigungbringt den Sport und den Arbeitsmarkt in Schwung. FrauFreitag, eine öffentlich geförderte Beschäftigung lehnenSie mit dem Hinweis ab, es würde gegen die Autonomieder Sportorganisationen verstoßen.
– Gestern haben Sie zu diesem Thema gesprochen. – Ichmuss Sie fragen, ob Sie überhaupt die Realität in denSportvereinen kennen. Derzeit haben viele Menschendank ABM in Sportvereinen Arbeitsgelegenheiten. ImLandkreis Stendal sind es allein 80 Menschen.Wir fordern, diese Beschäftigung in versicherungs-pflichtige Arbeitsverhältnisse mit Mindestlöhnen umzu-wandeln. Den gemeinnützigen Sport zum öffentlich ge-förderten Beschäftigungssektor auszubauen, ist einelohnenswerte und notwendige Aufgabe für den Sportund für die Betroffenen.
Sie heben immer darauf ab, dass es fraktionsübergrei-fend einen großen Konsens gibt, was die Sportförderungangeht. Das ist punktuell richtig. Wir aber sagen: Mit ei-nem generell festgeschriebenen Sportfördergesetz kannman viele Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten aus-räumen. Man kann bestimmte Aktivitäten vom Bund ausbündeln.
Es gibt nach wie vor große Unterschiede in der Förde-rung des Frauen- und Männersports. Ich nenne als Bei-spiel den Fußball. Es gibt auch nach wie vor große Un-terschiede bei der Förderung des Spitzensports vonMenschen mit und ohne Behinderung; dazwischen lie-gen Welten. Diese Punkte müssen auf den Prüfstand undmüssen in einem Sportfördergesetz neu geregelt werden.
Ausgehend von der gestrigen Sitzung des Ausschus-ses sage ich: Wir wollen nicht Freibier für alle.
Wir wollen sehr viele Menschen in diesem Land glück-lich machen. Das ist richtig. Aber in erster Linie wollenwir dieses Land gerechter gestalten, und das beginnt mitdem Sport.Schönen Dank.
Um jedem möglichen Missverständnis vorzubeugen:
„Freibier für alle“ müsste außerhalb des Plenarsaals an-
geboten werden; hier drinnen ist es sicherlich nicht zu-
lässig.
Nun hat der Kollege Winfried Hermann das Wort für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Sport-ausschuss, so pflegen wir zu sagen, gibt es viele Ge-meinsamkeiten. Die Sportpolitikerinnen und Sportpoliti-ker haben Spaß und Freude am Sport. Deswegen gibt esauch viele gemeinsame Vorstöße. Obwohl es viele Ge-meinsamkeiten gibt, gibt es auch Differenzen und Unter-schiede. Das ist auch gut so. Auch der Sport braucht einepolitische Debatte.
Im Sportbericht, der Anlass unserer Debatte ist, findetman ganz am Anfang beschrieben, welche unglaublichvielfältige Dimensionen der Sport hat. Er hat eine sozia-le, eine integrative und eine leistungsfördernde Funk-tion. Er spielt inzwischen auch in großen Bereichen derWirtschaft eine wichtige Rolle. Ich nenne beispielsweiseden Tourismus. Der gesamte Bericht spiegelt wider, wiegroßartig und wie vielfältig Sport ist, wie er in dieserGesellschaft wahrgenommen wird und was er für sie be-deutet. Darin sind wir uns einig.Die Frage ist jetzt nur, ob die Politik selber diese Viel-falt, die der Sport bietet, auch in ihren Akzenten, in dem,was sie tut, widerspiegelt. In diesem Zusammenhangmöchte ich ein paar kritische Dinge ansprechen. HerrMinister, Sie sagen, das Prä der Sportpolitik liege natür-lich beim Sport. Da besteht kein Dissens. Aber wennman sich nur an dem orientiert, was die Sportorganisa-tionen machen, dann läuft die Politik Gefahr, dass sienur darauf antwortet und keine selbstständigen Initiati-ven in Gang setzt. Wir Grüne meinen, Sportpolitik mussauch eigenständige Akzente setzen und dafür sorgen,dass alles in den richtigen Bahnen läuft.
Ein Beispiel. Es muss skeptisch stimmen, wenn zumBeispiel beim Landessporttag in Baden-Württembergder Tenor der Debatte ist: „Der DOSB nimmt den Brei-tensport nicht wahr, nicht ernst“ oder wenn, wie imSportausschuss, die nichtolympischen Sportverbände sa-gen: Wir bekommen kaum Fördermittel; alles konzen-triert sich auf den olympischen Sport. – Dazu sage ich:Hoppla, es könnte sein, dass falsche Zeichen gesetztwerden, dass wir bei der Konzentration auf den Spitzen-sport, dessen Bedeutung durchaus nicht bestritten wird,vergessen, dass es auch Breitensport und Sport auf Lan-
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Winfried Hermanndesebene und in den Kommunen gibt. Auch dies müssenwir in unsere sportpolitischen Überlegungen mit einbe-ziehen. Unsere Forderung ist, sich mehr in diese Berei-che hineinzudenken.
Herr Minister, meine Kolleginnen und Kollegen vonder Koalition, Sie haben die Mittel für den Spitzensportzu Recht erhöht;
denn sie waren über Jahre gedeckelt. Aber die Mittel fürBreitensportaktivitäten, für Modelle, die dort möglichsind, sind nicht in gleicher Weise erhöht worden.
Wir sagen eindeutig: Wir wollen auch in diesem Bereichmehr tun.
Der Breitensport braucht eine Lobby – so der Lan-dessportverband Baden-Württemberg; auch anderekönnte man zitieren. Nun sagen Sie: Da haben wir dochkeine verfassungsgemäße Zuständigkeit.
Die ist in der Tat beschränkt. Aber Sie sollten in IhrerArgumentation konsequent sein: Die meisten von Ihnenvertreten die Auffassung, dass Sport als Staatsziel in dasGrundgesetz aufgenommen werden soll.
Warum? Weil Sie sagen: Breitensport, Gesundheitssport,soziale Funktionen des Sports, all das ist wichtig. Wirwollen das im Grundgesetz verankert sehen. – Wennman das für richtig hält, dann muss man diese breiten-sportliche Dimension aber auch in seine politischenÜberlegungen, in seine Konzeption mit einbeziehen.
Das zum Ersten.Zum Zweiten hat der Bund natürlich in den Berei-chen Gesundheit, Prävention und Altersvorsorge jedeMenge Kompetenzen, sodass er zumindest modellhaftDinge anstoßen kann, damit sich sportliche Organisatio-nen und die Sportförderung weiterentwickeln können.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,überlegen Sie sich einmal, welche Initiativen, Gedanken,Ideen und Modelle Sie zum Bereich des Breitensports inden letzten zwei Jahren eingebracht haben. Dazu fällt Ih-nen nichts ein.
Ich bin die Sache extra noch einmal durchgegangen. Esist nichts geschehen. Ich meine, moderne Sportpolitikmüsste da mehr zu bieten haben.
Ich war vor zwei Wochen mit einer kleinen Gruppedes Parlamentarischen Beirats für Nachhaltige Entwick-lung in Norwegen. Wir haben uns um Nachhaltigkeit be-müht. Da ist mir etwas Interessantes begegnet: Bei jedemBesuch eines Ministeriums fand man an der Eingangstürein Plakat vor: Benutze deine Beine zur Arbeit!
Durch diese Kampagne in Norwegen werden die Leuteaufgefordert, sich zu bewegen und schon morgens zurArbeit zu laufen oder mit dem Rad zu fahren.
– Das ist eine gute Idee. – Aber wo ist die Initiative derBundesregierung, auch einmal so ein Konzept vorzule-gen, dass die Politik, die Verwaltung vorbildlich zeigen:„Wir wollen uns bewegen; wir fahren Fahrrad. FahrenSie mit!“?
– Ich merke, einige sind erregt.
Kollege Gienger, der nur eine Radlrutsch hat, tut sichschwer mit dem Radfahren; ich weiß.Es gibt übrigens ein Ministerium, das so eine Kampa-gne fördert: Das ist das Verkehrsministerium, das dafürwirbt, mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren. Wenn manfür Bewegung in der Gesellschaft mehr tun will, dannmüsste so eine Kampagne breiter gefasst werden, dannmüssten alle mitmachen. Dann müsste das Innenministe-rium ganz vorne dabei sein.
Jetzt komme ich zum Thema „Vorbereitung auf dieOlympischen Spiele in Peking“. Wir haben darüberschon viel gesprochen. Ich will nicht in aller Breite da-rüber sprechen, aber auf zwei Punkte eingehen: erstens aufdie Bekämpfung von Doping und die Voraussetzungen da-für in China. Der Herr Minister hat gestern im Aus-schuss und auch heute gesagt, dass sich in China in letz-ter Zeit einiges getan hat. Das will ich nicht bestreiten,das ist wahr. Aber gemessen an der Zahl der Menschenin China, die Leistungssport treiben, sind 8 000 Probenpro Jahr – das sind etwa doppelt so viele wie in Deutsch-land – eine sehr bescheidene Maßnahme und viel zu we-nig. Wir wissen, dass es in China viele Labors und jedeMenge Eliteschulen und Fördereinrichtungen gibt, die indieses Kontrollsystem noch nicht eingebunden sind. Esist unsere Aufgabe, über die internationalen Sportorgani-sationen darauf hinzuwirken, dass auch in China mehrgegen Doping getan wird.
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Winfried HermannZweitens: das Thema Menschenrechte. Herr Minis-ter, ich habe Sie gestern bewusst gefragt: Was halten Sievon diesem blau-grünen Bändchen mit der Aufschrift„Sports for Human Rights“, das ich am Arm trage?
– Der Kollege Parr nennt das Symbolpolitik. Für michist die Frage, ob es möglich ist, sich bei den Olympi-schen Spielen zu den Menschenrechten zu bekennen,und zwar nicht propagandistisch, sondern aus persönli-cher Überzeugung heraus.
Kann man so etwas tragen, um sich zu den Menschen-rechten zu bekennen, oder ist das Propaganda, die verbo-ten ist? Das IOC tut so, als sei so etwas verboten. DerDOSB übernimmt diese Haltung. Der Minister erklärt,das sei so im Sport und das müsse man so akzeptieren. –Wir meinen, das ist inakzeptabel. Ein Bekenntnis zuMenschenrechten muss erlaubt sein. Das ist keine Propa-ganda, sondern eine pure Selbstverständlichkeit.
Lassen Sie mich noch etwas zur Aufarbeitung desDopingproblems im deutschen Sport sagen. Über dieAnti-Doping-Kommission des Ministeriums, die sichmit der Aufarbeitung beschäftigt, über den Einsatz derMittel wacht und prüft, ob die Verbände die Auflagenumsetzen, haben wir Einblick in das bekommen, was wirin Deutschland noch tun müssen. Tatsächlich hat dieseKommission dazu beigetragen, dass in den Verbändenaufgeräumt wurde
und dass man sich an bestimmte Regeln hält. Das ist gutso. Aber jetzt müssen wir dranbleiben und konsequentsein: Dort, wo Verbände diese Auflagen verletzen, darfes keine staatliche Förderung für den Sport geben.
Das passiert schon beim Deutschen Eishockey-Bund;das ist gut so. Aber jeder andere Sportverband muss wis-sen: Diese Auflagen müssen erfüllt werden. Angesichtsder Kriterien, die deutlich machen, was alles zu machenist, wird klar, dass viele Verbände noch etwas tun müs-sen. Denen muss man signalisieren: Tut es, und zwarschnell und sorgfältig!
Ich komme zum Fall der Universität Freiburg. Inzwi-schen arbeitet die Untersuchungskommission in Baden-Württemberg die Verstrickungen und Finanzierungenvon Doping an der Universität in Freiburg auf. Aberdiese Aufarbeitung betrifft auch den Bund, weil auchBundestrainer im Einsatz waren und Bundesmittel ge-flossen sind. Deswegen sind wir vonseiten des Bundes inder Pflicht, nachzuschauen, was schiefgelaufen ist undwelche Konsequenz zu ziehen ist. Dabei werden wir Sieunterstützen.
Ich komme zum Schluss. Was der Sport braucht, istnicht nur Unterstützung durch die Politik; vielmehrbraucht er auch Anregungen und Denkanstöße. Das giltinsbesondere dann, wenn man den Eindruck hat, dass derSport selbst zu sehr auf den Spitzen- und Hochleistungs-sport konzentriert ist. Das ist die Aufgabe der Politik.Wir stehen für eine breite Sportpolitik, nicht nur für eineBreitensportpolitik. Wir wollen eine Politik, die Bewe-gung und Sport in der Gesellschaft und in den Sportver-bänden fördert: an der Spitze wie in der Breite.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Eberhard Gienger,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte zunächst einmal auf Frau Kunert eingehen, dieein Sportförderungsgesetz gefordert hat. Ich darf Ihnensagen, Frau Kunert: Das, was Sie zu Papier gebracht ha-ben, erinnert mich sehr an den Staatssport der DDR. Ichdarf hinzufügen: Die Gerechtigkeit, die Sie gefordert ha-ben, wurde in der DDR in ganz geringem Maße umge-setzt.
Dabei ging es darum, Leistung zu erbringen, und umnichts anderes.Ein Wort zu dir, Wini Hermann. Der Bund unterstütztden Sport mit relativ geringen Mitteln. Im Jahr 2003 be-trugen die Ausgaben für den Sport 3,9 Milliarden Euro.Davon haben die Kommunen 80 Prozent getragen, alsoungefähr 3,1 oder 3,2 Milliarden Euro, die Länder etwa650 Millionen Euro. Der Bund hat sich mit bescheide-nen 108 Millionen Euro beteiligt. Das war ein ganz ge-ringer Anteil für den Spitzensport. Ich glaube, dass dieseGewichtung richtig ist.Sport spielt in der Bundesrepublik Deutschland eineherausragende Rolle. Das gilt insbesondere für die Be-reiche Gesundheit, Kinder, Integration, Umwelt und Na-turschutz, aber auch für die Behindertenarbeit. Hochleis-tungssport ist wichtig, weil er, wenn Sie so wollen, einLehrmeister für Athletinnen und Athleten ist. Was kannman im Spitzensport alles lernen? Man kann lernen, er-folgreich sein zu wollen. Man lernt Disziplin und Flexi-bilität. Man lernt, seine Leistung morgens um acht oder,wenn es sein muss, auch einmal um Mitternacht zu er-bringen. Man lernt, mit Sieg und Niederlage umzugehen.Man lernt, aus Talsohlen herauszufinden und nach Sie-gen nicht abzuheben. Man lernt, dem Trainer, dem Wei-
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Eberhard Giengerseren, zuzuhören und seine Vorgaben umzusetzen. Manlernt Teamfähigkeit. All das sind Erfahrungen, die manauf das private und berufliche Leben – das gilt zum Bei-spiel für die Ausbildung –, aber auch auf das politischeLeben übertragen kann.Aus diesem Grund und wegen der Repräsentations-und Vorbildwirkung des Sports hat sich der Bund ent-schlossen, die Sportler stärker zu unterstützen. Die in-ternationale Konkurrenz wird immer größer. Die Bun-desrepublik Deutschland steht in Konkurrenz zu vielenanderen Nationen, die bei Olympischen Spielen eben-falls erfolgreich sein wollen, die sich dafür vorbereitethaben. In Korea, Großbritannien – die OlympischenSpiele finden 2012 in London statt –, Frankreich, Japanund vor allem in Australien wird erfolgreich Geld in denSpitzensport investiert. Dieses Parlament hat im vergan-genen Jahr dankenswerterweise die bis dahin gedeckel-ten Beträge um immerhin etwas mehr als 17,1 Millio-nen Euro aufgestockt, was dem Sport guttut. Seit 1992hat sich die Anzahl der Disziplinen bei OlympischenSpielen um 30 Prozent erhöht. Auch die Zahl der teil-nehmenden Nationen ist angewachsen. Im kommendenJahr rechnet man in Athen mit 205 teilnehmenden Natio-nen, also mit mehr Nationen, als die UN Mitglieder hat.Es sind also gute Rahmenbedingungen geschaffenworden. Allerdings ist auch klar, dass der Spitzensportwegen des Dopings – dieses Thema ist schon angespro-chen worden – in einer seiner größten, vielleicht sogarder größten Krise überhaupt steckt. Durch Gesetzesän-derungen ist es gelungen, Veränderungen herbeizufüh-ren. Das Wirken der NADA – Präventions- und Aufklä-rungsmaßnahmen sowie unangemeldete Trainings- undWettkampfkontrollen – hat zumindest bei den Betroffe-nen ein gewisses Maß an Sensibilität bewirkt.Ich möchte an dieser Stelle eines sagen: Die Athletin-nen und Athleten müssen berücksichtigen, dass sich dieZeiten geändert haben, dass sie in einer neuen Zeit leben.Genauso wie sich die Flugreisenden heutzutage auf allenFlughäfen kontrollieren lassen müssen, weil ein paar we-nige Terroristen das Gemeinwohl bedrohen, müssenauch die Athletinnen und Athleten davon ausgehen, dasszu ihrem Sport – beim Training und Wettkampf – eineDopingkontrolle gehört.
Das mag zwar lästig sein, gehört in Zukunft aber zumTraining und zum Wettkampf. Frau Kollegin Freitag,Ihre Bemühungen um eine ordentliche Gesetzgebung imRahmen des DIS – Deutsches Institut für Sportgerichts-barkeit – hierzu kann ich nur begrüßen. Ich werde dasnatürlich forcieren.Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen: Sportins Grundgesetz. Der Deutsche Olympische Sportbundhat im Oktober 2006 für die Aufnahme des Sports insGrundgesetz plädiert und ein entsprechendes Papier vor-gelegt. Wie Sie wissen, hat sich die CDU/CSU mit die-sem Thema beschäftigt, sich aber nicht für eine Auf-nahme des Sports als Staatsziel ins Grundgesetzausgesprochen. Als ehemaliger Leistungssportler undMitglied des Präsidiums des Deutschen OlympischenSportbundes einerseits und Abgeordneter der CDU/CSU-Fraktion andererseits schlagen zwei Herzen, ach,in meiner Brust: Auf der einen Seite würde mit der Ver-ankerung des Sports als Staatsziel im Grundgesetz diebesondere Bedeutung des Sports für unsere Gesellschaftgewürdigt.
Auf der anderen Seite muss man allerdings anerkennen,dass es gute Argumente für eine andere Einstellung zudiesem Thema gibt. Es gibt nämlich sehr wohl Interes-senten, die auch andere Staatsziele, wie Kinderrechtoder Nachhaltigkeit verankert wissen möchten.
Wir müssen uns die Frage stellen: Brächte das StaatszielSport dem Sport das, was er sich erhofft, brächte es denSport weiter? Diese Frage sollte Auslöser dafür sein,neue Gespräche darüber zu führen. Was meine Personanbetrifft, so würde ich gerne den Sport im Grundgesetzsehen. Ich habe aber auch Verständnis für die Argumen-tation der anderen.
Ich möchte noch einige Anmerkungen zur Sinnhaftig-keit der Fusion von Deutschem Sportbund und NOKzum Deutschen Olympischen Sportbund machen. Ichgebe zu, dass auch ich damals kein großer Freund derFusion war. Ich habe aber zugestimmt, nachdem das Ar-gument vorgebracht wurde, dass der Sport dann mit ei-ner Stimme sprechen könnte. Dadurch sind wir jetzt ineiner anderen Situation. 1980, als es um einen Boykottder Olympischen Spiele in Moskau ging, hat sich derSport gegenseitig zerfleischt: NOK gegen DSB, dazwi-schen die Deutsche Sporthilfe. Jetzt hat man erreicht,dass der deutsche Sport mit einer Stimme spricht. Ausdiesem Grunde wundere ich mich, weshalb dem Deut-schen Olympischen Sportbund so viel Kritik entgegen-schlägt, er habe als Interessenvertreter seiner Athletenseine Meinung, an den Olympischen Spielen in Pekingteilzunehmen, sehr früh bekannt gegeben.
Dies hat er in erster Linie getan, weil sich der Dalai-Lama selbst gegen einen Boykott ausgesprochen hat.
Winfried Hermann, vielleicht noch eines zu denBändchen.
Das muss jetzt aber ganz knapp erfolgen.
Ich komme zum Schluss, nur noch einen Satz. – DasIOC hat in Regel 51 Abs. 3 der Olympischen Chartaganz klar festgelegt, dass es nicht erlaubt ist, politischeoder religiöse Demonstrationen durchzuführen, dass die
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Eberhard GiengerAthletinnen und Athleten aber das Recht haben, sich beiPressekonferenzen, in öffentlichen Gesprächen und inder Mixed Zone zu äußern. Ich denke, dies ist eine guteLösung. Somit können auch die Athletinnen und Athle-ten ihr Scherflein zu den Menschenrechten in China bei-tragen.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Günther für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der Sportbericht der Bundesregierung und Sie,Herr Minister, haben einen Überblick über die Vielfältig-keit dieses Bereichs in unserem Lande gegeben. Deshalbkann jeder von uns nur ein Segment herausgreifen, zudem er hier seine Gedanken darstellt. Ich möchte auf dieThemen Doping und Sportstätten eingehen.Das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung desDopings im Sport hat einen langen Weg hinter sich.
Frau Kollegin Freitag, ich kann mich sehr gut daran erin-nern, dass vieles, das auch von Ihnen angekündigtwurde, sich am Ende leider nicht im Gesetz wiederge-funden hat.
Deshalb ist es interessant, zu sehen, wie wir mit diesemGesetz umgehen, vor allem, wie wir mit Personen umge-hen, die bereit sind, über die Dopingpraxis öffentlichauszusagen.Der Bayerische Rundfunk hat in seiner SendungReport München am 2. Juni dieses Jahres Jörg Jakscheinterviewt. Ich weiß nicht, wer von Ihnen die Sendunggesehen hat. Die Überschrift sagt eigentlich schon alles:Alle lieben den Verrat, keiner liebt den Verräter.Jaksche, ein Radprofi, hat reinen Tisch gemacht. Er hatdas flächendeckende Doping angesprochen und die Na-men der Hintermänner genannt. Er hat damit einen Ta-bubruch begangen: Er hat die Mauer des Schweigensdurchbrochen. Aber was ist jetzt? Er steht ohne Vertragda. Niemand will ihn in seinem Rennstall haben.Lassen Sie mich ein Zitat von Jörg Jaksche vortragen,das meines Erachtens alles sagt:Es ist eine Zweitwelt, in der man lebt im Radsport,die komplett abgeschottet ist vom normalen Leben.Also, das heißt, man erzählt, man lügt den Journa-listen, der Familie und so weiter eigentlich offenenAuges ins Gesicht und sagt: „Nein, das ist alles imRadsport nicht so.“ Natürlich ist das im Radsportso.Meine lieben Freunde, es ist schon bedrückend, wennman so etwas hört. Der Bayerische Rundfunk hatteRückfragen an sportliche Leiter anderer Mannschaftengestellt. Diese hatten überhaupt kein Interesse daran, aufdieses Thema einzugehen. Da muss man sich doch fra-gen: Wie weit sind wir bei der Austrocknung des Do-pingsumpfes? Wir sollten deshalb mit Blick auf dieOlympiade vorsichtig sein, wenn wir mit dem Doping-finger auf gewisse aufsteigende Nationen – ich möchtedas einmal vorsichtig umschreiben – zeigen.Wir alle im Haus sind uns darin einig, dass wir die in-ternationale Zusammenarbeit auf diesem Gebiet deutlicherweitern und verbessern müssen.
Herr Minister, Sie haben recht. Wir müssen die finan-zielle Grundlage, die bei uns durch die NADA schonverbessert wurde, aus meiner Sicht auf ganz andere Füßestellen. Man muss den Mut haben, über neue Dingenachzudenken. Ich gebe nur einen Anstoß: Vielleichtkönnte man einen gewissen Teil aller Spenden und allerSponsorings im Sport für den Dopingbereich verwen-den; ich denke hier an 0,3 bis 0,5 Prozent.
Die NADA leistet gute Arbeit. Wir müssen sie so stär-ken, dass sie auch international gut ankommt.
Einige kurze Bemerkungen zum Thema „Sportstät-ten in Deutschland“. Der DOSB hat vor zwei oder dreiJahren einen Sanierungsbedarf in Höhe von rund40 Milliarden Euro angegeben; diese Zahl wurde heuteschon genannt. Das ist eine gigantische Summe, die nie-mand auf einmal schultern kann. Das erwartet auch nie-mand. Wir sollten die Sanierungsfälle jedoch zum An-lass nehmen, die Chance zu nutzen, zukunftsorientierteKonzepte zu erarbeiten. Dabei ist die Berücksichtigungder demografischen Entwicklung in diesem Land uner-lässlich. In den letzten Jahren haben wir mit dem Golde-nen Plan zusätzlich 2 Millionen Euro zur Verfügung ge-stellt. Damit wurden vorrangig im Osten Sportstättengefördert. Ich glaube, es ist auch im Westen dringendnotwendig, dass auf diesem Gebiet etwas geschieht.
Wir sollten uns Gedanken darüber machen, wie wir indiesem Sinne einen gesamtdeutschen Plan auf den Wegbringen. Ich glaube, wir alle aus dem Sportbereich sinddazu bereit. Gehen wir diese Aufgabe konsequent an,vielleicht auch über Parteischranken hinweg. Dann ha-ben wir die Chance, dass die Sportstätten und der Sport,das Hauptargument für eine gesunde Entwicklung in un-serem Land, erhalten bleiben.Herzlichen Dank.
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Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Volker
Beck das Wort.
Herr Kollege Gienger, dies ist eine zentrale Debatte
im Rahmen der Debatten über die in Peking stattfinden-
den Olympischen Spiele. Es geht um die Frage, was
Sportler dort tun dürfen, um deutlich zu machen, dass sie
einerseits am sportlichen Wettkampf der Olympischen
Spiele teilnehmen wollen, sich andererseits aber trotz-
dem zu den Menschenrechten bekennen und auch ein
deutliches Signal an die chinesische Regierung senden
wollen. Wir als Deutscher Bundestag sollten klarma-
chen, dass ein Bekenntnis zu den Menschenrechten kein
Widerspruch zur Olympischen Charta sein kann.
Wenn Sportler das Bändchen mit der Aufschrift
„Sports for Human Rights“ tragen oder wenn sie in den
Sportstätten ein T-Shirt tragen, wie ich es in der Debatte
zu Tibet gezeigt habe, auf dem „Human Rights“ auf Chi-
nesisch und auf Englisch steht, dann kann das keine Ver-
letzung der Olympischen Charta sein. Das darf keine
Verletzung der Olympischen Charta sein.
Wir müssen die Zivilcourage der Sportlerinnen und
Sportler, der Olympioniken, unterstützen. Wir müssen
ihnen den Rücken stärken, statt zu sagen: So etwas muss
außen vor bleiben. Niemand käme auf die Idee, sich da-
ran zu stören, wenn Sportlerinnen und Sportler zu ihrer
nationalen Mannschaftstracht noch ein Kreuz am Hals
trügen. Nach der Olympischen Charta würde man ein
Bekenntnis zur eigenen Religion nicht ahnden. Genauso
wenig kann ein Bekenntnis zu den Menschenrechten ge-
ahndet werden. Das ist etwas anderes als der Ausspruch
„Freiheit für Tibet“ oder ein Bekenntnis gegen Atom-
kraft.
Die Menschenrechte und die Völkerverständigung
sind Grundlagen der olympischen Idee. Ich finde, wir als
Deutscher Bundestag sollten deutlich machen, dass wir
an der Seite derjenigen stehen, die das auch in Peking
zum Ausdruck bringen werden.
Zur Erwiderung erhält der Kollege Gienger das Wort.
Kollege Beck, die Aussagen, die Sie getroffen haben,
sind nicht neu. Es gibt im Sport Regeln. Regel 51 Abs. 3
der Olympischen Charta besagt eindeutig, dass politi-
sche
und religiöse Demonstrationen nicht erlaubt sind. Das
bedeutet, ein solches Bändchen ist ähnlich zu werten wie
der Handschuh, den die Sprinter bei der Siegerehrung
der Olympischen Spiele im Jahre 1968 in die Höhe ge-
halten haben. Es ist so zu werten, als ob ein Teilnehmer
mit dem Foto seines Staatspräsidenten einmarschiert.
Sie haben als Beispiel das Tragen eines Kreuzes er-
wähnt. Im Fußball ist es nicht erlaubt, solche Schmuck-
stücke zu tragen. Es gibt Regeln, die in Leichtathletiksta-
dien gelten, es gibt Regeln, die in Fußballstadien gelten,
und es gibt Regeln, die im Deutschen Bundestag gelten.
Den Zuschauern und Gästen ist es beispielsweise nicht
erlaubt, auf der Tribüne zu demonstrieren. Diese Regel
ist eine sehr gute Regel.
Allerdings muss man auch die Sportler schützen, die
ihre politische Meinung nicht in Form einer Demonstra-
tion zum Ausdruck bringen wollen. Ich habe gerade ge-
sagt: Auf Pressekonferenzen, in Interviews und in Ge-
sprächen ist es erlaubt, seine persönliche Meinung zu
artikulieren. In diesem Rahmen hat jeder Sportler, jeder
Funktionär und jeder Teilnehmer einer Olympiamann-
schaft die Möglichkeit und das Recht, sich zu artikulie-
ren und seine politische Meinung kundzutun. Ob das
letztlich zu einer Veränderung der Menschenrechtslage
in China beiträgt oder nicht, sei dahingestellt; aber es
gibt diese Möglichkeit. Ich glaube, das ist eine gute Lö-
sung.
Das Wort erhält nun der Kollege Martin Gerster für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Sehr geehrter Herr Minister Schäuble! Wenn mandie 124 Seiten des 11. Sportberichts der Bundesregie-rung – ein gutes Pfund Papier – liest und feststellt, wassich hinter den Ergebnissen und Tabellen, die Tag fürTag in Sportzeitungen abgedruckt sind, verbirgt, dannstellt man sehr schnell fest, dass der Sport wesentlichmehr ist als körperliche Ertüchtigung. Der Sport leisteteinen Beitrag dazu, dass verschiedene Generationen zu-sammenkommen und dass zwischen Menschen, die sichohne den Sport vielleicht nie kennengelernt hätten, einZusammenhalt entsteht, unabhängig von ihrer Herkunft,ihrer sozialen Zugehörigkeit und ihrer Hautfarbe. Sportist sozialer Kitt in unserer Gesellschaft. Ich denke, dasist die eigentliche Botschaft, die vom Sport und auchvom 11. Sportbericht der Bundesregierung, den wirheute diskutieren, ausgeht.
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Martin GersterUmso schlimmer ist es, dass einige Gruppen denSport missbrauchen wollen, um Gewalt zu provozierenund Rechtsextremismus in unsere Gesellschaft zu tra-gen. Es ist wichtig, dass von uns, der Politik, das klareSignal ausgeht: Wir wollen nicht, dass der Sport fürZiele, die nichts mit Sport zu tun haben, missbrauchtwird.
Deshalb ist es notwendig, dass die Bundespolitik dieFanprojekte im Sport, insbesondere im Fußball, unter-stützt.
Ich finde es gut, dass die Bundesregierung und wir, dasParlament, die Koordinierungsstelle für Fanprojekte inFrankfurt mit Mitteln in Höhe von 165 000 Euro unter-stützen. Allerdings ist dieser Betrag das untere Limitdessen, was wir hierfür bereitstellen könnten. Eigentlichmüssten wir diese Mittel aufstocken.
Außerdem müssen wir endlich eine gemeinsame Initia-tive auf den Weg bringen, um dafür zu sorgen, dass auchdas einzige Bundesland, das sich bisher nicht beteiligt,nämlich Baden-Württemberg,
einen Beitrag dazu leistet, dass beim VfB Stuttgart einFanprojekt zur Bekämpfung von Gewalt und Extremis-mus im Fußball unterstützt wird.
Ob eine Gesellschaft solidarisch ist oder nicht, lässtsich daran messen, wie sie mit Menschen, die ein Handi-cap haben, die also benachteiligt oder behindert sind,umgeht.
Wir müssen deutlich machen, dass der Bund den Deut-schen Behindertensportverband und die Teilnehmerin-nen und Teilnehmer der Paralympics unterstützt.
65 Prozent der Ausgaben im Bereich des Behinderten-sports, des Leistungssports, des Breitensports und derRehabilitation, werden vom Bund getragen. Wir müssenzum Ausdruck bringen, dass wir in diesem Bereich einegesamtgesellschaftliche Aufgabe erfüllen, die sonst wo-möglich niemand wahrnehmen würde. Das ist auch einKennzeichen dafür, dass wir in Deutschland eine solida-rische Gesellschaft aufgebaut haben, dass uns dieseMenschen wichtig sind. Ich glaube, die behindertenSportlerinnen und Sportler sind wahre Vorbilder für un-sere Gesellschaft.
An dieser Stelle möchte ich den Mitarbeiterinnen undMitarbeitern des Verteidigungsministeriums meinenDank aussprechen, die unkompliziert gehandelt haben,als Verena Bentele, eines unserer Aushängeschilder, ei-nen Begleitläufer suchte – sie ist von Geburt an blind –und zu klären war, wo dieser Begleitläufer arbeitenkann, wenn er gleichzeitig mit Verena Bentele trainierensoll. Es ist gelungen, den Begleitläufer in einer Förder-gruppe der Bundeswehr unterzubringen. HerzlichenDank noch einmal, auch im Namen von Verena Bentele,an das Verteidigungsministerium! Dass das geklappt hat,ist ein Zeichen dafür, dass wir den Behindertensport un-terstützen.
Ich war dabei, als Minister Schäuble letzte Woche imHilton zahlreichen Sportlerinnen und Sportlern das Sil-berne Lorbeerblatt verliehen hat. Es wurde deutlich,welche Vielfalt es im deutschen Sport gibt: Er bestehtnicht nur aus Fußball, Handball, Basketball, nein, 4 Mil-lionen Menschen, organisiert in 27 Spitzenverbänden,engagieren sich in den sogenannten nichtolympischenSportarten. Auch von diesen Menschen wurden letzteWoche viele für ihre Leistung ausgezeichnet.Wir müssen darüber nachdenken, ob es richtig ist,dass bei Treffen des DOSB die nichtolympischen Ver-bände – sie erhalten gerade einmal 2,5 bis 4 Prozent För-derung – als „die Skontoverbände“ abgetan werden;diese Förderung geht nicht zulasten der olympischenVerbände. Wir müssen darüber diskutieren, wie eine ent-sprechende Würdigung dieser Sportarten erfolgen kann,auch im Hinblick darauf, dass Deutschland, Düsseldorf2013 Gastgeber der World Games sein wird. Herr Minis-ter Schäuble, ich hoffe, dass es in Zusammenarbeit mitIhrem Hause gelingt, die Finanzierungsgrundlagen hier-für zu schaffen. Es heißt, dass die olympischen Sport-arten vorrangig zu bedienen sind. Daran gibt es keinenZweifel. Das heißt aber nicht, dass die anderen nachran-gig sind und nur noch das bekommen, was als Rest übrigbleibt.
Ich will den Bogen zum Ehrenamt schlagen. Es wirdja oft kritisiert, der Spitzensport werde gefördert, derBreitensport aber vernachlässigt. Eine Säule aller Akti-vitäten im Sport ist das Ehrenamt. Vom Spitzensport ge-hen hier wichtige Signale aus. In meiner HeimatstadtBiberach fand letztes Jahr zum ersten Mal ein großesLeichtathletikmeeting statt, und in wenigen Wochenwird das zweite stattfinden. Der Sportkreis Biberach unddie zahlreichen Sportvereine mit ihren Ehrenamtlichenmachen jetzt einen Fackellauf durch die ganze Region,an dem sich Tausende von Freizeitsportlern beteiligen.Das ist das, was wir wollen: dass der Spitzensport An-reize gibt, Motivation gibt, sich sportlich zu betätigen,um weitere Aktivitäten und Aktionen entfalten zu kön-
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Martin Gersternen. Deswegen ist es gut, dass wir auf Initiative der Bun-desregierung das Gesetz zur weiteren Stärkung des bür-gerschaftlichen Engagements auf den Weg gebrachthaben. Wir würdigen durch die Erhöhung des Steuerfrei-betrags die Leistung der vielen Ehrenamtlichen undwertschätzen die Vereine.Lieber Detlef Parr, du hast vorhin auf die Thematikder Sportwetten hingewiesen. Ich war am Samstag beieiner Veranstaltung des Württembergischen Landes-sportbundes. Auf dieser Veranstaltung hat auch FDP-Minister Goll ausdrücklich gelobt, dass wir uns auf denStaatsvertrag geeinigt haben.
Bei all dem, was ich höre, kann ich nur die Frage stellen:Warum macht die FDP in den Ländern das Gegenteilvon dem, was die FDP-Bundestagsfraktion fordert?Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Stephan Mayer,
CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenKolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Ich möchte michmit einem Ereignis beschäftigen, das angesichts derJahreszeit und angesichts des Zeitpunktes, zu dem esstattfinden wird, noch nicht im Fokus der öffentlichenWahrnehmung steht, das aber insbesondere aufgrund desgedrängten Zeitplans voller Konzentration bedarf. Wirhaben die herausragende Chance, im Jahr 2018 erstmalsseit 1972 auf deutschem Boden wieder die OlympischenSpiele auszurichten, und zwar in München.
Die Bewerbung Münchens birgt enorme Chancen insich. Es wäre ein Novum in der olympischen Geschichte,wenn in einer Stadt sowohl Olympische Sommerspieleals auch Olympische Winterspiele stattfänden. Die Be-werbung Münchens ist aber nicht nur eine BewerbungBayerns, sondern eine deutsche Bewerbung. Gerade des-halb bin ich dem Deutschen Olympischen Sportbundsehr dankbar dafür, dass er sich auf seiner Mitgliederver-sammlung am 8. Dezember letzten Jahres einstimmig– wohlgemerkt einstimmig – hinter die BewerbungMünchens gestellt hat. Ich weiß, es war nicht einfach.Letztendlich aber haben sich alle bereit erklärt, die Be-werbung zu unterstützen.
Bayern ist Wintersportland. Es hat schon vielfach ge-zeigt, dass es ein hervorragender Austragungsort fürsportliche Großwettkämpfe ist. Letztmals war dies imJahr 2005 der Fall, als dort die Nordische Ski-WM inOberstdorf stattgefunden hat. Im Jahr 2011 wird die Al-pine Ski-WM in Garmisch-Partenkirchen stattfinden. Ichdenke, dass wir auch gut daran täten, die Bewerbungenvon Inzell für die Eisschnelllauf-WM 2011 und vonRuhpolding für die Biathlon-WM 2012 zu unterstützen.Die Olympiabewerbung Münchens für das Jahr2018 birgt hervorragende Vorteile in sich. Ein ganz ent-scheidendes Kriterium – meines Erachtens sogar das we-sentliche Kriterium – ist: Die Bevölkerung in Münchenund im übrigen Bayern steht hinter dieser Bewerbung.Über 80 Prozent der Bevölkerung unterstützen die Be-werbung Münchens für die Olympischen Winterspiele.Über 90 Prozent der gesamten Bevölkerung Bayernswissen bereits von der Bewerbung Münchens.
Dies ist ein enormer Vorteil. Erinnern Sie sich nur ein-mal an die Bewerbung Salzburgs für die Winterolym-piade 2014. Nach den Bekundungen des IOC war dieBewerbung Salzburgs zum Scheitern verurteilt, weil dieösterreichische Bevölkerung – insbesondere die Salzbur-ger – leider Gottes nicht hinter der Bewerbung stand. Ichglaube, ganz Deutschland wäre gut beraten, hinter derBewerbung Münchens bzw. Bayerns für die Winter-olympiade 2018 zu stehen.
Ein weiteres wesentliches positives Kriterium ist,dass Bayern, das Alpenvorland, über professionelle undweltweit anerkannte Wettkampfstätten verfügt.
Wir werden ein ökologisches, ein nachhaltiges Nut-zungskonzept aufstellen. Der größtmögliche Anteil derWettkampfstätten wird nach den Olympischen Winter-spielen weiter genutzt werden können. Sehr verehrterKollege Hermann, mit einer Austragung der Olympi-schen Winterspiele würden wir ganz neue Maßstäbe hin-sichtlich des Themas „Sport und Klimaschutz“ setzen.Gerade deshalb glaube ich, dass es sehr schön wäre,wenn die Bewerbung Münchens erfolgreich wäre.
Ein weiterer wesentlicher Vorteil ist, dass die Bewer-bungskosten von ungefähr 30 Millionen Euro, die zu-nächst anfallen, größtenteils von der Privatwirtschaft ge-tragen werden. Die öffentliche Hand – sowohl derFreistaat Bayern als auch der Bund – wird also zunächstnicht zur Kasse gebeten. Weiterhin verfügt das Alpenvor-land über eine hervorragende Verkehrsinfrastruktur,die hier und da natürlich noch ausgebaut und verbessertwerden muss. Die erforderliche Verkehrsinfrastruktur,sowohl im Bereich Straße als auch im Bereich Schiene,ist aber bereits vorhanden.
Die Bewerbung Münchens birgt auch enorme Chan-cen für Bayern – und natürlich auch für Deutschland –als Tourismusland, weil die Besucherinnen und Besu-cher, die Gäste der Olympischen Winterspiele nicht nurin München bleiben, sich nicht nur in Bayern bewegen,
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Stephan Mayer
sondern natürlich ganz Deutschland erkunden und be-sichtigen werden.Die nächsten Schritte stehen an. Zunächst einmal giltes, dass München Candidate City wird, also in den enge-ren Bewerberkreis kommt. Dies wird im Juli 2010 derFall sein. Der entscheidende Punkt ist, dann bei der Ver-gabe im Juli 2011 zum Zuge zu kommen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Jahr2006 hatten wir mit der Fußballweltmeisterschaft einSommermärchen.
Herr Kollege!
Wir haben nun die hervorragende Möglichkeit, ein
Wintermärchen im Jahr 2018 anzuschließen.
In der olympischen Hymne heißt es:
Herr Kollege, die können Sie jetzt aber nicht mehr
komplett vortragen.
Ebenen, Berge und Meere leuchten von dir
Wie ein weißer und purpurfarbener großartiger Tem-
pel …
Sehr geehrter Herr Präsident, Sie werden mir mit Sicher-
heit recht geben: Mit diesem Zitat kann nur Bayern ge-
meint sein. Lassen Sie uns die Bewerbung Münchens
deshalb mit viel Leidenschaft, aber auch mit viel Kraft
und Elan unterstützen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Mayer, ich gebe Ihnen ausdrücklich
recht, dass sich dieses Zitat vorzüglich als Einstieg in die
Rede geeignet hätte. Aber es ist immer hochgradig ris-
kant, es für einen Zeitpunkt zurückzustellen, der schon
jenseits der gewährten Redezeit liegt.
Nun erhält die Kollegin Petra Heß das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Herr KollegeMayer, wir haben jetzt fast Glück gehabt, dass Sie dieolympische Hymne nicht noch gesungen haben.
Im Übrigen ist auch Thüringen ein hervorragendes Win-tersportland.Deutschland ist eine sportbegeisterte Nation. Die stei-gende Zahl der Übergewichtigen in unserem Land zeigtaber auch, dass diese Begeisterung oftmals passiv gelebtwird. Man schaut halt gern zu, wenn sich andere schin-den. Dabei stellt der deutsche Schriftsteller MartinKessel fest:Der Sport ist eine Tätigkeitsform des Glücks.Ich freue mich, dass ich dem 11. Sportbericht derBundesregierung viel Positives entnehmen konnte, sobei Spitzensport und Bundeswehr. Beides ist untrennbarmiteinander verbunden. Es ist mir daher ein besondersAnliegen, auf den Bereich Sportförderung innerhalb derBundeswehr und der Bundespolizei einzugehen.Der 11. Sportbericht stellt fest, dass Sport und Sport-ausbildung einen hohen Stellenwert bei Bundeswehrund Bundespolizei genießen. Das stimmt. Für die Ein-satzfähigkeit der Streitkräfte und der Bundespolizei istdie körperliche Leistungsfähigkeit der Soldaten undBundespolizisten unerlässlich. Eigens ausgebildeteSportausbilder bzw. Sportleiter stehen den Soldaten undBundespolizisten hierbei zur Seite. Bundeswehr undBundespolizei verfügen über gute materielle Vorausset-zungen, wobei ich aber an dieser Stelle nicht unerwähntlassen möchte, dass gerade bei der Bundeswehr in denalten Bundesländern Nachholbedarf besteht. Im Rahmendes Sonderprogramms „Sanierung Kasernen West“ wer-den in den nächsten Jahren 645 Millionen Euro aufge-wendet, die natürlich auch zu einer Verbesserung derSportinfrastruktur beitragen werden.Dies allein wird aber nicht genügen und ist sicherauch nicht der alleinige Grund dafür, dass es um dieFitness unserer Soldaten nicht ganz so gut bestellt ist.Ursächlich sind nach Meinung des Wehrbeauftragten zuwenig Zeit für den Sport im Dienst sowie zu wenigeSportlehrer und Übungsleiter. Hier muss die Bundes-wehr als Dienstherr gegensteuern und dafür sorgen, dassdie eigens geschaffene Zentrale Dienstvorschrift „Sportin der Bundeswehr“ an allen Standorten gelebt wird.
Hier sind insbesondere die Vorgesetzten gefordert.So getrübt das Bild bei der allgemeinen Fitness unse-rer Soldaten ist, umso besser stellt sich die Bundeswehrbei der Spitzensportförderung dar. Als Partner desDeutschen Olympischen Sportbundes nimmt die Bundes-wehr eine herausragende Stellung ein. Über 700 Sportsol-daten leisten in derzeit 18 Sportfördergruppen ihrenDienst, die grundsätzlich in der Nähe von Olympiastütz-punkten bzw. deren Außenstellen und Bundesleistungs-zentren eingerichtet sind. Durch diese räumliche Nähefindet ein ständiger Austausch zwischen den verschiede-nen Leistungsträgern statt.Die Sportsoldaten tragen mit beachtlichen Ergebnis-sen bei Olympischen Spielen sowie Welt- und Europa-meisterschaften zu einem hohen Ansehen Deutschlandsbei. Bei der Winterolympiade 2006 in Turin stellte dieBundeswehr 45 Prozent der Sportler, die wiederum66 Prozent der Medaillen erkämpften. Ein ähnlich gutesBild gab es bei der Sommerolympiade 2004 in Athen. In
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Petra Heßwenigen Wochen werden in Peking die OlympischenSommerspiele 2008 beginnen. Die Bundeswehr wirdauch diesmal wieder stark vertreten sein und circa einDrittel der Athleten stellen.Doch zurück zum aktuellen Sportbericht: Hier wirdnoch von einer Reduzierung der Plätze für Spitzensport-ler bei der Bundeswehr von 744 im Jahr 2006 auf 664 imJahr 2010 ausgegangen. Diese Absenkung der Stellenwird nicht erfolgen, und das ist gut so.
Im Gegenteil: Die Plätze für Spitzensportler werden auf784 angehoben. Hierfür gebührt dem Verteidigungsminis-ter mein ausdrücklicher Dank. Lieber Kollege Kossendey,geben Sie es bitte weiter.Durch die Förderung von Spitzensportlern der Bun-deswehr ist es auch möglich, mit leistungsstarken Mann-schaften an Sportwettkämpfen mit Streitkräften andererNationen teilzunehmen. Auch hier werden beachtlicheErfolge erzielt.Aber nicht nur die Bundeswehr, sondern auch dieBundespolizei betreibt eine erfolgreiche Spitzensportför-derung. So werden bei der Bundespolizeisportschule inBad Endorf 81 Beamtinnen und Beamte in elf olympi-schen Wintersportarten und im Bundespolizeileistungs-sportprojekt Cottbus beim Olympiastützpunkt Cottbus/Frankfurt an der Oder 53 Beamtinnen und Beamte indrei Sommersportarten trainiert.Auch diese Ergebnisse können sich sehen lassen. Eskonnten zum Beispiel im Zeitraum 2002 bis 2005 beiOlympischen Spielen 17 und bei Weltmeisterschaften 41Medaillen erkämpft werden. Da ist ebenfalls eine ein-drucksvolle Bilanz.
Gestatten Sie mir noch einige Worte zur beruflichenAusbildung unserer Sportlerinnen und Sportler. Hiergibt es derzeit noch sehr unterschiedliche Modelle. Wäh-rend die Polizei im Regelfall auf Wunsch nach dem akti-ven sportlichen Dienst die Übernahme in den Polizei-dienst anbietet und parallel zur sportlichen auch diebundespolizeiliche Ausbildung gewährleistet, findet diesin dieser Form in der Bundeswehr nicht statt. Nun hinktzwar der Vergleich, Herr Minister Schäuble, da bei derBundeswehr der Anteil der Sportler ungleich höher ist;
trotzdem muss die Bundeswehr nach praktikableren oderflexibleren Verfahrensweisen suchen, die einen besseren,einen gleitenderen Einstieg in das künftige Berufslebenmöglich machen.
Hierbei sollten die verschiedenen staatlichen Institutio-nen ähnliche Verfahrensweisen anbieten. Dazu wird esnoch Gespräche geben müssen. Auch die Dienstzeitver-längerung für die Sportsoldaten der Bundeswehr um je-weils immer nur ein Jahr sollte noch einmal auf denPrüfstand.Gestatten Sie mir, dass ich zum Abschluss noch eineForderung an die Verbände loswerde. Sie wissen, dieBundesrepublik ist der größte Sponsor des Spitzen-sports. Allein die Bundeswehr gibt Jahr für Jahr circa25 Millionen Euro für den Spitzensport aus.
Was die Verhandlungen zwischen Verbänden und Spon-soren angeht, bitte ich Sie, geeignete Möglichkeiten zufinden, um die Sportlerinnen und Sportler in die Lage zuversetzen, zum Ausdruck zu bringen, wer ihr Dienstherrist, der ihnen diese sportlichen Voraussetzungen erst er-möglicht. Die geförderten Sportler sind nun einmal un-sere Multiplikatoren, die Sympathieträger der Polizei,des Zolls und der Bundeswehr. So sollte es auch möglichsein, dass sie das mit einem gewissen Stolz in die Welttragen.
Ein kleines Logo bei Wettkämpfen – Herr Kollege Gien-ger, das könnten Sie auch an den DOSB weiterleiten –tut nicht weh. Diese Leistungssportler demonstrierennämlich, wie schön Sport und vor allen Dingen saubererSport sein kann.Ich wünsche unseren Teilnehmern bei den Olympi-schen Spielen in Peking faire Wettkämpfe und vor allenDingen tolle Ergebnisse für unser schönes Land.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Klaus Riegert ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In eineraußerordentlichen Hauptversammlung im Jahre 1912wurde im Protokoll verzeichnet: Georg Rau verkündetFreibier für alle. – Warum, weiß ich nicht, aber es wurdeeinstimmig beschlossen.
Auf den Antrag der Linken möchte ich nicht nähereingehen, sondern nur feststellen: Eine Verstaatlichungdes Sports ist mit uns nicht zu machen. Die in Ihrem An-trag erhobenen Forderungen nach „Schaffung von öf-fentlich finanzierter Beschäftigung im Bereich des ge-meinnützigen Sports“ und einer „Einführung einerzweckgebundenen Abgabe auf Umsätze aus Sportwer-bung für die Sportförderung“ sowie die übrigen zehnPunkte lesen sich wie ein Verstaatlichungsprogramm für
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Klaus RiegertSport. Das ist mit unserem Gesellschaftsverständnis undder Autonomie des Sports unvereinbar.
Lassen Sie mich einige Sätze zum Sportbericht sagen.Wir haben gemeinsam beschlossen, dass der nächste Be-richt auch einen Ausblick auf die zukünftige Sportpolitikgewähren soll. Der Kollege Mayer hat uns den weitestenAusblick bereits gegeben. Auch Stuttgart und Baden-Württemberg freuen sich auf München 2018.
Herr Kollege Riegert, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Bunge?
Gerne.
Bitte schön.
Kollege Riegert, Sie setzen das Sportfördergesetz
mit der Verstaatlichung des Sportes gleich. Ist Ihnen be-
kannt, dass es in Mecklenburg-Vorpommern – also auf
Landesebene – seit acht Jahren ein Sportfördergesetz
gibt, das viele Regelungen enthält, die zur Verstetigung
des Sports beitragen? Meinen Sie, dass dort jetzt der
Kommunismus ausgebrochen ist?
Liebe Frau Kollegin, mir ist sehr wohl bekannt, dasses in einigen Bundesländern – nicht nur in den neuen,sondern auch in den alten – Sportfördergesetze gibt.
Aber Sie sollten die zwölf Punkte in Ihrem Antrag genaulesen. Ihr Antrag trieft regelrecht vor Verstaatlichung desSports. Es geht nicht um Autonomie und Selbstbestim-mung. Sie wollen offensichtlich starken staatlichen Ein-fluss haben. Das lehnen wir deutlich ab.
Herr Kollege Hermann, ich komme nun auf Sie zusprechen. Wenn ich Reden und Taten vergleiche, stelleich fest: Viele schöne Reden wurden gehalten. Aber esgibt offensichtlich nur wenig zu kritisieren. Ich erinnereSie aber daran, dass Sie in sieben Jahren Regierungszeitnicht einen Gesetzentwurf in diesem Bereich vorgelegthaben. Sie haben zwar sieben Jahre ein Antidopingge-setz gefordert, aber nicht eine Zeile zu Papier gebracht.Da war völlige Fehlanzeige!
Ähnlich sieht es in der auswärtigen Kulturpolitik aus. IhrAußenminister Joschka Fischer hat Jahr für Jahr die An-sätze nach unten gefahren. Wir haben das jetzt korrigiertund sie erhöht. Sie sollten Reden und Taten stärker ver-gleichen. Wir, Bund und Länder gemeinsam, haben im-merhin 490 Millionen Euro in die Hand genommen. Ichnenne als Stichworte nur „Hilfen für Helfer“, das Ge-meinnützigkeitsrecht und das Stiftungsrecht. Wir habensehr viel für den Breitensport getan.Sport eint, im Gegensatz zur Sportpolitik. Sport inte-griert. Sport hält gesund. Sport bildet. Sport aktiviert.Menschen, die Sport treiben, tun das oft in Vereinen. Sounterstützt der Sport etwas, was für unsere Gesellschaftin den vor uns liegenden Jahrzehnten von grundlegender,entscheidender Bedeutung sein wird: den Zusammen-schluss und das Zusammenwirken von Menschen. DieGesellschaft muss noch stärker als bisher auf den Indivi-duen, den Bürgern, und den von ihnen gebildeten Verei-nigungen, Verbänden und Stiftungen ruhen. Die Autono-mie des Sports darf nicht angetastet werden.
– Danke schön, Herr Gienger.Breitensport und Spitzensport sind kein Gegensatz,keine Konkurrenz. Sie stehen in einem komplementärenVerhältnis zueinander. Beide brauchen einander. Ichnenne fünf Punkte, die zeigen, dass wir auch in BerlinPolitik für den Breitensport machen.Erster Bereich: Vereine und Ehrenamt. Der deut-sche Sport mit seinen über 87 000 Vereinen und den sietragenden Organisationen ist Spiegelbild unserer Gesell-schaft. Die über 2,5 Millionen ehrenamtlich Tätigenübernehmen gesellschaftliche Aufgaben, die der Staat indieser Komplexität und Qualität nicht leisten könnte undnach unserem Verständnis auch nicht leisten sollte. Eh-renamtliche Tätigkeit ist Teil des Lebens, gibt Lebens-sinn und steigert die Lebensqualität. Der Sport und seineVereine sind gesellschaftliche Selbstorganisationen, indenen sich bürgerschaftliches Engagement als Teil einerfreiheitlich-demokratischen Gesellschaft entwickelt. Mitdiesen gewachsenen Strukturen leisten Sportvereine ei-nen bedeutenden Beitrag auf dem Weg in eine Bürgerge-sellschaft. Für dieses Engagement gebührt den ehren-amtlich Tätigen besonderer Dank, Anerkennung undUnterstützung.
Zweiter Bereich: Bewegungserziehung und Schul-sport. Der vorschulischen Bewegungserziehung und demSchulsport kommen eine hohe Bedeutung zu. Wir sagenJa zu täglichen Bewegungszeiten in der vorschulischenErziehung und in der Grundschule. Wir wollen Qualitätund ein Mindestmaß an Bewegung. Lieber Detlef Parr,der Sportausschuss wird auch in Zukunft – obwohl erhierfür nicht zuständig ist – immer wieder den Finger indie Wunde legen.
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Klaus Riegert
Dritter Bereich: Gesundheit und Prävention. Ich be-grüße das Engagement des Sports, seiner Organisationenund Vereine bei Gesundheitserziehung, Gesunderhaltungund Prävention. Sie leisten damit einen wichtigen Bei-trag zur Erhaltung der Gesundheit.Vierter Bereich: Senioren. Die steigende Zahl ältererMenschen in Sportvereinen ist erfreulich. Immer mehrälter werdende Menschen beugen Alterungsprozessen,chronischen Erkrankungen und Behinderungen durchSport und Bewegung vor. Vereine, Verbände und Ein-richtungen der Seniorenarbeit und Altenpflege sind auf-gefordert, entsprechende Angebote zu entwickeln.Fünfter Bereich: Sportstättenbau/Sportinfrastruk-tur. Es bleibt eine vorrangige Aufgabe der Länder undKommunen, den Sportstättenbau und die Sportinfra-struktur zu verbessern und in ganz Deutschland den Sa-nierungsstau abzubauen, aber bitte mit eigenem Geld,das wir durch eine gute Haushalts- und Finanzpolitikund durch die Schaffung guter Rahmenbedingungen denLändern und Kommunen zur Verfügung stellen.Meine Damen und Herren, es ist schon mehrfach an-gesprochen worden: Es steht uns ein großer Sportsom-mer bevor: die Fußballeuropameisterschaft in Österreichund der Schweiz und die Olympischen Spiele in Peking.Wir wünschen allen Teams und allen Athletinnen undAthleten viel Erfolg!
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Peter Danckert, SPD-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident! Ich versuche, nach § 33Satz 1 der Geschäftsordnung zu verfahren.Wir diskutieren heute den 11. Sportbericht und einenAntrag der Fraktion Die Linke. Zunächst zu dem Antragund der Sprecherin der Linken, Katrin Kunert. Gegenden Feststellungsteil im Antrag ist wenig zu sagen. Da-rüber findet sich hier sicherlich breiter Konsens. Was dieForderungen an die Bundesregierung angeht, so fehlt esschlicht an der verfassungsrechtlichen Grundlage. Mankann vieles fordern, aber solange wir die nicht haben,geht der Antrag leider ins Leere. Deshalb müssen wir ihnablehnen.Jetzt zu dem Sportbericht, der eigentlich im Zentrumsteht. Ich möchte zunächst einmal den Geschäftsführernunserer Fraktionen danken, dass sie uns in der Kernzeitdie Gelegenheit geben, das Thema Sport breit zu disku-tieren, und das ist gelungen; sonst sind wir immer erstam späten Nachmittag an der Reihe.
Der zweite Dank gilt dem Sportminister und seinemHause. Das will ich ausdrücklich sagen; denn Sie, HerrMinister, haben mit dem Sportbericht die Grundlage fürunsere Diskussion heute gelegt, obwohl – ich kommedarauf noch zurück – davon wenig Gebrauch gemachtworden ist. Nur vereinzelt ist er angesprochen worden,obwohl er eigentlich heute im Zentrum stehen sollte. DieMitarbeiter Ihres Hauses haben wirklich sehr viel Interes-santes und Lesenswertes zusammengetragen. Ich möchtediese Gelegenheit nutzen, mich bei einem Mann zu be-danken, der über viele Jahre für den Sport in IhremHause zuständig war: Klaus Pöhle.
Klaus Pöhle hat sich um den Sport verdient gemacht unduns die Zusammenarbeit erleichtert. Er ist jetzt nach vie-len Jahren, die er in diesem Amt war, ausgeschieden.Richten Sie ihm den Gruß bitte noch aus.
Es ist wirklich sehr erfreulich, wenn man auf der Ar-beitsebene – da sind häufig die Ansprechpartner – mitMenschen zu tun hat, bei denen man spürt, dass sie nichtnur eine Funktion wahrnehmen, sondern dass es ihnenwichtig ist, etwas für den Sport zu tun. Soweit der Dankan die Berichtsverfasser.Ich glaube, wir haben heute hin und wieder etwas zudiesem Thema gehört. Ich finde es interessant, wie manden 11. Sportbericht diskutieren kann. Am besten hatmir die Rede von Stephan Mayer zur BewerbungMünchens 2018 gefallen.
Es war wirklich genial, wie du die Kurve gekriegt hast.In Bayern werden sie dich ewig dafür loben, dass du einesolche Parlamentsdebatte nur dafür genutzt hast, dich fürdie Bewerbung einzusetzen.
Ich empfehle, dass dieser Beitrag an alle IOC-Mitgliederversandt wird. Das wird sich sicherlich lohnen. Wir ha-ben hier nicht zu entscheiden, aber wir unterstützen dieBewerbung. Die IOC-Mitglieder sind die eigentlichenPersonen, die das wissen müssen.
– Ja, die Stimmung in Bayern ist so, dass 90 Prozent– du hast es uns gesagt – dafür sind. Ich bin davon über-zeugt, nach der Rede sind es 99 Prozent. Das wird sichvermutlich auch auf das Ergebnis deiner Partei bei denLandtagswahlen positiv auswirken. Da bin ich ganz si-cher.
Ich muss allerdings ein kritisches Wort zu dem sagen,was mein Freund Eberhard Gienger gesagt hat. Das kann
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Dr. Peter Danckertich mir nicht ersparen. Ich meine das Thema Menschen-rechte. Ich hatte gehofft, dass wir es heute nicht berüh-ren müssen. Das Thema Menschenrechte steht über al-lem, was wir tun – hier im Parlament, im Land und inder Welt. Ich finde es sehr merkwürdig, dass das IOCund einzelne Repräsentanten des IOC versuchen, diesesThema so tief wie möglich zu hängen. Wir können dochnicht übersehen, was in Tibet geschehen ist. Wenn dieWeltgemeinschaft davor die Augen verschließt, dann hatsie ihre Aufgabe nicht erfüllt.
Um es klar zu sagen: Ich erwarte vom Sport nicht, dassdurch ihn diejenigen Probleme gelöst werden, die diePolitik und die Wirtschaft nicht lösen können. An dieserStelle zu schweigen, ist aber völlig verkehrt.
Nun komme ich zu etwas ganz besonders Kritischem.Der Fraktionskollege Winfried Hermann von den Grü-nen hat ein bestimmtes Band um den Arm. Um die Auf-schrift darauf lesen zu können, muss man dicht herange-hen, oder man kennt sie. Liebe Freunde, dieses Band istkeine Demonstration politischer Art, sondern ein Be-kenntnis zu Menschenrechten.
Wenn der DOSB oder das IOC das Tragen eines solchenBandes mit Sanktionen versehen sollte, dann sitzen wiran dieser Stelle nicht mehr in einem Boot. Dafür habeich überhaupt kein Verständnis.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Riegert beantworten?
Sehr gerne.
Bitte sehr.
Herr Kollege Danckert, stimmen Sie mir zu, dass für
die IOC-Regeln das IOC und nicht der Deutsche Bun-
destag zuständig ist?
Stimmen Sie mir zum Zweiten zu, dass es schwierig
ist, Regeln moralisch auszulegen? Denn man ist sehr
schnell in dieser Gefahr, wenn man zu dieser Regel und
dem Bändchen sagt: „Da steht etwas völlig Harmloses
drauf; das ist doch gut; das ist moralisch okay“, damit
aber die Regeln aushöhlt, weil ein anderer auf seinem
Bändchen draufstehen haben könnte: „Ich liebe Jesus“
oder „Ich liebe meinen Präsidenten Soundso“ – –
Die Anregung ist angekommen. Ich bedanke mich.
Die Kernfrage: Glauben Sie als Jurist nicht auch, dass
es sehr schwierig ist, Regeln moralisch auszulegen?
Zu dem ersten Teil dieser interessanten Zwischen-frage sage ich: Natürlich sind wir als Deutscher Bundes-tag und damit als Gesetzgeber nicht für die Regeln desIOC zuständig. Das ist doch gar keine Frage; das hatauch niemand behauptet.Ich lasse mir an dieser Stelle als Parlamentarier aller-dings nicht das Recht nehmen, mich dazu zu äußern,welche Bedeutung die Menschenrechte haben und auchfür das IOC haben müssten.
Ich verstehe das an dieser Stelle nicht. Es geht doch garnicht um die Frage einer moralischen Interpretation.
Das ist überhaupt nicht das Thema. Das hat mit juristi-schen Spitzfindigkeiten überhaupt nichts zu tun.
Von dem IOC gibt es ein Bekenntnis zu den Men-schenrechten; das ist eigentlich lobenswert. Ich will,dass das an jeder Stelle deutlich wird. Jemand, der einsolches Bändchen um den Arm trägt und sich damit zuMenschenrechten bekennt,
macht etwas ganz Selbstverständliches, was eigentlichüber allem schwebt. Wenn das kritisiert wird und wenndas zu Sanktionen wie Ausschlüssen führen würde, dannhätte ich dafür überhaupt kein Verständnis. Das IOCwürde sich damit diskreditieren und seinen Anspruch,etwas Gutes zu tun, verwirken.
An dieser Stelle kann es also eigentlich gar keine Mei-nungsverschiedenheiten geben.
Ich verstehe nicht, dass das sowohl der Freund DetlefParr als auch der Freund Eberhard Gienger als auch vieleandere infrage stellen.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17505
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Dr. Peter DanckertDie Diskussion darüber ist sehr interessant. Es mussdeutlich sein, dass das Bekenntnis – nicht die Demons-tration – zu Menschenrechten jederzeit und jedem er-laubt sein muss, auch den Sportlern.Ich erwarte von keinem Sportler, dass er sich aus-drücklich dazu bekennt. Diejenigen, die es nicht tun wol-len, sind mir genauso lieb. Ich stelle mich nur vor dieje-nigen, die bereit sind, ihre Meinung an dieser Stelle zuäußern. Das muss erlaubt sein. Das darf nicht verbotensein.
Jetzt noch zu der Frage, ob der Sport als Staatszielins Grundgesetz aufgenommen werden soll. Das istschon mehrfach angesprochen worden, und das hängtauch ein bisschen mit dem Sportförderungsgesetz zu-sammen. Ich finde, das ist eine ganz wichtige Aufgabe.Wir alle anerkennen die große Bedeutung des Sports inunserer Gesellschaft im Hinblick auf Gesundheit, Inte-gration und Ernährung; niemand zieht diese Funktiondes Sports in Zweifel. Dann aber wird gesagt: Den Sportals Staatsziel ins Grundgesetz aufzunehmen, das stimmtmit unserer prinzipiellen Auffassung zur Reinheit desGrundgesetzes nicht überein. Was sollen wir denn nochalles ins Grundgesetz aufnehmen? – Diese Worte kenneich.Wir haben uns für den Tierschutz ausgesprochen;
daran habe ich sogar mitgewirkt. Wenn man das im Ver-hältnis zur Bedeutung des Sports in unserer Gesellschaftsieht, dann ist es überfällig, dieser Forderung nachzu-kommen; dann muss das geschehen. Ich bitte Sie, liebeFreunde von der Union – sonst besteht ja ein parteiüber-greifender Konsens –: Bedenken Sie doch noch einmal,ob das nicht doch notwendig, machbar und überfällig ist!Die Väter unseres Grundgesetzes hatten 1948/49 ganzandere Probleme, und deshalb haben sie nicht daran ge-dacht. Wenn sie damals geahnt oder gewusst hätten, wel-che Bedeutung dem Sport in unserer Gesellschaft einesTages zukommen würde, dann hätten sie ihn mit Sicher-heit als Grundrecht oder als Staatsziel in die Verfassungaufgenommen.Wenn man sich das genau ansieht, dann stellt manfest: Die Verfassung gibt nur über den Art. 2 und mögli-cherweise über den Art. 9 des Grundgesetzes eineGrundlage für die Sportförderung – darin besteht ein Teilunserer Probleme –; die gesamtstaatliche Bedeutung desSports rechtfertigt unsere Sportförderung. Ich finde, dasist keine ausreichende verfassungsrechtliche Grundlage.Wir sollten uns dazu durchringen, dieses Generalthema,das heute das Haus beschäftigt hat, mit weitgehender Ei-nigkeit über die Parteigrenzen hinweg, aufzunehmenund das Ganze auf eine neue verfassungsrechtlicheGrundlage zu stellen, um so dem Sport insgesamt Hilfezu geben.Es ist unverkennbar, dass wegen der unterschiedli-chen Zuständigkeiten der Kommunen, der Länder unddes Bundes ein ziemliches Durcheinander besteht. Dassollten wir ordnen. Ich wünsche mir, dass es eines Tagesnicht nur einen Innenminister gibt, der für den Sport zu-ständig ist, sondern einen Sportminister. Damit würdeendgültig deutlich, welche Bedeutung der Sport in unse-rer Gesellschaft hat.Vielen Dank Ihnen, Herr Schäuble, und Ihnen, meineKolleginnen und Kollegen.
Nun hat die Kollegin Kunert um das Wort zu einer
Kurzintervention gebeten. Bitte schön.
Ich denke, Sie sollten es sich trotzdem anhören, Herr
Kollege.
Herr Kollege Danckert, Sie haben gesagt, aufgrund
der föderalen Strukturen in der Bundesrepublik sei es gar
nicht möglich, dem Antrag der Linken zuzustimmen und
ein Sportförderungsgesetz zu verabschieden. Dazu
muss ich festhalten: Der Bund hat in der Vergangenheit
immer mehr Kompetenzen an die Länder abgegeben.
Deshalb darf er sich heute nicht darüber beschweren,
dass wir über Themen wie den Schulsport zwar debattie-
ren, aber nicht mehr entscheiden können.
Ich will ein paar Beispiele dafür nennen, dass man
trotz der föderalen Strukturen bestimmte Regelungen be-
schlossen und dann auch einfach praktiziert hat. Ich
denke an das Programm zum Ausbau der Kindertages-
stätten gerade im Westen, um einen Versorgungsstand zu
schaffen, wie wir ihn im Osten seit Jahren haben. Man
hat festgestellt, dass die Arbeitsstrukturen im Bereich
SGB II/SGB XII, die der Bundestag beschlossen hat, ei-
gentlich gegen das Grundgesetz verstoßen.
Vonseiten der SPD wurde gegen unseren Antrag vor-
gebracht, die öffentlich geförderte Beschäftigung gebe
es bereits, nämlich die 1-Euro-Jobs und die ABM. Wir
sagen aber: Es soll eine öffentlich geförderte Beschäfti-
gung sein, bei der Mindestlöhne gezahlt werden, sodass
die Menschen von dieser Arbeit leben können.
Dann habe ich noch eine Bitte, lieber Kollege Dan-
ckert: Wenn Sie mit unseren Ansätzen ein inhaltliches
Problem haben, dann sagen Sie es, aber verstecken Sie
sich nicht hinter den föderalen Strukturen.
Ich habe ja in der Rede deutlich gemacht, dass ausmeiner persönlichen Sicht der Feststellungsteil in IhremAntrag weitgehend okay ist. Ich habe allerdings auchdeutlich gemacht, dass man, bevor man ein Sportförde-rungsgesetz wie Sie in Ihrem Antrag fordern kann, zu-nächst einmal die verfassungsrechtlichen Grundlagen
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Dr. Peter Danckertschaffen muss. All das, was Sie fordern, ist in einemSportförderungsgesetz nicht unterzubringen. Dafür ha-ben wir leider keine verfassungsrechtliche Kompetenz.Das ergibt sich aus Art. 30 unseres Grundgesetzes.
Insofern müssen wir erst dafür sorgen – für diesenSchritt setze ich mich ja gemeinsam mit vielen anderenein –, dass Sport als Staatsziel ins Grundgesetz aufge-nommen wird. Dann müssen wir die Kompetenz desBundes für bestimmte Sportmaßnahmen festschreiben.Dann ist auch ein Sportförderungsgesetz möglich. Dasist die richtige Reihenfolge.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Sportaus-
schusses zur Unterrichtung durch die Bundesregierung
über ihren 11. Sportbericht. Es handelt sich um die
Drucksachen 16/3750 und 16/7584. Der Ausschuss emp-
fiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer möchte sich der
Stimme enthalten? – Dann ist, einem möglichen gegen-
teiligen Eindruck der Debatte zum Trotz, diese Be-
schlussempfehlung vom Deutschen Bundestag einstim-
mig angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 3 b: Hier geht
es um die Beschlussempfehlung des Sportausschusses zu
dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel:
„Schutz und Förderung des Sports ernst nehmen – Sport-
förderungsgesetz des Bundes schaffen“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 16/9455, diesen Antrag der Fraktion Die Linke ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist die
Beschlussempfehlung mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Miriam
Gruß, Sibylle Laurischk, Ina Lenke, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP
Existenz von Kindern sichern – Familien stär-
ken
– Drucksache 16/9433 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin De-
ligöz, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Kein Kind zurücklassen – Programm gegen
Kinderarmut auf den Weg bringen
– Drucksache 16/9028 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
c) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Jörn Wunderlich, Klaus Ernst, Dr. Martina
Bunge, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Zwei-
ten Gesetzes zur Änderung des Unterhaltsvor-
schussgesetzes
– Drucksache 16/7889 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
– Drucksache 16/9440 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Eva Möllring
Helga Lopez
Ina Lenke
Jörn Wunderlich
Ekin Deligöz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Miriam Gruß für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Es gibt eine gute Nachricht und eineschlechte Nachricht. Die gute Nachricht vorneweg: Wirunterhalten uns heute, an diesem Donnerstag, hier imDeutschen Bundestag zur Kernzeit über das Thema Kin-derarmut. Das ist die gute Nachricht. Es gibt aber aucheine schlechte Nachricht: Die Tatsache, dass wir uns inDeutschland überhaupt über das Thema Kinderarmut un-terhalten müssen, ist die schlechte Nachricht. ReichesDeutschland – arme Kinder!
Kommen wir zu den Fakten. Der Kinderschutzbundhat uns die Zahlen genannt: 2,4 Millionen Kinder inDeutschland leben in Armut. Danach lebt inzwischen je-des sechste Kind in Deutschland in Armut. Es gibt aberauch noch andere Zahlen. Damit komme ich zum erstenwunderlichen Aspekt dieser Debatte. Es gibt nämlich an-derslautende Zahlen des Bundesarbeitsministers Scholz,und es gibt anderslautende Zahlen der Bundesfamilien-ministerin von der Leyen. Wer weiß schon, welche Zah-len die richtigen sind? Die Frage ist auch, ob mit denAussagen gewisser Studien nicht politische Schlussfol-gerungen herbeigerufen werden sollen. Wie auch immer,in diese Debatte will ich jetzt nicht einsteigen. Ich ge-höre zur Opposition und kann die Zahlen nicht nachprü-fen. Ich weiß allerdings: Jedes arme Kind in Deutsch-land ist ein Kind zu viel.
Neben der materiellen Armut gehen mit Armut näm-lich auch schlechtere Gesundheit, größerer emotionaler
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Miriam GrußStress, der sich sogar auf die Bildungschancen von Kin-dern auswirkt, und schlechtere Teilhabechancen vonKindern in Deutschland einher. Schauen wir uns dieAntworten der Bundesregierung an. Damit kommen wir,meine Damen und Herren, zu einem zweiten wunderli-chen Aspekt: Meines Erachtens findet hier nämlich einganz wunderliches „Rechte Tasche, linke Tasche“-Spielstatt. Auf der einen Seite wird uns im Ausschuss gesagt,der Kinderzuschlag wurde erhöht. Das hat man abernicht gescheit gemacht; denn ansonsten wäre auch derbürokratische Aufwand vermindert worden. Nun profi-tieren die, die tatsächlich den Kinderzuschlag erhalten,nur so marginal und minimal, dass es der Rede gar nichtwert ist.
Außerdem wird auf die uns vorgelegten Konzepte zurVereinbarkeit von Beruf und Familie verwiesen. Wirwissen allerdings heute noch nicht, ob nicht durch Ein-führung des Betreuungsgeldes all die guten Dinge, diehierdurch auf den Weg gebracht werden, entsprechendkonterkariert werden. Damit würde den Kindern wie-derum die Möglichkeit geraubt, von Anfang an Bil-dungschancen wahrzunehmen.Auf der anderen Seite – das zu „Rechte Tasche, linkeTasche“ – zieht die Bundesregierung den Eltern durchdie größte Steuererhöhung der Bundesrepublik Deutsch-land das Geld aus der Tasche.
Von den 19 Steuererhöhungen sind vor allem die Elternbetroffen, die das Geld am dringendsten brauchen. Fami-lien sind diejenigen, die am schnellsten in die Bedürftig-keit abrutschen. Die Antwort der Bundesregierung sindimmer weitere Steuererhöhungen, von denen die Fami-lien am meisten betroffen sind. Ich nenne beispielsweisedie Erhöhung der Mehrwertsteuer, die Reduzierung beider Pendlerpauschale und Abschaffung der Eigenheim-zulage.
Unsere Antworten sehen anders aus. Wir wollenkeine Verteilungspolitik, sondern Hilfe für die wirklichBedürftigen, die zielgenau und bedarfsgerecht seinmuss. Wir schauen nicht nur auf die Erwachsenen, son-dern auch auf die Kinder. Wir müssen nämlich beideGruppen im Blick haben.Was tun wir für die Kinder? Wenn wir im Bundestagüber Kinder reden, dann müssen wir beachten, dass na-türlich auch die Länder beteiligt sind. An dieser Stellewürde ich mich freuen, wenn die Länder sich mehr anden Investitionen in die frühkindliche Bildung beteili-gen würden.
Chance auf Teilhabe heißt Chancengleichheit von Be-ginn an. Es ist ein Faktum, welches nicht wegzuredenist, dass das am Besten über die frühkindliche Bildunggeht.Wir kümmern uns um die Teilhabe, um die Beteili-gung von Kindern in Deutschland. An dieser Stellemöchte ich den Jugendverbänden ein großes Lob undDankeschön aussprechen, die tagtäglich viel ehrenamtli-che Arbeit leisten und sich dafür einsetzen, dass alleKinder in Deutschland Beteiligung erfahren dürfen.
Mit Blick auf die Erwachsenen sind meines Erachtensdrei Dinge ganz wichtig. Der wichtigste Punkt ist einArbeitsplatz. Denn ein Arbeitsplatz schützt vor Armut.Deswegen müssen wir alle Anstrengungen unternehmen,die Arbeitslosigkeit weiter zu reduzieren.
Des Weiteren ist es wichtig, die Aufnahme einer Ar-beit durch eine verbesserte Vereinbarkeit von Beruf undFamilie überhaupt zu ermöglichen.
Es ist zwar richtig, in Richtung des Ausbaus der Betreu-ungsplätze für unter Dreijährige zu gehen, aber die An-strengungen dürfen an dieser Stelle nicht aufhören. Auchhier müssen die Länder mit ins Boot geholt werden.Kinderbetreuung wird nicht überflüssig, wenn dieKinder älter als drei Jahre sind. Wir müssen für alle Al-tersgruppen Betreuung gewährleisten, und zwar einequalitativ hochwertige Betreuung. Bis jetzt habe ich indiesem Hause viel über den quantitativen Ausbau ge-hört, aber leider noch viel zu wenig über den qualitativenAusbau der Betreuung von Kindern aller Altersstufen.
Natürlich müssen wir – das ist der dritte Punkt – dieSteuern und Abgaben für die Familien senken. DieFDP-Bundestagsfraktion hat das familienfreundlichsteSteuerkonzept von allen Fraktionen im Deutschen Bun-destag:
Steuersätze von 10, 25 und 35 Prozent, ein höheres Kin-dergeld von 200 Euro, eine verbesserte steuerliche Ab-setzbarkeit von Kinderbetreuungskosten in Höhe von12 000 Euro und ein Bürgergeld, das den wirklich Be-dürftigen zugute kommt. Wir haben die Antworten aufdie Kinderarmut in Deutschland.
Fakt ist: Der Nutzen von Kindern wird in Deutsch-land gerne generalisiert; die Kosten werden nach wie vorindividualisiert. Das darf nicht sein. Ich bin gespannt aufIhre Antworten.
Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Singhammervon der CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Frau Kollegin Gruß, es gibt eine gute Nachricht:
1 600 000 neue Arbeitsplätze für Mütter und Väter seit
2005 sind effektiver für die Bekämpfung der Kinder-
armut als jeder Antrag, egal ob er einen Umfang von
12, 13 oder 16 Seiten hat.
Es ist richtig: Wer Kinderarmut bekämpfen will, muss
den Eltern mehr Netto in die Hand geben. Wer die Exis-
tenz von Kindern nachhaltig sichern will, muss die El-
tern stark machen. Kinder wollen und brauchen liebe-
volle und starke Eltern. Eltern sind vor allem dann stark,
wenn die ökonomische Existenz ihrer Familie gesichert
ist.
Wir haben in der Großen Koalition das Elterngeld aus
der Taufe gehoben, damit junge Eltern nach der Geburt
eines Kindes nicht deutlich ärmer sind als vor der Ge-
burt. Wir haben die Verdreifachung der Kindertagesbe-
treuung angepackt; denn viele Familien können nur als
Doppelverdiener überleben.
Deshalb werden wir den Kinderzuschlag zum 1. Oktober
dieses Jahres erhöhen, um weitere 150 000 Kinder aus
dem statistischen Armutsbereich zu befreien.
Deshalb haben wir den Rechtsanspruch auf eine Kinder-
tagesbetreuung und das Betreuungsgeld beschlossen.
Wir haben in der Familienförderung einen Turbo an-
geworfen. Wir wissen genau: Ein täglicher finanzieller
Kleinkrieg in den Familien ist mit das Schlimmste und
Belastendste, was Familien treffen kann. Deshalb warne
ich vor jedem Stillstand – mit uns wird es den auch nicht
geben – in der Familienförderung.
Herr Kollege Singhammer, erlauben Sie eine Zwi-
schenfrage der Kollegin Deligöz?
Gerne.
Bitte schön.
Herr Singhammer, eigentlich hatte ich einen Zuruf
gemacht; aber der war wahrscheinlich zu leise. Deshalb
stelle ich jetzt eine Zwischenfrage. Ich bin schon etwas
überrascht darüber, dass ausgerechnet Sie von Doppel-
verdienern reden. Denn soweit ich weiß, ist das Betreu-
ungsgeld aus Ihrer Feder, weil Sie nicht wollen, dass
Mütter und Väter gleichzeitig arbeiten. Ihr präferiertes
Modell ist doch, dass Mütter zu Hause bleiben.
Liebe Frau Kollegin Deligöz, Ihre Frage zeigt, dassSie sich im Irrtum über das befinden, was wir wollenund welche Pläne wir haben.
Ich darf es Ihnen nochmals erklären:
Wir sind für Wahlfreiheit. Wahlfreiheit bedeutet, dassdiejenigen Eltern, diejenigen Mütter und Väter, dieverdienen müssen, die arbeiten und entsprechend ihrerAusbildung tätig sein wollen, dies können und dass die-jenigen Eltern, die sich anders entscheiden, weil ein El-ternteil für eine bestimmte Zeit oder dauerhaft zu Hausebleiben will, im Rahmen des Betreuungsgeldes genausoeine Förderung erhalten. Das ist Wahlfreiheit.
In den nächsten Wochen wird der Existenzminimums-bericht des Bundesfinanzministers erscheinen. Weil inden vergangenen sieben Jahren eine Vielzahl von Din-gen – von den Lebensmitteln bis hin zur Energie – teurergeworden ist, würde es jeden wundern, wenn dabei keineSteigerung herauskäme. Eine Erhöhung des Existenz-minimums bedingt aber – das stelle ich hier fest – eineErhöhung des Kindergelds. Alles andere wäre höchst un-gerecht. Deshalb sage ich an dieser Stelle: Wir wolleneine Erhöhung des Kindergelds im kommenden Jahr.
Das ist auch eine Förderung der Mittelschicht, derjeni-gen, die arbeiten, die etwas leisten und für die es immerenger wird.Es wäre ungerecht, es nicht zu tun. Warum? Weil die-jenigen, die über das Existenzminimum eine Steuerrück-zahlung bekommen, im Regelfall einen Gegenwert von203 Euro im Monat erhalten. Diejenigen, die Hartz IVerhalten, bekommen über das Sozialgeld im Regelfall ei-nen Gegenwert, der ebenfalls über 200 Euro liegt. Dieje-nigen, die Kindergeld bekommen, erhalten bis zum drit-ten Kind jetzt 154 Euro und ab dem vierten 179 Euro.Um hier Symmetrie zu schaffen, ist eine Kindergeld-erhöhung notwendig.Welche Familien brauchen besonders nötig eine sol-che Kindergelderhöhung? Es sind die Alleinerziehenden,und es sind die Familien mit mehr Kindern. Es gibt näm-lich noch Mehrkinderfamilien.
Angesichts der Diskussion über Energiepreis- und Sprit-preiserhöhungen erinnere ich mich an ein Gespräch, das
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Johannes Singhammerich vor kurzem mit einer Mutter geführt habe, die neunKinder hat.
– Auch mit dem Vater, Frau Künast, keine Angst. – Alsdie Frage aufkam: „Können Sie denn die Spritpreisenoch zahlen?“, hat die Mutter – in diesem Fall nicht derVater, sondern die Mutter, Frau Künast – geantwortet:Für uns sind weniger die Spritpreise von Bedeutung– wir haben gar kein Auto –, aber umso mehr die Milch-preise. Denn ich brauche nicht 95 Liter Sprit im Monat,sondern 95 Liter Milch für die Großfamilie. – Deshalbbeschweren mich, so hat sie erklärt, besonders dieMilchpreise.
In der Familienpolitik brauchen wir nicht nur einenfinanziellen Ausgleich, sondern auch die Anerkennungeiner solchen Leistung. Deshalb – das sage ich auch andieser Stelle – habe ich kein Verständnis dafür, wenn Fa-milien mit Misstrauen begegnet wird, so als seien sienicht in der Lage, eine Transferleistung des Staates rich-tig und dem Wohl ihrer Kinder entsprechend einzuset-zen. Nein, die Familien wissen am besten, was ihre Kin-der brauchen.
Die meisten Mütter und Väter legen sich krumm, um et-was für ihre Kinder zu tun. Diese Familien wollen wirunterstützen.Natürlich wollen wir auch – das ist ganz wichtig –,dass Misshandlung und Verwahrlosung von Kindern mitallen Möglichkeiten nicht nur geahndet, sondern vor al-lem von vornherein vermieden werden.
Herr Kollege Singhammer, erlauben Sie auch eine
Zwischenfrage der Kollegin Gruß?
Ja, gerne.
Bitte schön, Frau Gruß.
Es tut mir leid, dass ich Sie an dieser Stelle der Rede
unterbrechen muss, ich hatte mich schon vorher gemel-
det. Ich möchte Sie etwas fragen. Gerade haben Sie da-
von gesprochen, wie wichtig es Ihnen ist, dass Familien-
arbeit anerkannt wird. Glauben Sie ernsthaft, Herr
Singhammer, dass Sie mit 150 Euro Betreuungsgeld im
Monat die Familienarbeit anerkennen, also den Job einer
Mutter oder eines Vaters, die oder der sieben Tage die
Woche arbeitet und für die Kinder 365 Tage im Jahr da
ist? Noch einmal: Glauben Sie, dass Sie mit 150 Euro im
Monat diese Familienarbeit anerkennen?
Frau Kollegin Gruß, zunächst sage ich ganz klar: Sie
haben recht. Die Leistung, die Mütter und Väter für ihre
Kinder erbringen, kann gar nicht genug anerkannt wer-
den. Sie liegt außerhalb einer ökonomisch bewertbaren
Anerkennung. Aber die allermeisten Eltern empfinden
es sehr wohl als ein Zeichen der Anerkennung und des
Respekts ihrer Leistung, wenn sie zumindest 150 Euro
Betreuungsgeld im Monat bekommen;
denn sie brauchen dieses Geld. Deshalb sind wir parallel
zum Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung klipp
und klar für die Einführung eines Betreuungsgelds. Ich
weiß aus vielen Gesprächen, dass die allermeisten Fami-
lien darauf warten.
Erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage der Kolle-
gin Gruß?
Ich möchte jetzt gern den Gedanken, den ich begon-nen habe, fortführen, Frau Kollegin Gruß. – Weil wirdem Bereich Elternbildung neben allen finanziellenund ökonomischen Absicherungen der Familien einen sohohen Stellenwert zumessen, ist es wichtig, dass wir unsum die wenigen Familien kümmern, die offensichtlichselber nicht mehr in der Lage sind, Werte und Bildungweiterzugeben,
weil sie ihnen vielleicht von ihren Eltern nicht mehr inausreichendem Umfang vermittelt wurden. Deshalb wirdes unser Hauptanliegen sein, diesen Teufelskreis bei denwenigen Eltern ohne Orientierung – ich warne davor, dasRegel-Ausnahme-Verhältnis auf den Kopf zu stellen – zudurchbrechen.Lassen Sie mich zu einer Fraktion hier im DeutschenBundestag kommen, die in Bezug auf Versprechungennicht zu überbieten ist, die so genannte Linkspartei. DasKindergeld soll auf einen Schlag um die Gesamtsummevon 19 Milliarden Euro im Jahr erhöht werden. Der vonder Linkspartei geforderte Zuschuss für die Förderungvon Studenten würde 17 Milliarden Euro im Jahr kosten.Die familienpolitische Sprecherin der Linken, mit der Siesich offensichtlich nicht ganz einig sind, Christa Müller,fordert ein Betreuungsgeld von immerhin 116 MilliardenEuro im Jahr. Man gönnt sich ja sonst nichts.
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Johannes SinghammerWenn ich allein diese drei Leistungen zusammen-zähle, komme ich auf 152 Milliarden Euro im Jahr. Überdie Finanzierung schweigt man sich aus. Selbstverständ-lich sollen die Reichen diese Summe aufbringen. Ichsage Ihnen, was bei Ihren utopischen Forderungen her-auskommen wird: Die Reichen, die in Monaco ihrenSteuersitz haben, werden Sie nicht erwischen. Aber einerderjenigen, der unter der dann entstehenden Steuererhö-hungsorgie leiden wird, wird der Facharbeiter mit zweiKindern sein, der sich ein kleines Häuschen geleistet hat.Ihm werden Sie das Geld aus der Tasche ziehen müssen,sonst werden Sie diese Riesensumme nicht hereinbe-kommen. Damit wird aber nicht die Kinderarmut be-kämpft; vielmehr wird die Kinderarmut bei diesen Fami-lien noch größer.Ich wäre Ihnen sehr dankbar für eine Antwort auf diefolgende Frage: Was ist der Grund dafür, dass die Kin-derarmut in der Stadt, in der Sie mitregieren, wo sicher-lich schwierige Verhältnisse herrschen, in Berlin, in denletzten Jahren um 32 Prozent gestiegen ist?
Wie hängt das zusammen? Was ist der Grund dafür? Siesind in Berlin an der Regierung beteiligt. Sagen Sie docheinmal etwas dazu.Ich sage an dieser Stelle: Wir brauchen keine Fami-lienpolitik der ungedeckten Schecks, sondern
eine Familienpolitik des klaren Kurses.
Wir müssen die Politik, die unsere Familienministerin,Frau von der Leyen, begonnen hat, fortsetzen. Wir wer-den sie unterstützen, damit sie weitere Schritte unterneh-men kann.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elke Reinke von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Werte Gäste! Immer mehr Kinder haben immer weniger.Mit der Agenda 2010 und Hartz IV wurden Armut undAusgrenzung per Gesetz beschlossen. Die Zahl der ar-men Kinder hat sich seit Einführung von Hartz IV aufüber 2,5 Millionen verdoppelt. Dass die Kinderarmut inden letzten Jahren dramatisch gestiegen ist, belegenzahlreiche Studien und Berichte: der Kinderreport 2007,der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung,der UNICEF-Bericht „Lage von Kindern in Deutsch-land“, die Prognos-Studie „Armutsrisiken von Kindernund Jugendlichen in Deutschland“ und viele weitere wis-senschaftliche Erhebungen. Besonders stark von Armutbetroffen sind Kinder von Alleinerziehenden, Kinder inHartz-IV-Familien und Kinder mit Migrationshinter-grund.Trotz der vorliegenden, alarmierenden Zahlen drehtdie Bundesregierung Däumchen und wartet auf dennächsten Bericht. Der Existenzminimumbericht soll imHerbst 2008 erscheinen. Erst danach soll darüber beratenwerden, ob die Kinderregelsätze erhöht werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Betroffenheit,die viele von Ihnen hier an den Tag legen, die ich denmeisten sogar abnehme, reicht nicht.
Ebenso wenig hilfreich sind Ihre in Hochglanzbroschü-ren bejubelten Maßnahmen. Das Warten muss endlichaufhören. Es müssen sofort Taten folgen.
Sorgen Sie dafür, dass der Kinderzuschlag mehr Be-troffenen hilft. Erhöhen Sie ihn für unter 14-Jährige auf200 Euro und für über 14-Jährige auf 270 Euro.
Die Höhe des Kinderzuschlags muss vom Alter der Kin-der abhängen. Über 14-Jährige dürfen nicht in Armutrutschen, nur weil sie eigene, altersbedingte Bedarfe ha-ben.In der Anhörung zum Kinderzuschlag am vergange-nen Montag waren sich fast alle Expertinnen und Exper-ten einig: Kinder von Alleinerziehenden werden weiter-hin deutlich benachteiligt und ausgegrenzt. Nehmen Siedie Meinungen der Expertinnen und Experten bitte end-lich ernst.
Wir brauchen einen eigenständigen Kinderregelsatz,der die Bedarfe realitätsnah abbildet. Deshalb fordertmeine Fraktion eine Anhebung des Kinderregelsatzes imersten Schritt auf mindestens 300 Euro. Ebenso notwen-dig ist es, das Kindergeld auf mindestens 200 Euro zu er-höhen. Zur Erinnerung: Das Kindergeld wurde das letzteMal 2002 erhöht.
Besser wäre natürlich gleich eine bedarfsgerechte, ei-genständige Kindergrundsicherung; auch das kam inder Anhörung zur Sprache. Unsere Vorstellung kennenSie: 420 Euro für jedes Kind.Eines sollte klar sein: Um Kinderarmut ernsthaft be-kämpfen zu können, muss man zusätzliches Geld ausge-ben. Das Geld ist da; das sage ich Ihnen nicht zum erstenMal. Mit einem gerechten Steuer- und Sozialsystemkann all dies finanziert werden. Diese Meinung vertretenauch viele Sozialverbände und Gewerkschaften.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, inIhrem Antrag findet man erfreulicherweise viele unsererForderungen.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17511
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Elke Reinke
Man sieht: Die Linke wirkt auch hier. Auf den neun Sei-ten des Feststellungsteils ist aber leider nicht zu lesen,dass auch während der sieben Jahre grüner Regierungs-verantwortung die Kinderarmut enorm angestiegen ist.
Vieles, was Sie kritisieren – niedriger Kinderregelsatz,fehlende Schulbedarfe oder spezielle Bedarfe für Ju-gendliche –, haben Sie selbst mitbeschlossen. Sie sindsehr vergesslich, wie ich feststellen muss.
Auf den Antrag der FDP möchte ich gar nicht nähereingehen.
Nur so viel: Neben vielen anderen Bereichen wollen Sieauch die Kinderbetreuung stärker privatisieren. In dasgleiche Horn bläst die Bundesregierung mit ihrem Kin-derförderungsgesetz. Das ist mit der Linken nicht zu ma-chen.
Meine Damen und Herren der Koalition, Sie stehensich immer mehr selbst im Weg. Die SPD fordert einenMindestlohn, will aber keine Erhöhung des Hartz-IV-Satzes für Kinder und kein höheres Kindergeld. DieUnion ruft nach mehr Kindergeld, will aber keinen ge-setzlichen Mindestlohn. Doch gerade das zusammenbrauchen wir.
Das geht übrigens auch ganz deutlich aus dem aktuellenPositionspapier des DGB hervor. Das kann man nachle-sen. Es ist ebenfalls notwendig, die Einkommensarmutder Eltern zu bekämpfen. Ein flächendeckender gesetzli-cher Mindestlohn darf nicht nur gefordert, sondernmuss auch beschlossen und umgehend eingeführt wer-den.
Noch einmal in Richtung Regierungsbank. Sieschmücken sich mit Armutsberichten, ohne zu bemer-ken, dass genau diese Studien Ihnen ein Armutszeugnisausstellen. Da alle Medien brav mitspielen, sagt keiner,dass der Kaiser bzw. in diesem Fall die Kaiserin eigent-lich nackt ist.
Frau Kollegin Reinke, erlauben Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Fischbach?
Ich bin bei meinem letzten Satz. Ich würde gern in
meiner Rede fortfahren.
Auf den Punkt gebracht heißt das: Unsere Kinder ha-
ben das Recht – dafür muss ein Sozialstaat sorgen –, ge-
sund aufzuwachsen, freien Zugang zu guter Bildung zu
haben und gleichberechtigt am täglichen Leben teilzuha-
ben.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Spanier von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine erste Rede als Bundestagsabgeordneter vor etwa13 Jahren war zum Thema Armut. Damals hat die SPD-Bundestagsfraktion in der Opposition einen Armuts- undReichtumsbericht gefordert. Das wurde von der damali-gen Koalitionsmehrheit im Deutschen Bundestag mitfolgender Begründung abgelehnt: Wir haben die Sozial-hilfe, das sei bekämpfte Armut. Darüber hinaus gebe eskeine Armut. Also sei so ein Bericht überflüssig.Ich kann erfreut feststellen, dass sich – auch in denKöpfen – vieles geändert hat. Wir in diesem Haus sinduns mittlerweile einig, dass es Armut gibt. Wir nehmendie Wirklichkeit wahr; wir sind angekommen. Wir neh-men ebenfalls wahr, dass es nicht nur um materielle Ar-mut geht, sondern auch um Ausgrenzung, um Lebensla-gen, Gesundheit, Wohnen und Bildung. Auch da sindwir uns einig. Wir sind uns ebenso einig, dass Kinderar-mut im Grunde genommen Elternarmut ist. Das hörtsich banal an, ist aber, wenn man die Konsequenzen be-trachtet, durchaus wichtig festzuhalten.Es ist, glaube ich, richtig, dass wir uns hier nicht inDebatten über Zahlen und Statistiken verlieren; da gebeich Frau Gruß recht. Manchmal sollte man auf die eineoder andere Pressekonferenz verzichten, um nicht – viel-leicht ungewollt – zusätzliche Verwirrung zu stiften.
Wir sind uns auch einig – vielleicht sollte ich vorsich-tig sagen: weitgehend einig – hinsichtlich der Ursachenvon Armut und speziell Kinderarmut. Diese sind nuneinmal die Arbeitslosigkeit, die besondere Situation derAlleinerziehenden sowie die besondere Situation der Mi-grantinnen und Migranten. Ursache ist auch – da sindwir uns vor allen Dingen bezüglich der Konsequenzennoch nicht einig – der stetig und immer schneller wach-sende Niedriglohnsektor. Das müssen wir zur Kenntnisnehmen.
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17512 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Wolfgang SpanierEs hat ein bisschen lange bedauert, bis die eine oder an-dere Fraktion in diesem Hause erkannt hat, dass wir einZuwanderungsland sind und dass die Integration eine dergroßen gesellschaftlichen Aufgaben in Deutschland ist.
In beiden vorliegenden Anträgen – es gibt entspre-chende Programme und Entwürfe aller Fraktionen indiesem Haus – geht es um ein Gesamtkonzept. Sie wis-sen, dass ich da immer ein bisschen misstrauisch bin.Aber in diesem Fall ist es in der Tat richtig, dass wirnicht nur versuchen, mit punktuellen Maßnahmen gegenKinderarmut vorzugehen, sondern dass wir dies auch ineinen größeren Zusammenhang stellen.Es geht um die Bekämpfung materieller Armut undvor allen Dingen um die Teilhabe an Bildung. Dies istnicht nur Aufgabe des Staates. Staat und Gesellschaftmüssen sich dieser zentralen gesellschaftspolitischenAufgabe widmen. Diese Aufgabe muss auf allen staatli-chen Ebenen – Bund, Länder und Kommunen – ange-packt werden. Das macht die Sache nicht einfacher. Hiergeht es nicht darum, sich Zuständigkeiten zuzuschieben,sondern darum, dass man abgestimmt mit einem ge-meinsamen Maßnahmenpaket vorgeht.Es gibt Beispiele. Ich greife einmal das Land Schles-wig-Holstein heraus. Dort hat man gerade ein Hand-lungskonzept zur Bekämpfung der Kinderarmut vorge-legt. Ein erster konkreter Schritt ist die Aktion „KeinKind ohne Mahlzeit“.
Ich denke, das ist ein richtiger Ansatz. Entscheidend istaber das Zusammenwirken aller staatlichen Ebenen.Ein weiterer Punkt: Das ist eine Querschnittsauf-gabe. Das ist nicht die Aufgabe eines Ressorts; das istnicht nur eine familienpolitische Aufgabe. Hier mussvielmehr vieles zusammenkommen. Frau Ministerin, wirmüssen zum Beispiel aufpassen, dass wir das Thema desNiedriglohnsektors und der Mindestlöhne nicht aus-klammern. Dieses Thema hat mindestens den gleichenStellenwert wie familienpolitische Aufgaben. Da gebeich dem DGB mit seiner Kritik durchaus recht.
Im Antrag der Grünen heißt es, wir hätten untätig zu-geschaut. Nein, das ist nicht richtig. Wir sind vorange-kommen. Ob ich das als Turbo bezeichnen würde, weißich nicht. Bei einem Turbo gibt es auch immer ein Tur-boloch. Das ist aber nicht so wichtig. Wir sind entschei-dend vorangekommen, zumindest ein großes Stück. DieArbeitsmarktpolitik wurde genannt. Gleiches gilt für dieFörderung von sozial Benachteiligten.Gleich, im Anschluss an diese Debatte, werden wir indiesem Haus ein solches Förderprogramm beschließen.Dabei geht es um die Ausbildung der jungen Leute, diesich schon seit zwei, drei Jahren in Warteschleifen befin-den, die keinen Hauptschulabschluss haben usw. Das istvernünftig.
– Frau Reinke, das ist nun einmal so.Wir diskutieren heftig über die Einführung der Min-destlöhne. Ich hoffe und erwarte, dass wir das, was wirvereinbart haben, auch möglichst bald umsetzen. Wirwissen, dass der Schlüssel zur Prävention von Armut inerster Linie Bildung ist. Ich glaube, wir sind uns einig,dass wir mit dem Rechtsanspruch auf die Betreuung derunter Dreijährigen ein ehrgeiziges Programm beschlos-sen haben. Es ist in der Tat wichtig, dass wir das auchumsetzen. Entscheidend ist: Wir als Sozialdemokratenbekennen uns zur öffentlichen Verantwortung für Bil-dung und frühkindliche Förderung.
Hier gibt es immer noch konservative Positionen – ichdrücke mich vorsichtig aus –, die das ein Stück weit an-ders sehen.Im Herbst dieses Jahres werden wir den Existenzmi-nimumbericht erhalten. Für die materiellen Leistungenist in erster Linie der Bund zuständig. Ich räume gernein, dass wir den Mix aus Steuerfreibeträgen, Elterngeldund Leistungen nach SGB II noch einmal im Zusam-menhang betrachten müssen. Es ist richtig: Hier gibt esVerwerfungen. Wir sind fest davon überzeugt, dass wiruns noch einmal mit den Regelsätzen auseinandersetzenmüssen. Das Ganze ist so, wie es jetzt ist, nicht befriedi-gend; das räume ich hier gern ein. Wir haben aber auchVerwerfungen bei der Vielzahl der familienpolitischenLeistungen. Frau Ministerin, bei aller Anerkennung derguten Zusammenarbeit und dem, was wir gemeinsam indieser Großen Koalition geleistet haben, möchte ichdoch anmerken, dass wir darüber enttäuscht sind, dassdas, was Sie angekündigt haben, nämlich eine Bestands-aufnahme aller familienpolitischen Leistungen sowieeine Bewertung und Gewichtung, bisher nicht vorliegt.Das brauchen wir dringend.
Wir brauchen dies dringend, wenn wir zielgerichtetan die materiellen und finanziellen Leistungen herange-hen wollen. Hier muss ich der FDP schlicht und einfachzustimmen.
Meine Damen und Herren, beide Anträge – sowohlder von den Grünen als auch der von der FDP – bringensicherlich eine ganze Menge an Anregungen für diewichtige Diskussion im Herbst; ich habe heute meinenversöhnlichen Tag.Eine kritische Anmerkung muss ich aber in die Rich-tung der Fraktion Die Linke machen: Das ist ein Mix ausBetroffenheitsrhetorik, moralisierenden Anklagen undvöllig nebulösen und fantastischen finanziellen Verspre-chungen, der langsam die Grenze des für mich persön-lich Erträglichen überschreitet.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17513
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Wolfgang Spanier
Ich unterstelle Ihnen nicht, keine ehrenwerten Absichtenzu haben; das sage ich ausdrücklich. So aber, wie Sie dieThemen angehen, ist das, glaube ich, verantwortungslos.
Wenn Sie in der Verantwortung wären, dann würdenSie so etwas nicht zu Papier bringen.
Das muss ich Ihnen sagen, obwohl ich wiederhole, dassich das Anliegen, das Sie vertreten, durchaus ernstnehme und im Grundsatz in dieser Frage mit Ihnen über-einstimme. So geht es nicht.Wir Sozialdemokraten werden dieses Problem ganznüchtern lösen. Wir werden in den nächsten Wochen ei-nen Kindergipfel starten, um deutlich zu machen, dassdie sozialdemokratisch regierten Bundesländer undKommunen –
Herr Kollege.
– und die SPD-Bundestagsfraktion an einem Strang
ziehen.
Herzlichen Dank und Entschuldigung für die Über-
ziehung der Redezeit.
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Ursula vonder Leyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese De-batte zeigt zunächst einmal: Kinderarmut treibt uns um.Diese Debatte zeigt – Herr Spanier, Sie haben das geradesehr schön dargelegt –: Kinderarmut hat sehr viele Ge-sichter. Diese Debatte zeigt natürlich auch, dass die Kin-derarmut nicht in einer einzigen Statistik zu erfassen ist.Dennoch müssen wir uns mit Statistiken beschäftigen.
Ich möchte meinen Blick zunächst einmal auf deninternationalen Vergleich richten. Denn es ist wichtig,immer auch zu überprüfen, wo wir im Vergleich zu an-deren Ländern, insbesondere im Vergleich zu andereneuropäischen Ländern stehen. Im internationalen Ver-gleich zeigt sich, dass es Deutschland ganz gut gelingt,die Kinderarmut zu bekämpfen. Wir liegen im oberenDrittel. Bedürftige Kinder werden in Deutschland finan-ziell besonders stark gefördert. Sie erhalten um ein Drit-tel höhere Leistungen als Kinder, die oberhalb der Ar-mutsgrenze aufwachsen. Damit verfügt Deutschland vonallen Mitgliedsländern der EU-15, also der alten Mit-gliedstaaten, über die am stärksten an armen Kindernausgerichteten Förderungen.
Dennoch gibt es in Schweden, Dänemark und Finnlanddeutlich weniger Kinderarmut als in Deutschland. UnserZiel ist, die Kinderarmut nachhaltig zu senken.Warum sind andere Länder noch erfolgreicher alswir?
Es gibt nicht nur ein einziges Erfolgsrezept, sondern eskommt auf einen klugen Mix von Maßnahmen an. Zu-sätzlich zur notwendigen finanziellen Unterstützung, dieabsolut unbestritten ist, investieren die erfolgreicherenLänder auch in Maßnahmen, die dazu beitragen, dassbeide Elternteile erwerbstätig sein können. Wir dürfenbeim Kampf gegen Kinderarmut also nicht nur die Kin-der im Blick haben – das wurde in der heutigen Debattesehr deutlich –, sondern wir müssen auch die Situationder Eltern berücksichtigen.Aus diesem Grunde möchte ich meinen Blick jetztnach innen, auf die Situation in unserem Land, richten.Wenn wir die Frage stellen, wie sich Kinderarmut zu-sammensetzt und welche Grundmuster sie hat, stellenwir fest, dass alle statistischen Erhebungen dieselbenGrundmuster aufweisen. Erstens leben Kinder dann inArmut, wenn ihre Eltern keine Arbeit haben. Es ist alsonicht etwa so, dass Kinder arm machen. Vielmehr lebenKinder dann in Armut, wenn ihre Eltern keine Arbeit ha-ben.
Zweitens – das ist ein sehr wichtiger und meiner Mei-nung nach besonders bedrückender Punkt – leben Kinderdann in Armut, wenn sie in kinderreichen Familien auf-wachsen, in denen die Eltern Mühe haben, für die vielenKöpfe genug Einkommen zu verdienen; in diesen Fällensind staatliche Leistungen von existenzieller Bedeutung.Hinzu kommt: Kinder bleiben in Armut, nämlich inTeilhabearmut, wenn sie keine Chance auf Bildung undEntfaltung ihrer eigenen Fähigkeiten bekommen.Das wird auch an den vorliegenden Zahlen deutlich.Es gibt drei Hauptgruppen, die wir im Hinblick auf Kin-derarmut zu berücksichtigen haben: erstens die Kindervon Alleinerziehenden, 800 000 Kinder, zweitens dieKinder aus kinderreichen Familien, 400 000 Kinder, unddrittens die Kinder mit Migrationshintergrund, rund520 000 Kinder. Auf diese drei Gruppen müssen wir un-seren Fokus vor allen Dingen richten. Hier setzt dasKonzept der Bundesregierung an.
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17514 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Bundesministerin Dr. Ursula von der LeyenEltern brauchen Arbeit. Das heißt, sie brauchen Ar-beitsplätze. Eine gute Konjunktur schafft Arbeitsplätze.Wie wir sehen, ist die Zahl der unter 15-jährigen Kinderin den Bedarfsgemeinschaften der Grundsicherung fürArbeitsuchende seit Anfang 2007 rückläufig. Das istzwar nur ein erster Teilerfolg, aber ein wichtiger Erfolg.Inzwischen sind 1,6 Millionen neue Arbeitsplätze ge-schaffen worden. Das wirkt sich unmittelbar auf die Si-tuation in den Familien aus.Wir dürfen uns aber nicht nur auf die Konjunkturverlassen, sondern wir brauchen auch eine gezielte Fa-milienpolitik. Wie Sie wissen, haben wir gemeinsam einstimmiges Grundkonzept entwickelt. Dazu gehört ers-tens das Elterngeld. Es ist vor allem für Alleinerzie-hende ein wichtiger Baustein, der sicherstellt, dass siemit der Geburt eines Kindes nicht in die Armut rutschen.Der zweite wichtige Aspekt ist der verbesserte Kinder-zuschlag. Wir haben an der kritischen Grenze zur Ar-mut, an der Empfänger von Transferleistungen leben,angesetzt. Diese staatliche Leistung, der Kinderzu-schlag, ist genau das richtige Instrument, um Familien,in denen die Eltern ihr eigenes Einkommen verdienen, indenen das Geld aber nicht für alle Kinder ausreicht, zuunterstützen. Wegen der Kinder sollen diese Familiennicht in Hartz IV sein. Durch den Kinderzuschlag sollensie in die Lage versetzt werden, auf eigenen Beinen zustehen. Mit dem neuen Kinderzuschlag, den wir entwi-ckelt haben, erreichen wir im Zusammenspiel mit derWohngeldreform 250 000 Kinder; vorher waren es nur100 000 Kinder. Insofern sind wir auch hier einen Schrittvorangekommen.Berechtigterweise wird immer wieder eine Wirkungs-analyse gefordert. Wir sind mitten dabei, die Wirkungder verschiedenen Leistungen zu analysieren. Das gehtaber nicht über Nacht. Wenn die Wirkungsanalysen vor-liegen, werden wir – davon müssen wir ausgehen – neueErkenntnisse haben.Die entscheidende Frage ist: Wie gehen wir um mitFamilien, die in der Mitte der Gesellschaft sind, diekleine Einkommen haben, die keine Steuern zahlen unddamit von einer Erhöhung der Freibeträge nicht profitie-ren, die keine staatlichen Transferleistungen beziehen?Wie helfen wir diesen Familien, wenn ein weiteres Kindgeboren wird? Für diese Familien ist das Kindergeldentscheidend.Wir haben das Kindergeld lange vernachlässigt,
wir haben die Bedeutung dieser Leistung unterschätzt.Das Kindergeld hat – das zeigt sich insbesondere im in-ternationalen Vergleich – einen hohen armutspräventi-ven Charakter.
Wir dürfen das Kindergeld nicht kleinreden.Wenn es im Herbst zu einem höheren Existenzmini-mum für Kinder kommt und die Freibeträge erhöht wer-den, werden wir auch über eine Erhöhung des Kinder-geldes sprechen müssen. Ich werbe dafür, den Blickdann darauf zu richten, wer diese Erhöhung vor allembraucht.
Das sind die kinderreichen Familien, und das sind dieAlleinerziehenden mit mehreren Kindern, insbesonderewenn das dritte Kind kommt. Seit 1995 ist das Kinder-geld für das dritte Kind nicht mehr erhöht worden. Wirhaben das dritte Kind in der öffentlichen Debatte fastvergessen.
Deshalb werbe ich nachdrücklich dafür, das Kindergeldzu staffeln, auch im Lichte der Erkenntnisse der Wissen-schaftler, die uns gesagt haben, dass wir hier nicht lo-ckerlassen dürfen.
Wir wollen mit der Kaskade Elterngeld, Kinderzu-schlag, Kindergeld die Familien in der Mitte der Gesell-schaft halten, wollen verhindern, dass Familien in Armutabrutschen. Natürlich sind auch Bildung und Förderungentscheidende Bausteine.Den vierten Baustein haben wir letzte Woche mit demKinderfördergesetz beraten. Ich bin stolz darauf unddanke von Herzen, dass es gelungen ist, in außerge-wöhnlich kurzer Zeit – Februar 2007 Beginn der Diskus-sion über den Ausbau der Betreuung von unter Dreijähri-gen, April 2008 Gesetzentwurf im Kabinett, Mai 2008Gesetzentwurf im Parlament – einen Konsens von Bund,Ländern, Kommunen und Parteien herzustellen. Wir dis-kutieren jetzt nicht mehr darüber, ob wir einen Ausbauder Betreuung brauchen, wir diskutieren nur noch da-rüber, wie wir es am besten machen. Es ist Konsens,konsequent nachzuholen, besser zu werden, die Infra-struktur auszubauen.Entscheidend ist für Eltern, dass sie arbeiten können,dass sie ein Einkommen haben. Für Kinder, gerade fürKinder aus benachteiligten Familien, ist der Zugang zuFörderung, zu Bildung von Anfang an die beste Präven-tion gegen Armut. Danke an das Parlament, danke analle, die daran mitgearbeitet haben!
Kinderarmut hat viele Gesichter. Es gibt nicht das Re-zept, die Leistung, um Kinderarmut zu bekämpfen. Nocheinmal: Wir sind im internationalen Vergleich nichtschlecht; uns darf aber nicht ruhen lassen, dass wir in-nerhalb des Landes im Vergleich dazu, wie wir anderenGruppen helfen, bei der Bekämpfung der Kinderarmutbesser werden können. In den letzten 30, 40 Jahren istviel versäumt worden; die Kinderarmut ist schließlichnicht über Nacht entstanden. Ich nenne als Stichwortenur die mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Familieund das Vergessen der kinderreichen Familie, also desdritten Kindes. Lange wurde nicht wahrgenommen, dassfrühe Bildung für Kinder mit Migrationshintergrund, fürKinder aus Familien, in denen Bildung wenig zählt, dieChance ist, aus der Armut herauszukommen. Wir habenJahre gebraucht, um hier auf den internationalen Stan-
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Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyendard zu kommen. Jetzt haben wir gemeinsam dieChance, zu handeln. Die Fakten in den Berichten rüttelnuns wach; in den Berichten werden uns aber auch Mög-lichkeiten aufgezeigt, zu handeln.Deshalb noch einmal meine Bitte: Bleiben wir beidiesem Thema bei der guten Tradition, die sich in unse-rem Ausschuss, aber auch hier im Parlament entwickelthat, nämlich gemeinsam konsequent für dieses Themazu streiten.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Künast von
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Mi-nisterin, Sie mögen sich einiges zugutehalten – ich willdas der Fairness halber ja gar nicht ganz abstreiten –,
aber zu sagen, dass Kinder- und Bildungspolitik und derKampf gegen die Kinderarmut vorher vernachlässigt undunter Ihrer Ägide quasi zu einer Lichtgestalt wurden,muss ich nun wirklich zurückweisen.
Wir haben kein Kurzzeitgedächtnis, sondern wissen,dass das Kindergeld vor Ihrer Regierungszeit durch einerot-grüne Koalition und gegen den Widerstand der CDU/CSU zweimal um insgesamt 37 Prozent erhöht wurde.Das ist die Wahrheit.
Wir wissen auch, dass wir uns viel Mühe gegeben ha-ben – gegen den erbitterten Widerstand zumindest derCDU/CSU-Ministerpräsidenten –, als es darum ging,den Ländern Geld für den Ausbau der Tagesbetreuungund von Ganztagsschulen zu geben. Auch dadurch wirdArmut bekämpft. Die nächtlichen Auftritte von HerrnKoch vergesse ich nicht.
Die Frage ist doch, wonach wir unser Handeln aus-richten. Auf dieser Basis will ich einmal Ihren Redebei-trag und Ihre Politik betrachten. Wir sagen: Jedes Kind– ich könnte jetzt einfach ein Ausrufezeichen machenund damit aufhören – in diesem Land hat unabhängigvon irgendwelchen internationalen Vergleichen, diemich in dieser Sache gar nicht interessieren, das Rechtauf Entwicklung, die Entfaltung seiner Persönlichkeit,kindgerechte Lebensbedingungen, Schutz und die Sorgeder Gemeinschaft, also des ganzen Bundestages und al-ler Mitglieder dieser Gesellschaft, ob sie Kinder habenoder nicht. Das muss der Faden unserer Politik für Kin-der sein.
Wir wissen: Die armen Kinder befinden sich in einerVerstrickung von materieller Armut, kultureller Armutund sozialer Armut, aus der sie nicht herauskommen.Wir haben ein Betreuungs- und Bildungssystem, bei demes den Mittelschichtlern und den reicheren Eltern immernoch möglich ist, Defizite auszugleichen. Andere kön-nen das aber nicht.Frau Ministerin, Sie haben Zahlen vorgelegt. Ich pro-phezeie Ihnen, dass die Lage noch schlimmer undschwieriger wird. In Berlin haben 50 Prozent der Null-bis Zweijährigen einen Migrationshintergrund. Dabeisind die Kinder aus den bildungsfernen Schichten nochnicht mitgerechnet. Hinsichtlich der Zukunft des Landesund der Kinder wird die Luft in jeder Hinsicht brennen,wenn wir nicht jedem Kind eine Chance geben. Darummuss es gehen.
Deshalb reicht es einfach nicht, nur hier und da einbisschen zu reagieren. Frau von der Leyen, Sie sagten,Sie wollten die familienpolitischen Leistungen ein Jahrlang von einer Kommission überprüfen lassen. Auch dasreicht nicht. Jetzt ist Mut gefragt, das irgendwann aucheinmal auf den Tisch zu legen und zu sagen: Wir stellenfest, dass sich das, was hier passiert, zwar familienpoli-tisch nennt, aber bei der Erziehung von Kindern und zurVerbesserung der Erziehungssituation in Wahrheit nichtweiterhilft.
Wir sagen ganz klar: Das gestaffelte Kindergeld istkeine vernünftige Antwort. Frau von der Leyen, Ihre ei-genen Zahlen – sie stammen aus Ihrem Hause – besagenja, dass die ärmsten Familien die Ein-Kind-Familien vonAlleinerziehenden sind. Wenn Sie ein gestaffeltes Kin-dergeld einführen, dann bedeutet das, dass ungefähr94 Prozent der Kinder von Alleinerziehenden null Eurodavon haben.
Das sind nach Ihrer eigenen Darstellung aber die ärms-ten Kinder.
Warum wollen Sie ein gestaffeltes Kindergeld einfüh-ren? Wollen Sie einer Ideologie folgen – insbesondereder der CSU – oder wollen Sie wirklich Armut bekämp-fen? Dann müssten Sie eine andere Entscheidung tref-fen.
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Renate Künast– Wenn wir systematisch vorgehen wollen, dann solltenwir doch da anfangen, wo die meisten Probleme beste-hen.
Wir als Grüne wollen Kinderregelsätze für die armenKinder und mehr als das gesetzlich zwingend Notwen-dige tun. Wir wollen, dass Kinder Geld haben, um einLeben in Würde zu führen. Das schließt das Mittagessen,die Mitgliedschaft im Sportverein, um kulturell im Dorfbzw. in der Stadt verankert zu sein, und den Unterrichtan der Musikschule ein. Dafür brauchen wir etwas; dareichen 60 Prozent vom Regelsatz nicht. Wir bräuchtenalso eher eine Kommission, die das soziokulturelle Exis-tenzminimum von Kindern berechnet.
– Diese FDP-Zurufe liebe ich. Sie waren auch einmal inder Regierung. Ich weiß nicht, welchem Mutterbild Siedamals gefrönt haben.Wir wollen endlich die Sachleistung. Herr Müntefe-ring von der SPD hat im November 2007 gesagt, es solleschnell darüber entschieden werden. Ich hatte eigentlichgehofft, er habe gemeint, es werde im November 2007schnell entschieden.
Frau Kollegin Künast, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Thiele?
Nein, danke.
– Ich möchte jetzt die letzte Minute dazu nutzen, meine
Rede zum Abschluss zu bringen.
Meine Damen und Herren, wir wollen einen Betreu-
ungsausbau und eine frühkindliche Bildung. Sollte
dies erst 2013 kommen, wären viele derjenigen, die
heute klein sind, wieder einmal mit Defiziten in die
Schule gekommen. An dieser Stelle folgen wir Ihnen,
Frau von der Leyen, bei dem Satz, das Betreuungsgeld
sei eine bildungspolitische Katastrophe. Damit haben
Sie mir aus dem Herzen gesprochen.
Wir sehen nicht nur, dass 150 Euro zu wenig sind. In
Thüringen erleben wir, dass die falschen Eltern sagen,
sie bekämen Betreuungsgeld und sparten die Kitagebüh-
ren und hätten dadurch 200 Euro mehr. Wir sind aber
darauf angewiesen, dass die Kinder nicht auf das falsche
Gleis kommen, sondern sozialisiert werden.
Wir brauchen endlich ein Qualitätssiegel für die Kin-
derbetreuung. Heute gibt es noch Kindergartengruppen
mit 25 Kindern und einer Erzieherin und einer Hilfs-
kraft. Das sind die Kinderverwahranstalten, vor denen
Sie uns mit Ihrem alten Familienbild immer warnen
wollten. Wir brauchen den guten und gesunden Kinder-
garten, und dazu brauchen wir ein Qualitätssiegel.
Frau Kollegin Künast, erlauben Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Fischbach?
Jetzt habe ich zu Herrn Thiele Nein gesagt.
– Nein, das hat nichts mit Feigheit zu tun. Ich möchte
versuchen, meine Rede jetzt geschlossen zu Ende zu
bringen. Ansonsten lasse ich gern Zwischenfragen zu.
Meine Damen und Herren, als letzten Gedanken
bringe ich noch Folgendes in diese Debatte ein: So, wie
wir den Aufbau Ost gemeinsam finanziert und umgesetzt
haben, müssen wir jetzt das Thema Bildung als gesamt-
staatliche und gesamtgesellschaftliche Aufgabe begrei-
fen. Wir brauchen Geld für Kreativität, Personalausstat-
tung und eine gute Personaleingruppierung. Ab 2010
werden die Zahlungen aus dem Solidaritätszuschlag an
die neuen Länder abgeschmolzen. Jetzt sollten wir die
Entscheidung treffen, das, was wir beim Aufbau Ost
konnten, für Kinder zu tun. Dieses Land muss den Soli-
zuschlag nehmen und aus ihm für jedes Kind in diesem
Land einen Bildungssoli machen. Das wäre sinnvoll.
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Carl-Ludwig Thiele das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Künast, Sie habendie Frage in den Raum gestellt, was denn seinerzeit vonder FDP gekommen sei. Ich weise darauf hin, dass aufInitiative der FDP im Jahr 1996 Kindergeld als negativeEinkommensteuer eingeführt wurde.
Wir hatten bis dahin für das erste Kind ein Kindergeldvon 70 DM, danach ein Kindergeld von 200 DM. Sostellen wir uns das Bürgergeld auch vor. Das Kindergeldist keine Gnadenleistung des Staates an die Bürger, son-dern die Bürger haben das Recht darauf, den Lebens-unterhalt ihrer Kinder aus unversteuertem Einkommenbestreiten zu können.
Dieser Systemwechsel war nicht einfach zu erreichen.Ich bin der SPD, die damals in der Opposition war, nachwie vor dankbar, dass sie diesem Systemwechsel imDeutschen Bundestag zustimmte; denn dieser System-wechsel war die Voraussetzung dafür, dass das Kinder-
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Carl-Ludwig Thielegeld auf 220, 250 und 300 DM weiterentwickelt unddann auch in dieser Höhe in Euro umgerechnet werdenkonnte. Die zentrale Frage ist hier: Gibt der Staat eineGnadenleistung an die Familien, oder haben die Fami-lien nicht ein Recht darauf, den Unterhalt ihrer eigenenKinder aus unversteuertem Einkommen zu bestreiten?Sofern das Kindergeld darüber hinausgeht – so habenwir es gesetzlich festgelegt; so ist es im Einkommensteu-ergesetz geregelt –, dient es der zusätzlichen Förderungder Familie. Wir stehen zu diesem Weg und wollen ihnweiter ausbauen. Ich glaube, dies war die Schnittstelledafür, dass für die Familien in unserem Lande viel mehrgeschehen ist, als es vorher der Fall war.
Zu einer weiteren Kurzintervention erteile ich der
Kollegin Fischbach das Wort. Frau Künast, Sie können
dann bitte auf beide Kurzinterventionen zusammen ein-
gehen.
Frau Künast, ich habe eine kurze Zwischenfrage, die
Sie schnell beantworten können. Da Sie mir während Ih-
rer Rede nicht die Möglichkeit gegeben haben, diese
Frage zu stellen, mache ich es auf diesem Weg.
Ihre Feststellung, dass die falschen Eltern das Betreu-
ungsgeld – zu dem man stehen kann, wie man will – be-
kommen, war sehr interessant. Das drückt indirekt aus,
dass die richtigen Eltern es durchaus bekommen sollten.
Unsere Fraktion und auch die Eltern vor den Fernseh-
geräten haben ein Anrecht darauf, von Ihnen zu erfahren,
wen Sie für die falschen Eltern halten. Dann wüssten wir
auch, wer die richtigen sind.
Frau Künast zur Erwiderung.
Ich fange mit der zweiten Frage an. Es gibt in diesem
Zusammenhang keine falschen oder richtigen Eltern;
vielmehr sind es die Falschen, die das Betreuungsgeld
nutzen. Wie ist das zu begründen? Wir gehen davon aus,
dass durch Bildung die Armut bekämpft werden kann
und dass Bildung jedem Kind Chancen bietet, sich in
seinem Leben weiterzuentwickeln und seine Potenziale
zu entfalten.
Ich bin davon überzeugt, dass die Falschen das Be-
treuungsgeld nutzen – das zeigt auch das Beispiel Thü-
ringen –, weil gerade Eltern aus bildungsfernen und
finanziell schwachen Schichten ihr Kind nicht im ersten,
zweiten oder dritten Lebensjahr in den Kindergarten
bringen, sondern das Betreuungsgeld lieber sparen wol-
len.
– Das glaube ich nicht nur, sondern das belegen auch die
Zahlen aus Thüringen. Ich kann sie Ihnen gerne heraus-
suchen.
Es geht mir beim Betreuungsgeld nicht um die Frage,
was wir den Eltern zukommen lassen. Für mich geht es
vielmehr darum, dass die Kinder in diesem Land einen
Anspruch haben, sich entwickeln zu können. Diese Ent-
wicklung soll nicht daran scheitern, dass die Eltern an
der Stelle Geld sparen wollen. Jedes Kind soll sich ent-
wickeln können.
Die Hälfte der Kinder kommen aus Migrantenfami-
lien; in manchen Stadtteilen Berlins zum Beispiel ist der
Anteil noch höher. Viele von ihnen können zum Zeit-
punkt ihrer Einschulung weder richtig Türkisch noch
Deutsch. Es wäre eine bildungspolitische Katastrophe,
wenn wir gerade diesen Eltern Geld dafür geben, dass
sie ihren Kindern faktisch keine Chance bieten. Dafür
sollten keine Steuergelder eingesetzt werden.
Jetzt komme ich zu Ihrer Kurzintervention, Herr
Thiele. Ihre Variante der negativen Einkommensteuer
würde nur Eltern betreffen, die auch Steuerzahler sind.
Den ärmeren Eltern würden Sie damit keine Hilfestel-
lung geben. Ich muss leider auch daran erinnern, dass die
FDP in der Vergangenheit die Erhöhung des Kindergel-
des und der Regelsätze für die ärmsten Kinder abgelehnt
hat.
In Ihrem Redebeitrag gab es durchaus gute Ansätze.
Es gibt auch hier und da Gemeinsamkeiten. Ich
wünschte mir aber, dass Sie auch den Mut haben, festzu-
stellen, dass das Ehegattensplitting abgeschmolzen wer-
den muss. Denn es ist falsch, zum Beispiel die kinder-
lose Ehe weiter steuerlich zu privilegieren, statt das Geld
gezielt zugunsten jedes einzelnen Kindes einzusetzen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sybille Laurischk vonder FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist be-
merkenswert, dass die Bundesfamilienministerin in einer
solchen Debatte bereits den Saal verlassen hat, gerade
weil sie offensichtlich sehr kontrovers verläuft.
Damit komme ich zu Ihnen, Frau Künast. Wenn Sie
meinen, dass Migrantenkinder zu geringe Bildungschan-
cen haben, dann frage ich mich, welche Maßnahmen
während der rot-grünen Regierungszeit wirkungsvoll
waren.
Ich glaube, dass die Defizite auch in dieser Zeit zu fin-
den sind. Zum Beispiel sind auch der Spracherwerb und
die Kenntnis der deutschen Sprache nicht ausreichend
behandelt worden. Wir haben dieses Thema auf die
Agenda gesetzt
und verlangen von Ihnen entsprechende Anstrengungen
im Rahmen des Integrationsprozesses.
Frau Kollegin Laurischk, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Singhammer?
Ich möchte in meiner Rede fortfahren. Herr Singham-mer hatte schon Gelegenheit, seine Vorstellungen darzu-legen.Die FDP hat auf ihrem Bundesparteitag am vergangenenWochenende klare familienpolitische Beschlüsse getroffen.Wir wollen einen Freibetrag in Höhe von 8 000 Euro für je-des Familienmitglied und ein Kindergeld in Höhe von200 Euro für jedes Kind.
Wir haben uns darüber hinaus mit familienpolitischenFragen befasst, über die in der Bundesregierung nochimmer kontrovers diskutiert wird. Die FDP lehnt ein Be-treuungsgeld ab.Wenn man sich die Überschriften der Anträge an-schaut, dann stellt man fest, dass es noch um einen ande-ren Aspekt des Familienrechts und der Familienpolitikgeht, nämlich um den Unterhaltsvorschuss. Wir schrei-ben das Jahr eins nach der Unterhaltsrechtsreform. DieseReform hat die FDP gefordert, um Kindern den Vorrangbei der Unterhaltsberechtigung zu geben, und zwar vordem Unterhalt des betreuenden Elternteils, meistens derMütter. Damit haben wir alle im Deutschen Bundestagein sehr klares Signal gesetzt, dass Kinder in der Für-sorge ihrer Eltern – auch in der finanziellen – unbeding-ten Vorrang haben.Wer im Familienrecht tätig ist, weiß, dass die unsägli-che Berechnung sogenannter Mangelfälle damit endlichein Ende haben soll; denn sie dokumentieren nur, wasden Kindern letztlich nichts nutzt, nämlich die Vertei-lung des Mangels. Immer dort, wo die Einkommens-situation der Eltern nicht ausreicht, soll zumindest dieSicherung der Existenz der Kinder Vorrang haben. Wirhaben uns zudem dafür ausgesprochen, dass die Unter-haltsberechtigung der Erwachsenen, also der Eltern, hierzurückstehen muss. Damit wollen wir die Bereitschaftder Unterhaltsverpflichteten, meistens der Väter, för-dern, den Kindesunterhalt tatsächlich zu zahlen.
Dies ist nach wie vor ein großes Problem. In vielen Fäl-len ist der Unterhalt zwar durch ein Urteil festgestellt,wird aber nicht gezahlt.Neben der Zwangsvollstreckung gibt es verschiedeneLösungsmöglichkeiten. Eine ist der breiten Öffentlichkeitso gut wie nicht bekannt, obwohl sie recht gravierend ist.Das Nichtzahlen des Kindesunterhalts und das Belassender Kinder in Armut durch die Eltern sind ein Straftat-bestand nach § 170 StGB. Im Rahmen einer Kleinen An-frage hat sich die FDP-Bundestagsfraktion mit der Auswir-kung dieser Vorschrift auseinandergesetzt. Wir musstenfeststellen, dass im Jahr circa 20 000 Fälle angezeigt undermittelt werden, dass allerdings nur in 5 000 Fällen einUrteil ergeht. Meistens wird dann gezahlt. Die Straf-anzeige kann also ein wirkungsvolles Instrument sein.Das ist aber familienpolitisch sicherlich unbefriedi-gend. Deswegen gibt es noch eine andere Problemlö-sungsmöglichkeit, nämlich das Unterhaltsvorschuss-recht. Jährlich haben rund 500 000 Kinder in der ganzenBundesrepublik Anspruch auf Unterhaltsvorschussleis-tungen. Diese Möglichkeit der staatlichen Hilfe im Falldes Nichtzahlens des Kindesunterhalts wird also breit inAnspruch genommen. Es handelt sich um eine Überbrü-ckung, um gerade bei durch Trennung der Eltern eintre-tender Unterhaltsbedürftigkeit einen Puffer zu haben. Sowar das Gesetz mit einer Anspruchsberechtigung vonmaximal 36 Monaten ursprünglich konzipiert. Mittler-weile ist die Anspruchsdauer auf 72 Monate angehobenworden.Völlig unverständlich ist aber die Tatsache, dass die-ser Anspruch nur für Kinder bis zwölf Jahren und nichtbis zum 18. Lebensjahr gilt. Das Familienkompetenz-zentrum attestiert – wir sind auf die Lösungen gespannt –älteren Kindern und Jugendlichen alleinerziehender El-tern ein höheres Armutsrisiko als jüngeren Kindern. Kin-der und Jugendliche im Alter zwischen 15 und 18 Jahrenstellen fast 30 Prozent der von Armut betroffenen Kin-der. Das Familienkompetenzzentrum liefert die Begrün-dung gleich mit: Es liege unter anderem daran, dass derUnterhaltsvorschuss nur bis zur Vollendung des zwölftenLebensjahrs geleistet wird, ohne dass im Anschluss einevergleichbare Leistung verfügbar sei. Hier ist dringendAbhilfe zu schaffen.
Wir verlangen, dass die Leistungsberechtigung auchauf Kinder bis zum 18. Lebensjahr ausgedehnt wird. Wer
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17519
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Sibylle LaurischkBedenken wegen der Finanzierung hat, kann unserenVorschlag aufgreifen, die ursprüngliche Berechtigungs-dauer von 36 Monaten wieder einzuführen, sodass einhaushaltstechnisches Problem gelöst wäre. Die Hilfestel-lung würde dann alle unterhaltsbedürftigen Kinder errei-chen, zumindest für die Übergangszeit, also bis ihr Un-terhaltsanspruch geklärt ist.Insgesamt brauchen wir ein Umdenken in dieser Ge-sellschaft dahin gehend, dass das Leisten von Kindesun-terhalt so selbstverständlich ist wie das Versorgen vonKindern.
Es geht nicht an, dass es von Fall zu Fall geradezu mit ei-nem Achselzucken kommentiert wird, wenn Väter – diesesind es in der Mehrzahl der Fälle – ihr Nichtzahlen vonUnterhalt damit kommentieren, dass die Mutter gar kei-nen Pfennig mehr bekommen soll. Es geht uns um dieKinder. Erst wenn wir dies in den anstehenden Reformenumsetzen, können wir eine Stimmung in Deutschlandwecken, die es möglich macht, Kinder als den eigentli-chen Reichtum unserer Gesellschaft zu begreifen, dievor Armut geschützt werden müssen.
Zu einer Kurzintervention erteile ich zunächst dem
Kollegen Johannes Singhammer und anschließend dem
Kollegen Beck das Wort.
Frau Kollegin Laurischk, Sie haben den Eindruck zu
erwecken versucht, als sei die Ministerin aus Interesselo-
sigkeit nicht mehr hier im Plenum des Deutschen Bun-
destags anwesend. Ich möchte diese völlig falsche Un-
terstellung zurückweisen. Die Ministerin ist derzeit bei
der Festveranstaltung „Generationsübergreifende Frei-
willigendienste“. Das war bekannt, und das wussten alle
anderen.
Deshalb empfinde ich es nicht nur als unsachlich, son-
dern auch als falsch, wenn Sie mit dieser Art von Unter-
stellung arbeiten. Im Übrigen ist die Bundesregierung
durch den Staatssekretär bestens vertreten.
Jetzt hat zu einer Kurzintervention der Kollege Volker
Beck das Wort.
Sie wussten nicht, was wir unter Rot-Grün für Mi-
grantenkinder gemacht haben. Dazu kann ich Ihnen sa-
gen: Wir haben im Zuwanderungsgesetz unter Rot-Grün
erstmals die Integration überhaupt bundesrechtlich gere-
gelt. Hätten Sie das in den 16 Jahren vorher während der
Kohl/Genscher-Ära gemacht, hätten wir viele Probleme
heute nicht zu lösen, die wir dadurch, dass die Integra-
tionspolitik während Ihrer Regierungsära verschlafen
wurde, auf dem Tisch haben.
Aber das war nicht das Einzige, was wir gemacht ha-
ben: Wir haben das Ganztagsschulprogramm aufgelegt.
Das hilft gerade Kindern aus Migrantenfamilien, um so-
ziale Benachteiligungen auszugleichen. Wir haben das
U-3-Programm gemacht, und wir haben ein Programm
– das kennen Sie vielleicht nicht, weil Sie damals im
Rechtsausschuss gewesen sind – „Entwicklung und
Chancen“ aufgelegt, das besonders Jugendhilfeprojekte
für Migranten fördert. Das zeigt, dass wir eine ganze
Menge gemacht haben. Das alles reicht nicht aus, und
darauf kann man sich nicht ausruhen, aber dass Sie die-
sen ganzen Politikbereich offensichtlich vier Jahre im
Parlament verschlafen haben, zeigt, wie wichtig Ihnen
die Integrationspolitik für Migrantenkinder ist. Das sieht
man Ihren steuerpolitischen Vorschlägen ja auch an.
Zur Erwiderung Frau Laurischk.
Herr Beck, für mich war im Zuge der integrationspo-
litischen Debatte besonders eindrucksvoll, dass ich zu
dem Thema „Deutsch auf den Schulhöfen Berlins“ von
grünen Abgeordneten die Mitteilung bekam, das sei eine
Zumutung. Mittlerweile hat sich glücklicherweise die
Einsicht breit gemacht, dass Deutsch als Verständi-
gungsmöglichkeit in Schulen selbstverständlich ist.
Ich glaube, dass die Grünen damals zu Beginn dieser
Debatte noch gar nicht begriffen haben, welche bil-
dungspolitische Bedeutung der Erwerb der deutschen
Sprache hat.
Im Übrigen möchte ich Herrn Singhammer antwor-
ten: Ich habe die Mitteilung bekommen, dass sich die
Ministerin nicht die ganze Debatte hier aufhalten wird,
aber noch zu Beginn meiner Rede da sein wird. Sie war
es nicht. Ich stelle fest, dass jetzt auch schon Frau Kün-
ast gegangen ist. So viel zur Aufmerksamkeit hinsicht-
lich der Debatte zur Familienpolitik, die wir angeregt ha-
ben.
Das Wort hat der Kollege Dieter Steinecke von derSPD-Fraktion.
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17520 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Gäste! Kinder sollen mutig, neugierig undfröhlich ins Leben gehen. Arme Kinder können dasnicht. Kinderarmut bedeutet gesellschaftliche Ausgren-zung. Es ist eine Grundaufgabe der Gesellschaft, allenunseren Kindern ein anständiges Leben zu ermöglichenund ihnen Perspektiven für ihre Zukunft zu eröffnen.Wir Politiker müssen dafür sorgen, dass die Rahmenbe-dingungen stimmen. Wir Sozialdemokraten sind über-zeugt, dass dies in einer insgesamt wohlhabenden Ge-sellschaft weiß Gott nicht zu viel verlangt ist.
Eines muss uns allen klar sein: Wer glaubt, dass sichArmut von Kindern allein durch direkte Transferleistun-gen wirksam bekämpfen lässt, der springt zu kurz.
Sicherlich muss den Kindern und Jugendlichen, die vonArmut jetzt unmittelbar betroffen sind, geholfen werden– das ist überhaupt keine Frage –;
doch struktureller Armut kann man nur mit strukturel-len Maßnahmen begegnen.Es ist schon vielfach gesagt worden: Es gibt verschie-dene Gründe für Armut und Ausgrenzung. Deshalb mussan verschiedenen Stellen angesetzt werden, um die Ursa-chen zu bekämpfen. Drei dieser Stellen ragen heraus – indieser Reihenfolge –: Erstens: Bildung. Zweitens: Aus-bildung. Drittens: Sozialtransfers.Arbeit zu haben, ist – das klingt banal – die besteHilfe zur Selbsthilfe. Darum geht es im Wesentlichenbei der Bekämpfung der Armut. Am Arbeitsmarkt gehtes momentan bergauf. Es gilt eben, diese Erfolge zu ver-stetigen und strukturell zu sichern.Doch Arbeit schützt nicht immer vor Armut. In unse-rem Land gibt es etliche Menschen, die arbeiten gehen,und zwar Vollzeit, und davon doch nicht anständig lebenkönnen. Das wird von manchen Parteien sehenden Au-ges hingenommen. Umso energischer müssen wir unsereForderung vertreten: gutes Geld für gute Arbeit; gesetz-licher Mindestlohn in allen Branchen.
Auch auf einem sich bessernden Arbeitsmarkt habennur Menschen Chancen, die über eine anständige Bil-dung und Ausbildung verfügen. Durch einen ungerech-ten Zugang zur Bildung verfestigt sich Armut, und dasdarf nicht sein.Was die Bildung anbelangt, stehen vor allem auch dieLänder in der Pflicht. Man mag es begrüßen oder auchbedauern: Bildung ist Ländersache. Doch obwohl wir esnicht müssten, eigentlich nicht einmal dürften, haben wirbeträchtliche Bundesmittel in die Hand genommen, umBildung und Ausbildung in diesem Land auszubauen.Weil Bildung nicht erst am Tag der Einschulung be-ginnt, haben wir eine Offensive für frühkindliche Be-treuungs- und Lernangebote gestartet. Erst vor kurzemwurde ein umfangreiches Sondervermögen zum Ausbauder Tagesbetreuung für unter Dreijährige errichtet. Ohnedies wären die Bundesländer sicherlich nicht in demMaße tätig geworden, ohne dies blieben die Ausbauzielevielfach reine Utopie.Dem essenziell wichtigen Bereich der frühkindlichenBildung droht meiner Meinung nach übrigens eine Kata-strophe: Einige Landesregierungen und einige Köpfe indiesem Hause plädieren für ein sogenanntes Betreuungs-geld; darüber ist schon vielfach gesprochen worden.Dies hätte eine verheerende Konsequenz. Gerade jeneKinder, die wir erreichen wollen und müssen, würdenaus einer entscheidenden Entwicklungs- und Lernerfah-rung gewissermaßen herausgekauft.
Ein Blick nach Thüringen sollte reichen, um solchePläne schnell und nachhaltig zu verwerfen.
Auch das schulische Angebot kann verbessert wer-den. Wie Frau Ministerin von der Leyen bin ich ein gro-ßer Anhänger der echten Ganztagsschule, flächende-ckend, sofort. Ich bin froh, dass ich die Ministerin anmeiner Seite habe. Auch hier hat der Bund den Ländernmit einem milliardenschweren Programm auf dieSprünge geholfen – oder dies zumindest versucht.
– Darüber können wir nachher gern diskutieren. Ich willkeine Ganztagsschule light, sondern eine echte, HerrGoldmann.
Von einem pädagogisch sinnvollen Ganztagsschul-konzept sind die meisten Länder weit entfernt. Das istschade für unsere Kinder, weil in den Ländern vielfachnur in Beton investiert worden ist und nicht in eine ver-nünftige Ausstattung, beispielsweise mit Lehrerstunden.Auch sonst ist die autonome Bildungspolitik der Länderoft alles andere als glanzvoll. Die Bandbreite der weite-ren Sünden reicht von Abschaffung der Lernmittelfrei-heit bis hin zur Einführung von Studiengebühren für dasErststudium. Auch dies sind Maßnahmen, die geradediejenigen treffen, über deren Belange wir heute spre-chen. Es sind Maßnahmen, die die Bildungsschere wei-ter und weiter öffnen und strukturelle Armut verfestigen.Auch wer sich um die berechtigten Anliegen undBedürfnisse Benachteiligter einen Dreck schert – ent-schuldigen Sie diesen harten Ausdruck –, kann dieseEntwicklung nicht wollen: Unzureichende Bildung undAusbildung bedeuten nicht nur Chancenungerechtigkeit;sie sind auch volkswirtschaftlicher Wahnsinn. Zum ei-nen können wir es uns als Wissensgesellschaft nicht leis-ten, Potenziale brachliegen zu lassen, und zum anderenkosten uns Transferleistungen und Flickschusterei an
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17521
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Dieter SteineckeFolgeschäden ein Vielfaches von dem, was wir investie-ren müssten, um ein leistungsfähiges und gerechtes Bil-dungssystem für alle Kinder und Jugendlichen in unse-rem Land zu schaffen.Zur Leistungsfähigkeit Folgendes: Die wirklich aller-geringste Anforderung an Schule muss sein: Wer in dieSchule geht, kann Deutsch; wer rauskommt, hat einenAbschluss.
Das ist die Minimalanforderung. Wenn wir das erreichenwürden, hätten wir schon eine ganze Menge geschafft.Wie dem auch sei: Alle Anstrengungen zum Ausbauund zur Verbesserung von Betreuung, Bildung und Aus-bildung, wie gut sie auch sein mögen, tragen erst in fer-ner Zukunft Früchte. Die Erfolge unseres bisherigen Re-gierungshandelns, von denen ich überzeugt bin, werdenerst in Jahren zu sehen sein. Bis dahin – ich sagte dies –müssen wir mit Sozialtransfers, über deren Form undHöhe man sicherlich diskutieren muss, die Not lindernund den betroffenen Menschen jetzt helfen. Und es ist jabeileibe nicht so, dass wir in dieser Hinsicht bislang un-tätig waren. Meine Vorredner haben dies ja allzu deut-lich gemacht: Unser Sozialstaat trägt wesentlich dazubei, dass Armut vermindert wird.Wir Sozialdemokraten werden unseren Weg weiterbeschreiten – unseren Weg zu mehr Beschäftigung, zufairen Bildungschancen und zu sozialem Ausgleich.Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Jörn Wunderlich von
der Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich finde das toll: Alle reden von Kinderarmut
und darüber, wie sie bekämpft werden kann/sollte/
müsste und was man früher alles gemacht hat; aber wenn
es um etwas Konkretes geht, dann kneifen alle. Anders
kann ich mir nicht erklären, dass über den Gesetzentwurf
der Linken, der auch auf der Tagesordnung steht, näm-
lich zur Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes, bis-
lang so gut wie kein Wort verloren worden ist; bei der
FDP war das nur ansatzweise der Fall.
Unterhaltsvorschuss bekommt ein Kind, wenn es bei
einem Elternteil lebt und der andere Elternteil keinen
Unterhalt zahlt. Ich will Ihnen einmal einen Fall aus dem
Leben schildern, der die Linke zur Vorlage dieses Ge-
setzentwurfs bewegt hat:
Ein Kind lebt bei seiner Mutter; der Vater zahlt keinen
Unterhalt; das Jugendamt leistet Unterhaltsvorschuss.
Die Mutter hat einen Verkehrsunfall und stirbt; denkbar
wäre auch: Sie wird psychisch krank, hat eine Depres-
sion und wird in eine Einrichtung eingewiesen. Zum Va-
ter kann das Kind nicht. Das Kind soll ins Heim kom-
men, wird aber von der Großmutter aufgenommen: Es
ist ja schließlich ihr Enkelkind. Und wozu ist Familie
da? – Was macht das Jugendamt daraufhin? Es stellt die
Zahlung des Unterhaltsvorschusses ein.
Ich weiß – wir haben es im Ausschuss erörtert –, so
ein Fall ist für die CDU nicht vorstellbar.
Frau Möllring kennt aus Ihrer Erfahrung nicht einmal ei-
nen Fall, bei dem ein Kind nicht bei einem Elternteil
lebt.
Dieses Kind lebt nicht mehr bei einem Elternteil, son-
dern bei einem Großelternteil. Deshalb gibt es per Ge-
setz, so wie es gegenwärtig ist, kein Geld mehr. Gerade
das soll mit unserem Gesetzentwurf geändert werden.
– Nein, Marlene, heute nicht.
Was kann die Großmutter sonst machen? Für die
Doppelbelastung anderer Personen als des Elternteils
stehen die allgemeinen Jugendhilfeleistungen zur Verfü-
gung. Diese Argumentation – das ist auch die Argumen-
tation des Ministeriums – trägt aber nur teilweise.
Herr Kollege Wunderlich, erlauben Sie eine Zwi-
schenfrage der Kollegin Rupprecht?
Das besprechen wir im Ausschuss.
Wollen Sie die Zwischenfrage jetzt zulassen oder
nicht?
Nein. – Pflegeltern beispielsweise erhalten nach § 39SGB VIII sogenanntes Pflegegeld, sodass kein Bedarfhinsichtlich eines Unterhaltsvorschusses entstehen kann.
– Zu Ihnen, Herr Singhammer, komme ich noch. – Zudiesem Personenkreis gehört die Großmutter aber in allerRegel nicht, weil sie ihr Enkelkind aus innerfamiliärerHilfsbereitschaft – es ist ja schließlich ihr Enkelkind –aufnimmt.
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Jörn WunderlichIch weiß, solche innerfamiliäre Hilfsbereitschaft gehtder SPD ab. Sie ist der Meinung, § 39 SGB VIII greifeimmer. Aber selbst wenn dieser Paragraf greift, kann dasPflegegeld aufgrund bestehender Unterhaltsverpflich-tungen seitens der Großmutter nach § 1601 BGB – dasteht: „Verwandte in gerader Linie sind verpflichtet,einander Unterhalt zu gewähren“ – angemessen gekürztwerden. In jedem Fall bleibt die Tatsache, dass das Kindseinen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvor-schuss verliert, wenn ein Großelternteil an die Stelle derMutter tritt. Insoweit stellt sich schon die Frage, ob diealleinstehende Großmutter der belastenden Situationausgesetzt werden soll, die das Unterhaltsvorschussge-setz eben vermeiden will.
Nun kann bei Bedürftigkeit Sozialhilfe in Anspruchgenommen werden. Anspruchsinhaber auf den Unter-haltsvorschuss ist aber das Kind. Insoweit ist eine Be-dürftigkeit der Großmutter nicht von Bedeutung.
Da sich weder der juristischen Literatur noch der Recht-sprechung Argumente entnehmen lassen, die einer Aus-weitung des Berechtigtenkreises des § 1 Abs. 1 Unter-haltsvorschussgesetz entgegenstehen, sollte die Koalitionihre Meinung zu den Voraussetzungen, um zum Berech-tigtenkreis nach § 1 Abs. 1 Unterhaltsvorschussgesetz zugehören, in diesem begrenzten Sinne, wie es der Gesetz-entwurf, vorsieht, einmal überdenken.
Die Linke will den in solchen Fällen betroffenen Kin-dern helfen. Helfen Sie mit! Da spreche ich jetzt insbe-sondere die SPD an.
Stimmen Sie dem Gesetz zu und lassen Sie diese Hilfenicht wieder an der Kinderfeindlichkeit der GroßenKoalition und Ihrer Hörigkeit in dieser Koalition schei-tern! Hören Sie doch endlich einmal auf, der CDU/CSUimmer hinterherzuhecheln!
Nun noch ganz kurz zum Antrag der FDP, die Alters-grenzen anzuheben. Das wird ja von der Linken schonseit eh und je gefordert. Insoweit ist das gut.
– Tun Sie nicht so erstaunt. Wir haben das schon oft imAusschuss gefordert. Es gab dazu sogar einen Antragvon uns, der abgelehnt worden ist. Frau Laurischk, wowaren Sie bei diesen Ausschusssitzungen?
Die entsprechenden Anträge sind also bisher immerabgelehnt worden. Die FDP versucht jetzt das Gleichenoch einmal, aber gleichzeitig unter Kürzung derBezugsdauer. Dazu kann ich nur sagen: Nicht mit uns!
Wenn bei Ihnen schon im Feststellungsteil der Kinderzu-schlag erwähnt und bemängelt wird, frage ich mich, wa-rum im Forderungskatalog keine entsprechenden Forde-rungen auftauchen. Ich kann dazu nur wieder feststellen:Auch hier hat die FDP wieder einmal kein eigenes Kon-zept. Eigentlich schade; denn es geht ja um die Kinder.Nun zu Ihren Ausführungen, Herr Singhammer, zumErziehungsgehalt: Kommen Sie einmal in der Realitätan!
Es gibt einen Bundesparteitagsbeschluss der Linken vom25. Mai, der ein solches Erziehungsgehalt eindeutig ab-lehnt,
auch wenn das Ihren Wünschen und Vorstellungen – esist ja eine alte Zielvorstellung der CSU: Frauen an denHerd und sie dafür ordentlich bezahlen – nicht ent-spricht.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Marlene Rupprecht.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichhätte dieses Problem eigentlich gerne durch eine Zwi-schenfrage gelöst. Herr Kollege Wunderlich, wir arbei-ten sonst eigentlich sehr kollegial zusammen, wenn esum Kinder geht. Man sollte aber zumindest die Rechts-lage kennen. Ich lese Ihnen einmal § 27 Abs. 2 a desSGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe – vor:Ist eine Erziehung des Kindes oder Jugendlichenaußerhalb des Elternhauses erforderlich, so entfälltder Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nicht da-durch, dass eine andere unterhaltspflichtige Person– unterhaltspflichtige Personen gibt es nur in direkter Li-nie, also Eltern und Großeltern, mehr nicht –bereit ist, diese Aufgabe zu übernehmen; die Ge-währung von Hilfe zur Erziehung setzt in diesemFall voraus, dass diese Person bereit und geeignetist, den Hilfebedarf in Zusammenarbeit mit dem
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Marlene Rupprecht
Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach Maßgabeder §§ 36 und 37 zu decken.Weitere Paragrafen, die hier zutreffen, sind die §§ 33,36 und 39. Unterhaltspflichtige, die für ein Kind auf-kommen müssten, werden also vom Jugendamt gefor-dert, wobei das Jugendamt die Fremdunterbringung be-zahlen muss. Wenn hier irgendjemand etwas anderessagt, dann ist klar, dass er die entsprechenden Gesetzezur Jugendhilfe und das Unterhaltsvorschussgesetz nichtkennt.
Der Unterhaltsvorschuss ist keine Ersatzleistung beiaußerhäusiger Unterbringung. Für den Fall, dass einKind außerhäusig bei Großeltern untergebracht wird, ha-ben wir mit der letzten Reform der Jugendhilfe im § 27SGB VIII den Abs. 2 a eingeführt, um damit die Ver-wandtenpflege abzusichern, also um dafür zu sorgen,dass Großeltern, die dazu bereit sind, nicht bestraft wer-den. Dabei kann dann die Unterhaltspflicht der Groß-eltern anteilig mitberücksichtigt werden, aber mehrnicht. Das Kind bekommt einen nach dem Alter abge-stuften Barbetrag darüber hinaus. Ich bitte, dies einmalzur Kenntnis zu nehmen.
Es ist schon wichtig, dass man Gesetze liest, bevor manim Bundestag entsprechende Anträge stellt.
Herr Kollege Wunderlich zur Erwiderung.
Frau Kollegin Rupprecht, der Anspruch auf Unter-
haltsvorschuss entfällt in dem Falle; es ist halt so. Die
übrigen Leistungen werden ersetzt.
Am Ende ist von Ihnen in einem konzilianten Neben-
satz erwähnt worden, dass die Unterhaltsverpflichtungen
der Großeltern bestehen und dass sie angerechnet wer-
den können. Sie werden auch angerechnet. So sind die
Fälle in der Praxis, und gerade um diese Fälle geht es in
unserem Gesetzentwurf.
Es soll ein minimaler Punkt angepasst werden, um
diese kleine Regelungslücke zu schließen. Trotzdem
sträuben Sie sich ohne Ende. Jedes Mal, wenn es eine
konkrete Problemlösung gibt – es handelt sich um Fälle
aus der Praxis –, dann zieht diese Koalition nicht mit.
Große Worte, keine Taten, das kennzeichnet die Kinder-
und Familienpolitik dieser Regierung im Hinblick auf
Kinderarmut.
Frau Rupprecht, Sie können darauf nicht erwidern.
Andere Redner Ihrer Fraktion können darauf noch einge-
hen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elisabeth Winkel-
meier-Becker von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Die Überschriften der Anträge von Grünen undFDP lassen eigentlich einiges erhoffen. Aber leiderkommt beim Weiterlesen schnell die Ernüchterung. Voneinem Gesamtkonzept zur Vermeidung von Kinderarmutkann hier nicht die Rede sein.Im Antrag der Grünen steht unter Punkt 2 – von derLinken wurde es gerade wiederholt –:Das Ausmaß der Kinderarmut wächst und die Re-gierung schaut untätig zu.Da kann ich nur sagen: Sie haben einige Dinge einfachnicht mitbekommen.Werfen Sie doch einmal einen Blick in den neuenArmuts- und Reichtumsbericht von Minister Scholz.Er zeichnet das Bild der Armut anhand der Daten von2004 und 2005.
Das ist der Zeitraum nach sieben Jahren grüner Regie-rungsmitverantwortung.
Ich finde es aber für diese Debatte nicht erhellend,wenn wir uns mit gegenseitigen Schuldzuweisungen be-glücken. Ich finde es auch nicht gut, wenn mit demGestus der Empörung die Folgen von privaten Entschei-dungen komplett der Regierung vor die Hütte gekipptwerden.
Wenn es beispielsweise auf privaten Entscheidungenberuht, dass die Familien der türkischen Communityeine höhere Geburtenrate haben,
dann bedeutet das zwar, dass wir uns besonders darumkümmern müssen, aber die Folgen sind der Regierungnicht von vornherein anzulasten. Deshalb finde ich esfalsch, wenn dieses Thema mit dem Gestus großer Auf-regung vorgetragen wird.
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Elisabeth Winkelmeier-Becker– Nein, das ist nicht die Konsequenz. Es hat vor allemnicht die Konsequenz – das dürfen Sie nicht falsch ver-stehen –, dass wir uns diesem Problem nicht widmenwollen. Aber dass bestimmte private Entscheidungen zubestimmten Problemen führen, darf nicht von vornhereinder Politik angelastet werden.
Seit 2005 haben sich die maßgeblichen Parameter fürdie Erwerbstätigkeit von Eltern durchweg verbessert.Wir haben die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ver-bessert,
das Elterngeld eingeführt, die Absetzbarkeit von Kinder-betreuungskosten verbessert sowie den massiven Aus-bau der Kinderbetreuung beschlossen und finanziert.Wir stellen endlich auch die richtigen Weichen bei derFortentwicklung des Kinderzuschlags, vor allem mit ei-ner geringeren Transferentzugsrate, was dazu führt, dassvon zusätzlichem Einkommen auch tatsächlich mehrübrig bleibt.Wir kümmern uns verstärkt um den Wiedereinstiegvon Frauen in den Arbeitsmarkt. Dank der guten Kon-junktur – das zeigen die Zahlen – gibt es eine höhereChance, dass mehr Menschen eine bezahlte Arbeit fin-den. Das ist das Maßnahmenpaket, mit dem wir Elternzu mehr Einkommen verhelfen und damit Kinder aus derKinderarmut herausholen können.
Ihnen fällt dazu nur ein, noch mehr Ausbau der Kin-derbetreuung und mehr Rechtsansprüche zu fordern.Finanziert werden soll das durch Einsparungen beimEhegattensplitting in Höhe von 5 Milliarden Euro. Siemöchten also Familien mit Kindern, die nachweislicham meisten vom Ehegattensplitting profitieren, das Geldwegnehmen,
und zwar unter der Überschrift: Vermeidung von Kinder-armut.
Das ist doch nicht logisch.
Als zweiten Punkt wollen Sie den Regelsatz für Er-wachsene auf 420 Euro erhöhen. Gleichzeitig sollendiese Familien aber kein Betreuungsgeld erhalten; denndas würde den Anreiz setzen, Mütter vom Arbeitsmarktfernzuhalten. So ist Ihre Argumentation, die gerade nocheinmal vorgetragen wurde. Aber in der Argumentationist doch ein klarer Bruch. Wenn Sie in Bezug auf das Be-treuungsgeld kritisieren, dass es gerade für die Falschenlukrativ sei und den Anreiz zur Arbeit abschwäche– auch beim Ehegattensplitting wird häufig so argumen-tiert –,
dann erzielen Sie doch genau den gleichen Effekt, wenndie Transferleistungen erhöht werden, die es ohne ei-gene Erwerbstätigkeit und Anstrengung gibt. Wenn wirdiese baren Transferleistungen einfach nur deutlich er-höhen, dann schwächt das die eigene Initiative, finan-ziell wieder selbstständig zu werden.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kurth von den Grünen?
Ja, bitte.
Bitte schön.
Vielen Dank. – Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh-
men, dass die Erhöhung des Regelsatzes dazu dient,
das Existenzminimum zu sichern, und wie bewerten Sie
den einstimmig gefassten Beschluss des Bundesrates
vom 23. Mai 2008, in dem die Bundesländer feststellen:
Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, die
Regelleistung für Kinder nach dem SGB II sowie
die Regelsätze nach dem SGB XII unverzüglich
neu zu bemessen und als Grundlage dafür eine spe-
zielle Erfassung des Kinderbedarfes vorzusehen.
Dabei ist auch sicherzustellen, dass die besonderen
Bedarfe der Kinder im Hinblick auf die Mittagsver-
pflegung in Ganztagsschulen oder Schulen mit
einem Bildungs- und Betreuungsangebot am Nach-
mittag … sowie bei der Beschaffung von besonde-
ren Lernmitteln für Schülerinnen und Schüler …
abgedeckt werden.
Die Verhandlungsführung hatte – Sie kommen ja aus
Nordrhein-Westfalen – Herr Laumann.
Hätten Sie mich in meiner Rede fortfahren lassen,wäre ich genau darauf zu sprechen gekommen, dass diesalles für die Kinder durchaus anders bewertet werdenkann. Der Punkt, den ich gerade ausgeführt hatte, betrafzunächst den für die Erwachsenen vorgesehenen Regel-satz. Wenn sich aus dem Existenzminimumbericht, des-sen Vorlage wir im Herbst erwarten, Handlungsbedarfergibt, dann haben wir eine andere Faktenlage und dannwird daraus eine Konsequenz zu ziehen sein. Lassen Siemich am besten einfach in meiner Rede fortfahren unddamit auf die Regelsätze für Kinder zu sprechen kom-men!
Ich stimme Ihnen nämlich ausdrücklich darin zu, dasswir darüber nachdenken müssen, ob die sehr schemati-sche Bedarfsberechnung mit 60 Prozent und 80 Prozentrichtig ist. Denn als Mutter weiß ich, wie viel Kinder
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17525
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Elisabeth Winkelmeier-Beckerverputzen können und was das bei den ansteigendenPreisen bedeutet.Weitergehende Barhilfen halte ich aber für kontrapro-duktiv; denn sie würden genau das subventionieren, waspolitisch nicht gewollt ist: das dauerhafte Verharren inder Arbeitslosigkeit und das Vererben von Armut. Dawären Sachleistungen und Gutscheine im Prinzip diebessere Alternative. Ich könnte mir da übrigens auch ei-nen Anwendungsfall für das Betreuungsgeld vorstellen,der Ihre Bedenken aufgreifen könnte.Darüber hinaus kostet das alles aber Geld, und zwarfür Aufgaben, für die primär die Länder zuständig sind.Auf Bundesebene gibt es im Moment wenig Spielraum.Der Charme dieses Instruments wird aber auch in denReihen der Union gesehen.Noch einen Bruch in Ihrer Argumentation muss ichaufgreifen. – Ich sehe gerade, dass es hier blinkt.
Ich blinke, weil die Redezeit zu Ende ist.
In Deutschland sprechen wir allgemein bei einem
Einkommen von unter 50 Prozent des Medianeinkom-
mens von Armut. Sie aber beschreiben Kinderarmut an-
hand der Zahlen von Leistungsbeziehern. Das impliziert,
dass das Beziehen von Leistungen mit Armut gleichzu-
setzen ist. Aber umgekehrt wird doch ein Schuh daraus:
Der Sozialstaat funktioniert. Gerade mit diesen Leistun-
gen holen wir die Leute aus der Armut heraus.
Jetzt müssen Sie aber zum Schluss kommen.
Schade. So kann ich auf die positiven Vorschläge der
FDP zum UVG leider nicht mehr eingehen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ekin Deligöz vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Winkelmeier-Becker, ich will direkt mit IhrerKritik anfangen. Das Problem der jetzigen Koalition ist,dass Sie im Moment Kinderarmut gar nicht vernünftigkonzeptionell angehen.
Ihnen liegen ein Bericht von Herrn Scholz und einBericht von Frau von der Leyen vor. Frau von der Leyenbezweifelt die Zahlen von Herrn Scholz, Herr Scholz dievon Frau von der Leyen, und Herr Glos bezweifelt ein-fach alle Zahlen. Sie führen eine reine Zahlendebatte.Das hat aber überhaupt nichts damit zu tun, wie manKinderarmut konkret bekämpft.
Anstatt diese Zahlendebatte zu führen, sollten Sie sichmit den Instrumenten beschäftigen. Das müssen Sie sichvorwerfen lassen.
Wir brauchen ein Gesamtkonzept. Dieses Gesamtkon-zept wird von zwei Säulen getragen. Das eine ist dieKinderbetreuung zur Vereinbarkeit von Beruf und Fa-milie und damit zum Schutz gegen Kinderarmut. Das an-dere sind die materiellen Leistungen. Die Vereinbarkeitvon Beruf und Familie ist wichtig. Ja, Herr Singhammer,auch wir sind für Wahlfreiheit. Aber Kinderbetreuungdient nicht nur der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.Kinderbetreuung ist auch die frühe Förderung von Kin-dern, sei es in der Sprache, sei es in weiteren Kernkom-petenzen. Vor allem für benachteiligte Kinder ist früheFörderung wichtig.Wenn das Geld zu Hause knapp ist und die Elterndann vor der Entscheidung stehen, dann entscheiden siesich lieber für das Geld als für die frühe Förderung ihresKindes.
Das ist das Manko Ihres Betreuungsgelds. Sie könnendas noch so sehr verneinen: Die Einführung des Betreu-ungsgelds wird dazu führen, dass Kinder eben nicht frühgefördert werden, weil ihnen diese Förderungsinstru-mente vorenthalten werden. Das ist nichts anderes alseine reine Ideologiepolitik, die Sie hier durchzusetzenversuchen.
Kommen wir zu dem anderen Instrument, das Sie vor-schlagen, dem Kinderzuschlag. Wir hatten dazu imAusschuss eine Anhörung. Wissen Sie, was ich von die-ser Anhörung mitgenommen habe? Dass der Kinderzu-schlag nichts anderes als eine Mogelpackung ist.
Er ist Symbolpolitik, weil Sie nicht dazu bereit sind, aus-reichend Geld in die Hand zu nehmen, um in diesemLand wirklich etwas zu verändern. In diesem Fall solltenSie es lieber ganz lassen. Machen Sie keine Verspre-chungen, die Sie mit Ihren Taten nicht einhalten können.
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Ekin DeligözIch komme nun zu dem, was Sie gesagt haben, HerrWunderlich. Sie tun so, als ob Sie mit einer minimalenÄnderung im Unterhaltsvorschussgesetz Armut inDeutschland bekämpfen könnten. Der Bezug des Unter-haltsvorschusses ist in Deutschland auf sechs Jahre be-grenzt. Unser Problem ist aber nicht das Unterhaltsvor-schussgesetz. Unser Problem ist, dass zwei Drittelderjenigen, die unterhaltspflichtig sind, unterhaltssäumigsind und das Geld erst gar nicht zahlen. Da müssen wirsehen, wie wir die Menschen dazu bringen, den Unter-halt zu finanzieren und zu bezahlen.
Die komischen Vorschläge, die Sie machen, gehenkomplett an der Realität vorbei.
Mit dem Instrument des Unterhaltsvorschusses könnenSie die Armut nicht bekämpfen; das wissen Sie. DieserVorschlag macht sich vielleicht in Ihren Wahlkreisbürosgut, um sich in ein positives Licht zu rücken, aber mitArmutsbekämpfung hat er rein gar nichts zu tun.
Ich komme zum Vorschlag der FDP. Sie schlagen vor,die Freibeträge zu erhöhen. Wer profitiert davon? Da-von profitieren doch nur diejenigen, die Steuern zahlen,um die Freibeträge nutzen zu können.
Das sind aber nicht die Menschen, die von Armut betrof-fen sind oder das ALG II beziehen. Wer profitiert davon,wenn das Kindergeld, wie Sie es fordern, auf 200 Euroerhöht wird? Schließlich ist auch Ihnen aufgefallen, dassdie Freibeträge nur von einem Bruchteil der Menschenin Anspruch genommen werden können.
Wie finanzieren Sie das? Woher nehmen Sie dasGeld? Wissen Sie überhaupt, was das kostet? Sie habengerade der Linken und auch uns vorgeworfen, wir wüss-ten nie, wie wir unsere Forderungen finanzieren.
Wie Sie Ihre „Träume“ finanzieren, sagen Sie uns abernicht.
Ich komme zu einem weiteren Punkt, der immer wie-der angesprochen wird, das Ehegattensplitting. Überdieses Thema werden wir noch lange diskutieren. In al-len Fraktionen gibt es dazu verschiedene Positionen.Aber eines müssen wir festhalten: Das Ehegattensplit-ting fördert nicht die Familie, sondern das Ehegatten-splitting fördert die Ehe.
60 Prozent der Familien haben nichts, aber auch garnichts vom Ehegattensplitting. Es gibt nun einmal ver-schiedene Lebensformen in Deutschland, nehmen Siedas zur Kenntnis. Es gibt nun einmal Verheiratete undUnverheiratete mit Familie.
Es gibt Doppelverdiener, die aber nicht viel verdienen.Sie profitieren überhaupt nicht vom Ehegattensplitting.
Dafür gibt es aber Menschen, die hervorragend verdie-nen und vom Ehegattensplitting maximal profitieren.
Dass diese Menschen dann bis zu 8 000 Euro mehr alsNichtverheiratete bekommen, liegt daran, dass sie sichfür ein bestimmtes Lebensmodell entschieden haben. Esdarf uns aber nicht darum gehen, bestimmte Lebensmo-delle zu bevorzugen, sondern wir müssen Kinder unddas Leben mit Kindern fördern. Dafür ist das Ehegatten-splitting das falsche Instrument. Daran gibt es nichts zuzweifeln.
Zusammengefasst sage ich Folgendes: Der Kampf ge-gen Kinderarmut beruht auf zwei Säulen. Wir brauchendie Infrastruktur, wie den Ausbau der Kinderbetreuung fürdie unter Dreijährigen, qualitativ hochwertige Angeboteund eine bessere Qualifizierung unserer Erzieherinnen.Wir brauchen die Ganztagsschulen, deren Förderung aber2009 ausläuft und die dank der Föderalismusstrukturre-form nicht fortgesetzt werden kann. Wenn es um dieFortführung der Ganztagsschulförderung geht, ist auchdie FDP gefordert.Wir brauchen all dies, darüber hinaus brauchen wiraber auch eine materielle Sicherung, vor allem auf deruntersten Ebene: Die ALG-II-Leistungen für Kindermüssen neu berechnet werden. Vor allem müssen wiraber eine Neustrukturierung der Leistungen ins Visiernehmen; denn die gegenwärtige Leistungsstruktur dientvor allem den Gut- und Besserverdienenden.Dafür steht der Antrag der Grünen. Uns geht es nichtdarum, ein bestimmtes Familienmodell zu unterstützen,sondern darum, Kinder direkt und effizient zu unterstüt-zen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Helga Lopez von derSPD-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17527
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lassen Sie mich zu Beginn meiner Rede das Wort anHerrn Wunderlich richten. Ich konnte vorhin leider keineZwischenfrage stellen; da ich jetzt rede, kann ich diesenPunkt aber jetzt anbringen. Eines ist noch nicht gesagtworden – Marlene Rupprecht hat es vorhin angedeutet –:Das Pflegegeld beträgt in der untersten Stufe roundabout650 Euro. Sie können doch nicht erwarten, dass zusätz-lich Unterhaltsvorschuss gezahlt wird. Das ist nun wirk-lich nicht notwendig und deswegen auch nicht vorgese-hen.
– Ich weiß nicht, wo der Fall, den Sie skizziert haben,aufgetreten ist. Ich würde Ihnen empfehlen – schließlichsind Sie Bundestagsabgeordneter –, zur Behörde zu ge-hen. Ich kenne einen solchen Fall nicht.
– Nein. Ich kann Ihnen schon jetzt sagen: Da stimmt et-was nicht. Gehen Sie zur Behörde und klären Sie das.Dahinten sitzt Rolf Stöckel. Er kennt die Rechtslage ausdem Effeff und kann Ihnen nachher bestätigen, dass aucher einen solchen Fall noch nicht erlebt hat.Zur Debatte über die vorliegenden Anträge: Den An-trag der FDP haben wir erst gestern erhalten, vor ziem-lich exakt 24 Stunden. Wir hatten aber genug Zeit, umihn aufmerksam zu lesen. Eine Stelle in Ihrem Antraghat mir besonders gut gefallen. Im Antrag der Grünengibt es eine ähnliche Formulierung. Ich lese die beidenStellen einmal vor, weil sie eine Herzensangelegenheitvon mir betreffen; das gilt nicht erst seit heute. Im An-trag der Grünen heißt es:So sind Kinder auch nicht per se arm, sondern dieFamilien, in denen sie leben.Im Antrag der FDP heißt es:Kinder und Jugendliche sind arm, weil die Fami-lien, in denen sie leben, arm sind.Das kann ich unterschreiben. Das trifft den Kern. Des-wegen sollten wir aufhören, von Kinderarmut zu spre-chen. Familienarmut ist der treffendere Begriff.
Der Begriff Kinderarmut suggeriert leider – das willich deutlich sagen –, dass Eltern ihren Kindern nicht dasgeben, was ihnen zusteht bzw. das Geld unverantwort-lich ausgegeben wird. Das gilt für die weitaus größteZahl aller Fälle mitnichten.
Ich komme aus einem rein ländlichen Gebiet. Dortsind viele Leute arbeitslos geworden, weil Firmen abge-wandert oder in Konkurs gegangen sind. Die Zahl derArbeitslosen nimmt zwar auch dort inzwischen ab, aber– und das ist der eigentliche Skandal in diesem Land –innerhalb von zwei Jahren ist die Zahl der Bedarfsge-meinschaften – das sind Familien, die Zuzahlungen be-nötigen, obwohl die Eltern arbeiten gehen – von 1 200auf über 3 000 gestiegen. Ich sage es noch einmal: Dasist ein Skandal.Dort, wo ich lebe, schämen sich arbeitslose, insbeson-dere langzeitarbeitslose, Menschen für ihre unverschul-dete Situation. Sie tun alles, wirklich alles, damit we-nigstens ihre Kinder nicht auf alles verzichten müssen.Für sie bedeuten 5 Euro Kindergelderhöhung nicht einePackung Zigaretten, sondern ein paar Liter Milch. Aber– auch das will ich sagen – sie bedeuten hier und da auchdie Möglichkeit, auf dem Flohmarkt eine gebrauchteMarkenklamotte, vielleicht sogar einen gebrauchtenNintendo Gameboy zu kaufen. Denn Teilhabe bedeutetin dieser Gesellschaft nicht nur die wichtige Teilhabe amgesellschaftlichen Leben, sondern leider auch Teilhabean Statussymbolen. Diese Eltern wollen nicht, dass ihreKinder gehänselt und stigmatisiert werden, dass sie„Assi“ genannt werden; so ist der Sprachgebrauch unterJugendlichen. Das ist schlimm und bleibt für diese Kin-der leider nicht folgenlos.Wenn man sich also anschaut, woher Armut inDeutschland kommt, ist man unweigerlich und sofort beiden prekären Beschäftigungsverhältnissen.
– Nicht bei der schlechten Politik, die wir machen. Siekönnen das tausendmal wiederholen. Ich sage Ihnen:Schauen Sie sich Berlin an. Dort sind Sie an der Regie-rung beteiligt. Verbessern Sie die Situation dort.
Wenn ich schon dabei bin, möchte ich noch sagen: Dieersten privatgewerblichen Kindergärten gibt es in Berlin.
Sie sind also mitverantwortlich; Sie können sich nichtrausreden.Ich war gerade bei prekären Beschäftigungsverhält-nissen, bei Dumpinglöhnen und bei den allgemeinschlechteren Bedingungen für Alleinerziehende. Ichfrage mich, Kolleginnen und Kollegen von der FPD: Woist bei Ihnen die Forderung nach einem Mindestlohn?
Sie fordern die Einführung von Bürgergeld. Mir ist nieklar geworden – ich habe viel dazu gelesen –, wem Bür-gergeld nutzt. Ich habe den Eindruck, es nutzt nicht denBürgern, sondern den Unternehmen, die dann noch ein-facher Dumpinglöhne zahlen können.
Sie sagen auch nicht, wie Sie das finanzieren wollen.
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17528 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Helga Lopez
Wenn Sie den Umsatzsteuersatz auf 40 Prozent erhöhenwollen, dann fordern Sie weiterhin ein Bürgergeld! Ichweiß nicht, wie Ihre Forderungen finanziert werden sol-len. Wir sollen den Staat entschulden, fordern Sie; das isteine vernünftige Forderung. Zeitgleich legen Sie jetztdas größte Steuersenkungspaket auf, das ich bisher gese-hen habe.
Frau Kollegin Lopez, kommen Sie bitte zum Schluss.
Einen Satz noch.
Ja, bitte.
Wer den höchsten Steuersatz auf 35 Prozent senkt – das
fordern Sie –, hat kein Geld, um die Familien ernsthaft
zu fördern. Das ist Fakt.
Jetzt hat das Wort die Kollegin Katharina Landgraf
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Die Anträge bzw. der Gesetzentwurf der drei Par-teien sehen, zumindest wenn man die Überschriften be-trachtet, eigentlich gut aus. Man muss dafür sein. Denndie Existenz von Kindern zu sichern und Familien zustärken, ist auf jeden Fall gut. Ich habe mir jetzt vor allenDingen die Anträge der Grünen und der FDP ange-schaut. Ich stelle zum Beispiel fest, dass im Grünen-An-trag ein Mischmasch von Zuständigkeiten vorherrscht.Die Verantwortung der Eltern fehlt. Darüber steht dortüberhaupt nichts.
Am meisten ärgere ich mich darüber, dass unter Punkt 2im Antrag der Grünen steht, die Regierung schaue untä-tig zu.
Ich muss fragen: Haben Sie nichts erkannt? Haben Sienichts gemerkt? Waren Sie nie anwesend, oder wollen Siedas aus strategischen Gründen verschweigen? Die Be-hauptung ist falsch, und wir können nachweisen – meineVorredner haben das schon gesagt –, was alles getanwird und was wir weiterhin vorhaben.
Es wird zum Beispiel von zentralen Barrieren ge-sprochen, ohne das Wort zu erklären. Ich frage mich,was Sie damit meinen. Meinen Sie eine bundespolitischeBarriere? Mir ist so etwas nicht bekannt.Beim Antrag der FDP sieht es schon besser aus. Siehaben einen besseren Bezug zu den Kompetenzebenender Länder und der Kommunen gefunden. Ebenso wiebei den Grünen fehlt aber auch bei Ihnen die direkte An-sprache der Eltern. Haben diese eine Verantwortung?
– Das steht aber nicht definitiv im Antrag.
Auf Seite 2 steht ein interessanter Satz:Die soziale Lage der Eltern darf nicht über den Bil-dungsweg der Kinder und Jugendlichen entschei-den.Das stimmt.
Wir kommen jedoch nicht darum herum, zuzugeben,dass die soziale Lage der Eltern letztlich doch entschei-det. Unsere Aufgabe ist es, die Eltern zu stärken und ih-nen Kompetenzen an die Hand zu geben, damit die Kin-der einen besseren Zugang zur Bildung erhalten.
Nun komme ich zu Aspekten, von denen ich hoffe,dass andere sie noch nicht in dem Sinne angesprochenhaben. Ich denke aber ähnlich wie Sie, Frau Lopez. Wirmüssen mehr für die Eltern tun. Wir müssen die Kompe-tenz der Eltern erhöhen, denn wir dürfen nicht nur anden Symptomen der viel beklagten Kinderarmut herum-doktern. Eltern brauchen Deutschland als ein familien-freundliches und kindergerechtes Land. Sie brauchenebenfalls familienfreundliche Gemeinden, Landkreiseund Bundesländer. Wir müssen hier klar äußern: Betreu-ungsangebote sind Ländersache. Die Kommunen habenebenso viele Kompetenzen. Durch unseren Gesetzent-wurf zur Förderung von Kindern unter drei Jahren eröff-nen wir die Möglichkeit, gemeinsam mit den Kommu-nen und den Ländern etwas für die Eltern zu tun. Aufdiesem Wege haben wir die Möglichkeit, den Kinderndie frühkindliche Bildung zuteil werden zu lassen, dieuns vorschwebt.Eltern brauchen das Angebot einer hochkarätigenfrühkindlichen Bildung. In meinem Heimatland Sachsenwurden in diesem Bereich schon erste Schritte getan.Wie ich gehört habe, gilt das auch für andere Bundeslän-der, die auch die Mittel für die Weiterbildung von Erzie-herinnen und Erziehern, die schon in Arbeit sind, erhöhthaben. Es wurde ebenfalls ein neues Programm für dieAusbildung von Erzieherinnen aufgelegt. Ich finde estoll, dass im FDP-Antrag auch von Erziehern die Redeist. Ich finde es super, dass man auch die Männer in die-sem anspruchsvollen Beruf anspricht. Es tut unseren
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Katharina LandgrafKindern gut, wenn sich auch Männer an ihrer Ausbil-dung und Betreuung beteiligen. Das soll auch ein Signalunserer heutigen Debatte sein.
In Sachsen wird übrigens auch das Ganztagesschul-programm weiter gefördert. Dort steht nicht nur dasBundesprogramm im Blickfeld. Wir haben ein Landes-programm, und Schulen werden mit Mitteln für Hono-rare ausgestattet und können entscheiden, welcheehrenamtlich Tätigen und welche Experten weitereNachmittagsangebote an Ganztagsschulen anbieten. Ichfinde das gut.
– Lehrer auch, aber auch andere von außen, zum Bei-spiel aus den Vereinen.
Eltern brauchen eine familienfreundliche Arbeits-welt. Sie brauchen familienfreundliche Arbeitsplätzeund familienfreundliche Arbeitszeiten. Es gilt kein An-wesenheitsmythos. Vielmehr muss die Arbeitszeit ver-einbart werden. Dann ist die Motivation junger Elternam größten. Auch die Unternehmer haben Vorteile, dasmüssten diese erkannt haben. Wir brauchen auch eineArbeitsagentur, die auch Mütter mit mehreren Kindernvermitteln kann und will. Wir brauchen Netze, die zumBeispiel durch Mehrgenerationenhäuser, Nachbarn,Freunde, Paten, Großeltern und ehrenamtlich Tätige ge-bildet werden.
– Nein, das ist nicht ein Wegschieben von Verantwor-tung. Liebe Frau Reinke, alle müssen sich dazu beken-nen. Vielleicht haben Sie es selbst nicht erlebt, aber wirpraktizieren es und tragen dazu bei, dass Umfeld undNetz funktionieren. Die Grünen haben in ihrem Antragvon Eltern-Kind-Zentren gesprochen. Unser Mehrgene-rationengedanke geht noch einen Schritt weiter, denn erumfasst eine Generation mehr. Das müssen wir in unse-rer modernen Zeit mit ihrer mobilen Arbeitswelt fördern.
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird es denEltern ermöglichen, ihren Kindern eine verantwortlicheErziehung angedeihen zu lassen und ihnen aus der Fami-lie heraus Selbstbewusstsein zu vermitteln. Die Familiepflanzt das ein, was ein Kind braucht, nämlich die Neu-gier auf die Welt und einen Wissensdurst, der zuerst inder Familie akzeptiert werden muss, um dann später vonuns, von der Öffentlichkeit, weiter gefördert zu werden.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Rolf Stöckel von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als einerder letzten Redner in dieser Debatte möchte ich hervor-heben, dass heute wohltuend viele Gemeinsamkeitendeutlich geworden sind. Wir teilen die Erkenntnisse,dass das Thema Kinderarmut auf der Tagesordnung blei-ben muss und dass wir alle – das gilt nicht nur für dieMitglieder dieses Hauses, sondern auch für alle staatli-chen Ebenen und gesellschaftlichen Institutionen sowiefür die Menschen im Lande – Verantwortung dafür tra-gen, die Kinderarmut in diesem reichen Land konse-quent zu bekämpfen.
Es darf nicht immer nur darum gehen, welche Armutsri-siken in 20, 30 Jahren auf die Rentner zukommen, weilwir unsere Hausaufgaben nicht gemacht und versäumthaben, heute die notwendigen Investitionen in die zu-künftigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu täti-gen.Es gibt Übereinstimmung, was die strukturellenVeränderungen betrifft. Uns ist klar, dass wir die Kin-derarmut nicht nur durch materielle Transferleistungenbekämpfen können. Mit Ausnahme der Linken habenwir deutlich gemacht, dass die Länder bei Bildung, Früh-förderung, Elementarerziehung und KinderbetreuungZuständigkeiten haben, dass wir aber gewillt sind, ihnenzu helfen. Vor allen Dingen die alten Bundesländer sindnoch weit von der Erfüllung der Standards in diesem Be-reich entfernt. Deshalb müssen unsere Anstrengungenverstärkt werden.Zur materiellen Existenzsicherung. Wir haben zuge-sichert, dass wir im Herbst dieses Jahres auf der Grund-lage der Existenzminimumberichte über die Neufestle-gung der Steuerfreibeträge für Kinder und damit auchüber die Höhe des steuerfreien Existenzminimums undder Regelsätze der Grundsicherung, über die Pfändungs-freigrenzen usw. diskutieren. All dies muss dann ange-passt werden.Man kann sich darüber streiten, ob die Art und Weise,wie die Transferleistungen erbracht werden, optimal ist.Im Rahmen der Arbeitsmarktmaßnahmen und desGrundsicherungssystems für Arbeitsuchende wird aller-dings evaluiert, wie diese Maßnahmen wirken. Daher istes folgerichtig, auch dies zu überprüfen.Ich möchte davor warnen, all die Maßnahmen, die imHinblick auf den Bürokratieabbau und die Herstellungvon Leistungsgerechtigkeit durch Pauschalierungen zuFortschritten geführt haben – das ist damals von allenSeiten gefordert worden –, jetzt aus populistischenGründen zurückzunehmen. Ich bin der Meinung, dass esÖffnungsklauseln für individuelle Hilfen und für Sach-leistungen geben sollte. Diese sollten denjenigen zugutekommen, die darauf angewiesen sind. AllgemeineRechtsansprüche nach dem Gießkannenprinzip einzu-führen, lehne ich allerdings ab.
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Rolf StöckelIch denke, dass es nicht hilft, in einen Wettbewerbüber die Höhe der Transferleistungen einzutreten.
Mir ist kein Vorschlag bekannt, weder von den Linkennoch von den Wohlfahrtsverbänden noch vom DGB nochvon anderen, nach dem durch eine Erhöhung der Trans-ferleistungen eine Senkung des Armutsrisikos – auf derGrundlage der EVS liegt die Armutsrisikogrenze bei936 Euro pro Monat – erreicht würde.Wir haben die Grundsicherungssysteme als Armuts-bekämpfungsinstrumente eingeführt. Uns ist klar, dassdie Hauptursache für die Armut von Kindern die Tatsa-che ist, dass ihre Eltern arbeitslos sind oder in prekärenBeschäftigungsverhältnissen arbeiten. Es ist richtig, indiesem Bereich die vernünftige Politik, die die rot-grüneKoalition in den letzten Legislaturperioden betrieben hatund die wir Agenda 2010 genannt haben, fortzuführen;denn sie hat zu positiven Ergebnissen geführt. HerrSinghammer, die beste Botschaft lautet in der Tat: DieArbeitslosigkeit sinkt.
Wir müssen allerdings auch dafür sorgen, dass die Men-schen, die arbeiten, vernünftige Löhne bekommen.
Bei allen Gemeinsamkeiten muss ich Ministerin vonder Leyen Folgendes sagen – sie ist im Moment zwarnicht hier, aber vielleicht wird ihr das überbracht –:Wenn man als Familien-, Frauen- und Jugendministeringute Arbeit und staatliche Mindestlöhne ablehnt, dannbetreibt man eine Politik, die vor allen Dingen gegen er-werbstätige alleinerziehende Frauen gerichtet ist.
Das zeigt die Erfahrung in Großbritannien: Zu 80 bis90 Prozent kommt dieses Instrument alleinerziehendenerwerbstätigen Frauen zugute.Frau Gruß, ich finde in Ihrem Antrag viele richtigeAnsätze. Ich möchte Ihnen das Angebot machen, dasswir uns zusammensetzen und das, was in der Tat nichtnur im Bereich der Bildung und Förderung, sondernauch im Bereich der Jugendhilfe an Strukturverbesserun-gen notwendig ist, gemeinsam mit der FDP umsetzen.Am Samstag hat Ihr Parteivorsitzender, Guido Wes-terwelle, in München eine Rede gehalten und sich großdarüber ausgelassen, dass Nächstenliebe von den Men-schen ausgeht, dass der Staat sie nicht ersetzen kann,dass er das nicht leisten kann. Gleichzeitig fordern Sie inIhrem Antrag nicht nur von der Bundesregierung, son-dern vom Staat insgesamt, noch größere Anstrengungenals bisher zu unternehmen. Dabei gab es unter Rot-Grünund gibt es auch jetzt unter der Großen Koalition mehran staatlichen Familienleistungen als jemals zuvor. Ent-weder haben Sie den falschen Vorsitzenden,
oder Ihr Antrag ist eigentlich kein FDP-Antrag – diesenWiderspruch müssen Sie in Ihrer Partei lösen!
Ich habe nicht mehr viel Redezeit, will aber noch an-bringen: Ich respektiere Ihre Arbeit und die Ihrer Kolle-ginnen und Kollegen in der Kinderkommission desDeutschen Bundestages. Es ist mir, der ich einmal Mit-glied der Kinderkommission war, wichtig, darauf hinzu-weisen, dass der konsensorientierte Ansatz einer Arbeitfür Kinder und Kinderrechte in diesem Hause notwendigist. Ich vermisse Ihre Initiative, aber auch eine gemein-same Initiative aller Fraktionen, für ein Antragsrecht derKinderkommission in diesem Hause.
Ich vermisse – schließlich wollen Sie mit Ihrem Antragetwas für die materielle Sicherung von Kindern tun –,dass Sie sich für eine Ausweitung der Rechte von Kin-dern aussprechen. Das heißt ganz klar: für die Einfüh-rung eines Kinderwahlrechts ab Geburt. Ich weiß, dassda nicht alle klatschen können.
Herr Kollege Stöckel, ich habe Ihnen jetzt einen aus-
reichenden Kinderzuschlag gegeben; aber Sie müssen
jetzt zum Ende kommen.
Damit komme ich zum Schluss, Herr Präsident. – Es
reicht nicht aus, materielle Forderungen zu erheben.
Man muss Kindern und Familien die Rechte einräumen,
die andere selbstverständlich für sich in Anspruch neh-
men. Deshalb gehören das Kinderwahlrecht und ein An-
tragsrecht der Kinderkommission auf die Tagesordnung,
und die Kinderrechte gehören ins Grundgesetz.
Wir werden noch lange über diese Fragen diskutieren.
Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Miriam Gruß.
Sehr geehrter Herr Stöckel, als ehemaligem Mitgliedder Kinderkommission darf ich Ihnen in Erinnerung ru-fen, dass wir in der Kinderkommission über ein Antrags-recht der Kinderkommission im Deutschen Bundestagberaten haben, dort aber das Einstimmigkeitsprinzip gilt.Ich darf Ihnen mitteilen: Ich bin ebenso wie meineFraktion dafür. Ich kann Ihnen auch drei andere Fraktio-nen nennen, die dafür sind. Jetzt bleibt es dem Publikumund Ihnen überlassen, zu überlegen, welche Fraktion inder Kinderkommission nicht dafür ist und warum ichmich ausgerechnet auf Ihren Redebeitrag zu Wort melde.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17531
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Herr Kollege Stöckel zur Erwiderung.
Herr Präsident! Frau Gruß, ich begrüße, dass die Un-
terstützung für dieses berechtigte Anliegen gewachsen
ist. Ich hoffe natürlich, dass das auch in meiner Fraktion
so ist.
Aber ich rede hier als Sozialpolitiker, nicht nur als je-
mand, der einmal Kinderbeauftragter seiner Fraktion
war. Die Beachtung der Kinderrechte muss natürlich
auch dazu führen, dass sich die materiellen Bedingungen
für Kinder verbessern, vor allen Dingen für diejenigen,
die es am nötigsten haben. Das muss durchgesetzt wer-
den. Insofern begrüße ich Ihre Haltung, und ich biete Ih-
nen meine Zusammenarbeit gerne an.
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat nun die Kollegin Petra Hinz von der SPD-Fraktion
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Gerade all diejenigen, die im Ausschuss fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend zu Hause sind,werden sich sicherlich wundern, dass ich als Haushälte-rin jetzt hier zu Wort komme. Erst einmal möchte ichmich bei meiner Fraktion ganz herzlich dafür bedanken,dass ich die Möglichkeit dazu habe. Wir wollen damitdeutlich machen, dass das, was hier heute besprochenworden ist – Vorschläge, Initiativen usw. – auch umge-setzt werden muss.Wir haben für uns die Marschrichtung, dass all dieheutigen Lippenbekenntnisse des einen oder anderen beiden nächsten Haushaltsberatungen in Form von Anträ-gen Widerhall finden müssen. Es muss fiskalisch wie-derzuerkennen sein.Wenn ich das heute hier richtig verstanden habe, dannsind wir uns darin einig, dass wir zur Beseitigung derArmut deren Wurzeln bekämpfen müssen. Für mich ha-ben sich hier heute zwei Lösungen herauskristallisiert:Erstens ist das die Erwerbsarbeit für Eltern. Es istviel über den Mindestlohn, über die Verantwortung fürdie Alleinerziehenden und diejenigen, die wieder in denBeruf einsteigen wollen, gesprochen worden. All dieseThemen haben wir auch in den zurückliegenden Haus-haltsberatungen auf den Weg gebracht.Zweitens. Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, he-rauszusuchen, welche Maßnahmen gegen Kinderar-mut wir auf den Weg gebracht haben, um das hier heuteim Plenum deutlich zu machen: Kinderzuschlag, Eltern-geld, Erziehungsgeld, Unterhaltsvorschuss. Im Gegen-satz zur Regierung – in diesem Fall zur Ministerin – wardas Thema Kindergeld für uns kein Ruhekissen, sondernganz im Gegenteil – Frau Künast hat das vorhin schongesagt –: Während unserer Regierungsverantwortung istdas Kindergeld gestiegen. Das möchte ich hier auchnoch einmal deutlich machen.Allerdings sagen wir Sozialdemokraten nach den vie-len Debatten, die im Fachausschuss stattgefunden haben,auch Ja zur Förderung von Familien und Kindern, abernicht mit der Gießkanne. Erreichen wir das, was wirwollen, tatsächlich durch eine Kindergelderhöhung,
oder müssen wir in diesem Bereich nicht noch wesent-lich mehr auf den Weg bringen? Die Devise muss dochsein: Das eine tun, ohne das andere zu lassen. Dies wer-den wir im Rahmen der Haushaltsberatungen auch tun.Wir waren es, die für einen Rechtsanspruch auf Be-treuung gesorgt haben. Das Kinderbetreuungsfinanzie-rungsgesetz ist auf den Weg gebracht und verabschiedetworden. Ich sage es hier noch einmal: 4 Milliarden Eurostehen zum Beispiel für den Ausbau der Betreuungsin-frastruktur und die Finanzierung von Betriebskosten zurVerfügung.
Wir, der Bund, haben Wege gefunden, die Kommunenund die Träger über das Land zu finanzieren und zu för-dern.
Wie sehen denn die Wirklichkeit und die Praxis aus?In meiner Kommune, der Stadt Essen, ziehen sich einigekirchliche Träger gerade aus der gesellschaftlichenVerantwortung, die wir alle haben, zurück. Aufgrundvon Finanz- und Wirtschaftsplänen aus dem Jahre 2001schließen sie gerade Kindertageseinrichtungen in nichtunerheblicher Zahl. Dies tun sie nicht, weil kein Bedarfvorhanden ist, weil keine langen Wartelisten bestehenoder aufgrund des Finanzierungskonzeptes, sondern weilvon den Bewerbern nicht der entsprechende Glaube ver-treten wird. All diejenigen, die angemeldet worden sind,sind Muslime, Nichtgläubige oder wie auch immer.
Sie haben eine gesellschaftspolitische Verantwortung.
Wir waren diejenigen, die hier Fördergelder zur Ver-fügung gestellt haben. Das Land und vor allem die Kom-munen müssen finanziell entsprechend ausgestattet wer-den. Schauen Sie sich an, was alles beim Land klebrighängen bleibt,
dass das Land Nordrhein-Westfalen das KiBiz auf denWeg gebracht hat, die Finanzierung aber im Prinzip den
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17532 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Petra Hinz
Trägern überlassen wird, und dass dort Eltern, die mögli-cherweise nicht zu den Begünstigten gehören, ihren Kin-dern nicht mehr Zeit in Kindertagesstätten kaufen kön-nen. Das ist die Wahrheit.Ich erwarte von der Regierung, der Ministerin undauch Ihnen, Herr Staatssekretär Kues, dass Sie im Rah-men der Konferenzen zwischen Bund und Land genaudies thematisieren, damit all die Punkte, die im Kinder-armutsbericht dargestellt worden sind, auch mit Lebenerfüllt und umgesetzt werden.
Wir wollen also keine Förderung mit der Gießkanne,sondern werden im Rahmen der Haushaltsberatungendas fortsetzen, was wir auf den Weg gebracht haben. Wirhaben die Programme zum Ausbau der Ganztagsschule,das Ganztagsbetreuungsgesetz und das neue Elterngeldauf den Weg gebracht. All dies kann sich sehen lassen.Aber darauf können wir uns nicht ausruhen. Deshalbfreue ich mich sehr auf die Beratung im Haushaltsaus-schuss.Ich bitte Sie, Herr Staatssekretär Kues, den Fachaus-schussmitgliedern und den Haushältern eine Auflistungüber alle Maßnahmen zu geben, die sich im Haushaltund im Finanzkonzept widerspiegeln und deutlich ma-chen, wo wir gemeinsam gegen Kinderarmut kämpfen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 16/9433 und 16/9028 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Damitsind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurfder Fraktion Die Linke zur Änderung des Unterhaltsvor-schussgesetzes. Der Ausschuss für Familie, Senioren,Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 16/9440, den Gesetzentwurf derFraktion Die Linke auf Drucksache 16/7889 abzulehnen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Be-ratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegendie Stimmen der Fraktion Die Linke bei Stimmenthal-tung der Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen undFDP abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäfts-ordnung die weitere Beratung.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 a sowie die Zu-satzpunkte 2 a bis 2 c auf:36 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten RainderSteenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENDie europäische Integration der RepublikMoldova unterstützen– Drucksache 16/9358 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Chris-tian Ahrendt, Carl-Ludwig Thiele, Hans-MichaelGoldmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der FDPOptimaler Darlehensnehmerschutz bei Kre-ditverkäufen an Finanzinvestoren– Drucksache 16/8548 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzb) Beratung des Antrags der Abgeordneten MarkusLöning, Michael Link , Florian Ton-car, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derFDPEuropäisches Parlament stärken – Sitzfragedurch Europaparlamentarier entscheiden las-sen– Drucksache 16/9427 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschussc) Beratung des Antrags der Abgeordneten WinfriedHermann, Dr. Anton Hofreiter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENVertrag über die Beteiligung von Kapitalanle-gern an den Verkehrs-, Logistik- und zugehö-rigen Dienstleistungsgesellschaften der Deut-sche Bahn AG durch externen Sachverstandprüfen lassen– Drucksache 16/9474 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschussEs handelt sich um Überweisungen im vereinfachtenVerfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen, wobei die Vorlage auf Drucksache 16/9358 zuTagesordnungspunkt 36 a federführend vom Auswärti-gen Ausschuss beraten werden soll. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-sungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 37 a und 37 b so-wie 37 d bis 37 n auf. Es handelt sich um die Beschluss-
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17533
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thiersefassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorge-sehen ist.Tagesordnungspunkt 37 a:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Bevölkerungsstatistikgeset-zes– Drucksache 16/9040, 16/9079 –Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksachen 16/9319 –Berichterstattung:Abgeordnete Kristina Köhler
Siegmund EhrmannGisela PiltzJan KorteSilke Stokar von NeufornDer Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/9319, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksachen 16/9040 und16/9079 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen allerFraktionen angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen.Tagesordnungspunkt 37 b:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszu dem Abkommen vom 8. November 2007zwischen der Bundesrepublik Deutschlandund dem Königreich Saudi-Arabien zur Ver-meidung der Doppelbesteuerung auf dem Ge-biet der Steuern vom Einkommen und vomVermögen von Luftfahrtunternehmen und derSteuern von den Vergütungen ihrer Arbeit-nehmer– Drucksache 16/9276 –Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 16/9459 –Berichterstattung:Abgeordnete Manfred KolbeDr. Gerhard SchickDer Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/9459, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/9276 an-zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damitin zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU,SPD und FDP bei Stimmenthaltung der Linken und derGrünen angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zu-vor angenommen.Tagesordnungspunkt 37 d:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu-nität und Geschäftsordnung
Änderung der Geschäftsordnung des Deut-schen Bundestageshier: Vereinbarung zwischen dem DeutschenBundestag und der Bundesregierung über dieZusammenarbeit in Angelegenheiten derEuropäischen Union– Drucksache 16/9400 –Berichterstattung:Abgeordnete Bernhard KasterDr. Carl-Christian DresselJörg van EssenDr. Dagmar EnkelmannVolker Beck
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist einstimmig angenommen.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-titionsausschusses.Tagesordnungspunkt 37 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 415 zu Petitionen– Drucksache 16/9323 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 415 ist einstimmig an-genommen.Tagesordnungspunkt 37 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 416 zu Petitionen– Drucksache 16/9324 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 416 ist bei Stimment-haltung der Fraktion Die Linke mit den Stimmen derübrigen Fraktionen angenommen.
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17534 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
(C)
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang ThierseTagesordnungspunkt 37 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 417 zu Petitionen– Drucksache 16/9325 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 417 ist mit den Stim-men von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmender Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenom-men.Tagesordnungspunkt 37 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 418 zu Petitionen– Drucksache 16/9326 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 418 ist einstimmig an-genommen.Tagesordnungspunkt 37 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 419 zu Petitionen– Drucksache 16/9327 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen desHauses gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke ange-nommen.Tagesordnungspunkt 37 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 420 zu Petitionen– Drucksache 16/9328 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 420 ist mit den Stim-men von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmender Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenom-men.Tagesordnungspunkt 37 k:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 421 zu Petitionen– Drucksache 16/9330 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 421 ist mit den Stim-men von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmender Linken und der Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 37 l:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 422 zu Petitionen– Drucksache 16/9331 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen vonCDU/CSU, SPD und Linken gegen die Stimmen vonFDP und Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 37 m:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 423 zu Petitionen– Drucksache 16/9332 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 423 ist mit den Stim-men von CDU/CSU, SPD und Grünen gegen die Stim-men von FDP und Linken angenommen.Tagesordnungspunkt 37 n:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 424 zu Petitionen– Drucksache 16/9333 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht ist mit den Stimmenvon CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der FDPund der Grünen bei Enthaltung der Linken angenom-men.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines FünftenGesetzes zur Änderung des Dritten Buches So-zialgesetzbuch – Verbesserung der Ausbil-dungschancen förderungsbedürftiger jungerMenschen– Drucksache 16/8718, 16/9238 –– Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
– Drucksache 16/9456 –Berichterstattung:Abgeordneter Stefan Müller
– Drucksache 16/9465 –Berichterstattung:Abgeordnete Steffen KampeterWaltraud LehnDr. Claudia WintersteinDr. Gesine LötzschAlexander Bonde
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang ThierseNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-tarischen Staatssekretär Klaus Brandner das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Unsere Gesellschaft mit der sozialen Marktwirtschaftlebt davon, dass sie Chancen eröffnet. Wenn sie zulässt,dass junge Menschen, die sich bemühen, auf unüber-windliche Hürden treffen, dann wird sie langfristig insWanken geraten, dann ist in unserem Land etwas nicht inOrdnung.Zu diesen Hürden gehört auch, dass junge Menschenin ein Raster eingeteilt werden, ob sie für eine Ausbil-dung geeignet sind oder nicht. Wenn es um junge Men-schen geht, finde ich eine solche Unterscheidung zy-nisch.
Jede und jeder verdienen eine Chance. Jede und jedersollen sich ihren Platz in der Gesellschaft erarbeiten kön-nen. Eines muss klar sein: Qualitativ gute Arbeit ist nurdurch eine gute Ausbildung möglich. Für die meisten Ju-gendlichen bleibt die Ausbildung der zentrale Weg inArbeit.Deshalb bringen wir mit dem Fünften Gesetz zur Än-derung des SGB III neue Maßnahmen mit einem wichti-gen Anliegen auf den Weg, nämlich die Verbesserungder Ausbildungschancen junger Menschen.
Ausbildungsbonus und Berufseinstiegsbegleitung sinddie Antwort auf zwei Probleme, die immer drängenderwerden und die für viele zum Stolperstein gewordensind, die schon lange auf einen Ausbildungsplatz warten.Erstens. Zum einen ist es die enorm gestiegene Zahl derAltbewerber. Zweitens. Zum anderen beobachten wirwachsende Schwierigkeiten insbesondere für Jugendli-che mit einem Hauptschulabschluss bei der Suche nacheinem betrieblichen Ausbildungsplatz.Sicher, wir haben mit dem Ausbildungspakt eine deut-liche Steigerung der Zahl der Ausbildungsplätze erreicht.Immerhin gibt es über 625 000 neu abgeschlossene Aus-bildungsverträge. Das ist der zweithöchste Wert, den wirseit der Wiedervereinigung zu verzeichnen haben. Über53 000 erstmalig ausbildende Betriebe sind ein Belegdafür,
dass sich die Anstrengungen in unserem Land gelohnthaben. Das ist die gute Nachricht.Die schlechte ist: Es gibt noch immer deutlich zuviele Altbewerber.
Darum wollen wir eine zeitlich befristete Förderung vonAltbewerbern auf den Weg bringen. Bundesregierungund Bundestag stimmen jedenfalls darin überein, dasswir diejenigen Unternehmen unterstützen wollen, die zu-sätzliche Ausbildungsplätze schaffen und mit Jugendli-chen besetzen, die als Altbewerber schon lange nach ei-nem Ausbildungsplatz suchen.
Wir wollen mit dem Ausbildungspakt und dem Aus-bildungsbonus allen eine Chance auf eine Ausbildunggeben, damit sich ihre Berufswünsche erfüllen und dieSuche nach einem Ausbildungsplatz zu einem guten Ab-schluss führt. Mit dem Ausbildungsbonus wollen wir inden kommenden drei Ausbildungsjahren 100 000 Altbe-werbern eine Chance zum Einstieg in das duale Ausbil-dungssystem eröffnen. Die Anhörung, die wir am26. April dieses Jahres dazu durchgeführt haben, hat ge-zeigt
– stimmt, es war im Mai; schön, dass wir eine gute Ko-alition sind, in der man gegenseitig auf das Wesentlicheachtet; danke, Herr Kollege Brauksiepe –, dass unserAnliegen, die Ausbildungsplatzlage durch unterstüt-zende Maßnahmen zu verbessern, auf eine grundsätzlichpositive Resonanz gestoßen ist. Auch der Bundesratsieht Handlungsbedarf, wie die von ihm beschlosseneGesetzesinitiative für ein Altbewerbergesetz zeigt.Die Anhörung hat aber auch deutlich gemacht, dass esschwierig ist, eine Lösung zu finden, die Fehlanreize undMitnahmeeffekte quasi zu 100 Prozent ausschließt. Wennaber Unternehmen ihrer Verantwortung nicht ausrei-chend nachkommen, dürfen darunter nicht die jungenMenschen in unserem Land leiden, die heute auf derStraße stehen.
Deshalb muss jetzt steuernd eingegriffen und mitgehol-fen werden, auch für Altbewerber eine Ausbildung zuorganisieren. Genau das wollen wir mit dem Gesetz er-reichen.Wir haben nach der Anhörung Modifizierungen amGesetzentwurf vorgenommen und das Anliegen nochklarer und fester verankert. Dabei ist die Förderung mitdem Ausbildungsbonus kein Selbstzweck zur Unterstüt-zung von Arbeitgebern. Wir wollen ausdrücklich alleinzusätzliche Anstrengungen unterstützen; denn wir brau-chen noch deutlich mehr und zusätzliche betrieblicheAusbildungsplätze für junge Menschen, die schon seitlängerem auf eine Chance warten. Nur durch zusätzlicheAusbildungsplätze bleibt gleichzeitig die Chance für Be-werber des aktuellen Schulabgängerjahrgangs erhalten.
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Parl. Staatssekretär Klaus BrandnerIch sage ganz offen, dass im Zusammenhang mit derFörderung oft von Mitnahmeeffekten die Rede ist. Wirhaben im Gesetzgebungsverfahren versucht, Mitnahme-effekte so gut wie auszuschließen. Zu 100 Prozent sindsie nie auszuschließen. Aber sollen wir die Chancen jun-ger Menschen einfach unberücksichtigt lassen, nur weiles Mitnahmemöglichkeiten gibt? Ich denke: Nein. Wirmüssen mutig sein. Insofern haben wir konsequent ge-handelt.
Wir haben deshalb den Rechtsanspruch auf eine För-derung auf diejenigen konzentriert, die keinen Schulab-schluss, einen Sonderschulabschluss oder einen Haupt-schulabschluss haben.Dazu werden Jugendliche berücksichtigt, die sozialbenachteiligt oder lernbeeinträchtigt sind. Wir haben dieAuszahlungsweise dem Vorschlag der Wirtschaftsver-bände angepasst. Der Bonus wird zu 50 Prozent nach derProbezeit und zu 50 Prozent bei der Anmeldung zur Ab-schlussprüfung gezahlt. Auch damit, dass bei Teilnahmean einer Einstiegsqualifizierung beim selben Arbeitgeberder Förderausschluss durch eine Anrechnungslösung er-setzt wird, sind wir dem Vorschlag der Wirtschaftsver-bände gefolgt. Wir erhoffen uns jetzt, dass sie aktiv mit-helfen, das Altbewerberproblem zu lösen. Wir verbindendamit die Erwartung einer breiten Zustimmung, und wirhoffen, dass der Weg jetzt frei ist, damit die Agenturenfür Arbeit nach der Beratung im Bundesrat im Juli zügigdie gesetzlichen Möglichkeiten umsetzen können. Wirhaben nämlich einen äußerst ehrgeizigen Zeitplan. DerAusbildungsbonus soll zu Beginn des Ausbildungs-jahres 2008 voll wirken. Auch im Hinblick auf die Be-rufseinstiegsbegleitung – ein weiteres Element – und dieAuswahl der 1 000 Schulen brauchen wir ein schnellesVerfahren, weil der Vorlauf sehr kurz ist.
Die Berufseinstiegsbegleitung hat im parlamentari-schen Verfahren viel positive Resonanz erfahren, aberauch ab und an Skepsis, und zwar deshalb, weil wir mitdieser Initiative auch Gefahr laufen könnten, ehrenamtli-che Initiativen zu verdrängen. Ich glaube, wir müssensehr sorgfältig mit dem Thema umgehen. Ich bin miraber sicher, dass es im Zuge der Umsetzung vor Ort ge-meinsam mit Schulen, Arbeitgebern und all denen, dieauf diesem Gebiet bisher schon praktisch wertvolle Ar-beit geleistet haben, gelingen wird, mehr Menschen ineine Ausbildung zu bringen. Das Ziel der Integrationjunger Menschen durch Ausbildung in die Arbeit ist da-bei das wesentliche Ziel, das wir uns vorgenommen ha-ben.Deshalb darf ich sagen: Wir wirken mit all denen, diedieses Ziel verfolgen, zusammen und sind auf einemguten Weg. Alle können mit anpacken. Auch die Oppo-sitionsparteien können mit anpacken, indem sie diesemguten Gesetzentwurf ihre Unterstützung nicht versagen.Ich hoffe jedenfalls auf eine breite Unterstützung unddarauf, dass viele junge Menschen wieder eine Zukunfts-chance haben.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Jörg Rohde, FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Herr Staatssekretär, ich habe Ihre Redesehr aufmerksam verfolgt, und Sie haben ab und zu Bei-fall über die Fraktionsgrenzen hinweg bekommen, auchvon der FDP.
Wir stimmen im Ziel überein, aber ich habe vermisst,dass Sie darauf hinweisen, wer am Ende die Zeche zahlt.
Das ist ein entscheidender Punkt, um das in meiner Redevorweg zu nehmen. Sie hätten schon sagen sollen, werzahlt. Ich komme darauf zurück.Wir haben im April in erster Lesung gemeinsam überden sogenannten Ausbildungsbonus beraten. Wir Libe-rale hatten Ihnen von der Großen Koalition signalisiert,dass wir das Ziel Ihres Ansinnens mittragen.
Auch die FDP hält es für richtig, förderungsbedürftigenJugendlichen, die schon seit Jahren einen Ausbildungs-platz suchen, durch einen Arbeitgeberzuschuss eineChance für eine betriebliche Berufsausbildung zu geben.Aber wir haben Ihnen von der Union und der SPD auchunsere Bedenken mitgeteilt. Der Bonus schien uns we-der hinreichend zielgenau auf die wirklichen Problem-fälle zugeschnitten, noch konnte der Entwurf Mitnahme-effekte bei den Arbeitgebern wirklich verhindern. Vorallem aber hatten wir von der FDP darauf hingewiesen,dass die Verbesserung der Ausbildungschancen Jugend-licher keine Aufgabe der Arbeitslosenversicherung, alsoallein der angestellten Erwerbstätigen, ist, sondern dasswir dies als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sehen,die ergo aus Steuermitteln zu finanzieren wäre.
In der folgenden Anhörung des Bundestagsausschussesfür Arbeit und Soziales haben die Experten unsere Kritikmehrheitlich bestätigt.Meine sehr geehrten Damen und Herren der Regie-rungskoalition, die Hausaufgaben für Sie waren glasklar:Erstens. Nur die Jugendlichen fördern, die aus eigenerKraft keine Chance auf einen Ausbildungsplatz haben.Zweitens. Echte Anreize zum Abschluss der Ausbildungsetzen und damit Mitnahmeeffekte vermeiden. Drittens.Die Arbeitslosenversicherung nicht mit versicherungs-fremden Ausgaben belasten.
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Jörg RohdeWerte Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Rot,Ihre gestern im Bundestagsausschuss für Arbeit und So-ziales präsentierten Lösungen für diese Aufgaben blei-ben weit hinter unseren Erwartungen und auch den Rat-schlägen der Sachverständigen zurück.
Sie erweisen sich leider selbst als lernbeeinträchtigt: DerAnhörung im Ausschuss konnten Sie ganz offensichtlichnicht in Gänze folgen; sonst wären Sie bei der KorrekturIhres eigenen Gesetzentwurfs nicht auf halbem Wegestehen geblieben. Ich prophezeie Ihnen deshalb: Vielevon Ihnen werden in dieser Verfassung die Versetzung indie nächste Legislatur wohl nicht schaffen.Es ist paradox: Die Regierung erwartet von den Be-trieben und Unternehmen, dass diese mehr Ausbildungs-plätze anbieten, insbesondere für schwer in Ausbildungvermittelbare Jugendliche. Aber wenn die Arbeitgeber ineiner Bundestagsanhörung erläutern, wie eine Förder-maßnahme für die betroffene Gruppe aussehen sollte,gehen die Regierungsfraktionen über diese Anregunghinweg.Selbst der Deutsche Gewerkschaftsbund, der nicht ge-rade als treuer Gefährte der BDA bekannt ist, steht hiereng an der Seite der Arbeitgeber und hat vor der heuti-gen Debatte noch einmal eindringlich davor gewarnt,den Kreis der Förderberechtigten zu weit zu fassen.
Statt einer Gießkannenförderung brauchen wir ein In-strument, das eindeutig auf die schwächsten Jugendli-chen ausgerichtet ist. Jede andere Lösung wird zur Rosi-nenpickerei durch die ausbildenden Unternehmen aufdem Markt förderberechtigter Jugendlicher führen. DieKoalition hat mit diesem Gesetzentwurf einige kleineSchritte in die richtige Richtung gemacht. Das erkennenwir ausdrücklich an. Sie haben aber nicht den Mut auf-gebracht, einigen Jugendlichen zu sagen: Du hast es ausverschiedenen Gründen nicht leicht, kannst es aber den-noch aus eigener Kraft schaffen. Vor allem von den Kol-legen der CSU und der CDU hätte ich hier mehr erwar-tet.Ihrem Ausbildungsbonus fehlt auch ein wichtiger Er-folgsanreiz. Wir von der FDP haben vorgeschlagen, diezweite Hälfte des Bonus erst dann auszuzahlen, wennder Auszubildende die Abschlussprüfung absolviert hat.Ausdrücklich wollen wir Liberale die Förderung nicht anein Bestehen der Prüfung knüpfen; aber es muss gewähr-leistet sein, dass die Ausbildung abgeschlossen wird.Gerade bei den förderbedürftigen Jugendlichen ist dieQuote der Ausbildungsabbrecher sehr hoch. Wir müssenden Unternehmen hier also einen Anreiz bieten, ihreSchützlinge auch wirklich bis zum Ende bei der Stangezu halten.
Deshalb sollte die letzte Rate des Bonus erst dann ausge-zahlt werden, wenn der Auszubildende die Abschluss-prüfungen tatsächlich in Angriff genommen hat.Neben diesen inhaltlichen Mängeln ist es aber vor al-lem ein ordnungspolitischer Fauxpas, der uns Liberalezur Ablehnung dieses Gesetzentwurfs zwingt; ich habeschon darauf hingewiesen. Auch von zahlreichen Sach-verständigen haben Sie von Schwarz-Rot sich nicht da-von abbringen lassen, das Instrument aus Beitragsmit-teln der Bundesagentur für Arbeit finanzieren zu wollen.Wir reden hier von Jugendlichen, die noch nie eineneinzigen Cent in die Arbeitslosenversicherung einge-zahlt haben. Wir reden hier von Jugendlichen, die keineadäquaten Schulabschlüsse haben. Wir reden hier vonJugendlichen, die eine Lernbeeinträchtigung haben odersozial benachteiligt sind.
Der Ausgleich all dieser Ausbildungshemmnisse ist einegesamtgesellschaftliche Aufgabe,
muss also von allen gestemmt werden, nicht nur von denBeitragszahlern der Arbeitslosenversicherung.
Nicht nur der FDP, sondern auch der Mehrheit derSachverständigen in der Anhörung ist schleierhaft, wa-rum die Koalition hier die Kasse der Bundesagenturplündern will. Mit einem solchen Griff ins Portemonnaieder Beitragszahler nehmen Sie von Union und SPD demParlament weiteren Spielraum, den Beitrag zur Arbeits-losenversicherung zu senken und damit den Faktor Ar-beit insgesamt von den hohen Lohnnebenkosten zu ent-lasten. Die FDP hält bei der Arbeitslosenversicherungeinen Beitragssatz von weniger als 3 Prozent für mög-lich.
Mit dem Gesetz zum Ausbildungsbonus steuert die Bun-desregierung nun in die Gegenrichtung. Dies hätten wirgerne vermieden.Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag hatdie Zeit zwischen erster und dritter Lesung für eine Um-frage genutzt. 12 000 Unternehmen haben online zumThema Ausbildungsplätze abgestimmt. Die Ergebnisseder Umfrage dürften Sie von der großen sozialdemokra-tischen Koalition überrascht haben – für die FDP warensie absehbar –: 85 Prozent der Unternehmen haben er-klärt, dass der Ausbildungsbonus ihre Ausbildungspläneüberhaupt nicht beeinflusst. Von den gerade einmal5 Prozent der Betriebe, die mit dem Bonus einen neuenAusbildungsplatz schaffen wollen, sind die meisten imGastgewerbe und im Handel aktiv, also dort, wo ohnehintraditionell schlechter qualifizierte Bewerber ausgebil-det, aber häufig nicht übernommen werden. Ich hatteheute Morgen selber einen Anruf von einem Unterneh-mer. Ich habe ihn direkt gefragt: Wie sieht’s aus? Wirstdu mit diesem Instrument arbeiten? Antwort: Nein;
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Jörg Rohdeich mache Ausbildungsplätze nur dann, wenn sie Aus-sicht auf Erfolg haben.
– Das war nicht repräsentativ. Ich konnte nur eine Stich-probe machen. Aber die Umfrage bei den 12 000 war re-präsentativ. – Diese ernüchternde Aussage darf abernicht als Destruktivität der Unternehmen bewertet wer-den.Klipp und klar haben die Unternehmen erklärt, wel-che Maßnahmen sie stattdessen von der Politik erwarten.Ganz oben steht dabei der Wunsch nach einer besserenschulischen Vorbildung der Bewerber. Fast zwei Drittelder Unternehmen haben Schwierigkeiten mit dem Bil-dungsstand der Jugendlichen. Hier liegt das eigentlicheProblem: Zu viele Jugendliche verlassen die Schule ohnehinreichende Ausbildungsreife. Wer dieses Problem löst,meine Damen und Herren, braucht sich später keine Ge-danken um Ausbildungsplätze und Fachkräftemangel zumachen.
Ich bringe die Position der FDP in einem Satz auf denPunkt: Die FDP lehnt den Griff in die Kasse der Arbeits-losenversicherung und damit der Beitragszahler ab undwird deshalb bei aller Sympathie für das Anliegen demvorliegenden Gesetzentwurf nicht zustimmen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Franz Romer für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Wir können mit dem nun vorliegen-den Gesetzentwurf zum Ausbildungsbonus zufriedensein. Damit werden wir den Sockel der Altbewerber ziel-sicher abbauen, ohne bestehende Ausbildungsplätze zugefährden.
Wir werden einem großen Teil der sogenannten Alt-bewerber die Chance geben, einen Ausbildungsplatz zufinden und den Übergang von Schule zu Beruf zu schaf-fen. Damit geben wir ihnen vor allem die Möglichkeit,für ihr weiteres Leben Eigenverantwortung zu überneh-men. Kein anderer Faktor führt zwangsläufig so sicherzu Hartz IV und Arbeitslosigkeit wie eine fehlende Be-rufsausbildung. Es muss unser Ziel sein, jedem Schulab-gänger eine Berufsausbildung zu ermöglichen.
Herr Kollege Rohde, jeder anschließend Beschäftigteleistet dann Beiträge zur Arbeitslosenversicherung
und bezahlt damit seinen Bonus über die Jahre wiederzurück. Deshalb ist die Finanzierung über die BA auchvoll gerechtfertigt.
Wir alle wissen, dass die Anforderungen der Ausbil-dungsbetriebe heute sehr hoch sind. Letztlich braucht dieWirtschaft aber auch gut qualifizierte Arbeitskräfte. Mitdem Ausbildungsbonus und der Berufseinstiegsbeglei-tung vermitteln wir zwischen dem hohen Anspruch derBetriebe und den vorhandenen Fähigkeiten der Schulab-gänger. Aus meinem Wahlkreis weiß ich, dass viele Ju-gendliche die Schule mit nur mittleren oder unterdurch-schnittlichen Ergebnissen verlassen. Dann kommt esschnell zu Benachteiligungen bei der Ausbildungsplatz-suche. Das wird nun nicht mehr so leicht passieren.Ich will hier einen wichtigen Punkt ansprechen: Wirmüssen sicherstellen, dass nur zusätzliche Ausbildungs-plätze gefördert werden. Missbrauch muss verhindertwerden. Das Gesetz trägt diesem Problem ausreichendRechnung. Ein Ausbildungsplatz gilt nur dann als zu-sätzlich, wenn damit die durchschnittliche Zahl der Aus-bildungsplätze der letzten drei Jahre überschritten wird.Bleibt die Zahl der Plätze konstant, wird nicht gefördert.Wir können gut mit den Kammern zusammenarbeiten,um Missbrauch grundsätzlich zu verhindern. Durch denAusbildungsbonus hat kein Neubewerber schlechtereChancen gegenüber Altbewerbern.Ich bin sehr froh darüber, dass wir mit diesem Gesetzgleichfalls die Berufseinstiegsbegleitung einführen so-wie die vielen ehrenamtlichen Projekte und die Partner-schaften zwischen Betrieben und Schulen unterstützen.Eine konsequente Begleitung bei der Berufswahl,beim Übergang von Schule zu Beruf und zu Beginn derAusbildung ist besonders für Jugendliche mit mittlerenund schlechteren Schulabschlüssen wichtig.
Mit Beendigung der Schule können sich junge Men-schen erstmals nach ihren Fähigkeiten und Leistungenfrei für einen Beruf entscheiden. Hier müssen wir im Be-darfsfall in der Lage sein, zu helfen. Dafür schaffen wirnun die Grundlage.In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmalbetonen, dass wir auch eine Förderung von Zweitausbil-dungen mit dem Ausbildungsbonus als Ermessensleis-tung zulassen. Damit kann gerade denjenigen, die wäh-rend der Ausbildung Probleme hatten, eine neue,zusätzliche Chance gegeben werden, einen passendenAusbildungsplatz zu finden. Wir können es uns nichtleisten, dass motivierte Auszubildende wegen des Ab-bruchs einer Ausbildung, die ihren Fähigkeiten und Inte-ressen vielleicht nicht entsprach, ihr Leben lang benach-teiligt sind.
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Franz RomerDie Anhörung zum Gesetzentwurf hat gezeigt, dasswir auf dem richtigen Weg sind. Die Experten haben dasVorhaben der Koalition begrüßt. Kritisiert wurden abereinzelne Punkte, wie die breite Zielgruppe der Förde-rung sowie die fehlende Vereinbarkeit von Einstiegsqua-lifizierung und Förderung. Hier haben wir nachgebes-sert.
Das Gesetz sieht nun vor, dass der Ausbildungsbonusfür Auszubildende mit mittlerem Schulabschluss nurnoch als Ermessensleistung gewährt wird und kein di-rekter Anspruch auf diese Leistung besteht.Auch bei der Einstiegsqualifizierung beim selben Ar-beitgeber gibt es nun eine Anrechnungslösung.Die Auszahlungsbedingungen sind ebenfalls ange-passt worden. Nun wird der Bonus zur einen Hälfte nachAblauf der Probezeit und zur anderen Hälfte nach An-meldung zur Abschlussprüfung ausgezahlt. So erreichenwir, dass abgebrochene Ausbildungsverhältnisse nichtweiter gefördert werden und für beide Seiten Anreize be-stehen, eine Ausbildung auch zu Ende zu führen.Ich bin mit der gefundenen Lösung sehr zufrieden.Der Anteil von mehr als 50 Prozent Altbewerbern ist aufDauer nicht vertretbar,
wenn wir international wettbewerbsfähig bleiben wol-len. In Deutschland können wir kaum noch rentable Ar-beitsplätze halten, die ohne eine hochwertige Ausbil-dung auszufüllen sind. Also helfen wir nicht nur denJugendlichen in ihrer individuellen Entwicklung, son-dern auch den Betrieben. Für die Zukunft ersparen wirder Allgemeinheit die hohen Kosten der Arbeitslosigkeitund sichern zusätzlich qualifizierte Arbeitskräfte für un-sere Wirtschaft.Ich bin überzeugt, dass die Einführung des Ausbil-dungsbonus günstiger und effizienter sein wird, als einegroße Zahl von Bewerbern außerbetrieblich auszubilden.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Cornelia Hirsch, Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wer ausbildet, soll unterstützt werden; wer nicht ausbil-det, soll zahlen. Das ist das ebenso einfache wie gerechtePrinzip einer gesetzlichen Ausbildungsplatzumlage.
Gerecht ist dieses Prinzip gleich doppelt:Erstens, weil es einen Ausgleich schafft zwischen denUnternehmen, die ausbilden, und den Unternehmen, dienicht ausbilden. Ein Unternehmen, das nicht ausbildet,kann dann nämlich nicht mehr, ohne irgendwelche Kon-sequenzen befürchten zu müssen, dem Unternehmen,das ausbildet, die fertig ausgebildeten Fachkräfte weg-schnappen.
Gerecht ist es zweitens, weil es Zukunft für die Ju-gendlichen sichert. Es kann nämlich gesetzlich dafür ge-sorgt werden, dass es ein auswahlfähiges, also ein aus-reichendes Angebot an Ausbildungsplätzen für alleJugendlichen gibt. Deshalb sagt die Linke weiterhin: DieForderung nach einer gesetzlichen Ausbildungsplatzum-lage ist nicht vom Tisch. Daran halten wir weiter fest.
Sie legen uns heute den Ausbildungsbonus vor. Die-ser Bonus folgt leider geradewegs dem entgegengesetz-ten Prinzip; er ist gleich doppelt ungerecht. Erstens ist erungerecht, weil er die Unternehmen für ihre jahrelangeAusbildungsverweigerung auch noch belohnt.
Man kann sich ein konkretes Beispiel anschauen: EinUnternehmen hatte letztes Jahr die Bewerbung einesHauptschülers vorliegen. Aber da es einen Ausbildungs-platz wegrationalisiert hatte, konnte er in dem Jahr nichtausgebildet werden. In diesem Jahr bekommt das Unter-nehmen eine erneute Bewerbung des Jugendlichen undstellt ihn ein. Dafür bekommt es von Ihnen auch nocheine Prämie zwischen 4 000 und 6 000 Euro überwiesen.
Da fragen wir uns: Ist es in irgendeiner Form gerecht,ein Unternehmen dafür zu belohnen, dass es einen Ju-gendlichen ein Jahr einfach so im Regen hat stehen las-sen? Das finden wir nicht richtig. Ausbildung ist keineWohltätigkeit von Unternehmen; Ausbildung ist Pflicht.
Zweitens ist der Ausbildungsbonus ungerecht, weil erkeine nachhaltige Zukunftsperspektive für die Jugendli-chen bietet. Denn mit diesem Gesetz tun Sie mal wiedernichts weiter, als an den Symptomen herumzudoktern,anstatt endlich einmal die Ursachen für die Ausbildungs-misere anzugehen.
Im aktuellen Berufsbildungsbericht steht die erschre-ckend hohe Zahl von 385 000 Jugendlichen, die mindes-
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Cornelia Hirschtens – zum Teil deutlich länger – ein Jahr auf der Suchenach einem Ausbildungsplatz sind. Diese erschreckendhohe Zahl von 385 000 Jugendlichen ist kein Zufall oderhat ihre Ursache in der Dummheit der Betroffenen, son-dern sie ist das konkrete Ergebnis der Ausbildungspoli-tik der letzten Jahre.
Deswegen kann es nicht heißen: Wir machen einfachweiter mit dem Pakt. – Denn dieser Pakt ist gescheitert;er ist für diese hohe Zahl von Jugendlichen ohne Ausbil-dungsplatz verantwortlich. Man kann auch nicht nachdem Motto „Weiter so!“ fortfahren, nichts gegen dieWarteschleifen zu unternehmen. Denn Jugendliche brau-chen Ausbildungsplätze.
Es gibt natürlich noch eine zweite Lesart für diesenAusbildungsbonus. Man kann ihn auch als ein Förder-instrument verstehen. Zumindest versuchen Sie, dies deut-lich zu machen; denn schließlich trägt der Gesetzentwurfden Titel „Verbesserung der Ausbildungschancen förde-rungsbedürftiger junger Menschen“. Das Problem daranist nur, dass diese Förderung zwar im Titel enthalten ist,aber der Inhalt des Gesetzes dies nicht widerspiegelt.Wiederum ganz konkret: Wenn Ihre Zielgruppe wirk-lich die Jugendlichen sind, die förderungsbedürftig sindund die demnach einer Unterstützung bedürfen, dannfrage ich Sie: Was ist das für eine Unterstützung dieserJugendlichen, wenn Sie ein paar Tausender an ihre Ar-beitgeber überweisen? Das ist keine Unterstützung. Da-rum halten wir diesen Ansatz als Förderungsinstrumentfür nicht schlüssig.
Wenn Sie den Ausbildungsbonus tatsächlich zu einemFörderinstrument hätten ausbauen wollen, dann hättenSie besser auf die Meinung der Sachverständigen in derAnhörung hören müssen. Das hätte bedeutet:Erstens. Die Zielgruppe wäre deutlicher eingegrenzt,als Sie es tun. Der einzige Punkt, an dem Sie nachgebes-sert haben, war, die Realschüler aus der Pflicht- in dieErmessensleistung zu nehmen, was aus unserer Sicht inkeinem Fall ausreichend ist.
Zweitens. Sie hätten ausbildungsbegleitende Hilfenganz klar als verbindlichen Anspruch im Gesetz veran-kern müssen. Ansonsten klappt es eben nicht, dass derJugendliche, der in dieses Programm gesteckt wird, auchwirklich die Hilfe erhält, die er braucht.
Drittens. Sie hätten auch klarstellen müssen, dass füreine zweijährige Ausbildung nicht die gleiche Prämiegezahlt wird wie für eine dreijährige Ausbildung, wie esbisher geregelt ist. Damit wird eine Schmalspurausbil-dung gefördert. Auch an dieser Stelle macht die Linkenicht mit.
Aus all diesen Gründen halten wir den Ausbildungs-bonus für kein taugliches Förderinstrument. Wir sagenNein zu diesem ungerechten Ansatz und stehen weiterfür das Recht auf Ausbildung, wie es auch in der Petitionvon über 70 000 Jugendlichen gefordert wurde.
Diese Woche war sehr ermutigend; denn sie hat ge-zeigt, dass solche Forderungen durchaus Erfolg habenkönnen. Schauen wir uns die Situation in Hessen an. DieStudierenden haben dort nicht hingenommen, dass Stu-diengebühren eingeführt wurden.
Sie haben dagegen protestiert, Autobahnen blockiert undRektorate besetzt. Das Ergebnis ist, dass der Landtag inHessen vorgestern mit Mehrheit beschlossen hat, dieStudiengebühren wieder abzuschaffen.
Dazu sagen wir Linke: Was an den Hochschulen klap-pen kann, das ist im Bereich der Ausbildung ebenfallsmöglich. Auch hier muss man für das Recht auf Ausbil-dung weiterkämpfen. Das heißt in einem ersten Schritt:Nein zu diesem ungerechten Bonus, weg mit dem ge-scheiterten Pakt und her mit einer gesetzlichen Ausbil-dungsplatzumlage!Besten Dank.
Das Wort hat nun Brigitte Pothmer, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!100 000 Stellen durch die Jobperspektive, 100 000 Stellendurch den Kommunalkombi, sogar mehr als 100 000 Stel-len für junge Menschen mit und ohne Ausbildung – soweit die vollmundigen Ankündigungen. Die Wirklich-keit: Diese drei Programme sind Megaflops.
Das war zuletzt im Spiegel dieser Woche zu lesen.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17541
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Brigitte PothmerDie Große Koalition liebt offensichtlich das Gesetzder großen Zahl und kommt jetzt mit dem Versprechendaher, 100 000 zusätzliche Ausbildungsplätze – ich be-tone: zusätzliche – durch die Gewährung eines Ausbil-dungsbonus zu schaffen. Ich sage Ihnen: Das wird dernächste Flop.Herr Romer, Sie haben hier deutlich gesagt, es geheum Zusätzlichkeit. Jetzt will ich Ihnen einmal sagen, wasdas Bundesinstitut für Berufsbildung errechnet hat:
Nach den Kriterien, die jetzt in Ihrem Gesetzentwurf ste-hen, würden bis auf den öffentlichen Dienst alle Wirt-schaftsbereiche bei der gleichen Zahl von Neuverträgenwie 2007 eine Förderung bekommen. Wo bleibt da dieZusätzlichkeit?Es ist sogar noch schlimmer, Herr Romer: Es ist sogarmöglich, dass mit Ihrem Bonus Unternehmen gefördertwerden, die weniger Ausbildungsplätze zur Verfügungstellen als 2007. Sie müssten einmal denjenigen Betrie-ben, die in der Vergangenheit ihre Ausbildungsverpflich-tung trotz wirtschaftlich schwieriger Lage und ohne jedefinanzielle Förderung ernst genommen und bis Ober-kante Unterlippe ausgebildet haben und jetzt nicht mehrnachlegen können, erklären, warum sie bei Ihrem Aus-bildungsbonus leer ausgehen. Sie arbeiten nach demPrinzip: Die Ehrlichen sind die Dummen.
Das können Sie niemandem erklären.Dieses Konzept ist eine krasse Fehlsubventionierung.Dieses Konzept ist im Übrigen Schmu, weil Sie Ausbil-dungsplätze als zusätzlich zählen werden, die keines-wegs zusätzlich sind.
Was mich am meisten quält, ist: Das ist das falscheKonzept, zumindest für diejenigen, für die Sie vorgebenetwas tun zu wollen und die auch tatsächlich die meisteUnterstützung brauchen.
Das sind ja nicht einfach Jugendliche, die aufgrund derTatsache, dass es wenige Ausbildungsplätze gab, keinenAusbildungsplatz bekommen haben. Das ist doch eineGruppe, die nicht nur eine mangelnde schulische Bil-dung mitbringt, sondern die auch sonst eine ganze Reihevon Problemen mit sich herumschleppt. Ich spreche vonmangelndem Durchhaltevermögen, von einer geringenFrustrationsschwelle und von mangelnden sozialenKompetenzen.
An diesen geht der Ausbildungsplatzbonus doch kom-plett vorbei. Oder glauben Sie wirklich, dass Sie die Ar-beitgeber mit ein paar Tausend Euro Schmerzensgelddavon überzeugen können, solchen Jugendlichen einenAusbildungsplatz zu geben?
Die Arbeitgeber wissen doch ganz genau, dass diese Ju-gendlichen ganz andere Hilfen brauchen; auch das ist inder Anhörung deutlich geworden.
Liebe Frau Nahles, Sie haben in Ihrer Presseerklärungzur Entscheidung gestern im Ausschuss gesagt – ich leseIhre Presseerklärungen sehr aufmerksam –, die Umset-zung dieses Ausbildungsplatzbonus sei die Einlösung ei-nes Kernversprechens sozialdemokratischer Politik:
Aufstieg durch Bildung. – Mein Gott, wie bescheidenSie geworden sind!
Ich kann mich an Zeiten erinnern, da waren die Sozial-demokraten in der Tat ambitionierter in dem, was sie indieser Gesellschaft verändern wollen.
Frau Nahles, Sie haben gesagt, dass der von Olaf Sc-holz angekündigte Rechtsanspruch auf einen Haupt-schulabschluss Teil eines Gesamtkonzeptes sei, der ei-nen „Aufstieg durch Bildung“ garantieren würde. Ichwill Ihnen einmal sagen, was es mit diesem Rechtsan-spruch auf sich hat. Die jungen Menschen können diesenRechtsanspruch nur im Rahmen einer Maßnahme geltendmachen. Sie müssen vorher Warteschleifen durchlaufenhaben, also Berufsvorbereitungsjahr oder Berufsgrundbil-dungsjahr. Außerdem können sie den Hauptschulab-schluss nur dann machen, wenn vorher klar ist, dass sieihn auch schaffen.
Es wird leichter sein, einen Sechser im Lotto zu be-kommen, als dieses Versprechen zu realisieren.
Bis jetzt war es im Rahmen von § 16 Abs. 2 SGB II ganzleicht möglich, einen Hauptschulabschluss nachzuma-chen. Dieses gute Instrument haben Sie gestrichen. Sie
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Brigitte Pothmersollten es wieder in Kraft setzen. Damit würden Siewirklich etwas für die Jugendlichen tun.
Ganz grundsätzlich gilt: Wenn Sie für die Jugendli-chen etwas tun wollen, dann sollten Sie nicht die Be-triebe, sondern die Jugendlichen unterstützen. Das gehtam besten mit den ausbildungsbegleitenden Hilfen. Zu-nächst einmal müssten Sie die 3,5 Milliarden Euro, diejährlich in dieses Übergangssystem fließen, mit dem denJugendlichen in keiner Weise geholfen wird, zum Um-bau nutzen. Ich spreche von Modulen, die Teil einer ins-gesamt modularisierten Ausbildung sein sollten. Siewerden die Situation für die Altbewerber nur dann ernst-haft verbessern, wenn Sie strukturelle Veränderungenvornehmen.
All das finden wir aber nicht in Ihrem Programm. Esgeht wirklich nicht, dass das Recht auf eine Ausbildungfür Jugendliche davon abhängt, ob das Konjunkturbaro-meter gerade steigt oder fällt.Der Ausbildungsbonus hilft denen nicht, die ihn amdringendsten brauchen. Der Ausbildungsbonus bewirkterhebliche Mitnahmeeffekte. Bezahlt – da hat die FDPrecht – wird er ausschließlich durch die Beitragszahler.Ich finde, das sind drei von sehr vielen Gründen, die hin-reichend dafür sind, dass dieser Ausbildungsbonus je-denfalls von uns abgelehnt wird.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun Christel Humme für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!Wenn wir gleich das Gesetz zum Ausbildungsbonus ver-abschieden, dann haben wir uns ganz klar an die Seiteder jungen Menschen gestellt.
Wir fördern mit dem Ausbildungsbonus Bildungsab-schlüsse, keine Warteschleifen. Das ist in der Tat gerech-ter – das sage ich in alle Richtungen – als dogmatischesNichtstun.
Zugegeben: Das parlamentarische Verfahren warrecht zäh und mühselig. Für junge Menschen, die sichum ihre Zukunftschancen betrogen sehen, ist das sicher-lich völlig unverständlich. Worum geht es? 22 Prozentder Menschen zwischen 25 und 35 Jahren sind heuteohne einen beruflichen Bildungsabschluss.
22 Prozent sind fast ein Viertel dieser Altersgruppe. Füreine Wirtschaftsnation, wie wir es sind, halte ich das, ge-linde gesagt, für einen Skandal.
Was bedeutet das – darauf haben schon viele hinge-wiesen – für die jungen Menschen? Sie haben wenigerChancen auf eine gute Arbeit und existenzsicherndeLöhne. Sie haben weniger Chancen auf Teilhabe. Sie ha-ben weniger Chancen auf Unabhängigkeit und indivi-duelle Persönlichkeitsentfaltung. Darüber hinaus habensie ein höheres Risiko, arbeitslos zu werden, und eindeutlich höheres Risiko, in die Abhängigkeit von staatli-chen Transferleistungen zu geraten. Genau das ist jetztdie Situation.Deshalb müssen wir alle Anstrengungen unterneh-men, die Zahl junger Menschen, die heute ohne Ab-schluss sind, zu verringern.
Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten istklar: Wir wollen Ausbildung für alle. Alle haben dasRecht auf Ausbildung. In den letzten Jahren sind wir die-sem Ziel etwas nähergekommen.
Wir hatten 2007 eine relativ gute Ausbildungssituation.2007 – der Staatssekretär hat das bereits erwähnt – wareines der besten Ausbildungsjahre, und 2008 wird eben-falls ein gutes Ausbildungsjahr werden.In jüngster Zeit war zum Teil nicht mehr von einerLehrstellenlücke, sondern von einer Bewerberlücke dieRede. Ich möchte die Diskutanten bitten, etwas ehrlicherzu sein, wenn sie die Analyse des Ausbildungsmarktesbetreiben.
– Es wäre gut, wenn Sie ein bisschen weniger schreienkönnten. – Fakt ist: Es gelingt nach wie vor nur jedemzweiten Jugendlichen, direkt nach der Schule einen Aus-bildungsplatz zu finden. Es landen noch immer viele Ju-gendliche in sinnlosen Warteschleifen, Herr Rohde.
Die Hälfte derjenigen, die einen Ausbildungsplatz su-chen, ist seit einem Jahr oder länger vergeblich auf derSuche.625 000 Ausbildungsplätze geben zwar ein gutes Bildab, aber das sind trotzdem weit mehr als 100 000 zu we-nig. Ich finde, hier steht die Wirtschaft in der Verantwor-tung; denn bedauerlicherweise bildet nur die Hälfte derausbildungsfähigen Betriebe aus. Da ist richtig viel
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Christel HummePotenzial vorhanden. Auch das gehört zu einer ehrlichenAnalyse.Wir in der Großen Koalition haben uns gefragt, wiewir den jungen Menschen, die vor diesem Problem ste-hen, besser unter die Arme greifen können. Ich seheviele junge Menschen auf der Tribüne sitzen. Niemandkann ernsthaft glauben, dass der Streit, den wir hier überdie Finanzierung führen, einen Jugendlichen interessiert.
Wir haben es geschafft, ein – so nenne ich es einmal –Chancenverbesserungspaket zu schnüren. Wir schlagenzwei Fliegen mit einer Klappe: Erstens unterstützen wirdie benachteiligten Jugendlichen, die schon länger einenAusbildungsplatz suchen, mit einem Ausbildungsbonus,und zweitens haben wir mit der Berufseinstiegsbeglei-tung ein Instrument geschaffen – das ist sehr wichtig –,mit dem wir Schulabgängern unter die Arme greifenkönnen. Die Jugendlichen sollen nach der Schule direkteine Ausbildung aufnehmen können und gar nicht erst zuAltbewerbern werden.
Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen. Aus bil-dungspolitischer Sicht habe ich eine Debatte der letztenWochen überhaupt nicht verstanden: Es wurde immerwieder gefragt, welche Jugendlichen gefördert werdensollen. Viele Politiker hatten das Ziel, diese Gruppe soklein wie möglich zu halten. Ich habe immer wieder ver-sucht, mir vorzustellen, wie diese Debatte, die wir ge-führt haben, auf den einzelnen Jugendlichen wirkenmuss. Was sagen wir ihm? Wenn sich diejenigen, dievorhatten, die Gruppe kleinzuhalten, durchgesetzt hät-ten, dann hätte zum Beispiel eine 19-jährige Arbeitslosemit Hauptschulabschluss, die seit drei Jahren vergeblicheinen Ausbildungsplatz sucht, gar keine Förderung er-halten. Was hätten wir dieser Frau sagen sollen? Ichkann dazu nur sagen: Für diese Zielgruppendiskussion,die wir auch mit den Gewerkschaften führen mussten,werden die Jugendlichen kein Verständnis aufbringen.Dafür wiederum habe ich Verständnis.
Ich bin sehr froh, dass es uns gelungen ist, dieses Pa-ket im Sinne der Jugendlichen zu schnüren. Die Ent-scheidung, die wir gleich treffen werden, ist mehr als dieVerabschiedung eines Gesetzes. Das ist eine Botschaftan die jungen Menschen. Sie lautet: Wir nehmen euchund eure Sorgen ernst. Wir tun nicht so, als gäbe es eureProbleme nicht. Wir wollen und wir brauchen euch inder Gesellschaft. Deswegen lassen wir euch nicht im Re-gen stehen. – Ich danke allen, die das ermöglicht haben.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Stefan Müller, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Eine erfolgreiche Berufsausbildung ist der Schlüssel fürein erfolgreiches berufliches Leben, weil sie Sicherheitbietet und die Möglichkeit gibt, das eigene Leben selbst-bestimmt und selbstbewusst zu gestalten und zu bestrei-ten. Ich finde, wir können froh sein über die Erfolge, diewir in den letzten Jahren haben zur Kenntnis nehmendürfen. Der starke Wirtschaftsaufschwung und die er-folgreiche Arbeitsmarktpolitik dieser Großen Koalitionhaben zum größten Rückgang der Arbeitslosigkeit undzu einer Zunahme der Beschäftigung geführt.
Es hat auch dazu geführt, dass die Ausbildungszahlen inunserem Land deutlich besser geworden sind.
Die Arbeitsmarktzahlen für den Mai dieses Jahres be-legen das. Es gibt 61 000 Arbeitslose unter 25 Jahrenweniger als im Mai 2007. Zwischen dem 1. Oktober2006 und dem 30. September 2007 wurden insgesamt625 000 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen. Dassind fast 50 000 Ausbildungsverträge mehr als im Vor-jahr. Das zeigt, dass unser duales Ausbildungssystemfunktioniert. Ich wehre mich dagegen, dass es auch indiesem Haus Kolleginnen und Kollegen gibt, die dasduale Ausbildungssystem immer wieder infrage stellen.Es funktioniert; das belegen die Zahlen.
Es gibt erstmals seit dem Jahr 2001 über 600 000 neueAusbildungsverträge. Das sind Zahlen, über die mansich, wie ich finde, zu Recht freuen kann.
Das alles ist Ergebnis der Politik dieser Großen Koali-tion.Bei aller Freude über diese Zahlen muss ich dennochsagen: Es gibt immer noch zu viele, die nicht profitieren,die ohne Erfolg Hunderte Bewerbungen schreiben unddas Gefühl haben, nicht gebraucht zu werden. Das sindvor allem diejenigen, die lernbeeinträchtigt sind, die auseinem schwierigen sozialen Umfeld kommen und als so-zial benachteiligt gelten. Genau für diese Jugendlichen,die sich in den vergangenen Jahren vergeblich bemühthaben, eine Lehrstelle zu finden, schaffen wir mit demAusbildungsbonus das richtige Instrument, um ihnenzielgenau zu helfen.
Wir wollen ihnen damit eine Chance auf eine Ausbil-dung, eine Beschäftigung und auf ein selbstbestimmtes
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Stefan Müller
Leben geben. Nur wer gut ausgebildet ist, hat dauerhafteine berufliche Perspektive. Genau da wollen wir heuteansetzen.
Ziel einer erfolgreichen Arbeitsmarktpolitik musssein, möglichst frühzeitig denen unter die Arme zu grei-fen, die unsere Hilfe brauchen. Das zeichnet unser So-zialsystem aus. Wir alle wissen: Je länger die Wartezeitist, bis junge Leute einen Ausbildungsplatz bekommen,und je länger die Verweildauer in der Arbeitslosigkeitist, desto schwieriger wird die Integration in ein regulä-res Arbeitsleben und desto höher sind auch die Folge-kosten für unsere Sozialsysteme. Wir tun gut daran, unsmit diesem neuen Instrument um die zu kümmern, die esbesonders schwer haben.Ziel des Ausbildungsbonus ist es, zusätzliche – ichbetone: zusätzliche – Ausbildungsstellen zu schaffen,
und zwar vor allem für diejenigen, die bisher noch nichtvom Aufschwung profitiert haben, die als lernschwachgelten oder sozial benachteiligt sind.
Frau Pothmer, da Sie hier immer das Kriterium derZusätzlichkeit anführen – gestern im Ausschuss habenSie das auch getan –, will ich es wiederholen:Die Ausbildung erfolgt zusätzlich, wenn bei Aus-bildungsbeginn die Zahl der Ausbildungsverhält-nisse … in dem Betrieb aufgrund des mit demAuszubildenden abgeschlossenen Ausbildungsver-trages höher ist, als sie es im Durchschnitt der dreivorhergehenden Jahre jeweils am 31. Dezemberwar.Ich habe aus dem Gesetzentwurf vorgelesen; das hättenSie dort nachlesen können.
Natürlich lassen sich Mitnahmeeffekte nie ausschlie-ßen, wenn es direkte finanzielle Leistungen an Unter-nehmen gibt.
Ich glaube aber, dass wir dem mit der Definition der Zu-sätzlichkeit, so wie sie im Gesetzentwurf steht, und auchaufgrund der Tatsache, dass die Industrie- und Handels-kammern und die Handwerkskammern die Zusätzlich-keit bescheinigen müssen, Rechnung getragen habenund Mitnahmeeffekte weitgehend ausschließen können.
Ein weiteres Thema im Zusammenhang mit Mitnah-meeffekten ist die Frage des förderfähigen Personenkrei-ses. Ich gebe zu, Herr Kollege Rohde, man hätte an dereinen oder anderen Stelle sicherlich noch mehr machenkönnen; ich kenne die Stellungnahmen. Wie auch im-mer: Wir haben Vorschläge der Sozialpartner in unsereÄnderungsanträge aufgenommen, zum Beispiel hin-sichtlich der Eingrenzung des förderfähigen Personen-kreises und auch hinsichtlich der Möglichkeit, EQJ-Praktikanten im gleichen Betrieb zu fördern. Ich bin mirsicher, dass wir durch die jetzige Definition des förderfä-higen Personenkreises Mitnahmeeffekte ausschließenkönnen, jedenfalls mehr als durch den alten Wortlaut desGesetzentwurfes.Herr Rohde, ich möchte gerne auf einen Punkt einge-hen, den Sie angesprochen haben. Sie haben von einemTelefonat berichtet, das Sie heute mit einem Unterneh-mer geführt haben. Diesen Unternehmer haben Sie ge-fragt, ob er zusätzlich ausbilden würde. Er hat dies ver-neint. Gut, es gibt immer Unternehmen, die es für sich– aus welchen Gründen auch immer – ausschließen, mehrauszubilden. Ich darf Ihnen trotzdem etwas aus der heu-tigen Frankfurter Allgemeinen Zeitung vorlesen. Dortwird unter anderem über die heutige Beratung über denAusbildungsbonus berichtet, jedoch auch von einer Um-frage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auf-trag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Dortheißt es:Annähernd zwei Drittel der Unternehmer befürwor-ten jedoch, dass Betriebe einmalige Zuschüsse er-halten, wenn sie Ausbildungs- oder Arbeitsplätzefür gering qualifizierte Jugendliche schafften. Da-mit unterstützen sie die von der großen Koalitiongeplante Einführung eines Ausbildungsbonus.So ist es, liebe Kollegen von der FDP. Wir haben imGrundsatz die Zustimmung für diesen Ausbildungsbo-nus. Ich finde, das muss einmal gesagt werden. Sie tätengut daran, das zuzugeben.
Frau Pothmer, Sie haben vorhin an dieser Stelle sehrviel kritisiert. Sie haben alles Mögliche genannt, wasman ansprechen könnte. Man kann ja in der Sache unter-schiedlicher Meinung sein. Ich habe von Ihnen aberkeine Alternativen gehört.
Die FDP hat sich zumindest die Mühe gemacht, eineneigenen Änderungsantrag vorzulegen.
– Herr Kollege Rohde, wenn Sie noch einen Momentwarten, können Sie Ihre Zwischenfragen gebündelt los-werden; denn ich komme noch zu Ihnen. – Im Ände-rungsantrag der FDP heißt es, der Ausbildungsbonussolle nicht aus Mitteln der Bundesagentur für Arbeit,sondern aus Steuermitteln finanziert werden. Sie habendas schon oft im Ausschuss gesagt.
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Stefan Müller
Ich habe Ihnen schon gestern im Ausschuss die Fragegestellt: Wenn Sie der Auffassung sind, dass gesamtge-sellschaftliche Aufgaben über Steuern finanziert werdenmüssten, dann frage ich mich, warum Sie dies nur aufden Ausbildungsbonus beziehen. Wenn Sie konsequentwären, dann würden Sie sich hier hinstellen und sagen,alle Leistungen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosig-keit müssten aus Steuermitteln bezahlt werden und nichtwie heute aus der Arbeitslosenversicherung. Damit wä-ren alle berufsvorbereitenden Maßnahmen, alle Maßnah-men der vertieften Berufsorientierung und vieles anderemehr eingeschlossen. Sie haben gerade davon gespro-chen, dass wir über die Beitragszahler etwas für Jugend-liche finanzieren, die noch nie etwas in die Arbeitslosen-versicherung eingezahlt haben. Das würde auch für allesandere gelten, was die Bundesagentur in diesem Bereichmacht. Wir reden hier über eine Größenordnung von1 Milliarde Euro.
Ich frage Sie: Wären Sie so konsequent, zu sagen,dass bei uns in Erlangen zum Beispiel das Projekt„Straße ins Leben“, das zur Hälfte aus Mitteln der Bun-desagentur finanziert wird, ebenfalls nicht mehr durchdie Bundesagentur unterstützt werden kann?
Herr Kollege, gestatten Sie jetzt die Zwischenfrage?
Bitte, Herr Rohde.
Vielen Dank, Herr Kollege Müller. Es ist zwar eher
üblich, dass das Plenum Fragen an den Redner stellt,
aber ich komme gerne auf Ihre Fragen zurück.
Fangen wir mit dem letzten Punkt an, mit dem Projekt
„Straße ins Leben“. Wir haben die Möglichkeit, die
Steuermittel gezielt einzusetzen. Wir als FDP sagen,
dass wir alle versicherungsfremden Leistungen aus der
Arbeitslosenversicherung herausnehmen wollen, um den
Beitragssatz für die Beitragszahler so gering wie mög-
lich zu halten und mehr Jobs in Deutschland zu generie-
ren. Das ist die Zielrichtung. Wir haben gestern im Aus-
schuss schon mit der Diskussion darüber begonnen. Wir
sind gerne bereit, noch in dieser Legislaturperiode ge-
meinsam mit Ihnen eine Initiative durchzuführen.
Wir sind nicht nur konsequent; wir sind auch pragma-
tisch. Wir befinden uns leider gerade in der Rolle der
Opposition. Aber den Vorschlag, versicherungsfremde
Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung herauszu-
nehmen, können wir gerne gemeinsam umsetzen.
Ich möchte noch auf die FAZ zurückkommen. Es
muss dort mehrere Redakteure geben; denn eine Über-
schrift lautet:
Umfrage des DIHK
„Der Ausbildungsbonus ist Geldverschwendung“.
So weit gehen wir mit unserer Kritik gar nicht. Wir wen-
den uns nur dagegen, dass Beitragsmittel verwendet
werden.
Wir haben eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Niemand bestreitet, dass es Altbewerber gibt und dass
man deshalb Maßnahmen ergreifen sollte. Wir streiten
um den Weg, und das ist eine gute Sache. Herr Müller,
stimmen Sie mit mir darin überein, dass die FDP wie Sie
etwas für diese Zielgruppe tun möchte, dass wir uns nur
im Weg unterscheiden?
Herr Kollege Rohde, zunächst zum FAZ-Artikel. Ichgebe Ihnen gleich den Artikel, den ich habe;
dann können Sie das nachlesen.
Bei dieser Gelegenheit fällt mir ein: Herrn Kolb habe ichversprochen, ihm das Steuerkonzept der CSU nachzurei-chen; auch das werde ich noch tun.
Herr Rohde, ich habe mir Ihr Steuerkonzept bereitsangeschaut; leider habe ich keine Zeit mehr, es inhaltlichzu bewerten, so gern ich das auch tun würde. Auf IhremParteitag am vergangenen Wochenende in München ha-ben Sie ein Steuerkonzept beschlossen
und sogar von Gegenfinanzierungsvorschlägen gespro-chen. Gegenfinanzierungsvorschläge kann ich in IhremKonzept allerdings nicht finden. Das, was dort zumThema Gegenfinanzierung steht, ist wirklich halbvirtuell.
Ich lasse Ihnen nicht durchgehen, dass Sie den Men-schen einerseits in Aussicht stellen, die Steuern zu sen-ken – allerdings ohne Gegenfinanzierungsvorschläge zumachen –,
und andererseits zu fordern, dass alles Mögliche überSteuermittel finanziert wird. So geht das nicht.
Ich bin davon überzeugt, dass wir mit dem Ausbil-dungsbonus das richtige Instrument entwickelt haben,um endlich auch denen eine Chance zu geben, die vomAufschwung am Arbeitsmarkt noch nicht profitiert ha-ben. Um diese Menschen müssen wir uns dringend küm-
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Stefan Müller
mern. Ich lade Sie ein, uns auf diesem Weg zu unterstüt-zen.
Das Wort hat nun Katja Mast für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Heute ist ein guter Tag für vorsorgende Arbeitsmarktpo-litik.
Heute ist Chancentag im Bundestag. Es ist Chancentag,weil wir den Weg für 100 000 zusätzliche Ausbildungs-plätze in den Betrieben freimachen.
Es ist Chancentag, weil wir uns um die Jugendlichenkümmern, die seit über einem Jahr vergeblich eine Lehr-stelle suchen, um die Jugendlichen, die täglich eine Ab-sage im Briefkasten haben, in Warteschleifen verharrenund so langsam den Glauben verlieren, dass sie in unse-rem Land gebraucht werden.
Es ist Chancentag, weil wir ihnen mit dem Ausbildungs-bonus für Altbewerber eine Perspektive geben. Wir las-sen sie nicht allein.Aber auch die Betriebe wissen uns an ihrer Seite. Werzusätzlich einen Altbewerber ausbildet, kann damit rech-nen, den Bonus für Ausbildung, der zwischen 4 000 und6 000 Euro beträgt, zu erhalten.Die Bundesagentur für Arbeit geht noch einen Schrittweiter. Wo notwendig, bietet sie sozialpädagogische Be-gleitung in Form von ausbildungsbegleitenden Hilfenan. Denn nur beides gemeinsam, der Bonus für Ausbil-dung und sozialpädagogische Begleitung, wird dazu füh-ren, dass eine Ausbildung erfolgreich abgeschlossenwird.
Das zeigen uns die Erfahrungen aus der Praxis, so auchin meiner Heimatstadt Pforzheim und im Enzkreis, woes einen solchen Bonus schon gibt. Ich erinnere nur anAishe – ich habe dieses Beispiel in meiner letzten Redeerwähnt –, die nach 80 Absagen schon geglaubt hatte,keinen Ausbildungsplatz mehr zu finden. Durch den Bo-nus der Bundesagentur und die Hilfe eines Jobcoachs,der ihr über die gesamte Ausbildungsdauer hinweg zurSeite stand, hat sie ihre Lehre als Einzelhandelskauffrauim letzten Jahr im zweiten Anlauf abgeschlossen. Vondieser Praxiserfahrung ließ sich die Große Koalition beider Erarbeitung dieses Gesetzentwurfes leiten.
Natürlich spielten bei den letzten kleinen Änderungenauch die Auffassungen der Sachverständigen, die in derAnhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales ge-äußert wurden, sowie die Anregungen des Bundesrateseine Rolle. Das hat zum Beispiel dazu geführt, dass wirdie Ausbildungsabbrecher aus Insolvenzunternehmenmit aufgenommen haben.Im vorliegenden Gesetzentwurf ist eine Befristungauf drei Jahre vorgesehen.
Das hat seinen Grund. Denn seit kurzem ist auf demAusbildungsmarkt eine Trendwende zu verzeichnen. ImJahre 2007 wurden 625 000 Ausbildungsverträge abge-schlossen, so viele wie seit 1999 nicht mehr. Wir könnenaber nicht länger mit ansehen, dass die Zahl der abge-schlossenen Ausbildungsverträge steigt, während dieChancen der Altbewerber auf einen Ausbildungsplatzsinken.
Wie wir heute zur Genüge gehört haben, wird auchbei diesem Chancengesetz Kritik laut. Die einen wollenmehr, die anderen wollen weniger, wieder andere verlie-ren sich in Grundsatzdebatten. Das ist der beste Beweisdafür, dass dieses Gesetz zielgerichtet ist, dass diesesGesetz die Jugendlichen erreicht.
Den Kritikern rufe ich zu: Bedenken Sie, dass für denBonus zwei Kriterien erfüllt sein müssen: Erstens. DerBetrieb muss einen zusätzlichen Ausbildungsplatz schaf-fen. Grundlage der Bewertung ist dabei die Zahl derAusbildungsplätze im Betrieb in den letzten drei Jahren.Zweitens. Der Betrieb muss einen Altbewerber einstel-len. Wo da der Anreiz zu flächendeckender Mitnahmeliegen soll, müssen Sie mir auch nach der heutigen De-batte noch glaubhaft begründen.
Ich fordere die Wirtschaft auf, mitzumachen und zuhelfen, dass die Betriebe die Chancen, die dieses Gesetzbietet, nicht etwa ausnutzen, sondern nutzen.
Meist sind es Jugendliche mit Hauptschulabschluss,Sonderschulabschluss oder ganz ohne Schulabschluss,die längere Zeit keinen Ausbildungsplatz finden. Sie be-kommen mit diesem Gesetz einen Rechtsanspruch aufden Bonus für Ausbildung, sofern für sie ein zusätzlicherAusbildungsplatz geschaffen wird. Das gibt den Jugend-lichen und den Betrieben Sicherheit; das ist das, was dieGroße Koalition will. Altbewerber mit einem höherenSchulabschluss können den Bonus ab dem nächstenAusbildungsjahr ebenfalls erhalten, sofern der Bundesratzustimmt.Aufstieg durch Bildung, das ist sozialdemokratischeAusbildungs- und Arbeitsmarktpolitik.
Wir schaffen Chancen, wo vorher Frust war. Wir wollen,dass jeder ausgebildet wird, wenn möglich im Betrieb.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17547
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Katja MastEines ist doch uns allen klar: Wer morgen Fachkräftebraucht, muss sie heute ausbilden. Es sind der Mittel-stand und das Handwerk, die Vorbilder in Sachen Aus-bildung sind. Aber das reicht nicht. Jeder Jugendlichemuss ausgebildet werden. Politik ohne Ausbildungs-zwang setzt voraus, dass die Unternehmen ihrer Verant-wortung für den Nachwuchs solidarisch gerecht werden.
Der Bonus – ich bleibe dabei – ist ein Musterbeispielfür vorsorgende Arbeitsmarktpolitik. Chancentag imBundestag – das war heute nicht das letzte Mal. Die Re-form der arbeitsmarktpolitischen Instrumente steht nochin dieser Legislatur an.
Wir von der SPD-Bundestagsfraktion wollen gemeinsammit unserem Arbeitsminister Olaf Scholz die Kultur derzweiten Chance verankern: Jeder soll das Recht bekom-men, seinen Hauptschulabschluss nachzuholen. Nur sogilt „Aufstieg durch Bildung“, nur so bekommen wir dennächsten Chancentag im Bundestag. Stimmen Sie heutedem Chancentag im Bundestag zu!
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Fünften Geset-zes zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch –Verbesserung der Ausbildungschancen förderungsbe-dürftiger junger Menschen. Der Ausschuss für Arbeitund Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlungauf Drucksache 16/9456, den Gesetzentwurf der Bun-desregierung auf Drucksache 16/8718 – Unterrichtungdurch die Bundesregierung auf Drucksache 16/9238 – inder Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit inzweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU undSPD gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen an-genommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvorangenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nunmehrdie Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 d auf:a) – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an derinternationalen Sicherheitspräsenz im Kosovoauf der Grundlage der Resolution 1244
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationenvom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Techni-schen Abkommens zwischen der internationa-len Sicherheitspräsenz und den Re-gierungen der Bundesrepublik Jugoslawien
und der Republik
Serbien vom 9. Juni 1999– Drucksachen 16/9287, 16/9461 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Gut-tenbergUta ZapfDr. Werner HoyerMonika KnocheMarieluise Beck
– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung– Drucksache 16/9462 –Berichterstattung:Abgeordnete Herbert FrankenhauserLothar MarkJürgen KoppelinRoland ClausOmid Nouripourb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
ordneten Dr. Rainer Stinner, Dr. Karl Addicks,Uwe Barth, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der FDP zu dem Antrag der BundesregierungFortsetzung der deutschen Beteiligung an derinternationalen Sicherheitspräsenz im Kosovoauf der Grundlage der Resolution 1244
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationenvom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Techni-schen Abkommens zwischen der internationa-len Sicherheitspräsenz und den Re-gierungen der Bundesrepublik Jugoslawien
und der Republik
Serbien vom 9. Juni 1999– Drucksachen 16/9287, 16/9369, 16/9463 –Berichterstattung:Abgeordnete. Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Gut-tenbergUta ZapfDr. Werner HoyerMonika KnocheMarieluise Beck
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Knoche, Wolfgang Gehrcke, Dr. Norman Paech,
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierseweiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEKonflikte zwischen Serbien und Kosovo-Alba-nern reduzieren – UN-Resolution 1244 unein-geschränkt umsetzen sowie faire und ergebnis-offene Verhandlungen ermöglichen– Drucksachen 16/6034, 16/7583 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Gut-tenbergUta ZapfHarald LeibrechtWolfgang GehrckeMarieluise Beck
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Knoche, Paul Schäfer , Inge Höger, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEUnverzüglicher Rückzug der Bundeswehr ausdem Kosovo– Drucksachen 16/8779, 16/9151 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Gut-tenbergUta ZapfDr. Werner HoyerWolfgang GehrckeMarieluise Beck
Über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus-schusses zu dem Antrag der Bundesregierung werdenwir später namentlich abstimmen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenJohannes Jung, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ich komme gerade von einem Gespräch mit dendiesjährigen Teilnehmern des Stipendienprogramms desOst-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, das den Na-men des ermordeten ehemaligen serbischen Ministerprä-sidenten Zoran Djindjic trägt. Ich würde hier natürlichsehr gerne über die Potenziale und Chancen der Regionsprechen, die wir heutzutage den westlichen Balkan nen-nen, so wie ich das auch mit diesen jungen Leuten getanhabe. Leider bietet dieser Tagesordnungspunkt aber nurwenig Gelegenheit dazu. Vielmehr ist es notwendig, hierungeschminkt auf die harte Realität im Kosovo einzuge-hen.Ich glaube, man muss leider feststellen – um das in ei-nem Satz zusammenzufassen –: Wer sich heute für seineKinder im Kosovo eine bessere Zukunft wünscht, der hatSchwierigkeiten, das zu erreichen, wenn er sich nach un-seren Maßstäben rechtsstaatskonform verhält. – Es warund ist in Kosovo traditionell leider schlecht möglich,beides miteinander zu vereinbaren.Die internationale Gemeinschaft hat in den letztenJahren sicherlich zu viel toleriert. Um auch einmal Na-men zu nennen: Führungspersonal wie der famose US-General Shook stellt eben keine Lösung des Problemsdar, sondern ist selbst ein Problem, wenn es darum geht,ein Gebiet wie Kosovo international aufzurichten.Wir sprechen bekanntlich von einem Landstrich mitknapp 2 Millionen Einwohnern. Das spricht noch nichtgegen die internationale Anerkennung. Kleine Länderkönnen erfolgreich sein. Luxemburg und, um in der Re-gion zu bleiben, Montenegro, sind erfolgreiche Beispieledafür. Nun wird seit Jahren darauf hingewiesen, Kosovosei ein Sonderfall. Das stimmt ganz gewiss; denn Ko-sovo erfüllt – einzigartig in Europa – alle Kriterien einesEntwicklungslandes. Was machen wir aber aus diesemSonderfall? Es ist beschämend, dass die Mission EULEXso schwer aus der Vorbereitungsphase herauskommt,was keineswegs nur an Komplikationen mit Russlandliegt.Die Mission KFOR im Kosovo ist leider weiterhinnotwendig. Sie muss auf unserem Schirm bleiben, wieman heute sagt; daran besteht angesichts der Sicherheits-lage und der Tatsache, dass das Jahr 2008 ein Jahr desÜbergangs im Kosovo ist, kein Zweifel.Recht ist für die Menschen da. Für manche auf dieserWelt, so auch für die Damen und Herren von der Links-partei, PDS, wird es niemals ein Völkerrecht geben kön-nen, das sie ruhigen Gewissens in ihrer Isolation lebenlässt. Von Solidarität keine Spur – mit niemandem, auchnicht in dieser Frage, über die wir heute zu entscheidenhaben. Sie verschanzen sich an dieser Stelle erneut hin-ter Ihrer notorischen Interpretation des Völkerrechts.Wen und wie viele Sie Ihres notorisch guten Gewissenswegen hängen lassen, ist Ihnen egal. Ich möchte auchbeim nächsten Mal, wenn es um Massenmord geht, nichtauf Sie angewiesen sein.Wir müssen allerdings mehr bieten als Halbherzig-keit. Offensichtlich ist der Nationalismus im Kosovo aufallen Seiten dominant. Vernünftige Menschen wie VetonSurroi von der albanischen Seite und Oliver Ivanovicvon der serbischen Seite, um auch hier Namen zu nen-nen, sind derzeit leider nicht gefragt. Werden wir dasnoch ändern können? Werden die derzeitigen politischenFührer im Kosovo einen demokratischen und europäi-schen Weg gehen, weg von traditioneller Unterdrückungin einer in weiten Teilen vormodernen Gesellschaft undweg von organisierter Kriminalität? Gerade weil daraufjedenfalls heute nicht mit Ja geantwortet werden kann,sind KFOR und EULEX bitter notwendig.Das führt zu der Frage, ob die Menschen dort in unse-rem Sinne europäisch sein wollen. Reicht es, Demokra-tie und Wohlstand zu versprechen? Wie glaubwürdig istdieses Versprechen, wenn Sicherheit und Gewaltmono-pol fehlen? Wer kann denn garantieren, dass am Endedie gemeinsame europäische Zukunft steht, die wir uns
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Johannes Jung
hier wünschen? Woher nehmen wir diesen Glauben?Uns muss klar sein: Wer nicht in dieser Generation in dieEuropäische Union kommt, der wird weiterhin ein natio-nalistisches Projekt betreiben.Seit langer Zeit versuche ich klarzustellen, dass dieLage im Nachbarland Mazedonien prekärer ist als in Ko-sovo und Serbien. In Kosovo und Serbien ist die Separa-tion längst vollzogen; wir haben sie hier bestätigt. InMazedonien exerziert die internationale Gemeinschafteine Strategie des Ethnoproporzes, die genau wie in Bos-nien-Herzegowina erkennbar nicht funktioniert.
Die größere der beiden Albanerparteien soll wieder nichtmit der größten slawisch-mazedonischen Partei koalie-ren. Es ist das gute Recht beider Parteien, sich ihre Ko-alitionspartner selbst zu wählen; aber aufgrund derSpielregeln, die wir mit aufstellen, kann die größte alba-nische Partei in Mazedonien die in dieser Gesellschaft ansie gestellten klientelistischen Ansprüche eben nicht be-friedigen. Das kann nur eine Regierungspartei. So führtNationalismus zu dem, was wir jetzt beobachten müs-sen: zur Selbstzerfleischung in derselben Volksgruppe,als wäre die Zugehörigkeit zur selben Volksgruppe perse ein politisches Problem oder Kriterium. Was tun wir?Wir sind nicht bereit, Sicherheit für alle StaatsbürgerMazedoniens über die NATO zu ermöglichen, was dereinzige Weg wäre. Ein schwerer Fehler!Ein Blick in den Norden Kosovos: Wir haben bereitsgenügend Erfahrungen mit extralegalen Staatstrukturen.In den 90er-Jahren gab es die Quasirepublik SerbischeKrajina auf kroatischem Territorium, die QuasirepublikHerceg-Bosna als kroatische Teilstruktur in Bosnien-Herzegowina. Können wir im Nordkosovo das pragma-tisch ignorieren, was sich dort abspielt? Vielleicht wärees ehrlicher, zu sagen, dass wir plan- und hilflos dane-benstehen und das akzeptieren, was es dort seit Jahr-zehnten gibt. Jedenfalls sehe ich niemanden, der imSinne dessen, was KFOR und EULEX eigentlich errei-chen sollen, die Zustände im Nordkosovo dramatisch än-dern möchte. Ich füge hinzu: Es ist auch ratsam, dies zuunterlassen.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.Der europäische Einsatz ist sowohl bei KFOR als auchbei EULEX notwendig, um allen Seiten im Kosovo Si-cherheit zu geben, aus sogenannten Volksgruppen viel-leicht doch endlich Staatsbürger zu machen und dernächsten Generation ein besseres Leben zu ermöglichen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Rainer Stinner für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!„Balkan-Blues – Europas ungelernte Lektionen“ ist derTitel der neuesten Ausgabe der Zeitschrift InternationalePolitik vom Juni dieses Jahres. Dieser Titel spiegelt ge-nau das wider, was wir gegenwärtig bedauerlicherweiseauf dem Balkan erleben. Ich fordere uns alle auf, hierund auch draußen von der Beschönigung der Situationabzusehen und der Realität im Kosovo ins Auge zuschauen. In dem angesprochenen Heft dieser Zeitschriftstehen Überschriften wie „Drohendes Desaster im Ko-sovo“, „Krampf ums Kosovo“, „Gedankenlose Neuord-nung“ etc. All diese Beschreibungen sind leider durch-aus realistisch.In diesem völlig unbefriedigenden Umfeld stehen wirheute vor der Frage der Verlängerung des KFOR-Man-dates. Hier sage ich ganz deutlich: Gerade weil die Situa-tion so unbefriedigend ist und die Dinge sonst nicht lau-fen, ist es ungeheuer wichtig, dass wir heute gemeinsamdas KFOR-Mandat verlängern. Die KFOR-Mission istgegenwärtig der einzige stabile Anker in dieser Region.
Die KFOR-Mission macht jede Entwicklung erst mög-lich. Ohne die KFOR-Mission gingen wir das Risiko ein,dass das Land in ein unerträgliches Chaos gerät. Daskönnen wir doch nicht wollen. Deshalb muss jeder indiesem Raume, liebe Kolleginnen und Kollegen, demwirklich an den Menschen in der Region liegt, diesemKFOR-Mandat hier und heute zustimmen.
Wir wissen alle, dass das Mandat eine notwendige,aber keine hinreichende Voraussetzung für das ist, wasim Kosovo geschehen muss. Die KFOR alleine bringtden Kosovo keinen Millimeter weiter; sie verhindert nurSchlimmeres. – Ein Nebensatz, sehr verehrter Herr Mi-nister Jung: Die KFOR nimmt im Kosovo auch polizeili-che Aufgaben wahr, um hier nur ganz kurz eine andereDebatte anzuführen. Was braucht die Republik Kosovo?Sie braucht erstens die europäische RechtsstaatsmissionEULEX, über die wir sprechen, damit Stabilität herbei-geführt, ein Rechtsstaat aufgebaut und notwendigeStrukturen entwickelt werden können.Wir müssen feststellen – auch das gehört zu einerkritischen Analyse –, dass die acht Jahre dauerndeUNMIK-Mission nicht die erwarteten Ergebnisse ge-bracht hat. Acht Jahre unbeschränkte Vollmachten derinternationalen Gemeinschaft haben zu einem unbefrie-digenden Ergebnis geführt. Das muss nachdenklichstimmen.
Daraus muss die EULEX-Mission lernen. Ich stelle in-frage, ob es sinnvoll ist, dass an der EULEX-Missionmehrere Tausend Personen beteiligt sind. Die Erfahrungmit internationalen Missionen hat gezeigt, dass in einem
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Dr. Rainer Stinnersolchen Fall die Selbstbeschäftigung eher zunimmt. DieEULEX-Mission muss aber schlagkräftig sein.Bei der Vorbereitung der Mission erleben wir ein wei-teres Trauerspiel: Die EU ist eben nicht in der Lage, dieVorbereitung konsequent zu betreiben. Sie ist ins Sto-cken geraten, und das wirft ein schlechtes Licht auf uns.
Zweitens braucht das Kosovo die Einbindung in regio-nale Strukturen. Auch das gestaltet sich gegenwärtig au-ßerordentlich schwierig. Ich spreche nicht nur überSerbien – die Schwierigkeiten in diesem Zusammenhangsind ein Sonderfall –, sondern auch über die anderen re-gionalen Partner. Bei der Einbindung des Kosovo in re-gionale Strukturen kommt es darauf an, dass sie von derEuropäischen Union bzw. von Deutschland aktiv voran-getrieben wird. Hierbei sehe ich relativ wenige Impulseder deutschen und europäischen Politik.Drittens. Auch das Kosovo braucht eindeutig dieeuropäische Perspektive. Die Zeitschrift InternationalePolitik formuliert prägnant und auch etwas süffisant:„… wir tun so, als wollten wir sie aufnehmen, undsie tun so, als würden sie uns das glauben …“Das beschreibt die unbefriedigende gegenwärtige Situa-tion. Die Glaubwürdigkeit der EU hat in der Region lei-der sehr stark abgenommen. Das muss man erkennen.Wir haben seitens der EU heroisch hohe Hürden aufge-baut, unter denen wir dann aber ganz schlank weggelau-fen sind. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an dieZusammenarbeit mit Den Haag in Serbien und an diePolizeireform in Bosnien-Herzegowina. In beiden Fällenwurden hohe Hürden aufgebaut, beide Male schlank da-runter weggelaufen. Das erhöht unsere Glaubwürdigkeitin der Region leider überhaupt nicht.
Das schadet dem Balkan, und das schadet auch Europa.Eine kohärente europäische Balkanpolitik ist leider nichterkennbar. Ich sage noch deutlicher: Man kann den Ein-druck haben, dass die Balkanpolitik in Brüssel eher lust-los administriert wird, als dass sie mit Herz, Realitäts-sinn und Nachdruck politisch gestaltet wird.Alle diese Punkte machen deutlich: Auch im Kosovoliegt die Lösung – das wissen wir alle – nicht im Militä-rischen; es müssen die politischen Voraussetzungen ge-schaffen werden. Das Militär kann nur die Grundlagendafür schaffen.Leider beschränkt sich der Antrag der Bundesregie-rung, dem wir aus vollem Herzen zustimmen, formalis-tisch-minimal auf die Forderung, das Militär einzuset-zen, und nimmt die Komplexität der politischenEntwicklung in keiner Weise wahr. Deshalb haben wirseitens der FDP unseren Antrag eingebracht, um wenigs-tens auf einige inhaltliche Punkte hinzuweisen.Ich darf Ihnen ehrlich sagen, ich war gestern im Ver-teidigungsausschuss ein bisschen erschüttert darüber,mit welchen wirklich fadenscheinigen, primitiven Grün-den unser Antrag, dem Sie eigentlich alle zustimmen,abgelehnt worden ist. Ich sehe hier zwei Fraktionsvorsit-zende der Großen Koalition. Liebe Kolleginnen undKollegen, Sie werben um unsere Stimmen für die Zu-stimmung zur Fortsetzung des Mandats. Das bedenkenwir, und wir werden auch zum großen Teil zustimmen,wie Sie wissen. Wir können dann aber auch erwarten,dass Sie mit unseren inhaltlichen Anträgen, die unsereZustimmung begleiten, ernsthafter umgehen, als Sie esin diesem Fall getan haben.
Ich hoffe auf Ihre Lernwilligkeit und Lernfähigkeitund gehe deshalb davon aus, dass Sie heute unserem An-trag zustimmen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Ruprecht Polenz für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Die Unionsfraktion wird dem Antrag der Bundesre-gierung, das Mandat für KFOR zu verlängern, zustim-men. Nach den Beratungen im Auswärtigen Ausschusskönnen wir auch davon ausgehen, dass die Zustimmungauch vom Bündnis 90/Die Grünen und von der FDP, alsovon einer breiten Mehrheit im Deutschen Bundestag, ge-tragen wird. Das hat auch gute Gründe; denn jeder, dersich mit der Lage im Kosovo befasst, weiß – Herr Stin-ner hat darüber gerade gesprochen –, dass die KFOR fürden Aufbau eines sicheren Umfeldes für alle Bewohnerund die weitere Unterstützung beim Aufbau demokrati-scher und rechtsstaatlicher Strukturen im Kosovo unver-zichtbar ist.Wahr ist, dass der eigentlich sorgfältig vorbereiteteWeg, beim Kosovo zu einer Statusänderung zu kommen,nicht zu einer einvernehmlichen Lösung geführt hat.Aber der Zustand war auch nicht länger haltbar. Denjeni-gen, die sagen – ich spreche hier vor allem die Links-fraktion an –, es sei falsch gewesen, dass die Bundesre-publik Deutschland den anderen Ländern, die dieUnabhängigkeit des Kosovo anerkannt haben, gefolgtsei, möchte ich sagen, dass eine einvernehmliche Lösungnicht mehr zu erwarten war.
25 Monate ist verhandelt worden, zuerst unter Ahtisaari,dann im UN-Sicherheitsrat, dann unter Beteiligung derTroika von Russland, den USA und der EuropäischenUnion sowie von Wolfgang Ischinger. Alles war ergeb-nislos. Der Status quo war nicht länger tragbar. Insofernsind wir nun bei der zweitbesten Lösung. Damit müssenwir umgehen.Über die zweitbeste Lösung zu sprechen, bedeutet ge-rade angesichts des Besuchs des russischen Präsidentenin Berlin, zwei, drei Sätze zur Rolle Russlands in diesem
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Ruprecht PolenzProzess zu sagen. Russland hat seinerzeit eine Resolu-tion des UN-Sicherheitsrats für eine Intervention verhin-dert, obwohl Genozidgefahr bestand. Russland hat danneingelenkt und die UN-Resolution 1244 mitgetragen.Russland hat dem Mandat für Ahtisaari zugestimmt. Ichselber habe mit Ahtisaari zu Beginn seiner Verhand-lungsmission gesprochen. Er, der ein erfahrener Politikerist, hat damals den festen Eindruck gehabt, dass dieZiele, die er in sogenannten Private Messages nachPriština und Belgrad vermittelt hat, von allen ständigenMitgliedern des UN-Sicherheitsrates geteilt werden.Russland ist dann irgendwann ausgeschert und hat mitdem internationalen Konsens gebrochen. Deshalb habenwir nun das Problem, einen Übergang von UNMIK, derMission der Vereinten Nationen im Kosovo, die eine ArtProtektoratsregime innehatte, zu einer von der Europäi-schen Union und der EULEX-Mission überwachten undkontrollierten Unabhängigkeit des Kosovo zu finden. Eswird nicht so laufen wie geplant. Dazu sage ich gleichnoch etwas.Es gibt nun die neue Aufgabe, die Einheit des Kosovosicherzustellen. Es gibt den serbisch besiedelten Norden,den Serbien gerne als Hebel zur Durchsetzung seinesAnspruchs auf das Kosovo nutzen möchte. Nicht nur dieParlamentswahlen, sondern auch die Kommunalwahlen,die Serbien rechtswidrig beispielsweise in Mitrovica hatdurchführen lassen, haben gezeigt, dass sich daraus nochein Problem ergeben könnte. Falls in Belgrad die Eu-ropabefürworter die Regierung bilden werden, haben siedas Problem, dass es sich aus serbischer Sicht bei denVertretern in Mitrovica um Hardliner in Amt und Wür-den handelt, die möglicherweise den ganzen Prozessnoch weiter erschweren.Es besteht die Gefahr, dass sich im Norden einMachtvakuum bildet und dass Priština den Anspruch er-hebt, die Unabhängigkeit des ganzen Kosovo erklärt zuhaben. Nun kann man auf Zeit spielen. Es wird uns auchnicht viel anderes übrig bleiben, gerade wenn es um denÜbergang von UNMIK zu EULEX geht. Angesichts derKürze der Debatte nur so viel: Wahrscheinlich wird ent-gegen den Planungen UNMIK bleiben, und EULEXwird unter dem Dach von UNMIK ein Pfeiler. Eine an-dere Lösung kann ich mir nicht vorstellen. Aber beimzeitlichen Aspekt müssen auch die Nebenwirkungen inder Region beachtet werden.Damit bin ich bei Mazedonien, Herr Jung. Ich glaube,wenn in Mazedonien angesichts der jetzigen Lage derEindruck entsteht, der Norden des Kosovo sei auf einemerfolgreichen Weg, sich abzuspalten, wird die Versu-chung für die albanische Minderheit in Mazedonien sehrstark wachsen, darüber nachzudenken, ob man das auchmachen könnte. Deshalb ist es ganz wichtig, dass auchdie deutsche Regierung und vor allem die EuropäischeUnion den Namensstreit zwischen Mazedonien undGriechenland als ein erstrangiges Problem wahrnehmen.
Denn für die Stabilisierung Mazedoniens sind die Mit-gliedschaft in der NATO und die EU-Perspektive, die esohne die Lösung des Namensstreites natürlich nicht gibt,essenziell. Mein Eindruck, gerade auch in der Vorberei-tung des NATO-Gipfels, war, dass die meisten gemeinthaben, Griechenland vertrete eine aberwitzige Positionund werde schon einknicken. Ich will die griechischePosition gar nicht bewerten. Nur, eines will ich Ihnen sa-gen: Jeder, der auch nur drei Stunden in Athen war, hätteerkennen können, dass es für jede griechische Regierungvöllig unmöglich war, im Namensstreit nachzugeben.Und dass Griechenland einige Erfahrungen damit hat,EU-Entscheidungen zu blockieren, wissen wir aus ande-ren Zusammenhängen. Also, hier bitte mehr Aufmerk-samkeit auch der deutschen Politik für diesen Namens-streit. Wir müssen sehen, dass wir ihn in diesem Jahrvom Tisch bekommen.Eine letzte Anmerkung: Wir werden auch Wert darauflegen müssen, Russland und Serbien so gut es geht ir-gendwie wieder in die Prozesse einzubeziehen. Hierkommt die OSZE als eine Möglichkeit ins Spiel, überdie wir stärker nachdenken müssten, als das vielleichtbisher geschehen ist. Die OSZE ist als ziviler Stabilisie-rungsfaktor im Land dabei – 800 Mitarbeiter in allen Ge-meinden des Kosovo –, den Aufbau demokratischerInstitutionen zu fördern, zum Beispiel mit Monitoring-aufgaben, was Menschenrechte, Minderheitenschutz unddie Medienentwicklung in Kosovo angeht. Sie unter-stützt die Dezentralisierung, und sie betreibt Polizei- undGerichtsmonitoring, sogar eine eigene Polizeischule.Jetzt kommt der politische Aspekt. Die OSZE arbeitetunter der Prämisse der Statusneutralität und könnte da-durch eine Klammer in der jetzigen Frage zu Russlandund zu Serbien darstellen. Es ist ganz wichtig, dass ge-rade Deutschland deutlich macht, dass wir nach wie voreine wichtige Rolle der OSZE wünschen. Nach dem,was man hört, könnte demnächst ein Wechsel an derSpitze der OSZE-Mission anstehen. Ich möchte geradevon dieser Stelle die Anregung geben, dass Deutschlandsich um eine Übernahme dieser Führungsposition be-müht, zumal die Position von Herrn Rücker bei UNMIKdemnächst auslaufen wird und wir zu den Ländern gehö-ren, die ein besonderes Interesse am Kosovo haben, dannaber in keiner Führungsposition mehr bei den internatio-nalen Organisationen vertreten sein würden. Das wäreauch ein Signal dafür, dass wir den Weg des Kosovoweiter begleiten wollen, auch weil es in unserem Inte-resse liegt, diesem Armenhaus des früheren Jugoslawi-ens, dem Armenhaus des jetzigen Europas, zu helfen. Esist reich an Bodenschätzen – die drittgrößten Braun-kohlenreserven Europas liegen dort, und es gibt vieleErz- und Mineralvorkommen, die sehr wichtig sind.Eine allerletzte Bemerkung: 13 Prozent des kosovari-schen Bruttosozialprodukts bei einer Arbeitslosigkeitvon 50 Prozent kommen von den Überweisungen vonExilkosovaren in ihre Heimat. Ich finde es etwas wider-sinnig, dass wir mit sehr viel Geld vor Ort tätig sind,aber eine Politik der Rückführung von Kosovaren, diehier gut integriert sind, die hier ihre Wohnung und ihrenArbeitsplatz haben – die Arbeitgeber kommen sogar mitihnen in unsere Sprechstunden und sagen, dass diese ihrebesten Mitarbeiter seien, und fragen, warum wir diezurückschicken –,
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Ruprecht Polenzbetreiben und auf diese Weise das Kosovo von einerwirtschaftlichen Einnahmequelle abschneiden, die dasLand auf absehbare Zeit noch brauchen wird.
Kollege Polenz, gestatten Sie nicht eine Zwischen-
frage, sondern eine Nachfrage? Ihre Redezeit ist nämlich
schon vorüber.
Ja. Ich weiß.
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Kollege Polenz, Sie wissen, dass
ich Sie sehr respektiere und wir in diesem Punkt Ihre
Haltung absolut teilen. Kann man aufgrund Ihrer jetzi-
gen Aussage davon ausgehen, dass die Regierung und
Sie als Teil der Koalitionsfraktionen sich massiv vor al-
len Dingen an die Innenministerkonferenz wenden wer-
den, weil diese Entscheidungen nicht vom Außen-
ministerium getroffen werden, sondern von den
Innenministern, die in unverantwortlicher Weise genau
diese Widersinnigkeit, die Sie eben beschrieben haben,
von Jahr zu Jahr fortführen?
Liebe Frau Kollegin Beck, ich muss ehrlich sagen:
Das weiß ich nicht. Was ich hoffe, ist, dass dieser Zu-
sammenhang, über den wir, glaube ich, alle zu wenig
diskutiert haben, deutlich wird und zu einer Korrektur
des Verhaltens führt.
Das Wort hat nun Norman Paech, Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Die Linke wird der Mandatsverlängerung nicht zu-stimmen,
und zwar aus ganz einfachen Gründen: Die UN-Sicher-heitsratsresolution 1244 von 1999 taugt nicht mehr alsRechtsgrundlage für eine Verlängerung des Bundeswehr-einsatzes. Die Umstände haben sich mit der einseitigenUnabhängigkeitserklärung des Kosovo im Februar 2008grundlegend und entscheidend verändert. Diese Unab-hängigkeitserklärung war völkerrechtswidrig, ebenso dieanschließende Anerkennung durch die Bundesregierung.Das haben Sie – das ist das Interessante – in der Debattevor einem Jahr genauso gesehen, und das möchte ich Ih-nen in Erinnerung rufen.Die Bundesregierung, Herr Steinmeier, hat damals inihrem Antrag auf Verlängerung des Mandats die Hoff-nung ausgedrückt, „dass der VN-Sicherheitsrat seinerAufgabe gerecht wird und möglichst bald eine neue Re-solution verabschiedet, die … die bisherige Resolu-tion 1244 des VN-Sicherheitsrates ablöst und dieGrundlage für die neue internationale Präsenz schafft“.Sie betonte damals, dass eine „derartige Folgeresolution... eine Neumandatierung des Bundeswehreinsatzes imRahmen einer konstitutiven Befassung des DeutschenBundestages notwendig machen wird“.Kollege Polenz, erinnern Sie sich noch an das, wasSie in der Debatte am 21. Juni 2007 gesagt haben? Fol-gendes:Die jetzige Rechtsgrundlage … ist die Sicherheits-ratsresolution 1244. Es ist klar, dass bei einer Ver-änderung eine rechtzeitige neue Befassung desBundestages erfolgen muss. Es ist genauso klar,dass der Bundeswehreinsatz in jedem Fall und zujedem Zeitpunkt eine eindeutige rechtliche Grund-lage haben muss.Sie können doch jetzt nicht behaupten, dass diese recht-liche Grundlage nun gegeben ist.
Frau Kollegin Zapf, erinnern Sie sich noch an IhreWorte am 21. Juni 2007? Sie sagten:Ich finde allerdings, dass eine einseitige, unkondi-tionierte Anerkennung des Kosovo … über denHorizont des Denkens hinausgeht. Eine solche An-erkennung kann nicht infrage kommen.Meine Frage an Sie: Hat sich Ihr Horizont jetzt erwei-tert?
Zur FDP. Sie stellte in ihrem Entschließungsantragdamals ganz unmissverständlich Folgendes fest:Innerhalb des Kosovo mehren sich die Stimmen,die eine einseitige Unabhängigkeitserklärung for-dern. Völkerrechtlich wäre eine solche Erklärungein Bruch der Resolution 1244.
… Mit dem Bruch der Resolution 1244 würdenbeide Institutionen– KFOR wie UNMIK –ihre Legitimitätsbasis verlieren.Sie, Kollege Stinner, wiederholten das in Ihrer Rede fastwörtlich.Schließlich zu den Grünen. In ihrem Entschließungs-antrag, aus dem ich zitiere, sagten sie:Grundlage dafür– für die weitere Stationierung der Bundeswehr –
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Dr. Norman Paechist das Beharren auf einer neuen UN-Resolution,die Resolution 1244 ersetzt. Eine Unabhängigkeits-erklärung der kosovarischen Regierung kann eben-falls nur auf dieser Grundlage erfolgen. Sollte einedieser Bedingungen oder beide nicht mehr erfülltsein, wäre die völkerrechtliche Grundlage für dasKFOR-Mandat und die UNMIK-Mission entfallen.
So haben Sie sich im Juni 2007 geäußert.All diesen Reden zum Trotz ist nach der Unabhängig-keitserklärung im Februar 2008 genau das Gegenteil ge-schehen: Die Bundesregierung hat weder ihre KFOR-Truppen zurückgerufen noch eine neue Resolution alsGrundlage für die weitere Präsenz der Bundeswehr imKosovo gefordert. Stattdessen hat sie den Bundestagschlichtweg übergangen, das Völkerrecht missachtet unddas Kosovo anerkannt.
Waren diese Ihre Worte eigentlich nur das Geschwätzvom vergangenen Jahr, das Sie heute nicht mehr küm-mert?Herr Kollege Polenz, Sie warnten vor einem Jahr,dass sich einseitige Schritte in Priština „wie der Funkean einem Pulverfass auswirken“ könnten. Was ist eigent-lich mit den vielen anderen Pulverfässern dieser Welt,
in Abchasien, Südossetien, bei den Basken, den Kurdin-nen und Kurden, in Tibet? Wollen Sie bei der Lösung alldieser Konflikte nach Gutsherrenart, nach dem Prinzipder politischen Willkür verfahren? Ich sage Ihnen eines:Die Missachtung von Völkerrecht löst keine Probleme,sondern wird immer weitere Probleme schaffen.
Deswegen rate ich Ihnen: Kehren Sie zum Völkerrechtzurück, und holen Sie die deutschen Truppen aus demKosovo zurück!Danke schön.
Das Wort hat nun Marieluise Beck, Fraktion Bündnis90/Die Grünen.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir sprechen über den gesamten Balkan,wenn wir über das Kosovo sprechen. Wir haben es miteiner Realität zu tun, die sich durch Argumentationen,die man immer wiederholt, nicht verändern lässt. DieRealität ist: Der Staat Jugoslawien ist in seine Teile zer-fallen. Wenn wir heute über das Kosovo sprechen, habenwir es immer noch zu tun mit dem Bewältigen von auchvölkerrechtlich schwierigen Situationen, die durch die-sen Staatszerfall entstanden sind und die mit der Unent-schiedenheit der Europäischen Union und der internatio-nalen Staatengemeinschaft zusammenhängen.Herr Jung, Sie haben das angesprochen: Wir habenuns – das kann man insbesondere an Bosnien-Herzego-wina sehen – auf einen schmalen Grat begeben, indemwir ethnische Zugehörigkeit als Teil des Verfassungs-rechts anerkannt haben. Wir wissen, dass die Länder, dieaus dem ehemaligen Jugoslawien hervorgegangen sind,bis zum heutigen Tag an den Folgen dieser sehr prekärenEntscheidungen herumlaborieren.Noch einmal kurz zu der völkerrechtlichen Frage,Herr Paech. Jawohl, wir alle hätten uns eine einvernehm-liche Lösung gewünscht. Es ist lange daran gearbeitetworden. Nachdem es Vertreibung gegeben hatte, Völker-mord gedroht hatte und die Autonomie durch Milosevicgenommen worden war, war es dem Kosovo nicht mehrzuzumuten, noch einmal unter das Dach dieses Staateszurückzukehren. Wir alle wussten, dass das Kosovo dasnie tun würde.Wir haben die Resolution 1244, die die Staatenge-meinschaft dazu verpflichtet, den Schutz aller Ethnienvor Ort zu gewährleisten. Das ist die Aufgabe derKFOR-Soldaten.
Sie haben sich vor einigen Tagen in der Berliner Zei-tung fragen lassen müssen: Wäre es denn politisch zuverantworten, die verfeindeten Kosovo-Albaner und Ko-sovo-Serben miteinander allein zu lassen? Sie gebenkeine Antwort darauf. Was Sie hier sagen, heißt in derKonsequenz aber: Jawohl, wir lassen sie alleine. – Danngäbe es aber eine große Krise. Deswegen müssen unsereSoldaten dort bleiben. Sie haben bisher verhindert, dassdiese Krise ausbricht und es wieder zu Vertreibung undGewalt kommt.Das also ist Ihre Konsequenz. Sie werden Sie nie un-ter der Überschrift „Menschenrechte“ verkaufen können.Die Resolution 1244 ist sehr eindeutig. Sie verpflichtetdazu, vor Ort für Gewaltvermeidung zu sorgen. DieseMaßgabe der Resolution 1244 besteht fort.
Nun also gilt es, nach vorn zu schauen, was alsNächstes zu tun ist. Das ist die EULEX-Mission alsRechtsstaatsmission. Das ist der schwierige Weg, im Ko-sovo Institutionen aufzubauen, damit die Menschen end-lich wieder eine Perspektive bekommen, damit es Justizund Polizei gibt, damit die Chance auf Investitionen be-steht, damit sich in dem Land wirtschaftliche Tätigkeitentwickeln kann und nicht auf Dauer der Import der le-benswichtigen Ressourcen von außen notwendig bleibt.Es geht auch darum, organisierte Kriminalität zu ver-hindern. Trafficking vom Balkan betrifft auch uns in un-seren Staaten. Wir haben also ein Interesse daran, dassim gesamten kosovarischen Gebiet der Weg hin zumRechtsstaat eingeschlagen wird, und zwar nicht von
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Marieluise Beck
außen aufgesetzt, sondern in Eigenverantwortung derKosovo-Albaner.
Es geht um den schwierigen Weg des Nation-Buil-ding. Kosovo ist das bisher anspruchvollste Vorhabender gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Vertei-digungspolitik. Es steht unter schwierigen Vorzeichen,weil es ein Nebeneinander von UNMIK und EULEXgibt. Vermutlich wird aber – davon ist auszugehen – inder nächsten Woche der Generalsekretär der VereintenNationen in dieser Frage eine Klärung herbeiführen.Wir sollten uns hier klarmachen, dass Gewalt undVertreibung auf dem Balkan unendlich viel Leid hervor-gerufen haben. Natürlich – da haben Sie recht, Herr Stin-ner – dauert die Mission schon acht Jahre. Das ist einelange Zeit. Aber in Bosnien dauert sie zum Beispiel nochviel länger, nämlich 15 Jahre. Wir lernen aber da-raus,dass das Wiederherstellen von Staatlichkeit und Rechts-staatlichkeit gerade dann, nachdem Nationalisten solange freies Spiel hatten und es so viel Gewalt unter denMenschen verschiedener Ethnien gegeben hat, sehrmühselig ist. Es ist also ein langer und schwieriger Weg,das wieder aufzubauen, was vorher durch Gewalt undVertreibung zerstört worden ist. Es gibt keine Alterna-tive zu diesem sehr mühseligen Weg.Wir als Grüne nehmen die Herausforderung an. Wirsetzen auf EULEX und werden der Verlängerung derKFOR-Mission zustimmen.
Das Wort hat nun Kurt Rossmanith für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir diskutieren heute in der Tat über einen Teil des Bal-kans, nämlich über das Kosovo, ein Land, das, wie Sie,Frau Kollegin Beck, richtigerweise hingewiesen haben,ein Teil des zerfallenen Jugoslawiens war.Wir müssen leider auch mit dem Fakt leben, dass inden neun Jahren nach Beendigung des Krieges die diplo-matischen Bemühungen nicht zum Erfolg geführt haben,sodass im Endeffekt am 17. Februar dieses Jahres garnicht viel anderes zu erwarten war, als dass das Kosovosich zum selbstständigen Staat erklärt. Die Bundesrepu-blik Deutschland hat in Form der Bundesregierung vierTage später, am 21. Februar, diesen Staat als solchen an-erkannt und damit auch Verpflichtungen übernommen.Ich danke Ihnen, Frau Beck, dass Sie auf Flucht, Ver-treibung und all die Mühsal sowie auf all die Verbre-chen, die dort geschehen sind, hingewiesen haben. Da-her frage ich – das ist schon fast nicht einmal mehr alsrhetorische Frage zu verstehen –, was man von einerPartei halten kann, muss oder soll, die auf diese Fragenichts anderes zu sagen weiß, als auf Rechtspositionenhinzuweisen, die völlig falsch sind. Herr Gysi hat ja dasBundesverfassungsgericht angerufen. Ich wünsche ihmdabei sehr viel Erfolg. Jeder blamiert sich so gut er kann,kann ich dazu nur sagen.Es nützt auch nichts, Kollege Stinner, wenn wir nurauf die Vergangenheit schauen und all das beklagen, wasgeschehen ist. Es ist richtig, dass wir bislang Hilfen inHöhe von 2 Milliarden Euro für den Wiederaufbau derWirtschaft geleistet haben. Dennoch liegt die Arbeitslo-sigkeit über 50 Prozent. Für den Aufbau der Energiever-sorgung im Kosovo haben wir über 1 Milliarde Euro ge-geben. Nach wie vor fällt die Stromversorgung dort aberstundenlang aus.Überweisungen aus dem Ausland tragen zu 13 Pro-zent zum Bruttoinlandsprodukt des Kosovo bei. Daraufhat Kollege Polenz hingewiesen.Man kann die Situation auch folgendermaßen be-trachten: Die Investitionsneigung im Kosovo ist momen-tan äußerst gering. Daher können wir von den Fachleu-ten aus dem Kosovo, die Krieg, Flucht und Vertreibungnicht erleben mussten, weil sie bei uns in Sicherheit le-ben konnten, schon erwarten, dass sie ihr in Deutschlanderworbenes Fachwissen in ihrem Heimatland ihren Mit-bürgerinnen und Mitbürgern zugute kommen lassen undeinen entsprechenden Beitrag zum Wiederaufbau derWirtschaft leisten.
Ich bin dankbar, dass die Bundesregierung den An-trag eingebracht hat, unser Mandat zu verlängern. Auf-gabe der KFOR ist ja die Demilitarisierung, Stabilisie-rung, Leistung von humanitärer Hilfe und vonRückkehrhilfe für Flüchtlinge und für Vertriebene, umsie wieder eingliedern zu können. Natürlich hoffen wir,dass die zivile Rechtsstaatsmission EULEX – das wärezwingend notwendig – zum Tragen kommt. Dies ist einganz wichtiger Pfeiler. Gerade deshalb benötigen wirweiterhin den Schutz durch die KFOR. Es wäre gera-dezu verrückt und würde ein großes Maß an Inhumanitätzeigen, wenn wir sagen würden: Die Soldaten ziehen so-fort wieder ab.Wir hatten fast 7 000 Soldaten im Kosovo. Jetzt sindes noch 2 800. Wir wollen die Zahl weiter auf 2 200 re-duzieren. Die Bundesregierung und die sie tragendeKoalition verhalten sich, was diese Mission betrifft, sehrkorrekt. Das Mandat ist unbegrenzt; es wäre also garnicht erforderlich gewesen, dass die Bundesregierung eserneuern lässt. Aber die Koalition aus den Fraktionender CDU/CSU und der SPD war der Meinung: Wir wol-len nach der Unabhängigkeit des Kosovo die Verlänge-rung dieses Mandats im Parlament bestätigen.Die Verlängerung des Mandats ist wichtig für dieBürgerinnen und Bürger im Kosovo. Denn sie können somit unserer Hilfe und mit dem Beistand unserer Soldatenam Aufbau ihres Heimatlandes mitwirken. Ich sage diesauch im Interesse unserer Soldaten, denen ich ausdrück-lich im Namen meiner Fraktion – ich bin überzeugt:auch im Namen des ganzen Hauses – einen Dank für ihre
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Kurt J. Rossmanithhervorragende Leistung ausspreche, die sie dort unterwirklich schweren Bedingungen erbringen.
Ich bitte um Zustimmung für diesen Antrag.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie darum,
eine solche Ruhe herzustellen, dass wir auch dem letzten
Redner in dieser Debatte noch zuhören können.
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Hans-
Peter Bartels das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibtim Augenblick zwei große NATO-Missionen: KFORund ISAF. Während in Afghanistan um den Erfolg nochgerungen werden muss – auch um den Erfolg einer mili-tärischen Absicherung –, können wir für das Kosovo sa-gen: KFOR ist ein Erfolg und leistet das, wofür wir dasMandat 1999 und die folgenden Mandate gegeben ha-ben.
Die Sicherheitslage ist ruhig. Wir haben die Präsenzunserer Soldaten Schritt für Schritt reduzieren können.Das ist ein Zeichen dafür, dass die Sicherheitslage mitimmer weniger internationaler Präsenz stabil gehaltenwerden kann. Die Zahl der NATO-Soldaten wurde vonüber 45 000 auf jetzt 16 000 verringert. Der deutscheAnteil wurde von anfänglich 6 500 Soldaten auf2 200 Soldaten im Normalfall verringert. Auch daran,dass mit immer weniger militärischer Absicherung dasgleiche Sicherheitsergebnis erreicht wird, kann man denErfolg messen.Die Unabhängigkeit ist so, wie sie erreicht wurde– auch das ist schon gesagt worden –, nicht die ersteWahl und somit nur das zweitbeste Ergebnis gewesen.Die sich daraus ergebende Situation muss jetzt gestaltetwerden. Die Ausschreitungen, die es zu Anfang inMitrovica gegeben hat, sind schnell unter Kontrolle ge-bracht worden. Auch das ist ein Erfolg von KFOR. DankKFOR kam es nicht zu einem Flächenbrand.
Die Institutionen eines demokratischen Kosovo sindim Aufbau. Die internationalen Organisationen arbeitenin einem sicheren Umfeld. Flüchtlinge sind in den ver-gangenen Jahren nach und nach in das Kosovo zurück-gekehrt. Deutschland ist das Land – auch das ist ange-sprochen worden –, das das größte Interesse daran hat,dass hier eine gute Zukunft gestaltet wird. Denn heute leben300 000 Kosovo-Albaner in Deutschland. 100 000 sindschon in das Kosovo zurückgegangen. Das heißt,Deutschland hat im Vergleich zu allen anderen europäi-schen Ländern die engsten Beziehungen zum Kosovo.Die starke, stabile Kraft im Kosovo ist heute nochKFOR. Die dritte Linie hinter der kosovarischen Polizeiund der UNMIK-Polizei – in Zukunft EULEX – sind Sol-daten. Sie müssen aber nur dann eingreifen, wenn die an-deren Kräfte versagen würden, und sie versagen immerweniger. Da wir immer den deutschen Soldaten danken,sollten wir auch einmal den 130 bis 140 deutschen Poli-zisten Dank sagen, die heute ihren Dienst im Kosovo tun.
Über deren Einsatz beschließen wir ja nie in Form voneigenen Mandaten. Das gilt auch für manche, die in derAufbauhilfe tätig sind. Wir reden immer nur über dieMilitärmandate. Aber es sind auch Polizisten mit exeku-tiver Befugnis in einem fremden Land. Das ist keinleichter Dienst.Wir werden dafür sorgen müssen, dass es beim Über-gang von UNMIK zu EULEX kein Machtvakuum gibt.Die Verhandlungen – das ist angesprochen worden –sind im Gange. Der UNO-Generalsekretär hat sich ein-geschaltet. Wir sollten darauf vertrauen, dass keine ge-fährlichen Situationen entstehen; wir sollten diese aberauch nicht herbeireden. Aber für den Fall, dass gefährli-che Situationen entstehen, ist die starke Kraft, die imganzen Land akzeptiert wird und die dahintersteht, dieKFOR. KFOR ist – ich habe mich bei einem Besuch An-fang dieser Woche davon überzeugen können – auch aufEventualitäten gut vorbereitet. Sie wird nicht so leichtvon Ereignissen überrollt und überrannt werden können,die möglicherweise hier oder da geplant werden, dieaber den Friedensprozess in diesem Land nicht mehrrückgängig machen können.Alle Konfliktparteien vertrauen der NATO mit ihrerKFOR-Mission. Das ist ein hohes Gut. Alle vertrauendarauf, dass KFOR unparteiisch ist und schützt – auch inkritischen Situationen wie beim Inkrafttreten der Verfas-sung, was in wenigen Tagen, am 15. Juni, der Fall seinwird, und beim Übergang von UNMIK zu EULEX.Die Vertrauensarbeit in diesem Land muss weiterge-hen. Auch in diesem jetzt unabhängigen Staat muss Ver-trauen zwischen Mehrheit und Minderheit sowie zwi-schen Kosovo und Serbien geschaffen werden. In derUNO muss Russland für einen konstruktiven Weg ge-wonnen werden. In der NATO muss die Türkei für einenkonstruktiven Weg gewonnen werden.Auch als Parlamentarier können wir in Deutschlandund Europa möglicherweise etwas zum Aufbau des Ver-trauens in die neuen kosovarischen Institutionen beitra-gen. Es gibt bisher nur die deutsch-südosteuropäischeParlamentariergruppe, womit im Moment auch Kosovogemeint ist. Wir haben schon Parlamentariergruppen mitKroatien, Slowenien und Bosnien-Herzegowina. Ichwäre dafür, dass wir jetzt eine ParlamentariergruppeDeutschland-Kosovo einrichten. Das wäre ein vertrauen-schaffendes und integrierendes Signal an diesen jungenStaat auf dem Weg zur Demokratie.Wir werden gewiss noch einige Jahre finanzielle, per-sonelle und auch militärische Beiträge zur Absicherungder Entwicklung leisten müssen, die wir im südlichen
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Dr. Hans-Peter BartelsOsteuropa wollen, für eine Entwicklung, die wir demKosovo gönnen und die der Kosovo braucht. Das wirdnicht ohne KFOR gehen. Wir werden noch einen langenAtem brauchen, der jedenfalls so lange halten muss, bises dann ganz ohne fremde Hilfe geht. Das wird einigeJahre dauern. Aber diesen langen Atem sollten wir ha-ben. Ich bitte Sie, dem Antrag der Bundesregierung zu-zustimmen.Schönen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-gen Ausschusses auf Drucksache 16/9461 zu dem An-trag der Bundesregierung zur Fortsetzung der deutschenBeteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz imKosovo. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag aufDrucksache 16/9287 anzunehmen.Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung na-mentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift-führer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sindalle Schriftführerinnen und Schriftführer an den vorgese-henen Plätzen? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Ab-stimmung.Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht derFall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift-führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zubeginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnenspäter bekannt gegeben.Während der Abstimmung haben das Präsidium Er-klärungen zum Abstimmungsverhalten nach § 31 derGeschäftsordnung des Deutschen Bundestags der Kolle-gin Sylvia Kotting-Uhl, der Kollegin Monika Lazar, desKollegen Hans-Christian Ströbele und des KollegenDr. Harald Terpe erreicht. Wir nehmen diese Erklärun-gen entsprechend unseren Bestimmungen zu Protokoll.1)Wir setzen die Abstimmungen fort. Dazu bitte ich Sie,liebe Kolleginnen und Kollegen, wieder die Plätze ein-zunehmen.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-gen Ausschusses zu dem Entschließungsantrag der Frak-tion der FDP zu dem Antrag der Bundesregierung zurFortsetzung der deutschen Beteiligung an der internatio-nalen Sicherheitspräsenz im Kosovo. Der Ausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 16/9463, den Entschließungsantrag der Fraktionder FDP auf Drucksache 16/9369 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und derFraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Zustimmung derUnionsfraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion DieLinke angenommen.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke1) Anlage 2mit dem Titel „Konflikte zwischen Serbien und Ko-sovo-Albanern reduzieren – UN-Resolution 1244 un-eingeschränkt umsetzen sowie faire und ergebnisoffeneVerhandlungen ermöglichen“. Der Ausschuss emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 16/7583, den Antrag der Fraktion Die Linke aufDrucksache 16/6034 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wermöchte sich enthalten? – Die Beschlussempfehlung istmit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion,der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke ange-nommen.Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusseszu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel„Unverzüglicher Rückzug der Bundeswehr aus dem Ko-sovo“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/9151, den Antrag derFraktion Die Linke auf Drucksache 16/8779 abzulehnen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Gibt es Stimmenthaltungen? – Dasist nicht der Fall. Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, derFDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünengegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenom-men.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf:a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Barbara Höll, Wolfgang Nešković, Ulla Löt-zer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKESteuerhinterziehung bekämpfen – Steueroasenaustrocknen– Drucksache 16/9168 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Dr. GregorGysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion DIELINKESteuermissbrauch wirksam bekämpfen – Vor-handene Steuerquellen erschließen– Drucksache 16/9166–Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und Technologiec) Beratung des Antrags der Abgeordneten ChristineScheel, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKeine Hintertür für Steuerhinterzieher– Drucksache 16/9421 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17557
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Vizepräsidentin Petra PauNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Ichhöre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Für die Fraktion DieLinke hat die Kollegin Dr. Barbara Höll das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Am Samstag beginnt die Fußballeuropameisterschaft.Das ist ein großes Ereignis, das viele Menschen begeis-tern wird. Ich hoffe auf interessante Spiele. Möge dieMannschaft mit der schönsten Spielkultur gewinnen.Vielleicht kann die deutsche Nationalmannschaft derMänner an die Erfolge der Frauen anknüpfen.
Man wird natürlich nicht nur schöne Spiele zu sehenbekommen, sondern auch Franz Beckenbauer. Der Bot-schafter und ungekrönte Kaiser des deutschen Fußballswird als willkommener und allseits gefragter Kommen-tator auf allen Kanälen zu sehen sein. Herr Beckenbauerlebt seit 1982 in Österreich, um Steuern zu sparen, wäh-rend er beruflich all die Zeit schwerpunktmäßig inDeutschland tätig war und ist. Er muss nur aufpassen,dass er im Jahr nicht mehr als 183 Nächte in Deutsch-land verbringt.Herr Zumwinkel bekam den Hals nicht voll genug. Erwar dank Erbschaft schon Millionär, bevor er seine Ein-künfte als Chef der Deutschen Post gewaltig vermehrenkonnte. Allein 2006 steigerte er seine Gesamtbezüge ge-genüber dem Vorjahr um 26 Prozent auf sage undschreibe 4,24 Millionen Euro. Aber all diese Millionenwaren noch nicht genug für ihn. Nein, er musste auchnoch Steuern über die Steueroase Liechtenstein hinter-ziehen.
In der aktuellen Werbung von Banken und Kreditin-stituten wimmelt es nur so von Vorschlägen und Aufma-chern, wie die im nächsten Jahr kommende Abgeltung-steuer umgangen werden kann. Sogar die TageszeitungDie Welt titelte am 14. Mai dieses Jahres: „Banken schü-ren Angst vor Abgeltungssteuer“.Die Finanzbranche warnt ausgerechnet vor der Steuer,deren Einführung Bundesfinanzminister Steinbrück letz-tes Jahr hier im Plenum noch so begründete: 25 Prozentvon x sind besser als 42 Prozent von nix. Diese Aussageist leider bezeichnend für die Strategie der Bundesregie-rung – die gerade nicht anwesend ist –, wenn es umSteuerhinterziehung geht.
Sie entlasten die Einkommen, bei denen sich Steuer-hinterziehung lohnt, nämlich die hohen Kapitaleinkom-men. Damit verknüpfen Sie die Hoffnung, dass wenigerhinterzogen wird. Diese Strategie geht bisher nicht auf,da Sie offenbar Folgendes unterschätzen: In Deutschlandsind Steuerumgehung, also das legale Ausnutzen vonLücken im Steuerrecht, und illegale Steuerhinterziehungen vogue. Es gibt hierzulande geradezu eine Kultur desexzessiven Steuersparens, nach der es heldenhaft ist,dem Staat möglichst wenig zu überlassen. Das lehnenwir ab.
Rituale der öffentlichen Empörung nach jedem aufge-deckten Steuerhinterziehungsskandal sind absolut über-flüssig, solange ihnen kein Handeln folgt. In Bundesre-gierung und Koalition bedarf es offensichtlich einesUmdenkens bezüglich wirksamer Strategien gegen Steu-erhinterziehung und -umgehung. Die Steuersenkungen,die Sie veranlasst haben, sind hierzu das völlig falscheInstrument.
Wir brauchen stattdessen einen Ausbau der Kontroll-möglichkeiten und die Durchsetzung der bestehendenGesetze. Dazu bedarf es mehr Ressourcen und mehr Per-sonal für die Steuerverwaltung. Die bestehenden Pro-bleme in diesem Feld, die sich aus der föderalen Kompe-tenzverwaltung ergeben, müssen endlich angegangenwerden. Es muss Schluss damit sein, dass die Bundes-länder Standortwettbewerb mittels laxen Steuervollzugsbetreiben. Die Bekämpfung der internationalen Steuer-hinterziehung braucht auf nationaler Ebene dringend zu-sätzliche Kontrollmöglichkeiten. Daher schlagen wirvor, eine Meldepflicht bei Kapitalbewegungen ins Aus-land ab einem jährlichen Betrag in Höhe von insgesamt100 000 Euro einzuführen. Wir brauchen weitere gesetz-liche Regelungen, zum Beispiel eine gesetzliche An-zeige- und Registrierpflicht für aggressive Steuermo-delle. Das sind Konstrukte, die extra dafür geschaffenwerden, Gewinne nicht aus Wertschöpfung, sondern ausdem Sparen von Steuern zu erreichen. Mit der deutschenVorreiterrolle beim internationalen Steuersenkungswett-bewerb muss Schluss sein.
Weitere Wettbewerbsrunden, beispielsweise durch dieUnternehmensteuerreform, einzuläuten, ist falsch. Eswäre langfristig viel sinnvoller, wenn sich die Bundesre-gierung für mehr Steuerharmonisierung auch auf euro-päischer Ebene einsetzen würde.
Dafür bestehen ja Chancen. Die Bundesrepublik alsgrößte Volkswirtschaft verfügt über das dafür notwen-dige politische Gewicht. Natürlich geht es auch darum,die Steueroasen endlich auszutrocknen. Dass das mach-bar ist, hat das Verhalten der USA gegenüber Liechten-stein gezeigt. Die Zinsrichtlinie auf EU-Ebene mussdringend reformiert werden. Sie sollte in Zukunft alleKapitaleinkünfte erfassen. Wir brauchen unbedingt ge-setzliche Neuregelungen bezüglich der Quellensteuerver-einbarung auch mit Steueroasen wie Luxemburg, Öster-reich, Belgien und der Schweiz. Dabei darf dieQuellensteuer aber nicht auf natürliche Personen be-grenzt sein, sondern muss auf juristische Personen aus-gedehnt werden.
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17558 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Dr. Barbara HöllGeorg BrunnhuberCajus CaesarChristian HirteRobert HochbaumMaria MichalkPhilipp MißfelderBernd SiebertThomas SilberhornLeo DautzenbergAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttMaria EichhornDr. Stephan EiselAnke Eymer
Ilse FalkDr. Hans Georg FaustEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Franz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerHubert HüppeSusanne Jaffke-WittDr. Peter JahrDr. Hans-Heinrich JordanAndreas Jung
Dr. Franz Josef JungBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlMarlene MortlerCarsten Müller
Stefan Müller
Dr. Gerd MüllerHildegard MüllerBernd Neumann
Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteRita PawelskiJens SpahnErika SteinbachChristian Freiherr von StettenGero StorjohannAndreas StormMax StraubingerThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenHans Peter ThulAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzGitta Connemann Klaus Hofbauer Dr. Eva Möllring Johannes SinghammerIch fordere Sie auf: NehmHand. Lassen Sie uns darübees nicht bei der öffentlichen ESie endlich, wo es möglich isIch bedanke mich.
au:gen Manfred Kolbe für diebe, komme ich zu Tages-
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelDr. Jürgen GehbNorbert GeisEberhard GiengerRalf GöbelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersDr. Karl-Theodor Freiherr zuGuttenbergOlav GuttingHolger HaibachGerda HasselfeldtUrsula HeinenUda Carmen Freia HellerMichael HennrichJürgen HerrmannBernd HeynemannErnst HinskenPeter Hintzeordnungspunkt 6 a zurückSchriftführerinnen und Schgebnis der namentlichen Aschlussempfehlung des Ausdem Antrag der Bundesregideutschen Beteiligung an dheitspräsenz im Kosovo beka559. Mit Ja haben gestimmstimmt 57. Drei Kolleginnenenthalten. Die Beschlussemptrag der Bundesregierung istBernhard Kaster
Volker KauderJürgen KlimkeJulia KlöcknerJens KoeppenKristina Köhler
Manfred KolbeNorbert KönigshofenDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsDr. Martina KrogmannDr. Hermann KuesDr. Karl Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertHelmut LampKatharina LandgrafDr. Max LehmerPaul LehriederIngbert LiebingEduard LintnerDr. Klaus W. LippoldPatricia LipsDr. Michael LutherStephan Mayer
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterDr. Angela MerkelFriedrich MerzLaurenz Meyer
und gebe das von denriftführern ermittelte Er-bstimmung über die Be-wärtigen Ausschusses zuerung zur Fortsetzung derer internationalen Sicher-nnt: Abgegebene Stimment 499, mit Nein haben ge- und Kollegen haben sichfehlung und damit der An-angenommen.Ulrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaRuprecht PolenzDaniela RaabHans RaidelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Klaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberFranz RomerJohannes RöringKurt J. RossmanithDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckAlbert Rupprecht
Peter RzepkaAnita Schäfer
Hermann-Josef ScharfHartmut SchauerteDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerBernd SchmidbauerChristian Schmidt
Andreas Schmidt
Ingo Schmitt
Dr. Andreas SchockenhoffDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe SchummerWilhelm Josef SebastianKurt Segner
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Vizepräsidentin Petra PauVolkmar Uwe VogelAndrea Astrid VoßhoffGerhard WächterMarco WanderwitzKai WegnerMarcus WeinbergPeter Weiß
Gerald Weiß
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannAnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar WöhrlWolfgang ZöllerSPDDr. Lale AkgünNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldErnst Bahr
Doris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolSabine BätzingDirk BeckerKlaus Uwe BenneterDr. Axel BergUte BergPetra BierwirthLothar Binding
Volker BlumentrittKurt BodewigClemens BollenGerd BollmannDr. Gerhard BotzKlaus BrandnerBernhard Brinkmann
Edelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtMartin BurkertDr. Michael BürschChristian CarstensenMarion Caspers-MerkDr. Peter DanckertDr. Herta Däubler-GmelinKarl DillerDr. Carl-Christian DresselElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinSebastian EdathySiegmund EhrmannHans EichelPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherRainer FornahlGabriele FrechenDagmar FreitagPeter FriedrichMartin GersterIris GleickeRenate GradistanacAngelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnKerstin GrieseGabriele GronebergAchim GroßmannWolfgang GrotthausWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannAlfred HartenbachMichael Hartmann
Nina HauerHubertus HeilDr. Reinhold HemkerRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogPetra HeßGabriele Hiller-OhmStephan HilsbergIris Hoffmann
Frank Hofmann
Klaas HübnerChristel HummeLothar IbrüggerBrunhilde IrberJohannes Jung
Josip JuratovicJohannes KahrsUlrich KasparickDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberChristian KleimingerAstrid KlugDr. Bärbel KoflerWalter KolbowFritz Rudolf KörperKarin KortmannAnette KrammeErnst KranzNicolette KresslVolker KröningAngelika Krüger-LeißnerDr. Hans-Ulrich KrügerJürgen KucharczykUte KumpfDr. Uwe KüsterChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachWaltraud LehnHelga LopezGabriele Lösekrug-MöllerDirk ManzewskiLothar MarkCaren MarksKatja MastPetra Merkel
Ulrike MertenDr. Matthias MierschUrsula MoggMarko MühlsteinDetlef Müller
Gesine MulthauptFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesThomas OppermannHolger OrtelHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßChristoph PriesDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertSteffen Reiche
Dr. Carola ReimannChristel Riemann-HanewinckelWalter RiesterSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Ortwin RundeMarlene Rupprecht
Anton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenDr. Hermann ScheerMarianne SchiederOtto SchilyUlla Schmidt
Silvia Schmidt
Heinz Schmitt
Carsten Schneider
Olaf ScholzOttmar SchreinerReinhard Schultz
Swen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Angelica Schwall-DürenDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzRita Schwarzelühr-SutterWolfgang SpanierJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltDieter SteineckeAndreas SteppuhnLudwig StieglerRolf StöckelChristoph SträsserDr. Peter StruckJoachim StünkerDr. Rainer TabillionJörg TaussJella TeuchnerDr. h. c. Wolfgang ThierseJörn ThießenFranz ThönnesRüdiger VeitSimone ViolkaJörg VogelsängerDr. Marlies VolkmerHedi WegenerAndreas WeigelPetra WeisGunter WeißgerberGert Weisskirchen
Dr. Rainer WendLydia WestrichDr. Margrit WetzelAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützEngelbert WistubaDr. Wolfgang WodargWaltraud Wolff
Heidi WrightUta ZapfManfred ZöllmerBrigitte ZypriesFDPJens AckermannDr. Karl AddicksDaniel Bahr
Uwe BarthRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherPatrick DöringMechthild DyckmansJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickePaul K. FriedhoffHorst Friedrich
Dr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannMiriam GrußJoachim Günther
Heinz-Peter HausteinElke HoffBirgit HomburgerDr. Werner HoyerDr. Heinrich L. KolbHellmut KönigshausGudrun KoppHeinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtIna LenkeSabine Leutheusser-SchnarrenbergerMichael Link
Markus LöningHorst MeierhoferPatrick MeinhardtJan MückeBurkhardt Müller-SönksenDirk NiebelHans-Joachim Otto
Detlef ParrCornelia PieperGisela PiltzJörg RohdeFrank SchäfflerDr. Konrad Schily
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17560 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Vizepräsidentin Petra PauBärbel Höhn Ulla Lötzer Dr. Wolf BauerFritz KuhnRenate KünastUndine Kurth
Markus KurthAnna LührmannNun hat das Wort der KolUnionsfraktion.
U):olleginnen und Kollegen!age ich: Auch die Unions-erziehung energisch. Auchft die Steuerhinterziehunge aber auf vernünftige Artorderungen nach Steuerer-und Abgabepflichten sind LINKE]: Habe ichen erwähnt?)ich darstellen, was wir aufet haben. Dies tue ich, weilhren viel gegen die Steuer-05 gilt die EU-Zinssteuer-r nicht. Sie ist maßgeblichingeführt worden. 22 Staa-rrichtlinie an. Es ist aller-Ulrich MaurerDorothée MenznerKornelia MöllerKersten NaumannDr. Norman Paechdings bedauerlich, dass beiüberseeischen Gebiete nichtressant wären. Bei Großbritamuda und die Virgin-Islands.wenden diese Richtlinie an.tere Ausdehnung. Belgien, LSchweiz und Liechtenstein vnahme und führen lediglichheißen wir nicht gut.
LINKE): In dem Punktzustimmen? – Dr. Ilja SStimmen Sie doch einzu!)Sie wurde im Jahr 2005 einrung und die sie tragenden FrBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENWinfried HermannDr. Anton Hofreitereinigen dieser Staaten diedabei sind, die gerade inte-nnien fehlen Anguilla, Ber- Aber immerhin: 22 StaatenWir drängen auf eine wei-uxemburg, Österreich, dieerweigern bisher die Teil-eine Quellensteuer ab. DasIE LINKE]: Und?)ng der ZinssteuerrichtliniePrivatpersonen gelten, sien gelten. Sie darf nicht nurss auch für andere Erträge mit vielen Löchern.DNIS 90/DIE GRÜ-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17561
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Im Bereich der bandenmäßigen Umsatzsteuer- und Ver-brauchsteuerhinterziehung hat diese Bundesregierungerstmalig die Möglichkeit einer Telekommunikations-überwachung geschaffen.Wir müssen das Umsatzsteuersystem generell refor-mieren, um es weniger betrugsanfällig zu machen. FrauStaatssekretärin Kressl, unsere augenblicklichen Bemü-hungen auf europäischer Ebene sind an einem Punkt an-gelangt, an dem es mit Reverse-Charge wohl nicht wei-tergeht. Wir überlegen jetzt auf nationaler Ebene, wiewir das System weniger betrugsanfällig gestalten kön-nen.
– Ja, die FDP ist natürlich dabei. Wir können doch überalles reden, Herr Wissing. Die FDP war schon etlicheJahrzehnte an der Regierung beteiligt, aber auch Ihnenist das bisher noch nicht geglückt. Daran zeigt sich: Esist nicht ganz einfach, dieses dicke Brett zu bohren.Auf nationaler Ebene ist das Thema Steuerhinterzie-hung durch die Verhaftung von Klaus Zumwinkel am14. Februar dieses Jahres und die anschließende deutsch-landweite Aktion der Steuerfahndung Wuppertal in denFokus der Öffentlichkeit geraten. Wir haben damals ge-sagt – das sagen wir auch heute noch –: Steuerhinterzie-hung ist kein Kavaliersdelikt und wird von uns energischbekämpft.Der Fall Zumwinkel darf nicht darüber hinwegtäu-schen, dass die Steuerfahndung in Deutschland alles inallem erfolgreich ist. Es gibt pro Jahr rund 40 000 Ver-fahren, rund 17 000 Strafverfahren, und die Mehreinnah-men betragen im Schnitt 1,5 Milliarden Euro. Das isteine beachtliche Leistung der Steuerfahnder. Auch wasdie Verhaftung von Klaus Zumwinkel angeht, hieß esnicht etwa, man habe zu wenig energisch gehandelt, son-dern es hieß eher, man habe vielleicht sogar zu energischgehandelt, da man zum Beispiel die Hilfe des BND inAnspruch genommen habe. Daran wird deutlich: Steuer-hinterziehung wird energisch verfolgt.Was kann noch getan werden? Gelegentlich wird dieForderung nach einer Erhöhung des Strafmaßes erhoben.Wir glauben, dass das Strafmaß von bis zu zehn JahrenFreiheitsentzug ausreichend ist. Eine weitere Erhöhungwürde wenig bringen, zumal das Strafmaß von bis zuzehn Jahren bisher kaum ausgeschöpft wurde.Auch die Abschaffung der strafbefreienden Selbst-anzeige, die gelegentlich gefordert wird, würde wenigbringen, da diese Selbstanzeige eine Folge der Mitwir-kungspflicht des Steuerpflichtigen ist. Würde man diestrafbefreiende Selbstanzeige abschaffen, würde sichniemand korrigieren können, ohne die Einleitung einesStrafverfahrens zu riskieren; auch derjenige nicht, dernur irrtümlich einen Fehler in seiner Steuererklärung ge-macht hat.An einem Punkt gibt es unserer Meinung nach abereinen Wertungswiderspruch: Derjenige, der seine Steu-ern ordnungsgemäß deklariert und lediglich bei der Zah-lung einige Tage in Verzug gerät, muss einen Säumnis-zuschlag von 1 Prozent pro angefangenem Monatzahlen. Wenn man seine Steuern also ordnungsgemäßdeklariert und lediglich verspätet zahlt, hat man auf dasJahr gerechnet einen Strafzins in Höhe von 12 Prozentzu entrichten. Derjenige hingegen, der seine Steuernnicht deklariert, der sie also hinterzieht, zahlt nach den§§ 235 und 238 AO lediglich Hinterziehungszinsen inHöhe von 6 Prozent pro Jahr. Das ist unseres Erachtensein Wertungswiderspruch, über den wir einmal nachden-ken sollten. Die Besserstellung eines Steuerhinterziehersgegenüber einem bloß säumigen Zahler scheint mir nichtangebracht zu sein.
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17562 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Manfred KolbeAbschließend sage ich: Missbrauchsbekämpfung undBekämpfung der Steuerhinterziehung sind die eine Seiteder Medaille. Die andere Seite der Medaille ist ein ge-rechtes und von den Bürgerinnen und Bürgern akzeptier-tes Steuersystem.
Je höher die Steuern sind und je mehr an der Steuer-schraube gedreht wird, desto eher sieht der eine oder an-dere als vermeintlichen Ausweg – ich sage ausdrücklich:als vermeintlichen, nicht als berechtigten Ausweg – dieSteuerhinterziehung. Deshalb müssen wir genauso ener-gisch, wie wir die Steuerhinterziehung bekämpfen, fürein gerechtes und akzeptiertes Steuersystem kämpfen.
Sie, meine Damen und Herren von der Linken, habenbis 1989 in einem Teil Deutschlands regiert. Dort gab eseine Einkommensteuer, die erdrosselnd war: Ab einemEinkommen von 20 000 Mark waren in der DDR80 Prozent Steuern fällig. Steuerflucht und Globalisie-rung gab es aufgrund der bekannten einengenden Um-stände nicht. Das Ergebnis war nicht mehr Wohlstandund eine größere staatliche Leistungsfähigkeit. Das Er-gebnis war eine Revolution, die alles hat zusammenbre-chen lassen. Wir müssen also einen vernünftigen Mittel-weg finden. Wir brauchen ein gerechtes und akzeptiertesSteuersystem, und die Steuerhinterziehung muss ener-gisch bekämpft werden. Dafür wird sich die Unionsfrak-tion einsetzen.Danke.
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Volker
Wissing das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Über Steuerhinterziehung haben wir schon oft gespro-chen, sind aber keinen Schritt weitergekommen.
Angesichts der Qualität der heutigen Anträge ist damitauch nicht zu rechnen.
Ich gehe auf den Antrag der Grünen ein. Die Grünenschreiben:Die große Koalition hat viel zu lange stillgehaltenund damit Steuerhinterziehung gedeckt.Die Wahrheit ist: Die Große Koalition regiert seit dreiJahren, die Grünen haben vorher sieben Jahre regiert undgenauso stillgehalten. Nach Ihrer Logik, Frau KolleginScheel, haben Sie Steuerhinterziehung doppelt so langegedeckt wie die Große Koalition. Herzlichen Glück-wunsch!
Sie schreiben in Ihrem Antrag weiter:Die Bundesregierung soll in der Föderalismuskom-mission II darauf hinwirken, dass das Personal beiBetriebsprüfung und Steuerfahndung deutlich auf-gestockt wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, in derSache haben Sie recht; aber warum wirken Sie nichtselbst in der Föderalismuskommission II darauf hin?
– Sie sollten einmal mit Herrn Kuhn sprechen; er sitzt jain der Kommission. – Bevor Sie hier nach der Unterstüt-zung der Bundesregierung rufen, sollten Sie in derFöderalismuskommission II das, was Sie in Ihrem An-trag fordern, vortragen. Im Übrigen hat die FDP in derFöderalismuskommission II wiederholt auf diesen Punkthingewiesen. Wenn Sie uns dabei unterstützen wollen,sind wir bei diesem Punkt schon morgen ein Stück wei-ter.Am Ende wird Ihr Antrag richtig skurril. Sie schrei-ben, Staatsanwälte würden Steuerstrafsachen aus Kapa-zitätsmangel nicht bei den zuständigen Strafkammernder Landgerichte, sondern bei den Amtsgerichten erhe-ben, die nur maximal vier Jahre Freiheitsstrafe verhän-gen dürfen. Liebe Frau Scheel, die Zulässigkeit einerAnklage wird in Deutschland von unabhängigen Richte-rinnen und Richtern geprüft.
Es ist absurd, Amtsrichtern zu unterstellen, sie würdenHauptverfahren in Steuerstrafsachen eröffnen, obwohldie Landgerichte zuständig sind. Mich würde wirklichinteressieren, wie Sie auf solche unhaltbaren Vorwürfekommen.
Sie schöpfen aus dem Vollen, Sie schreiben in IhremAntrag, deutsche Gerichte würden aus KapazitätsmangelSteuerstrafsachen oft einstellen, anstatt die Angeklagtenzu verurteilen. Ich finde, das ist bodenlos. 2006 wurdenvon den Gerichten in Deutschland 14 Prozent der allge-meinen Strafsachen eingestellt, bei Steuerstrafsachen lagdie Einstellungsquote bei nur 9,3 Prozent, also deutlichniedriger.
Ich frage Sie: Was veranlasst Sie eigentlich dazu, in Ih-rem Antrag derart schwerwiegende Vorwürfe gegen diedeutsche Justiz zu erheben?
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17563
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Dr. Volker Wissing
Es ist eine Zumutung, dass Sie uns Anträge mit haltlosenVorwürfen vorlegen.
Sie zeichnen ein Bild, das mit der Realität nichts zu tunhat.
Wenn Sie sich, bevor Sie Anträge schreiben, einmalinformieren wollen, wie sich das mit den Steuerstraf-sachen verhält, empfehle ich Ihnen, die Antwort derBundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP zu le-sen; darin können Sie die Zahlen nachlesen.
Dann werden Sie feststellen, dass Steuerstrafsachen vonder deutschen Justiz schärfer verfolgt werden als allge-meine Straftaten. Hören Sie auf, einen solchen Popanz inIhre Anträge zu schreiben! Das ist, gelinde gesagt, un-seriös, Frau Scheel.
Nun zu den Anträgen der Linken. Liebe KolleginHöll, was mich an Ihrem Ansatz stört,
ist, dass er rein reaktiv ist. Sie fordern regelmäßige Be-richte des Finanzministers über Steuergestaltungs-modelle. Sie wollen Steuergestaltungsmodelle verbieten.Besser wäre es, Steuergestaltungsmodelle von vornhe-rein zu verhindern.
Wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie zugeben, dass Steuer-gestaltungsmodelle vor allem dort entstehen, wo dasSteuerrecht zu kompliziert ist, wo es undurchsichtig ist,wo es von den Menschen nicht akzeptiert wird.Herr Kollege Kolbe, ich bin ganz Ihrer Meinung,wenn Sie sagen, es sind viele Löcher im Käse. Auch dieFDP ist der Meinung, dass das deutsche Steuerrechtziemlicher Käse ist.
Kollege Dr. Wissing, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Dr. Höll?
Ja.
Herr Kollege Wissing, ich bin irritiert. Unser Antrag
trägt den Titel „Steuermissbrauch wirksam bekämpfen –
Vorhandene Steuerquellen erschließen“. Wir setzen uns
darin explizit mit Maßnahmen gegen aggressive Steuer-
sparmodelle auseinander. Wir haben das Punkt für Punkt
aufgeführt. Man kann das so machen, wie wir das vor-
schlagen, man kann das auch anders machen; aber man
muss etwas machen. Zu einer Form haben wir uns sehr
konkret geäußert, nämlich zu den Steuergestaltungsmo-
dellen. Hier sollen Anzeigepflichten eingeführt werden.
Sie müssen bei der ersten oder zweiten Zeile aufgehört
haben, unseren Antrag zu lesen.
Ich sage es Ihnen noch einmal, Frau Kollegin Höll:Ich halte Ihren Ansatz für schwach, weil er rein reaktivist. Es wäre vernünftiger, dort anzusetzen, wo die Pro-bleme entstehen. Sie liegen in einem viel zu komplizier-ten Steuerrecht begründet. Sie versuchen immer wieder,die Dinge im Nachhinein zu flicken. Sie können dannneue Löcher in den Käse hineinschneiden, aber dasGanze bleibt ein löchriger Käse.Das Steuerrecht würde vor allen Dingen mit der Um-setzung Ihrer Vorschläge Käse bleiben. Sie führen näm-lich neue Bürokratielasten ein und machen es noch kom-plizierter. Das halte ich schlicht und einfach für diefalsche Lösung. Ein besserer Lösungsansatz wäre es, dasSteuerrecht zu vereinfachen, es gerechter zu gestaltenund niedrigere Steuersätze einzuführen, damit die Men-schen das akzeptieren und die Fehlanreize zur Schaffungvon Steuerausnahmen in Deutschland beseitigt werden.Genau das habe ich gesagt. Dazu stehe ich auch. Das istdie Meinung der FDP.
Bezeichnenderweise findet sich in den Anträgen derOasenaustrockner kein einziges Wort dazu. Statt inhalt-lich mit eigenen Konzepten in die Offensive zu gehen,wollen Sie nur reagieren. Ehrlich gesagt langweilt michan dieser Debatte langsam, dass immer wieder so getanwird – die Grünen sind darin ja auch immer sehr stark –,als gäbe es hier im Haus einige, die für Steuerhinterzie-hung sind, während andere sie bekämpfen wollen. Ichfinde diesen Popanz ehrlich gesagt ziemlich albern undwill noch einmal sagen: Wenn wir gemeinsam etwas tunwollen, dann müssen wir dort ansetzen, wo die Problemeentstehen. Diese entstehen aufgrund der Komplexitätund der mangelnden Transparenz unseres Steuersystems.Die FDP ist gerne bereit, mit Ihnen über Maßnahmenzur Bekämpfung von Steuerhinterziehung zu reden; aberallein damit werden wir uns nicht zufriedengeben. Wirwollen mehr. Wir wollen etwas Konkretes, nämlich eineinfaches und gerechtes Steuersystem mit niedrigenSteuersätzen für die Mitte unserer Gesellschaft, die seitJahren abkassiert wird.
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Dr. Volker Wissing– Frau Scheel, Sie erheben hier laut Ihre Stimme.
– Herr Kollege Poß, da Sie von „billig“ reden, solltenSie einmal Ihren Zwischenruf im Protokoll nachlesen.Der ist nicht nur billig, sondern den kann ich Ihnen auchgleich schenken und zurückgeben.Frau Kollegin Scheel, ich sage Ihnen ganz offen: Siekommen mit Ihren Vorschlägen nicht weiter. Wer etwasgegen Steuerhinterziehung tun will, der muss dort anset-zen, wo die Probleme entstehen. Das ist bei unseremSteuerrecht. Deswegen wollen wir eine Politik für dieMitte machen, die hier abkassiert wird.
Kollege Wissing, achten Sie bitte auf das Zeichen vor
Ihnen. Die Redezeit ist überschritten.
Sie haben das angefangen, die Große Koalition hat
das fortgesetzt. Wenn dieses Steuersystem nicht gerech-
ter wird, dann werden Sie die Probleme nicht lösen.
– Ich bedaure nicht, dass Sie keine Frage mehr stellen
können, aber wir hören nachher ja noch Ihre Ausführun-
gen zu Ihrem nicht ganz sorgfältig ausgearbeiteten An-
trag.
Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Lothar
Binding das Wort.
Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Eigentlich hat jetzt auch der Letzte ge-merkt, dass wir etwas gegen Steuerhinterziehung, inter-nationale Steuergestaltung und Steuerbetrug machenmüssen, also auch die PDS, die Linke, die Lafontaine-Partei.
Es ist schon wichtig, etwas zu tun, man darf abernicht verschweigen, dass schon sehr viel getan wurde.Wir wissen, dass die Steueroasen schon ein paar Jahreexistieren. Herr Wissing hat uns vorgetragen, wie langejetzt verschiedene Koalitionen existieren und wie langedie Fraktionen in der Regierung waren. Schauen Sie sichan, wie alt die Steueroasen schon sind, und bedenkenSie, dass auch die FDP 39 Jahre lang an der Regierungbeteiligt war, ohne sich so darum zu kümmern. Andern-falls hätten wir uns heute gar nicht mehr darum küm-mern müssen. Daran erkennen Sie, wie schnell sich IhreAussagen relativieren.
Ich will ein Grundproblem nennen, mit dem ich an-deuten kann, dass unsere Regierung ein gigantischesLob verdient hat. Es geht um das Verdienst, sich um in-ternationale Verhandlungen über ein faires Steuermodellzu kümmern. Das geschieht international in der OECDund in der EU ganz intensiv. Trotzdem haben wir nochProbleme.Deshalb haben die SPD und die CDU/CSU einen ei-genen großen und seriösen Antrag in den Blick genom-men. Wir wollen die Lücken, die es noch gibt, genaueruntersuchen, immer mit Blick auf die internationale Ein-bindung. Solange die Unterschiede bei den Steuersyste-men und den Steuersätzen zwischen den Ländern sogroß sind, können wir nicht alles erreichen, was wir wol-len.Angenommen, ich habe in Deutschland ein x-beliebi-ges Vermögen. Sagen wir, es sind 3 Milliarden Euro. Ichdenke an eine Institution, an ein Unternehmen oder aneine Partei. Angenommen, ich würde Gefahr laufen,dass ich dieses Geld steuerlich irgendwie zur Geltungbringen muss. Das würde mich ärgern. Was würde ichalso machen? Ich würde möglicherweise – Österreichwurde von Euch ja schon genannt – eine RudolfineSteindling aus Österreich kennen, die zu 60 verschiede-nen Banken engste Kontakte pflegt und weltweit überein ehemals noch über die SED existierendes Unterneh-mensnetz gewisse Dinge tun kann. Was würde ich alsomit meinem Geld in Deutschland tun? Ich würde auslän-dische Firmen finden, die meiner inländischen Firma,die das Geld hat, eine Rechnung ausstellen würden.Die Rechnung würde für Consulting, also Beratung,ausgestellt. Ich kann gute Beratung gut oder schlecht be-zahlen, ich kann schlechte Beratung gut oder schlechtbezahlen, ich kann natürlich auch gar keine Beratung gutbezahlen.Jetzt sieht man sofort das Problem: Ich bekomme dieRechnung auf den Tisch und bezahle sie, was inDeutschland eine ganz normale Ausgabe ist. Das Geldist dann grenzüberschreitend weg, es ist an einem wohl-überlegten, sicheren Ort in einem Land, in dem vielleichtkeine Steuern erhoben werden. Falls doch, fällt mir be-stimmt die nächste Grenze ein – bis dieses Geld in einerSteueroase angekommen ist.Wenn wir uns richtig erinnern, ist das deshalb sokompliziert, weil ich selbst dann, wenn die anderen Staa-ten wohlmeinend wären, die Firma, die mir die Rech-nung schreibt, umgründen, in Konkurs gehen lassen,verschmelzen oder neu gründen kann. Ich nenne ein Bei-spiel: Die SED geht in die PDS über, diese verschmilztmit der WASG und gründet Die Linke neu. Hier habenwir genau diese klassische Umgründung, Verschmel-zung und Neugründung erlebt,
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Lothar Binding
die wir auch in der Unternehmenswelt vorfinden. Des-halb empfinde ich euren Antrag als essenziell wichtig.Wir werden sogar einzelne Dinge, speziell diejenigen,die die Zinsrichtlinie betreffen, in unseren Antrag auf-nehmen. Die Zinsrichtlinie ist tatsächlich verbesserungs-bedürftig.Da ich gerade Herrn Bisky sehe, füge ich an: Dassmeine Untersuchung eben gerade nicht ganz verkehrtwar, kann ich auch damit begründen, dass Sie sogar einOrdnungsgeld in Kauf genommen haben, allerdingsnicht, um Transparenz zu erzeugen, sondern möglicher-weise deshalb, um Aussagen nicht machen zu müssen,die Transparenz geschaffen hätten. Vornehm formuliert,nennt man dies Verschleierung.
Von daher muss man ein bisschen genauer hinguckenund fragen, was dort gemacht wird. Man muss auch et-was genauer auf das gucken, was im Antrag steht.Zu Ihrem Vorschlag, die Doppelbesteuerungsabkom-men abzuschaffen, habe ich drei Fragen. Wissen Sie,dass es etwa 40 000 bis 50 000 Grenzgänger zurSchweiz gibt, deren Einkommen in Deutschland versteu-ert werden? Haben Sie sich überlegt, welche Konse-quenzen es für uns hätte, wenn wir darauf verzichteten?Natürlich gilt dies immer symmetrisch. Überlegen Siesich also, was das für unser Steueraufkommen, aber auchfür die Menschen bedeutete, die als Grenzgänger Arbeit-nehmer in der Schweiz sind. Haben Sie sich auch einmalüberlegt, wie eigentlich die Beziehungen etwa in derchemischen Industrie zwischen Schweizer Unternehmenund wichtigen Töchtern in Deutschland sind und welcheKonsequenzen es etwa für die Besteuerung von Lizenz-zahlungen hätte, wenn wir Ihrem Vorschlag zu den Dop-pelbesteuerungsabkommen folgten? Daran merken wir,dass Ihr Vorschlag sehr unüberlegt ist.Diese Unüberlegtheit zeigt sich insbesondere an ei-nem kleinen Satz in Ihrem Antrag:– der Verzicht auf die Einführung der Kapitalabgel-tungsteuer: Kapitalerträge werden auch zukünftigdem persönlichen Steuersatz unterworfen;Dies heißt eigentlich nichts weiter als Folgendes:Machte eine Aktiengesellschaft einen Gewinn von, sa-gen wir, 100 Euro, und zahlte sie auf diese 100 Euro30 Euro Steuern, bekämen Sie als Anteilseigner 70 Euround müssten darauf, weil Sie reich sind, wie wir geradegehört haben, 40 Prozent Steuern zahlen. Am Ende hät-ten Sie möglicherweise von dem Gewinn allenfalls noch35 bis 40 Prozent übrig. Wollen Sie dies wirklich, undhaben Sie sich überlegt, was das für Investitionstätigkeit,Ansiedlungspolitik und Standortfragen bedeutet? Dessenbin ich mir nicht sicher; ich vermute, dass Sie sich die-sen Vorschlag nicht besonders gut überlegt haben.Es gibt in Ihrem Antrag noch ein paar andere Vor-schläge, zum Beispiel den „Ausschluss von Bankinstitu-ten aus nicht kooperierenden Staaten“. Welchem Rechtunterliegen eigentlich Filialen ausländischer Banken inDeutschland? Diese Filialen unterliegen deutschemRecht. Was passierte, wenn sie geschlossen würden?Dann gäbe es immer noch internationale Banktransfers.Es würde immer noch eine Dividende in die ClearstreamBanking AG als Sammelbecken fließen, die das dannüber ihr Korrespondenzkonto komplett auf eine andereBank überweisen würde. Wie würden Sie dieser Anony-mität Herr werden?Insofern wäre eine echte kleine Tochtergesellschafteiner ausländischen Bank oder eine Filiale vorzuziehen,die nach deutschem Recht beaufsichtigt wird und Trans-parenz wahren muss. Der Kollege Kolbe hat bereits da-rauf hingewiesen, dass es eine ganze Reihe von Kon-trollmitteilungen gibt. Möglich ist zum Beispiel eineKontenabfrage, um herauszufinden, ob jemand Kontenverschleiern wollte. Wir können auch die Stammdatenund die Anzahl der Konten erheben.Ich halte die Diktion in Ihrem Antrag insgesamt fürfalsch. Mit den von Ihnen vorgeschlagenen Maßnahmenwäre es nicht möglich, Erträge aus Vermögen, die sichheute im Ausland befinden, aufzuspüren.
Denn wenn sich das Vermögen erst einmal im Auslandbefindet, dann kann man die sich daraus ergebenden Er-träge international anlegen, ohne jemals mit einer deut-schen Bank bzw. dem deutschen Fiskus zu tun zu haben.In Ihrem Antrag sind keine Möglichkeiten vorgesehen,auf solche Erträge zu stoßen. Das ist ein Fehler.Wir wollen Ihren Antrag zum Anlass nehmen, uns mitdem Thema zu befassen und mit unserem Antrag, denwir bereits formuliert haben, der Stoßrichtung in diesemPunkt zu folgen. Ich glaube, dann können wir zu einemguten Ergebnis kommen.Sie haben uns aufgefordert, Ihrem Antrag zuzustim-men. Ich fordere Sie auf: Stimmen Sie unserem Antragzu! Er ist wohlüberlegt.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Christine Scheel das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es wäre schön, wenn wir einem Antrag vonseiten derSPD und der CDU/CSU zustimmen könnten, wenn esihn denn gäbe. Es gibt ihn aber nicht.
Das Problem besteht darin, dass innerhalb der GroßenKoalition anscheinend sehr individuell gearbeitet wird.Die einen arbeiten in einer AG an einem Antrag; die an-deren haben andere Arbeitszusammenhänge und setzenandere Prioritäten. Ich befürchte, dass es zum ThemaSteuerhinterziehung in dieser Legislaturperiode keinen
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Christine Scheelgemeinsamen Antrag der Großen Koalition geben wird.Das ist bedauerlich. Aus diesem Grund haben wir vomBündnis 90/Die Grünen einen konkreten Antrag mitHandlungsmöglichkeiten vorgelegt.
– Der Inhalt ist richtig.Herr Wissing, Sie sind von Beruf Jurist. Der Antragder Grünen ist nicht so zu verstehen, als ob wir Staatsan-wälten oder Richtern einen Vorwurf machen würden,wie Sie ihn interpretiert haben. Im Gegenteil: Die Grü-nen sind der Meinung, dass die Richter und Staatsan-wälte im Zusammenhang mit Ermittlungstätigkeiten re-gelmäßig in Verfahren ertrinken. Deswegen wollen wirmehr Effizienz und eine Personalaufstockung mit einerSchwerpunktsetzung in diesem Bereich, wie es sie der-zeit nicht gibt.
Wir fordern ebenso wie bei der Wirtschaftskriminali-tät die Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaf-ten. Es geht nicht an, dass in der BundesrepublikDeutschland viele Verfahren nicht so zügig bearbeitetwerden können, wie es diejenigen gerne täten, die sie zubearbeiten haben.
Kollegin Scheel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Wissing?
Gern.
Frau Kollegin Scheel, Sie haben eben festgestellt,
dass das, was in Ihrem Antrag formuliert ist, richtig sei.
Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass aus Kapazitätsman-
gel beim Amtsgericht angeklagt wird, obwohl an sich
die Wirtschaftsstrafkammern des Landgerichtes zustän-
dig sind. Teilen Sie mit mir die Auffassung, dass diese
Aussage falsch ist, weil nach deutschem Recht nicht frei
entschieden werden kann, wo man Anklage erhebt, und
dass es dienstrechtlich für Staatsanwälte in Deutschland
nicht zulässig ist, in Kenntnis der Zuständigkeit des
Landgerichtes beim Amtsgericht Anklage zu erheben?
Teilen Sie mit mir die Auffassung, dass Staatsanwälte in
Deutschland nicht gegen diese gesetzliche Regelung ver-
stoßen?
Herr Kollege Wissing, Sie lenken ab. Der entschei-
dende Punkt ist, dass wir die Situation, die Anlass zum
Bedauern gibt, verändern wollen. Es gibt solche Fälle,
wie ich sie beschrieben habe; das wissen Sie. Die Juris-
tinnen und Juristen in meiner Fraktion haben in der Pra-
xis der Lebenswelt festgestellt, dass es Probleme gibt.
Wir möchten die Probleme lösen, indem wir dem Perso-
nal mehr Hilfestellung geben, zum Beispiel durch das
Aufstocken der Stellenzahl. Dann kann mehr passieren.
Das wäre im Hinblick auf unser Ziel gut, Steuerhinter-
ziehung zu bekämpfen. Das ist der entscheidende Punkt,
nicht mehr und nicht weniger.
Sie wollen ein einfaches und faires Steuersystem und
das Problem durch Senkung der Steuersätze lösen. Da-
mit liegen Sie falsch. Nehmen wir den Fall des Postchefs
Klaus Zumwinkel. Er hat viele Jahre bei der Liechten-
steiner LGT Bank etwa 10 Millionen Euro angelegt und
hat auf die Zinserträge keine Steuern gezahlt. Ich frage
Sie: Verhindern Sie solche Fälle, in denen jemand ir-
gendwo Geld anlegt und null Zinserträge angibt, obwohl
er sie angeben müsste, wenn Sie das Einkommensteuer-
recht durch entsprechende Änderungen vereinfachen
und die Sätze senken? Sie können noch so sehr vereinfa-
chen, aber solche Fälle, in denen jemand bewusst keine
Steuern zahlen will, verhindern Sie so nicht. Sie müssten
den Satz schon auf null senken, um vielleicht Ihr Ziel zu
erreichen. Das kann aber nicht im Interesse des Allge-
meinwesens liegen und wird der Situation in der Bun-
desrepublik Deutschland nicht gerecht. Das wäre völli-
ger Quatsch; das wissen Sie auch. Sie lenken mit Ihrer
Zwischenfrage nur ab.
Die Spitze des Eisbergs ist nun ein Stück weit abge-
tragen. Aber der Eisberg ist ziemlich breit und groß.
Nach Angaben der Deutschen Steuer-Gewerkschaft sind
etwa 400 Milliarden Euro im Ausland versteckt. Um den
Bürgerinnen und Bürgern die Relation deutlich zu ma-
chen: Das ist das Eineinhalbfache dessen, was der Bund
ausgeben kann. Allein der Steuerschaden liegt im zwei-
stelligen Milliardenbereich. Aus diesem Grund haben
wir strategische Überlegungen angestellt. Unser wirksa-
mes Maßnahmenpaket auf nationaler, europäischer und
internationaler Ebene finden Sie in unserem Antrag.
Wir wollen alle Chancen nutzen. Ich verweise nur auf
die Löcher bei der europäischen Zinssteuerrichtlinie und
bei Doppelbesteuerungsabkommen. Wir wollen zum
Anrechnungsverfahren übergehen. Das alles und vieles
mehr lässt sich in unserem Antrag finden. Wir werden in
Zukunft darüber weiter diskutieren können, wenn die
Koalition denn einen Antrag vorlegt. Ich hoffe sehr, dass
sie es bald tun wird. Unser Antrag liegt bereits vor. Die
Ideen sind richtig. Die Maßnahmen sind gut. Deswegen
bitten wir, unseren Antrag zu unterstützen.
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 16/9168, 16/9166 und 16/9421 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
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Vizepräsidentin Petra Pauschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie zu dem Antrag der Abge-ordneten Laurenz Meyer , Dr. HeinzRiesenhuber, Dr. Michael Fuchs, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowieder Abgeordneten Ute Berg, Dr. Rainer Wend,Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDDas neue Zentrale Innovationsprogramm Mit-telstand ZIM optimal ausgestalten und konso-lidierungskonform finanzieren– Drucksachen 16/8905, 16/9471 –Berichterstattung:Abgeordnete Ute BergNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höredazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeDr. Heinz Riesenhuber für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kollegen! Über Steuerhinterziehung ha-ben wir gerade gesprochen, jetzt reden wir über den ehr-lichen Mittelstand, der vielfältig in Deutschland seineArbeit tut und der seine Steuern zahlt.Der Mittelstand hat in den letzten Jahren den größtenAnteil an neuen Arbeitsplätzen geschaffen. Es warenHunderttausende. Der Aufbau von Arbeitsplätzen fandinsbesondere im innovativen Mittelstand statt. Die Weltbesteht aus Hightech, Lowtech und Notech, aber der Be-reich, in dem am schnellsten Neues entsteht, ist der tech-nisch-innovative Mittelstand. In diesem Bereich gibt esin Deutschland gut hunderttausend Unternehmen. Manmuss ehrlich einräumen, dass rund die Hälfte von diesenUnternehmen gar nicht forscht, 30 000 mit großer Stetig-keit forschen und der Rest gelegentlich. Jeder ist will-kommen. Es gibt viele, die im Wesentlichen von Imita-tionen leben. Das ist zulässig, solange sich das in denGrenzen dessen bewegt, was die Gesetze erlauben. Esgibt andere, die Ideen zu technologischen Dienstleistun-gen zur Marktreife bringen und dabei aus frei verfügba-rem Wissen schöpfen. Auch dies ist gut. Was hier ent-steht, ist eine große Landschaft, die allerdings in denletzten Jahren nicht ganz die Dynamik hatte, die wir unsimmer gewünscht haben. Wir konstatieren eine Stagna-tion der Forschungsaufwendungen in den mittelständi-schen Unternehmen bei nur geringen Schwankungen.Dies ist in Zeiten, die sich immer schneller ändern und indenen immer mehr auf Forschung basiert, eine gefährli-che Strategie.Zum Mittelstand gehören auf der anderen Seite dieGründungen. Die Zahl der Neugründungen von Highte-chunternehmen stieg bis 2000 Jahr für Jahr, dann nahmdie Zahl ab, anschließend gab es eine leichte Erholung,und 2005 ging die Zahl wieder zurück. Die Situation istdurchaus schwierig.Schauen Sie sich die ganze Landschaft an. Von den300 forschungsstärksten Unternehmen der Welt sind 55nach 1960 gegründet worden, zwei in Europa, eins da-von in Deutschland, 53 in den USA. Wenn wir die Dyna-mik erreichen wollen, die wir mit der Lissabon-Strategiebeschlossen haben, dann müssen wir einen neuen Anlaufnehmen. Das macht die Bundesregierung. Deshalb hatsie die Ziele gesetzt. Das 6-Milliarden-Euro-Programmist inzwischen durch die Weisheit und Güte des Finanz-ministers aufgestockt worden. Wir hoffen, dass es soweitergeht. Ich nenne weiterhin die Hightech-Strategieund die Programme, die den Mittelstand in den einzel-nen Bereichen voranbringen. Es gibt die Fachpro-gramme des Forschungsministeriums und des Wirt-schaftsministeriums. Eine große Stärke aber liegt in dentechnologieoffenen Programmen, die der Wirtschaftsmi-nister aufgelegt hat.Hier setzt jetzt ZIM an, der neue Vorschlag, über denwir jetzt diskutieren. Das ist eine Weiterentwicklung vonProgrammen, die wir haben, eine Zusammenführung undVereinfachung. ZIM bedeutet Zentrales Innovationspro-gramm Mittelstand, nur damit wir uns nicht mit Kürzelnerschlagen. Ich habe das jetzt einmal gesagt und darf esdeswegen künftig einsparen. Dieses ZIM fasst mehrereProgramme zusammen, die sich bewährt haben. Nach1990, nach der deutschen Einheit kam eine Reihe vonProgrammen, die sich in den alten Bundesländern be-währt hatten, in die neuen Länder. Manche wurden mo-difiziert. Inzwischen haben sich diese und andere, neueProgramme in den neuen Ländern bewährt.Mit ZIM soll das, was gut ist, zu einem einzigen Pro-gramm für ganz Deutschland zusammengeführt werden.Die Scheidung in Ost und West kann nicht der vernünf-tige Weg sein. Dabei handelt man in dem klaren Be-wusstsein, dass der Anteil der Mittel, die in die neuenBundesländer gehen, weiter steigt und immer überpro-portional hoch bleibt. Das ist notwendig für die Dyna-mik in diesem Bereich.Was geschieht im Einzelnen? Ich beschreibe jetztnicht die Programme, die uns allen, wie ich vermute,wohlvertraut sind. Pro Inno betrifft die Zusammenarbeitzwischen Unternehmen und wissenschaftlichen Institu-ten. Das ist mit über 200 Millionen Euro ein starkes Pro-gramm. Damit werden Kooperationen aufgebaut. Inno-Net fördert Netzwerke zwischen kleinen und mittlerenUnternehmen und Forschungseinrichtungen. Diese Ko-operationen brauchen wir so, dass das selbstverständlichwird. NEMO steht für: Netzwerkmanagement Ost. Eswar eine gute Idee, einen Förderwettbewerb zum Aufbauvon Netzwerken zwischen mittelständischen Unterneh-men und Forschungseinrichtungen durchzuführen. Ausdem Programm Inno-Watt soll die einzelbetrieblicheFörderung von Unternehmen in den neuen Bundeslän-dern in ZIM integriert werden. Damit haben wir dasKonzept.
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17568 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Dr. Heinz RiesenhuberWas ändert sich? Neu ist, dass die Programme fürganz Deutschland gelten. Neu ist, dass die Antragsver-fahren einfacher werden. Neu ist, dass man bei all diesenProgrammen den einzelnen Adressaten nicht hinterher-laufen muss; vielmehr gibt es eine einzige zentrale An-sprechstelle. Neu ist die Schnelligkeit der Bearbeitung.Ein Mittelständler muss schnell über die Entscheidunginformiert werden. Neu sind außerdem einige Inhalte.Bis jetzt galt beispielsweise eine beachtliche Alters-grenze. Es gibt aber keinen vernünftigen Grund, warumerfahrene Forscher nicht weiterarbeiten sollen, solangesie Ideen haben. Bis jetzt war es auch so, dass die Ge-schäftsführer nicht mitmachen durften. Bei einem mittel-ständischen Unternehmen, das forscht, ist aber der Ge-schäftsführer in der Regel das „Frontschwein“, das dieganze Arbeit zu machen hat. Das heißt, wir versuchenBarrieren zu beseitigen, sodass die Sache schnell, dyna-misch und erfolgreich ist. Wir sorgen für ein einziges ge-schlossenes Programm für ganz Deutschland.
Dazu brauchen wir hier neben der vorzüglichen Ar-beit des Wirtschaftsministers die Unterstützung des Fi-nanzministers. Ich kann hier nicht voraussagen, was eskostet. Es heißt, dass wir in diesem Jahr mit den Mittelnhinkommen, dass wir im nächsten Jahr 80 MillionenEuro und in den Folgejahren, je nach Entwicklung,100 Millionen bis 200 Millionen Euro mehr brauchenkönnten. Es sind also sehr beachtliche Beträge. Wir ha-ben bis jetzt die Erfahrung gemacht, dass uns der Fi-nanzminister, der heute zufällig nicht da ist, mit Herz-lichkeit durch die Jahre begleitet hat. Wir vertrauen festdarauf, dass das so bleiben wird.
Die Frage des Finanzministers, warum er Forschungfordern soll, ist ungefähr 150 Jahre alt. Damals fragteder englische Finanzminister Gladstone, wofür Elektrizi-tät gut sei. Die klassische Antwort war: Sie können sieeines Tages besteuern. Nichts ist bezaubernder für einenFinanzminister, als dass er einmal besteuern kann. Wennes mehr neugegründete Unternehmen gibt, dynamischeUnternehmen, die durch Forschung neue Arbeitsplätzeschaffen, dann profitiert davon der Finanzminister. Ihnglücklich zu machen, ist das größte Ziel. Auf dieserGrundlage könnten wir dann arbeiten.Wir werden daran in den nächsten Jahren arbeiten.Wir brauchen zum Start dieses Programms das grüneLicht des Finanzministers jetzt; denn am 1. Juli soll dieerste Stufe starten, und am 1. Januar nächsten Jahres sollder betriebsspezifische Teil von Inno-Watt dazukom-men. Das ist ein wichtiger Schritt, auch wenn es nicht al-les ist.Wenn die Forschungspolitik gut ist, entstehen immerneue Forschungsprogramme. Alte Forschungsprogrammewerden eingestellt, neue werden begonnen, und vorhan-dene werden umstrukturiert. Das muss ein lebendigerProzess sein. Wenn ein Forschungsprogramm erfolg-reich ist, dann muss man sich fragen, ob man es weiter-führen muss. Wenn es erfolglos ist, dann darf man nichtgegen den Markt fördern. Entscheidend ist, eine Strate-gie zu finden, durch die Neues angeregt wird, Ideen inden Markt eingebracht werden, die Menschen begeistertwerden und fröhlicher Unternehmungsgeist unter denMenschen wächst. Da haben wir noch einen langen Wegvor uns.Über vieles diskutieren wir. Noch mehr tut die Bun-desregierung, worüber wir stolz und glücklich sind. Unswird ein Vorschlag zur steuerlichen Forschungsförde-rung gemacht werden. Über Wagniskapital werden wirin der nächsten Stufe wieder reden. Wir werden in vielenBereichen das Neue angehen. Dann entsteht eine Land-schaft, über die vor allem der Finanzminister glücklichsein kann, weil er dadurch zusätzliche Steuereinnahmenerzielt. Herr Staatssekretär, bitte, richten Sie ihm meineherzlichen und verbundenen Grüße aus.
Vorher müssen wir dafür sorgen, dass das Neue entstehtund wächst. Der Staat kann die Zukunft nicht vorherse-hen, aber er kann die Voraussetzungen dafür schaffen,dass die Menschen, die etwas davon verstehen, die dieArbeit tun und die Verantwortung tragen, die unsereBürgergesellschaft ausmachen – –
Kollege Riesenhuber, auch wenn Sie darüber hinweg-
sehen: Dieses Licht dort bedeutet, dass Sie weit über
Ihre Redezeit sind. Ich weiß, dass Sie das immer irritiert.
Frau Präsidentin, ich bedanke mich für den Hinweis.
Ich freue mich sehr, dass Sie mich so liebevoll begleiten.
Wir werden deshalb mit Fröhlichkeit, Unternehmungs-
geist und Entschlossenheit unter Begleitung der Präsiden-
tin in eine neue unternehmerische Zukunft aufbrechen.
Wenn die Frau Präsidentin uns dabei wohlwill – genau
wie der Finanzminister –, dann ist das für uns alle nütz-
lich.
Das Wort hat der Kollege Martin Zeil für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Trotz der wie immer eindrucksvollen Vortragsweise,Herr Kollege Riesenhuber, geht es uns mit dem Antragder Koalitionsfraktionen so wie mit einem Luftballon,der nicht ganz dicht ist: Je länger man ihn in Händenhält, desto mehr schnurrt er zusammen.
Sie haben einen einfachen haushaltstechnischen Vor-gang genutzt, um wunderschöne Sätze und Selbstver-
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Martin Zeilständlichkeiten aufzuschreiben und eindrucksvoll dasHohelied des Mittelstands zu singen. Eine besondere po-litische Substanz können wir dem leider nicht entneh-men.Vielleicht erklärt das auch Ihr Verhalten gestern imAusschuss, wo der Antrag entgegen allen parlamentari-schen Gepflogenheiten einfach durchgepeitscht wurde,ohne dass die Fragen unserer Fraktion vor der Abstim-mung beantwortet worden waren. Offenbar sahen Sie Ih-ren eigenen Antrag als nicht so recht diskussionswürdigan.Gegen die Bündelung der Fördermaßnahmen für denMittelstand ist grundsätzlich auch nichts einzuwenden,falls dadurch Effizienzpotenziale gehoben und vor allenDingen mehr Transparenz für die Förderungsempfängererreicht werden können. Jedoch darf die Förderung nichtzu einem simplen Geschenketopf für alle werden. DieFörderrichtlinien müssen klar formuliert werden. DieMaßnahmen müssen endlich von einer unabhängigen In-stanz bewertet werden.
Leider halten Sie sich erneut nicht an Ihre eigenenSubventionsrichtlinien. Im Subventionsbericht der Bun-desregierung heißt es – ich zitiere –:Neue Finanzhilfen werden nur noch befristet undgrundsätzlich degressiv ausgestaltet.In Ihrer verspäteten Antwort auf unsere Fragen heißt esstattdessen:Innerhalb der Laufzeit werden die … Fördersätzeim Programm stabil gehalten, um bei den NutzernPlanungssicherheit zu gewährleisten.Aber nur die degressive Förderung verhindert die Ab-hängigkeit vom Subventionstropf und fördert die Initia-tive der Empfänger, eigene Finanzquellen zu erschlie-ßen.
Aber für alles das hätte es dieses Antrags nicht be-durft. Sie haben angesichts der anhaltenden Kritik ausdem Mittelstand an Ihrer Politik – Stichwort Ziel- undOrientierungslosigkeit – einmal wieder einen Anlass ge-sucht, sich selbst zu loben. Sie schreiben im Antrag:Nur an der Spitze des wissenschaftlichen und techni-schen Fortschritts kann Deutschland auch in Zukunftim globalen Wettbewerb bestehen und damit Wachs-tum, Arbeitsplätze und Wohlstand in Deutschland si-chern.
– Wer wollte dem nicht zustimmen, Herr Kollege Wend?Sie reden von vielen forschenden und innovativenUnternehmen in unserem Land. Haben Sie sich eigent-lich einmal gefragt, wie lange die sich das Forschen nachIhrer mittelstandsfeindlichen Politik noch leisten kön-nen? Ich erinnere an die Debatte um die Besteuerung derFunktionsverlagerung im Zusammenhang mit der Unter-nehmensteuerreform.
Herr Kollege Riesenhuber, das ist gerade für die innova-tiven Unternehmen, die jungen Unternehmen ein ganzgravierender Hemmschuh.
Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschunghat richtig festgestellt, dass die kleineren Unternehmensich noch zu wenig an diesem Innovationsprozess be-teiligen. Das wirft doch die Frage auf: Warum? DieAntwort ist gar nicht so schwer: Es sind Ihre Politik desStillstands, der mittelstandsfeindlichen Erbschaftsteuer-reform, der Steuererhöhungen, der hochgetriebenen Ener-gie- und Lohnnebenkosten sowie die Bewegungs-losigkeit bei der Reform des Arbeitsmarkts und einenach wie vor belastende Bürokratie, die diese Schrittebehindern.
Solange Sie eine mittelstandsfeindliche Politik machen,solange Sie damit immer mehr gut ausgebildete jungeMenschen ins Ausland treiben, solange werden auch diegutgemeinten Programme und ihre Zusammenlegungnichts bewirken. Noch ist die Lage unserer Wirtschaftgut. Die Alarmzeichen am Horizont sind aber nicht zuübersehen. Gerade deshalb ist es so verantwortungslos,wenn sich die schwarz-rote Koalition mehr und mehrvom Regieren verabschiedet und sich nur noch mitWahlkampfscharmützeln bis zum nächsten Wahlterminschleppen will.
Wir befinden uns in einer Vertrauenskrise: Viele Men-schen vertrauen der Finanzwirtschaft wegen der aktuel-len Krise nicht mehr; viele Marktteilnehmer vertraueneinander nicht mehr; viele Menschen trauen der Regie-rung nicht mehr; Teile der Regierung trauen sich unter-einander nicht mehr. Die Regierung betreibt aber keinePolitik, die das Vertrauen wieder stärken könnte.
Vertrauen gewinnt man nur mit einem klaren Kurs zu-rück, der am Kompass der sozialen Marktwirtschaft aus-gerichtet ist.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Sie sollten sichgerade anlässlich Ihres Antrages folgenden Satz desdeutschen Familienunternehmers Hans Knürr hinter dieOhren schreiben:Belässt man dem Mittelstand die notwendigen Mit-tel, hat er ohne staatliche Hilfe einen unglaublichfesten Stand.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Kollegin Ute Berg für die SPD-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nach der larmoyanten Rede von Herrn Zeil
möchte ich wieder Optimismus in die Runde bringenund auch mit ein wenig Stolz zurückblicken.Wir haben Deutschland unter Rot-Grün im BereichForschung und Entwicklung gut aufgestellt.
– Ja, ich sagte aber auch: „und auch mit ein wenig Stolzzurückblicken“. Gedulden Sie sich!Mit Edelgard Bulmahn an der Spitze des Forschungs-ministeriums wurden die Ausgaben für Bildung und For-schung um fast 38 Prozent erhöht. Sie erinnern Sie sichvielleicht an einen gewissen Herrn Rüttgers, der aucheinmal Forschungsminister war. Ich erinnere nur einmalkurz daran, dass unter ihm der Etat zweimal zurückge-schraubt wurde. Bei uns war das anders.
Ohne unser klares sozialdemokratisches Bekenntnis zurInnovationspolitik,
ohne den Pakt für Forschung und Innovation, ohne dieExzellenz-, Gründer- oder IT-Forschungsinitiativen, denHightech-Masterplan, um nur einige Projekte zu nennen,stünden wir definitiv nicht so gut da.
Da unser jetziger Koalitionspartner das leider nicht he-rausstellt – man sieht das ja deutlich –, müssen wir daseben hin und wieder auch einmal selber tun.Die erfolgreiche Politik setzen wir nun aber auch inder Großen Koalition fort. Die Ausgaben des Bundes fürForschung und Entwicklung haben wir im Jahr 2007 mitrund 10 Milliarden Euro auf einen Höchststand angeho-ben. Dieser Betrag wird in diesem Jahr mit voraussicht-lich 11 Milliarden Euro sogar noch getoppt. Das sind gutangelegte Gelder. Wir bestreiten ein Drittel unseres welt-weiten Handels mit forschungs- und entwicklungsinten-siven Gütern. Den jetzigen Aufschwung hätten wir ohneunsere Spitzenposition bei Technologieexporten nichterlebt – so die Expertenkommission Forschung und In-novation in ihrem ersten Gutachten 2008 für die Bundes-regierung.Vor zwei Jahren haben wir die Hightech-Strategiegestartet – Herr Riesenhuber hat schon darauf hingewie-sen –, um Deutschland an die Spitze der wichtigstenZukunftsmärkte zu bringen. Ressortübergreifend ziehtdiese Regierung dabei an einem Strang. Unsere Zielesind, aus Ideen schneller marktfähige Produkte zu ma-chen, Wirtschaft und Wissenschaft noch enger miteinan-der zu vernetzen und dabei besonders die kleinen undmittelständischen Betriebe im Auge zu haben. Sie sindnämlich der Motor unserer wirtschaftlichen Entwick-lung. Das ist bekannt. Fast 30 000 von ihnen betreibenkontinuierlich Forschung, circa 110 000 bringen regel-mäßig innovative Produkte und Dienstleistungen auf denMarkt und sorgen damit für einen enormen Beschäfti-gungszuwachs. Die Wettbewerbsfähigkeit des Standor-tes Deutschland wird maßgeblich durch diese Unterneh-men beeinflusst.Die eben erwähnte Expertenkommission erklärte uns,dass mit der Hightech-Strategie ein neuer, vielverspre-chender Weg beschritten wurde, und sie forderte denBund auf, den eingeschlagenen Weg konsequent fortzu-setzen, Herr Zeil. Das werden wir tun.Aber nicht nur der Staat unternimmt verstärkte An-strengungen, auch die privaten Investitionen ziehen in-zwischen nach. Laut Stifterverband sind seit 2006 deutli-che Zuwächse zu verzeichnen. Damit tun sich dieUnternehmen, die forschen und entwickeln, selbst dengrößten Gefallen. Sie schaffen sich nämlich in aller Re-gel gute Positionen im nationalen, aber auch im interna-tionalen Wettbewerb.Die Unternehmensberatung Ernst & Young hat in ih-rer aktuellen Studie „Siegerstrategien im deutschen Mit-telstand 2008“ 100 besonders erfolgreiche mittelständi-sche Unternehmen unter die Lupe genommen und nachdem Geheimnis ihres Erfolgs gesucht. Das Ergebniswar: Die Entwicklung innovativer Produkte gilt alswichtigster Schritt zum Erfolg. Es folgen Bildungsakti-vitäten, Orientierung an Kundenwünschen und Motiva-tion durch gesellschaftliches Engagement.Aber wo viel Licht ist, ist natürlich auch Schatten. Ichhabe mich bisher auf die innovativen Mittelständler kon-zentriert. Leider ist auch das Realität in Deutschland:Zwei Drittel der Unternehmen, die das IW, das Institutder deutschen Wirtschaft Köln, in seinem Zukunftspanelbefragt hat, forschen oder entwickeln überhaupt nicht.Herr Riesenhuber hat schon darauf hingewiesen. Das hatnatürlich unterschiedliche Gründe: Den einen fehltschlicht und ergreifend das Geld für FuE-Aktivitäten,die sich in der Regel erst mittel- oder langfristig auszah-len, und die anderen haben häufig keine Kenntnis davon,welche Forschungsergebnisse, die vermarktet werdenkönnen, die Hochschulen und Forschungsinstitute her-vorbringen.In jedem Fall bleiben riesige Potenziale ungenutzt.Das muss sich schnellstens ändern. Deshalb hat dasBMBF das Programm „KMU-innovativ“ aufgelegt, umSpitzenforschung im Mittelstand zu fördern. Deshalbstartet das BMWi das ZIM, das Zentrale Innovationspro-gramm Mittelstand, das – wie Sie schon gehört haben –technologieoffen angelegt ist.Vier Programme des Bundesministeriums für Wirt-schaft werden zu einem Dachprogramm zusammen-gelegt. Mit dieser Reform sollen die schon in der Ver-gangenheit durchaus erfolgreiche Innovationsförderungdes Mittelstandes noch effektiver gestaltet und ein trans-
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Ute Bergparentes, zielgenaues und leicht zugängliches Unterstüt-zungsangebot gemacht werden.Die wichtigsten positiven Veränderungen noch ganzkurz im Überblick: Die Forschung wird ausgeweitet. Eswurde schon erwähnt, dass NEMO, das Netzwerkpro-gramm-Ost, das sich früher nur auf Ostdeutschland be-zog, auf die gesamte Bundesrepublik ausgedehnt wird.Im zweiten Schritt geschieht das für das Programm Inno-Watt, welches hinsichtlich der Förderung von Forschungund Entwicklung bei innovativen Wachstumsträgern imOsten Deutschlands erfolgreich funktioniert hat. Auchnoch andere Programme werden, wie gesagt, unter die-sem Dach vereinigt.
– Eben. Effektivität kann nicht schaden.Die dritte Veränderung: Transparenz und Nutzer-freundlichkeit werden erhöht. Die Förder- und Antrags-bedingungen werden vereinfacht.Die vierte Veränderung: Die Innovationsprogramme– das hatte ich am Anfang schon angedeutet – sind indie Hightech-Strategie eingebettet. Damit fließen um-fangreiche Mittel in dieses Programm, das von einer Er-höhung der Fördermittel von 450 Millionen Euro in2005 auf 670 Millionen Euro bis zum Jahre 2009 profi-tiert.Die ressortübergreifende Beratungsstelle ist sicherlichauch von großem Interesse für die KMU; denn bishermussten sie sich an die unterschiedlichsten Stellen wen-den und haben damit sehr viel Zeit vergeudet. Es wurdenbürokratische Hürden geschaffen, die jetzt abgebautwerden. Das heißt, die eine Beratungsstelle informiertnicht nur über die Programme des Bundes, sondern auchüber Programme der Länder und der EU und gibt zusätz-lich Hinweise, an welche Anlaufstellen bzw. an welcheProjektträger sich die kleinen und mittelständischen Un-ternehmen wenden müssen. Das bringt Licht in den För-derdschungel und ist gerade für die kleineren Unterneh-men extrem wichtig, die weder Zeit noch Geld undschon gar kein zusätzliches Personal haben, um mühsamauf eigene Faust das für sie geeignete Programm samtAnlaufstelle zu recherchieren.So gut das alles klingt, möchten wir als Parlamentweiterhin informiert und beteiligt werden und – wonötig – auch nachjustieren. Selbstverständlich wollenwir auch eine vernünftige Evaluation, die im Übrigen inder Vergangenheit bei den einzelnen Programmen schonstattgefunden hat.
– Auch von Unabhängigen.Daher fordern wir die Bundesregierung auf, uns jähr-lich über den Erfolg der Technologieförderung im Mit-telstand zu unterrichten, insbesondere natürlich über daskünftige Kernstück: das ZIM.Mit Blick auf die weitere Entwicklung kleiner undmittelständischer innovativer Unternehmen möchte ichnoch einen Aspekt ansprechen, der maßgeblich zum Er-folg aller Unternehmen, besonders aber der kleinen in-novativen beiträgt. Gerade für diese ist es entscheidendwichtig, dass hochqualifiziertes Personal vorhanden ist.Daher trifft sie der Ingenieur- und Fachkräftemangel ins-gesamt besonders hart. Die Zahlen des Stifterverbandesfür die Deutsche Wissenschaft verdeutlichen dies: 2005waren ungefähr 300 000 Arbeitnehmer in Forschung undEntwicklung tätig. Für 2007 wurden dann schon 310 000prognostiziert. Neuere Zahlen liegen noch nicht vor. Esist aber ganz klar: Die Zahlen in diesem Bereich werdensteigen; die Nachfrage wird steigen. Auf dem Arbeits-markt kommen aber nicht genügend hochqualifizierteArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an.
Kollegin Berg, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ich komme zum Schluss.
Durch gezielte Anstrengungen im gesamten Bil-
dungsbereich Verbesserungen herbeizuführen, muss un-
ser aller Herzensanliegen sein. Daher ein abschließender
Appell: Lassen Sie uns gemeinsam für eine gute Zukunft
des Mittelstands und des Standorts Deutschland
arbeiten – mit Zukunftsinnovationen in Forschung und
Entwicklung, mit dem weiteren Abbau unnötiger Büro-
kratie, mit intelligenten Investitionen in unsere Infra-
struktur und mit einer Kraftanstrengung im Aus- und
Weiterbildungsbereich. Davon haben dann alle Bürge-
rinnen und Bürger etwas. Sie profitieren von guten Ar-
beitsplätzen, mehr Wirtschaftskraft und höherer Lebens-
qualität.
Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Dr. Petra Sitte das Wort.
Danke schön. – Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Wir haben schon gehört: Es werden mehrereMittelstandsprogramme des Ministeriums für Wirt-schaft und Technologie in ein Zentrales Innovationspro-gramm Mittelstand überführt. Ich muss Ihnen ehrlich sa-gen: Ich bin ganz froh, dass dies nicht nur eineZusammenführung bedeutet. Als Aufsichtsratsmitgliedeines kleinen, aber feinen Technologiegründerzentrumsfreut es mich, dass es auch Erweiterungen gibt, dassauch marktvorbereitende Maßnahmen wie beispiels-weise klinische Studien oder die Fertigung von Proto-typen förderfähig werden.Das war eine Blindstelle bisheriger Förderpolitik.Denn oft genug haben wir zwar mit öffentlichen MittelnInnovationen gefördert. Aber dann ist nicht nur dieMarkteinführung gescheitert, sondern schon vorher auchdie Produktionseinführung. Gerade diese Maßnahmen
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Dr. Petra Sittebedürfen nochmals erheblicher finanzieller Aufwendun-gen. Diese haben dann oftmals gefehlt. Wir haben alsomit öffentlichem Geld eine Entwicklung gefördert; dabeisind aber keine Arbeitsplätze entstanden und, Herr Rie-senhuber, noch weniger Steuereinnahmen angefallen.Zusammengeführt werden auch Programme, die vor-her ausschließlich für den Mittelstand Ost galten. Wirhaben im Osten sehr wichtige Erfahrungen für struktur-schwache Gebiete bundesweit gesammelt. Das heißt, dasZentrale Innovationsprogramm richtet sich jetzt nichtnur an den Osten, sondern an alle strukturschwachen Ge-biete der Bundesrepublik. Alle Regionen können sichunterschiedslos für dieses Programm bewerben.Wenn wir aber nicht in Rechnung stellen, dass es ganzunterschiedliche Ausgangsbedingungen gibt, kann es zueinem ungleichen Wettbewerb kommen. Wenn diese Re-gionen gleichermaßen Chancen haben sollen, müsstendie Mittel für dieses Programm eigentlich insgesamtnochmals aufgestockt werden. Denn bei Konkurrenz vonstrukturschwachen und starken Regionen sind dieHauptnutznießer – wir kennen schon jetzt das Ergebnis;das haben wir bei der Exzellenzinitiative gesehen – diestärkeren, insbesondere dann, wenn sich zeigt, dass derTopf zu klein ist, um den sich alle drängen.
Wir müssen also verhindern, dass strukturschwacheRegionen hinten herunterfallen. Wir müssen auch darandenken: Strukturschwache Gebiete im Osten sind in derDimensionierung nicht mit strukturschwachen Gebietenim Westen gleichzusetzen. Deshalb ist durchaus zu über-legen, ob in diese Programmlinien eine Quote nicht nurfür strukturschwache Regionen insgesamt, sondern auchfür den Osten eingeführt wird.
Ansonsten vergrößert sich der Abstand zwischen struk-turschwachen und -starken Regionen, zwischen Ost undWest.Ich möchte kurz zeigen, warum die Innovationsförde-rung für den Osten so wichtig ist. Bundesweit – das istschon angeklungen – liegt der Anteil der Ausgaben fürForschung und Entwicklung in kleinen und mittelständi-schen Betrieben an den Gesamtausgaben bei 12 bis14 Prozent; hingegen beträgt der Anteil dieser Ausgabenbei Betrieben im Osten 50 Prozent, aber nur 8 Prozentder innovativen Unternehmen haben dort ihren Sitz.Deshalb ist es für uns so wichtig, jetzt nicht nur A,sondern auch B zu sagen. Ein wichtiger Bestandteil istaus unserer Sicht die Forschungsprämie, die bislangHochschuleinrichtungen und außeruniversitären For-schungseinrichtungen zur Verfügung stand, sofern siemit Mittelständlern Entwicklungen umgesetzt haben.Bei uns im Osten gibt es jedoch gemeinnützigeGmbHs – Forschungs-gGmbHs –, die für die Substanzder dortigen Forschung und damit auch für den Struktur-wandel ausgesprochen wichtig sind. Nunmehr, seit An-fang des Jahres, können auch diese gGmbHs an der For-schungsprämie partizipieren.
– Es haben so viele daran mitgewirkt, bis es am Endedazu gekommen ist: auch wir, aber auch die anderen.
– Da bin ich mir nicht so sicher. – Diese Forschungs-gGmbHs erwirtschaften Beträge, die ähnlich wie bei denFraunhofer-Instituten sehr hoch sind; aber sie werdennicht gleichermaßen kontinuierlich gefördert. Deshalbist es aus unserer Sicht notwendig, im Zusammenhangmit dieser Programmlinie darüber nachzudenken, dieseebenso kontinuierlich zu fördern wie andere außeruni-versitäre Forschungseinrichtungen.Fazit: Es ist positiv, dass es eine solche zentrale Pro-grammlinie gibt. Für kleine und mittelständische Unter-nehmen werden Verbesserungen erreicht. Wir müssenaber aus den Erfahrungen lernen. Dazu gehört, die unter-schiedlichen Zugangsmöglichkeiten, die unterschiedli-chen Voraussetzungen der Mittelständler in den Regionenin Rechnung zu stellen. Dann besteht die Möglichkeit,einen Strukturwandel zu erreichen und damit am EndeArbeitsplätze und letztlich – ich komme auf Herrn Rie-senhuber zurück – Steuern zu generieren.Danke schön.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Kerstin Andreae das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Bevor ich auf die Inhalte des Antrags eingehe,möchte ich kurz sagen: Es hat uns sehr enttäuscht, dasswir im Wirtschaftsausschuss über die Angelegenheitnicht debattieren konnten.
Uns wurde erzählt, es gebe einen Fragenkatalog derFDP. Dem Protokoll der Wirtschaftsausschusssitzung istzu entnehmen:Die Parlamentarische Staatssekretärin Wöhrl hatzugesichert, aufgrund der vorangeschrittenen Zeitdie schriftlich ausgearbeiteten Antworten den Aus-schussmitgliedern im Laufe des Tages per E-Mailzuzusenden.Das war gestern. Es ist nicht geschehen. Wir musstenheute extra nachfragen, damit wir die Antworten bekom-men.Ich bitte, dass das abgesprochene Verfahren eingehal-ten wird. Wir haben ein Recht auf die Antworten aufdiese Fragen. Es ist notwendig, dass wir sie bekommen,damit wir eine ausführliche, sinnvolle Debatte führenkönnen.
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Kerstin Andreae
Ich möchte jetzt einige Punkte zu den Inhalten desAntrags sagen. Ich stimme mit Ihnen darin überein, dasses wichtig ist, hier Bürokratieabbau zu betreiben. Siewollen die Programme zusammenfassen. Das ist gut; eswird einfacher. Der Antrag ist aber noch sehr unkonkretund kommt blass daher. Es gibt viele Möglichkeiten, imBereich der KMU Forschungs- und Technologieförde-rung zu betreiben. Sie müssen aber viel dezidierter undklarer äußern, was Sie denn wollen und in welche Rich-tung Ihre politische Arbeit geht. Das wäre sehr wichtig.Ein Beispiel: Unternehmensteuerreform und Wagnis-kapital. Der erste Entwurf zum Venture Capital war eintotaler Rohrkrepierer. Er wurde in der Anhörung von denSachverständigen auseinandergenommen.
– Das Urteil war sogar vernichtend. – Jetzt haben Sie ei-nen neuen Entwurf angekündigt. Meines Wissens hätteer vor der Sommerpause verabschiedet werden sollen.Das werden wir jetzt nicht mehr wirklich schaffen. ImÜbrigen ist meine Prognose, dass wir es in dieser Legis-laturperiode überhaupt nicht mehr schaffen werden, dieProgramme zum Venture Capital auf neue Beine zu stel-len.
Zweites Thema: Forschungsprämie. Sie haben dieForschungsprämie eingeführt. Das ist eine gute Sache;wir finden das richtig. Es geht darum, die Zusammen-arbeit zwischen KMU und Hochschulen zu fördern. Un-tersuchen Sie aber einmal, warum nur 20 Prozent derMittel überhaupt abgefragt wurden. Wenn Sie solcheProgramme auflegen und solche Prämien einführen,müssen Sie doch auch schauen, was mit den Mitteln pas-siert. Warum liegen 80 Prozent der Mittel brach? Warumwerden sie nicht genutzt? Solcher Fragen müssen Siesich annehmen.Mein drittes Thema – auch hier finde ich Ihr Vorge-hen viel zu unambitioniert –: Klimaschutz, Umwelttech-nologien und effiziente Technologien. Wir haben schonim Zusammenhang mit der Hightech-Strategie ange-mahnt, dass ein Leitbild „nachhaltiges Wirtschaften“fehlt. Sie hätten die Möglichkeit gehabt, eine politischeAusrichtung der Technologieförderung und -forschungvorzunehmen. Wir brauchen wesentlich stärkere An-strengungen in den Bereichen Effizienztechnologien, er-neuerbare Energien und Einsparpotenziale.Ich gebe zu, dass Sie im Haushalt mehr Mittel fürKlima- und Energieforschung bereitgestellt haben. Siemüssen aber auch deutlich mehr Marktanreizprogrammeauflegen, damit die Forschungsergebnisse als Produktebzw. Produktionsprozesse in den Markt überführt wer-den können. Das ist es, was wir brauchen, was Sie abernicht machen. Die Klimapolitik der Bundesregierung be-steht nur aus schönen Worten. Da steckt nicht viel hinter.Morgen führen wir eine lange Debatte über das Klima-paket, über das IKEP. Da steckt nicht viel hinter, wasMarktanreizprogramme oder die Schaffung von Märktenangeht, damit das, was erforscht wird, auch tatsächlicheinmal auf dem Markt angeboten werden kann. Wirmüssen marktreife Produkte entwickeln und Anreizpro-gramme schaffen, sonst sind die meisten Mittel im For-schungsbereich nutzlos.
Viertes Thema: IT. Es gab einen IT-Gipfel. Es bestanddie große Hoffnung, dass die Bundeskanzlerin auf die-sem IT-Gipfel ankündigt, dass die Einkommensschwellefür ausländische Fachkräfte gesenkt wird, weil sie zuhoch ist. Ich werde nicht müde, es zu sagen: Wenn Sieverlangen, dass eine ausländische Fachkraft aus demNicht-EU-Ausland in Deutschland ein Einkommen von85 000 Euro pro Jahr nachweist, dann werden Sie dieseKraft nicht bekommen.
Sie stehen einer Fortentwicklung in den Bereichen Tech-nologieentwicklung, Forschung und Innovation, in de-nen wir auf das Know-how von anderen angewiesensind, im Weg, weil Sie eine diesbezügliche Änderungnicht herbeigeführt haben. Das war eine Riesenenttäu-schung auf dem IT-Gipfel. Wenn Sie wenigstens solcheMaßnahmen umsetzen würden, wären wir schon deut-lich weiter.Fazit: Das ist ein oberflächlicher, blasser Antrag, dermehr Fragen aufwirft, als er Antworten liefert.
Statt den Kritikpunkten, die im Übrigen auch von der ei-genen Expertenkommission geäußert wurden, nachzuge-hen, verzetteln Sie sich in Prosa. Auch im Wirtschafts-ausschuss fand keine Debatte darüber statt. Da wir es imPrinzip sinnvoll finden, dass Sie die Programme zusam-menfassen, werden wir uns bei der Abstimmung heuteenthalten.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antragder Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem Ti-tel „Das neue Zentrale Innovationsprogramm Mittel-stand ZIM optimal ausgestalten und konsolidierungs-konform finanzieren“. Der Ausschuss empfiehlt in
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Vizepräsidentin Petra Pauseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9471,den Antrag der Fraktion der CDU/CSU und der SPD aufDrucksache 16/8905 anzunehmen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion beiEnthaltung der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linkeund der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten VolkerBeck , Marieluise Beck (Bremen), Alexan-der Bonde, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEine kohärente und konsistente Menschen-rechtspolitik gegenüber China entwickeln– Drucksache 16/9422 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungb) Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenVolker Beck , Winfried Hermann, MarieluiseBeck , weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMenschenrechtslage im Vorfeld der Olympi-schen Sommerspiele 2008 in Beijing– Drucksachen 16/6175, 16/7273 –Zu der Großen Anfrage liegt ein Entschließungs-antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhaltensoll. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist sobeschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeVolker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Wenn wir gegenwär-tig nach China schauen, dann bewegt uns alle, glaubeich, hier in Deutschland wie in Europa die schwierige Si-tuation, in der sich die chinesische Volksrepublik auf-grund der Folgen des Erdbebens befindet. Wir versi-chern der Volksrepublik China all unsere Solidarität undUnterstützung für das chinesische Volk zur Bewältigungder schweren Folgen dieser Katastrophe.
Ich denke, es ist ein gutes Zeichen, dass die chinesischeRegierung gesagt hat, dass sie Hilfe aus dem Auslandannimmt. Denn kein Volk dieser Welt kann die Folgensolcher Naturkatastrophen allein und ohne die Unterstüt-zung der Völkergemeinschaft bewältigen.Wir haben uns als Fraktion schon im letzten Jahr mitder Menschenrechtslage in China verstärkt beschäftigt,weil wir gesagt haben: Wir müssen beobachten, wie sichdie Situation im Vorfeld der Olympiade entwickelt. DieHoffnungen und Erwartungen aufgrund der Vergabe derOlympischen Spiele an Peking waren groß. Wir habenfeststellen müssen: Die Hoffnungen haben sich in denletzten Wochen und Monaten leider nicht erfüllt. Überanderthalb Millionen Menschen sind im Zusammenhangmit der Errichtung der olympischen Stätten enteignetworden, viele davon ohne jegliche Entschädigung undunter Anwendung von Zwang.Wir haben in den letzten Wochen und Monaten aucherlebt, dass nicht nur in Tibet, sondern auch in Zentral-china alle Kritik durch eine Verschärfung der Repressio-nen gegen politische Dissidenten und gegen religiöseund kulturelle Minderheiten niedergedrückt wird. Dashaben wir eigentlich nicht erwartet. Deshalb hoffe ich,dass heute mit der Zustimmung zu unserem Entschlie-ßungsantrag ein einheitliches Signal des Deutschen Bun-destages ausgeht. Wir bitten die Bundesregierung, diechinesische Regierung aufzufordern, alle politischen Ge-fangenen bis zum Beginn der Olympiade in China frei-zulassen. Ich hoffe, dass wir in dieser Frage im Hausegroßer Einheit haben.
Bezüglich des Applauses muss man in der Debatte viel-leicht noch etwas nacharbeiten.
Ich glaube, wir sollten hier nicht auseinanderfallen,wenn es um eine klare Sprache zur Verteidigung derMenschenrechte geht. Dass das Haus, insbesondere dieBundesregierung, bei der Chinapolitik ständig auseinan-derfällt, ist eine Malaise. Wir haben das an den Diskus-sionen im Zusammenhang mit dem Besuch des Dalai-Lama bei Angela Merkel und auch beim letzten Besuchdes Dalai-Lama hier im Deutschen Bundestag erlebt.Mit dieser Art von Politik dient man weder den Men-schenrechten noch den außenpolitischen Beziehungenzur Volksrepublik China. Wir brauchen eine konsistenteMenschenrechtspolitik, die sich nicht in Symbole flüch-tet, sondern eine klare Linie hat, auf Gespräche und Dia-log setzt und eine klare Sprache im Dialog findet. In un-serem Antrag haben wir Vorschläge zu den Punkten,über die es hier zu reden gilt, gemacht.Im Antrag werden die entscheidenden Punkte ge-nannt. Wir müssen zum Beispiel mit den Chinesen imDialog über die Todesstrafe weiterkommen. Da habenwir erste Erfolge erzielt. Es ist ganz wichtig, dass wirdiese Erfolge gegenüber den chinesischen Partnern beto-nen. Die chinesische Volksrepublik hat mit ihrer neuenGesetzgebung eine Reduzierung der Zahl der Vollstrek-kungen der Todesstrafe bewirkt. Das ist gut. Aber damiterfüllt sie weder unsere Hoffnung auf eine völlige Ab-schaffung noch unsere Vorstellungen von den Mindest-standards, die der Zivilpakt von den Staaten verlangt.Die chinesische Volksrepublik hat mit der Wahl zum
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Volker Beck
Menschenrechtsrat versprochen, den Zivilpakt zu unter-zeichnen. Auch das hat sie bis heute nicht vollzogen.Wenn sie ihn ratifizieren würde, müsste sie Veränderun-gen vornehmen und nur noch bei schweren Verbrechendie Todesstrafe verhängen. Vielleicht entscheidet sie sichdann auch aufgrund von Dialogen mit uns, aber auch mitLändern wie den USA – auch dort gibt es noch die To-desstrafe – für die Abschaffung der Todesstrafe.
Ich glaube, es gibt keine Alternative zum Dialog mitChina. Wir brauchen China bei der Lösung von men-schenrechtlichen Konfliktfeldern wie zum Beispiel beimKonflikt in Darfur. Wir brauchen China auch bei der Be-wältigung der verheerenden Situation in Birma, wo dieMenschen Opfer einer Naturkatastrophe geworden sindund ein Regime so kaltschnäuzig und diktatorisch ist,dass es internationale Hilfe behindert, statt den Men-schen zu helfen. Ich finde, die Chinesen könnten daraufverweisen, wie sie mit den Folgen des Erdbebens umge-hen; das könnte ein Vorbild für Birma sein.
Ein letztes Wort, da dies unmittelbar die Beziehungendes Deutschen Bundestages zur Volksrepublik China be-trifft. Die chinesische Volksrepublik hat es für richtig be-funden, den Menschenrechtsausschuss vor seinem Be-such in der nächsten Woche zum zweiten Mal auszuladen.Wir haben heute im Ältestenrat darüber gesprochen undgesagt: Wir protestieren dagegen, und wir erwarten vonden Chinesen, dass sie im Rahmen des Menschenrechts-dialogs auch mit dem Menschenrechtsausschuss desDeutschen Bundestages in Gespräche eintreten und dasswir in der nächsten Zeit eine definitive Einladung erhal-ten.Dass die Chinesen allein vor dem Wort Menschen-rechte Angst haben, kann man an einer Mail sehen, diemich von einer Bürgerin erreicht hat.
Herr Kollege Beck!
Noch einen Satz, Frau Präsidentin. Sie erinnern sich
vielleicht: Ich hatte in meiner Rede zur Tibet-Debatte
dieses T-Shirt hochgehalten.
Bürgerinnen und Bürger haben es bestellt. Eine Bürgerin
der Bundesrepublik Deutschland ist damit nach Peking
auf den Platz des Himmlischen Friedens gereist. Ihre ge-
samte Reisegruppe wurde festgehalten. Erst nach einer
Befragung durch die Polizei und nach der Bedeckung
des T-Shirts haben die Chinesen die Leute weiterlaufen
lassen. Das ist kein gutes Signal für die Olympiade. Ich
hoffe, dass die Chinesen, die Mitglied des Menschen-
rechtsrats sind, keine Angst mehr vor dem Wort Men-
schenrechte haben und es dulden, wenn Bürgerinnen und
Bürger sich weltweit – auch in China – für die Men-
schenrechte einsetzen.
Kollege Beck, ich bitte Sie jetzt wirklich um Ihren
letzten Satz.
Vielen Dank für Ihre Geduld, Frau Präsidentin. Die
Menschenrechte brauchen manchmal ein paar Worte
mehr. Das sollten sie uns wert sein.
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Holger
Haibach das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass dieMenschenrechte uns einiges wert sind, sieht man auchdaran, dass Herr Beck fünf Minuten Redezeit bekommenhat. Offensichtlich hat er das etwas falsch verstanden.Ich hatte den Eindruck, er meinte, sieben Minuten zurVerfügung zu haben. Zumindest hat er sich so lange aus-gelassen.Der Anlass ist wichtig. Die Beantwortung der GroßenAnfrage, für die ich der Bundesregierung danke, ist deut-lich und zeigt die Defizite auf, die Kollege Beck hierauch genannt hat. Ich finde, es lohnt sich aber, sich ge-nauer mit dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen aus-einanderzusetzen, der uns heute vorliegt. Ich würde dasgern anhand von zwei Leitfragen tun. Die erste Leitfragelautet: Stimmt das, was in diesem Antrag steht? Diezweite Leitfrage lautet: Ist das wirklich etwas Neues?Wir sollten uns hier eigentlich nur dann mit Themen be-schäftigen, wenn wir erkennbare Veränderungen sehenoder wenn wir an der einen oder anderen Stelle erkenn-bare Fortschritte sehen. Wenn ich mir diesen Antrag an-schaue, dann habe ich da Zweifel.
– Ich weiß, dass dies ein Dauerthema ist, Frau Kollegin,aber auch Dauerthemen werden dadurch, dass man sieimmer wieder neu zusammenfasst, nicht besser. Sie wer-den vor allem nicht entschieden besser.Zu Beginn Ihres Antrags heißt es, die Bundesregie-rung sei in der Frage, wie man mit China in der Zukunftumgehen solle, gespalten; im Übrigen verlören die Bun-desregierung und die Koalition sich in Symbolpolitik.Dazu muss ich sagen: Hier können Sie auf Ihre eigeneRegierungszeit verweisen. Ich bin immer wieder über-rascht darüber, wie schnell Sie sich in die Oppositionverabschiedet haben. Ich kann mich daran erinnern, dasses auch unter Rot-Grün solche Diskussionen gegebenhat, nämlich als es um die Frage eines Waffenembargosging. Trotzdem haben Sie hier im Bundestag als Koali-tionsfraktion abgestimmt. Es mag sein, dass wir an dereinen oder anderen Stelle unterschiedlicher Meinung
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Holger Haibachsind, lieber Herr Kollege Beck, aber tun Sie nicht so, alssei das etwas Besonderes. Akzeptieren Sie es als das,was es ist, nämlich ein Meinungsstreit in der Demokra-tie.
Kollege Haibach, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Beck?
Mit großer Freude.
Da Sie einige Erinnerungslücken aufgewiesen haben,
frage ich Sie: Sind Sie dann, wenn ich Ihrer Erinnerung
nachhelfe, bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir in
der Frage des Waffenembargos zwar eine Diskussion
hatten, dass wir in unserer Fraktion aber keine Verände-
rung der Position hatten und dass wir während unserer
Regierungszeit im Ergebnis weiterhin für die Beibehal-
tung des Waffenembargos gegenüber China waren?
Sehr geehrter Herr Kollege Beck, das habe ich nie be-stritten. Ich habe nur darauf hingewiesen, dass es inner-halb der Koalition vielleicht unterschiedliche Meinun-gen zu diesem Thema gegeben haben könnte.
Das ist etwas, was wir in Demokratien des Öfteren erle-ben. Ich finde, man muss an einer Stelle, an der keineSymboldebatte existiert, auch keine eröffnen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn maneinmal das ganze Brimborium beiseite schiebt, muss mansagen: Jeder von uns kann seine eigene Meinung haben.An dieser Stelle möchte ich auf eines hinweisen: Wir ha-ben begrüßt, dass Frau Merkel den Dalai-Lama empfan-gen hat, und vielleicht hatten wir an der einen oder ande-ren Stelle eine andere Meinung als Sie. Das bedeutet abernicht, dass wir nicht der Meinung sind, konstruktive Ge-spräche, Kompromisse und Dialoge seien notwendig. Al-lerdings denke ich, man kann das eine tun, ohne das an-dere zu lassen. Wir sollten daraus keinen Glaubenskriegmachen. Denn es ist wichtig, dass wir insgesamt voran-kommen. Das werden wir aber nur schaffen, wenn wiralle Mittel, die uns zur Verfügung stehen, gleichermaßeneinsetzen.
In Ihrem Antrag steht – auch das hat mich sehr über-rascht –, dass wir China jetzt loben und keine Symbolpo-litik betreiben sollten. Ich möchte daran erinnern, dassKollege Trittin, der der heutigen Debatte auch beiwohnt,damals ausdrücklich gelobt hat, dass Frau Merkel denDalai-Lama empfangen hat. Er sagte, das sei eine rich-tige Maßnahme. Ich finde, man kann nicht in der Ver-gangenheit das eine getan haben und heute das genaueGegenteil in einen Antrag schreiben. Auch das ist letzt-lich nicht gerade glaubwürdig.Man muss überlegen: Wo besteht in dieser Angele-genheit eigentlich die Kohärenz? Wenn man Ihren An-trag, in dem viel Richtiges steht – das will ich überhauptnicht bestreiten; darum geht es aber nicht –, liest, dannmuss man feststellen: Man findet darin nichts, was wirnicht schon an anderer Stelle gefordert bzw. schriftlichniedergelegt haben.
Weil ich wusste, dass wir uns heute mit diesemThema beschäftigen, habe ich mir das ein bisschen ge-nauer angesehen. Sie erheben in Ihrem Antrag zum Bei-spiel die Forderung nach Zugang zu den Haftanstaltenund Lagern; hier verweise ich Sie auf unseren gemeinsa-men Antrag zur Verurteilung der Laogai-Lager. Außer-dem fordern Sie eine Reform der Gefängnisse und derHaftlager; auch an dieser Stelle verweise ich Sie auf un-seren Antrag zu den Laogai-Lagern. Falls Sie mir nichtglauben: Ich habe alle Anträge mitgebracht und kann sieIhnen gerne zeigen.
Zur Presse- und Meinungsfreiheit gibt es ebenfalls einenAntrag der Koalition, und auch mit dem Thema Tibet ha-ben wir uns nicht nur einmal beschäftigt; hoffentlichwerden wir uns vor der Sommerpause noch einmal damitbefassen.Das macht das, was in Ihrem Antrag steht, nichtfalsch. Nichtsdestoweniger muss ich sagen: Auf der ei-nen Seite fordern Sie eine kohärente Außenpolitik undeine kohärente Menschenrechtspolitik ein. Auf der ande-ren Seite wiederholen Sie aber nur das, was ohnehinschon „common sense“ bzw. gemeinsame Ansicht diesesHauses ist.
Das ist wirklich nicht besonders originell. Ich finde, dassSie sich sehr überschätzen, wenn Sie sagen, Ihr Antragsei besonders toll.Sie haben recht, dass es einer differenzierten Betrach-tung der Menschenrechtssituation in China bedarf.Heute ist China sicherlich ein anderes Land als vor 25oder 30 Jahren;
das ist gar keine Frage. Heute gibt es dort gewisse Frei-heiten, die man früher mit Sicherheit nicht hatte. Aberdie Defizite sind weiterhin klar erkennbar.Ich stimme Ihnen auch zu, dass die Hoffnungen, diemit der Vergabe der Olympischen Spiele an China ver-bunden waren, nicht erfüllt wurden. Über dieses Thema
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Holger Haibachhaben wir schon einmal in einer Aktuellen Stunde ge-sprochen. Ich möchte aber deutlich machen: Hier sindauch die internationalen Sportverbände gefordert. Wersich auf der einen Seite dafür einsetzt, dass die Olympi-schen Spiele in China stattfinden, der muss auf der ande-ren Seite auch kontrollieren, ob dort Fortschritte ge-macht werden
und darf nicht einfach sagen: Die Spiele sind unpoli-tisch. – Die Olympischen Spiele waren nie unpolitisch.Es ist heuchlerisch, wenn man das behauptet.
Wahr ist auch, dass wir China als internationalen Part-ner in der Menschenrechtspolitik, aber auch in der Au-ßenpolitik brauchen; das ist gar keine Frage. Bei den Er-eignissen in Birma, aber auch, als es um NordkoreasAtomprogramm ging, haben wir erlebt, was erreichtwerden kann, wenn sich China zu einer konstruktivenHaltung bereiterklärt. Wir würden uns wünschen, dassdas viel öfter geschieht. Ich will nur daran erinnern:Wenn die Chinesen keinen Druck auf Nordkorea ausge-übt hätten, hätte in diesem Konflikt wahrscheinlichkeine Einigung erzielt werden können. Daran wird deut-lich, dass wir die Chinesen brauchen.Uns allen muss völlig klar sein, dass wir unsere men-schenrechtlichen Standards nicht senken dürfen. Siemüssen weiterhin gelten, gegenüber China und gegen-über allen anderen Staaten. Das bedeutet aber auch: Wirmüssen so miteinander umgehen, dass wir uns in Zu-kunft noch ins Gesicht schauen können.Ich möchte noch eine letzte Bemerkung machen – dennwir diskutieren heute auch über einen Entschließungs-antrag –: Ich glaube, jeder von uns würde sich wünschen,dass die chinesische Regierung noch vor den Olympi-schen Spielen alle politischen Gefangenen entlässt.
Aber wer würde sich nicht wünschen, dass es keine Ver-treibungen mehr gibt? Wer würde sich nicht wünschen,dass es Verhaftungen wegen der Religion nicht mehrgibt? Wer würde sich nicht wünschen, dass es Verhaftun-gen von Journalisten nicht mehr gibt, dass es Presse- undMeinungsfreiheit gibt? Wer würde sich nicht wünschen,dass es keine Internetzensur mehr gibt?
Ich könnte Ihnen fünfundzwanzig, dreißig, vierzig The-men aufzählen, die man in einen Entschließungsantragaufnehmen kann. Nur, man muss sich fragen, ob das dieMethode der Wahl ist.Nichtsdestoweniger will ich einräumen, dass dies einwichtiges Thema ist. Jenseits des Antrags und der Gro-ßen Anfrage der Grünen ist es für mich wichtig, dass wirmit dieser Debatte an die Herrscher in China das Signalsenden, dass die Menschenrechte nicht etwas sind, wasman gewähren kann oder eben nicht. Ich komme deshalbdarauf, weil, als Herr Medwedew kürzlich zum Staatsbe-such in Peking war, es zu einem gemeinsamen Kommu-niqué von Herrn Medwedew und der chinesischen Seitegekommen ist. Die Neue Zürcher Zeitung hat dies am24. Mai 2008 wie folgt kommentiert und dabei aus die-ser Erklärung zitiert:Auch gegen westliche Menschenrechtskritik weh-ren sich Russland und China gleichermassen. Men-schenrechte sollten nicht politisiert werden oder alsVorwand dienen, sich in die inneren Angelegenhei-ten anderer Länder einzumischen, hiess es in dergemeinsamen Erklärung. Jeder Staat habe dasRecht, die Menschenrechte „auf der Grundlage sei-ner eigenen Bedingungen und Eigenschaften zu er-mutigen und zu schützen“.Diese Einstellung ist falsch. Die Menschenrechte sindnicht etwas, was jemandem zuerkannt werden könnte,die Menschenrechte hat jeder Mensch von Geburt an.Wenn wir einen grundsätzlichen Beitrag zur Achtung derMenschenrechte leisten wollen, müssen wir dafür sor-gen, dass dieser Gedanke in China und auch sonst woauf der Welt Einzug hält.Herzlichen Dank.
Das Wort für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege
Florian Toncar.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich möchte zum Ausdruck bringen, dasswir alle hier angesichts der furchtbaren Erdbebenkata-strophe mit dem chinesischen Volk fühlen, und unserBeileid aussprechen.
Wir wollen aber auch darauf hinweisen, dass dasnicht genügt. Wir wünschen uns, dass Deutschland, woes kann, schnell und effektiv Hilfe leistet. Im Erdbeben-gebiet in China sind derzeit schätzungsweise 5 Millio-nen Menschen obdachlos, und das wird sich bis zumWinter wahrscheinlich nicht wesentlich ändern. Die chi-nesische Zeltproduktion läuft auf Hochtouren; aber es istunmöglich, dass China aus eigener Kraft in kürzesterZeit Zelte für 5 Millionen Menschen herstellt. Herr Staats-minister, ich glaube, dass die 900 Zelte, die das Auswär-tige Amt bzw. die Bundeswehr zur Verfügung gestellthat, nicht alles sind, was wir tun können. Wir Freien De-mokraten wünschen uns, dass mehr getan wird.
Der Umgang der Behörden und der Medien mit demErdbeben hat, wie wir wahrnehmen konnten, eine neueQualität angenommen. Erstmals ist der Wert des einzel-
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Florian Toncarnen Menschenlebens öffentlich anerkannt und dokumen-tiert worden: Die Regierung hat Anteilnahme am Schick-sal einzelner Familien gezeigt, die Medien konntenvergleichsweise offen berichten. Das sind Dinge, die unsMut machen. Die chinesische Führung hat offensichtlichverstanden, dass Transparenz wertvoll und den chinesi-schen Interessen dienlich ist.Das ist das Bindeglied zur Menschenrechtspolitik, esist die Voraussetzung dafür, dass wir China gegenüberdeutlich machen können, dass Öffnung, dass selbststän-dig, eigenständig denkende Menschen nicht etwa Stabi-lität kosten, sondern Stabilität und Fortschritt bringen.Dieser Paradigmenwechsel ist das Entscheidende in un-serem Verhältnis zu China.
Deswegen bin ich ein Anhänger des Konzepts derEinbindung Chinas in internationale Verantwortung, derZusammenarbeit und des direkten Dialogs. Man musssich nur die Situation in Birma oder in Nordkorea an-schauen, um zu sehen, was in völlig abgeschotteten Län-dern die Realität ist. In den Gesprächen mit China müs-sen Gemeinsames und Trennendes offen erörtert werdenkönnen, ohne Übertreibungen, aber genauso wenig ohneBeschönigung der Situation.Der Antrag der Grünen trifft diesen Duktus weitge-hend. Er wird den Fortschritten Chinas im Menschen-rechtsbereich gerecht; genauso wird zu Recht auf dieweiterhin bestehenden massiven Probleme in einzelnenBereichen hingewiesen. Ich glaube, das ist die richtigeLinie.
Es ist vollmundig, wenn der Bundesregierung Kon-zeptlosigkeit vorgeworfen wird. Aber ich bin da nicht sozurückhaltend wie der Kollege Haibach. Was hat sichhier vor drei Jahren abgespielt, als über eine Aufhebungdes Waffenembargos diskutiert worden ist: Nicht nurBundeskanzler Gerhard Schröder, auch AußenministerJoschka Fischer haben an diesem Pult die Meinung ver-treten – ich habe das im Protokoll nachgelesen –, es seider Integration der Volksrepublik China in die Weltge-meinschaft dienlich, das Waffenembargo fallen zu las-sen. Diese Einstellung ist verkehrt und bestimmt keinAusdruck konzeptioneller Klarheit.
– Herr Kollege Beck, ich verstehe, dass Sie das trifft.
Die heutige Bundesregierung hat ebenfalls kein Kon-zept für eine stimmige Menschenrechtspolitik gegenüberder Volksrepublik China. Das gilt insbesondere für dasVerhältnis zwischen der Bundeskanzlerin und dem Au-ßenminister, die das alles ja offen austragen. Eine Rol-lenverteilung, bei der die eine für die publikumswirksa-men Auftritte und der andere für die stille Diplomatiezuständig ist, ist schlecht. Diese Rollenverteilung hilftuns nicht; sie ist unglücklich und schadet deutschen Inte-ressen.
Wir brauchen ausdrücklich auch gegenüber Staatenwie China, bei denen wir diese Defizite sehen, öffentli-che Signale. In Deutschland gelten die Regeln offenerGesellschaften. Diejenigen, die zum Beispiel sagen, dassGespräche mit dem Dalai-Lama eine Gefahr für die Sta-bilität Chinas seien, haben aus meiner Sicht eine über-kommene Vorstellung von Stabilität. Sie führen geradekeinen Dialog auf Augenhöhe, sondern passen sich vonvornherein chinesischen Erwartungen an und müssensich schlussendlich fragen lassen, was wir denn tun sol-len, wenn wir keine Gespräche führen sollen. Ich glaube,dass wir öffentliche Signale brauchen.
Letztendlich ist es aber eine schiere Selbstverständ-lichkeit, dass solche auch öffentlichkeitswirksamenTreffen und Termine die Diplomatie, vertrauliche Ge-spräche und den Rechtsstaats- und Menschenrechtsdia-log, der ein wirklich gelungenes Instrument ist, nicht er-setzen können. Es ist völlig klar, dass beides miteinandereinhergehen muss.Aus meiner Sicht hat sich der Bundesaußenministerdeshalb unnötigerweise in einen menschenrechtspoliti-schen Hungerturm zurückgezogen, aus dem er jetzt – viel-leicht auch aus Gründen verletzten Stolzes – nicht mehrso leicht herauskommt. Das sagt nicht nur einiges überdas Verhältnis zwischen der Kanzlerin und dem Außen-minister, sondern auch über den Zustand der Koalitioninsgesamt aus.
Liebe Koalition, liebe Grünen, um noch auf diesenPunkt einzugehen: Ich finde das, was Sie aufgeschriebenhaben, in weiten Teilen zustimmungsfähig. Beim Streitüber die Menschenrechtspolitik ist entscheidend, wo-rüber wir genau streiten; denn wir streiten ja nicht überdie Geltung von Menschenrechten, sondern wir streitenhier politisch darüber, wie man Menschenrechten mög-lichst effektiv zur Durchsetzung und Förderung verhilft.Ich glaube, dass es in einem Land wie Deutschlandselbstverständlich ist, dass man auch darüber streitendarf. Streit ist etwas Normales, und ich finde, dass ernoch wichtiger ist, als Pluralismus zu fordern.
Kollege Toncar, achten Sie bitte auf die Zeit.
Frau Präsidentin, jetzt hätten Sie fast meinen Schluss-satz unterbrochen.
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Florian ToncarIch komme sofort zum Ende. Es war einer der letztenSätze.Noch wichtiger, als Pluralismus zu fordern, ist es ausmeiner Sicht, ihn vorzuleben. Das schwächt unsere Posi-tion in Deutschland auch nicht, sondern das verschafftuns zusätzliche Glaubwürdigkeit. Insofern wünsche ichmir auch über Menschenrechtsthemen einen konstrukti-ven und sinnvollen Streit.
Die Kollegin Herta Däubler-Gmelin hat jetzt für die
SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Herr Toncar, ich stimme Ihnen voll und ganz zu:Diskussion und Streit sind in der Tat die Lebenselementejedes Parlaments.
Dass man sich manchmal wünschen würde, der Anlasswäre dem angemessen, gehört freilich auch dazu.Wenn ich mir vor Augen führe, wie häufig und woüberall wir uns mit China, der Politik der Bundesregie-rung oder auch dieses Parlaments gegenüber China, denMenschenrechten oder auch den Olympischen Spielenbeschäftigt haben, dann weiß ich nicht so recht, ob wirhier heute eigentlich mehr als nur künstliche Gegensätzehaben. Ich sage das hier ganz offen, weil wir uns sehrhäufig mit diesen Fragen auseinandergesetzt haben.Weil viele unserer Zuschauerinnen und Zuhörer dasgar nicht wissen können, darf ich noch einmal daran er-innern: Bereits im Januar hat der Menschenrechtsaus-schuss zusammen mit dem Sportausschuss eine sehr guteAnhörung durchgeführt, bei der es um Menschenrechte,die Olympischen Spiele und im Speziellen übrigens auchum das Selbstverständnis des Sports und um den Teil derOlympischen Charta ging, der sich mit Menschenrechtenbefasst.An dieser Anhörung haben Sportlerinnen und Sport-ler, Vertreter des Deutschen Olympischen Komitees unddes Deutschen Olympischen Sportbunds, Journalistenmit sehr langer China-Erfahrung und Vertreterinnen undVertreter der Menschenrechtsorganisationen teilgenom-men. Wie es bei uns Brauch ist, haben alle FraktionenAnhörungspersonen und Experten benennen können.Die Statements bei dieser Anhörung waren durchwegnicht sehr unterschiedlich und vor allen Dingen nicht soschrill, wie es der eine oder andere Beitrag heute hiervermuten lässt.
Es war eine inhaltlich interessante Anhörung, weilwir die Zeit hatten, die unterschiedlichen Gesichtspunkteund Aspekte breit zur Sprache zu bringen. Wir haben unsnicht nur auf die Befürchtungen oder das fokussiert, wasder eine oder andere gerade in den Medien gesehenhatte, sondern es war uns möglich – das macht eben dasganze Bild aus –, auch die Fortschritte in China zu se-hen. Eine Darstellung dieser Fortschritte finden Sie übri-gens ebenfalls in der Antwort auf Ihre Große Anfrage.Ich greife einige heraus, die man einfach zur Kenntnisnehmen muss:Dass in jedem Jahr zwischen 9 und 10 Millionenjunge Leute in China von den Universitäten kommen, istein Potenzial für das Selbstverständnis, für das wach-sende Selbstbewusstsein, für die Veränderung einer Ge-sellschaft hin zu mehr Menschenrechten und mehr Men-schenrechtsschutz. Hier sehe ich eine große Chance,durch Gespräche die ganz praktische Umsetzung derMenschenrechte zu unterstützen. In diesem Punktstimme ich Ihnen ausdrücklich zu, lieber Herr Toncar.
In den letzten Jahren – ich bin dankbar, dass auch dieszur Kenntnis genommen wird – hat es bei allen Mängelnund bei allem, was uns stört und was wir selbstverständ-lich kritisieren, mehr Meinungsfreiheit, Bewegungsfrei-heit sowie Vertrauens- und Eigentumsschutz gegeben.Übrigens lohnt es sich, beides, die Mängel, die wir kriti-sieren, und die Fortschritte, zur Kenntnis zu nehmen,weil es zeigt, dass unsere Menschenrechtsarbeit – ichsage es einmal etwas weniger ambitioniert: dass auchunsere Menschenrechtsarbeit – tatsächlich Erfolge zei-tigt. Darauf sollten wir stolz sein. Hier kann man nichtnur das Parlament, sondern auch die Bundesregierungloben.
Ob man jetzt den einen oder die andere mehr oder weni-ger mag, hat damit eigentlich gar nichts zu tun.Ich gebe an dieser Stelle noch einmal den Rat, dieMaterialien zu dieser Anhörung nachzulesen. Sie stehender Öffentlichkeit zur Verfügung und können auf der In-ternetseite des Menschenrechtsausschusses des Deut-schen Bundestages in voller Länge abgerufen werden.Ich halte es für sehr gut, dass Herr Beck und HerrToncar ebenso wie Herr Haibach – ich tue es jetzt auch –auf die schreckliche Zeit, die die Menschen in Sichuandurchmachen, auf die enormen Probleme, die sich dortgestellt haben, und auf die unglaublich tolle Hilfsarbeitder Organisationen in China und bei uns hingewiesenhaben. Dass die Unterbringung dieser vielen MillionenObdachloser in Zelten nicht möglich ist, weil es auf dergesamten Welt nicht so viele Zelte gibt, wie allein in Si-chuan gebraucht würden, ändert daran nichts. Ich jeden-falls bin dem Roten Kreuz in China, den Helferinnenund Helfern in China, aber auch den Helferinnen undHelfern bei uns in Europa und überall in der Welt für ih-ren Einsatz ausgesprochen dankbar.
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Dr. Herta Däubler-GmelinFolgenden Gesichtspunkt, der hier auch schon er-wähnt worden ist, muss man deutlich unterstreichen: Diechinesischen Medien haben von Anfang bis Ende berich-tet; sie berichten auch heute noch sehr stark. Der Fokusder Berichterstattung zielte eindeutig weniger darauf ab,die Taten der Regierung ins Bild zu rücken, als darauf,das Leiden der Menschen und vor allem den Wert einesjeden einzelnen Menschenlebens und den Kampf um je-des einzelne Menschenleben abzubilden.
Wir haben hier also nicht nur Lob im Vergleich zu denschrecklichen Verhältnissen in Myanmar auszusprechen,sondern können auch zur Kenntnis nehmen, wie dieHilfsbereitschaft und der veränderte Fokus eine Gesell-schaft zum Guten verändern.Manchmal habe ich den Eindruck, wir sollten im Ple-num daran erinnern, dass sich der Menschenrechtsaus-schuss, der sich mit der Umsetzung der Menschenrechteund vor allem mit dabei vorhandenen Mängeln befasst,nicht nur mit China beschäftigt. Diesen Eindruck könnteman manchmal gewinnen, wenn man den einen oder an-deren Antrag liest. Das hat mit den Olympischen Spielenzu tun, und es ist auch legitim, Herr Beck, dass man einsolches Großereignis nutzt, um die Aufmerksamkeit aufdie Menschenrechte zu richten.
Ich möchte jedoch erinnern, dass Menschenrechtenicht nur bei großen öffentlichen Auftritten interessantsind, sondern auch dann, wenn die Olympischen Spielevorbei sind. Menschenrechte sind auch in einem Landinteressant, das wir zu unseren Freunden rechnen. DieGlaubwürdigkeit Ihrer beiden Anträge wäre nicht ver-letzt worden, wenn man zum Beispiel Simbabwe mitaufgenommen hätte, wo gestern der OppositionsführerTsvangirai verhaftet worden ist, oder wenn darin einkleiner Hinweis auf das Waterboarding oderGuantánamo enthalten gewesen wäre.
Das alles wäre im Sinne unserer gemeinsamen Arbeit,Herr Beck. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie im Men-schenrechtsausschuss über die Fraktionsgrenzen hinwegdiesen Ansatz teilen.
– Lieber Herr Beck, wenn Sie sich mit Kollegen aus-einandersetzen wollen, dann haben Sie im Zweifel im-mer meine Unterstützung.Ich erinnere daran, dass der Menschenrechtsaus-schuss über die Parteigrenzen hinweg immer wieder da-rauf aufmerksam gemacht hat, welche Sorgen uns zumBeispiel die Einschränkung der Pressefreiheit in ver-schiedenen Ländern macht, und die Bundesregierungund alle anderen, die dazu in der Lage sind, aufgeforderthat, ihren Beitrag zu leisten. Das ist auch dann notwen-dig, wenn es wieder darum geht, das Waterboarding zuächten. Auch dazu wird heute Abend Gelegenheit sein.Wir sollten nicht nur die Balken in den Augen der an-deren sehen – obwohl wir sie kritisch wahrnehmen soll-ten –, sondern auch gelegentlich die Splitter bei unsselbst, zum Beispiel die illegal bei uns lebenden Men-schen, für die die Menschenrechte auch gelten müssen.Dann wird das, was wir tun, sinnvoll und immer wichti-ger.Ganz herzlichen Dank.
Der Kollege Michael Leutert hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
Frau Kollegin Däubler-Gmelin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Unsere Fraktionen bewegen sich im Be-reich der Menschenrechtspolitik langsam aufeinanderzu. Nach Ihrer Rede hätte ich fast geklatscht.Wir beraten heute auch eine Große Anfrage der Grü-nen. In ihrer Antwort darauf kommt die Bundesregie-rung zu dem Gesamturteil:Die Menschenrechtslage in China gibt – trotz eini-ger Verbesserungen – weiterhin Anlass zur Besorg-nis.Diese Einschätzung wird auch von meiner Fraktion ge-teilt. Ich möchte das kurz begründen.In der Volksrepublik China hat nach der Kulturrevolu-tion eine rasante Veränderung eingesetzt, die die unter-schiedlichsten Bereiche – insbesondere Wirtschaft, Poli-tik und Recht – erfasst hat und China auch heute nochweiter verändert. In den letzten Jahren sind mehr undmehr Defizite auch in den Bereichen Sozialpolitik, sozi-ale Spannungen, Wanderarbeiter, Umweltbelastungenoder Ausbildung des Rechtssystems zutage getreten. Dassehen nicht nur wir, sondern das sieht auch der Botschaf-ter der Volksrepublik China so, wie in seiner schriftli-chen Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung im Sport-ausschuss nachzulesen ist.Trotz alledem ist festzustellen, dass die Erfolge mess-bar sind, sowohl nach ökonomischen als auch nachrechtlichen Kriterien. Aber ganz sicher wird diese Ent-wicklung dann scheitern, wenn dieser Weg der Stabilitätverlassen wird. Diese Stabilität im Wandel ist unseresErachtens davon abhängig, ob es der chinesischen Re-gierung gelingt, zivilgesellschaftliche Lösungsstrate-
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Michael Leutertgien zu entwickeln und auf Repressionsmechanismen zuverzichten. Darin sehen wir die Perspektive, einen ge-meinsamen Nenner in der deutschen und der chinesi-schen Politik zu finden, weil die Reformkräfte in derKommunistischen Partei Chinas an dieser Stabilität unddiesem Wandel und damit auch an zivilgesellschaftli-chen Lösungsstrategien inklusive der Menschenrechteinteressiert sind. Das gilt meines Wissens auch für alleFraktionen in diesem Hause und die Bundesregierung.Wir sind der Auffassung, dass Instrumente wie derdeutsch-chinesische Rechtsstaatsdialog und der Men-schenrechtsdialog die geeigneten Mittel sind, um diesesZiel zu erreichen, weil sie vernünftig sind. Das heißt, siesind dialog- und kooperationsorientiert.
Alternativ dazu kann natürlich Menschenrechtspolitikim Sinne moralischer Appelle verstanden werden. Damithaben wir uns hier schon mehrfach auseinandergesetzt.Diese Politik ist sicherlich billig zu haben, wird aberletztendlich keinen Erfolg haben. Sie blendet aus, dassChina 15-mal mehr Einwohner hat als Deutschland,Deutschland aber ein 15-mal höheres Bruttoinlandspro-dukt pro Kopf aufweist als China.
Genau das ist der objektive Rahmen, in dem sich die Re-formpolitik in China bzw. sich unsere Politik bewegt.Zum Antrag der Grünen bleibt Folgendes zu sagen:Ob China auch nur einen einzigen politischen Gefange-nen freilässt oder nicht freilässt, hat sehr wenig mit denOlympischen Sommerspielen zu tun, sehr viel aber mitdem rechtsstaatlichen Charakter des Strafrechts inChina. Veränderungen im Strafrecht sind nur durch Dia-log zu erreichen, nicht durch Symbolpolitik vor denSommerspielen. Deshalb werden wir uns bei der Ab-stimmung über den Antrag enthalten.Ich freue mich, dass die Linke in dieser Debatte dasletzte Wort hatte.Danke.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/9422 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos-sen.Tagesordnungspunkt 9 b: Wir kommen zur Abstim-mung über den Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen zu ihrer Großen Anfrage. Zudieser Abstimmung liegt eine Erklärung des KollegenArnold Vaatz nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor.1)Wer stimmt für den Entschließungsantrag auf Druck-sache 16/9489? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Wir können uns im Präsidium nicht darauf einigen, werdie Mehrheit hat.
Deswegen werden wir noch einmal abstimmen. Wer istfür den Entschließungsantrag? –
Wer ist dagegen? –
Wer enthält sich?
Es ist nach wie vor so, dass sich die Schriftführerin-nen in der Frage nach den Mehrheitsverhältnissen unter-schiedlich verhalten.
Deswegen bitte ich die Geschäftsführer nach vorne.
Unsere Geschäftsordnung – das will ich sagen – siehtvor, dass man, wenn es Uneinigkeit im Präsidium gibt,nichts anderes machen kann, als einen Hammelsprungdurchzuführen. Hier besteht Uneinigkeit. Deshalb möchteich Sie bitten, den Saal zu verlassen. Das übrige Proze-dere kennen Sie. –
Natürlich muss ich die Kolleginnen und Kollegen bit-ten, den Saal zu verlassen. Verlegen Sie Ihre Bespre-chungen bitte nach draußen. Ich bitte die Schriftführerin-nen und Schriftführer, sich an den Türen einzufinden. –Ich muss Sie nun dringend bitten, den Saal zu ver-lassen und die Besprechungen und Telefonate, die hierdrin sowieso nicht erlaubt sind, nach draußen zu verle-gen. – Wie ich sehe, sind genügend Schriftführerinnenund Schriftführer da. Offensichtlich haben alle den Saalverlassen. Wir können also den Hammelsprung durch-führen. Ich bitte, jetzt mit der Auszählung zu beginnen.1) Anlage 3
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Vizepräsidentin Katrin Göring-EckardtSind draußen noch Abgeordnete, die zur Tür herein-kommen möchten, um ihre Stimme abzugeben? – Dasscheint noch immer der Fall zu sein. Dann warten wirnoch einen Augenblick.Ich sehe von hier oben Winksignale. Das heißt wohl,dass die Schriftführerinnen und Schriftführer mir signa-lisieren wollen, dass alle, die hereinkommen wollten,drin sind. Ist das richtig? – Das scheint mir der Fall zusein. Dann schließe ich die Abstimmung.Ich gebe jetzt das Ergebnis der Abstimmung bekannt.Es ging um den Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen zu ihrer Großen Anfrage. Fürdiesen Antrag auf Drucksache 16/9489 haben 83 Abge-ordnete gestimmt, dagegen haben 283 Abgeordnete ge-stimmt, und 24 Abgeordnete haben sich enthalten. Damitist der Entschließungsantrag abgelehnt.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,möchte ich all diejenigen, die noch in den Gängen stehenund sich über den vergangenen Tagesordnungspunkt un-terhalten, bitten, entweder Platz zu nehmen oder denSaal zu verlassen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs einesErsten Gesetzes zur Änderung des Bundes-elterngeld- und Elternzeitgesetzes– Drucksache 16/9415 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
RechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesVerteidigungsausschussAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungZwischen den Fraktionen ist verabredet worden, einehalbe Stunde zu debattieren. – Dazu höre ich keinen Wi-derspruch.Als erster Rednerin gebe ich der Kollegin IngridFischbach das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte diejenigen, die anwesend sind, bitten, doch
Platz zu nehmen. Dann können sie erfahren, an welchen
Stellen wir Veränderungen durchführen und wie wir da-
mit etwas Gutes noch besser machen wollen. Sie erfah-
ren all das, was wir beim Elternzeitgesetz ändern wollen.
Frau Fischbach, ich habe Ihre Redezeit angehalten.
Denn im hinteren Teil des Saals stehen noch einige Kol-
legen, die anscheinend kein starkes Interesse an dieser
Debatte haben. Ich möchte diese Kollegen bitten, den
Saal zu verlassen.
– Es sind in der Tat alles Männer.
Auch die könnten an dieser Debatte eigentlich teilneh-
men.
Bitte, Frau Kollegin Fischbach.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Als wir das Elterngeld auf den Weg gebracht haben, hatniemand – bei allem Optimismus, den wir hatten – darangeglaubt, dass es ein solcher Erfolg wird.Das muss man einfach feststellen. Denn die Zahlen,die uns schon nach gut einem Jahr vorliegen, überra-schen alle. Ich selber gebe zu: Auch ich war etwas skep-tisch. Ich gehörte nicht zu den großen Optimistinnen,war aber von dem überzeugt, was wir auf den Weg ge-bracht haben.Die Zahlen sprechen für sich: Das Elterngeld ist einErfolg. Es ist gerade für junge Familien der richtigeWeg, ihren Wunsch nach Kindern zu erfüllen und dieMöglichkeit zu haben, ohne große finanzielle Belastun-gen in die Familienphase zu kommen. Das war die rich-tige Entscheidung, der richtige Weg. Deshalb kann manan dieser Stelle ganz deutlich sagen: Das Elterngeld istein Erfolg der Regierungskoalition.
Aber wie das bei vielen großen Erfolgen ist: Manch-mal gibt es Änderungswünsche. Wir haben damals ge-sagt: Wir bringen ein ganz neues Projekt auf den Weg.Wir werden es evaluieren. Den Bericht über diesen Eva-luationsprozess werden wir zum 1. Oktober 2008 vorge-legt bekommen.
– Frau Lenke, Sie sind schon wieder so aufgeregt. HörenSie doch erst einmal zu! Vielleicht sind ja noch ein paarDinge dabei, die Sie noch gar nicht gelesen haben. Ichkann Ihnen versichern, dass wir im Oktober, wenn derGesamtbericht vorliegt,
viel intensiver diskutieren werden müssen. Das ist garkeine Frage; das wissen wir. Aber nichtsdestotrotz soll-ten wir die Chancen, die wir jetzt haben, nutzen, dieDinge, die sich schon jetzt abzeichnen und die wirschnell ändern können, auf den Weg zu bringen und Än-derungen vorzunehmen, die dann diejenigen, die vomElterngeld profitieren, noch besser stellen.
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Ingrid FischbachIch zähle die Bereiche auf, die wir heute – dies ist dieerste Lesung – auf den Weg bringen wollen. Dazu gehörtzum einen der Bezug des Elterngeldes für Wehrdienst-und Zivildienstleistende. Sie wissen, dass diejenigen, dieden Wehrdienst oder den Zivildienst ableisten, nichts da-für können, dass sie dann auch weniger verdienen. Dasist im Wehrpflichtgesetz festgesetzt. Deshalb müssen wirdarauf Rücksicht nehmen, dass diese Personen, wenn siedann Eltern werden, aufgrund ihres Wehrdienstleistensoder Zivildienstleistens bei der Berechnung des Eltern-geldes nicht benachteiligt werden. Wir sagen: Hier mussdie Möglichkeit bestehen, in Bezug auf den Verdienstauf weiter zurückliegende Monate zurückzugreifen, da-mit für Wehrdienstleistende und Zivildienstleistendekeine Verluste eintreten. Wir wollen hier eine Änderungvornehmen. Ich glaube, das ist gut und wichtig. Wir wol-len, dass alle Familien profitieren, auch die, die ihrenbürgerlichen Pflichten nachkommen.
Der zweite große Bereich, der jetzt geändert werdensoll, ist der Bereich der Großeltern. Wir haben an ande-rer Stelle über vermehrte Teenagerschwangerschaftendebattiert. Wir haben festgestellt, dass es mehr jungeMenschen, mehr Minderjährige, ja Kinder gibt, die Müt-ter bzw. Eltern werden. Diese Kinder, wenn sie denn sel-ber Eltern werden, müssen die Chance haben, ihreSchulausbildung oder auch eine begonnene Berufsaus-bildung abzuschließen.Damit sie das tun können, wollen wir, dass die Eltern-zeit auf die Großeltern übertragen werden kann. Dasheißt, dass sich Großeltern, die, vor allem wenn es sichum minderjährige Kinder handelt, ihrer Verpflichtungnachkommen – sie haben ja noch eine eigene Erzie-hungspflicht ihren Kindern gegenüber; diese sind janoch nicht 18 Jahre alt –, freistellen lassen können, alsoin Elternzeit gehen können. Wir wollen mit dem vorlie-genden Gesetzentwurf auf den Weg bringen,
dass Großeltern eingreifen und mithelfen können
– Herr Tauss, herzlichen Dank für Ihre Unterstützung –,und zwar nicht nur bei minderjährigen Kindern. Auchgerade junge Volljährige, die in der Berufsausbildungsind – sie sind ja von der Lebensphase her nicht andersaufgestellt als Minderjährige –, sollen die Möglichkeithaben, ihre Berufsausbildung abzuschließen. Den Groß-eltern soll es möglich sein, statt der jungen VolljährigenElternzeit zu nehmen, um das Enkelkind zu betreuen, da-mit die jungen Leute in Ruhe ihre Berufsausbildung, aufdie letzten beiden Ausbildungsjahre beschränkt, ab-schließen können.Ich glaube, auch das ist richtig und wichtig. Dabei giltes allerdings bestimmte Voraussetzungen einzuhalten,etwa dass das Kind im Haushalt leben muss. Ich glaube,es ist, wenn wir über Generationen reden, ein gutes,wichtiges Zeichen, zu sagen: Die Großeltern haben dieMöglichkeit, hier mitzumachen. Das halte ich für einenwichtigen Punkt.
Damals, bei Einführung des Elterngeldes, haben wirgedacht: Wenn besondere Härtefälle auftreten – Tododer eine schwere Krankheit –, sollen junge Familien dieMöglichkeit haben, die einmal beim Antrag getroffeneEntscheidung, wer das Elterngeld bezieht, zu ändern.Wir sagen jetzt: Die Erfahrungen zeigen, dass es auchandere Gründe gibt, den Bezugspartner zu ändern. Wennzum Beispiel jemand, der in der Elternzeit ist, plötzlicherwerbslos wird und eine neue Arbeitsstelle angebotenbekommt, muss es den jungen Familien möglich sein,kurzfristig den Bezugspartner zu ändern, also einenneuen Antrag zu stellen. Wir sagen: Es muss möglichsein, einmal ohne Begründung einen Antrag auf Ände-rung zu stellen; das hat auch etwas mit Verwaltungsver-einfachung zu tun. Weiterhin besteht in einem besonde-ren Härtefall die Möglichkeit – das bleibt unberührt –,den Bezugspartner ein zweites Mal zu ändern. Dies isteine wirksame Regelung, damit die Familien das Eltern-geld viel effektiver in Anspruch nehmen können.
Wir haben damals – Sie erinnern sich – Partner-monate ermöglicht; die Ministerin spricht gerne vomWickelvolontariat.
Das heißt: Wenn sich beide Elternteile die Elternzeit tei-len, wird die Bezugsdauer beim Elterngeld um zwei Mo-nate verlängert. Wir haben damals nicht daran gedacht,dass es unterschiedliche Grundvoraussetzungen gibt:Wenn beide Eltern erwerbstätig sind, hat die Mutterschon die Grundvoraussetzung für die Partnermonate er-füllt; dann könnte der Vater seine Verpflichtung in nureinem Monat Elternzeit erfüllen. Wir sagen: Die Bin-dung von Vater und Mutter zum Kind – sie ist wirklichnötig – soll zum Wohle des Kindes möglichst intensivsein. Deshalb soll der Partner mindestens zwei Monatein Elternzeit gehen. Ich glaube, es ist gut fürs Kind,wenn sich der Vater zwei Monate lang an das Kind ge-wöhnen kann.
Ich glaube, der Vater bleibt noch einen Monat längerbeim Kind, weil es einfach schön ist, mitzuerleben, wiedas junge, kleine Kind wächst und gedeiht. Auch hierwerden wir also eine Änderung vornehmen.
– Frau Lenke, Sie können gerne eine Zwischenfrage stel-len; dann darf ich länger reden.
– Gut, rufen Sie zwischen!
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17584 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Ingrid FischbachEs gibt eine weitere, eher formale Änderung bei derArbeitgeberbescheinigung. Bisher wurde die Bescheini-gung des Arbeitgebers über die Höhe des Verdienstes,der Sozialabgaben und dergleichen an den Arbeitnehmerausgegeben; der musste sie wiederum an die zuständigenBehörden weiterleiten. Wir sagen: Ähnlich wie beimUnterhaltsvorschussgesetz und beim Bundeskindergeld-gesetz muss der Arbeitgeber diese Bescheinigung sofortan die Behörde schicken. Das heißt, wir sparen Wege,Zeit und Verfahren. Das ist richtig und wichtig.Wir machen mit den ersten Änderungen, über die wirheute debattieren, deutlich, dass wir die Entscheidungder jungen Menschen für Kinder, für Familie und dendamit verbundenen Auftrag sehr ernst nehmen und ge-nau hinschauen, was von uns Politikern bei der Weiter-entwicklung des Elterngeldes erwartet wird. Es ist unbe-stritten, dass kein Gesetz, so wie es verabschiedet wird,in seiner Wirkung wirklich hundertprozentig bei denMenschen ankommt. Man muss bereit sein, ein Gesetzweiterzuentwickeln. Das tun wir heute mit der erstenVorlage, mit den Punkten, die ich gerade genannt habe.Dabei ist die Großelternzeit sehr wichtig. Wir machendamit deutlich, dass wir Erziehungsverantwortung ernstnehmen und sie wirklich anerkennen wollen. Ich kannSie, vor allem die Kolleginnen und Kollegen in den Op-positionsfraktionen, nur bitten, sich diesen wichtigen,kleinen Weiterentwicklungsschritten nicht in den Weg zustellen.
– Frau Lenke, ich habe gerade gesagt, dass dies die ers-ten Schritte sind, die wir kurzfristig gehen können. Einegroße Debatte wird folgen. Sie werden sich – ich kenneSie ja – dort einbringen. Diese Debatte kann folgen,wenn uns im Oktober der Evaluationsbericht vorliegt.Jetzt haben wir die Möglichkeit, für die Bezieher vonElterngeld wichtige Schritte, auch wenn sie klein sind,zu tun. Sie sollten sich nicht verweigern, sondern mitma-chen.
Die Kollegin Ina Lenke hat jetzt das Wort für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Frau Fischbach, wir machen
mit, aber anders. Die halbe Stunde, die wir hier über
diese Änderungen diskutieren, ist wirklich verschenkte
Zeit. Sie haben gesagt, dass die Geburtenzahl im letzten
Jahr gestiegen ist. Sie wissen doch, dass man die Eltern-
schaft planen kann. Dafür gibt es die Pille. Sie glauben
doch nicht wirklich, dass die Menschen nicht auf das
Jahr 2007 gewartet haben. Damit ist dieser Berg, die hö-
here Geburtenrate, zu erklären. Dieser „Berg“ wird sich
aber wieder „normalisieren“, und dann haben wir wieder
die „weite Fläche“. Das war eine sehr subjektive Be-
trachtung, Frau Fischbach. Angesichts der Tatsache,
dass Sie neun Minuten Redezeit hatten, der vorliegende
Gesetzentwurf aber nur wenig Substanz hat, blieb ihnen
vermutlich nichts anderes übrig, als auch dies als Be-
gründung anzuführen.
Dieser Gesetzentwurf bedeutet keine Weiterentwick-
lung des Gesetzes. Das Gesetz enthält Fehler, und Sie
verändern diese Fehler nur.
Die Ministerin hat ganz deutlich gesagt, dass vergessen
wurde, die Oma-und-Opa-Regelung, die Teil des alten
Gesetzes war, in das neue Gesetz aufzunehmen. Das ist
die Veränderung, und jetzt meinen Sie, dass das etwas
Superneues ist. Dazu kann ich nur sagen: Sie haben beim
ersten Gesetz Fehler gemacht, die Sie jetzt korrigieren
wollen. Was soll das?
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU
und der SPD, Sie haben die Chance verpasst, die Ma-
cken, die das Elternzeitgesetz hat, auszubessern. Wir von
der FDP müssen nicht auf den Evaluationsbericht war-
ten. Sie müssen das anscheinend. Dabei müssten Sie
ebenso wie ich Briefe aus der Bevölkerung bekommen,
die die Macken dieses Gesetzes aufzeigen. Dazu möchte
ich einige Dinge sagen:
Sie wollen Flexibilisierung nur bei Härtefällen. Die
Härtefälle haben Sie folgendermaßen definiert: wenn ein
Ehepartner stirbt, wenn jemand behindert ist usw. Nur
dann soll eine Flexibilisierung möglich sein. Wissen Sie,
was wir wollen? Wir wollen die Entscheidung den Eltern
überlassen. Die Eltern sollen sich mit dem Arbeitgeber
einigen. Der eine könnte zum Beispiel drei Tage und der
andere zwei Tage arbeiten, oder der eine arbeitet drei
Wochen und der andere sieben Wochen. Über ein Budget
könnten wir das sehr gut entbürokratisieren. Warum gibt
es diese Möglichkeiten nicht? Warum feiern Sie es als
Supererfolg, dass sich diese Eltern innerhalb der Eltern-
zeit ein zweites Mal umorientieren können? Wo sind wir
eigentlich?
Frau Lenke, Frau Fischbach würde Ihnen gerne eine
Zwischenfrage stellen. Möchten Sie das zulassen?
Wenn Sie das gerne möchten, Frau Fischbach.
Bitte schön.
Frau Lenke, geben Sie mir recht, dass es eine Flexibi-lisierung ist, wenn wir den Familien die Möglichkeit ge-ben, innerhalb des Jahres, in dem sie Elterngeld bezie-hen, ohne Begründung eine Veränderung vorzunehmen?
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Ingrid FischbachSie sind doch immer für Verwaltungsvereinfachung.Glauben Sie, die Unternehmen und die Behörden wür-den es begrüßen – Stichwort: Papierkrieg –, wenn die El-tern ständig – sie sprachen von wöchentlich drei Stundenund dann vier Stunden – wechseln könnten?
Sie müssten das dann generell freigeben. Sie können janicht sagen: Dreimal oder viermal im Jahr darf geändertwerden. Wenn, dann muss man das generell tun dürfen.Wenn alles ständig geändert werden kann, wie soll dieAngelegenheit unbürokratisch, einfach und schnell, wasim Sinne der Eltern ist, geregelt werden? Ich wäre Ihnensehr verbunden, wenn Sie mir erklären könnten, wie dasohne Mehrkosten und ohne mehr Verwaltungsaufwandgeregelt werden soll.
Viel Beifall hat Ihre Rede ja nicht hervorgerufen.
Frau Fischbach, in der Debatte zum ersten Elternzeit-gesetz haben Sie gesagt: Das geht nicht anders, weil derBürokratieaufwand sonst zu groß würde. Deswegenwollten Sie nur einen einmaligen Wechsel ermöglichen.Jetzt haben Sie festgestellt, dass das gar nicht praktika-bel ist, weil es Sonderfälle des Lebens gibt. Sie habenden Kreis der Sonderfälle, bei denen eine zweite Ände-rung möglich sein soll, sehr eng gefasst.Warum sollen die Eltern nicht ein Budget bekommen,wenn die Arbeitgeber der Eltern und die Eltern selbst sa-gen: „Wir wollen das anders regeln“? Die in Ihrem Ge-setzentwurf vorgesehene Regelung ist immer noch zustarr. Das ist immer noch zu wenig Flexibilität. Ichglaube, wir könnten hier im Bundestag gemeinsam zuder Auffassung gelangen, dass ein Budget weniger Bü-rokratie mit sich bringen würde. Die Eltern könnten die-ses Budget untereinander aufteilen, ohne dass die Politiksich einmischt. Dass es insgesamt bei einer Bezugsdauervon 14 Monaten bleiben muss, darüber sind wir uns ei-nig. Ich finde – das meine ich ganz ernst –, das ist zu we-nig Flexibilität.
Ich würde Ihnen gerne ein Beispiel aus der Praxisnennen. In meiner Bürgersprechstunde wurde mir vonfolgendem Fall berichtet: Der Vater, der Elternzeitnimmt, muss an einem Tag im Monat im Betrieb erschei-nen.Wissen Sie warum? Weil er sonst nach dem Tarifver-trag weniger Urlaubs- und Weihnachtsgeld bekommt.Wir sind eine völlig verregulierte Gesellschaft. Ich sagees noch einmal: Wir brauchen Wahlfreiheit für junge El-tern.Elterngeld sollte Lohnersatz sein. Wir wissen aber,dass ein Drittel des Elterngeldes Sozialleistungen undnicht Lohnersatzleistungen sind. Sie müssen sich alsoeinmal überlegen, was Sie als Koalition falsch gemachthaben.
Ich komme noch einmal auf die Nachteile für teilzeit-beschäftigte Ehefrauen zu sprechen. Die Lohnersatzleis-tung bemisst sich nach dem Nettogehalt. Jeder, der inSteuerklasse V ist, weiß: hohes Brutto, niedriges Netto.Nach diesem niedrigen Netto wird das Elterngeld be-rechnet. Wir hatten einen guten Vorschlag gemacht, be-vor das Elterngeld eingeführt wurde. Wenn der Brutto-lohn berücksichtigt worden wäre – mit einer Pauschale –,würden alle gleich behandelt, egal welche Steuerklassesie haben. Ich finde weiterhin, dass das eine sehr guteIdee ist.
Sie haben zwar etwas für Wehrpflichtige getan, abernichts für Mütter, die selbstständig sind. Der DeutscheJournalisten-Verband kritisiert das. Ich kann dies ausZeitgründen nicht ausführen, lege Ihnen aber ans Herz,die Broschüre zu lesen. Ich kann sie Ihnen gerne zusen-den. Wenn ein Umsatz für eine zurückliegende Beschäf-tigung im Zeitraum des Bezugs von Elterngeld auf demKonto der Mutter eingeht, bekommt sie deswegen weni-ger Elterngeld. Ich frage mich, ob das gerecht ist.
Sie müssen sich mehr um Selbstständige kümmern.Die Bild-Zeitung hat uns darüber aufgeklärt, dass manvom Elterngeld Steuern zahlen muss. Ich war sehr er-schrocken, als ich die Zahlen sah.
Man verliert über 10 Prozent, also einen Monat Eltern-geld. Wer als Elternteil die 101 Seiten der Broschüredurchgearbeitet hat – das hat übrigens auch etwas mitBürokratie zu tun –, hat das sicherlich gelesen. Ich musssagen: Wenn die Ministerin immer nur von 1 800 Euround 67 Prozent vom Netto spricht, aber darüber nichtaufklärt und nicht sagt, dass das Elterngeld, was die Pro-gression angeht, teilversteuert werden muss – ich drückees einmal laienhaft aus –, dann sind die Bürger natürlichhinterher enttäuscht. Daran sind Sie schuld und nicht dasElternzeitgesetz.
Ich will zum Schluss kommen. Ich rate Ihnen:Schauen Sie sich unseren alten Antrag zum Elterngeld-gesetz an. Sie werden sehen, dass er gute Ideen enthält,die Sie übernehmen können, damit das Elterngeld end-lich allen Lebenslagen von Frauen und Männern gerechtwird. Wir werden wieder einen Antrag stellen. Der Eva-luationsbericht wird hoffentlich nicht subjektiv, sondernobjektiv sein. Sie werden noch vieles finden, um das El-terngeldgesetz weiter zu verändern; denn ordentlich ge-macht ist es nicht. Ich warte mit Freude auf die Evalua-tion, damit wir konstruktiv darüber streiten können.
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Ina LenkeVielen Dank.
Die Kollegin Caren Marks spricht jetzt für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Lenke, einekleine Anmerkung vorweg: Natürlich ist das Besserestets der Feind des Guten. Aber dazu kann ich Ihre Vor-schläge überwiegend leider nicht zählen.
Zu Frau Fischbach möchte ich Folgendes sagen: Siehaben vorhin vom Wickelvolontariat gesprochen. Ichmöchte, weil ich weiß, dass Sie genauso wie ich von denPartnermonaten überzeugt sind, darauf hinweisen, dasswir den Begriff Wickelvolontariat nicht gebrauchen soll-ten; denn das war ein Kampfbegriff von HerrnRamsauer, der sich damals gegen die Partnermonate aus-gesprochen hat. Es ist mir wichtig, darauf hinzuweisen.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ha-ben den Familien im Wahlkampf 2005 ein Elterngeldversprochen. Wir haben dieses Versprechen zum 1. Ja-nuar 2007 eingelöst. Wir haben das bisherige Erzie-hungsgeld durch ein modernes Elterngeld nach skandi-navischem Vorbild abgelöst. Das Elterngeld ist eine neueLeistung für Familien.Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf wollenwir kurzfristig auf Hinweise reagieren, die uns aus derPraxis erreicht haben.Hinweis Nummer eins: Teenager, die Kinder bekom-men, wollen ihre Ausbildung beenden. Die Großeltern,die sie dabei unterstützen möchten, haben jedoch gegen-über ihren Arbeitgebern bisher keinen Anspruch auf El-ternzeit.Hinweis Nummer zwei: Aktuell kann der Elterngeld-antrag nur in Härtefällen wie Krankheit oder Tod geän-dert werden. Wenn sich aber die Erwerbssituation verän-dert, konnten Mütter und Väter ihre Elterngeldmonatebisher nicht flexibel anpassen. Das haben wir verändert.Hinweis Nummer 3: In Einzelfällen gibt es Nachteilefür Wehr- und Zivildienstleistende bei der Berechnungdes Elterngeldes. Auch das wurde verändert.Hinweis Nummer 4: Vereinzelt musste Elterngeld fürweniger als zwei Monate bewilligt werden. Das warnicht zielführend.Frau Lenke, diesen vier Hinweisen tragen wir mitdem vorliegenden Gesetzentwurf Rechnung. Damit ver-bessern wir die Wirkung der Elternzeit und des Eltern-geldes. Wir verbessern insgesamt die Vereinbarkeit vonFamilie, Ausbildung und Beruf.Die Initiative zur Einführung der sogenannten Groß-elternzeit bei Teenagerschwangerschaften kam aus denReihen der Sozialdemokratinnen. Es freut uns, dass esuns in der Großen Koalition gelungen ist, dies umzuset-zen. Teenagereltern unterstützen wir mit diesen Neure-gelungen, sodass sie ihre Ausbildungen abschließenkönnen. Schul- und Bildungsabschlüsse sind für ihrespäteren Berufschancen von immenser Bedeutung.
Frau Lenke, das ist für Sie vielleicht spannend: ImHerbst wird die Bundesregierung eine erste umfassendeEvaluation zum Elterngeld vorlegen. Das wird die Da-tenbasis für eine sinnvolle Weiterentwicklung des El-terngeldes sein.Zusammenfassend kann man sagen: Das Elterngeldwirkt. Junge Eltern müssen in Deutschland nicht mehrbefürchten, dass die Geburt eines Kindes für sie mit er-heblichen Einbußen verbunden ist. Beiderseits erwerbs-tätige Paare profitieren dadurch, dass das wegfallendeNettoeinkommen zu 67 Prozent ersetzt wird. Geringver-dienerinnen und -verdiener bekommen einen höherenprozentualen Einkommensersatz. Paare mit einem Ver-diener erhalten das Elterngeld on top. Auch sie profitie-ren von einem insgesamt höheren Familieneinkommen.Familien, die von Leistungen der Grundsicherung leben,bekommen das Elterngeld ebenfalls on top; denn das El-terngeld wird nicht auf die existenzsichernden Leistun-gen nach dem Sozialgesetzbuch II angerechnet. DieseWirkungen sind sozial gerecht.Die zweijährige Bezugsdauer des früheren Erzie-hungsgeldes wurde in der Fachwelt als Falle für Frauenbezeichnet, und zwar zu Recht. Zu viele Frauen habennach der bezahlten Elternzeit von zwei Jahren den Wie-dereinstieg in den Beruf nicht geschafft. Sie mussten ei-nen Teil ihrer Lebenswünsche aufgeben und auf eine ei-genständige soziale Absicherung verzichten.Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Lin-ken, Ihre Forderung nach einer Verlängerung des Be-zugszeitraums zeigt, dass sich das traditionelle Familien-bild von Christa Müller bei Ihnen leider mehr und mehrdurchsetzt.
Wir hingegen setzen auf eine moderne Frauen- und Fa-milienpolitik. Das entspricht den Wünschen der jungenMänner und Frauen in diesem Land. Dafür steht auchdas Elterngeld. Wir wollen mehr Männer, die sich Fami-lienarbeit mit ihren Partnerinnen teilen. Das haben wirerreicht. Heute gehen dreimal so viele Väter in Elternzeitwie im Jahr 2006, und die Tendenz ist steigend. Rund40 Prozent von ihnen nehmen sie länger als zwei Mo-nate. Die Orientierung des Elterngeldes am Nettoeinkom-
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17587
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Caren Marksmen und die Partnermonate sind ein wirksamer Anreiz.Sie erleichtern gemeinsame Erziehungsverantwortung.Es hat sich gelohnt, dass wir diese gezielte Starthilfefür Mütter und Väter durchgesetzt haben. Mit dem El-terngeld, mit dem Ausbau der Kinderbetreuung und mitfamilienfreundlichen Arbeitsbedingungen schaffen wirechte Wahlfreiheit für Familien.
Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Lassen Sie uns diese Instrumente gemeinsam weiter-
entwickeln. – Das war der letzte Satz.
Ich bedanke mich.
Ich erteile jetzt dem Kollegen Jörn Wunderlich für die
Fraktion Die Linke das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!„Elterngeld – nur wenige Eltern profitieren“, „nur we-nige kommen über 1 000 Euro“, „Elterngeld der Realitätanpassen“, „familienfreundliche Arbeitswelt sieht an-ders aus“.
– Nein, das ist nicht von mir. Das sind Schlagzeilen undMeldungen der letzten Wochen.Verbände diskutieren mit Eltern, Wissenschaftlern,Juristen und Arbeitgebern über die Frage: Was hat einJahr Elterngeld gebracht? Im Ergebnis wird festgestellt:Das war eine wunderbare Kür, aber vom Staat wird mehrPflicht verlangt. Fazit: Das Reförmchen ist wieder ein-mal mehr Schein als Sein. Eltern wünschen sich tatsäch-lich mehr.Da, wo Änderungsbedarf besteht – eine Erhöhung desMindestelterngeldes bei gleichzeitigem Teilelterngeld-bezug –, wird nichts gemacht. Das Elterngeld bleibt auchnach dem vorliegenden Gesetzentwurf eine sozialpoliti-sche Mogelpackung, die für die Mehrheit der Elternnicht hält, was sie verspricht. Das Elterngeld benachtei-ligt Eltern mit niedrigem oder gar keinem Einkommen.Im Wissen darum, dass jedes siebte Kind in Deutschlandauf einem Einkommensniveau lebt, das es von einer an-gemessenen sozialen und gesellschaftlichen Teilhabeausschließt, verschärfen Sie die Kinderarmut weiter.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf halten Sie an derUnausgewogenheit und an der Umverteilung von Armnach Reich fest.Herr Singhammer, die Zahlen sprechen für sich: DieMehrheit der Eltern erhält ein Elterngeld von weniger als500 Euro, 32 Prozent bekommen sogar nur das Mindest-elterngeld in Höhe von 300 Euro. Um noch eins draufzu-setzen: Die Auswirkungen auf Alleinerziehende sind sta-tistisch gar nicht zu ermitteln, weil das Gesetz diesbe-zügliche Erhebungen nicht vorsieht. Dazu kann man nursagen: Gratulation! Sind das die Wahlversprechen, diedie SPD im Wahlkampf gemacht hat – Frau Marks hatsie gerade erwähnt –, wollte man den Eltern nach derWahl weniger geben?
Das ist wie mit euren Steuerversprechen: Es wird vielversprochen, aber nichts wird gehalten.
Eine Bemerkung zur Großelternzeit. Unsere Kritikrichtet sich darauf, dass der Anspruch auf das Zeitrechtohne Anspruch auf Elterngeld gewährt werden soll, ganznach dem Motto: Oma wird es schon richten. Das Argu-ment, dass die Eltern das Mindestelterngeld erhalten,greift zu kurz.
– Mehrwertsteuererhöhung – ohne uns; das war euerWahlversprechen. Ich sage nur: Versprecht ruhig weiter!Wenn ihr 3 Prozent weniger bekommt und wir 3 Prozentmehr bekommen, dann haben wir euch überholt.
Eine Bemerkung am Rande: Die Großeltern, um diees hier geht, die Eltern der Teenie-Eltern, sind heute zwi-schen 40 und 50 Jahren, also noch nicht im Rentenalter.Wie sollen sie mit einem Zeitanspruch aussteigen, wennsie noch im Berufsleben stehen? Das Recht und dieMöglichkeit auf eine Ausstiegszeit bringen wenig, wennnicht klar ist, woher in dieser Zeit das Geld kommensoll.
Aus gleichstellungspolitischer Sicht – auch diese Per-spektive ist von Bedeutung – ist das Ganze ohnehin kon-traproduktiv, weil es wieder die Frauen sind – ich sagenur: Steuerklasse V –, auf deren geringeres Einkommeneher verzichtet wird.
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17588 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Ich wiederhole: Oma wird es schon richten.Großelternzeit nur den Großeltern zu gewähren, unddas auch nur, wenn sie mit dem betreuenden Kind in ei-nem Haushalt leben, das ist uns zu wenig. Die Linke willden Anspruch auf andere Verwandte bis zum drittenGrad ausdehnen, auch dann, wenn sie nicht mit demKind in einem Haushalt leben. Außerdem wollen wir So-lidarität auch außerhalb von Verwandtschaftsbeziehun-gen anerkennen; denn es sind nicht immer nur Ver-wandte, die helfen. Deshalb schlagen wir vor, auchDritten, die mit Eltern und Kind nicht verwandt sind, ei-nen entsprechenden Anspruch zu gewähren.Die Linke steht für eine sozial gerechte Kinder- undFamilienpolitik und fordert eine stärkere Übernahme öf-fentlicher Verantwortung für Kinder und Familien. Wirfordern die sofortige Anhebung des Mindestelterngeldesauf 450 Euro
und die Verlängerung des Anspruchs auf Elterngeld
– Frau Marks, hören Sie mir doch einmal zu, bevor Siehier Unwahrheiten verbreiten! – auf zwölf Monate proElternteil, nämlich auf zwölf Monate für die Mutter undauf zwölf Monate für den Vater.
Wenn Sie unsere Konzepte vertreten, dann vertreten Siesie bitte richtig! Wir wollen einen zwölfmonatigen An-spruch auf Elterngeld auch für die Väter, um sie stärkerin die Pflicht zu nehmen.
Insbesondere fordern wir in diesem Zusammenhangeine öffentliche, gut ausgebaute und qualitativ hochwer-tige Kinderbetreuung mit entsprechend ausgebildetenErzieherinnen und Erziehern, wobei ich die Schwer-punkte auf „öffentlich“ und „gut ausgebaut“ lege. Dieöffentlichen Träger und der Bundesjugendverband habengesagt: Der von der Regierung angekündigte Bedarflässt sich auch mit öffentlichen und gemeinnützigen Trä-gern umsetzen. – Frau Lenke hört gerade leider nicht zu,obwohl das ganz besonders an sie gerichtet ist. –
Es kann also auf gewerbliche und profitorientierte Trä-ger verzichtet werden.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Jetzt hat die Kollegin Ekin Deligöz für das Bünd-
nis 90/Die Grünen das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man ein In-strument wie das Elterngeld einführt, dann hat daszwangsläufig zur Folge, dass nach einem Jahr Korrektur-und Verbesserungsbedarf besteht, weil man im Laufe derZeit vieles lernt. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurfsoll die Feinkorrektur dieses neuen Instruments vorge-nommen werden.Ich muss allerdings darauf hinweisen, dass dem Parla-ment bis zum 1. Oktober dieses Jahres ein erster Berichtvorgelegt werden soll, in dem die Folgen und der Wir-kungsbereich der Einführung des Elterngeldes darge-stellt werden. Eigentlich wäre es sinnvoll gewesen, mitden Korrekturen zu warten, bis dieser Bericht vorliegt.
Dann hätte man daraus Konsequenzen ziehen und die In-strumente dementsprechend anpassen können.Sie wollten aber nicht bis zum Herbst dieses Jahreswarten, und wir wissen auch, warum.
Wir wissen, dass in der Koalition schnelle, einvernehm-liche familienpolitische Verfahren Seltenheitswert ha-ben.
Spätestens mit der Vorlage des Wirkungsberichts zumElterngeld hätten Sie sich darauf einigen müssen, wie esmit den Vätermonaten weitergeht. Die Ministerin hat dieDebatte darüber ja schon eröffnet.
Aber Sie möchten das lieber zu einem Wahlkampfthemamachen, als hier etwas Konkretes vorzulegen.
Die Familienministerin hat, was die Ausweitung derPartnermonatsregelung angeht, eine konkrete Positionie-rung mehrfach vermieden. Sie hat selber gesagt, dasüberlasse sie der Diskussion, die sich sicher entwickelnwird. So redet jemand, der sich entweder nicht festlegenwill oder nicht festlegen kann.
Womöglich gibt es nicht nur innerhalb der Koalition,sondern sogar innerhalb der CDU/CSU-Fraktion Diffe-renzen.
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Ekin Deligöz
Dass Sie darauf beharren, Bericht und Korrekturen zutrennen, lässt darauf schließen, dass Sie den Bericht alsWahlkampfschlager verwenden möchten. Ich sage Ih-nen: Das wird Ihnen nur bedingt gelingen.
Das, was jetzt gemacht werden soll, ist Klein-Klein,ja klitzeklein, und ab Herbst wird der Wahlkampf toben.Bis dahin gibt es mit dem Gesetzentwurf ein paar Vor-schläge, die grundsätzlich nicht schlecht sind: Die Ein-führung einer Mindestbezugsdauer für die Partnermo-nate kann man begrüßen, genauso, dass Wehr- undZivildienst bei der Einkommensermittlung ausgeklam-mert werden sollen. Zur Revidierung der Leistungsauf-teilung muss ich sagen: Eigentlich gibt es keinen Grund,warum, wenn man eine Leistungsaufteilung im Härtefallzugesteht, dies nur einmalig möglich sein soll.
Härtefälle können schließlich öfters vorkommen.Auch der Vorschlag einer sogenannten Großelternzeitist nachvollziehbar. Gerade im Falle von Teenager-schwangerschaften ist jede Hilfe willkommen und sinn-voll.
Ich glaube, dass die Großelternzeit in Anspruch genom-men werden wird, Herr Wunderlich. Die Großelternkönnten zum Beispiel auf Teilzeitarbeit übergehen; auchin diesem Sinne ist Elternzeit möglich. Das Problem istaber: Was passiert, wenn sich die Großeltern mit den El-tern nicht einigen können? Die ersten Experten sagenschon, dass diese Regelung Konflikte nicht aus dem Wegräumt, sondern womöglich vertieft bzw. neue Konflikteschafft. Darüber werden wir in der Anhörung, die dieOppositionsfraktionen verlangen, noch zu sprechen ha-ben.Abgesehen davon erschließt es sich mir nicht, warumSie sich, wenn Sie schon eine solche Öffnung vorsehen,auf die Großeltern konzentrieren. Man könnte doch sa-gen: In einer modernen Welt, in der es verschiedene Fa-milienformen gibt, gibt es auch andere Konstellationendes Zusammenlebens, des Miteinander-Verantwortung-Übernehmens.
Auch diesen Konstellationen sollte man eine solcheMöglichkeit eröffnen. Das Ziel ist doch, dass die Teen-ager auch mit Kind ihre Schule oder Ausbildung fortfüh-ren und beenden können.
Wir machen jetzt Klein-Klein. Die großen Reformen,die Änderungen, die auf jeden Fall anstehen, werden unsdann im Herbst beschäftigen.
Jetzt ergreift Kerstin Griese das Wort für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zwei Anmerkungen vorneweg. Erste Bemerkung: LiebeEkin Deligöz, es sind zwar kleine Änderungen; aber essind Änderungen, die den Menschen im realen Lebenhelfen. Deshalb wird das Gesetz dadurch besser.
Meine zweite Anmerkung: Herr Wunderlich, wenneine Meisterschaft im Versprechen-Abgeben ausgerufenwürde, wären Sie mit den 157 Milliarden Euro – dieseSumme umfassen die Versprechen der Linkspartei; die-sen Geldsegen würden Sie gern verteilen – schon jetztder Gewinner. Im Versprechen-Abgeben sind Sie dieGrößten, eine Gegenfinanzierung haben Sie allerdingsnicht.
Wir reden heute über etwas Erfolgreiches. Dass Siedas stört, kann ich verstehen; nichtsdestotrotz ist das El-terngeld ein großer Erfolg. Wir von der SPD sind froh,dass wir unseren Koalitionspartner davon überzeugenkonnten.
Wir haben das Elterngeld gemeinsam verwirklicht. Da-rauf können wir stolz sein. Ich sage das ausdrücklich;damit alle Seiten klatschen können. Die Zustimmung inder Bevölkerung ist enorm: Zwei Drittel der Bevölke-rung halten das Elterngeld für eine gute Sache. Sicher-lich nicht nur durch dieses Gesetz – auch durch viele an-dere Maßnahmen –, aber auch durch dieses Gesetzwurde der Geburtenrückgang zum ersten Mal seit 1990gestoppt. Bei den Männern gibt es ein Umdenken. Viel-leicht haben diejenigen, die früher einmal von einemWickelvolontariat gesprochen haben, dazugelernt.Bereits im letzten Quartal des letzten Jahres ging jedeachte Bewilligung des Elterngeldes an einen Mann.Zwei Drittel dieser Väter haben zwei Monate lang El-terngeld in Anspruch genommen. Knapp jeder fünftedieser Väter ist sogar für zwölf Monate ganz oder teil-weise aus dem Beruf ausgestiegen, um sich um das Kindzu kümmern. Es findet also ein echtes Umdenken in derGesamtbevölkerung statt: bei den Männern und auch inder Wirtschaft. Eine aktuelle Umfrage zeigt, dass dasVerständnis der Personalverantwortlichen für Familiendeutlich gestiegen ist. 61 Prozent befürworten es, wennauch Väter Elternzeit nehmen. Das waren vor ein paar
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Kerstin GrieseJahren noch viel weniger. Alles in allem ist die Bilanzdes Elterngeldes erfolgreich.
Es ist schon gesagt worden: Wir werden zum1. Oktober 2008 eine umfassende Evaluation erhalten.Das ist auch gut so. Nichtsdestotrotz kann man einigeDinge schon vorher ändern.Ich will mich ganz ausdrücklich beim DiakonischenWerk des Evangelischen Kirchenbezirks Baden-Badenund Rastatt bedanken; denn wir wurden vor etwas übereinem Jahr, im April 2007, mit einem Brief an unsereKollegin Nicolette Kressl darauf aufmerksam gemacht,dass es in der Tat das Problem gibt, dass keine Groß-elternzeit mehr möglich ist. Vonseiten der SPD habenwir uns dann sehr schnell für die Wiedereinführung derGroßelternzeit stark gemacht. Ich sage ganz ehrlich: Wirhätten das gerne noch schneller auf den Weg gebracht– wir haben häufig darüber gesprochen; es gab aber vielabzustimmen, auch mit dem Bereich Bildung –; dennwir wollen, dass Großeltern in dieser Notsituation ein-springen können. Wir wollen, dass Großeltern eine Aus-zeit nehmen können mit der Garantie für eine Rückkehrin ihren Job, wenn ihre Kinder Eltern werden und sieihre Enkelkinder betreuen wollen.
Ich glaube, diese Änderung entspricht der Lebenswirk-lichkeit. Es geht um Teenager, die selber Eltern werden.Daneben wollen wir, dass die jungen Eltern, die in derSchule, in der Ausbildung oder vielleicht sogar schon imStudium sind, ihren Abschluss machen können; denn wirwissen, dass die beste Prävention von Kinderarmut – wirreden viel über Kinderarmut, auch heute Morgen hier imParlament – die Erwerbstätigkeit der Eltern ist. Erwerbs-tätig kann man nur sein, wenn man einen Schul- undAusbildungsabschluss hat.
Wir haben diese Regelung auch deshalb eingeführt,um Teenagern in dieser schwierigen Situation wirksamhelfen zu können. Heute werden etwa sechs von 1 00013- bis 17-jährigen Mädchen in Deutschland schwanger.Etwa drei von diesen Mädchen, also die Hälfte, bekom-men ein Kind. Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüchein der gleichen Altersgruppe ist ein klein wenig höher alsdie der Geburten. Wir sprechen über etwas mehr als7 000 Kinder von 13- bis 17-jährigen Teenagern, die inDeutschland pro Jahr geboren werden. Diese Teenagerkönnen die Hilfe ihrer Eltern mit der neuen gesetzlichenRegelung leichter in Anspruch nehmen. Hinzu kommennoch diejenigen, die schon volljährig sind, aber vor ih-rem 18. Geburtstag mit einer Ausbildung begonnen ha-ben. Auch für sie ist diese neue Regelung im Bundes-elterngeld- und Elternzeitgesetz positiv.
Fakt ist also: Wir verbessern die Möglichkeiten imRahmen der Elternzeit weiter und schaffen eine lebens-nahe Lösung für ganz junge Eltern, wodurch ihnen ge-holfen wird, Schule und Ausbildung zu Ende zu machen.Damit helfen wir den Familien ganz konkret. Ich bitteSie alle nicht nur um Zustimmung, sondern auch um zü-gige Zustimmung, damit diese wirklich gute Lösungsehr schnell in Kraft tritt und die Großeltern, die es wol-len und können, ihren Kindern und Enkelkindern glei-chermaßen helfen können.Vielen Dank.
Damit schließe ich die Aussprache.
Zwischen den Fraktionen ist verabredet worden, den
Gesetzentwurf auf Drucksache 16/9415 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. –
Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlos-
sen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Christian Ahrendt, Ernst Burgbacher, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Abkommen zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und den Vereinigten Staaten von
Amerika über die Vertiefung der Zusammen-
arbeit bei der Verhinderung und Bekämpfung
schwerwiegender Kriminalität neu verhandeln
– Drucksache 16/9094 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Wieland, Volker Beck , Alexander Bonde,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Kein uferloser Datenaustausch mit den USA
– Drucksache 16/9360 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Es ist verabredet, über diese beiden Anträge insge-
samt eine halbe Stunde zu debattieren. – Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Gisela Piltz für die FDP-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Als „Albtraum“ hat der europäische Datenschutz-
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Gisela Piltzbeauftragte Peter Hustinx das Vorantreiben der EU-wei-ten Ausdehnung des Prümer Vertrags bezeichnet undhinzugefügt, die mit dem Vertrag verknüpften Daten-schutzbestimmungen seien ein „kompliziertes Flick-werk“. Der Prümer Vertrag ist damit für uns alles andereals ein gutes Vorbild. Trotzdem geht die Bundesregie-rung noch einen Schritt weiter und handelt ein Sicher-heitsabkommen mit den USA zum Austausch von Datenaus, ohne sich wenigstens an diesen zugegebenermaßenflickwerkartigen Datenschutzbestimmungen zu orientie-ren. Dann verkauft uns diese Bundesregierung das auchnoch als politischen Erfolg und stellt die VorreiterrolleDeutschlands heraus. Der Prümer Vertrag selbst ist inEuropa bis heute nicht umgesetzt, eine Evaluierung gibtes auch nicht. Aber wir müssen wieder einmal mit gutemBeispiel vorangehen. Für uns ist das eher ein schlechtesBeispiel.
Es wäre sinnvoll gewesen, die Erfahrungen aus dem Prü-mer Vertrag erst einmal abzuwarten und auszuwerten,anstatt ihn unter einem anderen Namen über den Atlan-tik zu exportieren.Wer sensible Daten wie die politische, religiöse odersonstige Überzeugung, die Zugehörigkeit zu einer Ge-werkschaft, die sexuelle Einstellung und Gesundheitsda-ten übermitteln will, ohne dabei Begriffe wie Terroris-mus und Kriminalität ausreichend zu definieren, musssich schon fragen lassen, wo sein Grundrechts- und Bür-gerrechtsverständnis geblieben ist.
– Damit haben Sie völlig recht, Herr Kollege. – Es reichtnicht, dass die Vertragspartner einander notifizieren kön-nen, welche Straftaten nach nationalem Recht unter dieBegriffe Terrorismus und Kriminalität fallen; denn dieseNotifikation ist jederzeit änderbar. Heute hü!, morgenhott! – so kann Rechtssicherheit nicht eintreten.Was hat, bitte schön, die Gewerkschaftszugehörigkeitmit terroristischen Straftaten bzw. schwerwiegender Kri-minalität zu tun? Wir haben lange darüber nachgedacht.Weder das englische noch das deutsche Wort geben unsdazu Veranlassung. Wenn man aber lange genug beiGoogle sucht, fallen einem das spanische und das fran-zösische Wort für „Gewerkschaft“ auf: el sindicato undsyndicat. Hier ergibt sich ein ganz neuer Horizont vonAssoziationen. Der Syndikalismus war eine revolutio-när-gewerkschaftliche Bewegung, die sich Ende des19. Jahrhunderts bildete. Mittel der Syndikalisten warnicht nur der Streik, sondern auch die Sabotage.
– Dass Sie von der Linken das wieder gut finden, ist mirklar. – Parlamentarische Bestrebungen wurden abge-lehnt. Im heutigen Kontext würde ein solcher Mittelein-satz von einigen Ländern vielleicht als Terrorismusbezeichnet werden. Unsere Gewerkschaften in Deutsch-land bedienen sich aber dieser Mittel nicht. Ich glaube,die Zeiten des Syndikalismus haben wir nun wirklichüberwunden.Ich verstehe auch nicht, wie eine Bundesjustizminis-terin mit SPD-Parteibuch ein solches Abkommen feder-führend verhandeln konnte.
Dieses Sicherheitsabkommen stellt die Gewerkschaftenan den Pranger. Das haben sie wirklich nicht verdient.
Es ist schon bezeichnend, wenn die FDP die Gewerk-schaften verteidigen muss. Dies ist eine wirklich komi-sche Rollenverteilung.Noch ein Wort zum Verfahren: Entgegen Ihrer Ant-wort auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke ha-ben Sie den Innenausschuss des Bundestages im Februar2007 nicht über die Aufnahme von Vertragsverhandlun-gen informiert. Ich habe mir extra noch einmal das Wort-protokoll angeschaut. Meinem Fraktionskollegen ErnstBurgbacher haben Sie auf Nachfrage geantwortet, dassdie USA dem Vertrag von Prüm nicht beitreten könnten.Dies stimmt natürlich. Sie haben eine formale Antwortgegeben und sich so um die inhaltliche Antwort ge-drückt. Sie haben im Ausschuss nicht die Wahrheit ge-sagt,
und das kann sich das Parlament nicht bieten lassen.
Die Regelungen im Sicherheitsabkommen habenSprengstoff in sich. Europäische Datenschutzstandardshaben in den USA überhaupt keinen Bestand, wie wirwissen. Das dortige Datenschutzniveau ist deutlich nied-riger. Insbesondere werden in den USA polizeiliche Da-ten über Jahrzehnte gespeichert: bis zu 99 Jahre. DasEnde der Speicherung seiner Daten wird also kaum je-mand erleben. Eine unabhängige Datenschutzkontrolle,wie es in Deutschland der Fall ist, gibt es dort auchnicht. Der automatisierte Austausch soll im sogenanntenHit-/No-hit-Verfahren erfolgen. Die Vertragspartnerwollen sich dabei gegenseitig Zugriff auf die sogenann-ten Fundstellendatensätze ihrer nationalen DNA- undFingerabdruckdatenbanken gewähren, um diese für denautomatisierten Abgleich zu nutzen. Einzelheiten sollenaber Durchführungsvereinbarungen vorbehalten bleiben.Auch da werden wir dann keinen Einfluss haben. Es istnicht sonderlich klug, wie man in diesem Punkt mit demParlament umgeht.Auskunfts- und Berichtigungsansprüche, die einemrechtsstaatlichen Verfahren grundsätzlich immanent sind,sind in dem Abkommen für die Betroffenen vorsichts-halber gar nicht vorgesehen, da nur das Verhältnis zwi-schen den Vertragsparteien USA und Deutschland gere-
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Gisela Piltzgelt wird. Wenn ich betroffen bin, brauche ich alsbetroffene Person einen Auskunftsanspruch.Wir hoffen, dass Sie in dieser Hinsicht noch einmaltätig werden. Uns wäre es sowieso lieber, Sie würdendas Ganze zurückziehen. Aber wenn Sie es durchführen,dann müssen Sie sich auch an rechtsstaatliche Verfahrenhalten. Der Grundsatz des effektiven Rechtschutzes, derjedenfalls nach unserer Auffassung eine tragende Säuleunseres Rechtsstaates ist, wird damit einmal mehr überBord geworfen.Zum Abschluss: Nachdem ich schon versucht habe,den Begriff Syndikat geschichtlich zu erklären, habe ichin der Zitatenkiste gewühlt und ein Zitat aus dem Jahr1670 gefunden.
Das liegt so weit zurück, dass es vielleicht für die Bun-desregierung unverdächtig ist, auch wenn es von einemMitglied der liberalen Bundestagsfraktion verwendetwird. Baruch de Spinoza hat gesagt: „Der Zweck desStaates ist in Wahrheit die Freiheit.“ Ich fände es gut,wenn wir uns alle daran halten würden.Herzlichen Dank.
Der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Christoph
Bergner hat jetzt das Wort für die Bundesregierung.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! VerehrteFrau Piltz, die Einzelheiten des in Rede stehenden, vonder Bundesregierung verhandelten deutsch-amerikani-schen Abkommens werden im Zuge der anstehendenvertragsgesetzlichen Ratifizierungen behandelt. Ichwerde deshalb darauf verzichten, auf viele der Vorwürfe– Sie nannten Speicherhöchstfristen und anderes – imEinzelnen einzugehen.Ich will vorausschauend so viel zurückweisen – wirhaben es sogar im Innenausschuss im Rahmen der Be-richterstattung diskutiert, wenn ich mich richtig erin-nere –: Die Gewerkschaften und religiöse und sonstigeÜberzeugungen sind in Art. 12 des Vertrages ausdrück-lich wegen der besonderen Schutzwürdigkeit der ent-sprechenden Daten erwähnt. Das heißt, was von Ihnenals besondere Weitergabe von speziellen Informationenzu denunzieren versucht wird,
ist in dem Vertrag gerade in den Rahmen einer besonde-ren Schutzwürdigkeit gestellt worden. Sie sollten sichwenigstens die Mühe machen, in dieser Frage fair zu ar-gumentieren.Ein Weiteres. Mein Kollege Altmaier hat am 28. Fe-bruar über die Aufnahme von Gesprächen mit den USAzur Intensivierung des bilateralen Informationsaustau-sches informiert, damals natürlich noch nicht über Ver-tragsinhalte. Sie wissen, dass am 9. März ein Bericht-erstattergespräch stattgefunden hat – an dem Sie, glaubeich, selbst teilnahmen –, in dem mein Kollege Altmaierüber den Vertrag informiert hat.Ich will versuchen, auf die allgemeinen Vorwürfe, diedas Muster Prümer Vertrag und seine Übertragung aufden Drittstaat USA betreffen, einzugehen. Dabei ist zu-nächst einmal hervorzuheben, dass der Vorwurf, hierwürde ein Ausverkauf des Datenschutzes betrieben,wirklich unbegründet ist. Wer die bisherige Realität unddas angestrebte Abkommen nüchtern betrachtet, derwird feststellen müssen: Erstens. Die USA sind und blei-ben einer unserer wichtigsten internationalen Verbünde-ten. Das gilt auch und gerade im Kampf gegen den inter-nationalen Terrorismus.
Wer hier auf den Informationsaustausch mit den USAverzichten will, verschließt die Augen vor der Realität.Ich erinnere daran, dass der entscheidende Hinweis imSauerland-Fall gerade von amerikanischer Seite kam.
Zweitens. Der Datenschutz ist ein Problem bei jeder Artvon internationaler Zusammenarbeit. Wer ein Datum aneinen anderen Staat übermittelt, muss sich darüber imKlaren sein, dass dort nicht mehr die eigene, sondern diedortige Rechtsordnung gilt. Im Bereich des Datenschut-zes gibt es dabei natürlich erhebliche Abweichungen.Mit diesen Abweichungen kann man auf dreierlei Weiseumgehen.Erstens. Man übermittelt – das ist möglicherweise dieZielsetzung, von der Sie ausgehen – gar keine Daten anStaaten, die über kein angemessenes Datenschutzniveauverfügen. Diese Ansicht hätte allerdings im Extremfallzur Konsequenz, dass der Datenschutz über das Lebenvon Menschen gestellt wird, die von einem konkretenAnschlag bedroht sind, wenn der Anschlag durch Über-mittlung eines Hinweises hätte abgewendet werden kön-nen. Weil dies niemand ernsthaft wollen kann, muss imEinzelfall eine Abwägung zwischen den Belangen desDatenschutzes und dem Zweck der Datenübermittlungstattfinden. Das ist Weg Nummer zwei, der der gegen-wärtigen Rechtslage entspricht. Nach § 14 Abs. 7 desBundeskriminalamtgesetzes muss das Bundeskriminal-amt bei einer Datenübermittlung an andere Staaten auchdie Angemessenheit des dortigen Datenschutzniveausberücksichtigen und nach den Umständen des Einzelfallseine Abwägung vornehmen.Neben der jeweiligen Rechtsordnung im Empfänger-staat kommt es insbesondere auf die konkrete Art derDaten und den Zweck der Übermittlung an. Ein Polizist,der möglicherweise binnen Minuten oder wenigen Stun-
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Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergnerden entscheiden muss, ob er einen Hinweis an einenDrittstaat geben kann, hat jedoch kaum Zeit, ausführlichdie Rechtsordnung des Empfängerstaates zu prüfen unddiese in Relation zum Übermittlungszweck zu setzen.Deshalb ist die dritte Lösung, mit den weltweit unter-schiedlichen Datenschutzniveaus umzugehen, offenkun-dig die beste. Sie besteht darin, durch ein Abkommenmit dem Empfängerstaat selbst ein angemessenes Daten-schutzniveau für die im Abkommen vorgesehene Über-mittlung zu schaffen. Diesen Weg wollen wir nun mitden USA bei der polizeilichen Zusammenarbeit be-schreiten.Das Abkommen flankiert die Befugnisse zum Daten-austausch mit einer Reihe von Datenschutzbestimmun-gen, die im Vergleich zur bisherigen Rechtslage eindeutlich besseres Datenschutzniveau schaffen. Ichdenke, das werden wir noch würdigen, wenn wir in dieRatifikation des Vertrages einsteigen. Dies gilt insbeson-dere für den automatisierten Austausch im sogenanntenHit-/No-Hit-Verfahren. Dies bedeutet, dass jeweils nurFundstellendatensätze und nicht die eigentlichen Perso-nendaten abgerufen werden können. Wenn ein Treffererzielt wird und eine Seite weiß, dass die andere überErkenntnisse zur gleichen DNA oder zum gleichen Fin-gerabdruck verfügt, muss sie ein Ersuchen um Übermitt-lung der eigentlichen Personendaten stellen. Diese Er-mittlung erfolgt nach den bereits bestehendenallgemeinen Regeln. Das heißt, wir haben dann einRechtshilfeverfahren, wie wir es kennen. Dieses Verfah-ren, das der Prümer Vertrag vorsieht, wurde vomDatenschutzbeauftragten als datenschutzfreundlich ge-lobt, weil im ersten Schritt keine Personendaten abgeru-fen werden, sondern lediglich Fundstellen zu DNA- undFingerabdruckdaten.Nun verkenne ich nicht, dass man sich an der einenoder anderen Stelle – darüber werden wir bei der Ver-tragsratifikation noch zu befinden haben – aus daten-schutzrechtlicher Sicht noch mehr gewünscht hätte. DieBundesregierung hatte sich insbesondere im Rahmen derVerhandlungen massiv für die Schaffung unmittelbarersubjektiver Rechte der Betroffenen eingesetzt, sodasssich deutsche Bürger wegen Verletzung einer Daten-schutzbestimmung direkt an ein US-amerikanisches Ge-richt hätten wenden können. Die USA hatten dies jedochunter Hinweis auf ihr innerstaatliches Recht strikt abge-lehnt; denn der sogenannte Privacy Act in den USA gibtbisher nur US-Bürgern unmittelbare subjektive Rechte.Der in dem Abkommen, Frau Piltz, gefundene Kom-promiss kann sich jedoch aus unserer Sicht sehen lassen;denn mit dem Abkommen werden nun völkerrechtlicheAnsprüche der Vertragsparteien auf Auskunft, Berechti-gung, Sperrung oder Löschung geschaffen.
Die jeweiligen Vertragsparteien, also Deutschland unddie USA, vermitteln diese Ansprüche nach dem jeweili-gen innerstaatlichen Recht ihren Bürgern, Herr KollegeWieland. Nach innerstaatlichem Recht bestehende sub-jektive Rechte des Betroffenen auf Auskunft, Berichti-gung, Sperrung oder Löschung können also vermitteltdurch die jeweilige Vertragspartei wahrgenommen wer-den. Diese vermittelte Wahrnehmung bedeutet im Ergeb-nis keine Schwächung der Rechtsposition der Betroffe-nen. Zugegebenermaßen wird das Verfahren für dieBetroffenen möglicherweise etwas komplizierter. Ande-rerseits wird dem Anspruch durch die Geltendmachungseitens der Vertragspartei ein höheres Gewicht verliehen.Meine Damen und Herren, wenn wir die einzelnenPunkte durchgehen, können wir feststellen, dass wirüberall zu sehr tragfähigen Ergebnissen gekommen sind.Wer meint, wie es im FDP-Antrag zum Ausdruckkommt, es könne durch Neuverhandlungen zu besserenErgebnissen kommen, der sollte sich nicht täuschen. Ge-rade dort, wo sich die Kritik am lautesten entfacht hat– Frau Kollegin Piltz, ich bin schon auf Art. 12 und dieÜbermittlung sogenannter besonders sensibler Dateneingegangen –, zeigt sich häufig auch ihre Irrationalität.Auslöser hierfür war eine sinnentstellende Pressebericht-erstattung, die auch bei Ihrer Rede, Frau Piltz, durch-drang,
und zwar über den Charakter der Regelung als Schutz-vorschrift, die ins Gegenteil verkehrt wurde; denn – ichsage es noch einmal – Art. 12 schafft eben gerade nichtdie Verpflichtung oder erst die Möglichkeit zur Über-mittlung sensibler Daten, sondern er dient ihrem beson-deren Schutz. Was hier von vielen Seiten als Ausverkaufdes Datenschutzes beklagt wurde, ist genau das Gegen-teil.
Herr Kollege, Sie müssten bitte zum Ende kommen.
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Ja. – Vergleichbare Sonderregelungen gehören zum
klassischen Repertoire internationaler Datenschutzbe-
stimmungen.
Meine Damen und Herren, wir befinden uns, wie ge-
sagt, noch immer im Vorfeld der vermutlich noch in die-
sem Jahr beginnenden gesetzlichen Ratifikation des Ver-
trages, und wir werden dann über alle Einzelheiten
sprechen können. Aus Sicht der Bundesregierung sollten
beide Anträge, die versuchen, im Vorfeld Stimmungen
gegen den Vertragsinhalt zu machen, zurückgewiesen
werden.
Danke schön.
Der Kollege Jan Korte hat jetzt das Wort für die Frak-tion Die Linke.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Staatssekretär Bergner, wir würden gerne Ihre Be-
mühungen in den Verhandlungen um Datenschutz hono-
rieren und Sie dafür loben, aber wir haben dasselbe Pro-
blem wie bei dem Abkommen über Fluggastdaten. Wie
Sie sich erinnern, haben wir auch darüber diskutiert. Sie
haben in diesem Zusammenhang im Innenausschuss mit-
geteilt, dass Sie grundsätzlich über laufende Verhandlun-
gen mit ihren Partnerinnen und Partnern in den USA
keine Auskunft geben. Deswegen können wir überhaupt
nicht nachvollziehen, wie Ihre Bemühungen gewesen
sind. Wir können nicht nachvollziehen, an welcher Stelle
die US-Administration sagt: Das ist mit uns überhaupt
nicht zu machen. – Das würden wir aber gerne wissen,
um Sie unterstützen zu können. Wenn Sie uns das aber
nicht rechtzeitig berichten, können wir Sie nicht unter-
stützen, und das ist das Problem. Die Anträge der FDP
und der Grünen sind sehr sinnvoll, weil wir gerade in
dieser Woche viele schlechte Erfahrungen gemacht ha-
ben, wie es um den Datenschutz bestellt ist. Deswegen
ist es wichtig, sozusagen präventiv für die Bürgerrechte
zu wirken. Deswegen unterstützen wir ausdrücklich
diese Anträge.
Ich will kurz zusammenfassen, welche die Hauptkri-
tikpunkte auch der Linken sind. Wir teilen ausdrücklich
die Kritik, die in den Anträgen formuliert ist. Ein Punkt
steht im Zusammenhang mit der Rendition-Praxis. Da es
keine praktische, nachvollziehbare Definition von Terro-
rismus gibt – auch nicht in diesem Abkommen –, ist der
Willkür Tür und Tor geöffnet. Das ist das Hauptproblem.
Zur Speicherdauer in den USA – 99 Jahre – ist schon et-
was gesagt worden. Wenn wir darüber diskutieren, dass
diese Daten – das ist in den USA anders als in der Bun-
desrepublik – zum Beispiel an die CIA, die NSA, das
FBI und was weiß ich, welche Geheimdienste und Halb-
geheimdienste es inzwischen dort gibt, weitergegeben
werden, dann würde mich interessieren, wie Sie in die-
sen Verhandlungen darauf hingewirkt haben, dass diese
Daten nicht für eine Praxis genutzt werden, die wir nicht
mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbaren können,
die aber in den USA seit 2001 gang und gäbe ist.
Ich hoffe, dass der Kollege Gunkel heute wieder so
trefflich die Vorlage kritisiert, wie er das beim letzten
Mal gemacht hat. Darüber würde ich mich sehr freuen.
Ich glaube aber, das passiert nicht, weil die Federfüh-
rung auch bei der Bundesministerin Zypries gelegen hat.
Dazu muss man sagen: Es ist nicht nur Herr Schäuble,
der Ärger kriegen muss, sondern in diesem Fall auch
Frau Zypries. Eines verstehe ich bei der SPD nicht; ich
kann es nur wiederholen: Sie erklären auf Ihrem Ham-
burger Parteitag, dass die SPD wieder die Bürgerrechts-
partei in diesem Land sein soll. Beim BKA-Gesetz ha-
ben Sie laut angekündigt, dass Sie da nicht mitmachen
werden und dass die Onlinedurchsuchung nicht stattfin-
den werde. Spätestens nächste Woche fallen Sie um und
werden alles mitmachen. Im Zweifel sind Sie schon um-
gefallen.
Ich kann gar nicht verstehen – schließlich wollen Sie
sich hier wieder als Bürgerrechtspartei profilieren; zu-
mindest bei uns sind Parteitagsbeschlüsse sehr viel wert;
wir halten uns immer daran; ich dachte immer, das sei
bei Ihnen auch so –, wie man das hier verteidigen kann.
Ich hoffe, das passiert nicht.
Wir lehnen das ab. Wir fordern, die Ratifizierung zu
stoppen, neu zu verhandeln und vor allem den Bundes-
tag in diesen Prozess einzubinden, damit wir mit unseren
sachlich orientierten Hinweisen eine Hilfestellung geben
können.
Danke.
Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Wolfgang
Gunkel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehr-ter Kollege Korte, ich muss natürlich zuerst einmal aufdas eingehen, was Sie hier kurz angesprochen haben.Die Situation hier ist ein klein wenig anders als zuletztbeim Fluggastdatenabkommen mit den USA. Der we-sentliche Unterschied besteht darin, dass man in diesesAbkommen einen Paragrafen eingefügt hat – den be-reits erwähnten Art. 12 –, durch den dafür Sorge getra-gen wird – von der Opposition wird dies anders interpre-tiert –, dass zum Schutze der Menschen verhindertwerden soll, dass diese Daten ohne konkreten Anlassweitergegeben werden.
– Das ist beim Fluggastdatenabkommen mit den USAaber durchaus möglich. Deswegen habe ich es damalskritisiert. Hier ist das nicht der Fall, und daher kritisiereich das heute nicht.Was die Onlinedurchsuchungen angeht, brauchen wirgar nicht umzufallen.
Offensichtlich haben Sie übersehen, dass das Bundesver-fassungsgericht dazu ein Urteil gefällt hat. Das Bundes-verfassungsgericht hat ausgeführt, dass Onlinedurchsu-chungen grundsätzlich möglich sind, allerdings untersehr schwierigen Bedingungen.
– Nein, es sagt keiner, dass man es machen muss.
Man kann aber auch etwas tun, was man nicht unbedingtlassen will. Daher ist es unredlich, zu sagen, wir fielen in
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Wolfgang Gunkelirgendeiner Weise um. Wir werden mit den Kollegen derCDU/CSU darüber noch ausführlich diskutieren. DasKabinett hat einen entsprechenden Entwurf verabschie-det. Seien Sie mit diesen Äußerungen also bitte schönein bisschen vorsichtig! Ich bemühe mich schon, dasGanze auch kritisch zu betrachten. Was Recht ist, mussallerdings auch Recht bleiben. Dieser Entwurf unter-scheidet sich ganz wesentlich von dem, was uns bishervorgelegt worden ist.Nun zu den einzelnen Punkten. Die Anträge der Grü-nen und der FDP befassen sich mit dem besagten Ab-kommen zwischen Deutschland und den VereinigtenStaaten von Amerika vom 11. März dieses Jahres. DasAbkommen soll die Zusammenarbeit bei der Verhinde-rung und der Bekämpfung schwerwiegender Kriminali-tät vertiefen, insbesondere der terroristischen Gefahr.Konkret geht es um Datenaustausch. Geregelt wird indiesem Vertrag, dass Fingerabdrücke und DNA-Datenautomatisiert in den Datenbänken beider Länder abgegli-chen und dass personenbezogene Daten zu sogenanntenterroristischen Gefährdern im Wege der Rechtshilfeübermittelt werden können.Es ist schon mehrmals gesagt worden, dass dieses Ab-kommen an den Vertrag von Prüm angeglichen wordenist. Dieser Vertrag ist ein Abkommen zwischen den EU-Staaten. Es galt bisher zwischen sieben Staaten. Es istunter deutscher Ratspräsidentschaft in den Rechtsrah-men der EU überführt worden und ist damit verbindlichfür alle anderen EU-Mitglieder. Richtig ist – Frau Piltz,das stimmt –, dass es noch nicht alle EU-Mitglieder um-gesetzt, das heißt ratifiziert haben. Aber es dauert ebenalles seine Zeit. Man hat auch bei uns nicht alles sofortumgesetzt.Glauben Sie mir, dass auch ich über das Zustande-kommen dieses Vertrages etwas überrascht war;
schließlich waren von deutscher Seite ausschließlich dasBundesinnenministerium und das Bundesjustizministe-rium beteiligt, das Parlament leider nicht. Daran habe ichKritik zu üben. Man hätte uns vielleicht etwas eher ein-binden sollen.
Die Chance, uns besser einzubeziehen, besteht noch.Wir können darüber im Innenausschuss noch diskutie-ren, bevor der Gesetzentwurf im Bundestag verabschie-det wird. Aufgrund Ihres Antrags streiten wir auch heutedarüber, ob es sinnvoll ist, bestimmte Regelungen zu än-dern. Es ist ja noch nie ein Gesetzentwurf so verabschie-det worden, wie er eingebracht worden ist.
– Ja, Struck’sches Gesetz. Danke für die Hilfestellung,Herr Kollege. – Das ist im Rahmen der demokratischenGepflogenheiten doch alles ganz normal. Also bestehtkein Grund, daran Kritik zu üben.Grundsätzlich bin ich davon überzeugt, dass diesesAbkommen notwendig ist. Angesichts der steigendenterroristischen Gefahren, die wir ohne Zweifel zu ver-zeichnen haben, muss man eine gute Zusammenarbeitmit den Behörden der Vereinigten Staaten pflegen.
Wir können nicht so tun, als wenn die USA das Land desBösen oder Ähnliches wären. Die Hinweise, die aus denUSA kamen, haben zumindest wesentlich dazu beigetra-gen, die Anschläge der Sauerland-Gruppe gegen denamerikanischen Luftwaffenstützpunkt Ramstein sowiegegen amerikanische und usbekische Konsulareinrich-tungen im Herbst vergangenen Jahres zu verhindern.
Dennoch ist an dieser Stelle die Frage zu stellen, obman eine ausgewogene Balance zwischen Sicherheit undFreiheit geschaffen hat. Wie Sie wissen, sollte man ausmeiner Sicht immer zugunsten der Freiheit entscheiden,wenn es denn geht.
Die personenbezogenen Daten, um die es hier geht,unterscheiden sich vom Fluggastdatenabkommen, weilin den USA ohne Anlass gesammelt wird. In Deutsch-land wird aber nur aus einem bestimmten Anlass gesam-melt. Qualitativ gesehen ist das ein Unterschied. InArt. 10 handelt es sich um personenbezogene Daten wieden Namen, das Geburtsdatum und Ähnliches. Darankann ich nichts Verwerfliches erkennen.Interessant wird es, wenn zusätzliche Daten übermit-t
Rede von: Unbekanntinfo_outline
das Verfassungsschutzge-setz und das BKA-Gesetz. An dieser Stelle kann ich nursagen: Hier wird ganz konkret darauf abgestellt, dass diePersonen dem terroristischen Umfeld zugerechnet wer-den, zu den sogenannten Gefährdern zählen oder andereErmittlungen ausgelöst haben. Der Grundsatz, der da be-steht, ist, dass diese Daten nur in solchen Fällen über-haupt übermittelt werden können.Die politische Weltanschauung, die Mitgliedschaft ineiner Gewerkschaft oder Auskünfte über Gesundheit undSexualleben, die in Art. 12 beschrieben werden, könnennur unter bestimmten Voraussetzungen herausgegebenwerden.
– Ich habe sie gerade genannt. Wenn es sich um Gefähr-der handelt oder wenn sich Personen in einem Ausbil-dungslager befinden. Das sind alles Personen, die mehroder weniger in die staatlichen Maßnahmen einbezogensind.
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Wolfgang Gunkel– Ich sagte gerade, dass diese Daten nur übermittelt wer-den, wenn sie relevant sind und für die Ermittlungen vonBedeutung sind. Es liegt auch auf der Hand, dass diesüberwiegend nicht der Fall ist.Zur berühmten Gewerkschaftszugehörigkeit habe ichein Beispiel:
Wenn jemand, der des Terrorismus verdächtigt ist, zufäl-lig Gewerkschaftsmitglied ist, ist es nicht zwingend,dass Letzteres übermittelt wird. Denn dazu muss ein re-levanter Anlass bestehen. Lassen Sie die Kirche doch imDorf!
Diese Vorschrift kommt nur in den seltensten Fällen zurAnwendung.
Wenn dieses Gewerkschaftsmitglied einer konspirati-ven Gruppe angehört, die einen Anschlag vorbereitet,dann wäre zum Beispiel zu prüfen, ob man das übermit-telt. Dies wäre der Fall, wenn die Schlussfolgerung ge-zogen werden könnte, dass die Gewerkschaftsgruppe diekonspirative Gruppe ist; aber auch das ist höchst un-wahrscheinlich. Ich glaube nicht, dass dies so bedeutendist, dass man hier ein Konstrukt ablehnt, welches insge-samt der Terrorismusbekämpfung dient.Die Bedenken hinsichtlich des Datenschutzniveauskennen wir. Die amerikanischen Verhältnisse haben wirschon beim Fluggastdatenabkommen erlebt. Die ameri-kanischen Bestimmungen sind natürlich nicht wie diedeutschen Bestimmungen, das ist ganz klar. Sie habendas benannt, Frau Kollegin Piltz: Es handelt sich umAufbewahrungsfristen, um Übermittlungsfristen oderÜbermittlungsmöglichkeiten. Es ist sicherlich zu kriti-sieren, dass das nicht ausreichend geregelt ist. Vielleichtbesteht die Möglichkeit, da noch etwas nachzubessern.Die Kritik hält sich deshalb vonseiten unserer Frak-tion in engen Grenzen. Nach den schwierigen Verhand-lungen – mit den Amerikanern ist es sicherlich nichtganz so einfach zu realisieren – ist ein Werk vorgelegtworden,
das zwar noch zu diskutieren ist, das aber für die Krimi-nalitätsbekämpfung erst einmal hilfreich ist.Aus den Gründen, die ich genannt habe, kommen wirzu der Auffassung, dass wir die Anträge zunächst zu-rückweisen. Wir setzen darauf, dass wir das Abkommenim Gesetzgebungsverfahren, wenn es in den Innenaus-schuss kommt, noch einmal ausführlich behandeln kön-nen und die eine oder andere Änderung oder Verbesse-rung vornehmen können.In diesem Sinne danke ich für die Aufmerksamkeit.
Wolfgang Wieland spricht jetzt für das Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heutehätte ich mir fast gewünscht, dass der Kollege Gehb zudiesem Thema spricht. Gestern hat er über Mammogra-fie gesprochen. Ich hätte es mir gewünscht, weil er im-mer versucht, uns die rechtliche Einordnung von sexuel-len Dingen zu präsentieren.
Ob es passt oder nicht: Er versucht es immer. Die Frage,was nun Sexualdaten mit der Abwehr terroristischer Ge-fahr zu tun haben, hat hier noch niemand erklären kön-nen; auch der Kollege Gunkel nicht.
Es wird immer gesagt, dass es sich um eine Schutz-vorschrift handelt. Damals in der Fragestunde hat HerrBergner zu den Fragen, wer die Daten sammelt und inwelcher Datei sie zu finden sind, nichts sagen können.Wenn dieser Art. 12 wirklich eine Schutzvorschrift wäre,müsste er wie folgt lauten:Personenbezogene Daten, aus denen die Rasse oderethnische Herkunft, politische Anschauungen, reli-giöse oder sonstige Überzeugungen oder die Mit-gliedschaft in Gewerkschaften hervorgeht oder diedie Gesundheit oder das Sexualleben betreffen, dür-fen nicht übermittelt werden.Das wäre eine klare Schutzvorschrift.
Stattdessen wird hier gesagt: nur wenn die Daten be-sonders relevant sind. Was soll denn das? Werden dennsonst irrelevante Daten übermittelt? Natürlich sollen nurrelevante Daten übermittelt werden, und irgendwelchenAmtsleuten ist es vorbehalten, sexuelle Orientierung,Gewerkschaftszugehörigkeit oder sonst etwas an dieUSA zu übermitteln. Ihr Gewerkschaftsvorsitzender Mi-chael Sommer liegt da richtig, das GdP-Mitglied Wolf-gang Gunkel liegt da leider völlig falsch.
Die allererste Frage, die sich einem stellt, lautet doch:Warum macht das die Bundesrepublik im Alleingang?Wie hat man sich den Mund zerrissen, als die Tschechenein ähnliches Separatabkommen zum VisumverfahrenEnde Februar abgeschlossen haben! Da hieß es: Warumein Alleingang? Warum nicht im Konzert mit den ande-ren EU-Staaten? Nun geht man hin, schließt mit denUSA ein Abkommen und hat noch die Chuzpe, an des-sen Anfang zu schreiben, die anderen EU-Mitgliedersollten sich dieses zum Vorbild nehmen und auch diesenWeg gehen. Gehen Sie einmal nach Brüssel und redenSie mit den Mitgliedern der Kommission darüber, wie
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Wolfgang Wielanddas dort aufgefasst wurde: erstens als Affront und zwei-tens als Schwächung der europäischen Position gegen-über den USA. Das ganze Ding gehört in den Papierkorbund darf keinesfalls vom Bundestag ratifiziert werden.
Eine weitere Frage muss man stellen, auch wenn dieUSA natürlich unsere Verbündeten sind: Gab es da nichtgewisse Probleme in den letzten Jahren? Warum tagtdenn hier seit Jahr und Tag ein Untersuchungsaus-schuss?
– Sie wussten es einmal besser, Kollege Benneter, undhaben da auch einmal sehr kritische Fragen gestellt, zumBeispiel, ob es denn sein kann, dass aufgrund von Daten-weitergabe durch deutsche Behörden ein Herr Zammarin Marokko gekidnappt oder anderswie gefangen ge-nommen wird und dann in Damaskus im Gefängnis lan-det, wo er heute noch sitzt.
Die Frage ist also, ob wir gegenüber den USA deswe-gen nicht besondere einschränkende Sicherheitsstan-dards brauchen. Aber statt hieraus endlich einmal dieKonsequenzen zu ziehen, machen Sie das Gegenteil. Siemachen alle Aktenschränke und alle Dateien zugänglichund schlagen ein Abkommen vor, das die Daten hem-mungslos fließen lässt.
Das ist doch geradezu unglaublich. Ein gegenteiligesVerhalten wäre gegenüber den USA nötig.
– Wir werden die Beziehungen zu den USA nicht abbre-chen.Es ist sogar richtig, sich über solche Dinge zu unter-halten, aber bitte im europäischen Rahmen und nicht imAlleingang. Von den Rendition-Fällen waren ja auch an-dere europäische Staaten betroffen. Das Europaparla-ment, auch Abgeordnete Ihrer Fraktion, hat sich damitdeutlich kritischer – ich erinnere an Herrn Kreissl-Dörfler und andere – befasst, als Sie es hier tun. Es istdoch wohl nicht normal, dass Menschen in Europa ge-kidnappt und irgendwohin verbracht werden, die Euro-päer dann aber einen Keil zwischen sich treiben lassenund einzeln entsprechende Abkommen mit den USAabschließen. Die USA gehen hier nach dem Motto:„Divide et impera!“ vor, und wir sagen: Bitte, bitte, liebeUSA, hier habt ihr unsere Daten. Wir stellen all das, waswir wissen, zur Verfügung.
So kann es nun wirklich nicht laufen.Dieses Abkommen – ich wiederhole mich – gehört inden Reißwolf.
Damit schließe ich die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 16/9094 und 16/9360 an die in der Ta-gesordnung vorgesehenen Ausschüsse vorgeschlagen. –Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlos-sen.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 12 a und bauf:a) Beratung der Unterrichtung durch den Bundesbe-auftragten für den Datenschutz und die Informa-tionsfreiheitTätigkeitsbericht 2005 und 2006 des Bundes-beauftragten für den Datenschutz und die In-formationsfreiheit – 21. Tätigkeitsbericht –– Drucksache 16/4950 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für TourismusAusschuss für Kultur und Medienb) Beratung der Unterrichtung durch den Bundesbe-auftragten für den Datenschutz und die Informati-onsfreiheitTätigkeitsbericht zur Informationsfreiheit fürdie Jahre 2006 und 2007– Drucksache 16/8500 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität undGeschäftsordnungSportausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzVerteidigungsausschussAusschuss für. GesundheitAusschuss für TourismusAusschuss für Kultur und MedienEs ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. –Dazu höre ich keinen Widerspruch.Dann eröffne ich die Aussprache und erteile das Wortder Kollegin Beatrix Philipp für die CDU/CSU-Fraktion.
Metadaten/Kopzeile:
17598 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Ich gebe zu, es ist nach der gestrigen Debatteüber die Bespitzelungsaffäre bei der Deutschen Telekomschwierig, heute über bereits abgeschlossene Vorgängeaus den Jahren 2005 und 2006 zu sprechen. Hinzukommt, dass die Vorgänge bei der Telekom von solchungeheurer krimineller Energie zeugen, dass eigentlichfür jeden klar ist: Auch der Gesetzgeber ist nicht in derLage, jeden Missbrauch und jede Form kriminellen Ver-haltens auszuschalten und auszuschließen.Die FAZ hat daher am 3. Juni in bemerkenswerter Of-fenheit ausgeführt:Auch der Bundesdatenschutzbeauftragte, der dieGelegenheit ergreift, die Vergrößerung seiner Be-hörde zu fordern, könnte kriminellen Datenmiss-brauch mit noch so vielen Kontrolleuren nicht ver-hindern.Ich glaube, das ist wahr. Aber wir müssen versuchen,Missbrauch so weit wie eben leistbar schwierig bis un-möglich zu machen. Wir müssen außerdem aus dem vor-liegenden Bericht Konsequenzen ziehen, ohne irgend-welchen Ergebnissen aus laufenden Untersuchungenvorgreifen zu wollen.Ich weiß nicht, wie Sie auf den Skandal bei der Deut-schen Telekom reagiert haben.
Mir schoss durch den Kopf: Es ist ungeheuerlich, dass indiesem großen Unternehmen mit Tausenden von Mitar-beitern ein so eklatanter Verstoß so lange Zeit unbemerktgeblieben ist. Man kann sicherlich davon ausgehen, dasses eine Reihe von Mitwissern gegeben hat. Diese Tatsa-che wiederum lässt ein kleines, aber feines Kapitel ausdem vorliegenden Bericht in einem besonderen Licht er-scheinen. Ich zitiere aus dem Kapitel 3.3.1 mit dem Titel„Whistleblowing – Richtiger Umgang mit Insidertipps“:Gründe für die Einrichtung solcher Hotlines sind– neben der Umsetzung gesetzlicher Vorgaben –auch eigene Unternehmensinteressen an der Aufde-ckung rechtswidrigen Handelns und ethisch vor-werfbarer Verhaltensweisen.Der Düsseldorfer Kreis – jetzt wird es spannend – be-fasst sich mit genau dieser Problematik in einemArbeitskreis, weil eben auch dieses interne Verfahren– man höre und staune – „datenschutzkonform“ gestaltetwerden muss. Es ist fast skurril, dass auch das Meldever-fahren – im Falle der Telekom betrifft dies den kriminel-len Umgang mit Daten – dem Datenschutz unterliegtund dementsprechend datenschutzkonform sein muss.Das wirft natürlich schon die Frage auf, ob wir uns gene-rell mit unserer Datenschutzgesetzgebung auf dem rich-tigen Weg befinden.
– Herr Tauss, auch das Audit hätte nicht geholfen. DerDatenschutzbeauftragte hat gestern im Ausschuss er-klärt, er sei regelmäßig bei der Telekom gewesen undhabe regelmäßig überprüft. Sie wissen genauso gut wieich, dass nur ein Insider die Schwächen und Fehler sei-nes Unternehmens kennt. Es war immer ein Argumentvon uns gegen das Audit, dass nämlich derjenige, dervon außen kommt, sich in einer erheblich schwächerenPosition befindet als der Insider. Das Audit hätte nichtgeholfen, weil es nur darauf abzielt, sicherzustellen, dassGesetze eingehalten werden. Dies kann man aber auf an-deren Wegen erreichen.Auch das will ich ehrlicherweise sagen: Ein Unter-nehmen wie die Telekom könnte mit dieser Angelegen-heit auf freiwilliger Basis locker umgehen. Wir haben inunserem gemeinsamen Entschließungsantrag gesagt,dass ein Audit freiwillig und unbürokratisch möglich ist.Wenn wir dies aber flächendeckend und für alle verbind-lich machen würden, würden wir den Mittelstand inDeutschland in erheblichem Maße belasten. Das würdezu weiteren Standortnachteilen führen.
Ich will zu der Überlegung zurückkommen, ob wiruns, was die immer engmaschiger werdende Kontrolleim Rahmen des Datenschutzes angeht, auf dem richtigenWeg befinden und ob man nicht einmal in einem Teilbe-reich einen anderen Weg beschreiten sollte.Wir hatten einmal gemeinsam eine etwas breiter an-gelegte Anhörung durchgeführt. Damals hat der Sach-verständige Professor Dr. Abel einen Gedanken ent-wickelt, den ich nach wie vor für richtig und fürausgesprochen interessant halte. Er hat eine Konkretisie-rung des Wettbewerbsrechts dahin gehend gefordert,dass datenschutzrechtliche Verstöße und auch das Unter-lassen datenschutzrechtlich erforderlicher Maßnahmenals unlauterer Vorsprung durch Rechtsbruch anzusehenund mit einem wettbewerbsrechtlichen Instrumentariumzu ahnden sei. Dass eine solche Bestimmung nicht zu-letzt im Interesse eines redlichen Geschäftsverkehrs lie-gen würde, würde natürlich ein Grund dafür sein. Einweiterer Grund wäre, dass dies den bürokratischen Auf-wand im Zusammenhang mit dem Datenschutz erheblichreduzieren würde.Meine Damen und Herren, wir haben vor etwas mehrals einem Jahr hier die gemeinsame Entschließung zum20. Tätigkeitsbericht debattiert. Wir sind auch jetzt aufdem Wege, zu einer gemeinsamen Entschließung zukommen. Ich finde das bemerkenswert und bin ein biss-chen stolz darauf, dass es bei aller Unterschiedlichkeit inder Auffassung vom Datenschutz doch auch Gemeinsa-mes gibt und man der staunenden Bevölkerung eine ge-meinsame Auffassung präsentieren kann.
Dazu gehört sicherlich, dass wir über den für Miss-brauchsfälle gültigen Bußgeldrahmen nachdenken undzu einem Ergebnis kommen werden.Gestern hat der Bundesdatenschutzbeauftragte imAusschuss sehr klar zum Ausdruck gebracht, dass nichteinmal die Bußgeldvorschriften im Bundesdatenschutz-gesetz und im Telekommunikationsgesetz einheitlich
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Beatrix Philippsind. Das ist nicht in Ordnung. Die Beträge, die wir imgeltenden Recht vorgesehen haben, wirken, wie man beider Telekom sieht, in keinem Falle wirklich abschre-ckend. Darüber muss also sicherlich diskutiert werden.Wir werden im Hinblick auf die Einführung eines Au-dits – ich muss nach wie vor sagen, dass die Telekom einBeweis dafür ist, dass das Audit, anders als es immerverkauft wird, kein Allheilmittel ist – dabei bleiben, es,wie wir es letztens beschlossen haben, freiwillig und un-bürokratisch auf den Weg zu bringen.Schließlich: Es gibt eine Menge von Beispielen imTätigkeitsbericht, den wir im Ausschuss noch intensivbesprechen werden. Beim Fluggastdatenabkommen mitden USA haben wir die Hausaufgaben gemacht. Es wirdum das Thema RFID gehen. Dort wird es wieder zu ei-ner Abwägung zwischen dem Nutzen und den Chancen,die mit neuen Technologien verbunden sind, und daten-schutzrechtlichen Bedenken kommen.Sicherlich wird wieder die Onlinedurchsuchung aufder Tagesordnung stehen; dazu ist eben schon ausführ-lich gesprochen worden. Dabei müsste es ein gemeinsa-mes Anliegen sein, der Bevölkerung zu sagen, was mitOnlinedurchsuchungen wirklich verbunden ist. Ich habeheute nur so im Vorbeigehen gesehen, dass es eine Um-frage von Forsa gibt. Es ist ja abenteuerlich, was dieLeute glauben, was mit Onlinedurchsuchungen verbun-den ist oder verbunden sein kann. Das heißt, dass sieüber Details, über die Bedingungen und den engen Rah-men, in dem eine Onlinedurchsuchung überhaupt statt-finden kann, nicht informiert sind. Es müsste eigentlichein Anliegen aller hier in diesem Hause sein, das deut-lich zu machen.Man soll ja nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen;aber es ist doch toll, dass sich InnenministerDr. Schäuble dafür verteidigen muss, dass er sich dafüreinsetzt, dass die Durchführung von Onlinedurchsu-chungen in Form eines Gesetzes geregelt werden soll,während sein Vorgänger, Innenminister Schily, der Auf-fassung war, dass eine Verordnung ausreiche. Sie allewissen, dass wir uns über Wochen und Monate bemühthaben, Staatssekretär Diwell im Innenausschuss zu be-fragen, wie das eigentlich abgegangen ist. Es ist unsnicht gelungen.
Ich will es noch einmal sagen: Während InnenministerDr. Schäuble sagt: „Wir brauchen dafür ein Gesetz“, hatInnenminister Schily die Auffassung vertreten, dass eineVerordnung ohne Beteiligung des Parlamentes für dieDurchführung von Onlinedurchsuchungen ausreiche. Solange ist das noch nicht her, als dass uns das nicht nochgut im Gedächtnis wäre.Es ist noch viel zu sagen; aber die Redezeit ist schnellum. Ich möchte noch darauf hinweisen, dass ich es fürsehr erfreulich halte, dass der Bundesdatenschutzbeauf-tragte, der auch für das Informationsfreiheitsgesetz zu-ständig ist, der Auffassung ist, dass den meisten Infor-mationsbegehren der Bürgerinnen und Bürgerstattgegeben wurde. Wie gesagt, es ist noch viel zu die-sem Bericht zu sagen. Wir werden das im Ausschuss tunund sind natürlich deswegen mit der Überweisung ein-verstanden.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gisela Piltz für die
FDP-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen undKollegen! Herr Schaar hat gleich zwei Tätigkeitsberichtevorgelegt: einen zum Datenschutz und einen zur Infor-mationsfreiheit. Beide Berichte lassen aus unserer Sichtdeutlich erkennen, von welch grundlegender Bedeutungdie kritische Begleitung dieser Themen durch eine unab-hängige Stelle ist.Ich möchte mich ausdrücklich bei Herrn Schaar sowiebei seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die ge-leistete Arbeit bedanken. Wer regelmäßig im Innenaus-schuss zu Gast war, durfte im Zusammenhang mit densogenannten Postdaten miterleben: Erst der Bericht desBundesdatenschutzbeauftragten war fundiert genug, umuns darüber in Kenntnis zu setzen, was da überhauptpassiert ist. Leider war auch nach dreifachem Nachfra-gen bei den entsprechenden Ministerialbeamten keineKlarheit zu bekommen. Der Behörde gebührt unser herz-licher Dank.
In einer modernen Informationsgesellschaft ist ein In-formationsfreiheitsgesetz unerlässlich. Seit Inkrafttretendieses Gesetzes im Januar 2006 müssen Bundesbehör-den und sonstige öffentliche Stellen des Bundes BürgernAkteneinsicht bzw. Auskünfte gewähren. Ich bitte dieje-nigen, die hier zuschauen – vielleicht haben Sie davonnoch nicht gehört; die Bundesregierung macht es nichtöffentlich, weil es ihr nicht so ganz in den Kram passt –:Machen Sie davon Gebrauch! Fragen Sie nach, wenn Sieetwas interessiert! Amtsgeheimnisse bzw. beschränkteAktenöffentlichkeit gehören nicht zu einer modernenVerwaltung.Die geäußerten Befürchtungen haben sich nicht be-wahrheitet. Weder ist eine Verwaltung untergegangennoch gab es eine Flut von Anträgen; all das ist nicht ein-getreten. Dennoch zeigt sich nach knapp zweieinhalbJahren, dass das Gesetz verbesserungsbedürftig ist. Dazugehört aus unserer Sicht auch, dafür zu sorgen, dass sichdie Behörden bei Auslegungsfragen nicht scheuen, dieBeratungshilfe des Informationsbeauftragten in An-spruch zu nehmen. Wir brauchen eine Fragekultur in denBehörden. Das vermeidet Ärger, geht im Zweifel schnel-
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Gisela Piltzler und spart unnötige Bürokratie. Das ist eine gute Sa-che.
Im Tätigkeitsbericht zum Datenschutz kommt deut-lich zum Ausdruck, dass die Bundesregierung vor allemeine Antwort auf die technischen Entwicklungen hat:möglichst umfassende Überwachung, von der vorwie-gend Unverdächtige betroffen sind. Wir haben geradeschon über einen anderen Aspekt gesprochen; hinzukommen die Vorratsdatenspeicherung, die Fluggastda-tenübermittlung, biometrische Daten in Pässen und baldauch in Personalausweisen oder der vorgelegte Entwurfeines BKA-Gesetzes, das die Möglichkeit zu heimlichenOnlinedurchsuchungen schafft.
Frau Kollegin Philipp, das ist der Unterschied: Die On-linedurchsuchungen dürfen heimlich sein.
Das hat es in unserem Rechtsstaat bisher nicht gegeben:heimliche Durchsuchungen. Das ist eine ganz neue Qua-lität. Das können Sie nicht einfach so abtun.
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmungwird immer weiter beschnitten. Die Bundesregierung istauf dem Weg, den gläsernen Bürger zu schaffen. Ausunserer Sicht muss sich der Bundestag dringend mit denrasanten Entwicklungen bei den Technologien ausei-nandersetzen und ihnen neue Regelungen im Bundesda-tenschutzgesetz entgegensetzen. Da muss die Bundesre-gierung endlich aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen.Auch in der Bundesverwaltung müssen Vorkehrungengetroffen werden – das wird im Bericht deutlich –, umvertrauliche Daten ausreichend zu sichern. Das war lei-der nicht immer der Fall. Nach einer Kleinen Anfrageunserer Fraktion hat sich herausgestellt, dass Hundertevon Festplatten und Computern der Bundesverwaltungeinfach verloren gegangen sind. Ich weiß nicht, was Siemachen, wenn Ihnen ein Computer verloren geht. Esverschwinden also nicht nur in Großbritannien, sondernauch hier Daten. Ich möchte gar nicht wissen, wer dieseDaten in die Hände bekommen hat. Ich finde, darummuss man sich kümmern. Es ist nicht so, als könne so et-was in Deutschland nicht passieren; es passiert jedenTag. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie et-was dagegen tut.Ich begrüße ausdrücklich die umfangreichen Ausfüh-rungen im Tätigkeitsbericht zum Sozialdatenschutz. Ge-rade in diesem Bereich wissen die Betroffenen oft nicht,an wen sie sich wenden sollen. Der Bericht macht deut-lich, dass der Datenschutzbeauftragte häufig einen ret-tenden Anker für die Betroffenen bietet. Wir sollten da-für sorgen, dass kein Rettungsanker nötig ist.Nicht nur der Staat, sondern auch Private sammelnDaten; Kollegin Philipp hat es eben schon gesagt. DurchEinführung eines Datenschutzaudits würde auf jedenFall ein Teil des verloren gegangenen Vertrauens derBürgerinnen und Bürger zurückgewonnen werden. Es istwirklich ein Armutszeugnis, dass es auch die Große Ko-alition seit fast drei Jahren nicht schafft, es einzuführen.
Schleswig-Holstein hat es uns vorgemacht: Dort ist dasDatenschutzaudit Realität; es funktioniert.Ich teile nicht die Auffassung von Herrn Schaar unddes Düsseldorfer Kreises, dass Rechtsanwälte unbe-grenzt auskunftspflichtig gegenüber Datenschutzkon-trollinstanzen sein sollen; denn aus meiner Sicht kann esnicht sein, dass Datenschutzkontrollinstanzen mehrRechte haben als Staatsanwalt und Gerichte bei straf-rechtlichen Ermittlungen.Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Daten-schutz ist in unserer Informationsgesellschaft wichtigerdenn je. Wir fordern das Parlament auf, endlich eine Re-naissance des Datenschutzes einzuleiten. Die Bürgerin-nen und Bürger dieses Landes hätten das verdient.
Nächster Redner ist der Kollege Jörg Tauss für die
SPD-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Highlight undRenaissance – ich freue mich über die Vorschusslorbee-ren.
– Frau Piltz, Sie haben bisher noch nichts Nettes gesagt.Sie haben aber noch die Möglichkeit dazu.Wir diskutieren heute über zwei Berichte des Daten-schutzbeauftragten zum Datenschutz und zur Informa-tionsfreiheit. Auf Letzteres wird mein Kollege Bürscheingehen. An dieser Stelle will ich nur sagen: Es bestehtHandlungsbedarf. Eine ganze Reihe Abgeordneter nutztdieses Gesetz. Auch ich gehöre dazu. Es ist interessant,dass wir nicht nur ein Gesetz gemacht haben, sondernmittlerweile auch für die Literatur dazu sorgen. Von ei-nem 17 000-seitigen Vertrag zum Thema Maut bekamich vom Ministerium zwischenzeitlich vier Seiten. Wendas interessiert, dem gebe ich gern Akteneinsicht. Hiersind die vier Blätter.
Es gibt noch einiges zu tun, damit wir zu einer bürger-freundlicheren, offeneren und transparenteren Verwal-tung kommen, was im Sinn des Gesetzgebers war.
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Jörg TaussDas war das letzte Gesetz, das wir unter Rot-Grün,übrigens mit Zustimmung der FDP – Dank dafür –,durch Bundestag und Bundesrat gebracht haben.
– Gelegentlich kann man euch schon loben. Es ist janicht alles schlecht, was ihr macht.
Eure Steuerkonzepte sind nicht so toll, aber in bürger-rechtlicher Hinsicht können wir zueinanderfinden, auchwenn ihr an der einen oder anderen Stelle übertreibt.Der Bericht des Bundesdatenschutzbeauftragten istein guter Bericht. Er zeigt, dass der Datenschutz inDeutschland einen hohen Stellenwert hat. Allerdings istes bedauerlich – so empfinden das vor allen Dingen wir,die wir uns in diesem Bereich seit vielen Jahren engagie-ren –, dass es eines Skandals wie desjenigen bei der Te-lekom bedurfte, damit dieses Thema auch öffentlichKonjunktur bekommt. Ich hätte mir diese Öffentlichkeitfrüher gewünscht. Ich erinnere mich an Begegnungenmit dem einen oder anderen Journalisten; ich vermeidees, jetzt Namen zu nennen. Ich möchte aber darauf hin-weisen, dass mir ein Journalist, dem ich mit Datenschutzkam, gesagt hat: Tauss, das hört sich sehr interessant an,aber hast du denn kein Thema, das sexy ist? Im journa-listischen Sinn galt Datenschutz nicht als sexy. Ich be-dauere sehr, dass auch die Journalisten dazu beigetragenhaben, dass dieses Thema nicht öffentlich behandeltwurde. Es gab kein Bewusstsein für die Wichtigkeit die-ses Themas. Wenige Journalisten waren die Ausnahme;ich nenne Herrn Prantl. Das Thema hat wieder Konjunk-tur. Für uns ist das eine Chance, etwas zu verbessern.Liebe Frau Kollegin Philipp, ich höre nicht auf, Siemit sanfter Stimme zu umwerben.
Ihre Position zum Thema Datenschutzaudit sollten Sieeinmal überprüfen. Es geht hier nicht um Pflicht. Wirsollten uns einfach einmal zusammensetzen; das wärevon Vorteil.
Das Bundesinnenministerium hat in vorbildlicher Weiseangefangen, an einem Gesetzentwurf zu arbeiten. Erliegt im Moment in der Schublade. Herr StaatssekretärBergner, wir sind damit noch nicht so ganz zufrieden.Die Koalition sollte in den nächsten Tagen zusammen-kommen und den einen oder anderen Vorbehalt überwin-den.
– Vielen Dank, an dieser Stelle kann ruhig geklatschtwerden, damit Frau Philipp nicht glaubt, Datenschutz seinur ein Hobby von mir.Beim Datenschutzauditgesetz geht es in der Tat nichtdarum, Bürokratie zu schaffen, sondern darum, ein mo-dernes Instrumentarium zu erreichen. Wir wissen, dasswir bei einem in die Jahre gekommenen Bundesdaten-schutzgesetz mit der technischen Entwicklung nichtSchritt halten können. Die Entwicklung wird immerschneller sein, als wir Gesetze machen können. Es gehtnicht darum, ein Gesetz für diejenigen zu machen, diesich – das ist ja immer selbstverständlich – an die Ge-setze halten. Wir wollen vielmehr denjenigen, die in be-sonderer Art und Weise deutlich machen, dass sie mitden sensiblen Daten, die ihnen übereignet worden sind,verantwortungsbewusst umgehen, denjenigen, die sichmit diesem Thema intensiv beschäftigen, sich Daten-schutzkonzepte überlegen und das im Wettbewerb nut-zen wollen, einen Wettbewerbsvorteil gegenüber unseriö-sen Dienstleistern gewähren. Ich glaube, das wäre derbeste Weg in Richtung eines besseren Datenschutzes.Das ist das Beste, was wir erreichen können. Da sind wirübrigens mit dem Bundesdatenschutzbeauftragten einerMeinung.Liebe Frau Präsidentin, die Lampe am Rednerpultleuchtet bereits. Meine Redezeit ist also beendet. LassenSie mich aber noch leidenschaftlich in den Raum rufen:Wir können hier mehr für Datenschutz tun!Frau Piltz, wenn aus den Ländern, in denen die FDPmitregiert, die Ideen, die Sie hier vorgetragen haben, et-was häufiger oder überhaupt einmal über den Bundesratvorgelegt würden, dann hätten wir eine zusätzlicheChance für einen besseren Datenschutz in Deutschland.
An dieser Stelle hoffe ich ausnahmsweise auf die FDP,an anderen Stellen nicht ganz so.
Sie können bestimmt irgendwann einmal koalieren.Schönen Dank.
Für die Fraktion Die Linke spricht nun der Kollege
Jan Korte.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Kollege Tauss, wenn Sie etwas Gutes für den Daten-schutz in diesem Lande machen wollen, dann rate ichdringend davon ab, sich in der Koalition zusammenzu-setzen. Denn wenn Sie zusammensaßen, ist bisher im-mer nur Schlechtes für den Datenschutz herausgekom-men. Das kann man nach knapp drei Jahren schonbeurteilen. Deswegen setzen Sie sich besser nicht zu-sammen.Interessant an dieser Debatte, die wir jetzt haben, ist,dass es nach den Fällen Lidl, Telekom usw. einen öffent-lichen Druck gibt, wie es ihn noch nie gegeben hat. Ichglaube, dass wir hier uns alle darin einig sind, dass wirüber die kriminelle Energie empört sind. So weit, so gut.
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Jan KorteDas Trennende beginnt an dem Punkt, dass ichglaube, dass Ihre Empörung ein Stück weit geheucheltist.
Denn das politische Kernproblem ist, dass Ihre Maßnah-men und Ihre Gesetze, insbesondere die Vorratsdaten-speicherung, die Sie in den letzten drei Jahren verab-schiedet haben, durch diese Skandale in Misskreditgeraten sind und gesellschaftlich nicht mehr getragenwerden.
Das ist der Kern des Problems. Deswegen finde ich esnotwendig, dass wir eine politische Debatte darüber füh-ren, was für eine Sicherheitsarchitektur wir wollen.
Was für ein Niveau von Datenschutz wollen wir? Das isteine politische Entscheidung.Der Bundesbeauftragte, Peter Schaar, hat ein paarVorschläge dazu gemacht. Interessant ist – soweit ich dieBerichte gelesen habe –, dass allein in den letzten dreiJahren der Bundesbeauftragte für den Datenschutz drei-mal aufgefordert hat, endlich ein Arbeitnehmerdaten-schutzgesetz vorzulegen. Nichts ist geschehen, obwohler dies in den letzten drei Jahren in jedem Bericht gefor-dert hat.Deswegen glaube ich, dass es in der nächsten Sit-zungswoche an der Zeit wäre – Sie haben das BKA-Ge-setz, Stichwort „Onlinedurchsuchung“, auf die Tages-ordnung gesetzt –, noch einmal in sich zu gehen und– das sage ich insbesondere an die SPD gewandt – zuüberlegen,
ob man das so weiter mitmachen und sich von MinisterSchäuble und der Law-and-Order-Fraktion treiben las-sen will. Sie müssen entscheiden, was Sie wollen.
Solche Überlegungen fände ich äußerst interessant. Mitder Union kann ich ja umgehen, weil ich weiß, waskommt. Bei jedem Gesetz, das vorgelegt wird, weiß ich,was darin steht: Es ist nicht gut und bedeutet eine Ver-schärfung der inneren Sicherheit. Damit kann ich umge-hen. Bei der SPD weiß ich es leider nie.
Das ist ja das Problem. Sie sagen erst, Sie würden etwasnicht mitmachen, machen es dann aber trotzdem. Da-durch wird es schwierig.Der Kern der Auseinandersetzung ist – das ist in derTat eine Auseinandersetzung mit den Konservativen –das Gesellschaftsbild, das man hat. Hat man ein Bild voneiner offenen Gesellschaft, von mündigen, aufrecht mar-schierenden Bürgerinnen und Bürgern, die sich nichtssagen lassen?
Ist das das Bild, das man will? Oder – das ist das Pro-blem der Konservativen in den letzten 200 Jahren – istIhnen die offene Gesellschaft suspekt?
Misstrauen allseits – das ist das konservative Bild derletzten 200 Jahre.
Darüber sollten wir streiten.Denn eines ist klar: Wenn man die offene Gesell-schaft, den aufrechten Gang, Aufmüpfigkeit und Unge-horsam will – das wollen zumindest wir –, dann mussman die Privatsphäre sichern und schützen, damit dieMenschen einen Rückzugsraum haben, in dem sie sichzum Beispiel überlegen können, wie sie in der nächstenWoche in der Gesellschaft aufmüpfig agieren. Das ist Ih-nen suspekt. Wir hingegen finden das total klasse. Des-wegen trennen sich unsere Gesellschaftsbilder.
Die Kollegin Silke Stokar von Neuforn hat ihre Rede
zu Protokoll gegeben.1)
Damit hat als letzter Redner in dieser Debatte das
Wort der Kollege Dr. Michael Bürsch für die SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Werte Freunde und Förderer des Datenschutzes! Ichnehme mit großer Genugtuung zur Kenntnis, dass ausden vier oder fünf, die sich vor zehn Jahren für Daten-schutz interessiert haben, jetzt schon fast vierzig gewor-den sind.
Das ist ein gutes Zeichen; das ist ein hoffnungsvollesZeichen für den Datenschutz. Herr Kollege, man darf dieHoffnung nie aufgeben.Die Schweden haben das Informationsfreiheitsgesetzschon vor 200 Jahren gehabt. Die CDU hat es jetzt. Inso-fern ist die CDU in der Frage der offenen Gesellschaftbei uns. Das entnehme ich zumindest der heutigen De-batte und dem Bericht des Informationsfreiheitsbeauf-tragten.
1) Anlage 6
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Dr. Michael BürschWir haben das Informationsfreiheitsgesetz. Ich machedazu drei Bemerkungen:Erstens. Es ist gut, dass wir das Gesetz haben unddass alle in diesem Haus dieses Gesetz auch befürwor-ten.
Wir haben damit ein großes Stück des Wegs aufgeholt.Wir waren eines der drei letzten Länder von allen indus-trialisierten Ländern, die ein solches Gesetz noch nichthatten. Wir haben es seit dem 1. Januar 2006. Damit istder uralte Grundsatz der Amtsverschwiegenheit, der vor-her lange Zeit galt, durch das Prinzip der Transparenzund auch durch das Prinzip der offenen Gesellschaft er-setzt worden, Herr Kollege Korte. Insofern ist das derAnschluss an die moderne Zeit des 21. Jahrhunderts, denwir damit geschafft haben.
Zweitens. Das Gesetz hat sich im Prinzip bewährt.Das ist nicht meine eigene Einschätzung. Ich kann michhier auf eine neutrale Instanz berufen. Das ist die Bewer-tung des Beauftragten für die Informationsfreiheit, der inPerson gleichzeitig der Datenschutzbeauftragte ist. Erhat in seiner ersten Bilanz deutlich geschrieben: Im Prin-zip hat sich das Gesetz bewährt. Die Befürchtungen, diedamals von vielen Seiten – unter anderem von der Wirt-schaft – geäußert wurden, weil sie sich dem vielleichtnoch nicht öffnen konnten, haben sich nicht bewahrhei-tet. Die deutsche Verwaltung wurde nicht lahmgelegt;das war eine der Befürchtungen. Eine weitere Befürch-tung war, jetzt rolle eine Riesenwelle von Anträgen aufInformation auf die Verwaltung zu und sie könne nichtsanderes mehr tun, außer diese Anträge zu bearbeiten.Nein, die Welle war überschaubar. Im Jahr 2006 gab esrund 2 300 Anträge. Im Jahr 2007 waren es nur noch1 250 Anträge. An dieser Stelle muss man vielleicht derFrage nachgehen, woran dies lag. War dies nur eine so-genannte Delle? Wird im Jahr 2008 wieder eine Aufsto-ckung erfolgen? Ich hoffe nicht, dass es bedeutet, dassim Jahr 2006 schon der Höhepunkt der Nachfrage nachInformationen erreicht wurde.Es wurde ebenfalls die Befürchtung geäußert, die Ge-bühren könnten abschreckend wirken. Das ist nicht pas-siert. Zu Beginn gab es ein bis zwei Fälle, in denen deut-lich zu hohe Gebühren erhoben worden sind. In dieseFälle hat sich der Beauftragte für Informationsfreiheiteingeschaltet. Das ist inzwischen behoben. Somit ist daseingetreten, was wir 2005 in das Gesetz geschrieben ha-ben: Die Gebühren dürfen in keinem Fall abschreckendwirken.Drittens. Die Umstellung in den Köpfen mag nochZeit – vielleicht noch einige Jahre – brauchen. Das kannman aus dem Bericht des Informationsfreiheitsbeauf-tragten ebenfalls herauslesen. Für manche in der Verwal-tung ist es schon eine Umstellung, dass jeder Bürgerdiese Informationen verlangen kann. Hier müssen wirZeit geben. Weiterhin ist vielleicht ein wenig häufig vonden Ausnahmeregelungen Gebrauch gemacht worden.Es wurde darauf verwiesen, dass es sich bei den nachge-fragten Informationen um ein Betriebsgeheimnis oderum ein Geschäftsgeheimnis handelte. Bei der Anfragedes Kollegen Tauss ist wahrscheinlich darauf Rücksichtgenommen worden, dass ein Abgeordneter vielleicht ge-rade die Zeit hat, vier Seiten zu lesen, dass er für das Le-sen von 17 000 Seiten während seiner aufreibenden Ar-beit von 70 Stunden in der Woche wahrlich keine Zeithat.
Wir werden hier nachhaken. Lieber Jörg, vielleicht be-kommst du jetzt jede Woche vier Seiten. Ich lese siedann gern mit.Die Ausnahmeregelungen sollen wirklich nur alsAusnahme gehandhabt werden. Meine Überzeugung ist:Informationsfreiheit ist ein Bürgerrecht. Das hat etwasdamit zu tun, dass wir eine offene Gesellschaft sind unddass wir Bürgerengagement fördern wollen. Wer eineBeteiligung von Bürgerinnen und Bürgern will, der mussihnen das Recht auf Information geben. Wer sich beteili-gen will, der muss auch wissen, worum es geht. Insofernist die Informationsfreiheit die andere Seite der Me-daille.Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Wir wer-den in drei Jahren eine Evaluation vornehmen. Ich hoffe,dann sagen zu können: Das ist – dank der FDP – ein gu-tes Gesetz, und die CDU ist mit im Boot. Das ist hervor-ragend, so soll es weitergehen.Danke schön.
Ich schließe nun die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 16/4950 und 16/8500 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten PaulSchäfer , Monika Knoche, Hüseyin-KenanAydin, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEAbzug der Bundeswehr aus Südafghanistan– Drucksache 16/9418 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Ichsehe und höre dazu keinen Widerspruch. Dann werdenwir so verfahren.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Paul Schäfer für die Fraktion DieLinke das Wort.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es istkein alltäglicher Vorgang, dass sich der Wehrbeauftragte,wie vor einigen Wochen geschehen, an den Verteidi-gungsausschuss wendet und von großer Unsicherheit beiSoldaten des Fernmeldebataillons in Wesel berichtet, diesich fragen, ob ihr Einsatz in Kandahar, in Südafghanis-tan, rechtlich in Ordnung und mit dem Bundestagsman-dat in Einklang zu bringen ist.Der Punkt ist: Diese Soldaten sind weit über ein Jahrununterbrochen im Süden Afghanistans im Einsatz, unddie Zweifel, ob noch von einem befristeten Einsatz ge-sprochen werden kann, sind mehr als berechtigt. Vor al-lem: Jetzt soll das Mandat wieder verlängert werden,von Juni bis August. Auf meine Nachfrage wurde geant-wortet: In NATO-Kreisen geht man natürlich davon aus,dass es weitere Verlängerungen geben wird. Im Mandatdes Deutschen Bundestages heißt es aber unmissver-ständlich, dass deutsche Streitkräfte außerhalb des Ver-antwortungsbereichs im Norden und außerhalb Kabulsnur für zeitlich und im Umfang begrenzte Unterstüt-zungsmaßnahmen eingesetzt werden dürfen. Daran istzu erinnern.Das Bundesministerium der Verteidigung hat demWehrbeauftragten geantwortet, dass deutsche Soldatenzwar seit dem 16. Oktober 2006 für solche Unterstüt-zungsmaßnahmen im Einsatz seien, dass das aber einzeitlich befristeter und im Umfang begrenzter Einsatzsei. Außerdem könne die Kriegsführungsfähigkeit derNATO im Operationsschwerpunkt Südafghanistan nurdurch den deutschen Beitrag sichergestellt werden.
Was lernen wir daraus? Erstens. Es gibt Bundeswehr-soldaten, die darauf bedacht sind, dass ihr Einsatz imRahmen des Rechts und des Bundestagsauftrags erfolgtund die hinterfragen, ob dies tatsächlich in jedem Fall soist. Das ist gut.
– Ja, das ist gut so.Das Zweite. Wir haben einen Wehrbeauftragten, derdieses Unbehagen aufgreift und kritische Fragen an dieBundesregierung weiterleitet.
Auch das ist gut so.Drittens. Aus der Antwort der Bundesregierung ergibtsich, dass man wieder einmal – ich sage es vorsichtig –im Grauzonenbereich operiert. Denn die geschildertePraxis ist meines Erachtens eindeutig nicht mit demMandat des Bundestags vereinbar. Natürlich kann mandas Mandat immer wieder verlängern, sodass es jedes-mal auf zwei oder drei Monate befristet ist, in derSumme aber für eine Dauer von zwei Jahren gilt. Das istallerdings ein Rosstäuschertrick, den wir Ihnen nichtdurchgehen lassen.
Der vierte Punkt – die betreffenden Soldaten werdendas nicht so gern hören; es muss aber gesagt werden –:Die Bundeswehr leistet offensichtlich einen wichtigenBeitrag zur Kriegsführungsfähigkeit der NATO im Sü-den Afghanistans. Es gilt: kein moderner Krieg ohneFernmeldeverbindungen. Auch in diesem Fall ist das so.Es gibt dort Fernmelder, denn ohne entsprechende Infor-mationstechnik läuft nichts.Unser Antrag zielt auf zwei Dinge ab. Erstens. DasParlament entscheidet über die Entsendung der Bundes-wehr ins Ausland. Es legt den Auftrag und die Einsatz-bedingungen genau fest. Die Praxis der dauerhaftenStationierung von Soldaten in Kandahar steht im Wider-spruch zu diesem Mandat. Hier geht es um die Wahrungder Rechte des Parlaments.
Deshalb wollen wir, dass das Mandat für diesen Fern-meldeeinsatz nicht verlängert wird und dass die deut-schen Soldaten unverzüglich zurückgezogen werden.Zum Zweiten – das ist der Hintergrund –: Die ver-schiedenen Hilfsleistungen der Bundeswehr im Kampf-gebiet Afghanistan, vermehrte Transall-Hilfsflüge, mehrSoldaten in den Führungsstäben und die dauerhaft statio-nierten Fernmelder in den entsprechenden NATO-Batail-lonen bezeugen die zunehmende Verstrickung der Bun-deswehr in die Kampfhandlungen im Süden des Landes.Deutschland ist, um das zugespitzt zu formulieren, auchTeil des schmutzigen Krieges in Afghanistan, der nachwie vor viele, zu viele zivile Opfer fordert. Nicht zuletztaus diesem Grund kann die NATO mit dem Militärein-satz nicht gewinnen. Der Abzug dieser Soldaten ist füruns Linke Teil eins des Ausstiegs Deutschlands aus demKrieg in Afghanistan, zu dem wir die Bundesregierungauffordern.Wenn die Bundesregierung jetzt andere Signale sen-det – der Herr Minister spricht von zehn Jahren oder län-ger, die der Einsatz noch dauern könnte –, müssen Siewissen: Sie stärken damit den wachsenden Teil der Af-ghaninnen und Afghanen, der fürchtet, dass sich dieNATO-Truppen dauerhaft in Afghanistan festsetzen. Siestärken damit auch diejenigen, die daraus den Schlussziehen, auf die andere Seite überzuwechseln.Ich finde, das ist keine verantwortliche Politik. Es istdoch genau das Problem, dass ein wachsender Teil derAfghanen den Eindruck gewinnt, es mit einer Besat-zungsmacht zu tun zu haben.
– Man kann das ignorieren. Wir finden, man sollte dasnicht ignorieren, sondern die richtige Schlussfolgerungdaraus ziehen. Sie kann nur darin bestehen, den Abzugder Bundeswehr einzuleiten
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Paul Schäfer
und stattdessen die wirtschaftliche und politische Auf-bauhilfe, diplomatische Bemühungen um Frieden zustärken. Das ist unsere Position.Vielen Dank.
Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der
Kollege Ernst-Reinhard Beck.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Schäfer, der vorliegende An-
trag der Fraktion der Linken ist für mich Teil einer Raus-
Kampagne: raus aus Afghanistan, raus aus Kosovo, raus
aus der NATO.
Damit sind Sie allerdings wieder bei einer Ohnemichel-
Kampagne; die 50er- und 80er-Jahre der alten Bundes-
republik lassen grüßen. Eine seriöse Auseinandersetzung
mit den drängenden Problemen ist dies nicht, von Lö-
sungen ganz zu schweigen.
Vordergründig – Sie haben das gerade ausgeführt –
geht es Ihnen heute um Einsätze in Südafghanistan.
Südafghanistan ist eine Region mit hoher Bedrohungs-
lage, eine Region, wo man als Otto Normalverbraucher
gemeinhin keine deutschen Soldaten vermutet; dies ist
sicherlich richtig. In Wirklichkeit geht es Ihnen aber da-
rum, die gesamte ISAF-Mission infrage zu stellen.
– Frau Knoche, wenn Sie sagen: „Nein, überhaupt
nicht“, nehme ich das mit großer Freude zur Kenntnis.
Doch bisher schien der Tenor Ihrer Forderungen in diese
Richtung zu gehen. Sie versuchen nämlich den Eindruck
zu erwecken, die Bundeswehr bereite systematisch ein
Standbein in Südafghanistan vor, sie stationiere heim-
lich, am Parlament und an der Öffentlichkeit vorbei, grö-
ßere Truppenteile im Süden und sie verstoße last, but not
least – wenn dies zuträfe, wäre das in der Tat ein gravie-
render Verstoß – gegen das von uns im Deutschen Bun-
destag beschlossene Mandat. Diese Unterstellungen sind
allesamt falsch.
Ich sage auch, warum. Vielleicht müssen wir auf ein
paar Dinge einmal näher eingehen. Wir haben als dritt-
größter Truppensteller den Einsatz auf den Norden und
auf die Hauptstadt Kabul beschränkt. Diesen Ansatz
halte ich nach wie vor für richtig und für erfolgverspre-
chend. Spekulationen über ein Engagement im Süden
halte ich für falsch und für abträglich.
Die Bundeswehr wird im Süden – übrigens auch im
Westen und im Osten – nur dann eingesetzt, wenn es um
Unterstützungsmaßnahmen geht, und auch das nur, so-
fern diese zur Erfüllung des Gesamtauftrages der ISAF
unabweisbar notwendig und im Umfang regional be-
grenzt sind. Dies ist die Vorgabe.
In diesem Zusammenhang sind die deutschen Anteile
an NATO-Verbänden – das Fernmeldebataillon, um das
es geht, gehört zu einem NATO-Verband – im Mandat
explizit erwähnt. Wir haben es nicht mit einem nationa-
len Einsatz zu tun, wir haben es mit einem multinationa-
len Einsatz im Bündnis zu tun. Ich kann mir nicht vor-
stellen, da Soldaten abzuziehen und zu sagen: Die
gehören da nicht hin. Zum Funktionieren eines Einsatzes
mit 40 Nationen sind der Verbund und die Multinationa-
lität unbedingt und zwingend erforderlich.
Dies ist bei den erwähnten deutschen Soldaten auf
dem Kandahar Airfield durchaus der Fall. Die Soldaten
sind aus Bündnissolidarität im Süden stationiert. Lieber
Kollege Schäfer, sie sind nicht dauerhaft, sondern ledig-
lich zeitweilig dort. Darum wird der Einsatz ja auch im-
mer wieder von Vierteljahr zu Vierteljahr erneuert.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schäfer?
Ich komme gleich zu der Zwischenfrage.Ich habe natürlich auch mit dem Wehrbeauftragtengesprochen. Herr Schäfer, möglicherweise beantworteich damit auch gleich Ihre noch nicht gestellte Frage.Auf Anfrage des Wehrbeauftragten, der die von Ihnenskizzierten Sorgen und Nöte von Soldaten vorgetragenhat, erklärte das Verteidigungsministerium am 25. Fe-bruar 2008 – ich zitiere –:Die Erweiterung des ISAF-Operationsgebietes imJahr 2006 auf ganz Afghanistan und die damit ver-bundene Aufstellung von fünf Regionalkommandoserforderte die Ausweitung der Informations- undKommunikationstechnik, um so die Führungsfähig-keit von ISAF umfassend zu sichern. Der Aufbauder dafür erforderlichen Einrichtungen sowie derBetrieb der Systeme wurde durch die NATO an ei-nen zivilen Dienstleister vergeben. Trotz großerAnstrengungen kommt es bis dato vor allem imRaum Kandahar und weiter im Süden Afghanistanszu erheblichen Verzögerungen. Das ist der Grund,weshalb insbesondere im Feldlager KandaharAirfield die notwendige Führungsunterstützungdurch militärisches Personal sichergestellt wird.Dieses militärische Engagement wird bis zur voll-ständigen Auftragserfüllung durch den zivilenDienstleister aufrechterhalten.Ich meine, wenn man das nicht im zivilen Bereichschafft und man Führungsfähigkeit braucht, dann ist dieeinzige Möglichkeit die, dass dies Soldaten tun. Wersonst als die Fernmelder sollte das denn tun?Herr Kollege Schäfer, ich gebe Ihnen gerne die Mög-lichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen.
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17606 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Herr Kollege, bitte.
Werter Kollege Beck, dann möchte ich Ihnen die Ge-
legenheit geben, einen Punkt klarzustellen. Sie haben ja
gesagt, diese Fernmelder seien Bestandteil eines NATO-
Bataillons, also eines integrierten Verbandes, und man
könne sie jetzt nicht beliebig herauslösen. Heißt das Ih-
rer Meinung nach, dass die Restriktionen, die der Bun-
destag in seinem Mandat festgeschrieben hat – zum Bei-
spiel hinsichtlich der zeitlichen Befristung –, in diesem
Falle nicht gelten und dass man sich einfach darüber hin-
wegsetzen kann?
Diese einfache Frage möchte ich beantwortet haben.
Ich habe gerade versucht, klarzustellen, dass imWechsel und für kurze Zeiträume immer wieder andereSoldaten mit Aufgaben betraut sind. Sie müssen auchBagram noch hinzurechnen. Zum Teil sind unsere Solda-ten ein Vierteljahr lang für diesen Bereich verantwort-lich. Dann sind es mehr, nämlich die von Ihnen genann-ten 38. Wenn ich richtig informiert bin, sind es imAugenblick nur 31. Wenn innerhalb des NATO-Batail-lons andere Nationen in dieser Funktion unterstützt wer-den, dann sind es wesentlich weniger, nämlich nur vieroder fünf.
Ich möchte zum Schluss noch ein paar Anmerkungenmachen. Ich habe festgestellt, dass die Fernmeldesolda-ten für diese Aufgabe selbstverständlich ordentlich vor-bereitet wurden. Sie unterliegen natürlich – darüber sindwir uns auch im Klaren – einer erhöhten Gefährdung.Wie ich meine, hat die militärische Führung darauf ge-achtet, die Chancen und Risiken dieses Einsatzes vor je-der Entsendung gewissenhaft abzuwägen. Ihr Vorwurfwürde dann zutreffen, wenn man die Kontingente imGrunde genommen ohne eine entsprechende Begren-zung jeweils durcheinanderlaufen ließe.Weil wir uns hinsichtlich der Fürsorge unserer Solda-ten sicherlich einig sind: Diese turnusmäßigen Wechselsind für die Soldaten, die besonders belastet sind – Siehaben darauf hingewiesen, und der Wehrbeauftragte hatnicht umsonst danach gefragt –, natürlich auch im Hin-blick auf die Planbarkeit außerordentlich wichtig. Manmuss sagen, wann ungefähr wieder ein solcher Bedarffür diese Spezialisten besteht.Neben der gerade beendeten Tätigkeit waren deutscheSoldaten immer wieder lageabhängig und zeitlich eben-falls befristet zur Verstärkung ihrer NATO-Kameradenin Afghanistan im Einsatz. Sie haben schon gesagt– man muss auch gar kein Geheimnis daraus machen –,aus welchen Bereichen sie kommen. Das sind in der In-stallation, im Netzwerk, in der Nutzerbetreuung, in derWartung, in der Reparatur und in der Versorgung einge-setzte Leute. Wenn ich das so sagen darf: Das ist dasParlakom des ISAF-Kommandos im Süden Afghanis-tans. Es sind Spezialisten, die man auch hier nicht an je-der Straßenecke findet.Ich wiederhole: Alle bislang beantragten und nachministerieller Prüfung im jeweiligen Einzelfall durchden Bundesminister der Verteidigung genehmigten Ein-sätze deutscher Führungsunterstützungssoldaten in Süd-afghanistan waren stets zeitlich befristet und stellten imUmfang begrenzte sowie für den Gesamterfolg der ISAFunabweisbare Unterstützungsmaßnahmen zum Erhaltder Führungsfähigkeit dar. Wenn Sie in Ihrem Antragschreiben, dass Sie etwas gegen die Führungsfähigkeithätten, lehnen Sie damit im Grunde die Durchführbar-keit militärischer Operationen völlig ab. Der soeben zuEnde gegangene Einsatz erfüllte die genannten Krite-rien, er war mandatskonform und nach meiner Auffas-sung auch rechtlich zulässig.Nach wie vor ist es das Ziel der NATO, das militäri-sche Personal durch die zivile Komponente zu ersetzen.Persönlich würde ich mich freuen, wenn entsprechendder ursprünglichen Planung möglichst bald zivile Leis-tungsträger eingesetzt würden. Herr Kollege Schäfer, umes noch einmal zu sagen: Weil die zeitliche Perspektivevorhanden ist, ist der Einsatz grundsätzlich nicht aufDauer, sondern lediglich für eine Übergangszeit ange-legt.Der Einsatz der deutschen Führungsunterstützungs-soldaten und ihre Tätigkeit in Südafghanistan werden iminternationalen Umfeld sehr hoch eingeschätzt. Ohnediesen Beitrag wäre es wahrscheinlich zu erheblichenEinschränkungen bei der Führungsfähigkeit im Bereichdes Regionalkommandos Süd gekommen.Lassen Sie mich mit zwei Bemerkungen schließen.Erstens. Wir stehen zu unseren Bündnisverpflichtungen.Wir bleiben verlässliche Partner. Wir stehen auch zu un-serer Verantwortung für die Menschen in Afghanistan,die nämlich wollen, meine lieben Kolleginnen und Kol-legen, dass wir bleiben, weil sie wissen, was die Alterna-tive wäre und was dann auf sie zukäme. Wer jetzt für denAbzug unserer Soldaten plädiert, lässt unsere Verbünde-ten und damit auch die Menschen in Afghanistan imStich, und zwar mit unabsehbaren Folgen für unsere ei-gene Sicherheit, von den Folgen eines Scheiterns für dasBündnis ganz zu schweigen.Zweitens. Der ISAF-Auftrag bezieht sich auf ganzAfghanistan. Wir werden deshalb gemeinsam Erfolghaben – was ich hoffe und wünsche – oder gemeinsamscheitern. Regionale Erfolge wird es hier nicht geben. Eswar übrigens kein Politiker der Großen Koalition, son-dern der grüne Ex-Außenminister Joschka Fischer, derAnfang Mai vorhersagte, die Bundeswehr werde baldauch im gefährlichen Süden Afghanistans kämpfen müs-sen. Ich teile diese Einschätzung ausdrücklich nicht.Im Übrigen lehnen wir den Antrag der Fraktion DieLinke ab.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17607
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Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin Birgit
Homburger.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Fraktion Die Linke hat wieder einmal denAbzug der Bundeswehr aus Afghanistan beantragt. Dasist nichts Neues. Deswegen beschränke ich mich hier aufdie Tatsachen.Die erste Tatsache ist, dass es ein Mandat gibt. In die-sem ISAF-Mandat ist der Einsatz von Bundeswehrsolda-ten außerhalb des Nordgebiets und Kabuls erlaubt, undzwar in der ISAF-Region West sowie in anderen Regio-nen für zeitlich und im Umfang begrenzte Unterstüt-zungsmaßnahmen, sofern diese zur Erfüllung des ISAF-Gesamtauftrags unabweisbar sind. So steht es, Herr Kol-lege Schäfer, im Mandat, und genau so wird es gemacht.Die NATO – das hat der Kollege Beck gerade ausge-führt – hat die Firma Thales beauftragt, ein Kommunika-tionsnetz für ganz Afghanistan aufzubauen. Leider istdies bisher nicht fertiggestellt. Deswegen besteht dasProblem darin, dass die Fernmeldeverbindungen nichtausreichen, die aber dringend notwendig sind. Sie dienender Führungsunterstützung. Dabei geht es um Informa-tionsmanagement und die Versorgung mit Informatio-nen, aber auch um die Gewährleistung von Informati-onssicherheit, die zwingend erforderlich ist.Es geht auch um die Vernetzung von Feuerleitstellenin Kandahar und Kabul. Damit komme ich zu dem Argu-ment, das Sie vorhin angeführt haben, Herr KollegeSchäfer. Die Vernetzung stellt sicher, dass der Einsatzpräzise geplant werden kann. Das wiederum trägt dazubei, Kollateralschäden zu verhindern. Anders ausge-drückt dient dieser Einsatz dazu, die Planungen so prä-zise durchführen zu können, dass zivile Opfer vermiedenwerden. Dieses Anliegen teilen wir alle in diesem Hause.
Im Übrigen hat nur die parlamentarische Kontrolledazu geführt, dass das Thema angesprochen wurde. Wirhaben uns im vergangenen Jahr in diesem Hause damitbefasst. Nicht zuletzt unsere Diskussionen haben dazugeführt, dass dieses Thema auf NATO-Ebene aufgegrif-fen wurde und dass die Zahl der zivilen Opfer seitdemdrastisch zurückgegangen ist. Ich glaube, dass man dieseBemühungen fortsetzen sollte.
Die Linke ist gegen alles. Der Antrag dient als Mittel,das Thema in den Vordergrund zu rücken und gegen denEinsatz Stimmung zu machen. Das ist nicht nur unge-rechtfertigt, sondern auch unfair gegenüber den einge-setzten Soldaten.
Im Gegensatz zu den Linken hat die FDP mehrheit-lich für den Einsatz gestimmt. Voraussetzung dafür war,dass er im Rahmen des Mandats erfolgt. Die FDP hatkürzlich im Zusammenhang mit dem AWACS-Einsatzüber der Türkei vor dem Bundesverfassungsgericht eineStärkung der Parlamentsrechte erreicht. Wir werdenauch weiter peinlich genau darauf achten, dass das Parla-ment nicht übergangen wird. Darum geht es nämlich indiesem Fall.
Konkret bedeutet das, Herr Kollege Schäfer: Erstenssind die Einsätze bekannt. Sie bekommen Informationenüber die wöchentliche Unterrichtung des Parlaments. Siehaben im Februar eine ausführliche schriftliche Informa-tion erhalten, und wir sind mehrfach bei den Obleutenunterrichtet worden.
Zweitens ist der Einsatz zeitlich begrenzt. Das hatmein Vorredner eben sehr ausführlich erläutert. Ich willnoch einmal deutlich machen, dass es sich hier um zweiNATO-Fernmeldebataillone handelt, die multinationalaufgestellt sind und in deren Rahmen auch deutsche Sol-daten zum Einsatz kommen. Sie schreiben in Ihrem An-trag korrekterweise, dass die Bundeswehrsoldaten inKandahar fast durchgängig stationiert sind, Herr KollegeSchäfer. Das heißt, nicht ganz durchgängig, und genaudas ist der Fall: Es ist ein zeitlich befristeter Einsatz.Drittens ist der Umfang des Einsatzes begrenzt. Auchdas ist schon erläutert worden. Er ist für den gesamtenAuftrag unverzichtbar, da Telekommunikationssystemefür ganz Afghanistan von zentraler Bedeutung sind. Des-halb ist es nicht richtig, dass die Bundeswehrsoldatenstationiert sind, um Führungsunterstützungsaufgaben fürdie anderen NATO-Staaten im Süden Afghanistans zuleisten, wie Sie in Ihrem Antrag schreiben. Das ist nurdie halbe Wahrheit. Es geht um die Führungsfähigkeit inganz Afghanistan, also auch in der Nordregion. Insofernliegt dieses Thema auch im Interesse der deutschen Sol-daten im Norden.
Für meine Fraktion sage ich in aller Deutlichkeit: Dervorliegende Antrag gibt uns Anlass, beim Bundesminis-ter der Verteidigung nachzuhaken, wann die FirmaThales endlich den ausgeschriebenen Aufgaben nach-kommt, die von dieser privaten Firma übernommen wur-den.Zurzeit gibt es keine Alternative zu dieser tragfähigenZwischenlösung. Sie ist im Rahmen des Mandats für allewichtig, auch für unsere Kräfte in der Nordregion.Die FDP-Bundestagsfraktion wird weiter darauf ach-ten, dass alles, was in Afghanistan geschieht, im Rah-men des Mandats stattfindet und dass die Rechte desDeutschen Bundestags gewahrt werden. Die Bundes-
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17608 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Birgit Homburgerwehr ist eine Parlamentsarmee. Dafür werden wir unsweiter einsetzen. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Uta Zapf für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren von der Linken, Ihre gebets-mühlenartig wiederholte Forderung „Raus mit unserenSoldaten aus Krisengebieten!“
– stattdessen wollen Sie alles mit Diplomatie und ähn-lich schönen Sachen lösen – regt mich langsam auf. Wiewollen Sie denn die Befriedung, die Stabilität und denWiederaufbau einer nach 30 Jahren Krieg zerrüttetenGesellschaft sowie den Aufbau eines funktionierendenStaatswesens allein mit Diplomatie und Aufbauhilfeschaffen? Es ist doch richtig, dass es in einer Post-War-Conflict-Situation – wie es so schön im Neudeutschenheißt – wie im Kosovo und in Afghanistan nicht ohneeine militärische Absicherung geht. Sonst können wiralle Aufbauanstrengungen schlicht und ergreifend ver-gessen. Das wissen Sie auch. Sie stellen Behauptungenwider besseres Wissen auf.
Wir müssen uns natürlich um das Wie kümmern. Dastun wir auch. Wir haben in der SPD eine Arbeitsgruppe,die seit Oktober 2006 versucht, alle möglichen Aspektezu analysieren, und Verbesserungsvorschläge macht.Eine Frage, über die wir – auch in der NATO – lang undbreit diskutiert haben, lautet, wie wir die Interventionensowohl auf ziviler als auch auf militärischer Seite mitmehr Kultursensibilität angehen können. Hier haben wiralle noch etwas zu lernen.
Ich möchte einen weiteren Punkt aufgreifen. PaulSchäfer, deine Behauptung, dass praktisch die ganze af-ghanische Bevölkerung den Abzug verlange und dieTruppen als Bedrohung empfinde, ist unseriös. Ich willein paar Zahlen nennen. In einer breit angelegten Studievon ARD und BBC, die du sicherlich kennst, wird ge-nauso wie in einer noch nicht veröffentlichten neuerenStudie festgestellt: 99 Prozent begrüßen die Aktivitätender Entwicklungsorganisationen. 96 Prozent sind derMeinung, dass sie vom Aufbau und von der Anwesen-heit ausländischer Truppen profitieren, auch finanziell.74 Prozent der Antwortenden sind der Meinung, dassdas Militär die lokale Bevölkerung schützt. Darüberkann man sich nicht hinwegsetzen, weil vielleicht insge-samt 10 Prozent der Bevölkerung anderer Meinung sind.Es gibt sicherlich eine interessengeleitete Spaltung derafghanischen Gesellschaft.Was bedeutete denn ein Abzug für das afghanischeVolk? Er bedeutete, es im Stich zu lassen. Wenn Sie nachAfghanistan fahren – das hat bislang fast niemand vonIhnen getan – und mit den Menschen dort sprechen wür-den, würde Ihnen bestätigt werden, dass die Afghanennoch nicht in der Lage sind, ihre eigene Sicherheit zu ga-rantieren. Deshalb bilden wir vermehrt aus. Die Bundes-wehr hat die Ansätze für die Ausbilder und die Ausbil-dungsaufgaben verstärkt. Bei EUPOL findet sogar eineVerdoppelung statt. Die Afghanistan-Konferenz in Pariswird die militärischen wie die zivilen Maßnahmen über-prüfen und genau darauf achten, was erreicht wurde undwas nicht, wer seine Aufgaben erfüllt hat und wer nicht,was schiefgelaufen ist und welche Gründe es dafür gibt.Nach Beantwortung dieser Fragen müssen wir unsereStrategie notfalls überdenken.Alle Studien, die nun wie Pilze aus dem Boden schie-ßen, besagen, dass etwas verändert werden muss. Eineder geforderten großen Veränderungen ist – ich glaube,darin stimmen wir überein –, noch mehr in den Aufbauzu stecken,
noch mehr Entwicklungshilfe zu leisten, noch mehr inStraßenbau, Arbeitsplätze, Ausbildungsprojekte und alleProjekte zu investieren, die begonnen wurden und nunverstärkt werden müssen.Nur, dann soll mir doch bitte einer erklären, wie wirdas ohne Schutz der Bevölkerung, ohne Schutz der Pro-jekte fertigbringen sollen.
Ein letzter Punkt. Paul, du hast die zivilen Opfer an-gesprochen. Schau dir bitte die Statistiken an:
Es gibt mehr zivile Opfer von afghanischen Warlords,von illegalen Akteuren und von den Taliban,
als es zivile Opfer durch militärische Angriffe gibt. Dasbrauche ich jetzt nicht noch einmal auszuführen. Wir ha-ben doch schon diskutiert, welche Strategien von den Ta-liban insbesondere im Süden angewendet werden; dortnehmen sie die Zivilbevölkerung in Geiselhaft. Die Lagewird nicht dadurch besser, dass Militär abgezogen wirdund wir noch eine Straße bauen, sondern die Situationwird nur durch den Aufbau von Polizei und Militär bes-ser, sodass die eigenen Sicherheitskräfte diesen Schutzgewährleisten können. Die zivile Hilfe wird hoffentlichnoch viel länger andauern. Wir werden in den Wieder-aufbau noch viel länger investieren müssen als in die mi-litärischen Kapazitäten. Aber solange militärische Hilfenotwendig ist, ist eure Forderung einfach absurd. Es tutmir leid.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17609
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Nächster Redner ist der Kollege Omid Nouripour für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be-
raten heute einen Antrag der Linksfraktion mit dem Titel
„Abzug der Bundeswehr aus Südafghanistan“. Ziel die-
ses Antrags ist es, etwas zu skandalisieren, was kein
Skandal ist. Weil wir wissen, dass Sie diesen Antrag
auch stellen, um am Wochenende bei der friedenspoliti-
schen Konferenz in Hannover gut auszusehen,
möchte ich Ihnen die Erkenntnis zurufen, die sich Grüne
und Friedensbewegung gemeinsam erarbeitet haben:
Friedenspolitik braucht Fachkompetenz. Leider bewei-
sen Sie diese mit Ihrem Antrag nicht.
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie, Herr Kollege
Schäfer, sich endlich einen Ruck geben würden und ein-
mal das Hauptproblem beim Namen nennen würden.
Wann kommt endlich der Antrag der Linksfraktion mit
dem Titel „Abzug der Taliban“? Darauf warte ich, seit
ich diesem Hause angehöre, aber dieser Antrag kommt
leider nicht.
Ich möchte zum Gegenstand Ihres Antrags zurückkom-
men. Wir sind der Ansicht, dass der Einsatz der
38 Fernmelder auf dem ISAF-Stützpunkt in Kandahar
durch das vom Deutschen Bundestag vergebene Mandat
durchaus gedeckt ist; denn dieser Einsatz ist eine Unter-
stützungsmaßnahme. Unterstützungsmaßnahmen sind Teil
des Mandats. Das schreiben Sie selbst in Ihrem Antrag.
Sie schreiben darin völlig zu Recht, dass die Bundesre-
gierung nur dann Soldaten außerhalb der Region Kabul
und des Zuständigkeitsbereichs des Regionalkomman-
dos Nord einsetzen dürfe, wenn – ich zitiere – „es um
eine Unterstützungsmaßnahme geht, die für die Erfül-
lung des ISAF-Gesamtauftrags unabweisbar ist, und
diese Maßnahme sowohl zeitlich als auch im Umfang
begrenzt ist.“ Dass die Fernmelder in Kandahar Unter-
stützungsaufgaben übernommen haben, schreiben Sie
drei Sätze später in Ihrem eigenen Antrag.
Dass Unterstützung zwischen den Bündnispartnern
jenseits von Kampfeinsätzen selbstverständlich sein
muss, ergibt sich einmal aus der Natur des Begriffs
„Bündnis“, zum anderen daraus, dass unsere Soldatinnen
und Soldaten im Zweifelsfall auch Unterstützung brau-
chen, wenn es zum Beispiel um Evakuierungsmaßnah-
men geht. Also ist Ihr Antrag widersprüchlich. Ich
glaube, dass Sie das wissen.
– Doch, dazu sage ich auch etwas. Das bringt mich leider
zu der Konsequenz, zu sagen: Die Ernsthaftigkeit, die
das Thema erfordert, haben Sie leider mit Ihrem Antrag
verfehlt.
Der Umfang des Einsatzes hat sich in den letzten Jah-
ren nicht verändert. Wenn ein Bündnispartner oder ein
anderer Akteur aus technischen Gründen nicht in der
Lage ist, eine Aufgabe zu übernehmen, und deshalb die
Bundeswehr diese Aufgabe weiter übernimmt, dann ist
das bedauerlich, aber noch lange kein Rechtsbruch. Der
Einsatz ist keineswegs entfristet. Das ist nämlich der
zentrale Punkt. Es gibt immer wieder die Frage, was
nach drei Monaten passiert. Natürlich wünschen wir uns,
dass die Bundesregierung eine andere Informationspoli-
tik betreibt, und natürlich wollen wir mehr Transparenz
haben. Natürlich bricht sich die Bundesregierung keinen
Zacken aus der Krone, wenn das nächste Mal – das for-
dern und erwarten wir auch – die Fernmelder in das
Mandat hineingeschrieben werden. Das ist die transpa-
renteste und sauberste Lösung.
Wie Sie wissen, haben auch wir Grüne viel Kritik an
der Afghanistan-Politik – „Afghanistan-Strategie“ ist in
diesem Fall vielleicht ein zu großes Wort – der Bundes-
regierung. Natürlich wollen wir einen Strategiewechsel.
Natürlich wollen wir auch eine zivile Offensive. Natür-
lich wollen wir, dass OEF und ISAF nicht mehr unsinni-
gerweise nebeneinander bestehen. Natürlich wollen wir,
dass die US-Regierung auch Druck aus Berlin spürt, ei-
nen Kurswechsel vorzunehmen.
Sie ersparen uns aber nicht, dass wir Ihre Position hier
kritisieren müssen. Sie wollen den sofortigen Gesamtab-
zug aus Afghanistan, und zwar – das ist meine Vermu-
tung – nicht nur aus außenpolitischen Gründen. Das fin-
den meine Fraktion und ich persönlich unverantwortlich;
denn dadurch würden die Menschen in Afghanistan im
Stich gelassen.
Da wir dieser Unverantwortlichkeit nicht beitreten wol-
len, lehnen wir Ihren Antrag ab.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Maik
Reichel, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Von einigen meiner Vorredner ist schon betont
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17610 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Maik Reichelworden: Der uns vorliegende Antrag der Fraktion DieLinke ist nahezu gleichlautend mit Anträgen, die wirschon des Öfteren behandelt haben. Das gibt uns nocheinmal die Möglichkeit, klarzustellen, was wir in Afgha-nistan tun und was wir dort nicht tun. Ich denke, dazusollte immer genügend Zeit sein, auch wenn manche An-träge von vornherein besser durchdacht sein sollten.Ich will auf diesen Antrag unter dem Eindruck meinerReise nach Afghanistan vor wenigen Tagen eingehen.Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, als ichzunächst die Überschrift Ihres Antrags „Abzug der Bun-deswehr aus Südafghanistan“ gelesen habe – die war zu-erst bekannt –, habe ich geglaubt: Okay, die Linke hatsich dem ISAF-Einsatz konstruktiv genähert; sie hat un-sere Mission dort zumindest anerkannt. Aber weit ge-fehlt! Es geht wieder darum, aus Afghanistan insgesamtabzuziehen. Auch meine Vorredner – Kollege Beck,Kollege Nouripour und Frau Homburger – haben deut-lich gemacht, unter welchen Bedingungen wir da sind,was wir wollen und was klar sein muss, damit wir dortweiter bleiben wollen. Meine Kollegin Uta Zapf ist da-rauf entsprechend eingegangen.Frau Homburger, nicht nur die FDP, sondern wir alle– die SPD und die anderen Fraktionen – halten viel da-von, genau darauf zu achten, dass die Mandate eingehal-ten werden; das machen wir auch. Ich möchte das kurzan dem Beispiel Kontingentobergröße erläutern: An die-sem Punkt halten wir das Mandat ein, auch wenn es hierund da ein bisschen quietscht, weil wir Managementpro-bleme haben. Auch da werden wir perspektivisch bis zurnächsten Mandatsverlängerung sicherlich einiges tun.Frau Homburger, was Thales anbetrifft, sind wirebenfalls auf Ihrer Seite. Wir müssen beobachten, wiesich der Afghanistan-Einsatz dort entwickelt. Er ist an-ders als vor sechs Jahren. Wohin konkret müssen wir ge-hen? Wenn die nächste Mandatsverlängerung ansteht,müssen wir über Veränderungen nachdenken. Auch das,worüber wir heute diskutieren, wird dabei eine gewisseRolle spielen.Ich möchte auf meine Reise vor wenigen Tagen zu-rückkommen. Daran haben insgesamt acht Kollegen teil-genommen. Vor Ort gewesen zu sein – einige hier habenmich begleitet –, erhöht das Verständnis dessen, was dortpassiert. Zwar können Berichte und Bilder einen Ein-druck vermitteln, aber wichtiger ist, dorthin zu gehenund mit den Akteuren vor Ort auf allen Ebenen zu reden.
Lieber Kollege Schäfer, ich glaube, für viele von Ih-nen wäre es nötig, einmal dorthin zu fahren – das schei-nen Sie nicht zu wollen –, sich mit den Soldatinnen undSoldaten, mit den Polizistinnen und Polizisten und auchmit den Leuten, die dort leben, zu unterhalten, um zu er-fahren, was dort passiert; denn man kommt von dort et-was verändert zurück. Man erfährt, was die Soldatinnenund Soldaten beim Aufbau der afghanischen Armee ma-chen. Unser hiesiges Menschenbild ist dort fehl amPlatz. Dort gilt ein ganz anderer Maßstab für das, wasErfolg ist. Wir reden zu wenig über die Erfolge, die dorterzielt werden.Natürlich ist die Sicherheitslage prekär; aber sie wirdnoch prekärer, falls wir unsere Truppen dort abziehenund den Wiederaufbau nicht fortführen.
Das wollen wir nicht. Man kann dort konkret erleben,was unsere Soldatinnen und Soldaten, unsere Polizistenund auch die zahlreichen Aufbauhelfer dort tun. Ichmöchte an dieser Stelle allen, die dort monatelang mitvielen Entbehrungen arbeiten, meinen herzlichsten Dankaussprechen.
Ich möchte noch auf einige wenige Aspekte eingehen.Seit 2002 wird der Polizeiaufbau dort bilateral durchge-führt; mittlerweile geschieht er unter der Verantwortungvon EUPOL. Über 18 000 Polizisten sind dort ausgebil-det worden. Momentan werden etwa 35 000 Menschenin der Armee ausgebildet. Diese Zahl soll auf 70 000 an-steigen. Wir sind unterstützend dort – Assistants. Dasheißt, wir wollen, dass die Afghanen sich selbst schützenkönnen, ob mithilfe von Polizei, Justiz oder Armee. Dasist das Wichtige; das kann nicht oft genug gesagt wer-den. Ich kann nur jedem raten: Fahren Sie hin! SprechenSie mit den Leuten vor Ort!Zum Abschluss möchte ich noch erwähnen, was ZiaFarsin – ein Afghane, der uns begleitet hat – gesagt hat:Afghanistan ist wie ein Mensch, der gefallen ist, der un-terstützt wird und dessen Arme hochgehalten werden,unter anderem auch von euch. Er wankt nach vorne undnach hinten. Wenn ihr loslasst, dann fällt er wieder. Daswollen wir nicht. Bleibt hier und helft!Viele Studien – Frau Zapf hat es erwähnt – sprechendafür. In diesem Sinne, lieber Herr Schäfer: Fahren Siehin, schauen Sie es sich an, und reden Sie mit den Leu-ten!Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktion Die Linke auf Drucksache 16/9418 mit dem Ti-tel „Abzug der Bundeswehr aus Südafghanistan“. Werstimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Der Antrag ist bei Gegenstimmen der Lin-ken mit den übrigen Stimmen des Hauses abgelehnt.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszu dem Fakultativprotokoll vom 18. Dezember
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17611
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner2002 zum Übereinkommen gegen Folter undandere grausame, unmenschliche oder ernied-rigende Behandlung oder Strafe– Drucksache 16/8249 –Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 16/9468 –Berichterstattung:Abgeordnete Ute GranoldChristoph SträsserSabine Leutheusser-SchnarrenbergerSevim DağdelenJerzy Montagb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Menschenrechte undHumanitäre Hilfe zu dem Antragder Abgeordneten Volker Beck , Marie-luise Beck , Alexander Bonde, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFür eine effektive Umsetzung des Zusatzproto-kolls zur VN-Anti-Folter-Konvention– Drucksachen 16/8760, 16/9411–Berichterstattung:Abgeordnete Holger HaibachChristoph SträsserFlorian ToncarMichael LeutertVolker Beck
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Al-fred Hartenbach.
A
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrtes Präsidium!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir werden heute die
Voraussetzung für die Ratifikation des Vertragsgesetzes
zum Fakultativprotokoll zum UN-Antifolterübereinkom-
men schaffen.
Ich möchte dies zunächst zum Anlass nehmen, um
mich bei den Kolleginnen und Kollegen aus dem Rechts-
ausschuss für die zügige Beratung des Vertragsgesetzes
zu bedanken.
Das macht deutlich, dass es der Bundesrepublik
Deutschland – Ihnen aus der Legislative wie auch uns
aus der Exekutive – mit der Unterstützung dieses neuen
völkerrechtlichen Instruments gegen Folter und un-
menschliche Haftbedingungen ernst ist.
Wie Sie wissen, ist es auch durchaus nötig, dass die
Bundesrepublik diese Entschlossenheit hinsichtlich der
Einmütigkeit des Bestrebens und des Tempos der Bera-
tungen demonstriert. Denn bei der Ratifikation müssen
wir leider die Erklärung abgeben, dass wir unsere natio-
nalen Präventionsmechanismen erst mit einer Verzöge-
rung von bis zu drei Jahren in Kraft setzen können. Das
wirkt international sicherlich nicht besonders schön; es
ist aber unvermeidlich.
Für die Gründung der Länderkommission ist aus ver-
fassungsrechtlichen Gründen nun einmal ein Staatsver-
trag nötig. Dieser kann nicht von heute auf morgen rati-
fiziert werden. In einigen Ländern ist auch eine
Parlamentsbeteiligung notwendig. Das dauert seine Zeit.
Ich denke, es ist gut, dass auf Länderebene die Parla-
mente an diesem Gesetzgebungsverfahren beteiligt wer-
den.
Immerhin legen wir heute die Rechtsgrundlage, wenn
wir den Vertragstext verabschieden. Das ist doch schon
etwas. Auch der Text des Staatsvertrages ist bereits in
den Ländern konsentiert. Das Verfahren läuft jetzt an.
Auch die organisatorischen Vorbereitungen sind schon
im Gang.
Ich bin sicher, dass neben dem Bundesministerium
der Justiz vor allem der Ausschuss der Menschenrechte
und Humanitäre Hilfe, lieber Christoph, die Arbeit des
nationalen Präventionsmechanismus im Interesse aller
Beteiligten aufmerksam und kritisch verfolgen wird.
Wir schließen mit diesem Gesetz nichts ab, sondern
leiten eine neue Form der präventiven Kontrolle ein, mit
der wir den Schutz der Menschenrechte für Personen,
die – aus welchem Grund auch immer – in Deutschland
in Gewahrsam genommen werden, sichern wollen. Das
ist ein Prozess, an dem sich die Regierung ebenso wie
das Parlament mit ihren jeweiligen Mitteln beteiligen
wird. Beide verfolgen wir das gleiche Ziel: eine arbeits-
fähige Institution zu schaffen, die die Ziele der Vereinten
Nationen auf diesem Gebiet so umsetzt, wie wir selbst
das als Rechtsstaat von uns erwarten.
Mit dem heutigen Beschluss werden wir diesen Pro-
zess ein Stück voranbringen. Dafür bedanke ich mich
noch einmal und bin sicher, dass wir zu dem Thema mit-
einander im Gespräch bleiben, auch – jetzt hören Sie gut
zu; denn da sind Sie auch gefordert, wenn es so weit ist –
was die finanzielle und personelle Ausstattung der Gre-
mien betrifft.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Florian Toncar,
FDP-Fraktion.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Die parlamentari-sche Behandlung der Konvention, über die wir heutesprechen, ist ein angenehmer Anlass. Ich glaube aber,
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Florian Toncarwir sind uns einig, dass der Schutz vor Folter ein ernstes,weil ein gegenwärtiges Thema ist und dass wir die Äch-tung der Folter als zentrale zivilisatorische Errungen-schaft auch weiterhin aktiv verteidigen müssen.Es ist immer wieder unvorstellbar, was Menscheneinander antun können. Wir wissen, dass Folter in derWelt heute noch weit verbreitet ist. Selbst dort, wo dieFolter offiziell, also nach den Gesetzen eines Landes, ab-geschafft ist, herrscht nicht selten ein Klima, in dem esregelmäßig zu Misshandlungen in Gefängnissen oder aufPolizeistationen kommt, ohne dass diese geahndet wer-den. Lange hat das Völkerrecht gebraucht, um auf dieseProbleme eine Antwort zu finden. Die UN-Antifolter-konvention von 1984 stellt dazu den entscheidendenBeitrag dar.Natürlich wissen wir, dass Folter heute hauptsächlichein Problem von klassischen Unrechtsstaaten ist, diekeine entwickelte Justiz haben. Ich möchte aber auch sa-gen, wie sehr mich beunruhigt, dass etwa im Zuge desKampfes gegen den Terrorismus auch in entwickeltenRechtsstaaten Folter teils diskutiert und teils – Stichwort„Waterboarding“ – auch praktiziert wird. Das ist einehöchst beunruhigende Entwicklung.
Ich glaube, dass wir auch dadurch, wie wir heute ab-stimmen, deutlich machen müssen, dass wir gegen jedeAufweichung des absoluten Folterverbotes in Deutsch-land und auch in der Welt sind. Natürlich steht die Miss-handlung von Menschen bei uns in Deutschland unterStrafe. Natürlich treffen wir bereits heute weiter gehendeMaßnahmen, um Folter zu vermeiden. Wir schieben bei-spielsweise keine Ausländer ab, wenn ihnen dann Folterdroht, und wir verwerten durch Folter erlangte Aussagennicht in Strafverfahren.
Neu ist aber – das soll heute umgesetzt werden –, dasswir zu einer aktiven Folterprävention kommen. Wir wol-len einerseits ein Vorbild für andere Staaten abgeben, diediesem Mechanismus beitreten wollen, indem wir dasZusatzprotokoll in Deutschland vorbildlich umsetzen.Andererseits wollen wir durch aktive Kontrolle und Prä-vention dafür sorgen, dass Misshandlungen in staatli-chen Einrichtungen – bei uns handelt es sich dabeiimmer nur um Einzelfälle – noch weiter gehender unter-bunden werden, als es bislang durch das Strafrecht getanwird. Aus diesem Grund kommt der heute anstehendenRatifizierung wirklich große Bedeutung zu.Es ist immer gut, wenn eine staatliche Instanz durchunabhängige Experten kontrolliert wird. Das ist keinAusdruck des Misstrauens gegen die Mitarbeiter in sol-chen Einrichtungen; ihnen vertrauen wir grundsätzlich.Wir wissen aber auch: Je mehr es in den Grundrechtebe-reich hineingeht, je sensibler die Bereiche sind – ichnenne beispielsweise Gefängnisse oder Polizeistatio-nen –, umso gründlicher muss die Kontrolle sein, damitauch die wenigen Einzelfälle von Misshandlungen auf-gedeckt werden. Dass es dabei immer besser ist, wennjemand von außen kontrolliert und nicht jemand, der ausdem Apparat bzw. der Behörde selbst stammt, ist, wieich glaube, uns allen klar.
Insofern ist die Tatsache, dass das Zusatzprotokoll nun-mehr ratifiziert wird, auch für die FDP-Fraktion einGrund zur Freude.Nichtsdestotrotz gibt es natürlich auch kritische An-merkungen.Die Vorlaufzeit bis zur Ratifikation war sehr lang; dashing damit zusammen, dass sich Bund und Länder zu-nächst nicht über die Umsetzung der Konvention in un-seren nationalen Präventionsmechanismus einigen konn-ten. Keiner von uns möchte überflüssige neue Strukturenschaffen.Keiner von uns möchte, dass neu einzustellende Be-amte bzw. staatliche Angestellte Dinge tun, die längstgetan werden. Darum geht es keinem von uns. Es gehtvielmehr darum, dass die Instrumente, die auf Bundes-und Länderebene bestehen, vernetzt und koordiniertwerden und jemand dafür sorgt, dass keine Schutzlückenentstehen. Das muss sichergestellt sein. In diesem Fallekann man nicht davon reden, dass neue bzw. zusätzlicheBürokratie geschaffen wird.Was wir wollen, wird mit den derzeit vorgesehenenRessourcen nur schwer zu erreichen sein. Die Länder-kommission, die eine ganz wichtige Aufgabe erfüllt,weil sich die meisten Einrichtungen, um die es geht, inTrägerschaft der Länder befinden, ist mit vier Ehrenamt-lichen besetzt, die die Kontrollaufgaben übernehmen.Dass diese Ehrenamtlichen in 16 Bundesländern keineausreichende Präsenz in den vielen Einrichtungen zeigenkönnen, liegt auf der Hand.Der Bund finanziert im Wesentlichen lediglich eineneue Stelle eines wissenschaftlichen Mitarbeiters. DasGesamtbudget für den Nationalen Präventionsmechanis-mus beträgt 300 000 Euro. Das ist ausgesprochen wenig.Unter diesen Umständen wird es nicht mehr geben alsnur Stichproben. Anders gesagt: Wenn auch nur eine ein-zige Kontrolle irgendwo im Bundesgebiet stattfindet,geht bei der Koordinierungsstelle nur der Anrufbeant-worter an.Wir sind zwar glücklich, dass es Fortschritte gegebenhat, aber wir sehen auch die Defizite. Die FDP-Fraktionmöchte, dass das Instrument, das wir jetzt einführen, zü-gig evaluiert wird. Der Menschenrechtsausschuss wirdsich mit Sicherheit auch mit den Personen, die dieseKontrollen konkret vornehmen, zusammensetzen undsich von ihrer Arbeit berichten lassen.Der zum Ratifikationsgesetz vorgelegte Antrag derGrünen nennt notwendige Aspekte – sowohl internatio-nale als auch innerstaatliche –, die wir beachten müssen.Die FDP schließt sich den entsprechenden Forderungenan. Wir selbst haben einen Antrag eingebracht, in demähnliche Gedanken aufgegriffen wurden und der imLaufe dieses Jahres im parlamentarischen Verfahren be-dauerlicherweise von der Koalition abgelehnt wordenist. Wir werden deshalb dem inhaltlich sehr ähnlichen
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Florian ToncarAntrag der Grünen zustimmen und hoffen sehr, dass wirdas Instrument so effektiv wie möglich ausgestalten kön-nen.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Granold, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es geht heute um Folter, das heißt um schwere Verstößegegen die Menschenrechte. Die Union und mit ihr un-sere Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel stehen füreine wertegebundene Außenpolitik. Das hat die Bundes-kanzlerin unter anderem gezeigt, als sie den Dalai-Lamaempfangen hat.Wir treten national und international entschlossen fürdie Einhaltung der Menschenrechte ein, und legen dortden Finger in die Wunde, wo Menschenrechte eklatantverletzt werden, unabhängig davon, ob das in Russland,Kuba, Venezuela, Nordkorea oder im Iran der Fall ist. Indiesem konsequenten Verhalten werden wir uns nicht be-irren lassen.
Deshalb freut es mich sehr, dass wir heute abschlie-ßend über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zumFakultativprotokoll zum Übereinkommen gegen Folterund andere grausame, unmenschliche oder erniedrigendeBehandlung oder Strafe beraten. Deutschland war beider Ausarbeitung dieses Fakultativprotokolls maßgeb-lich beteiligt. Mittlerweile haben 61 Länder dieses Pro-tokoll gezeichnet, davon haben es 34 ratifiziert. Die Ra-tifikation ist für Deutschland eine Selbstverständlichkeit.Dieser Schritt ist ein Symbol für die Kontinuität unseresEinsatzes für das absolute Folterverbot – auch im Kampfgegen den internationalen Terrorismus.Nicht nur in bilateralen Gesprächen, sondern auch imRahmen der Vereinten Nationen und gemeinsam mit un-seren EU-Partnern setzen wir uns vehement dafür ein,dass Folter abgeschafft wird. Dabei legen wir den Fin-ger, wie gesagt, in die Wunde. Wir zahlen freiwillig Bei-träge in den Fonds der Vereinten Nationen für die Opfervon Folter. Wir treten außerdem dafür ein, dass Dritt-staaten dieser Konvention beitreten und sich für dieRechte der Opfer einsetzen. Die Union steht ausdrück-lich hinter dem großen Engagement der Bundesregie-rung zur globalen Durchsetzung des absoluten Folterver-bots.Die Forderung im Antrag der Grünen an die Bundes-regierung, mehr für die Durchsetzung der Konvention zutun, ist Schaufensterpolitik. Dieser Antrag ist absoluthaltlos; denn die Einhaltung des Grundgesetzes ist füruns auf allen Ebenen immer eine Selbstverständlichkeitgewesen.
Was das Fakultativprotokoll angeht, sind wir natür-lich dafür, auf internationaler und nationaler Ebene dafüreinzutreten, dass die Besuchs-, Präventions- und Kon-trollmechanismen eingesetzt werden.Lassen Sie mich zu beiden Elementen des Regie-rungsentwurfs etwas sagen. Mit der Ratifizierung desFakultativprotokolls wird dieses für die Bundesrepublikbindend und Bestandteil der deutschen Rechtsordnung.Was die Umsetzung angeht, so haben wir auch hier unse-ren Beitrag geleistet. Wir müssen versuchen – das Lin-dauer Abkommen verpflichtet uns dazu; hier sind wir ineiner schwierigeren Situation als die anderen National-staaten –, die Bundesländer einzubinden, da die Zustän-digkeit der Länder berührt ist.Was die Bundesebene angeht, findet eine enge Ab-stimmung zwischen den Ministerien der Justiz, des Inne-ren und der Verteidigung statt, um die Bundesstelle zurVerhütung von Folter zu installieren.Was die Länder angeht – Bundeswehr und Bundes-polizei –, so gibt es eine vielfältige Zuständigkeit: zumeinen im Bereich der Polizei, was den Strafvollzug unddie Abschiebehaft angeht, und zum anderen, was Pflege-einrichtungen und die Psychiatrie angeht. Aufgrund derVielfältigkeit ist es erforderlich, dass eine Zentralstelleeingerichtet wird, die die Kontrollen durchführt. HerrHartenbach hat es gerade gesagt: Es gibt einen Staatsver-trag; der Entwurf liegt vor. Wir gehen davon aus, dass inKürze die notwendigen Umsetzungen erfolgt sind undwir an die Arbeit gehen können.Zur Umsetzung soll ein gemeinsames Sekretariat beider Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden einge-richtet werden. Es sind Sach- und Personalkosten in Höhevon 300 000 Euro eingestellt worden. 200 000 Euro da-von tragen die Länder, 100 000 Euro der Bund. Wir mei-nen, dass das in Ordnung ist. Man wird sehen, ob es,wenn diese Stelle arbeitet, erforderlich ist – so der An-trag der Grünen; Sie wollen ja von heute auf morgenmehr Geld einsetzen –, Weiteres zu tun.An dieser Stelle möchte ich ein klares und deutlichesWort zum Thema Folter sagen. Es wird hier so getan, alssei Folter in Deutschland ein Thema, das wir jeden Tagzu bearbeiten hätten. Die Polizei leistet bei uns eine her-vorragende Arbeit.
Sie ist nicht zu kriminalisieren und in die Nähe von Aus-länderfeindlichkeit zu rücken. Es wird tagtäglich unterschwierigsten Bedingungen hervorragende Arbeit ge-leistet. An dieser Stelle möchte ich mich ausdrücklichbei den Polizeibehörden dafür bedanken.
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Ute GranoldWir werden in unserem Kampf zur Durchsetzung derMenschenrechte und zur Prävention, was Folter angeht,nicht nachlassen. Wir werden dafür sorgen, dass auchandere Staaten, bei denen Folter noch ein großes Themaist, der Konvention beitreten und dass die Mechanismenin den einzelnen Nationalstaaten greifen. Wir wärendankbar, wenn heute alle Fraktionen dem Gesetzentwurfder Bundesregierung zustimmen würden, damit wir wei-tere Schritte gehen könnten. Ich denke, hier besteht einKonsens.Zur Verzögerung bei den Ländern möchte ich noch ei-nen Satz sagen. Wir sind in der Tat ganz erheblich inVerzug. Das liegt aber nicht daran, dass die Länder Be-denken hätten, was die Zielrichtung der Konvention an-geht. Dies lag vielmehr einfach daran, dass bei einigenLändern Bedenken bestanden, dass die Schaffung neuerStellen zu mehr Bürokratie führt. Diese Bedenken konn-ten inzwischen ausgeräumt werden. Ich denke, dass wirmit dem jetzt formulierten Vertragsgesetz für Deutsch-land die Ratifikation und Umsetzung gemeinsam auf denWeg bringen können und so unseren Beitrag zur welt-weiten Prävention von Folter leisten.Vielen Dank.
Für die Linke gebe ich das Wort dem Kollegen Mi-
chael Leutert.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Niemand hier wird bezweifeln, dass die Ratifizierungdes Zusatzprotokolls der VN-Antifolterkonvention eineNotwendigkeit ist. Allerdings muss man sagen, dass derGesetzentwurf natürlich lange auf sich hat warten lassen.Die Schuld dafür – das ist hier schon mehrmals gesagtworden – liegt mit Sicherheit nicht bei der Bundes-regierung.
Dies liegt vielmehr an der Länderebene, und zwar an denLändern Sachsen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt.Wenn ich die Feierlaune etwas trüben darf: Das allessind CDU-geführte Länder; auch das sollte hier gerech-terweise gesagt werden.
– Moment, wir kommen noch dazu.Der Preis, der dafür gezahlt worden ist, dass dieseVerhandlungen mit den Ländern geführt werden muss-ten, ist ein sehr bitterer, nämlich die Struktur von nurvier ehrenamtlichen Beobachtern, die über 1 000 Ein-richtungen zu überprüfen und zu untersuchen haben.Hinzu kommen möglicherweise weitere Gewahrsams-einrichtungen, die nicht zum Bereich der Polizei gehö-ren. Dass das eine defizitäre Struktur ist, wird hier imHause wohl niemand – auch keiner von der CDU/CSU-oder der SPD-Fraktion – bestreiten.Wenn das Argument vorgebracht werden sollte, dassdas zumindest ein Einstieg ist, dann kann ich nur sagen:Das ist kein Argument; das ist einfach nur eine Beteue-rung. Wir werden uns anschauen, wie weit man in die-sem Bereich in den nächsten Jahren vorankommen wird.Schlimm ist meines Erachtens aber etwas ganz ande-res: Es wird immer davon gesprochen, dass Deutschlandeine größere internationale Verantwortung hat, insbeson-dere in den Bereichen Terrorismusbekämpfung und mili-tärisches Engagement; das Thema der vorhergehendenDebatte war Afghanistan. Wenn es so ist, dass wir einegrößere internationale Verantwortung haben, dann hatdas, was vorgelegt wurde, eine maximal negative Signal-wirkung und zeigt einen relativen traurigen Zustand un-serer Gesellschaft:
Ein so reiches Land wie Deutschland ist nicht in derLage, einen Präventionsmechanismus gegen Folter ein-zurichten.Ich möchte Zahlen nennen – sie müssen einmal ge-nannt werden –: Deutschland investiert jedes Jahr650 Millionen Euro nur in das Militär in Afghanistan.Das Hauptargument dafür ist immer wieder die gestie-gene internationale Verantwortung. Im Bereich der Prä-vention von Folter sind wir aber nicht einmal in derLage, 300 000 Euro zu investieren;
trotzdem reden Sie hier von der gestiegenen internatio-nalen Verantwortung. Wenn es dabei bleibt, bin ich ge-spannt, wie die Bundesregierung in nächster Zeit auf in-ternationaler Ebene nicht so reichen Ländern erklärt,dass es für sie extrem wichtig ist, einen solchen Präven-tionsmechanismus einzurichten.
Gerade im Hinblick auf den außenpolitischen Bereichwäre es notwendig gewesen, eine angemessene mate-rielle Ausstattung zu gewährleisten, um eine Signalwir-kung zu erreichen.Wir reden hier über Folter und über das Folterverbot.Gerade im Kampf gegen den internationalen Terroris-mus – das wurde heute schon mehrmals erwähnt – istdas Folterverbot in letzter Zeit mehr und mehr aufge-weicht worden. Wir reden hier nicht nur über die USA;wir, der Deutsche Bundestag, haben einen Untersu-chungsausschuss eingerichtet, weil die Vermutung imRaume steht, dass deutsche Sicherheitsbehörden unterAnwendung von Folterpraktiken erzielte Ermittlungser-gebnisse zumindest verwendet haben. Wenn so etwasschon im Raume steht, wenn solche Vorwürfe existieren,dann sollte das ein ausreichender Grund sein, einen Prä-ventionsmechanismus einzurichten, der materiell ausrei-
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Michael Leutertchend abgesichert ist, um seine Aufgaben in angemesse-ner Form wahrzunehmen.
Leider begnügt sich die Koalition damit, sich mit ei-ner gewissen Symbolpolitik in der Öffentlichkeit darzu-stellen. Dennoch werden wir notgedrungen diesem Ge-setzentwurf zustimmen.
Nächster Redner ist der Kollege Volker Beck, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu-
nächst einmal möchte ich sagen: Mit der Ratifizierung
des Zusatzprotokolls gehen wir heute endlich – es hat
elendig lange gedauert – einen guten Schritt. Im Rahmen
der Staatengemeinschaft ist es das richtige Signal, dass
die Bundesrepublik Deutschland immerhin als 17. Land
das Zusatzprotokoll ratifiziert und damit den entschei-
denden Schritt geht. Diese Gemeinsamkeit wollen wir
festhalten. Ich weiß, wie schwierig es war, die Länder
von dieser Lösung zu überzeugen.
Es ist ein wichtiger Schritt, der aber zu kurz ist. In
erster Linie geht es natürlich nicht darum, bei unserer
rechtsstaatlich orientierten Polizei und bei der Bundes-
wehr nachzuprüfen, dass bei uns nicht gefoltert wird.
Wir sind zwar, wie der Fall Daschner gezeigt hat, nicht
völlig frei von Ausrutschern; so etwas kann auch bei uns
vorkommen. Rechtsstaatliche Verfahren führen aber in
der Regel dazu, dass so etwas geahndet wird, weil unser
Rechtsstaat funktioniert.
Die internationale Gemeinschaft hat sich aber für die-
ses Zusatzprotokoll und den Präventionsmechanismus
entschieden, weil es in vielen Staaten keine funktionie-
renden Mechanismen gibt, weil es keinen Rechtsstaat
gibt. Heute senden wir ein Signal an diese Länder – es ist
das falsche Signal –: 300 000 Euro, also das Geld für
– sagen wir – vier Ehrenamtler und eine Geschäftsstelle,
reichen in einem Land mit 82 Millionen Menschen – mit
Polizeidienststellen, Heimen, Gewahrsamsanstalten und
Abschiebeeinrichtungen – völlig aus, um sicherzustel-
len, dass es in Deutschland weder Folter noch un-
menschliche Behandlung gibt.
Bei der Konvention – sie wird kurz Antifolterkonven-
tion genannt – geht es nicht nur darum, zu prüfen, ob bei
uns tatsächlich Menschen gefoltert werden, sondern
auch darum, zu prüfen, ob Menschen in Heimen, in psy-
chiatrischen Einrichtungen usw. unter unmenschlichen
Bedingungen leben. Da können wir nicht sagen: Alles,
was bei uns in Altersheimen und psychiatrischen Anstal-
ten passiert, ist super; es bedarf keiner zusätzlichen Kon-
trolle.
Ich bin hochunzufrieden damit, dass wir hier nicht
weiter gehen. Frau Granold, in unserem Antrag haben
wir eindeutig geschrieben, dass wir die Ratifizierung be-
grüßen, aber meinen, dass ein nächster Schritt folgen
muss. Das wollen Sie hier heute ablehnen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, „gemeinsam
mit den Ländern nach der Ratifizierung an einem Aus-
bau des bisher beschlossenen Präventionsmechanismus
zu arbeiten, der eine effektive Umsetzung aller im Zu-
satzprotokoll vorgesehenen Regelungen zum nationalen
Präventionsmechanismus gewährleistet.“ Was kann an-
gesichts der Tatsache, dass Sie alle beteuern, dass wir
den nächsten Schritt gehen müssen, der Grund sein, die-
ses Ansinnen abzulehnen? Wir sollten den Ländern sa-
gen, dass es erbärmlich ist, dass sie darauf bestanden ha-
ben, von Länderseite maximal 200 000 Euro dafür zu
investieren.
In der Anhörung haben alle Fachleute gesagt: Diese
Magersuchtlösung ist eine Schande für unsere Republik
und unserer Arbeit nicht würdig.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Granold?
Ja, aber gerne doch.
Herr Kollege Beck, Sie haben gerade anhand des Fal-
les Daschner ausgeführt, dass unser Rechtsstaat funktio-
niert.
Darauf können wir stolz sein. Deutschland ist ein
Rechtsstaat, der weltweit seinesgleichen sucht.
Können Sie bestätigen, dass, wenn es diesen Kon-
trollmechanismus gibt, wir für diese Maßnahme
300 000 Euro in den Haushalt einstellen, wir dahin ge-
hend Einvernehmen erzielt haben, dass wir dann eine
Evaluation vornehmen wollen, um festzustellen, ob
mehr Geld – dem verschließen wir uns nicht – erforder-
lich ist?
Es geht um die Grundannahmen. Es geht darum, vorwelchem Hintergrund man über diese Frage diskutiert.Selbstverständlich ist Deutschland ein sehr guter Rechts-staat. Ob er seinesgleichen sucht, weiß ich nicht. In Eu-ropa gibt es noch viele andere Rechtsstaaten. Ich glaube,wir sollten nicht überheblich sein und behaupten, dasswir Deutschen auch das viel besser können, weil wir im-
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Volker Beck
mer alles viel besser können. Ich finde, diese Tonlage istunangemessen.
– Wenn Sie diese Tonlage für angemessen halten, ist dasIhre Sache. Das respektiere ich. Ich finde, das ist die fal-sche Haltung gegenüber unseren europäischen Nach-barn.
Frau Granold, ich bin noch bei der Beantwortung Ih-rer Frage. Deshalb bitte ich Sie, entsprechend den Ge-pflogenheiten des Hauses stehenzubleiben; denn meineRedezeit läuft sonst gleich ab.Wir müssen das Ganze unter folgender Fragestellungdiskutieren: Welches Signal senden wir an andere Staa-ten aus? Was soll Marieluise Beck sagen, wenn sie nachRussland oder Zentralasien fährt? Soll sie sagen: Ja, wirhaben vier Ehrenamtliche dafür!?
– Das ist die Antwort auf die Frage. Wenn Sie mich fra-gen, müssen Sie mir die Antwort überlassen. So ist dasin der Demokratie.
Wir müssen den Ländern sagen – das ist das Entschei-dende –: Wir machen das so wirkungsvoll, dass ihr dasnachmachen könnt. Wenn wir das mangelhaft machen,werden sie sich auch daran orientieren und sich daraufherausreden. Das wird insbesondere für die Länder gel-ten, die Unterstützung beim Thema Folterprävention ei-gentlich dringend nötig hätten.Nicht ohne Grund hat uns der UN-Sonderbericht-erstatter für Folter, Manfred Nowak, heute ins Stammbuchgeschrieben, dass er den Gesetzentwurf, den wir auf demTisch haben, kritisiert. Ich zitiere aus einer Meldung derNachrichtenagentur des Evangelischen Pressedienstes:Er bezweifele, ob Deutschland die Konvention zurFolterprävention angemessen umsetzt und genü-gend bezahltes Personal bereitstellt, sagte Nowakim Deutschlandradio Kultur. „Mit ein paar unbe-zahlten, freiwilligen Mitarbeitern kann man diesewichtige Aufgabe sicherlich nicht durchführen.“
Recht hat er. Stimmen Sie unserem Antrag zu, damit wireine Blamage Deutschlands bei der Ratifizierung verhin-dern. Noch ist das möglich.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Christoph Strässer, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Kollege Beck, Sie kennen sicherlich Brehms Tier-leben. In einer Parabel steht – ich bekomme sie nichtmehr ganz auf die Reihe –: Je mehr sich der Hahn auf-plustert, desto weniger nützt es der Henne.
Ich begreife Ihre Aufregung nicht. Sie ist der Sache nichtangemessen.Ich darf vielleicht einige Aspekte um der historischenWahrheit willen aufzeigen: Lieber Kollege Beck, Sie be-klagen, dass das alles lange gedauert hat. Ich darf daranerinnern, dass das Zusatzprotokoll, das Fakultativproto-koll zur Antifolterkonvention im Dezember des Jahres 2002in der Generalversammlung der Vereinten Nationen ver-abschiedet wurde. Jetzt frage ich Sie und mich – da müs-sen wir uns beide schämen –, wer eigentlich 2002 undbis 2005 regiert hat.
Ich bin ein Stück weit stolz darauf, dass in dieser GroßenKoalition die Zeichnung durch den Bundesaußenminis-ter im September 2006 endlich erfolgt ist, damit wir hierauf einen vernünftigen parlamentarischen Weg kommenkönnen.
Das ist die historische Wahrheit an dieser Stelle.Noch etwas gehört zur Wahrheit; das hat mit den Län-dern zu tun. Die Wahrheit ist, dass die Bundesländer, diejetzt einen Staatsvertrag abschließen müssen, sich nurbereit erklärt haben, überhaupt über dieses Thema zureden, wenn sie mit nicht mehr als insgesamt200 000 Euro belastet werden. Worauf freue ich michjetzt an dieser Stelle? Bevor wir Anträge, die uns im Mo-ment nicht weiterbringen, im Deutschen Bundestag be-schließen, freue ich mich auf die erste Bundesratsinitia-tive des Stadtstaates Hamburg zur Umsetzung dieserGeschichte auf Landesebene. Darauf bin ich sehr ge-spannt.
Kollege Toncar klatscht gerade so laut. Ich kann ihn nurfragen: Wo sind denn die Initiativen aus Nordrhein-Westfalen, aus Niedersachsen oder aus Baden-Württem-berg?
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Christoph SträsserDa können Sie alle Ihre Hausaufgaben machen. Dannkönnen wir hier in aller Ruhe und verständnisvoll überdiese Themen reden.
– Ja, wir sind dabei, keine Sorge.
Kollege Strässer, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Toncar?
Gerne.
Herr Kollege Strässer, in Kenntnis dessen, dass es
noch Bundesländer gibt, in denen die SPD mitregiert,
wollte ich fragen, ob ich Ihre Ausführungen so verstehen
darf, dass bald von dem einen oder anderen Bundesland
eine Initiative zu erwarten ist.
Sie können sich fest darauf verlassen, dass wir dafür
sorgen werden. Wir kritisieren ja im Moment an dieser
Stelle nicht. Wir sagen vielmehr ganz deutlich: Das, was
hier auf den Weg gebracht worden ist, ist ein Fortschritt.
Man sollte nicht sofort anfangen, das schlecht- und ka-
puttzureden. Wir haben dies jetzt in dieser Konstellation
auf den Weg gebracht. Wir werden es heute hier wahr-
scheinlich mit Zustimmung aller ratifizieren. Es ist ein
guter Tag für den Schutz der Menschenrechte in
Deutschland und in Europa. So ist das.
Zu den vielfältigen Kommentaren, die hier jetzt im
Raume stehen: Kollege Beck, Sie haben eine Fachta-
gung im Deutschen Institut für Menschenrechte ange-
sprochen, auf der ich Sie gar nicht gesehen habe. Aber
man kann ja in den Protokollen nachlesen. Es gibt zum
Beispiel einen Vertragsausschuss bei den Vereinten Na-
tionen, der sich mit den WSK-Rechten befasst. Der deut-
sche Vertreter dort ist Professor Dr. Eibe Riedel; Sie ken-
nen ihn wahrscheinlich. Er hat mir bei der letzten
Kuratoriumssitzung des Deutschen Instituts für Men-
schenrechte klar gesagt, dass das, was wir hier in
Deutschland machen, in diesem Vertragsausschuss aus-
gesprochen begrüßt wird. Denn es kommt nicht in erster
Linie auf ein Signal nach außen, auf den konkreten Sta-
tus an, sondern es geht darum, dass endlich eines der
größten Länder Europas diese Ratifizierung durchführt.
Das ist die zentrale Botschaft, die von diesem heutigen
Tag ausgehen muss.
Ich will deutlich sagen, dass die Debatte, die wir hier,
wie ich finde, mit großem Verantwortungsbewusstsein,
sehr fair und in der Sache nach vorne gerichtet geführt
haben, ein Stück weit dazu beigetragen hat, dass in unse-
rem Land Sensibilisierungen für die Themen Folter und
Antifolterkonvention stattgefunden haben. Ich darf da-
ran erinnern, dass die Antifolterkonvention der Verein-
ten Nationen eine der Konventionen ist, die am wenigs-
ten gezeichnet worden sind. Das hat damit zu tun, dass
große Länder vor diesem Thema ein Stück weit zurück-
schrecken; sie gehen es nicht offensiv an. Wir müssen
diese Fragen demnächst bei uns und anderswo themati-
sieren.
Ich bin auf Einladung von Amnesty International vor
drei Wochen in Washington gewesen. Wir haben die
amerikanische Administration und alle, die damit zu tun
haben, sehr offen, klar und auch sehr massiv darauf hin-
gewiesen – dies bezieht sich auch auf unsere europäische
Verantwortung –, dass das, was die Vereinigten Staaten
im Kampf gegen den Terrorismus in Gang gesetzt haben,
nicht mehr unter die Antifolterkonvention fällt. Diskus-
sionen wie die über das Waterboarding, wie sie auch von
Herrn Bush geführt werden, tragen nicht dazu bei, in der
Welt den Eindruck zu erwecken, dass unsere westlichen
Werte in dieser Art und Weise gut vertreten sind.
Ich glaube, diesen Anstoß sollten wir zur Verteidi-
gung der Menschenrechte und zur weiteren Forcierung
des Schutzes vor Folter überall aufnehmen. Dafür ist
dieser Tag heute ein guter. Mein Dank geht an alle, die
daran mitgewirkt haben und insbesondere an die Bun-
desregierung, die das auf den Weg gebracht hat.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Fakul-tativprotokoll vom 18. Dezember 2002 zum Übereinkom-men gegen Folter und andere grausame, unmenschlicheoder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Der Rechts-ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 16/9468, den Gesetzentwurf der Bundes-regierung auf Drucksache 16/8249 anzunehmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-len, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-tung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist in dritter Beratung mit den Stimmen des ganzenHauses angenommen.
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne KastnerTagesordnungspunkt 14 b: Beschlussempfehlung desAusschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfezu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mitdem Titel „Für eine effektive Umsetzung des Zusatzpro-tokolls zur VN-Anti-Folter-Konvention“. Der Ausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 16/9411, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 16/8760 abzulehnen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmender Opposition angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Trittin, Josef Philip Winkler, Omid Nouripour,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENHilfe für irakische Flüchtlinge ausweiten – imIrak, in Nachbarländern und in Deutschland– Drucksachen 16/7468, 16/9006 –Berichterstattung:Abgeordnete Eckart von KlaedenJohannes Jung
Dr. Werner HoyerDr. Norman PaechJürgen TrittinÜber die Beschlussempfehlung werden wir später aufAntrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen namentlichabstimmen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeDr. Rolf Mützenich, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ohne die folgenschwere Entscheidung derUS-Regierung, im Irak zu intervenieren, müssten wirheute nicht über die Situation der Flüchtlinge reden.
Noch vor wenigen Tagen hat der frühere Pressespre-cher des amerikanischen Präsidenten, McClellan, einge-räumt, dass der Krieg gegen den Irak ein ernsthafter stra-tegischer Missgriff war. Mehr als 4 Millionen Menschensind noch heute, fünf Jahre nach Beginn des Irak-Kriegs,auf der Flucht. Nach 1948 ist dies die zweite großeFlüchtlingswelle in der Region. Allein 2 Millionen Ira-ker leben in Syrien, Jordanien und dem Libanon. Nuretwa ein Drittel der ehemals 1,2 Millionen Christen imIrak sind heute noch im Land. Fünf von zehn Irakernmüssen täglich mit weniger als einem Euro überleben.Das ehemals vorbildliche Gesundheits- und Bildungs-system ist zusammengebrochen. 60 000 Iraker sind in-haftiert, die Mehrzahl von ihnen ohne Prozess oder An-klage. Die schreckliche Bilanz lautet: 1,2 MillionenMenschen sind getötet worden. Genauso viele Menschenwurden verwundet. Die Folgen des Irak-Kriegs sind de-saströs. Schlimmer noch: Die angeführten Gründe fürden Einmarsch waren eine niederträchtige Manipulation.
McClellan zieht ein verheerendes Fazit: Der Zusammen-bruch der Kriegsgründe hätte keine Überraschung zusein brauchen. Damit bezichtigt der ehemalige Presse-sprecher im Weißen Haus nicht allein seinen ehemaligenVorgesetzten der Selbsttäuschung. Auch denjenigen, dievor fünf Jahren den US-Streitkräften in den Irak gefolgtwaren oder folgen wollten, schreibt er ins Zeugnis, siehätten es bereits damals besser wissen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb bin ichstolz darauf, dass die von Gerhard Schröder geführteBundesregierung den Irak-Krieg von Anfang an abge-lehnt hat.
Obwohl einzelne Medien sowie politische und gesell-schaftliche Meinungsführer eine Beteiligung Deutsch-lands forderten, haben wir uns nicht beirren lassen. Da-mals hat die SPD in einem geschichtlichen Momentwieder richtig gehandelt.
Auch wenn wir nicht alle furchtbaren Entwicklungenvorhersehen konnten, wussten wir, dass dieser Kriegfalsch war. Wir befürchteten auch, dass die Invasion imIrak die Region destabilisieren und die europäische Si-cherheit bedrohen würde.Liebe Kolleginnen und Kollegen, obwohl wir gegenden Krieg waren, hat Deutschland sogleich geholfen.Wir haben bisher rund 300 Millionen Euro für den Wie-deraufbau und die Stabilisierung des Iraks bereitgestellt.
In den letzten beiden Jahren haben wir allein für dieFlüchtlingshilfe 8 Millionen Euro verausgabt. Im Jahre2008 sind bereits 4 Millionen Euro in Projekte der hu-manitären Hilfe geflossen. Ein Großteil der Leistungenkam den Aufnahmeländern direkt zugute.Vor allem Syrien hat irakische Flüchtlinge aufgenom-men. Viele der 1,3 Millionen Iraker leben im GroßraumDamaskus. Nahezu jeder dritte Bewohner der Hauptstadtist ein Flüchtling. Man kann sich die daraus erwachsen-den Herausforderungen für das Schul- und Gesundheits-wesen, für den Wohnungsmarkt und für die Strom- undWasserversorgung nur ansatzweise vorstellen. Deshalbwar es richtig, dass wir in den vergangenen Monaten vor
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Dr. Rolf Mützenichallem Syrien bei der Bewältigung der Flüchtlingsströmegeholfen haben.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Besuchedes Außenministers und der Entwicklungshilfeministe-rin in Damaskus dienten vor allem diesem Ziel. Deswe-gen ist es verwunderlich, dass diejenigen, die heute wei-tere Anstrengungen verlangen, diese Besuche damalskritisiert haben.
Ich denke, Frank-Walter Steinmeier und HeidemarieWieczorek-Zeul haben mit ihren Gesprächen und ihrenkonkreten Hilfszusagen einiges für die Stabilisierung derSituation und der Region getan.
Neben den staatlichen Instanzen in den arabischenNachbarstaaten des Iraks haben insbesondere Hilfsorga-nisationen versucht, die Probleme der Flüchtlinge zu lin-dern. So haben das Flüchtlingshilfswerk der VereintenNationen, das Internationale Rote Kreuz und der RoteHalbmond eine Menge bewegen können. Gleichzeitighaben Menschen und private Organisationen in Syrien,Jordanien und Libanon geholfen. Ihnen allen sei hiermitganz herzlich gedankt!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten in die-sem Zusammenhang auch daran erinnern, dass bereitsheute 73 000 irakische Staatsangehörige in Deutschlandleben, darunter viele Jesiden und Christen. Ich würdemir wünschen, dass weitere Iraker bei uns Schutz finden.
Wir begrüßen den Vorstoß des Innenministers, sichdafür einzusetzen, dass in Deutschland und in den ande-ren EU-Mitgliedstaaten weitere irakische Flüchtlingeaufgenommen werden. Jetzt geht es darum, diesen Vor-schlag rasch umzusetzen. Im Sinne der notleidendenMenschen wäre es daher wünschenswert, wenn die EU-Innenminister bereits auf der morgigen Ratstagung einenBeschluss über die Zahl der aufzunehmenden Flücht-linge und über die EU-interne Lastenverteilung fassenwürden.
– Das werden Sie uns gleich berichten. Ich freue michauf Ihre Rede, Herr Innenminister. Die SPD-Fraktion un-terstützt Ihre Initiativen. Darüber hinaus tritt die SPD-Fraktion dafür ein, das Programm zur Wiederansiedlungdes UNHCR in Deutschland zu etablieren.
Nunmehr findet eine Debatte darüber statt, ob wir ira-kische Christen nach Deutschland holen sollten. Ich be-zweifle, dass die Konzentration allein auf irakischeChristen den Herausforderungen angemessen ist.
Verschärft nicht bereits die Aufteilung entlang ethni-scher und religiöser Trennlinien die Konfliktsituation imIrak und in der Region? Ist eine Frauenrechtlerin musli-mischen Glaubens in Deutschland weniger willkommenals eine engagierte Politikerin christlichen Glaubens? Istnicht ein Arzt muslimischen Glaubens genauso mit tödli-cher Verfolgung konfrontiert wie sein Kollege christli-chen Glaubens?
Dürfen wir die Beweggründe für Flucht anhand desGlaubens relativieren?
Selbst wenn christlichen Flüchtlingen die Aufnahmein Deutschland erleichtert werden sollte, könnten wirnicht mit der Unterstützung des UNHCR rechnen. Dennich glaube, dass die Einzelschicksale im Vordergrundstehen und nicht die Zugehörigkeit zu einer Religion.
Was wir brauchen, ist eine Flüchtlingspolitik, die auf dieindividuellen Schicksale und nicht auf bestimmte Merk-male Bezug nimmt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Flüchtlingspro-blem ist leider nur ein Problem von vielen. Deshalb hatsich Deutschland auf die Ausbildungshilfe im Berufs-und Sicherheitssektor konzentriert. Deutsche Institutio-nen haben irakische Sicherheitskräfte aus- und fortgebil-det. Wir haben bei der Minenräumung geholfen.Schließlich haben wir den politischen und administrati-ven Wiederaufbau unterstützt, bei der Wahlbeobachtunggeholfen und die föderale Entwicklung begleitet. DerSchuldenerlass beläuft sich gegenwärtig auf 5 MilliardenEuro. Angesichts der schwierigen Situation sind dies nurgeringe Beiträge. Wir sollten uns darauf einstellen, dassdie Hoffnungen und Anforderungen gegenüber Deutsch-land wachsen werden.Es ist gut, dass wir in der vergangenen Woche zweihochrangige Besucher aus dem Irak empfangen durften.Diese Konsultationen sollten fortgesetzt werden, auchim Irak. Angesichts der Sicherheitslage, aber auch ange-sichts der engen Beziehungen ist es derzeit durchaus an-gemessen und sinnvoll, sich auf den kurdischen Teil desIraks zu konzentrieren. Zweifellos wäre die rasche Eröff-nung eines Konsulats in Erbil ein wichtiges Zeichen. Ichwürde dies begrüßen. Zugleich wäre es falsch, die ande-ren Regionen des Landes außer Acht zu lassen.
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Dr. Rolf MützenichLiebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland hat inden vergangenen Jahren dem Irak geholfen. Wir werdendies auch in Zukunft tun müssen. Wir sollten dabei einePolitik unterstützen, die den ganzen Irak und alle Men-schen in den Blick nimmt. Vor allem gegenüber den ara-bischen Nachbarstaaten und dem Iran sollten wir deut-lich machen, dass nur verlässliche, regionale Lösungeneinen Sicherheitsgewinn für alle bringen können. DerIrak wird nur in einem so gesicherten Umfeld eine Zu-kunft haben können.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Elke Hoff, FDP-
Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Ich finde es gut, dass wir heute,auch wenn es schon so spät ist, im Deutschen Bundestagüber das Thema der Flüchtlinge im Irak und außerhalbdes Iraks reden. Ich finde es auch gut, dass wir heute na-mentlich abstimmen. Kollege Mützenich, Sie wissen,dass ich Sie sehr schätze; aber ich muss Ihnen sagen, Siesind die Erklärung schuldig geblieben, wie sich IhreFraktion nachher bei der Abstimmung verhalten wird.
Darauf bin ich nach Ihren Ausführungen sehr gespannt.Wir alle müssen ein Interesse daran haben, dass dieRegion, dass der Irak so schnell wie möglich stabilisiertwird. Wir können in der Presse verfolgen und wir wissenauch aus den Gesprächen, die wir mit irakischen Kolle-ginnen und Kollegen führen, dass es darauf ankommenwird, zwischen den verschiedenen Ethnien und zwischenden verschiedenen religiösen Ausrichtungen eine Ba-lance zu finden.Deswegen kann ich die Intention und die Intonationdessen, was der Innenminister zurzeit auf europäischerEbene betreibt bzw. was die Kolleginnen und Kollegenvon der Union betreiben, nicht verstehen. Wenn Sie vonden Schicksalen hören, wenn Sie sich mit den Flüchtlin-gen unterhalten, hören Sie auch von muslimischen Fami-lien, dass sie bedroht worden sind, dass Mitglieder ihrerFamilie massakriert worden sind, dass sie froh sind, esgeschafft zu haben, aus dieser fürchterlichen Situationnach Jordanien oder Syrien zu fliehen. Wie könnten wireiner solchen Familie sagen: Ihr habt euer Leben geret-tet; aber ihr habt das Pech, dass ihr der falschen Konfes-sion angehört. – Das ist für mich keine christliche Hand-lungsgrundlage.
Wir müssen beweisen, dass es uns um mehr geht: dass esuns um die Menschen geht und dass wir als Vertreter ei-ner funktionierenden Demokratie, eines funktionieren-den Staatswesens in der Lage sind, die Dinge zusam-menzuführen.Kollege Mützenich hat versucht, die Zuwendungenpositiv darzustellen. Wir erleben aber, dass irakischeFlüchtlinge diese Zuwendung nicht bekommen, dassFrauen und sogar erst zwölfjährige Mädchen gezwungensind, sich zu prostituieren, ihren Körper zu verkaufen.Das können wir nicht weiter hinnehmen. Die Problemesind eben nicht gelöst. Es wird zu wenig getan. DerUNHCR hat erhebliche finanzielle Probleme. Wir soll-ten an dieser Stelle den Ländern Syrien und Jordanien ei-nen Dank dafür aussprechen,
dass sie die Lasten getragen haben, die wir als westlicheWertegemeinschaft mit verursacht haben. Wir sitzennicht nur in einem Boot, wenn wir unsere Werte in derWelt verkaufen wollen, wir sitzen auch in einem Boot,wenn wir dafür geradestehen müssen, was im Namenvon Demokratie und westlicher Welt passiert ist.Als Demokratin und Mitglied des Deutschen Bundes-tages fühle ich mich über die konfessionellen und dieParteigrenzen hinweg verpflichtet, so schnell wie mög-lich einen Beitrag dafür zu leisten, dass die Menschen imIrak eine Perspektive bekommen. Wir müssen heuteauch an die Zukunft denken.Bei all den Analysen der Vergangenheit, die wir allehinreichend kennen und die schrecklich genug sind,müssen wir auch eine Perspektive für die Stabilisierungdes Iraks finden,
das heißt das, was der Kollege Mützenich in Ansätzenschon vorgetragen hat, nämlich den Austausch mit denInstitutionen und das Vorantreiben des gemeinsamenAufbaus von demokratischen Strukturen. Ich begrüße es,dass sich viele Kolleginnen und Kollegen über die Par-teigrenzen hinweg die Situation in Syrien und Jordanienangeschaut haben, und ermuntere sie, auch den Weg inden Irak zu finden. Wir setzen dadurch ein Zeichen, dassuns wirklich daran liegt, das, was wir hier verkörpernund wofür wir einstehen, auch den Menschen zukommenzu lassen, die das – unter schlimmsten Bedingungen –wollen.Als ich die Gelegenheit hatte, den Irak zu besuchen,haben sie mir gesagt: Wir wollen nicht euer Geld, wirwollen auch keine militärische Hilfe, sondern wir wollenwissen, wie es die Bundesrepublik Deutschland ge-schafft hat, zu einer blühenden und prosperierenden De-mokratie zu werden. Helft uns dabei! – Diese Anliegen,Wünsche und Forderungen kamen über die religiösen,ethnischen und regionalen Grenzen hinweg.
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Elke HoffHerr Bundesinnenminister, ich begrüße Ihre Initiativezusammen mit den Kollegen Innenministern der Länderauf europäischer Ebene. Es würde mich jedoch sehrfreuen, wenn Sie diesen Pfad verlassen und all die Men-schen mit einschließen würden, die unsere Hilfe brau-chen, weil wir damit beweisen würden, dass wir Demo-kraten und auch Christen sind.Ganz herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich gebe dem Bundesinnenminister Dr. WolfgangSchäuble das Wort.
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des In-nern:Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Not und das Elend der Flüchtlinge im undaus dem Irak ist so groß, dass es in der Tat gut ist, dasswir das Thema nicht mit mehr Streit behandeln, als esvon der Sache her unvermeidbar ist.Ich bin gerade vom Rat der Justiz- und Innenministerin Luxemburg zurückgekommen. Die Verspätung hier istgar nicht so schlecht; denn so kann ich Ihnen sagen, wieweit wir dort heute Mittag gekommen sind. Ich würdeaber gerne noch ein paar Bemerkungen vorweg machen.Ich bin ganz davon überzeugt, dass es wahrscheinlicheine der größten Herausforderungen sein wird, dasFlüchtlingsproblem nachhaltig zu bewältigen, wenn esim Irak bald zu einer besseren Entwicklung kommt, waswir ja alle hoffen. Ich bin auch fest davon überzeugt,dass Europa seinen Beitrag dazu leisten muss. Ein TeilEuropas sind auch wir in Deutschland. Wir haben jaauch eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.Deshalb ist das richtig.Ich habe mich zunehmend davon überzeugt, dass esnicht ausreichen wird, den Ländern in der Region bei derBewältigung des Flüchtlingsproblems zu helfen, sondernwir müssen auch dafür eintreten, dass ein Teil der Pro-blematik dadurch gelöst wird, dass Flüchtlinge auch inanderen Teilen der Welt Aufnahme finden.
Dazu muss auch Europa seinen Beitrag leisten; dennman kann das nicht nur anderen raten, sondern manmuss dann auch das Seine tun.Wenn wir sagen, dass Europa seinen Beitrag leistenmuss, dann muss auch Deutschland seinen Beitrag leis-ten, obwohl wir ganz anders als andere in Europa hin-sichtlich der Aufnahme von Flüchtlingen Vorbelastun-gen haben. Ich muss gelegentlich darauf hinweisen, dassDeutschland mehr als die Hälfte aller Flüchtlinge auf-grund der Kriege im ehemaligen Jugoslawien aufgenom-men hat und wir noch immer an den Folgen leiden. Da-mals war die europäische Solidarität und damit dieBereitschaft, einen Beitrag zu leisten, geringer als heute.Aber wir wollen ja, dass die Dinge besser werden.
Ich will gleich hinzufügen: Das Problem kann nichtdadurch gelöst werden, dass alle Flüchtlinge in anderenTeilen der Welt oder in Europa Aufnahme finden. Zielmuss es sein, dass möglichst viele wieder in den Irak zu-rückkehren können. Deswegen muss das der entschei-dende Punkt der mittel- und langfristigen Perspektivesein.Ich muss folgende Bemerkung machen: Man musswissen, dass wir in Deutschland nur etwas erreichen kön-nen, wenn wir das gemeinsam mit den Ländern tun. ImÜbrigen: Die Aufenthaltsgewährung nach § 23 Aufent-haltsgesetz geht nur – das steht auch in der Begründungund ist Praxis –, im Einvernehmen mit den Bundeslän-dern. Deswegen habe ich – auch im Menschenrechtsaus-schuss des Bundestages – gesagt: Ich bin bereit, bei denInnenministern und -senatoren der Bundesländer dafürzu werben, mir zuzustimmen, dass ich eine solche Initia-tive auf europäischer Ebene ergreifen kann. Ich bin dank-bar, dass die Innenminister und -senatoren aller 16 Bun-desländer einstimmig beschlossen haben, sie seieneinverstanden, dass der Bundesinnenminister eine solcheInitiative ergreift. Dies habe ich im April im Rat der eu-ropäischen Justiz- und Innenminister getan.
Zunächst war es nur eine Ankündigung, und heute ha-ben wir es, weil es auf der Tagesordnung stand, etwassubstanzieller beraten. Ich hatte es mit dem schwedi-schen Kollegen, dem slowenischen Kollegen – der am-tierenden Präsidentschaft und dem französischen Kolle-gen – Frankreich wird die Präsidentschaft – übernehmen –beraten. Wir sind auch heute nicht zu einer abschließen-den Entscheidung gekommen. Ich bleibe dabei, dass esrichtig ist – so war die Beschlussfassung der Konferenzder Innenminister der Bundesländer –, dass wir einenBeitrag im Rahmen einer europäischen Aktion leistenwollen. Davon sollten wir nicht abgehen.
– Wir haben heute keine Zahlen genannt, geschweigedenn beschlossen. So weit sind wir nicht.Weil andere davon sprachen, sie machten bereits et-was und hätten nationale Quoten, habe ich in den Bera-tungen darauf hingewiesen, dass Deutschland in jedemMonat durchschnittlich mehr als 500 Asylbewerber undFlüchtlinge aus dem Irak aufnimmt. Es ist keineswegsso, dass keine Menschen aus dem Irak nach Deutschlandkämen und hier Aufnahme fänden. Trotzdem sollten wireinen weiteren Schritt tun.Heute haben sich all diejenigen, die sich im Rat derJustiz- und Innenminister geäußert haben – auch der zu-ständige Kommissar und Vizepräsident Barrot; geäußerthaben sich Frankreich, Schweden, Großbritannien, dieNiederlande, Slowenien usw. –, sehr für unsere Initiativeausgesprochen. Ziel ist es, dass wir spätestens unter fran-zösischer Präsidentschaft – möglichst im September, sohabe ich es mit dem Kollegen vor zwei Wochen vorbe-
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäublesprochen – zu einer Beschlussfassung kommen und hier-bei mit dem UNHCR zusammenwirken. Natürlich sollenauch die europäischen Mitgliedstaaten, die sich an einersolchen Aktion solidarisch beteiligen, daran mitwirkenkönnen, welche Menschen geeignet sind, in welchemLand Aufnahme zu finden, wer besonders verfolgt istund wer bessere und wer schlechtere Rückkehrperspek-tiven hat.
Deswegen ist, mit Verlaub, die Beschlussempfehlungdes Ausschusses richtig und der Antrag falsch. Er ist zuschematisch; er löst das Problem nicht.Aber wir sind ja in der Sache nicht auseinander.
– Sie vielleicht schon.
– Es gibt doch keine Formeln. Ich habe im Gegensatz zuIhnen etwas getan. Ich habe ziemlich viel getan, damitwir hier vorankommen und das Problem gelöst wird.
Ich erläutere Ihnen, wie wir es am besten lösen undeinen europäischen Konsens zustande bringen können.Es ist übrigens den Menschen und der Region mehr ge-dient, wenn es eine gemeinsame europäische Initiativegibt. Dafür habe ich auch das Einvernehmen der Innen-minister aller Bundesländer, das ich dazu brauche, wasauch richtig so ist.Wir haben gesagt, wir müssten doch denjenigen hel-fen, die besonders verfolgt sind. Das sind nun einmal diereligiösen Minderheiten, wie es im europäischen Sprach-gebrauch heißt. Wenn Sie im Irak genau hinschauen,dann glauben Sie kaum, welche religiösen Minderheitenunter den Flüchtlingen besonders bedrängt und verfolgtsind. Besonders schlecht haben es die Christen. Das darfman auch unter der Geltung des Grundgesetzes und derNeutralität sagen.
Dann muss man bei einer zwischen EU, Aufnahme-land und UNHCR abgestimmten Aufnahmepolitik – Re-settlementpolitik – auch bedenken, wer am besten wohinpasst und wen man wo aufnehmen kann. Ich sage dasmal in meiner alemannischen Art. Natürlich könnte manauch sagen, die Christen sollten möglichst in der TürkeiAufnahme finden, die Muslime möglichst in Mitteleu-ropa. Ich halte es ein bisschen anders auch für intelli-gent, wenn ich an die Chance denke, dass die Menschensich einfügen und zusammenpassen. Deswegen kann ichnicht erkennen, dass es irgendwie diskriminierend sei,wenn sich die christlichen Kirchen in Deutschland dafüreinsetzen, dass wir in besonderer Weise Christen helfen,was nicht heißt, dass wir anderen nicht auch helfen.
Darüber gibt es übrigens in Europa auch großes Ein-vernehmen. Jedes Mitgliedsland wird sein System nachseinen eigenen Überzeugungen und Erfahrungen ausle-gen. Verabredet ist, dass jedes Land im Rahmen der eu-ropäischen Aktion daran mitwirken kann, zusammen mitdem UNHCR mitzubestimmen, wen wir aufnehmen.Ich habe mit dem Vertreter der Innenministerkonfe-renz, dem Berliner Innensenator Körting, verabredet,nicht bis zu einer formalen europäischen Beschlussfas-sung zu warten. Auch das habe ich angekündigt, und ichhabe dafür geworben, dass andere Mitgliedstaaten auchso verfahren. Vielmehr haben wir besprochen, ob wirnicht im Vorgriff auf eine europäische Beschlussfassungjetzt schon handeln sollten. Einige Länder sind schon da-bei.Herr Kollege Körting und ich werden mit den Innen-ministern und -senatoren der Bundesländer in dieserFrage in den nächsten Tagen Kontakt aufnehmen. Zwarmuss eine europäische Aktion, bei der wir – in Abstim-mung mit dem UNHCR – mitreden, wer in Deutschlandaufgenommen wird, das Ziel bleiben, aber wir können inErwägung ziehen, im Vorgriff auf diese Aktion schonjetzt zu handeln. Ich werbe dafür, das zu tun.Wenn wir in diesem Sinne ein starkes Einvernehmenerzielen, dann wird dies auch die Einigkeit der Innenmi-nister und -senatoren der Länder fördern. Ich werbe da-für, dass wir in dem Stil, in dem wir diese Debatte ge-führt haben, aufeinander zugehen, es gemeinsamangehen und uns nicht wieder durch Profilierungsversu-che auseinandertreiben lassen.Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Jelpke, Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seitüber einem Jahr diskutiert der Innenausschuss über diehumanitäre Hilfe für irakische Flüchtlinge. Wir habendamals den Antrag der Linken diskutiert, die ihn zuersteingebracht hat. Dann folgte der Antrag der Grünen. DieAnträge sind abgelehnt worden.Heute diskutieren wir über Soforthilfe für Flüchtlingeaus dem Irak; es geht nicht um eine Hilfe zu irgendeinemspäteren Zeitpunkt. Es wurde bereits angesprochen, dasses um fast 5 Millionen Menschen im Irak geht, die aufder Flucht sind. Etwa 2,2 Millionen Menschen sind in-nerhalb des Irak auf der Flucht, und 2,7 Millionen Men-schen sind in die inzwischen überlasteten Nachbarländer
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Ulla Jelpkegeflüchtet, die es sich nicht mehr leisten können, dieseFlüchtlinge zu ernähren.Allein in Deutschland leben zurzeit 25 000 irakischeFlüchtlinge, die anerkannt sind. 9 000 sind nur geduldet.Sie müssen täglich davon ausgehen, das Land zu verlas-sen.Herr Schäuble, zu meinem Erstaunen war heute zu-mindest zu hören, dass Sie bereit sind, jetzt schon mitder Hilfe anzufangen. Das ist in der Tat eine neue Infor-mation. Am Mittwoch hieß es im Innenausschuss noch,dass frühestens unter der französischen Ratspräsident-schaft, möglicherweise im Oktober, damit begonnenwerden soll.Die Linke ist der Meinung, dass Soforthilfe nötig ist.
Nach einem Jahr intensiver Debatte im Innenausschussist es ein Armutszeugnis, dass die deutsche Ratspräsi-dentschaft diesen Punkt nicht aufgegriffen hat. Manmuss nicht warten, bis die einzelnen Länder der EU be-reit sind, Flüchtlinge aufzunehmen. Die geltende Rechts-lage erlaubt es, hier und jetzt mit dem Resettlement-Pro-gramm zu beginnen. Das fordern das UNHCR und vieleFlüchtlingsorganisationen seit langem.Herr Schäuble hat darauf hingewiesen, dass die Län-der mit einbezogen werden müssen. Wie lange soll dasdenn dauern, wenn erst jedes einzelne Land darüber be-raten will, ob es Flüchtlinge aufnimmt? Bisher sind Zah-len zwischen 1 000 und 2 000 Flüchtlingen im Gespräch.Das halte ich für viel zu wenig.
Die Kirchen haben sich vorbildlich dafür eingesetzt,dass die irakischen Flüchtlinge auch in Deutschland auf-genommen werden. Ich bin sicher, dass die Kirchennicht der Meinung sind, dass dabei ausschließlich diechristliche Minderheit zu berücksichtigen ist, die in derTat besonders verfolgt wird. Wir treten vielmehr dafürein, dass die Flüchtlinge unabhängig von ihrer religiösenEinstellung oder ethnischen Herkunft hier aufgenommenwerden können.
Zum Schluss möchte ich einen Punkt ansprechen, derebenfalls in die Gedanken von Herrn Schäuble einflie-ßen sollte. Sie haben hinsichtlich einer Kleinen Anfrageder Fraktion Die Linke angekündigt, dass im kommen-den Jahr der Asylstatus von 12 500 irakischen Flüchtlin-gen erneut überprüft werden solle. Das bedeutet, dass diebetroffenen Menschen Angst vor der Zukunft haben,Angst, möglicherweise in ein Land abgeschoben zu wer-den, in dem Krieg geführt wird. Das Bundesamt sollteangewiesen werden, keinerlei Überprüfungen vorzuneh-men, sondern den Menschen ihren Asylstatus zu belas-sen.
Die Linke will eine klare europäische Regelung fürdie Beteiligung an den Resettlement-Programmen. Daskann gar keine Frage sein. Andere europäische Ländertun das bereits. Es ist wichtig, dass diejenigen, die esnicht tun, überzeugt werden; denn die Flüchtlinge ausdem Irak brauchen unsere Solidarität und vor allen Din-gen eine Lösung. Deshalb unterstützen wir den Antragder Grünen.Ich danke Ihnen.
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die KolleginKerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen.Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Debatte hat gezeigt: Wir sind uns über die dramati-sche Lage der irakischen Flüchtlinge weitgehend einig.Wir sind uns ebenfalls darüber einig, dass Deutschlandund die Europäische Union dringend und schnell helfenmüssen, und zwar auch bei der Aufnahme von Flüchtlin-gen.
Herr Kollege Mützenich, Sie haben eine gute Redegehalten und sicherlich gesehen, dass wir Grüne Ihnenvoll zustimmen.
Ich bin gespannt, wie Sie sich bei der Abstimmung überunseren Antrag verhalten werden. Nach Ihrer Redemüssten die SPD-Fraktion, aber auch Kolleginnen undKollegen von der Union unserem Antrag zustimmen.
Die Aufnahmeländer Syrien und Jordanien dürfen mitden Flüchtlingen nicht alleine gelassen werden. Sie sindan der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit und reagierenteilweise sehr restriktiv auf die Flüchtlinge, zum Bei-spiel mit Arbeitsverboten, was zur Folge hat, dass dieFlüchtlinge in katastrophalen Verhältnissen leben. HerrVaatz und Frau Steinbach, Sie haben das alles auf IhrenReisen erfahren. Herr Schäuble, wir begrüßen es sehr,dass die EU-Innenminister auf deutsche Initiative hinendlich darüber beraten haben, wie sich die EU im Rah-men von Resettlement-Verfahren an der Aufnahme iraki-
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Kerstin Müller
scher Flüchtlinge beteiligen kann. Das ist ein wichtigeshumanitäres Signal und eine der zentralen Forderungenunseres Antrags, der deshalb von vielen Kolleginnenund Kollegen unterstützt wird.
Es muss aber auch gesagt werden – dies haben Sie lei-der unterschlagen, Herr Schäuble –: Dieses Signal warüberfällig. Durch das fast ein Jahr dauernde Hin und Herin der Koalition in der Frage, wie man mit den iraki-schen Flüchtlingen verfahren soll, wurde eine schnelleLösung auf der europäischen Ebene verhindert; das istunverantwortlich. Schon während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft hätten Sie die Initiative ergreifenkönnen.
Frau Kollegin Müller, vielleicht warten Sie einen Au-
genblick. Ich stoppe auch Ihre Zeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist vonseiten der
Grünen nicht möglich, die Kollegin zu hören. Herr Kol-
lege Reiche, ich bitte Sie, die Gespräche einzustellen
oder außerhalb des Saales fortzuführen.
Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Vielen Dank. – Ich will auf den Grund eingehen. Teile
der Union haben lange Zeit gefordert, nur Angehörige
christlicher Minderheiten aufzunehmen. Damit wurden
eine entsprechende Regelung und eine schnelle Einigung
in der Europäischen Union verhindert. Herr Grindel und
Herr Uhl von der Union haben noch vor einigen Tagen ge-
sagt, dass es keine Beschlusslage in der Fraktion dazu
gebe und dass man sich bei der Aufnahme keinesfalls an
den Resettlement-Gruppen des UNHCR orientieren dürfe.
Diese Position ist angesichts des Elends der Flüchtlinge
unhaltbar. Es darf nicht nach religiöser Zugehörigkeit,
sondern es muss nach der Schutzbedürftigkeit der iraki-
schen Flüchtlinge gehen.
Herr Vaatz, Sie haben es auf Ihrer Reise selbst zu hö-
ren bekommen. Der UNHCR in Damaskus hat zu Recht
gesagt: Wir weigern uns, nach diesem Kriterium vorzu-
gehen. Ich möchte Ihnen das Beispiel einer sunnitischen
Frau nennen, die fünf Kinder hat und in Damaskus in ei-
nem Kellerloch lebt. Ich glaube, Sie sind mit diesem
Beispiel konfrontiert worden. Sie wurde vertrieben, weil
sie zur sunnitischen Minderheit im Irak gehört, und muss
ihre fünf Kinder mehrere Stunden am Tag in diesem Kel-
lerloch einsperren, damit sie illegal etwas Geld verdie-
nen kann. Ich frage Sie: Ist diese Frau weniger schutzbe-
dürftig als Angehörige christlicher Minderheiten? Das
kann nicht Ihr Ernst sein.
Herr Schäuble, Sie haben die katholische und die evan-
gelische Kirche erwähnt. Vertreter beider Kirchen waren
auf dieser Reise Ihrer Kollegen mit. Ich möchte den von
uns allen sehr geschätzten Prälaten, Herrn Jüsten, zitieren.
Er hat nämlich nach dieser Reise Folgendes gesagt: Bei
Härtefällen ist die Religion zweitrangig. Da gilt die Ge-
schichte vom barmherzigen Samariter.
Ich kann Ihnen nur sagen: Er hat recht. Das muss die
Richtlinie von Christinnen und Christen bei der Auf-
nahme von Flüchtlingen sein. Insofern hoffen wir, dass
es zu einem schnellen Beschluss auf der Ebene der Euro-
päischen Union kommt. Aber ich möchte Sie auch auf-
fordern: Solange die Europäer nicht entscheiden, muss
Deutschland mit gutem Beispiel vorangehen – aber
nicht, indem nach Christen und Nichtchristen unter-
schieden wird – und schnell und unbürokratisch iraki-
sche Flüchtlinge hier aufnehmen. Dazu fordere ich die
Innenminister und die Bundesregierung auf.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Hilfe für irakischeFlüchtlinge ausweiten – im Irak, in Nachbarländern undin Deutschland“. Ich weise die Kolleginnen und Kolle-gen darauf hin, dass uns Erklärungen nach § 31 vor-liegen, die von zahlreichen Kolleginnen und Kollegenunterschrieben wurden.1) Der Ausschuss empfiehlt inseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9006,den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 16/7468 abzulehnen. Wir stimmen nun überdie Beschlussempfehlung auf Verlangen der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen namentlich ab. Ich bitte die Schrift-führerinnen und Schriftführer, ihre vorgesehenen Plätzeeinzunehmen. Sind die Plätze an den Urnen besetzt? –Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ichschließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin-nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnenspäter bekannt gegeben.Wir setzen die Beratungen fort.1) Anlagen 4 und 5
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne KastnerIch rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines ErstenGesetzes zur Änderung des Seelotsgesetzes– Drucksache 16/9037 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Drucksache 16/9390 –Berichterstattung:Abgeordneter Hans-Michael GoldmannInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sichum die Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen:Enak Ferlemann, CDU/CSU, Dr. Margrit Wetzel, SPD,Hans-Michael Goldmann, FDP, Dorothée Menzner, DieLinke, Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen, unddie Parlamentarische Staatssekretärin Karin Roth.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ver-kehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 16/9390, den Gesetz-entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/9037anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit inzweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hausesangenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit auch in dritter Beratung mit den Stimmen desganzen Hauses angenommen.Ich rufe den Zusatzpunkt 3 sowie die Tagesordnungs-punkte 17 a bis 17 d auf:ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Burk-hardt Müller-Sönksen, Harald Leibrecht, FlorianToncar, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDPPräsident Medwedew beim Wort nehmen– Drucksache 16/9423 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe17 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Dr. Werner Hoyer, Sabine Leutheusser-Schnar-renberger, Harald Leibrecht, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion der FDP1) Anlage 7Für eine konstruktive Zusammenarbeit mitRussland und einen kritischen Dialog– Drucksachen 16/4165, 16/7907 –Berichterstattung:Abgeordnete Manfred GrundJohannes PflugDr. Werner HoyerWolfgang GehrckeMarieluise Beck
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Menschenrechte undHumanitäre Hilfe zu dem Ent-schließungsantrag der Abgeordneten Volker Beck
, Marieluise Beck (Bremen), Alexander
Bonde, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie zu der Bera-tung der Großen Anfrage der Abgeordneten Ma-rieluise Beck , Volker Beck (Köln), Ale-xander Bonde, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENAktuelle Entwicklungen in Russland und ihreAuswirkung auf die Beziehungen zwischen derEU und Russland– Drucksachen 16/4932, 16/6241, 16/7187,16/7873 –Berichterstattung:Abgeordnete Erika SteinbachJohannes Jung
Burkhardt Müller-SönksenMichael LeutertVolker Beck
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
luise Beck , Volker Beck (Köln), Rain-der Steenblock und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENAnforderungen an eine strategische Partner-schaft der EU mit Russland– Drucksachen 16/4155, 16/7906 –Berichterstattung:Abgeordnete Manfred GrundMarkus MeckelDr. Werner HoyerWolfgang GehrckeMarieluise Beck
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
luise Beck , Volker Beck (Köln), Ale-xander Bonde, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENZusammenarbeit der EU mit Russland stär-ken– Drucksachen 16/8420, 16/9464 –
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17626 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne KastnerBerichterstattung:Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Gut-tenbergMarkus MeckelHarald LeibrechtWolfgang GehrckeMarieluise Beck
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sichum die Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen:Karl-Georg Wellmann, CDU/CSU, Gert Weisskirchen,SPD, Harald Leibrecht, FDP, Wolfgang Gehrcke, DieLinke, Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen.1)
Zusatzpunkt 3. Interfraktionell wird Überweisung derVorlage auf Drucksache 16/9423 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Siedamit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Tagesordnungspunkt 17 a. Wir kommen zur Be-schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zudem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Füreine konstruktive Zusammenarbeit mit Russland und ei-nen kritischen Dialog“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7907, denAntrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/4165abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Linken, derSPD und der CDU/CSU bei Gegenstimmen der FDP undbei Enthaltung der Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 17 b. Beschlussempfehlung desAusschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfezu dem Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Beratung ihrer Großen Anfrage mit demTitel „Aktuelle Entwicklungen in Russland und ihreAuswirkung auf die Beziehungen zwischen der EU undRussland“, Drucksachen 16/4932, 16/6241, 16/7187.Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlungauf Drucksache 16/7873, den Entschließungsantrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen. Wer stimmtfür diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Fraktio-nen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen und bei Ent-haltung der Fraktion der FDP angenommen.Tagesordnungspunkt 17 c. Beschlussempfehlung desAuswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Anforderungenan eine strategische Partnerschaft der EU mit Russland“.Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlungauf Drucksache 16/7906, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4155 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen DieLinke, SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen der Frak-1) Anlage 8tion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Frak-tion der FDP angenommen.Tagesordnungspunkt 17 d. Beschlussempfehlung desAuswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der FraktionBündnis90/Die Grünen mit dem Titel „Zusammenarbeitder EU mit Russland stärken“. Der Ausschuss empfiehltin seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9464,den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 16/8420 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen?
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mitden Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD und derCDU/CSU bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/DieGrünen und der FDP angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 sowie den Zu-satzpunkt 4 auf:18 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung
– zu dem Antrag der Abgeordneten Anette Hü-binger, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. SaschaRaabe, Gregor Amann, Elvira Drobinski-Weiß,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derSPDDie entwicklungspolitische ZusammenarbeitDeutschlands im Rahmen der strategischenPartnerschaft der Europäischen Union mitden Staaten Lateinamerikas und der Kari-bik zielgerichtet stärken– zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hän-sel, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEZum EU-Lateinamerika-Gipfel in Lima –Impulse für solidarische und gleichberech-tigte Beziehungen zwischen der EU und La-teinamerika– zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,Marieluise Beck , Volker Beck
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDie strategische Partnerschaft zwischen derEuropäischen Union, Lateinamerika undder Karibik durch eine intensive Umwelt-und Klimakooperation beleben– Drucksachen 16/9073, 16/9074, 16/8907,16/9458 –Berichterstattung:Abgeordnete Anette HübingerDr. Sascha RaabeDr. Karl AddicksHüseyin-Kenan AydinThilo Hoppe
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17627
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne KastnerZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Schuster, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPDie Beziehungen zu Lateinamerika und denStaaten der Karibik stärken und den EU-La-teinamerika/Karibik-Gipfel zu einer ehrli-chen Bestandsaufnahme nutzen– Drucksachen 16/9056, 16/9475 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherrzu GuttenbergNiels AnnenMarina SchusterWolfgang GehrckeKerstin Müller
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Anette Hübinger, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Vorsitzende! Meine Damen und Herren! DerGipfel in Lima ist zu Ende. Ich bin der Meinung, dass erden Beziehungen zwischen Lateinamerika und Europasehr gut getan hat.Bei den zentralen Themen wie Armutsbekämpfungund globalem Klimaschutz gab es rege Diskussionen,die zeigten, dass sowohl Europa als auch Lateinamerikaeine enge und ernsthafte Zusammenarbeit wollen, dieauf eine strategische Partnerschaft zielt. Dabei sind dasklare Bekenntnis der lateinamerikanischen Staaten zuden Millenniums-Entwicklungszielen und der Wille,diese sogar zu übertreffen, ein großer Fortschritt undeine wichtige Grundlage für unsere weitere Zusammen-arbeit.Gerade bei der Überwindung der sozialen Ungleich-heiten wird es davon abhängen, wie sehr der einzelneStaat bereit ist, diesen Konflikt durch den Aufbau vonInstrumenten zu lösen. Denn trotz steigender Sozialaus-gaben in vielen lateinamerikanischen Staaten in den letz-ten Jahren und trotz sozialpolitischer Programme wiedes brasilianischen Programms „Bolsa Família“ liegt dieEntwicklung im sozialen Bereich noch weit hinter demguten wirtschaftlichen Wachstum der letzten Jahre zu-rück.Die im Antrag der Koalitionsfraktionen enthaltenenForderungen zu nachhaltigen Entwicklungen waren inLima immer wieder wichtige Gesprächsthemen aufmultilateraler Ebene sowie in vielen bilateralen Dialogenunserer Kanzlerin. Denn die entwicklungspolitische Zu-sammenarbeit hat durch den breit angelegten Ansatz inder Armutsbekämpfung und in Fragen des Klimaschut-zes eine Schlüsselrolle. So wurde auch in der Gipfeler-klärung zu Recht unterstrichen, dass die Möglichkeitender entwicklungspolitischen Zusammenarbeit für die Be-kämpfung der sozialen Ungleichheiten noch stärker alsbisher genutzt werden müssen.
Aber auch in unserer Arbeit sehe ich noch erheblichesPotenzial, wenn es darum geht, flexibler auf regionaleVeränderungen zu reagieren, unsere zahlreichen Aktivi-täten im internationalen Bereich besser aufeinander ab-zustimmen und Schnittmengen zu gestalten. Ich denkean dieser Stelle an internationale Projekte im For-schungs- und Bildungsbereich. Doch auch im Wirt-schafts- und Energiebereich gibt es noch viel Potenzial,mit entwicklungspolitischen Instrumenten eine wirklichnachhaltige Entwicklung zu erreichen.Für eine erfolgreiche Zusammenarbeit ist es aberebenso wichtig, dass wir von den lateinamerikanischenPartnern ganz klare Hinweise bekommen, was genau zutun ist und welche Unterstützung in welchem Bereichgebraucht wird. Oft müssen keine großen Summen in-vestiert werden, damit die Lebenssituation der Men-schen erheblich verbessert werden kann.
Im Gespräch mit der Bundeskanzlerin wies der perua-nische Staatspräsident auf die Notwendigkeit vonRauchabzugsanlagen für den ländlichen Raum hin, da-mit die Lebens- und Gesundheitssituation der Menschen,die in einem einzigen Raum wohnen und kochen, ver-bessert werden kann.Dieser gegenseitige Austausch spielt für den Ent-wicklungserfolg eine ganz entscheidende Rolle; denn je-des Land hat seine eigenen spezifischen Herausforderun-gen, die wiederum sehr individuelle Ansätze benötigen.Differenzierte Ansätze sind deshalb in unseren Antrageingeflossen.Wenn wir von Lateinamerika sprechen, dann mussuns klar sein, dass wir einer Vielfalt von Staaten undVölkern gegenüberstehen, die in ihrer Ausprägung nichtunterschiedlicher sein könnten. Diese notwendige Flexi-bilität muss meines Erachtens auch die EU bei den nochoffenen Handels- und Assoziierungsabkommen mit derAndenregion, mit Zentralamerika und mit dem Mercosurdeutlich zeigen. Dabei sollte vielleicht – darauf verwiesPräsident García meines Erachtens zu Recht – zuerst mitdenen begonnen werden, die es auch ernsthaft wollen.In der lateinamerikanischen Vielgestaltigkeit nehmenwir aber auch Entwicklungen wahr, die als sehr kritischzu bewerten sind, Entwicklungen wie beispielsweise diein Venezuela. Menschenrechtsverletzungen stehen dortzunehmend auf der Tagesordnung, das zeigt zum Bei-spiel das jüngst per Dekret erlassene Geheimdienstge-setz. Durch staatszentralistische Maßnahmen werden dieRessourcen der venezolanischen Bevölkerung für die ei-genen populistischen Zwecke des StaatspräsidentenChávez missbraucht.
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17628 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Anette HübingerMeine Damen und Herren von der Fraktion DieLinke, es wäre wirklich an der Zeit, dass Sie sich endlicheingestehen, dass die Politik, die Sie wiederum in IhremAntrag verfolgen und auch in anderen Ländern unterstüt-zen, den Menschen keine Zukunft gibt.
Den Menschen eine Zukunft zu eröffnen, ist ein zen-trales Anliegen unserer entwicklungspolitischen Zusam-menarbeit. Deshalb werden Themen wie Bildung, Auf-bau von Sozialsystemen und rechtsstaatliche Strukturen,die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung durchEliten und Unternehmen, die Einführung von gerechtenSteuersystemen, Good Governance, aber auch Umwelt-fragen in unseren politischen Dialogen immer wiedereine große Rolle spielen. Wir wissen nämlich aus eige-ner Erfahrung, wie wichtig diese Sektoren für den Auf-bau einer funktionierenden Gesellschaft und für einenachhaltige wirtschaftliche Entwicklung sind. Geradewir im ressourcenarmen Deutschland wissen, was eingutes Bildungssystem bedeutet. Deshalb werden wirauch in den lateinamerikanischen Ländern unermüdlichdafür werben, in die Bildung der Menschen zu investie-ren. Nur so wird sich das derzeitige wirtschaftlicheWachstum auch in Zukunft nachhaltig entwickeln.
In diesem Zusammenhang möchte ich als ein gelun-genes Beispiel der ressortübergreifenden Arbeit zwi-schen dem BMZ und dem BMBF in Mexiko den Start ei-nes Masterstudiengangs im Umweltbereich nennen.Kooperationen gerade auch im Umweltbereich werdenin Zukunft eine immer größere Rolle spielen. Dennkeine Region verfügt über so viele geschützte und ökolo-gisch wertvolle Gebiete wie Lateinamerika.Die größte Herausforderung für uns alle wird meinesErachtens dabei sein, uns gemeinsam bei den globalenFragen des Klimaschutzes, des Walderhaltes und des Er-halts der Biodiversität der Verantwortung zu stellen undzu international gültigen Regeln zu kommen. Einzelpro-jekte können hierbei einen wichtigen und wertvollenBeitrag leisten. Als Beispiele wären zu nennen: unsereUnterstützung bei den Regionalprogrammen des Ama-zonas-Paktes oder das sich in der Prüfung befindlicheITT-Projekt in Ecuador.
Klar ist auch, dass wir als Industrienation dabei eineBringschuld haben. Deshalb müssen wir auch eine Vor-reiterrolle übernehmen. Die Zusage der Bundeskanzle-rin, bis 2012 für den Walderhalt 500 Millionen Euro zu-sätzlich zur Verfügung zu stellen und danach jährlichden gleichen Betrag, ist ein wichtiger Vorstoß.Auch benötigen wir eine ständige Dialogplattform,um diese wichtigen Themen zu diskutieren. Brasilienwird im November dieses Jahres zu einer internationalenKonferenz einladen, auf der die Fragen Agrartreibstoffe,Nahrungsmittelsicherheit und Klimawandel diskutiertund Lösungsansätze entwickelt werden sollen.Begreifen wir Lateinamerika in seiner Vielfältigkeitso, wie wir im vereinten Europa unsere verschiedenenKulturen erleben. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe,für die großen zentralen Herausforderungen unserer Zeitgemeinsame Lösungen zu finden, damit die Fiktion einerstrategischen Partnerschaft zwischen Lateinamerika undEuropa auch Realität wird. Die Entwicklungspolitik vondeutscher wie auch von europäischer Seite kann dabeiwertvolle und unterstützende Arbeit leisten.Herzlichen Dank.
Ich gebe nun das Wort der Kollegin Marina Schuster,
FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich möchte zunächst auf meine Vorrednerineingehen. Ich weiß nicht, welches Gipfeldokument Siegelesen haben. Ich kann jedenfalls in der 15-seitigen Ab-schlusserklärung wenig Konkretes finden. SubstanzielleErgebnisse sind ebenfalls ausgeblieben.
So war dieser Gipfel wie auch die Gipfel zuvor leidereine Veranstaltung mit hohem Symbolcharakter, aberohne neue Ergebnisse. Das ist wirklich sehr schade.
Vor fast zehn Jahren, 1999, ist diese strategische Part-nerschaft begründet worden. Es ist schon gut, wenn mansich die alten Gipfelerklärungen anschaut. 1999 wurdeninsgesamt 69 Punkte vereinbart. Man muss schon diekritische Frage stellen, was bisher herausgekommen istund was bisher umgesetzt worden ist. Die Ergebnissesind einfach mau.Ich hatte die Hoffnung, dass der Gipfel in Lima neuenSchwung bringt. Deutschland und die EU waren einfachzu wenig engagiert und haben zu wenige ehrgeizigeZiele vereinbart. Das rächt sich zu einem Zeitpunkt, zudem sich die politische Landkarte in Lateinamerikakomplett verändert hat und sehr viel komplexer ist alsnoch vor zehn Jahren.Jahrelang sind wir wie selbstverständlich davon aus-gegangen, dass wir der natürliche Partner Lateinameri-kas sind, weil wir in der Tat viele Werte teilen,
was die Kultur, die Religion und die Tradition angeht.Aber der große Fehler war, zu glauben, dass uns derKontinent so nahe ist, dass wir uns nicht mehr aktiv da-rum bemühen müssen.
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Marina SchusterJetzt wundern wir uns, dass China, Indien und Russ-land vor Ort an Einfluss gewinnen und dass sie ihre Be-ziehungen gefestigt haben. Da muss ich auch an dieAdresse der Grünen sagen: Wer sich an die Politik vonJoschka Fischer erinnert, der muss auch feststellen, dasses in dieser Zeit keine neuen Impulse gab.
Glücklicherweise ist das Interesse der lateinamerikani-schen Staaten an den Beziehungen zu Deutschland undzur Europäischen Union sehr hoch. Wir müssen endlichdiese ausgestreckte Hand ergreifen.Die Staaten Lateinamerikas haben ein neues Selbstbe-wusstsein gewonnen. Der Rohstoffboom und die asiati-sche Nachfrage nach Energie und Lebensmittel tun dasIhre dazu. In diesem Zusammenhang erwarte ich von derBundesregierung, dass sie definiert, welche RolleLateinamerika für die künftige EnergiediversifizierungDeutschlands und der Europäischen Union spielen soll.Zudem müssen wir uns eingestehen, dass sich unsereHoffnungen auf eine lateinamerikanische Integrationnach europäischem Vorbild auf absehbare Zeit wohlnicht erfüllen werden. Dies ist sehr schade. Die Gründedafür sind aber auch bekannt.Zum einen ist es die nachlassende Bereitschaft der la-teinamerikanischen Staaten, nationale Souveränität ab-zutreten. Dafür ist Mercosur ein gutes Beispiel. Ob dieseit Jahren geplanten Assoziierungsabkommen mit demMercosur oder auch mit der Anden-Gemeinschaft über-haupt noch zustande kommen, ist die große Frage. Beider Erklärung der Mercosur/EU-Troika, die jetzt im In-ternet steht, ist das Deckblatt größer als die Erklärungselbst. Ich glaube, da sind wir auf keinem guten Weg.Zum anderen müssen wir Europäer uns fragen, wasunsere neue Initiative ist. Es ist vollkommen richtig, aufden globalen Freihandel zu setzen. Auch wir wünschenuns endlich den Durchbruch bei den Doha-Verhandlun-gen. Wir müssen aber auch eine ehrliche Bestandsauf-nahme vorlegen und überlegen, inwieweit wir EU-weitbilaterale und subregionale Abkommen forcieren müs-sen, so wie wir das im Falle von Chile und Mexiko ge-macht haben.
Ansonsten verpassen wir den Zug, auf den andere schonlängst aufgesprungen sind.Ich begrüße, dass die Kanzlerin Deutschland in Limaprominent vertreten hat und dass sie sich von Cháveznicht hat aus der Ruhe bringen lassen.
Es ist aber die Frage, mit welchen Initiativen die Bun-desregierung jetzt an die Umsetzung herangehen undwie sie zum Beispiel die Außenwirtschaft und den Tou-rismus forcieren will. Es ist auch ganz drängend, im Be-reich der Sicherheitspolitik enger zusammenzuarbeiten.Wir haben Probleme im Bereich der Bekämpfung desDrogenhandels und des Terrorismus, aber auch in derFrage der Abrüstung. Da ist viel zu tun. Außerdem be-steht bei der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitikenormer Handlungsbedarf.
Ich frage mich, welche konkreten Ziele und welchenZeitrahmen die Bundesregierung vereinbaren will. Dennzu einer strategischen Partnerschaft gehört aus meinerSicht eine umfassende Zusammenarbeit in allen wichti-gen Politikbereichen. Eines darf nicht passieren: dasswir den Begriff „strategische Partnerschaft“ als dauerndeWunschvorstellung in unsere Dokumente schreiben unddass dies nicht Wirklichkeit wird.
Gerade für Lateinamerika gilt, dass diese Partnerschaftendlich mit Leben erfüllt werden muss. Dafür ist es ausliberaler Sicht höchste Zeit.
Das Wort hat der Kollege Dr. Sascha Raabe, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Wir haben die vorliegenden Anträge voreinigen Wochen in erster Lesung diskutiert. In unseremKoalitionsantrag haben wir einige Anregungen undWünsche in Richtung Bundesregierung – an der Spitzedie Bundeskanzlerin – formuliert, die wir heute nach-träglich beschließen. Der Lateinamerika-Gipfel hat ja inder Zwischenzeit stattgefunden. Als Augenzeuge dieserReise – ich durfte die Kanzlerin für die SPD-Fraktionauf dieser Reise begleiten – kann ich Ihnen sagen, dasssie die wesentlichen Punkte, die wir in dem Antrag derKoalition vereinbart hatten, bei ihren Gesprächen in al-len vier Ländern und auf dem Gipfel angesprochen hat.Wir haben in unserem Antrag eine Vertiefung der Be-ziehungen zwischen der Europäischen Union und La-teinamerika nicht nur allgemein gefordert, sondern dasauch mit ein paar konkreten Inhalten gefüllt. Zum Bei-spiel muss der Umwelt- und Ressourcenschutz auchdazu führen, dass das Erbe, das wir unserer nachfolgen-den Generation, den Kindern, im Bereich der biologi-schen Vielfalt hinterlassen – dazu hat kurz danach dieKonferenz in Bonn stattgefunden –, wirkungsvoll ge-schützt wird. Das geht natürlich nicht, wenn wir den Ent-wicklungsländern und unseren lateinamerikanischenPartnern – zum Beispiel Brasilien oder Ecuador, wo esgroße Regenwaldflächen gibt – nur mit dem moralischenZeigefinger sagen: Ihr müsst euren Wald schützen. – Na-türlich müssen diese Länder ihre Verantwortung wahr-nehmen. Aber unsere Bundeskanzlerin hat sich im Sinneunseres Antrags dazu bekannt, dass Deutschland weiter-hin und verstärkt seinen finanziellen Beitrag dazu leistenwird, dass diese Wälder geschützt werden und dass dielokale Bevölkerung, die um diese Wälder lebt, und dieindigene Bevölkerung, die in diesen Wäldern lebt, Ein-
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Dr. Sascha Raabekommensalternativen erhalten, wenn sie keine Wälderroden.Wir haben schon vor vielen Jahren in Brasilien – daswar die erste Station der Reise – das PPG-7-Projekt ge-startet, um den amazonischen Regenwald zu schützen.Mittlerweile sagt man in Brasilien oft – das habe ich vorOrt gehört –: Das ist eigentlich das PPG-1-Projekt, weilDeutschland der einzige Geldgeber ist, der dieses Pro-jekt noch wirkungsvoll unterstützt. Deshalb hat man inBrasilien einen großen Respekt und eine große Anerken-nung dafür, was wir im Bereich des Tropenwaldschutzesleisten.Vor dem Gespräch, das die Kanzlerin mit dem ecua-dorianischen Präsidenten Correa geführt hat, hatte ichGelegenheit, mit ihr über den Vorschlag der ecuadoriani-schen Regierung zu sprechen, dass wir in einem beson-ders wertvollen Abschnitt des Amazonas, in dem diehöchste Biodiversitätsdichte der Welt herrscht, in demalso die meisten Pflanzen- und Tierarten vorkommen –abgekürzt: im ITT-Gebiet; eine Parlamentarierdelegationhat sich dies zuvor auf einer Reise in das Amazonasge-biet angeschaut –, helfen. Denn unter dem Boden diesesGebietes liegen die größten Erdölreserven Ecuadors.Ecuador ist ein armes Land; es kann nicht ohne Wei-teres auf solche Einnahmen verzichten. Denken Sie da-ran, welche hohen Erdölpreise wir gerade haben. Dagäbe es viel zu gewinnen, was dieses Land für Infra-struktur, Bildung, Gesundheit und die Armutsbekämp-fung einsetzen könnte. Deswegen hat Ecuador gesagt:Wir erkennen unseren Teil der Verantwortung an. Wirverzichten auf die Hälfte der möglichen Einnahmen ausder Erdölförderung, wenn die Weltgemeinschaft diezweite Hälfte kompensiert und wir dieses Geld für dieBevölkerung vor Ort nehmen können, damit sie sich an-dere Einkunftsquellen erschließen kann.Auch das hat die Kanzlerin in einem Gespräch mitCorrea unterstützt. Wir von der Koalition werden ge-meinsam mit den Grünen dazu einen Antrag in den Bun-destag einbringen, in dem zum Ausdruck gebracht wird,dass wir dieses Projekt unterstützen wollen.Die Kanzlerin hat auch beim Thema Biokraftstoffedas, was wir in unserem Antrag beschrieben haben undauch in vielen anderen Papieren zu lesen ist, sehr diffe-renziert und positiv rübergebracht: Biokraftstoffe, zumBeispiel aus Zuckerrohr gewonnenes Ethanol, könnenund dürfen nur dann nach Europa eingeführt werden,wenn sie aus nachweislich zertifiziertem Anbau stam-men. Es darf also weder zu ökologischen Beeinträchti-gungen – auch nicht zu indirekten Beeinträchtigungen,die sich daraus ergeben, dass der Sojaanbau auf Regen-waldflächen verlagert wird – noch zu einer Konkurrenzzur Nahrungsmittelproduktion kommen; denn auch dieErnährungssicherheit ist uns wichtig.Die Kanzlerin hat in Brasilien im Sinne unseres An-trages durchaus den richtigen Ton getroffen. Es ist be-kannt, dass Präsident Lula in der Produktion von Bio-kraftstoffen große Chancen sieht. Es ist berechtigt, dasser diese Chancen wahrnehmen will. Er hat aber schondie Botschaft verstanden, die wir vom deutschen Parla-ment über unsere Bundeskanzlerin ausgesandt haben:Wir wollen darauf achten, dass die ökologischen und so-zialen Kriterien gewahrt bleiben.Apropos soziale Kriterien: Gerade in Lateinamerika,auf einem Kontinent, der hohe wirtschaftliche Wachs-tumsraten verzeichnet – in den letzten Jahren lag dieWachstumsrate in den meisten Ländern bei 7 bis 8 Pro-zent; davon können wir nur träumen –, ist es ganz wich-tig, dass das Problem der Verteilungsungerechtigkeit ge-löst wird. Auf keinem anderen Kontinent gibt es einesolch starke Ungleichverteilung zwischen Arm undReich. Hier konnten wir, die deutsche Delegation, imGespräch mit den Unternehmern immer wieder deutlichmachen, dass wir in Lateinamerika eine soziale Markt-wirtschaft fördern wollen. Das bedeutet, dass die oberenSchichten durch eine gerechte Besteuerung ihrer Verant-wortung gerecht werden müssen, damit soziale Siche-rungssysteme aufgebaut werden können. Sonst entstehtdort – auch das konnten wir rüberbringen – ein explosi-ver Sprengstoff, der für den Kontinent nicht gut ist.In einigen Zeitungen und von einigen kritischenNGOs wurde beklagt, dass auf dem Gipfel, was Doku-mente anbelangt, keine riesigen Ergebnisse erzielt wur-den. Ich glaube, internationale Gipfel haben das an sich.Es ist aber wichtig, dass eine Annäherung zwischen Eu-ropa und Lateinamerika in Freundschaft erreicht wurdeund dass die Themen richtig besetzt wurden. Jetzt liegtes an uns Parlamentariern in Deutschland, in Europa undin unseren lateinamerikanischen Partnerländern, die be-nannten Themen mit Leben zu erfüllen und konkreteZiele zu erreichen, sei es durch Wirtschaftsabkommenmit Lateinamerika, durch verschiedene Assoziierungs-abkommen, oder sei es – das würde Europa und Latein-amerika sicherlich helfen – durch einen Durchbruch inder WTO-Runde.Ich möchte ein paar Sätze zur letzten Station unsererReise, zu Kolumbien, äußern. In erster Lesung haben wirsehr emotional über Kolumbien diskutiert. Auf der einenSeite erkennen wir dort, was die Sicherheit angeht, großeFortschritte. Die Journalisten und die Wirtschaftsdelega-tion konnten sich davon überzeugen, dass sich viele Ver-besserungen ergeben haben: Die Zahl der Morde und derEntführungen sowie das Ausmaß des Terrors sind zu-rückgegangen.Die größte dort verbliebene Terrororganisation ist dieFARC. Sie hält weiterhin viele Geiseln gefangen, undzwar unter schlimmen Bedingungen. Vor einigen Wo-chen konnten wir in den Medien von einem Computer-fund der kolumbianischen Regierung lesen. In der letz-ten Debatte wurde die Frage gestellt, ob die Daten echtsind oder ob der Computer manipuliert wurde. Mittler-weile wissen wir: Diese Computer sind nicht manipuliertworden.Bei der Auswertung der Daten auf diesem Computerwurden erschreckende Erkenntnisse gewonnen: Die ve-nezolanische Regierung mit Präsident Chávez hat derFARC, einer Terrororganisation, Geld und Waffen ange-boten. Zugleich ließ sich Chávez anlässlich der Vermitt-lung einer möglichen Geiselfreilassung als Friedens-engel feiern. Es ist der Gipfel der Heuchelei, die
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17631
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Dr. Sascha Raabelegt.kraten ein wirklich erschreckender Vorgang.
Es war wirklich erschreckend, dass Sie in der letztenParlamentssitzung tränenrührig gesagt haben: „LiebeFreunde von der FARC“ – na ja, das haben Sie nicht ge-sagt –, „ich gebe euch einen sozialistischen Rat: Lasstdie Geiseln frei!“, Sie aber gleichzeitig die FARC ver-harmlosen und sagen, dass Sie die FARC von der Terror-liste nehmen wollen. Sie sagen immer, dass man mit denLeuten verhandeln muss. Man muss aber sehen, dassman hier im Grunde in einer Erpressungssituation ver-handelt. Wenn ein Entführer eine Pistole an den KopfEndgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 527;davonja: 387nein: 140JaCDU/CSUUlrich AdamPeter AlbachPeter AltmaierDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleDr. Wolf BauerGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerOtto BernhardtClemens BinningerRenate BlankPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachKlaus BrähmigMichael BrandHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeGeorg BrunnhuberCajus CaesarGitta ConnemannLeo DautzenbergThomas DörflingerMarie-Luise DöttMaria EichhornDr. Stephan EiselAnke Eymer
Ilse Falkund dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich komme zu Tagesordnungspunkt 15 zurück undgebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführernermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung überdie Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusseszu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mitdem Titel „Hilfe für irakische Flüchtlinge ausweiten – ImIrak, in Nachbarländern und in Deutschland“ – Druck-sachen 16/7468 und 16/9006 – bekannt: AbgegebeneStimmen 528. Mit Ja haben gestimmt 387, mit Nein ha-ben gestimmt 141, Enthaltungen 0. Die Beschlussemp-fehlung ist damit angenommen.Dr. Hans Georg FaustEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachDr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. FritzJochen-Konrad FrommeDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelDr. Jürgen GehbNorbert GeisEberhard GiengerRalf GöbelJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersDr. Karl-Theodor Freiherr zuGuttenbergOlav GuttingHolger HaibachUrsula HeinenUda Carmen Freia HellerMichael HennrichJürgen HerrmannBernd HeynemannErnst HinskenChristian HirteRobert HochbaumKlaus HofbauerFranz-Josef HolzenkampJoachim Hörster
hrcke hat von sich aus demngeboten, darauf hinzuwir- Terrorliste der EU gestri-D: Hört! Hört!)r im Parlament umgesetzt;urde dem Parlament vorge-des Entführten hält, dann kannnur verhandeln und sagen: BeWie Sie das darstellen, kldie FARC zu einer sozialen Bren Vertretern man auf Augensoziale Probleme zu lösen. Skriminalisieren. Die FARC mden, weil das eine Mörder- uMassaker verursacht und Leidgebracht hat.Vizepräsidentin Dr. h. cHerr Kollege, bitte.
uf dem linken Auge blindn alle Terroristen ablehnen,on rechts kommen. Es ist Organisation unterstützen,
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17632 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne KastnerAnette HübingerHubert HüppeSusanne Jaffke-WittDr. Peter JahrAndreas Jung
Bartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderJürgen KlimkeJulia KlöcknerJens KoeppenKristina Köhler
Manfred KolbeNorbert KönigshofenDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsDr. Martina KrogmannDr. Hermann KuesDr. Karl Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertHelmut LampKatharina LandgrafDr. Max LehmerPaul LehriederIngbert LiebingEduard LintnerDr. Klaus W. LippoldPatricia LipsDr. Michael LutherStephan Mayer
Wolfgang MeckelburgDr. Michael MeisterFriedrich MerzLaurenz Meyer
Maria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Eva MöllringMarlene MortlerCarsten Müller
Stefan Müller
Dr. Gerd MüllerHildegard MüllerBernd Neumann
Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaRuprecht PolenzDaniela RaabHans RaidelDr. Peter RamsauerPeter RauenEckhardt RehbergKatherina Reiche
Klaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberFranz RomerJohannes RöringKurt J. RossmanithDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckAlbert Rupprecht
Peter RzepkaAnita Schäfer
Hermann-Josef ScharfDr. Wolfgang SchäubleHartmut SchauerteDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerBernd SchmidbauerChristian Schmidt
Andreas Schmidt
Ingo Schmitt
Dr. Andreas SchockenhoffDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe SchummerWilhelm Josef SebastianKurt SegnerBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnErika SteinbachChristian Freiherr von StettenGero StorjohannAndreas StormMax StraubingerThomas Strobl
Michael StübgenHans Peter ThulAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzAndrea Astrid VoßhoffGerhard WächterMarco WanderwitzKai WegnerMarcus WeinbergPeter Weiß
Gerald Weiß
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannAnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar WöhrlWolfgang ZöllerSPDGregor AmannNiels AnnenIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldErnst Bahr
Doris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolSabine BätzingDirk BeckerKlaus Uwe BenneterDr. Axel BergUte BergPetra BierwirthLothar Binding
Volker BlumentrittKurt BodewigClemens BollenGerd BollmannDr. Gerhard BotzKlaus BrandnerBernhard Brinkmann
Edelgard BulmahnMartin BurkertDr. Michael BürschChristian CarstensenMarion Caspers-MerkDr. Peter DanckertDr. Herta Däubler-GmelinKarl DillerDr. Carl-Christian DresselElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinDetlef DzembritzkiSebastian EdathySiegmund EhrmannHans EichelDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherRainer FornahlGabriele FrechenDagmar FreitagPeter FriedrichMartin GersterIris GleickeRenate GradistanacAngelika Graf
Dieter GrasedieckMonika GriefahnKerstin GrieseAchim GroßmannWolfgang GrotthausWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannAlfred HartenbachMichael Hartmann
Nina HauerHubertus HeilDr. Reinhold HemkerRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogPetra HeßGabriele Hiller-OhmStephan HilsbergPetra Hinz
Iris Hoffmann
Frank Hofmann
Eike HovermannKlaas HübnerChristel HummeJohannes Jung
Josip JuratovicJohannes KahrsUlrich KasparickDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberChristian KleimingerAstrid KlugDr. Bärbel KoflerWalter KolbowFritz Rudolf KörperKarin KortmannRolf KramerAnette KrammeErnst KranzNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerDr. Hans-Ulrich KrügerJürgen KucharczykUte KumpfDr. Uwe KüsterChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachWaltraud LehnHelga LopezGabriele Lösekrug-MöllerDirk ManzewskiLothar MarkCaren MarksKatja MastPetra Merkel
Dr. Matthias MierschUrsula MoggMarko MühlsteinDetlef Müller
Gesine MulthauptFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesThomas OppermannHolger OrtelHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßChristoph PriesDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertSteffen Reiche
Maik ReichelGerold ReichenbachDr. Carola ReimannChristel Riemann-HanewinckelWalter RiesterSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Ortwin RundeAnton SchaafAxel Schäfer
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17633
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne KastnerOttmar SchreinerReinhard SchultzChristian AhrendtDaniel Bahr DIE LINKEBirgitt BenderAlexander BondeEwald SchurerFrank SchwabeDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzRita Schwarzelühr-SutterWolfgang SpanierJörg-Otto SpillerDr. Ditmar StaffeltDieter SteineckeLudwig StieglerRolf StöckelChristoph SträsserDr. Peter StruckJoachim StünkerDr. Rainer TabillionJörg TaussJella TeuchnerDr. h. c. Wolfgang ThierseJörn ThießenFranz ThönnesRüdiger VeitSimone ViolkaJörg VogelsängerDr. Marlies VolkmerHedi WegenerAndreas WeigelPetra WeisGunter WeißgerberGert Weisskirchen
Lydia WestrichDr. Margrit WetzelAndrea WickleinEngelbert WistubaDr. Wolfgang WodargWaltraud Wolff
Heidi WrightUta ZapfManfred ZöllmerBrigitte ZypriesNächster Redner ist der KFraktion Die Linke.
Karin BinderHeidrun BluhmEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausSevim DağdelenDr. Diether DehmWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstWolfgang GehrckeDr. Gregor GysiLutz HeilmannHans-Kurt HillCornelia HirschInge HögerDr. Barbara HöllUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenMonika KnocheJan KorteMichael LeutertUlla LötzerDr. Gesine LötzschUlrich MaurerDorothée MenznerKornelia MöllerKersten NaumannWolfgang NeškovićDr. Norman PaechBodo RamelowElke ReinkePaul Schäfer
Volker Schneider
Dr. Herbert SchuiDr. Ilja SeifertDr. Petra SitteFrank SpiethDr. Axel TroostAlexander Ulrich
olleginnen und Kollegen!hema FARC an. Ich wusste/CSU]: Darüber reden gern!)
Uwe Barth
Rainer Brüderle Hüseyin-Kenan Aydin Ekin DeligözBernd ScheelenDr. Hermann ScheerMarianne SchiederUlla Schmidt
Silvia Schmidt
Heinz Schmitt
Carsten Schneider
Olaf ScholzNeinSPDOtto SchilyFDPDr. Karl AddicksDr. Max StadlerDr. Rainer StinnerFlorian ToncarChristoph WaitzDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
Martin ZeilJörn WunderlichSabine ZimmermannBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
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17634 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Wolfgang GehrckeEs war nicht schwer, das zu erahnen.
Sie haben den Begriff „Fund“ benutzt; bezeichnen wirdas einmal so. Bei einer Geheimdienstoperation vonEcuador, also von außerhalb Kolumbiens, wurde derstellvertretende Vorsitzende der FARC ermordet.
– Passen Sie doch einmal auf. Sie können ja noch nichteinmal richtig aus dem Spiegel zitieren.
Die Computerdaten – ich kenne den Inhalt dieser Da-ten nicht im Einzelnen – sind geknackt worden. Span-nend ist, dass der Spiegel einen Tag vor unserem Partei-tag und meiner Kandidatur diese Daten veröffentlichthat. Ein Narr ist, wer Schlechtes dabei denkt.
Im Spiegel stand einzig und allein, dass ich mich mitdem Sohn des FARC-Führers getroffen habe und ich ihmgesagt habe, dass wir dafür sind, die FARC von der Ter-rorliste zu streichen.
– Das können Sie ja ablehnen. Das ist meine Position.Ich hatte Gelegenheit, die Friedensprozesse in ElSalvador und Guatemala zu begleiten. Ich habe Erfah-rungen mit diesem Prozess. Damals wurde das Gleicheüber die Frente in El Salvador und Guatemala gesagt. Insolchen Gespräche muss man dem Gesprächspartnerklipp und klar sagen, was man von ihm erwartet. Dashabe ich den FARC-Führern genau so gesagt, wie ich eshier im Bundestag gesagt habe.
Ich habe gesagt: Ich erwarte von Ihnen, dass Sie dieGeiseln sofort freigeben, weil das nichts mit linker Poli-tik zu tun hat.
Ich glaube, dass es vernünftig ist, die Sache so auszutra-gen.
Die FARC hat jetzt die Möglichkeit, die Geiseln ohneVorbedingungen sofort freizugeben.Ihnen sage ich aber: Wenn Sie einen wirklichen Frie-densprozess in Kolumbien wollen, sind Sie schlecht be-raten, sich ganz auf die Seite von Präsident Uribe zuschlagen.
Krieg verdirbt ein ganzes Land, und 40 Jahre Bürger-krieg bedeuten in einem Land für alle Seiten Zerstörung,Gewalt, Drogen, Waffen und was alles dazugehört. Dasprägt Kolumbien. Ich behaupte nicht, dass das nicht auchdie FARC prägt. Das ist die konkrete Situation. WennSie da rauskommen wollen, bleibt Ihnen nur der Weg derVerhandlungen. Es wäre sinnlos, einen anderen Weg ein-zuschlagen. Ein anderer Weg würde nicht zu einem Er-gebnis führen.
Ich weiß gar nicht, warum Sie sich hier so aufregen.Ich habe aus meinen Positionen nie einen Hehl gemacht.Ich habe immer darüber diskutiert. Das hätten Sie nichterst dem Spiegel entnehmen oder vom Geheimdienst hö-ren müssen; Sie hätten mir nur einmal zuzuhören brau-chen. Ich gehe offen damit um.Ich will Ihnen noch etwas sagen, damit wir nicht nurüber dieses Problem reden.
– Das können Sie ja auch. Reden Sie mit sich selbst. Wirhaben eh wenig Zeit dafür.
Herr Raabe, Sie haben das Ergebnis des Gipfels ge-schönt. Es war ein nichtssagendes, ein schlechtes Ergeb-nis. Ich Blödkopf habe es mit Ihrem Antrag, den Sie alsSPD beschlossen haben, verglichen, um zu sehen, obsich das ein Stück weit dort wiederfindet. Nichts findetsich dort wieder. Ich sage Ihnen auch mit Blick auf dievergangenen Debatten, in denen Kollege Mützenich guteReden gehalten hat: Ihre Partei macht kaputt, dass Siesich völlig entgegen dem verhalten, was Sie hier sagen.Das gilt auch bezüglich Lateinamerika.
Ich gebe das Wort der Kollegin Ute Koczy, Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Freiheit für Ingrid Betancourt – ich denke, dasmuss die Botschaft sein, dafür müssen wir uns einsetzen.Und an die Linke: Sie haben die Verantwortung, dafür zusorgen, dass gewalttätige Organisationen – und das istdie FARC – dazu angehalten werden, von der Gewalt ab-zulassen.
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Ute Koczy
Sie machen dies auf dem falschen Weg; denn Sie distan-zieren sich nicht weit genug. Das ist ein Problem, dasdazu beiträgt, die Gewalt zu kontinuieren, zu perpetuie-ren. Eigentlich müsste man das ganz anders angehen.Aber ich sage ebenfalls: Auch gegenüber der RegierungKolumbiens haben wir Grüne Forderungen, die wir nichtso einfach unter den Tisch fallen lassen können. Auchdie Regierung Uribe hat Dreck am Stecken.Ich komme zurück zum Gipfel in Lima; denn darumgeht es hier. Wir wollen bewerten, was der Gipfel ge-bracht hat. Es ist schlicht übertrieben, wenn man denGipfel und die Reise der Kanzlerin als Erfolg wertet. Da-für gibt die Abschlusserklärung von Lima viel zu wenigher. Man bekennt sich zu Gemeinplätzen. Man bekundetzwar, auf vielen Feldern zusammenarbeiten zu wollen,aber es wird nicht gesagt, wie diese Zusammenarbeitumgesetzt werden soll
und welche konkreten Schritte stattfinden sollen, wederbei der Bekämpfung der Nahrungsmittelkrise noch beimKlimawandel, ganz zu schweigen von der Steuerpolitikoder den Agrotreibstoffen, die im Abschlussdokumentüberhaupt nicht erwähnt werden.Wir haben nach dem Gipfel in Wien vor zwei Jahrenkritisiert, dass sich die Ergebnisse in Bekenntnissen zugemeinsamen Werten erschöpfen und dass sie nichtsdazu beitragen, die strategische Partnerschaft zwischenden Regionen mit Leben zu füllen. An den Anträgen derKoalition kritisieren wir, dass alles Lob für die Bundes-regierung nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass sichreal wenig getan hat. Das ist ein Desaster.
Die beiden Anträge der Koalition zeichnen sich vor al-lem dadurch aus, dass sie mit vielen Worten wenig sa-gen, vor allem wenig Konkretes, und um den heißen Breiherumgeredet wird.
Ich möchte hier nur an den Umgang mit den Regierun-gen von Kolumbien und Venezuela erinnern. Wie großdie Uneinigkeit in der SPD ist und wie unterschiedlichdie Einschätzung zu diesen beiden Ländern sein kann,haben Herr Raabe und Herr Mark in der letzten Debattehierzu vorgeführt.Die Kanzlerin hat ihr Amt erst jetzt nach Lateiname-rika geführt, also zweieinhalb Jahre nach ihrem Amtsan-tritt. Sie hat versucht, in einer Woche all das nachzuho-len, was sie in den letzten zweieinhalb Jahren hätte tunmüssen. Das kann natürlich nicht gut gehen.Lateinamerika befindet sich in einem Wandlungs- undWachstumsprozess. Der Kontinent mit seinen 500 Mil-lionen Menschen kommt zusehends zu mehr Handlungs-spielräumen und Selbstbewusstsein. Das ist eine Weis-heit, die nicht erst in den letzten Wochen vom Himmelgefallen ist. Die gestiegenen Rohstoffpreise und die stär-kere Orientierung Lateinamerikas hin zu China, Indienund anderen Staaten des Südens haben sich schon längerabgezeichnet. Die Staaten Lateinamerikas werden imZuge dieser Entwicklungen politisch und wirtschaftlichunabhängiger, sowohl von den USA als auch von derEU. Gleichzeitig verliert die bestehende regionale Inte-gration an Schwung und damit auch die Strategie der EUfür die biregionale Zusammenarbeit. Das spürt man beiden Verhandlungen zu den Assoziations- und Freihan-delsabkommen, aber auch in den internationalen Finanz-institutionen.Wir müssen uns schon die Frage stellen, wie wir dieVerhandlungen mit unseren Partnern in Zukunft führenwollen. Der Umgang mit der Andengemeinschaft ist eingutes Beispiel. Das Bündnis ist wegen interner Problemegeschwächt. Kompromisse fallen schwer. Wenn die EUdie regionale Integration stärken will, ist es dann sinn-voll, eine Kooperation in zwei Geschwindigkeiten zu be-treiben? – Ich bezweifle das.
In Zukunft werden Deutschland und die EU aktiv undmit attraktiven Angeboten auf die Staaten Lateinameri-kas zugehen müssen. Ein Angebot wäre – Sascha Raabehat es schon erwähnt –, Ecuador darin zu unterstützen,das Öl im Boden zu lassen. Das ist korrekt. Wir wolleneinen gemeinsamen Antrag dazu schreiben. Das wäremeiner Meinung nach innovativ und nach vorn schau-end. Hier wäre es auch einmal konkret. Daher denke ich,dass wir zumindest in diesem Bereich auf einem gutenWeg sind.Danke.
Der Kollege Gregor Amann, SPD, hat seine Rede zuProtokoll gegeben.1)Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zurBeschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftli-che Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache16/9458. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Frak-tionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache16/9073 mit dem Titel „Die entwicklungspolitische Zu-sammenarbeit Deutschlands im Rahmen der strategi-schen Partnerschaft der Europäischen Union mit denStaaten Lateinamerikas und der Karibik zielgerichtetstärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Ge-genstimmen der Opposition angenommen.Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ableh-nung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-sache 16/9074 mit dem Titel „Zum EU-Lateinamerika-Gipfel in Lima – Impulse für solidarische und gleichbe-1) Anlage 9
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastnerrechtigte Beziehungen zwischen der EU und Lateiname-rika“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen des Hauses bei Gegenstimmen der FraktionDie Linke angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9458 dieAblehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen auf Drucksache 16/8907 mit dem Titel „Die stra-tegische Partnerschaft zwischen der EuropäischenUnion, Lateinamerika und der Karibik durch eine inten-sive Umwelt- und Klimakooperation beleben“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP beiGegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen undbei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.Zusatzpunkt 4. Beschlussempfehlung des Auswärti-gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der FDPmit dem Titel „Die Beziehungen zu Lateinamerika undden Staaten der Karibik stärken und den EU-Lateiname-rika/Karibik-Gipfel zu einer ehrlichen Bestandsauf-nahme nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 16/9475, den Antragder Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9056 abzuleh-nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist bei Gegenstimmen der FDP mit den Stimmendes restlichen Hauses angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, Dr. Ge-sine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKEEhrung für Johann Georg Elser als gesamtge-sellschaftliches Anliegen begreifen– Drucksache 16/9419 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
InnenausschussAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um dieReden folgender Kolleginnen und Kollegen: WolfgangBörnsen , CDU/CSU, Dr. Wolfgang Thierse,SPD, Christoph Waitz, FDP, Dr. Lukrezia Jochimsen,Die Linke, Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grü-nen.
Johann Georg Elser war ein mutiger und ehrenwerter
Mann: Im Sommer 1938 entschloss er sich, Adolf Hitler
zu ermorden und zwar allein. Sein monatelang geplantes
Attentat führte er am 8. November 1939 in München aus,
scheiterte aber tragisch. Kurz vor Kriegsende, am
9. April 1945, wurde er im Konzentrationslager Dachau
„auf höchste Weisung“ erschossen. Tragisch, skandalös,
ein Akt der Barbarei des NS-Staates.
Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus hatte
kein einheitliches Gesicht: Er kam aus der Arbeiterbewe-
gung, aus bürgerlichen Kreisen, aus den Kirchen, er exis-
tierte innerhalb der Wehrmacht. Und es gab die zahlrei-
chen, nicht namentlich bekannten Widerstandskämpfer
im Alltag, die einfach menschlich handelten. Ihnen allen
gebührt unser tiefer Dank, unser Respekt.
Johann Georg Elser war ein Einzelkämpfer, der die
Geschichte unseres Landes ändern wollte. Daher ist das
Anliegen richtig, seiner zu gedenken, an ihn zu erinnern,
ihn nicht der Vergessenheit anheim zu geben. Deshalb
auch wird an ihn in der Gedenkstätte Deutscher Wider-
stand erinnert. Deshalb gibt es in der KZ-Gedenkstätte
Sachsenhausen, wo er fünf Jahre Einzelhaft erdulden
musste, eine Gedenktafel. Deshalb beschäftigt sich mit
ihm auch die Topographie des Terrors.
Es gibt eine Georg-Elser-Gedenkstätte in Königs-
bronn, wo er geboren wurde. Sie zeigt neben wertvollen
zeitgeschichtlichen Dokumenten auch die Verhörproto-
kolle vom Dezember 1939 und zeichnet ein umfangrei-
ches Bild der Hintergründe des Attentats. In Heidenheim,
wo er entscheidende Vorbereitungen für sein Attentat traf,
existiert der engagierte Georg-Elser-Arbeitskreis. In en-
ger Zusammenarbeit haben die Gedenkstätte Deutscher
Widerstand, der Georg-Elser-Arbeitskreis Heidenheim
und die Gemeinde Königsbronn eine wissenschaftlich
fundierte Dokumentation zu Elser und dem Attentat erar-
beitet. In Deutschland gibt es 24 Straßen und Plätze, die
nach ihm benannt sind. Man kann also nicht davon spre-
chen, dass Johann Georg Elser in der Öffentlichkeit nicht
präsent wäre. Im Gegenteil – und man wünschte sich,
dass anderer Widerstandskämpfer ebenso engagiert und
vielseitig gedacht würde.
Die Rolle des Widerstands gegen den Nationalsozialis-
mus und die Leistungen und den Mut jedes Einzelnen zu
würdigen, ihnen den Platz im öffentlichen Bewusstsein zu
geben, der ihnen gebührt – das ist eine Aufgabe, die nie
abgeschlossen sein wird und die von vielen Seiten wahr-
genommen werden muss, auch und in erster Linie von den
Ländern.
Daher ist das Anliegen unserer Berliner Freunde von
der Union begrüßenswert, in Berlin eine Ehrung für Jo-
hann Georg Elser vorzusehen, allerdings ist es eine Lan-
desangelegenheit. Nur am Rande sei hier bemerkt, dass
die Berliner Linken im Abgeordnetenhaus – als mitregie-
rende Fraktion – eine rasche Ehrung abgelehnt haben
und stattdessen einen Prüfauftrag beschlossen haben.
Die Reaktion der Berliner Linken jedenfalls ist konse-
quent, bedenkt man, dass Elser in der DDR von der SED
ignoriert wurde, passte er doch nicht in die leninistische
Geschichtsschreibung und wurde nicht als Kommunist
der reinen Lehre betrachtet.
Man könnte daher tatsächlich zu der Ansicht gelan-
gen, dass der uns vorliegende Antrag der Linken im Deut-
schen Bundestag, wo sie keine Regierungsverantwortung
tragen, nicht mehr als ein Schaufensterantrag ist. Seine
Zielrichtung geht fehl, und die Unterstellung, es gebe
„nicht erinnerte Opfer“ des Nationalsozialismus, zeugt
von blankem Unwissen: Die Gedenkstätte Deutscher Wi-
derstand und die Neue Wache Unter den Linden als
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Wolfgang Börnsen
Mahnmal für alle Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft
leisten diese Erinnerung, in würdiger und bewegender
Weise.
Auch München hat für eine verantwortungsbewusste
Aufarbeitung der NS-Historie in Bezug auf Johann Georg
Elser Beispiele gesetzt. Dort, wo er verhaftet wurde und
sein Weg ins Konzentrationslager begann, erinnern ein
Georg-Elser-Platz, eine Gedenktafel und die Georg-
Elser-Hallen an den Widerstandskämpfer.
Am 13. März dieses Jahres haben im Berliner Abge-
ordnetenhaus die beiden Koalitionsfraktionen SPD und
Die Linke einen Antrag beschlossen, der das gleiche An-
liegen verfolgt wie der jetzt von der Bundestagsfraktion
Die Linke vorgelegte Antrag: nämlich Johann Georg
Elsers in Berlin zu gedenken.
In der Sache waren sich alle Fraktionen im Berliner
Parlament einig, nur über Formulierungen wurde gestrit-
ten. Auch der in Berlin für Kultur zuständige Staatssekre-
tär André Schmitz unterstützt das Projekt.
Deshalb verstehe ich nicht, warum die Linke diesen
Antrag zum jetzigen Zeitpunkt im Bundestag einbringt
und nicht erst einmal die von Ihnen im Berliner Abgeord-
netenhaus mitbeschlossene Prüfung der „Möglichkeiten
zur Errichtung eines Denkzeichens für Johann Georg
Elser an zentraler, öffentlich zugänglicher Stelle in Ber-
lin“ abwartet, deren Ergebnisse bis zum 30. Juni 2008
vorgelegt werden sollen.
Ich halte es für sinnvoll, dass das Land Berlin in eige-
ner Trägerschaft Elsers gedenkt. Und natürlich ist auch
zu überlegen, ob und wie der Bund das Anliegen unter-
stützen kann.
Die Linke fordert in ihrem Antrag auch, im Umfeld des
Deutschen Bundestages die bislang nicht erinnerten Op-
fer des NS-Regimes zu ehren. Sie sollten bei dieser For-
derung allerdings berücksichtigen, dass jedes weitere
Denkmal den Wert der bestehenden schmälert.
In der Sache stimme ich dem Anliegen der Linken zu,
das Andenken an den Widerstandskämpfer Johann Georg
Elser im öffentlichen Bewusstsein zu stärken. Dafür habe
ich als Schirmherr der Berliner Georg-Elser-Initiative
mehrfach geworben.
Johann Georg Elser blieb viel zu lange die Aufmerk-
samkeit und die öffentliche Würdigung verwehrt, die ihm
gebührt. Das gilt im Übrigen für beide deutschen Staaten
gleichermaßen. Das Gegenteil nämlich war der Fall:
noch viele Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges
hielt sich hartnäckig das Gerücht, Johann Georg Elser
sei eine Marionette der Nationalsozialisten gewesen, die
durch das Attentat den Mythos des von der Vorsehung be-
schützten Führers stärken wollten.
André Schmitz sprach zu Recht von einer zweiten Hin-
richtung: erst durch seine Henker und dann durch die öf-
fentliche Wahrnehmung nach dem Zusammenbruch des
NS-Regimes.
Zu Protokoll
Johann Georg Elser war mutiger und weitsichtiger als
die meisten anderen Deutschen. „Ich habe den Krieg ver-
hindern wollen“, sagte er in den Verhörprotokollen zu
seinem Motiv für das Attentat. Der Anschlag am 8. No-
vember 1939 im Münchner Bürgerbräukeller schlug fehl.
Das mörderische Regime entfaltete sich unaufhaltsam
weiter und kostete vielen Millionen Menschen auf bru-
talste Weise das Leben. Elser wurde am 9. April 1945,
vier Wochen vor Ende des Krieges, hingerichtet.
Erst Ende der 1960er-Jahre haben Historiker anhand
der Verhörprotokolle der Gestapo die Alleintäterschaft
Elsers nachgewiesen. Auch danach dauerte es noch viele
Jahre, bis Johann Georg Elser in der offiziellen Gedenk-
kultur der Bundesrepublik gewürdigt wurde. Zu verdan-
ken ist das den ehrenamtlichen Georg-Elser-Initiativen,
von denen es mittlerweile sechs in Deutschland gibt. Ih-
nen gebührt mein Dank.
Dieses dezentrale zivilgesellschaftliche Engagement
ist charakteristisch für die Erinnerungskultur in Deutsch-
land. Staatliches Erinnern kann und soll diese Initiativen
nicht ersetzen. Erst das Engagement vieler, nicht nur hier
in Berlin, sondern auch anderswo in Deutschland, hält
das Andenken an Johann Georg Elser und die vielen an-
deren Widerstandskämpfer wach.
Mir ist es wichtig, nicht nur Elsers Tat stärker ins öf-
fentliche Bewusstsein zu heben, sondern ihn auch als Bei-
spiel, als Vorbild für mutiges Eintreten eines einzelnen
Menschen gegen staatliche Willkür und Unrecht wahrzu-
nehmen. Die wichtigste Lehre des Widerstandes ist, Un-
recht zu bekämpfen, bevor es die Chance erhält, an die
Macht zu kommen. Es ist im Sinne von Johann Georg
Elser, politisch wach zu sein und Feinde des demokrati-
schen Zusammenlebens frühzeitig zu erkennen und zu-
rückzudrängen.
Lassen Sie uns im Ausschuss weiter darüber diskutie-
ren, in welcher Weise und an welchem Ort Johann Georg
Elsers gedacht werden kann und gedacht werden sollte
und wie der Bund Berlin dabei unterstützen kann. Jede
Debatte darüber hält die Erinnerung an diesen mutigen
Widerstandskämpfer wach und hilft, Johann Georg Elser
den prominenten Platz im kollektiven Gedächtnis einzu-
räumen, der ihm gebührt.
1938, als die Nationalsozialisten und Adolf Hitler ihreMacht in Deutschland zementiert, Österreich an dasDeutsche Reich angeschlossen und die Tschechoslowakeials Staat zerschlagen hatten, erkannte Georg Elser, dassHitler und die Nationalsozialisten einen Angriffskriegvorbereiteten. Er erkannte, wofür viele Zeitgenossen inDeutschland blind waren. Er sah den Krieg mit unvor-stellbaren Ausmaßen, der vor Deutschland und Europalag. Er erkannte für sich, dass nur ein Attentat auf Hitlerdiese Gefahr bannen konnte.Am 1. September 1939 begann Zweite Weltkrieg. In derNacht vom 6. auf den 7. November 1939 setze GeorgElser den Zeitzünder der Bombe in Gang. Zu diesem Zeit-punkt war Polen längst überfallen, in die Kapitulationgezwungen und geteilt worden. Großbritannien und
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17637
gegebene Reden
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Christoph WaitzFrankreich hatten dem Deutschen Reich den Krieg er-klärt. Die Welt stand vor dem Abgrund, der zu über55 Millionen toten Menschen führen sollte.„Ich habe den Krieg verhindern wollen“, sagte er spä-ter, nachdem er unter Folter seine Tat gestanden hatte.1945, wenige Jahre nach dem Attentatsversuch von Elser,steht Europa am Ende des Zweiten Weltkrieges vor einemDesaster. Millionen von Kriegstoten, Flüchtlingen undVertriebenen, Millionen von Menschen, die aus rassisti-schen oder weltanschaulichen Gründen im System derKonzentrationslager aus Hunger, Krankheit oder Ent-kräftung starben oder Opfer von Massenerschießungenund Vergasung wurden.Gerade im Lichte des millionenfachen Leids wünschteich, Georg Elser hätte mit seinem Attentat auf Hitler Er-folg gehabt, und ich wünschte, dass diese Tat wirklich dieWirkungskette der Folgeereignisse unterbrochen und dasmassenhafte Leid und Elend verhindert hätte.Elser beschließt, Hitler zu töten, und bereitet das At-tentat sorgfältig vor. Er platziert die Zeitbombe imMünchner Bürgerbräukeller. Er weiß, dass Hitler am8. Novembers 1939, anlässlich des Vorabends des Hitler-putsches vom 9. November 1923, dort sprechen wird. DieBombe ist in einer tragenden Säule platziert. Die Detona-tion bringt Teile der Decke zum Einsturz und begräbt dasRednerpult. Acht Menschen sterben, viele sind verletzt.Doch Hitler selbst verlässt zusammen mit weiteren Nazi-Größen wenige Minuten vor der Explosion den Saal.Noch am gleichen Tag wird Elser an der SchweizerGrenze verhaftet und bis zum 9. April 1945, dem Tag sei-ner Hinrichtung, inhaftiert.Georg Elser verdient unsere Anerkennung für das, waser weitsichtig, selbstlos und unter großer persönlicherGefahr getan hat. Das von Georg Elser verübte Attentatist eines der wenigen, das tatsächlich ausgeführt wurde.Viele weitere Attentatspläne kamen über das Planungs-stadium nie hinaus. So steht die Tat Elsers historisch ne-ben dem Attentatsversuch vom 20. Juli 1944.Die Besonderheit seiner Tat kam auch durch die Inhaf-tierung und den Zeitpunkt seiner Hinrichtung zumAusdruck. Man „hob“ Elser quasi auf, um ihn nachKriegsende einem Schauprozess zu unterwerfen. AlsDeutschland kurz vor der Kapitulation stand, wurdeElser zeitgleich mit Widerstandskämpfern wie DietrichBonhoeffer, Wilhelm Canaris und Hans von Dohnanyihingerichtet.Georgs Elsers Rolle als Widerstandskämpfer wurdefrüher nicht ausreichend gewürdigt. Deswegen bin ichfroh, dass die Heimatstadt von Elser, Königsbronn, dieGedenkstätte Deutscher Widerstand und die Ernst-Freiberger-Stiftung die Erinnerung an Elser bewahrenund die Leistung und die Motivation Elsers für viele Men-schen erfahrbar machen.Heute gibt es bereits eine Vielzahl von Gedenkstättenund Denkmäler für Georg Elser. In der Heimat Elserssind Straßen, Plätze und Schulen nach ihm benannt. Dortgibt es auch eine Georg-Elser-Gedenkstätte. Die Gedenk-stätte Deutscher Widerstand in Berlin räumt Elser einenzentralen Platz in Ihrer Ausstellung ein, und die Ernst-Zu ProtokollFreiberger-Stiftung errichtet im Rahmen der „Straße derErinnerung“ ein Denkmal für Georg Elser in der Nähedes Bundesinnenministeriums am Spreebogen, das EndeSeptember 2008 eingeweiht werden soll.Wenn jetzt das Land Berlin die Errichtung eines Denk-mals plant, so ist dieses Vorhaben richtig und unterstüt-zenswert. Ich denke, das Vorhaben ist in der Federfüh-rung des Landes Berlin auch gut aufgehoben.Der Antrag der Linken leidet an zahlreichen Mängeln.Er vermischt das Gedenken an Georg Elser mit dem Ge-denken an andere Opfergruppen der nationalsozialisti-schen Gewaltherrschaft. Er entmündigt das Land Berlinselbst in einfachsten Fragen der Denkmalerrichtung. Ervermischt das Gedenken an Georg Elser sachwidrig mitAspekten, die das in Vorbereitung befindliche Gedenk-stättenkonzept des Bundes betreffen. Er bietet bis auf daslose Aneinanderreihen von nicht unmittelbar zusammen-hängenden Forderungen keine praktisch verwertbarenVorschläge.Der Deutsche Bundestag hat sich bereits in vielen an-deren Fällen für die Errichtung von Denkmälern und Ge-denkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus ausge-sprochen und eingesetzt. Zuletzt wurde das Denkmal fürdie ermordeten Homosexuellen in Berlin eingeweiht. EinDenkmal für die „als Zigeuner verfolgten“ Menschen be-findet sich gegenwärtig im Bau. Darüber hinaus existierteine Vielzahl weiterer Gedenkstätten, die an im National-sozialismus ermordete Menschen erinnern.Das Gedenken an den deutschen Widerstand hat inBerlin eine zentrale Stelle gefunden. Die GedenkstätteDeutscher Widerstand befindet sich am Originalschau-platz im Bendlerblock in der Stauffenbergstraße. Hier ha-ben die Attentäter des 20. Juli 1944 um Graf von Stauf-fenberg gewirkt, geplant und gehofft, und hier sind siegescheitert, gefangen und standrechtlich erschossen wor-den. Die Gedenkstätte wird bereits durch den Bund unter-stützt. Es zweifelt niemand daran, dass die Arbeit der Ge-denkstätte und der Ort des Gedenkens angemessen sind.Ich verstehe nicht, warum die Linke den vorliegendenAntrag in den Deutschen Bundestag eingebracht hat. So-weit der Antrag über das Gedenken an Georg Elser hi-nausgeht, betrifft er das Gedenkstättenkonzept des Bun-des. Hier sind wir noch mit den Beratungen beschäftigt.Das wissen auch Sie, liebe Kollegin Dr. Jochimsen.Auch wir warten auf die Vorlage des endgültigen Kon-zepts der Bundesregierung. Hier hat es immer wiederVerschiebungen gegeben. Jetzt soll das Konzept EndeJuni dieses Jahres vorgelegt werden. Der Antrag der Lin-ken hilft aber nicht, die Vorlage des Konzepts zubeschleunigen. Ich schlage Ihnen vor, das Gedenkstätten-konzept abzuwarten und dann konkrete Änderungsvor-schläge einzubringen. Dann können diese Vorschlägeauch im richtigen Kontext diskutiert werden.
Wer war Georg Elser? Der Sohn eines Bauern undHolzhändlers aus Württemberg, Jahrgang 1903, Volks-schüler, Schreinerlehrling, der die Gesellenprüfung 1922als Jahrgangsbester besteht, Tischler und Uhrmacher. Als
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17638 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Dr. Lukrezia Jochimsendie Weltwirtschaftskrise ausbricht, wird er Mitglied imRotfrontkämpferbund. Ab 1936 ist er Hilfsarbeiter in ei-ner Heidenheimer Armaturenfabrik und erfährt dort vonder Rüstungsproduktion im Auftrag der Nationalsozialis-ten. 1938 erlebt er eine Gedenkveranstaltung der NSDAPzum Hitler-Putsch. Das ist der historische Augenblick fürseinen Entschluss, Hitler durch ein Attentat umzubringen.Er allein. „Einer muss es doch machen“, war seine Be-gründung. Ein Einzelner. Ein Einzelner, der als Ersterviereinhalb schrecklich lange Kriegsjahre vor Stauffen-berg und der Gruppe des 20. Juli versucht hat, Deutsch-land von seinem Diktator zu befreien und den gerade be-gonnen Krieg zu beenden. Das Sprengstoff-Attentat am8. November 1939 im Münchener Bürgerbräukeller miss-lingt, weil Hitler wenige Minuten vor der Explosion denVersammlungssaal verlässt.Georg Elser wird noch am gleichen Tag verhaftet undgesteht am 13. November, die Tat allein geplant unddurchgeführt zu haben. Zitat aus dem Verhör: „Die seitHerbst 1933 in der Arbeiterschaft von mir beobachteteUnzufriedenheit und der von mir seit Herbst 1933 vermu-tete unvermeidliche Krieg beschäftigten stets meine Ge-dankengänge. … Ich stellte allein Betrachtungen an, wieman die Verhältnisse der Arbeiterschaft bessern und ei-nen Krieg vermeiden könnte. Die von mir angestelltenBetrachtungen zeitigten das Ergebnis, dass die Verhält-nisse in Deutschland nur durch eine Beseitigung der au-genblicklichen Führung geändert werden könnten. Unterder Führung verstand ich die Obersten, ich meine damitHitler, Göring und Goebbels. Durch meine Überlegungenkam ich zu der Überzeugung, dass durch die Beseitigungdieser drei Männer andere Männer an die Regierungkommen, die an das Ausland keine untragbaren Forde-rungen stellen, die kein fremdes Land einbeziehen wollenund die für eine Verbesserung der sozialen Verhältnisseder Arbeiterschaft Sorge tragen werden.“Nach dem Eingeständnis der Tat wird Georg Elser vierJahre lang im KZ Sachsenhausen und im KZ Dachau im-mer wieder verhört und gefoltert und am 9. April 1945– einen Monat vor der bedingungslosen Kapitulation –erschossen.Warum sollten wir, müssen wir dieses Mannes im Jahr2008 ff. – mehr als hundert Jahre nach seiner Geburt undmehr als sechzig Jahre nach seinem Tod – gedenken, undzwar in Berlin im nationalen Rahmen? Der Grund istbeschämend: weil genau dies in den vergangenen Nach-kriegs-Jahrzehnten unterblieb. Ich zitiere Peter Steinbachund Johannes Tuchel aus der „Frankfurter Rundschau“vom 18. November 1999: „Georg Elser hatte keiner Eliteangehört, der man das Recht auf Widerstand zubilligte;keine gesellschaftliche Großgruppe setzte sich für seinAndenken ein. Er blieb Werkzeug der Machthaber, nichtaber ein Mensch, der sich selbst in Übereinstimmung mitseinem Gewissen einen Handlungsauftrag gegeben hatte.… Lange Zeit wurde übrigens in beiden Teilen Deutsch-lands nicht akzeptiert, dass ein Arbeiter ohne Rücksichtauf sich und seine unmittelbaren Angehörigen eine Tat bisins Detail geplant, gewagt und durchgeführt hatte, zu dersich andere weder 1939 noch später entschließen konn-ten.“„In der Bundesrepublik war Elsers Widerstand gegenden Nationalsozialismus nach 1945 noch umstrittener alsZu Protokolldie gesamte Gegnerschaft zum Regime. Immer wiederrankten sich um seine Tat neue Gerüchte. Diffamierungenaus der NS-Zeit wirkten fort und überlagerten sich nichtselten mit teils bizarren Nachkriegsdeutungen. GeorgElser war eine Herausforderung: Er machte deutlich,dass ein einfacher Mann aus dem Volke sich zu einer welt-geschichtlichen Tat aufraffen konnte. Er strafte all jeneLügen, die sich weiterhin einredeten, sie hätten dem Ter-ror des NS-Staates nichts entgegensetzen können. DerDurchschnittsbürger, das zeigte Elsers Beispiel, war kei-neswegs zum Mitläufer bestimmt – er konnte dem Rad desStaates durchaus in die Speichen greifen.“„Kein Denkmal erinnert an ihn“ heißt es am Ende desFilms „Georg Elser – Einer aus Deutschland“ von KlausMaria Brandauer aus dem Jahr 1989.Zwar hat es seitdem eine große Ausstellung über Ge-org Elser gegeben, die in Berlin und 33 anderen StädtenDeutschlands zu sehen war und heute den Mittelpunkt derElser-Gedenkstätte in Königsbronn darstellt; zwar gibt eseine Gedenktafel in München, einen Gedenkstein in Hei-denheim, eine Schule mit seinem Namen, ein Archiv undsogar eine Sonderbriefmarke, aber in Berlin erinnert andieses Vorbild des Deutschen Widerstands bisher nichts.Seit Jahren plädiert Rolf Hochhuth dafür, Georg Elsermit einem Denkmal in Berlin zu ehren. Er begründet dasso: „Elser war der Einzige von 80 Millionen, der klargenug geblieben war, um zumindest den Versuch zu unter-nehmen, Hitler umzubringen“. Und es war RolfHochhuth, der im Februar dieses Jahres dem BerlinerAbgeordnetenhaus vorgeschlagen hat, ein Denkzeichenfür Georg Elser an zentraler, öffentlich zugänglicherStelle zu errichten – auf dem Terrain der früheren Reichs-kanzlei. Also, Ehre dem einsamen Attentäter, der Vorbildgerade für moderne Menschen sein könnte.Die Linksfraktion im Bundestag sieht in diesem Vor-schlag ein gesamtgesellschaftliches Anliegen – und keineSache Berlins allein. Eine Ehrung Elsers mit vorherge-hender breiter gesellschaftlicher Diskussion würde diepolitische Kultur der Bundesrepublik bereichern. Des-halb fordern wir die Bundesregierung auf: im Einverneh-men mit dem Land Berlin die Trägerschaft für eineEhrung von Johann Georg Elser zu übernehmen; eineKonzeption vorzulegen, in der dargestellt wird, wie undan welchen Orten im Umfeld des Deutschen Bundestagesdie bislang nicht erinnerten Opfer des verbrecherischen
ehrt werden sollten; darzustellen, wie die Breite des poli-tischen Widerstandes auch außerhalb der mit dem 20. Juli1944 verbundenen Gedenkstätte Deutscher Widerstandim Berliner Stadtraum erinnert werden kann und in die-sem Zusammenhang zu prüfen, ob tatsächlich und gege-benenfalls auf welche Weise der Ort der früheren Reichs-kanzlei als der eigentlichen politischen Machtzentraledes NS-Regimes in das öffentliche Bewusstsein der Topo-grafie des NS-Terrors eingefügt werden kann und sollte.Dazu sollte im Ausschuss für Kultur und Medien eineAnhörung stattfinden mit: Klaus Maria Brandauer, RolfHochhuth, Prof. Jutta Limbach, Prof. Peter Steinbach,Prof. Johannes Tuchel und anderen.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17639
gegebene Reden
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17640 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Wenn ich an Johann Georg Elser und sein gescheiter-tes Attentat auf Adolf Hitler denke, dann gerate ich in re-trospektive Spekulationen: Wie wäre die Weltgeschichteverlaufen, wenn Hitler damals eine viertel Stunde längerim Münchner Bürgerbräukeller geblieben wäre? Hätte esdann diesen schrecklichen Krieg nicht gegeben? Wäreder millionenfache Mord an den europäischen Judendann nicht geschehen? Niemand kann das wissen unddoch erfüllt uns das tragische Scheitern Elsers mit derseltsamen Ahnung, dass die Weltgeschichte oft von Zufäl-len gesteuert wird. Hinzu kommt das persönliche Schick-sal Elsers, der 1945 in Dachau ermordet wurde, abernach dem Krieg lange Zeit nicht angemessen gewürdigtwurde, weil er vielen als Marionette der Nationalsozialis-ten galt. Dies ist mittlerweile widerlegt, Elser war ein mu-tiger Einzeltäter mit einer eigenen moralischen Agenda.Der Schriftsteller und Dramatiker Rolf Hochhuth magÄhnliches gedacht und gefühlt haben, als er den Vor-schlag machte, ein öffentliches Denkzeichen für JohannGeorg Elser in Berlin einzurichten, und zwar am Ort derfrüheren Reichskanzlei, also an einer Stelle, die alsSchaltzentrale des nationalsozialistischen Menschheits-verbrechens gilt. Die Linkspartei in Berlin hat sich diesenVorschlag zu eigen gemacht und damit die Unterstützungaus anderen Fraktionen gewonnen. Im Februar hat dasBerliner Abgeordnetenhaus denn auch einen entspre-chenden Beschluss gefasst.Doch wünsche ich mir, dass, bevor wir ein solches Pro-jekt in die Wege leiten, einige inhaltliche und formaleGrundsatzfragen geklärt werden. Inhaltlich wichtig findeich die Frage, wie anhand einer Einzelperson das breiteSpektrum des kommunistischen Widerstands dargestelltoder zumindest angedeutet werden kann. Auch müssenwir darüber nachdenken, wie sich dieser neue Erinne-rungsort systematisch in das dichte Gesamtensemble derBerliner Gedenkstätten einfügen kann. Welche Korres-pondenzen und pädagogischen Synergien wären dabeidenkbar? Und formal-ästhetisch wäre mir doch sehr da-ran gelegen, dass wir kein klassisches Heldendenkmal inBronze aufstellen, sondern bei der Ausschreibung die ge-rade in Berlin hochaktive junge Kunstszene um zeitgemä-ßere, gleichsam „experimentellere“ Vorschläge bitten.Ich verstehe den Begriff „Denkzeichen“ im Beschluss desBerliner Abgeordnetenhauses nämlich genau so: dass esdarum geht, mit subtilen Mitteln eine historische undpolitische Nachdenklichkeit wachzurufen.Über die weiterführenden Forderungen im vorlie-genden Antrag bezüglich der Erinnerung an andere Op-fergruppen des Nationalsozialismus – wie etwa diesowjetischen Kriegsgefangenen oder die osteuropäischeIntelligenz – werden wir im Ausschuss für Kultur und Me-dien zu beraten und zu diskutieren haben.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9419 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung haftungsrechtlicher Vorschrif-
ten des Atomgesetzes und zur Änderung sons-
tiger Rechtsvorschriften
– Drucksache 16/9077 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit
– Drucksache 16/9472 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Georg Nüßlein
Christoph Pries
Angelika Brunkhorst
Hans-Kurt Hill
Hans-Josef Fell
b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu den Protokollen vom
12. Februar 2004 zur Änderung des Überein-
kommens vom 29. Juli 1960 über die Haftung
gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kern-
energie in der Fassung des Zusatzprotokolls
vom 28. Januar 1964 und des Protokolls vom
16. November 1982 und zur Änderung des Zu-
satzübereinkommens vom 31. Januar 1963
zum Pariser Übereinkommen vom 29. Juli
1960 über die Haftung gegenüber Dritten auf
dem Gebiet der Kernenergie in der Fassung
des Zusatzprotokolls vom 28. Januar 1964 und
– Drucksache 16/9078 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit
– Drucksache 16/9473 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Georg Nüßlein
Christoph Pries
Angelika Brunkhorst
Hans-Kurt Hill
Hans-Josef Fell
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr. Georg
Nüßlein, CDU/CSU, Christoph Pries, SPD, Angelika
Brunkhorst, FDP, Hans-Kurt Hill, Die Linke, Sylvia
Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen.
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Regelungsgegenstand der vorliegenden Gesetzesent-
würfe ist zentral die Ratifizierung der Änderungsproto-
kolle zum Pariser Übereinkommen sowie zum Brüsseler
Zusatzübereinkommen und die entsprechende Umsetzung
in nationales Recht, soweit erforderlich.
Das Atomhaftungsrecht ist ein von internationalen
Übereinkommen geprägtes Rechtsgebiet. Mit dem Pari-
ser Übereinkommen wurde eine multilaterale Haftungs-
grundlage für nukleare Schäden geschaffen. Dieses
wurde durch das Brüsseler Zusatzübereinkommen im
Hinblick auf weitere Entschädigungsmittel ergänzt.
Die Überarbeitung dieser internationalen Überein-
kommen erfolgte insbesondere mit der Zielsetzung, die
multilaterale Haftungsgrundlage für Nuklearschäden
weiter zu verbessern und das Nuklearhaftungsniveau an-
zuheben. An einer substanziellen Optimierung des inter-
nationalen Haftungsrechts muß uns fraktionsübergrei-
fend gelegen sein. An dieser Stelle begrüße ich die
Haltung des Koalitionspartners in der ersten Lesung –
der Kollege Pries spricht hier korrekterweise von einer
deutlichen Verbesserung im Bereich der internationalen
Atomhaftung.
An die fraktionsübergreifende energiepolitische Ge-
samtverantwortung will ich an dieser Stelle aber auch
jenseits des Haftungsrechts appellieren: Ich plädiere
nach wie vor für die notwendigen Laufzeitverlängerun-
gen unserer deutschen Kernkraftwerke, weil ich nicht
weiß, wie wir im Bereich des grundlastfähigen Stroms die
Kernenergie bis zum anvisierten Finalausstieg spätestens
2023 ersetzen sollen – wenn wir nicht in Kauf nehmen
wollen, dass statt der Kernenergie verstärkt fossile
Energieträger eingesetzt werden und diese wiederum die
C02-Bilanz entscheidend verschlechtern. Wir brauchen
die Kernenergie als Brückentechnologie in einen neuen
Energiemix.
Auch wenn mir das Thema der energiepolitischen Ge-
samtverantwortung angesichts der Energieversorgungs-
sicherheit und rasant ansteigender Energiekosten unter
den Nägeln brennt, ich will zurückkommen auf die heute
zu behandelnde Haftung im Bereich der Kernenergie.
Bei der Überarbeitung der internationalen Überein-
kommen sind wichtige, bereits bestehende Haftungs-
grundsätze beibehalten worden. So ist beim Brüsseler
Zusatzübereinkommen das dreigliedrige Entschädi-
gungssystem geblieben, es ist jedoch mit der Zielsetzung
verbesserter Haftungskonditionen jeweils auf jeder Stufe
eine Tranchenerhöhung erfolgt. Beim Pariser Überkom-
men sind wichtige Haftungsprinzipien – wie die Gefähr-
dungshaftung des Kernanlageinhabers oder die Haf-
tungsbefreiung nur in abschließend aufgezählten Fällen
besonderer höherer Gewalt – beibehalten worden. Neue
Regelungsinhalte zum Pariser Überkommen sind etwa
die Haftungserhöhung des Kernanlageninhabers um ein
Mehrfaches auf mindestens 700 Millionen Euro oder die
entscheidende Anhebung der Mindesthaftung im Bereich
der Transporte nuklearen Materials. Mit der Erhöhung
der Haftungs- und Deckungssummen wurde dem Um-
stand Rechnung getragen, dass in einigen Vertragsstaa-
Zu Protokoll
ten noch immer verhältnismäßig niedrige Haftungs-
höchstgrenzen bestanden.
Neben der beschriebenen Anhebung der Haftungs-
und Deckungssummen hat der Opferschutz auch dadurch
eine wesentliche Verbesserung erfahren, dass der territo-
riale Anwendungsbereich erweitert wurde. Eine weitere
wichtige Präzisierung und Besserstellung zugunsten des
Opferschutzes erfolgte durch die Aufnahme einer Rege-
lung zum Staatenklagerecht für geschädigte Bürger sowie
die vertragsstaatliche Pflicht zur Bestimmung eines Ge-
richts für nukleare Schadensersatzprozesse. Im Übrigen
wurde der anwendungsrelevante Schadensbegriff klarge-
stellt und ausgeweitet. Der Schadensbegriff bezieht sich
nun unter anderem auch ausdrücklich auf Umweltschä-
den, womit man insbesondere dem Anspruch an ein mo-
dernes Umwelthaftungsrecht gerecht wird.
Vor diesem Hintergrund sind die Gesetzesvorlagen im
Sinne des Opferschutzes zu begrüßen, weil sie im Ver-
gleich zur bisherigen internationalen Rechtslage eine er-
hebliche Verbesserung bedeuten. Wichtig ist deshalb das
baldige Inkrafttreten dieser verbesserten Haftungsgrund-
sätze.
Die von der Kollegin Brunkhorst in der ersten Lesung
angeführte Kritik, dass mit den debattierten Gesetzesent-
würfen zielgerichtet insbesondere kerntechnischen For-
schungseinrichtungen das Leben finanziell schwerer ge-
macht werden solle, weise ich entschieden zurück. Richtig
ist allein, dass der deutsche Gesetzgeber im Zuge der
Umsetzung verbesserter internationaler Haftungsstan-
dards einen davon unabhängigen, aber notwendigen
Nachbesserungsbedarf im Bereich des Verwaltungskos-
tengesetzes sowie der Kostenverordnung zum Atomgesetz
gesehen hat: Künftig kann das Bundesamt für Strahlen-
schutz auch von Bund, Ländern, Gemeinden und be-
stimmten juristischen Personen des öffentlichen Rechts
sowie von gemeinnützigen Forschungseinrichtungen Ge-
bühren erheben. Damit soll aber gerade nicht den kern-
technischen Forschungseinrichtungen beziehungsweise
der Forschung an sich der Boden entzogen werden. Mit
der modifizierten Kostentragungsregelung werden nur
die rechtlichen Voraussetzungen für die Refinanzierung
jener Kosten geschaffen, die dem Bundesamt für Strah-
lenschutz durch die Genehmigung der Anwendung radio-
aktiver Stoffe oder ionisierender Strahlung zum Zwecke
der medizinischen Forschung entstehen. Mit diesem Re-
finanzierungsinstrument wird lediglich gewährleistet,
dass die mit den entsprechenden Aufgaben betrauten Stel-
len im Bundesamt dauerhaft gesichert werden.
Der Deutsche Bundestag verabschiedet heute zwei Ge-setzentwürfe zur internationalen Atomhaftung. Damitwerden das Pariser Übereinkommen von 1960 und dasBrüsseler Zusatzabkommen von 1963 über die Haftunggegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergiegrundlegend novelliert. Mit der Ratifizierung und Umset-zung der sogenannten Pariser Atomhaftungsprotokollevom 12. Februar 2004 erreichen wir substanzielle Ver-besserungen beim internationalen Opferschutz im Falleeines nuklearen Schadens.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17641
gegebene Reden
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Christoph PriesAufgrund des Ausmaßes und des potenziell grenzüber-schreitenden Charakters nuklearer Ereignisse und Schä-den war man sich bereits seit den 1950er-Jahren darüberim Klaren, dass es eine internationale Kooperation indiesem Bereich geben müsse. Der nach bisherigen Er-kenntnissen zum Glück glimpflich verlaufene Kühlwas-serverlust im Primärkreislauf des slowenischen Atom-kraftwerkes Krsko am gestrigen Abend macht das wiedereinmal deutlich.Lassen Sie mich noch einmal kurz die wesentlichenVerbesserungen skizzieren, die durch die Verabschiedungder beiden Gesetzentwürfe erreicht werden: Die zur Ver-fügung stehenden Haftungssummen der Anlagenbetrei-ber werden von 15 auf 700 Millionen Euro pro nuklearenSchaden laut Pariser Übereinkommen erhöht. Die Haf-tungssummen werden von Höchst- zu Referenzbeträgenumgewandelt. Eine unbegrenzte Haftung des Betreiberseiner Atomanlage – wie in Deutschland im Atomgesetzverankert – wird ausdrücklich zugelassen. Die Höchst-summen garantierter Ersatzleistungen laut Brüsseler Zu-satzübereinkommen werden von 300 Millionen auf1,5 Milliarden Euro deutlich angehoben. Die Haftungsre-gelungen des Übereinkommens werden ausgedehnt. Da-von profitieren vor allem diejenigen europäischen Staa-ten, die über keinerlei Atomanlagen verfügen – zumBeispiel die Republik Irland und Österreich –, da dasÜbereinkommen nun automatisch für diese Länder gilt.Der Kreis der ersatzfähigen Schäden wird durch eineNeudefinition des Begriffs „nuklearer Schaden“ deutlicherweitert. Dadurch werden in Zukunft insbesondere Um-weltschäden erfasst. Die weitgehende inhaltliche De-ckungsgleichheit der Bestimmungen der regionalen Pari-ser und Brüsseler Atomhaftungsübereinkommen und desweltweiten Wiener Atomhaftungsübereinkommens wirdwiederhergestellt. Dies war nach der Revision des WienerÜbereinkommens 1997 erforderlich geworden.Ich hatte anlässlich der ersten Lesung der vorliegen-den Gesetzentwürfe meine Hoffnung auf eine breite Zu-stimmung im Bundestag zum Ausdruck gebracht. Die ges-trigen Beratungen im Umweltausschuss haben michleider eines Besseren belehrt. Besonders verwundert binich über die Ablehnung der Grünen: Wurden doch die Pa-riser Atomhaftungsabkommen noch unter der Federfüh-rung des grünen Umweltministers Jürgen Trittin ausge-handelt. Statt zum eigenen Regierungshandeln zu stehen,ziehen Sie sich mit Ihrem Entschließungsantrag zur Haf-tungsfrage im Atomgesetz auf Maximalpositionen zurück.Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, mitder Frage der Versicherungsfähigkeit von Atomanlagenweisen Sie auf ein altbekanntes Problem hin. ProfessorTraube hat dies in der öffentlichen Anhörung des Um-weltausschusses anlässlich des 20. Jahrestages der Reak-torkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 2006 auf denPunkt gebracht. Ich zitiere: Wir haben das Problem, dassder Unfall, der große Unfall, sehr unwahrscheinlich ist,aber seine Folgen sehr, sehr groß wären. Das ist ein Pro-blem, das wir mit Null mal Unendlich bezeichnen.Daraus folgt: Die Versicherungssumme für ein Atom-kraftwerk ist grundsätzlich immer zu niedrig oder zuhoch. Mit dem Atomkonsens von 2000 und der Novelledes Atomgesetzes von 2002 haben wir dieses DilemmaZu Protokolldurch einen politischen Kompromiss gelöst. Dieser Kom-promiss sieht eine unbegrenzte Haftung des Anlagenbe-treibers vor, der durch eine Deckungssumme von2,5 Milliarden Euro je Schadensfall abgesichert wird.Die damalige Novelle des Atomgesetzes stellte eine deut-liche Verbesserung des Opferschutzes dar und geht weitüber das hinaus, was wir hier heute für das internationaleAtomhaftungsrecht beraten.Wir sind uns alle bewusst, dass die Folgen eines GAUsin einem deutschen Atomkraftwerk selbst die Betriebsver-mögen der vier großen deutschen Energieversorger zu-sammengenommen bei weitem übersteigen würden. DieInternationale Atomenergie-Organisation, der man einezu große Nähe zu Atomkraftgegnern nicht unterstellenwird, schätzt in ihrem Tschernobyl-Bericht aus demJahr 2005 den volkswirtschaftlichen Schaden der Reak-torkatastrophe von 1986 auf mehrere 100 Milliarden US-Dollar. Allein diese Zahl macht deutlich: Die Risiken derAtomenergie tragen in letzter Konsequenz immer die Bür-gerinnen und Bürger.Es ist vor diesem Hintergrund und mit Blick auf diemilliardenschweren staatlichen Subventionen für dieAtomenergie in den vergangenen Jahrzehnten Augenwi-scherei, wenn der RWE-Konzern jetzt erwägt, einen rei-nen Atomstromtarif anzubieten. Dies ist ein durchsichti-ges Manöver, die wahren Kosten der Atomenergie zuverschleiern. Ich bin sicher, die Verbraucherinnen undVerbraucher werden die richtige Antwort geben.Ich möchte in diesem Zusammenhang aber auch nochauf einen anderen Aspekt hinweisen: Allen Befürworternder Atomenergie muss klar sein, dass jeder schwere Stör-fall in einem Atomkraftwerk die Existenz der gesamtenAtomwirtschaft grundsätzlich infrage stellt. Wer fordert,Milliarden in diese unsichere Form der Energiegewin-nung zu pumpen, sollte die Bürgerinnen und Bürger auchauf das Risiko eines Totalverlustes hinweisen. Ich betonedeshalb von dieser Stelle noch einmal: Wir stehen zumAtomausstieg.Zu den vorliegenden Gesetzentwürfen fasse ich noch-mals zusammen: Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßtdie vorliegenden Gesetzentwürfe als wesentliche Verbes-serung des Opferschutzes im internationalen Atomhaf-tungsrecht. Wichtig ist jetzt, dass die Pariser Atomhaf-tungsprotokolle möglichst rasch in Kraft treten. Wirleisten mit der heutigen Entscheidung unseren Beitragdazu.
Wie bereits in der ersten Lesung üben wir Liberale teil-weise Kritik an den Gesetzentwürfen der Bundesregie-rung zu den Pariser Atomhaftungs-Protokollen 2004. Wirbleiben aber weiterhin dabei, dass wir beiden Gesetzenzustimmen, zumal es um die Umsetzung international ra-tifizierter Verträge geht. Die Gesetzentwürfe sehen vor,dass die Haftungshöchstsummen deutlich erhöht werden;das gilt für Betreiber kerntechnischer Anlagen und ein-zelne Vertragsstaaten genauso wie für die Gemeinschaftder Vertragsstaaten. Das begrüßen wir. Begrüßenswertist ebenso, dass die Entschädigung für Bürger verbessertwird, egal ob das betreffende Ereignis im eigenen oder imNachbarland stattgefunden hat.
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17642 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
gegebene Reden
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Angelika BrunkhorstWir bleiben aber bei unserer Kritik: Es ist ein Unding,dass die Bundesregierung dieses schlichte Artikelgesetzbenutzt, um dem Bundesamt für Strahlenschutz zulastender Kommunen und Länder und insbesondere der deut-schen Kernforschungseinrichtungen 350 000 Euro mehran jährlichen Einnahmen zu gewähren. Ich sage es andieser Stelle noch einmal in aller Deutlichkeit: UnsereForschungseinrichtungen sind chronisch unterfinanziert.Sie benötigen dieses Geld dringend, um ihre internatio-nalen hohen Standards zu halten.Liebe Kollegen von SPD und Grünen: Ob mit oderohne Atomausstieg, wir brauchen Fachkräfte – kommewas wolle – für den Rückbau von Kernkraftwerken genauwie im Falle einer Verlängerung der Laufzeiten. Leidermussten in der vergangenen Woche aber die Gewerk-schaft Technik und Naturwissenschaft im öffentlichenDienst und Tanja Gönner, Umweltministerin von Baden-Württemberg, bestätigen, was wir seit langem wissen:Die Bewerberzahlen für Studienplätze in Fächern, die füreine funktionierende Atomaufsicht relevant sind, sind inden letzten Jahren dramatisch eingebrochen. Selbst dasBundesumweltministerium – man höre und staune – er-kennt den Ernst der Lage: Der Fachkräftemangel sei einThema, mit dem sich die Behörden auseinandersetzenmüssten.Es ist verständlich, dass die wenigen Fachleute, die eshierzulande gibt, sich von den hohen Gehältern lockenlassen, die die Privatwirtschaft zahlt. Das ist aber nochlange kein Grund, die Kernforschung gleich ganz aufzu-geben und dazu noch die Forschungsbedingungen zu ver-schlechtern. Aber auf eine genau solche Einstellung lässtdas Verhalten der Bundesregierung bezüglich der vorlie-genden Gesetzentwürfe schließen. Der Bundesrat hat dieZeichen der Zeit erkannt und der Bundesregierung emp-fohlen, die Beschneidung der Forschungseinrichtungenrückgängig zu machen. Die Bundesregierung aber hatdiesen Einwand geflissentlich ignoriert und fördert liebersein eigenes Amt.„Jeder ist sich selbst der nächste“ heißt ein klugesSprichwort. Das mag sich auch die Bundesregierung ge-dacht haben. Aber hier geht die Rechnung nicht auf. Weit-aus eigennütziger wäre es – und in diesem Fall auch füralle anderen besser –, die deutsche Kernforschung zu för-dern. Das hat Staatssekretär Meyer-Krahmer noch vorwenigen Wochen behauptet zu tun. Und nun das.Deutschland darf seine Führungsrolle in der kerntechni-schen Forschung nicht durch Zusatzbelastungen behin-dern – im Sinne der Sicherheit vorhandener und künftigerAnlagen, der Nichtverbreitung, der Behandlung radioak-tiver Abfälle und der Stilllegung ausgedienter kerntechni-scher Anlagen. Die FDP-Bundestagsfraktion kritisiertdie vorgelegten Gesetzentwürfe in Teilen, befürwortetaber die Umsetzung internationaler Abkommen aufnationaler Ebene. Wir stimmen den Gesetzentwürfen derBundesregierung daher zu.
Die CDU setzt auf die gefährliche Atomkraft. Was daskostet, darüber will sie aber nicht reden. Durchwinkenheißt die Devise, wenn es um die Folgen und volkswirt-Zu Protokollschaftlichen Auswirkungen der Atomkraft geht. Daswurde am vergangenen Mittwoch in der Sitzung des Um-weltausschusses deutlich.Mit der Vorlage der Bundesregierung sollen zwar un-ter anderem die Haftungssummen für Atomtransporte neufestgelegt und EU-weit vereinheitlicht werden. Doch beigenauerem Hinsehen entpuppt sich der Entwurf als Luft-nummer. Die Mindesthaftung bei Atomtransporten soll80 Millionen Euro betragen. Bei einem Unfall mit abge-branntem Nuklearmaterial wird diese Summe nicht ein-mal im Ansatz reichen. Die Folgen eines Schadenfallswürden das Hundertfache kosten.Gleichzeitig klammert die Änderung des Atomgesetzeseine längst überfällige Haftungsregelung für deutscheAtomkraftwerke aus. Die Bundesregierung hält es nichtfür nötig, das Kassemachen der Atomkonzerne auf Kos-ten der Bürgerinnen und Bürger zu beenden. So heißt esim Gesetzentwurf, die Änderung „erfordert keine inhalt-lichen Anpassungen des nationalen Rechts“.Damit wir uns richtig verstehen: Die Energiebosse ha-ben für ihre Atomkraftwerke jeweils eine Haftungsbe-grenzung von 2,5 Milliarden Euro. Die Folgekosten einesKernschmelzeunfalls werden aber mit 500 Milliarden bis5 Billionen Euro angegeben. Ungeheure Summen würdenim Ernstfall auf die Allgemeinheit abgewälzt. Das würdeauch die deutsche Volkswirtschaft für längere Zeit läh-men.So etwas ist nicht hinnehmbar und verdeckt die tat-sächlichen Kosten der Atomenergienutzung. Diese rech-net sich für die Anlagenbetreiber doch nur, weil die enor-men Zusatzkosten und Risiken auf die öffentliche Handabgewälzt werden. Bezieht man die sozialen, ökologi-schen und gesundheitlichen Risiken in die Stromrechnungmit ein, würde Atomstrom je Kilowatt nicht 2 Cent, son-dern 2 Euro kosten.Damit ist klar: Atomenergie ist unwirtschaftlich, ge-fährlich und nicht beherrschbar – ganz abgesehen davon,dass die Frage der Endlagerung hochradioaktiver Stoffewohl nie abschließend geklärt werden kann. Die Links-fraktion fordert die Bundesregierung deshalb auf, dieHaftungsfrage auch in Deutschland mit der vorliegendenGesetzesvorlage neu zu regeln. Man muss schließlichauch zur Kenntnis nehmen, dass die Energiekonzerne mitjedem der maroden Atomblöcke pro Jahr mindestens300 Millionen Euro Profit machen. Die wahren Kostender Atomenergie müssen endlich offengelegt werden.Letztendlich muss die Konsequenz aber lauten: Raus ausder gefährlichen Atomenergie, so schnell wie möglich.Einige Verbesserungen bringt der Entwurf aber: DasBundesamt für Strahlenschutz kann zukünftig Kosten fürVerwaltungsaufgaben in Rechnung stellen. Das ist zu be-grüßen; denn es ist nicht gerechtfertigt, dass die Bürge-rinnen und Bürger die Kosten der gefährlichen Atom-energie durch die Hintertür bezahlen.Die Linke wird sich deshalb zu den Gesetzentwürfenenthalten.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17643
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17644 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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In der vergangenen Woche habe ich bei der ersten De-
batte zur Änderung des deutschen Atomrechts auf die Ge-
fahren hingewiesen, die mit der Atomkraft einhergehen.
Aus Sicht der Grünen sollte die Haftung für dieses Risiko
durch die Betreiber sichergestellt werden. Die Höhe der
gesetzlich festgelegten Deckungssumme, die sich im Pro-
millebereich der tatsächlichen Kosten bei einem schwer-
wiegenden Atomunfall bewegt, muss dringend angehoben
werden.
Der jüngste Fall eines ernsten Störfalls in einem euro-
päischen AKW liegt erst wenige Stunden zurück. Im slo-
wenischen AKW Krsko ist radioaktives Kühlwasser aus
dem Primärkühlsystem des Reaktors ausgetreten. Fach-
leute gehen davon aus, dass dies zu einem Druckabfall im
System geführt hat. Das ist die erste Stufe zu einer Kern-
schmelze. Eine Kernschmelze hat 1986 zur Katastrophe
in Tschernobyl geführt. Dass gestern in Slowenien eine
derart ernste Situation eintreten konnte, dass das AKW
heruntergefahren werden musste, wie schon mehrfach in
den vergangenen Jahren, alles, obwohl es mit deutscher
Technologie nachgerüstet wurde, zeigt die Vermessenheit
der heimischen Atomlobby. Hier wird nach wie vor dreist
behauptet, deutsche Atomkraftwerke seien „sicher“.
Auch die Aussage von Kommissar Piebalgs und von
Umweltminister Gabriel, alles sei im Griff, das europäi-
sche Informationssystem funktioniere bestens und die
Medien würden mit ihrer Berichterstattung Ängste schü-
ren, offenbart eine politische Ignoranz gegenüber den
Gefahren der Atomkraft, die wir zurückweisen. Vielmehr
ist festzuhalten, dass sich bei einem Verlust von Kühlwas-
ser der Reaktor durch schnelles Herunterfahren derart
aufheizen kann, dass es zu einer Kernschmelze kommt.
Ein Leck im Kühlsystem ist also wahrlich keine Lappalie,
sondern einer der schlimmsten Störfälle, zu dem es in ei-
nem Atomkraftwerk kommen kann.
Das Risiko der Atomkraft bleibt unbeherrschbar. Des-
halb ist es zwingend, eine obligatorische Haftung in der
vollen Höhe des möglichen Schadens gesetzlich festzu-
schreiben. Der Änderung des Atomgesetzes können wir
deshalb nicht zustimmen. Es bleibt bei unserer Forderung
nach einer deutlichen Erhöhung der garantierten De-
ckungsvorsorge. Die garantierte Deckung im Promillebe-
reich eines möglichen Schadens ist nicht hinnehmbar.
Tatsächlich müsste das gesamte Risiko versichert werden.
Darüber hinaus ist es an der Zeit, die Organisationsstruk-
tur der finanziellen Vorsorge zu verändern. Wir sind der
Ansicht, dass diese Geldmittel unter staatliche Kontrolle
gestellt werden sollten. Die Erträge aus diesen Rücklagen
sollten in zukunftsweisende Technologien im Bereich der
Erneuerbaren investiert werden.
Wir kommen zu den Abstimmungen. Tagesordnungs-
punkt 20 a. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 16/9472, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/9077 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-
ratung mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP
bei Gegenstimmen der Grünen und Enthaltung der Frak-
tion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in dritter Beratung mit demselben Stimmener-
gebnis wie in zweiter Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 b. Der Ausschuss für Um-
welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9473,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
16/9078 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist
damit mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP
bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kein Leugnen der BSE-Gefahren – Tierfette
und -mehle raus aus der Lebensmittelerzeu-
gung – Rein in die energetische Verwertung
– Drucksache 16/9098 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Franz-Josef
Holzenkamp, CDU/CSU, Dr. Wilhelm Priesmeier, SPD,
Hans-Michael Goldmann, FDP, Dr. Kirsten Tackmann,
Die Linke, Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.
Ihr Antrag offenbart mal wieder Ihre typischeschwarz-weiß Denke. Unter der Überschrift „Kein Leug-nen der BSE-Gefahren“ breiten Sie vor uns einmal mehrIhre bekannten Vorurteile aus: Intensive Landwirtschaftist schlecht. Nur der Ökolandwirt ist ein guter Landwirt.Die fleischverarbeitende Wirtschaft besteht aus lauterKriminellen. Gentechnik ist per se gefährlich.Das ist ärgerlich und raubt uns die Zeit für wirklichwichtige sachorientierte Politik. Sie geben wieder malkeine Antwort auf drängende Fragen in der Landwirt-schaft. Ich bitte Sie inständig: Ersparen Sie uns diesenQuatsch zukünftig.
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Franz-Josef HolzenkampBesonders ärgerlich ist: Dieser Antrag ist nicht nur in-haltlicher Quatsch, er ist zudem fahrlässig populistisch.Sie spielen hier mit den Ängsten der Verbraucher und ma-len ein BSE-Schreckensszenario an die Wand, das mit derWirklichkeit nichts zu tun hat.Verstehen Sie mich nicht falsch, niemand will die auf-getretenen Fälle von BSE oder der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit relativieren. Aber Sie benutzen Ihr BSE-Schre-ckensszenario, um die Landwirte, die intensive Tierhal-tung betreiben, zu diffamieren. Ist es bei Ihnen immernoch nicht angekommen: Jeder Tierhalter in Deutschlandhat höchste Tierschutz- und Umweltstandards einzuhal-ten.Aber die BSE-Erreger allein reichen nicht aus, um Ih-rem Theaterstück richtig Pfeffer zu geben. Der zweite Bö-sewicht wartet schon an der nächsten Ecke: Die durchund durch kriminelle Fleischwirtschaft, die ob des größ-ten Profites nicht nur Gammelfleischskandale am laufen-den Band produziert. Nein, hier wird auch munter mitBSE-verseuchtem Futtermittel herumgesudelt.Für die Kollegen von den Grünen also noch einmal:Nein, nicht die gesamte fleischverarbeitende Branche istkriminell. Ja, es gibt – wie überall – schwarze Schafe.Und die gilt es zu scheren.Deswegen wurden mit dem von der Bundesregierungvorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Le-bens- und Futtermittelgesetzbuches die Barrieren für dieschwarzen Schafe in der Lebensmittelbranche noch ein-mal hochgesetzt. So sind Lebensmittelunternehmer künf-tig verpflichtet, die Behörden zu informieren, wenn ihnenverdorbene Lebensmittel angeboten werden. Damitgehen wir aktiv gegen die Verschiebebahnhöfe vor. Au-ßerdem werden wir den Bußgeldrahmen bei Verstößengegen das Lebens- und Futtermittelrecht von 20 000 auf50 000 Euro anheben. Damit haben die Behörden nunweitaus schärfere Sanktionsmöglichkeiten. Das Abschre-ckungsmoment steigt. So, meine Damen und Herren vonden Grünen, sieht ein sachlicher und konsequenter Ver-braucherschutz aus.Erlauben Sie mir auf Ihre Forderung nach dem Verbotder Verfütterung tierischer Fette und Proteine einzuge-hen. Ich begrüße es ausdrücklich, dass wir den Vorschlagdes Bundesrates aufgegriffen haben, die Verfütterung vontierischen Fetten an Nichtwiederkäuer wieder zuzulas-sen. Im Zuge der BSE-Krise hatte die Europäische Uniondie Verfütterung von tierischen Proteinen als potenzielleÜberträger des BSE-Virus verboten. Das war eine Ent-scheidung, die damals zu Recht getroffen wurde.Die Vorgängerregierung ist über das Ziel – wie so oft –hinausgeschossen und hat zudem auch noch die Verfütte-rung der tierischen Fette verboten. Kein anderes EU-Mit-gliedsland sah sich zu dieser Maßnahme gezwungen.Aber Verbraucherschutz ist nicht teilbar! Wir könnenzwar in Deutschland Regelungen und Verbote einführen.Bei offenen Märkten nützt das nur oftmals nichts. Wieauch in diesem Fall.Die deutschen Verbraucher sind hier von Frau Künastschlicht an der Nase herumgeführt worden. Ihnen wurdevorgegaukelt, dass auf ihren Tisch kein Fleisch kommt,Zu Protokolldas von einem Tier stammt, welches mit tierischen Fettengefüttert worden ist. Hatte das Tier seine Heimat in einemandern europäischen Mitgliedsland, dann wurde es abermit tierischen Fetten gefüttert, und der Verbraucher hatnichts gemerkt.Unsere Veredelungsbetriebe sahen und sehen sich imVergleich mit den europäischen Nachbarn deutlichenWettbewerbsnachteilen ausgesetzt. Denn sie müssen dietierischen Fette durch pflanzliche Futtermittel ersetzen.Die zusätzlichen Kosten für unsere Veredelungswirtschaftsind erheblich. Marktanteile wurden verloren. Am Endestehen auch immer Arbeitsplätze in der Land- und Ernäh-rungswirtschaft zur Disposition.Nein, auch hier zeigt Ihr Antrag in die falsche Rich-tung. Mit der Wiederzulassung der Verfütterung tieri-scher Fette an Nichtwiederkäuer heben wir Ihr unsinni-ges Verbot endlich auf. Es ist mir auch klar, dass Ihnendas nicht passt – und es ist trotzdem richtig.Verboten bleibt vorerst die Verfütterung tierischerFette von Nichtwiederkäuern an Wiederkäuer. Aber auchhier wünschte ich mir eine Lockerung. Allerdings benöti-gen wir dafür genaue Analysemethoden, um die Stoff-ströme genau zu kanalisieren. Hier ist aber auch die Wirt-schaft aufgerufen mitzuhelfen, dass Analyseverfahren zurBestimmung der Fettherkunft weiterentwickelt werden.Kommen wir nun zu den tierischen Proteinen. Auchhier fordern Sie die Beibehaltung des Verfütterungsver-botes. Gleichzeitig fordern Sie, den Anbau heimischerGVO-freier Eiweiß-Futtermittelpflanzen zu stärken.Durch das noch immer bestehende Verbot der Verfüt-terung tierischer Proteine müssen europäische Tierhalternoch stärker auf Ersatz in Form pflanzlicher Proteine,zum Beispiel Sojaschrot, zurückgreifen.Ihr Vorschlag, durch einheimische Eiweißpflanzenpro-duktion die tierischen Proteine zu ersetzen, ist auf denersten Blick blauäugig, auf den zweiten schamlos.Ich denke, Ihnen dürfte nicht entgangen sein, dass manfür die aus lebensmitteltauglichen Schlachtabfällen ge-wonnene Proteinmenge – das sind für Europa 1,125 Mil-lionen Tonnen und für Deutschland 262 500 Tonnen –3,2 Millionen Tonnen für Europa oder 746 000 Tonnenfür Deutschland Sojaschrotäquivalent produzierenmüsste. Die dafür benötigte Anbaufläche entspricht derGröße Schleswig-Holsteins!Sie wissen so gut wie ich, dass es illusorisch ist, einer-seits die Menge der tierischen Proteine auf deutscheroder europäischer Anbaufläche zu substituieren. Ande-rerseits wird es in Zukunft unumgänglich sein, gentech-nisch veränderte Sojaschrotimporte zuzulassen, da aufdem Weltmarkt immer weniger GVO-freies Soja zur Ver-fügung steht.Bleibt es weiterhin bei der restriktiven europäischenGVO-Politik – und dies fordern Sie ja in Ihrem Antrag –,gäbe es folgendes Szenario: GVO-freies Soja würde auf-grund rapide abnehmender Marktverfügbarkeit so teuerwerden, dass die Futtermittelkosten für unsere Tierhalterenorm in die Höhe schnellen würden – Studien sprechenvon einer Verteuerung von bis zu 600 Prozent. In der
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17645
gegebene Reden
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Franz-Josef HolzenkampFolge würden die Nahrungsmittelpreise rapide steigen.Weiterhin würden viele tierhaltende Betriebe und Verar-beitungsbetriebe aufgeben müssen, weil sie gegenüberder GVO-fütternden ausländischen Konkurrenz nichtmehr wettbewerbsfähig wären. Zahlreiche Arbeitsplätzegingen verloren. Schließlich würde der deutsche Nah-rungsmittelmarkt mit Produkten ausländischer Anbieterüberschwemmt, die nicht zu unseren hohen Tier- und Um-weltschutzstandards produzieren.Meine Damen und Herren von den Grünen, sagen Siedas den Landwirten und den Verbrauchern endlich ein-mal deutlich ins Gesicht. Sagen Sie Ihnen: Ja, uns ist un-sere Ideologie wichtiger als eure Arbeitsplätze und derVerbraucherschutz. Seien Sie endlich einmal ehrlich!Nein, Vernichtung von Arbeitsplätzen und Verbrau-chertäuschung kann nicht unser Ziel sein. Deswegen binich für die Wiederzulassung der Verfütterung tierischerProteine. Allerdings müssen wir strengste Maßstäbe andie Wiederzulassung anlegen: Es muss sichergestelltsein, dass vollständig getrennte Ketten in der Futtermit-telproduktion und bei der Anwendung des Futters er-reicht werden und sichere Testverfahren vorhanden sind.Ist dies nicht der Fall, kann es keine Wiederzulassung derVerfütterung tierischer Proteine geben. Das erwartet derVerbraucher. Und dazu hat er auch volles Recht.Wir können es uns nicht mehr leisten, wertvolle Roh-stoffe wie tierische Fette und Proteine aus dem Verwer-tungskreislauf auszuschließen. Das trifft im Übrigen auchauf die Verwertung im Kraftstoffbereich zu. Allerdingsmüssen Verwendung und Verbrauchersicherheit Hand inHand gehen.
Wir beraten heute den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen „Kein Leugnen der BSE-Gefahren –
Tierfette und -mehle raus aus der Lebensmittelerzeugung
– Rein in die energetische Verwertung“. Ich finde es löb-
lich, dass die Kolleginnen und Kollegen heute das Thema
Landwirtschaft auf die Tagesordnung gebracht haben.
Leider nutzen sie jedoch wieder einmal ein mit Ängsten
besetztes Thema für einen Rundumschlag gegen die kon-
ventionelle Tierhaltung in Deutschland. Das habe ich
nicht anders erwartet. Es hilft aber in der Sache nicht
weiter. Wir haben es mit einem sehr sensiblen Thema zu
tun. Daher sollten wir mit ein wenig mehr Sorgfalt und
Rationalität an die Sache gehen.
Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
grünen Fraktion, suggeriert, dass die Gefahren, die von
BSE-Risikomaterial für die menschliche Gesundheit aus-
gehen, von den Koalitionsparteien vollkommen vernach-
lässigt werden. Dem muss ich energisch widersprechen.
Ein kleiner Blick auf die Zahlen verdeutlicht die Brisanz
des Themas: Insgesamt haben wir in Deutschland seit der
Einführung der BSE-Tests knapp 400 bestätigte BSE-
Fälle bei Rindern. Die Tendenz ist eindeutig abnehmend:
In den Jahren 2005 und 2006 wurden insgesamt 48 Rin-
der positiv getestet, im Jahr 2007 nur noch vier Tiere und
im laufenden Jahr nur noch ein Rind. Es ist eine eindeu-
tige Tendenz zu erkennen. Dies ist ein Beleg für mich,
dass die Bekämpfungs- und Kontrollmaßnahmen gegrif-
Zu Protokoll
fen haben und erfolgreich umgesetzt wurden. Ich betone:
Wir sind in Deutschland auf dem richtigen Weg, und die
Erfolge bei der Bekämpfung von BSE geben uns recht! Es
dauert nicht mehr lange, und Deutschland wird den Sta-
tus BSE-frei erlangen.
Wir müssen uns aber auch die Relation zu den insge-
samt 16 801 885 getesteten Rindern verdeutlichen:
Knapp 400 amtlich festgestellte BSE-Fälle im Zeitraum
vom 1. Januar 2001 bis zum 31. März 2008 sind prozen-
tual ein geringer Anteil. Aber selbstverständlich ist die
absolute Zahl an BSE-Fällen aus Sicht des vorbeugenden
gesundheitlichen Verbraucherschutzes nicht hinnehmbar,
gibt es also keinen Grund, Vorsorgemaßnahmen schleifen
zu lassen – was wir im Übrigen auch nicht tun.
Mit dem Änderungsantrag zum Gesetzentwurf zur Än-
derung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches
spricht sich auch die SPD dafür aus, die Verfütterung von
Fetten aus Gewebe warmblütiger Landtiere an Wieder-
käuer weiterhin zu verbieten. Mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf folgen wir den Empfehlungen der Europäi-
schen Behörde für Lebensmittelsicherheit, des BfR und
des FLI, die ebenfalls zu dem Schluss gekommen sind,
dass bei der Verarbeitung des von Nichtwiederkäuern ge-
wonnenen Fettes jegliches BSE-Risiko auszuschließen
ist. Ich möchte betonen: Wir sprechen nicht von irgend-
welchen Fetten, sondern ausschließlich von Fetten derje-
nigen Tiere, die vorab für den menschlichen Genuss als
tauglich befunden wurden. Alle anderen Tiere werden
weiterhin in vollem Umfang den Tierkörperbeseitigungs-
anlagen zugeführt und gelangen daher nicht in die Le-
bensmittelkette. Mit dem Gesetzentwurf gehen wir in Eu-
ropa keinen Sonderweg, sondern vollziehen die Praxis
nach, die in den anderen EU-Ländern seit vielen Jahren
alltäglich ist. Ich sehe daher keine Notwendigkeit, in Auf-
geregtheiten zu verfallen, und möchte Sie in diesem Zu-
sammenhang um mehr Sachlichkeit bitten. Ihr Antrag
strotzt von Unwissenheit: Sie vermischen die Verfütterung
von Fetten mit der Verfütterung von Wiederkäuertiermeh-
len, was überhaupt nicht zur Diskussion steht. Mit diesem
Szenario verunsichern Sie deutsche Verbraucherinnen
und Verbraucher. Von einer Zulassung der Tiermehlver-
fütterung an alle Tierarten kann aber zum gegenwärtigen
Zeitpunkt keine Rede sein.
Es ist legitim, darüber nachzudenken, in welchem Um-
fang tierische Einweiße in der Futtermittelproduktion
eingesetzt werden können. Ausgangspunkt aller Überle-
gungen ist und bleibt aber das Verfütterungsverbot an
Wiederkäuer. Die entsprechende Kennzeichnung der Fut-
termittel und die Überwachung am Entstehungs- und Ver-
wendungsort bleiben dabei unerlässlich. Die heutigen
Standarduntersuchungsverfahren stellen sicher, dass
selbst geringste Spuren von Rindereiweiß in Futtermitteln
von Wiederkäuern problemlos und schnell festgestellt
werden können. Ihr Antrag ist gehaltlos und kann daher
von meiner Fraktion nur abgelehnt werden.
Unsere Landwirte werden ständig mit steigenden Pro-duktionskosten konfrontiert. Die aktuellen Proteste derMilchbauern sprechen eine beredte Sprache hierüber.
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17646 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
gegebene Reden
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Hans-Michael GoldmannAuf der Demo des BDM lassen sich die Grünen alsFreunde der Milchbauern feiern, doch sie gehören zu denWegbereitern der ständig steigenden Produktionskostender deutschen Landwirtschaft. Zusammen mit der SPDhaben sie dafür gesorgt, dass die Ökosteuer die deutschenLandwirte belastet, dass die deutschen Bauern ein Vielfa-ches an Steuern auf ihren Diesel zu bezahlen haben, je-weils im Vergleich zu ihren europäischen Nachbarn.Und CDU/CSU und SPD machen gleich so weiter wiezuvor Rot-Grün. Europäische Vorschriften werden nachwie vor nicht eins zu eins umgesetzt. Den Verbrauchernwird suggeriert, dass es 100 Prozent gentechnikfreie Le-bensmittel geben könnte, und die Zeche zahlen die Land-wirte.Im Zuge der BSE-Bekämpfung hat man vielfach dasKind mit dem Bade ausgeschüttet und Maßnahmen ergrif-fen, die nichts mit BSE-Bekämpfung zu tun haben, wiezum Beispiel das Verbot tierischer Fette an Nichtwieder-käuer. Die FDP hat diese Maßnahme schon immer abge-lehnt.Angesichts der beständig sinkenden BSE-Zahlen inDeutschland tritt die FDP außerdem dafür ein, dass dasBSE-Testalter abgeschafft wird. Wir müssen zwar weiterdafür sorgen, dass das Risikomaterial entsorgt wird, dochdie Testerei ist nichts als eine Ressourcenverschwendung.Schließlich setzen wir uns dafür ein, dass das generelleVerbot der Verfütterung tierischer Eiweiße auf europäi-scher Ebene überprüft wird. Auch dieses Verbot ist nichtmehr zeitgemäß.Wir müssen diese Ressourcen schließlich auch nutzen,um eine Entlastung der Flächenkonkurrenz herbeizufüh-ren.Wir können nicht einerseits GVO-Futtermittel verbie-ten und andererseits den heimischen Schweineproduzen-ten die Verfütterung von tierischem Eiweiß untersagen.Hier muss endlich wieder umgedacht werden.
Kein Leugnen der BSE Gefahren – das schreiben dieGrünen in ihrem Antrag. Ich verstehe sehr gut, dass diedramatischen Vorgänge im Jahr 2000 ein Trauma hinter-lassen haben bei den Grünen. Sie waren damals in Regie-rungsverantwortung und es war in der damals auch vonden Medien entfachten Hysterie offensichtlich nicht im-mer ganz einfach, sachlich richtige und politisch klugeEntscheidungen zu treffen. Zu lange hatte die Politik diewarnenden Stimmen aus der Wissenschaft ignoriert, umdas einmal vorsichtig auszudrücken. Denn die sagtenschon lange vor dem ersten BSE-Nachweis, dass es na-hezu ausgeschlossen sein dürfte, dass Deutschland beidieser neuartigen Erkrankung eine Insel der Glückseeli-gen bleibt. Und sie machten lange vor diesem erstenNachweis auf große Wissenslücken aufmerksam. Als daserste infizierte Rind dann diagnostiziert war, brach einZustand aus, den man mit gutem Recht als chaotisch be-zeichnen kann.Wir wussten damals wenig über den Auslöser der Er-krankung. Auch das Wissen über die ÜbertragungswegeZu Protokollwar eher spekulativ. Daher mussten auch die Bekämp-fungsmaßnahmen zunächst am theoretisch Denkbarenausgerichtet werden. Selbst die Diagnostik war auf das,was dann kam, nicht vorbereitet. Von einer ohnehinschwierigen Einzeltierdiagnostik musste auf Massentier-diagnostik umgestellt werden. Deren Befunde entschie-den lange über die Existenz von ganzen Rinderherden und-beständen. Ich kann mich an die Hektik, die durch eineallzu reißerische Medienbegleitung forciert wurde, sehrgenau erinnern. Ich habe damals an dem Institut in Wus-terhausen gearbeitet, das für die wissenschaftliche Be-gleitung der Entscheidungen verantwortlich war. DieSituation in jenen Tagen hat eine Erkenntnis bei mir wei-ter vertieft: Über Tierseuchenbekämpfungskonzepte mussman in Friedenszeiten nachdenken. Nur dann kann sach-lich jenseits unterschiedlicher Lobbyismen begründet be-wertet werden. Das setzt allerdings voraus, dass Gefahrerkannt und ernst genommen werden. Aber genau das istdas eigentliche Problem. In Friedenszeiten werden selbstdie für die Beantwortung der allernotwendigsten Fragennotwendigen Ressourcen nur sehr begrenzt bereitgestellt.Die Gefahr wird so lange ignoriert, bis es zu spät ist. War-nungen aus der Wissenschaft werden mit dem Vorwurf er-widert, es ginge nur um mehr Geld. Diese Geschichtewiederholt sich leider regelmäßig. Ich erinnere nur anMKS, Vogelgrippe und Blauzungenkrankheit. Dabeiwächst die Gefahr von Tierseuchen durch die globalenPersonen- und Handelsströme.Das Signal müsste sein, die Veterinärepidemiologie,die Wissenschaft für die Tierseuchenbekämpfung, zu stär-ken. Stattdessen hält auch diese Regierung an der Schlie-ßung der einzigen Einrichtung der Agrarressortfor-schung fest, das sich mit solchen Bekämpfungskonzeptenund Risikobewertungen beschäftigt: das Institut für Epi-demiologie in Wusterhausen/Dosse. Der Schließungsbe-schluss war schon 1996 ein Fehler und heute spricht nochviel mehr dagegen. Es ist inakzeptabel, dass diese Ent-scheidung nicht wenigstens noch einmal geprüft wird.Die Folgen dieser Ignoranz sind dramatisch: Verbrau-cherinnen und Verbraucher werden verunsichert undTiererkrankungserreger sind unterdessen eine ökonomi-sche Existenzbedrohung für die NutztierhaltungDoch zurück zur BSE. In Erinnerung an die Situationim Jahr 2000 ist es besonders wichtig, über die Frage desÜbertragungsrisikos durch Tiermehl und Tierfette sehrernsthaft, aber auch in aller Ruhe zu diskutieren. Auf dereinen Seite steht die Tatsache, dass das totale Fütterungs-verbot seit Anfang 2001 Erfolg hatte: Im vergangenenJahr wurden nur vier BSE-Fälle nachgewiesen und dasbei 3,3 Millionen Schlachtungen. Das heißt aber auf deranderen Seite: Das Risiko der Übertragung ist extrem ge-fallen. Auch die Herstellungsprozedur für Tiermehlwurde risikominimierend geändert. Das spräche für eineAufhebung des Totalverbots sind zwei Einschränkungen:das Fütterungsverbot an Wiederkäuer und das Kanniba-lismusverbot, das heißt keine Verfütterung an die gleicheTierart, bleiben bestehen, und zwar unter einer Vorbedin-gung: Verstöße gegen diese beiden Verbote müssen nach-weisbar und damit kontrolliert sein.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17647
gegebene Reden
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Dr. Kirsten TackmannDas ist die eigentlich wichtige Debatte, die wir im Aus-schuss führen müssen: Kann die Verwendung des Tier-mehls ausreichend sicher kontrolliert werden?
Die schwarz-rote Koalition bricht mit dem Prinzip desvorsorgenden Verbraucherschutzes und der Tierseuchen-und Krankheitsbekämpfung. Sie macht einen fatalenSchritt, wenn sie mit der Novelle des Lebensmittel- undFuttermittelgesetzbuches klammheimlich das Verfütternvon Tierfetten an Nichtwiederkäuer wieder zulässt. Diefatalen Folgen von BSE werden – wie vor 2001 – unterden Teppich gekehrt. Dabei sind bis heute Erreger undÜbertragungswege nicht geklärt. Tatsache ist aber: Mil-lionen von Tieren und Menschen sind in Gefahr. AuchNichtwiederkäuer sind an BSE erkrankt. Verbrauchermi-nister Seehofer zeigt hier wieder einmal seine Unglaub-würdigkeit: Während die Große Koalition bereits EndeFebruar den Vorstoß unternahm, mit einem Änderungs-antrag das Verbot der Tierfettverfütterung zugunsten derFuttermittel- und Fleischlobby zu lockern, stellte Minis-ter Seehofer Ende April im Plenum noch fest: „Mir istnicht bekannt, dass die Bundesregierung beabsichtigt,Tierfette/Tiermehle zuzulassen“.Unwissenheit oder Unwahrheit? Anfang Mai folgtedann die Offenbarung von Seehofer. Bereits im Sommer,so titelten die Gazetten, wäre es denkbar, dass eine ge-meinsame Verfütterungsposition der Bundesregierungüber Handlungsempfehlungen zustandekomme. Seehofererliegt klar dem Druck und den Drohgebärden der Fut-termittel- und Agroindustrie und vertritt eins zu eins diePosition des Deutschen Bauernverbandes. Der Verbrau-cherschutz wird leichtfertig den Interessen der Futtermit-tel- und Agroindustrie geopfert.Es darf nicht vergessen werden: Tierfette sind beson-ders risikoreich, weil der Erreger BSE liposom ist, dasheißt, sich an Fette anlagert bzw. bindet. In Großbritan-nien, wo die Rinderkrankheit am stärksten wütete, star-ben bis Ende 2007 bereits 163 Menschen.Die auf die BSE-induzierte Form der Creutzfeldt-Ja-kob-Krankheit zurückzuführenden Todesfälle in SpanienAnfang des Jahres bestätigen, dass vor 2001 mit BSE ver-seuchtes Fleisch Todesfälle verursacht. Dort wurden seitdem Jahr 2000 mehr als 720 Krankheitsfälle bei Kühenbekannt. In Deutschland sind mehr als 400 BSE-Krank-heitsfälle bei Rindern offiziell bestätigt, wobei eine hö-here Dunkelziffer angenommen wird.Experten gehen davon aus, dass die Inkubationszeitder durch BSE bedingten Creutzfeldt-Jakob-Krankheitmindestens zehn Jahre beträgt. Es ist also damit zu rech-nen, dass erst in den nächsten Jahren der ganze Umfangder menschlichen Erkrankungen zutage tritt. Auch dasFriedrich-Loeffler-Institut hat vor einigen Wochen dieWiedereinführung der Tierfette als falsches und riskantesSignal gewertet.Die EU-Kommission hat hingegen hinterrücks dieWiedereinführung von Fischmehl erlaubt. Dies ist wederals tiergerecht noch als Verbrauchervorteil zu bewerten.Schließlich ist Fischmehl ein Fremdprotein für NutztiereZu Protokollund bei Menschen als Dioxin-Senke völlig kontraproduk-tiv.Die Futtermittel- und Fleischlobby verkündet laut-stark, dass die Tierfette doch nur bei Schweinen und Hüh-nern landen sollen und nicht in Trögen der Wiederkäuer.Eine Garantie, dass komplette Futterströme von der Fut-termittelindustrie getrennt und vom Staat kontrolliertwerden können, ist pure Illusion. Erst gestern beklagtendie Lebensmittelkontrolleure in einer Anhörung im Bun-destag ihre katastrophale Personalsituation. Nochschlimmer sieht es bei den Veterinären aus. Mit der Wie-derzulassung von Tierfetten in der Futtermittelherstel-lung wird dem Missbrauch in der Fleischindustrie Türund Tor geöffnet. Damit steigt die Gefahr der Übertra-gung von Krankheiten auf Mensch und Tier enorm an.Dies bestätigt auch eine Recherche der Verbraucher-organisation Foodwatch von Anfang April. Zum einenwurden mehrere tausend Tonnen Risikomaterial zu Tier-mehldüngemittel umdeklariert, von Deutschland illegalexportiert und in Malaysia in die Lebens- und Futtermit-telkette eingeschleust. Das alles zeigt, dass Minister See-hofer seine ergriffenen Maßnahmen zwar offen angekün-digt, aber in der Praxis nicht umgesetzt hat. Bis heutefehlt die Umsetzung des K-3-Materials durch Zusatz vonFarb-, Geruchs- oder Bitterstoffen. Auch die Melde-pflichten über die Verwendung von Tiermehldüngemittelnsind mangelhaft.Auch die Schweizer haben in einem partiellen Fütte-rungsversuch gezeigt, dass eine Trennung der Waren-ströme nicht funktioniert. Mit der Wiederzulassung vonTierfetten in Tierfutter wird eine Aufweichung von Ge-sundheits- und Qualitätsstandards in der Nahrungsmit-telkette vollzogen, und Menschen werden in unverant-wortlicher Weise gefährdet.Um das Vertrauen der Verbraucher zu sichern und zumSchutz des Images von Fleischprodukten haben aus Sichtvon Bündnis 90/Die Grünen Tierfette und -mehle nichts inder Futterkette zu suchen. Wir Bündnisgrüne stehen füreine sinnvolle Alternative, nämlich die Reststoff- und Ab-fall-Verwertung in der Energieerzeugung. Wer Kreislauf-wirtschaft unterstützen will, der muss sich einsetzen fürdie kontrollierte und abgesicherte Verwendung der Tier-abfälle in der Energiegewinnung.Außerdem plädieren wir für deutlich weniger, dafüraber qualitätsvolleres Fleisch in der Ernährung, aus öko-logischen und bäuerlichen Betrieben. Klasse statt Masse,das ist der Wahlspruch grüner Verbraucherpolitik. In Zu-kunft muss die Basis der Futtermittelerzeugung in Europaselbst liegen. Forschung und Entwicklung von gentech-nikfreien Eiweißpflanzen müssen verstärkt werden.Ebenso ist die Nutzung von Rapskuchen als Eiweißalter-native eine weitere Möglichkeit.Eindeutige und verbraucherfreundliche Regelungenzur Kennzeichnung und klare Sicherheitsbestimmungenwerden sich auf Dauer als wichtiger Markt- und Stand-ortvorteil der deutschen Landwirtschaft erweisen. Diegesamte Agrar- und Fleischwirtschaft sollte dies alsChance nutzen, statt das Risiko der Tiermehl-/Tierfett-Verfütterung einzugehen.
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17648 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17649
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Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9098 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, Hartwig Fi-
scher , weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Gregor
Amann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Förderung von Bildung und Ausbildung –
Entwicklungspolitischen Schlüsselsektor kon-
sequent ausbauen
– Drucksache 16/9424 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hüseyin-
Kenan Aydin, Monika Knoche, Dr. Diether Dehm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Entwicklung braucht Bildung – Den deutschen
Beitrag erhöhen
– Drucksache 16/8812 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll gegeben. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Dr. Christian Ruck, CDU/CSU, Dr. Bärbel Kofler, SPD,
Hellmut Königshaus, FDP, Hüseyin-Kenan Aydin, Die
Linke, Ute Koczy, Bündnis 90/Die Grünen.
Wenn man sich die Frage stellt, was die Kernfaktorensind, die Entwicklung wirklich voranbringen, so wirdman als wichtigsten Schlüsselfaktor die Bildung identifi-zieren. Bildung ist der Schlüsselfaktor für erfolgreichenachhaltige Entwicklung und das Fundament aller ande-ren Säulen unserer Entwicklungszusammenarbeit und füreine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft. Für dieunionsgeführte Entwicklungspolitik war Bildung daherauch traditionell einer der drei Schwerpunkte.Die Weltgemeinschaft hat die Bedeutung der Bildungmit der Milleniumserklärung unterstrichen und strebt an,es bis zum Jahr 2015 zu ermöglichen, dass alle Kinder aufder Welt – Mädchen wie Jungen – eine Grundschulaus-bildung erhalten. Bei der Weltbildungskonferenz in Da-kar im Jahre 2000 haben die 180 teilnehmenden Staatensechs Ziele verabschiedet, um „Bildung für alle“– Edu-cation For All, EFA – bis zum Jahre 2015 erreichen zukönnen. Obwohl es unbestreitbar Erfolge bei der Bil-dungszusammenarbeit gibt – so besuchten im Jahr 2005rund 24 Millionen Kinder mehr die Grundschule als noch1999 –, ist die Bildungssituation in vielen Ländern wei-terhin sehr besorgniserregend. Noch immer können780 Millionen Menschen weltweit nicht lesen und schrei-ben, und fast 80 Millionen Kinder besuchen keine Grund-schule.Neben der klassischen Entwicklungszusammenarbeitmuss die Bildungszusammenarbeit auch eine größereRolle in der Unterstützung von Nachkriegsregionen, inFlüchtlingslagern und in sogenannten „failing oderfailed states“ einnehmen. Nur so können dort Friedens-und Entwicklungsperspektiven eröffnet werden. DieseGebiete und Staaten sind durch ein sehr geringes Bil-dungsniveau gekennzeichnet.In den ärmsten Entwicklungsländern bricht jedesvierte Kind die Schule vorzeitig und ohne Abschluss ab.Für Millionen von Grundschulabsolventen steht kein wei-terführendes Bildungsangebot zur Verfügung. Über denZugang zur Grundbildung hinaus ist es daher wichtig, dieAbbrecherquoten abzusenken und zusätzliche Bildungs-perspektiven zu eröffnen. Der Bildungssektor muss inseiner Gesamtheit als Querschnittsaufgabe der Ent-wicklungszusammenarbeit verankert werden. Sekundar-schulbildung, akademische Bildung und die beruflicheAus- und Fortbildung sind wichtige Kernelemente, umdie Entwicklungspotenziale unserer Partner zu optimie-ren.Die Unterstützung des Bildungssektors muss daraufabzielen, ein angepasstes, bedarfsgerechtes und kohären-tes Bildungssystem aufzubauen bzw. fortzuentwickeln. Esgilt dabei, in einem übergreifenden Ansatz Mechanismenund Strukturen formeller und non-formaler Bildungsan-gebote für die frühkindliche Bildung, die Grundbildung,die Sekundarschulbildung, die akademische Bildung, dieberufliche Aus- und Fortbildung und die Erwachsenen-bildung ebenso zu etablieren wie die dazu erforderlichenVoraussetzungen für die Bereitstellung der entsprechen-den Infrastruktur und der dazu notwendigen Lehrkräftesowie deren Aus- und Fortbildung.Alle konzeptionellen Ansätze der Bildungsunterstüt-zung müssen – auch im Rahmen übergeordneter Armuts-bekämpfungsstrategien – zwischen Partnern und Geberneng abgestimmt und verzahnt werden. Auch darf die Un-terstützung nicht dazu führen, dass bestimmte Landesteilebevorteilt bzw. benachteiligt werden. Maßnahmen derBildungsunterstützung sind nur dann nachhaltig erfolg-reich, wenn die weitere Finanzierung auch nach demRückzug der Geldgeber abgesichert ist. EntsprechendeStrategien müssen bereits bei der Konzeption der Maß-
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Dr. Christian Rucknahmen integraler Bestandteil der Planungen und Ver-einbarungen sein.Schwierige wirtschaftliche Bedingungen und fehlen-der Zugang zu Bildung sind Faktoren, die Menschen fürradikal religiöse und politische Heilslehren anfällig ma-chen können. Um den Herausforderungen des Extremis-mus oder religiösen Fundamentalismus zu begegnen,sollten in Risikogebieten die Zusammenarbeit im Bil-dungsbereich als ein sektorübergreifendes Anliegen ver-standen und staatliche Bildungssysteme gestärkt werden,damit sie attraktive Alternativen zu einem fundamentalreligiös geprägten Bildungsangebot werden.Voraussetzung für alles weitere Lernen ist eine solideGrundbildung. Investitionen in Grundbildung sind Inves-titionen für eine nachhaltige Entwicklung durch eigen-verantwortlich handelnde Menschen. Noch immerherrscht eine sehr ungleiche Verteilung der Grundbil-dungsangebote zwischen Land und Stadt. Um den Bereichder primären Bildung voranzubringen, sind mehr regio-nale und praxisorientierte Ansätze notwendig. Zur Über-windung der den Schulbesuch hemmenden Faktoren müs-sen angepasste Anreizstrategien – zum BeispielAnpassung der Ferien, an den landwirtschaftlichen Ka-lender, Erhöhung der Schuldichte, Schulspeisung – iden-tifiziert und umgesetzt werden.Es gilt zudem, Anreize für Lehrpersonal zu schaffen,einen Lehrauftrag an abgelegenen Standorten aufzuneh-men. Beim Ausbau der Schulsysteme und Einrichtungenmüssen die Faktoren Quantität und Qualität ineinander-greifen. Neben den Einschulungsraten ist verstärkt aufdie Abschlussraten zu achten. Vermitteltes Wissen solltedurch Qualitätskontrollen und Leistungstests kontrolliertwerden.Nach der Grundschule müssen den Schülerinnen undSchülern weiterführende Bildungsangebote zur Verfü-gung stehen. Daher muss darauf geachtet werden, auchangepasste und leistungsfähige Sekundarschulstrukturen– insbesondere im ländlichen Raum – auf- bzw. auszu-bauen. Zielsetzung muss dabei sein, ein Sekundarbil-dungsangebot zu etablieren, welches sowohl die Basis fürein selbstbestimmtes Leben der Jugendlichen schafft unddie für die Landesbedürfnisse notwendige Ausbildungsfä-higkeit in praktischen Berufen sicherstellt als auch dieQualifikation für eine weiterführende technische oderakademische Weiterbildung vermittelt sowie die Beschäf-tigungsfähigkeit verbessert.Der Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften für Pro-duktion. Handel und Dienstleistungen ist ein wichtigerhemmender Faktor für die Entwicklung in vielen Ent-wicklungsländern. Der Aufbau angepasster Berufsaus-bildungssysteme in enger Kooperation mit der örtlichenWirtschaft ist daher eine große Herausforderung für vielePartner und damit für die deutsche Entwicklungszusam-menarbeit. Berufliche Bildung hat in der Entwicklungs-zusammenarbeit zwei wichtige Zieldimensionen: Sie un-terstützt die Entwicklung und Erschließung vonWachstumspotenzialen insbesondere der modernen Wirt-schaft, und sie befähigt gleichzeitig die Menschen zur ei-genverantwortlichen Gestaltung ihres Lebens und der Ar-beit.Zu ProtokollEin wichtiger Aspekt ist dabei auch die Eröffnung vonPerspektiven für die Beschäftigen des non-formalen Sek-tors, für junge Erwachsene und Menschen, denen es nichtmöglich war, am formalen Bildungssystem teilzuhaben.Bei der Stärkung einer Brückenfunktion hin zu Zugängenin den formalen Bildungsbereich haben Nichtregierungs-organisationen und Kirchen solide Kompetenzen.Die lokale Anpassung des deutschen Systems der dua-len Berufsausbildung kann bei der beruflichen Bildungwichtige Impulse liefern, wird aber erfahrungsgemäßnicht immer eine angepasste Lösung für die spezifischenBedürfnisse eines bestimmten Landes darstellen. Wichtigist aber die Herausbildung einer engen Kooperation vonStaat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft.Für die ausgebildeten Fachkräfte ist es wichtig, Zu-gang zur Fort- und Weiterbildung zu ermöglichen, damitsie mit den schnelllebigen Entwicklungen Schritt haltenkönnen. Dazu sind die Etablierung neuer und der Ausbaubestehender Bildungseinrichtungen sowie die Herstel-lung von Kooperationen mit entsprechenden Einrichtun-gen in Deutschland und anderen Industrieländern wich-tige Elemente. Über das Instrument der privaten-öffentlichen Partnerschaften sollte auch die Einrichtungüberbetrieblicher Bildungseinrichtungen über die Indus-trie- und Handelskammern oder die Handwerkskammernangestrebt werden.Nachhaltige Bildungssysteme können nur dann eta-bliert werden, wenn die Partner mittelfristig auch ohneHilfe der Geber selbstständig ausbilden können. Ohnegute akademische Bildungseinrichtungen – Universitätenund Fachhochschulen – vor Ort ist dies nicht möglich.Ein wichtiger Aspekt der Bildungszusammenarbeit ist da-her auch die Intensivierung der Zusammenarbeit imHochschulbereich. Neben der Stärkung von Hochschul-bildung als Querschnittsbereich sollte auch eine Vernet-zung der Hochschulen in und zwischen Entwicklungslän-dern stärker gefördert werden, um einen lebhaftenWissenstransfer innerhalb eines Landes oder einer Re-gion zu gewährleisten. Auch die Gründung deutscherUniversitäten in Entwicklungsländern sollte als strategi-sche Option gezielt vorangetrieben werden.Hochschulen übernehmen eine Verbindungsfunktionzwischen Staat und Gesellschaft und begleiten gesell-schaftliche und politische Reformprozesse. Bei der Hoch-schul- und Wissenschaftskooperation können daher Syn-ergieeffekte erzielt werden, wenn Brücken zu den anderenSektoren der Entwicklungszusammenarbeit geschlagenwerden. Mit dem Instrument Public-Private-Partnership– PPP – können die in Entwicklungsländern angesiedel-ten Verbände und Unternehmen dabei unterstützt werden,Ausbildungszentren und Hochschulen vor Ort zu initi-ieren und auszustatten. Die Einrichtung von grenzüber-schreitenden Studiengängen mit möglicher Vernetzung zuregionalen Forschungsnetzwerken stellt ein geeignetesInstrument für die ressortübergreifende Förderung vonHochschulkooperationen in Schwellenländern dar, die esauszubauen gilt.Die Förderung von Stipendiaten aus Entwicklungslän-dern und die Vertiefung der Wissenschaftskooperationzwischen den universitären Einrichtungen erhöhen das
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Dr. Christian RuckBildungsniveau und festigen die Beziehungen zwischenden beteiligten Staaten zum gegenseitigen Vorteil. Koope-rationen deutscher Universitäten und Forschungsinsti-tute mit Partnern in Entwicklungsländern sind wegen desdamit verbundenen Aufbaus von Kontakten zur wissen-schaftlichen Lösung globaler Probleme – Klima, Gesund-heit und andere – notwendig, aber auch von Vorteil für diedeutsche Wirtschaft. Ein wichtiges Element der Koopera-tionen ist die Verstetigung der wissenschaftlichen undpersönlichen Kontakte sowie des gegenseitigen Aus-tauschs durch eine intensivierte Pflege der Alumni-Netz-werke.Gleich, welche Bildungsstufe durchlaufen wurde, sol-len die Menschen dadurch in die Lage versetzt werden,ihr eigenes Einkommen zu erwirtschaften, damit erwor-benes Wissen und Fähigkeiten dem jeweiligen Partner-land nachhaltig erhalten bleiben. Es gilt, die Abwande-rung von qualifizierten Kräften mit ihrem Wissen– sogenannter Brain Drain – zu vermeiden. Dazu sindAnreize zu schaffen, qualifizierte Menschen dort zu be-schäftigen, wo sie am nötigsten gebraucht werden: im ei-genen Land.Wir sollten uns bei der Entwicklungszusammenarbeitim Bildungsbereich auch der Akteure besinnen, die nichtim engeren Sinn Teil der deutschen Entwicklungszusam-menarbeit sind. Wir müssen alle Potenziale ausloten, dieErfahrung der deutschen Auslandsschulen und derGoethe-Institute zur Stärkung der Bildungssysteme unse-rer Partner zu nutzen.Lassen Sie mich zum Schluss noch darauf hinweisen,dass es auch einen Bereich gibt, wo wir die Bildung un-serer Bürger, voranbringen müssen. Dies ist die entwick-lungspolitische Bildung. Sie soll unseren Bürgern die He-rausforderungen in den Entwicklungsländern und dieInstrumente zur Bewältigung dieser Herausforderungenin der Einen Welt zur Sicherstellung von Frieden undWohlstand verdeutlichen. Wir sollten gemeinsam mehrtun, den Zugang zu diesen Bildungsangeboten zu erwei-tern.
Ich freue mich, heute unseren aktuellen Antrag zurFörderung der Bildung und Ausbildung in der Entwick-lungspolitik vorstellen zu können. Bildung ist bei Weitemkein neues Thema: Zusammen mit Gesundheit sind Bil-dung und Ausbildung fundamentale Elemente jeder ent-wicklungspolitischen Arbeit und Voraussetzung für dienachhaltige Entwicklung einer Gesellschaft.Bisher hat unsere bilaterale wie auch multilateralestaatliche Entwicklungszusammenarbeit Gutes geleistet.Die im Jahr 2000 initiierte Initiative „Education for all“und die seit 2002 darauf aufbauende „Fast Track Initia-tive“ sind gelungene Beispiele dafür. Dennoch sprichtder UNESCO-Weltbildungsbericht vom Dezember 2007eine deutliche Sprache. Die Bildungssituation in vielenLändern ist weiterhin besorgniserregend.Zurzeit besuchen fast 80 Millionen Kinder keineSchule, und der Zugang zu Bildung, insbesondere zurZu ProtokollGrundbildung, ist für viele Menschen immer noch mitgroßen Schwierigkeiten und Hindernissen verbunden.Dabei ist eines unbestritten: Bildung ist ein Menschen-recht, ist wesentliche Voraussetzung für ein selbstbe-stimmtes Leben und für gesellschaftliche Teilhabe. Daherfordert unser Antrag den konsequenten Ausbau desSchlüsselsektors Bildung. Dabei ist wichtig, dass Bildungheute einerseits sektorübergreifend beispielsweise bei derFriedensentwicklung und Krisenprävention sowie derDemokratieförderung integriert werden muss, anderer-seits aber auch ein wichtiger selbstständiger Sektor istund bleibt. Der Sektor Bildung ist also von elementarerBedeutung, das sollte auch bei Regierungsverhandlungenimmer wieder betont werden.Auf meiner Reise in den Ostkongo im Mai dieses Jah-res hatte ich die Gelegenheit eine Schule zu besuchen, inder mit partizipativen Lehrmethoden das selbstständigeDenken der Schüler gefördert wird und damit den Schü-lern auch friedliche Konfliktlösungskonzepte aufgezeigtwerden. Hiervon unterscheidet sich noch deutlich dieweit verbreitete herkömmlicher Methode der Unterrichts-gestaltung mit wenig selbstständiger Beteiligung derSchüler und einem Auswendiglernen von Dingen, die denBedürfnissen der Region nicht entsprechen. Fragen derSchüler sowie Formulierung eigener Standpunkte ist da-bei nicht Teil des Unterrichtsgeschehens.Dies hat Auswirkungen auf gesellschaftliches Handelnund die Eigenreflexion der Schüler. In einem Gesprächmit den Schülern wurde deutlich, dass die im Unterrichterarbeiteten Verhaltensregeln auch auf das Leben außer-halb der Schule übertragen werden. Die Schülerinnenund Schüler berichteten davon, wie sie das gemeinsameDiskutieren in der Gruppe, das sie im Unterricht eingeübthatten, auch als Streitschlichtungsmodell für Schwierig-keiten im Freundeskreis außerhalb der Schule und in derFamilie einsetzen. Nach Jahren des Bürgerkriegs und derGewalt ist es insbesondere für die junge Generation un-bedingt nötig, friedliche und demokratische Konfliktlö-sungsstrategien einzuüben. Denn auch dazu könnenSchulen beitragen.Dies zeigt, dass neben der Quantität der zu schaffen-den Schulen auch die Qualität des angebotenen Unter-richts von entscheidender Bedeutung ist.Neben der Vernetzung von Bildung mit anderen Sekto-ren der Entwicklungszusammenarbeit wie Friedensent-wicklung gibt es drei Kernfelder, bei denen Bildung als ei-genständiger Schwerpunkt ansetzten muss:Allen voran ist die Grundbildung zu nennen. Wir alsSozialdemokraten haben uns schon von jeher für einevom Elternhaus unabhängige Bildungschance für Kinderund für Bildungsgerechtigkeit eingesetzt. Das ist in derEntwicklungszusammenarbeit nicht anders. Daher ist beider Grundbildung besonders wichtig, dass sie gebühren-frei erfolgt und auch die Lehrmittel kostenfrei sind.Insbesondere ist auch darauf zu achten, dass der Grund-schulbesuch für Mädchen gefördert wird. Praxisorien-tierte Ansätze sind dabei wichtig: Die Schulwege müssensicher gestaltet werden, weibliches Lehrpersonal mussverstärkt zum Einsatz kommen. Manchmal sind es einfa-
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Dr. Bärbel Koflerche Dinge wie die Einrichtung von nach Geschlechterngetrennten Schultoiletten, die es Mädchen leichter macht,die Schule zu besuchen. Nach der Grundbildung und demAusbau der Sekundarschulbildung, ist die berufliche Bil-dung und Weiterbildung als ein weiteres Kernelement derentwicklungspolitischen Bildungsarbeit zu nennen.Lassen Sie mich hier nochmals unterstreichen, dassdas duale Berufsschulsystem, mit welchem wir inDeutschland gute Erfahrung haben, schon häufig in Part-nerländern den Impuls für ähnliche Berufschulsystemegab. In der beruflichen Bildung gilt es, Fachwissen undpraktische Fähigkeiten wie auch soziale Verhaltenswei-sen zu erlernen, um Beschäftigungsfähigkeit zu schaffen.Auch hier möchte ich ein Beispiel von meiner Reise inden Kongo anführen. Das Berufsbildungszentrum CAPAin Bukavu bietet jungen Menschen die Chance, in den Be-reichen Lederverarbeitung, Metallverarbeitung – KFZ-Handwerk – Schreinerei, Polsterei, Textilbearbeitung undSchneiderei, Gastronomie, Gitarrenbau, Seifenproduk-tion, Bau- und Maurerarbeiten und EDV eine Ausbildungzu erhalten, die es ihnen ermöglicht, sich nach ihrem Ab-schluss in ihrem erlernten Beruf selbstständig zu machen.Auch ein Lager, in dem die Absolventen günstig ihr Ma-terial für ihre eigene Werkstatt beziehen können, ist ange-schlossen. Viele derjenigen, die hier eine Ausbildung er-halten, waren Kindersoldaten, Soldaten, die ihre Waffenabgegeben hatten, und Menschen aus schwierigstem fa-miliären und sozialen Umfeld.Solche beruflichen Bildungsangebote, deren Qualifi-kationsmaßnahmen oft auch nur wenige Monate dauern,bieten eine Chance für Menschen, die bisher nicht denWeg im formalen Bildungssystem gehen konnten. In sol-chen Einrichtungen finden sich meist Alphabetisierungs-angebote, auch Frauen werden durch diese besonders an-gesprochen und gestärkt.Das von mir erwähnte Institut in Bukavu schafft beruf-liche Perspektiven, die angesichts der kriegsbelastetenVergangenheit der Menschen auch zu einem Weg zu ei-nem neuen Leben in einer friedlichen Gesellschaft wer-den.Lassen Sie mich nun noch auf einige Aspekte der aka-demischen Bildung eingehen. Im Rahmen der Entwick-lungszusammenarbeit kommt der akademischen Bildungein wichtiger Auftrag zu. Im Bereich Wissenstransfer undHochschulkooperation ist es wichtig, regionale Vernet-zung seitens der Hochschulen zu betreiben. Dies kannnicht nur die Entstehung von Forschungsnetzwerken be-fördern, sondern dient auch dem Auf- und Ausbau akade-mischer Bildungseinrichtungen.Gerade die universitären Einrichtungen müssen mitBlick auf den Arbeitsmarkt des jeweiligen Landes Ausbil-dungsangebote machen: Der Fachkräftemangel im aka-demischen Bereich, insbesondere der Lehrkräftemangel,stellt eine besondere Herausforderung dar.Aber gerade am Beispiel der Lehrkräfte wird deutlich,wie wichtig es ist, auch die Bedingungen des Arbeitsum-felds zu gestalten, um qualitative Bildung zu gewährleis-ten. Dazu gehören eine adäquate Besoldung der LehrerZu Protokollsowie Anreize für Lehrpersonal, auch an abgelegenenStandorten zu unterrichten.Zusammenfassend möchte ich folgende Aspekte noch-mals betonen: Wie in Punkt acht unseres Antrags gefor-dert, ist der Grundbildungsförderung erhöhte Prioritätbeizumessen. Vollständige Primarschulbildung istschließlich ein ausdrücklich formuliertes Millenniums-entwicklungsziel. Der Zugang zu Bildung und die Anwen-dung der erlernten Bildungsinhalte sind aber auchGrundlage zur Verwirklichung aller Millenniumsent-wicklungsziele, sei es Armutsbekämpfung und wirtschaft-liches Wachstum, das durch die praktische, beruflicheUmsetzung des erlernten Wissens befördert wird, sei esdie Förderung einer aktiven Zivilgesellschaft, bei der sichdie in Bildungseinrichtungen vermittelten partizipativenStrukturen und Kommunikationsfähigkeiten positiv nie-derschlagen. Auch die im dritten Millenniumsentwick-lungsziel formulierte Gleichstellung der Geschlechter istim Bereich Bildung von weitreichender Bedeutung: DaFrauen bei der Entwicklung eine Schlüsselrolle für Ent-wicklung zukommt, ist die Bildung von Mädchen undFrauen explizit zu fördern.Selbstverständlich gilt das Recht auf Bildung auch fürMenschen mit Behinderungen, denen in ungleich höhe-rem Maße als anderen Menschen der Zugang zur Primar-schulbildung verweigert wird.Grundlage für den Schulbesuch ist, dass Kinder nichtarbeiten müssen, um zum Lebensunterhalt der Familiebeizutragen. Die Einhaltung der ILO-Kernarbeitsnormenund – für den Bereich der Bildung besonders wichtig –das Verbot der Kinderarbeit sind dafür unabdingbare Vo-raussetzung.Zu guter Letzt will ich noch auf den Einsatz der Bun-desländer für Bildung in der Entwicklungszusammenar-beit eingehen. Aufgrund unserer föderalen Struktur undder Länderhoheiten im Bereich Bildung kommt unserenBundesländern hier nicht nur innenpolitisch, sondernauch im Rahmen entwicklungspolitischer ZielsetzungenVerantwortung zu. Was bereits innenpolitisch ein Grund-satz der Sozialdemokratie ist – Bildung muss gebühren-frei sein –, ist natürlich auch ein Anspruch an die Bil-dungsarbeit der Bundesländer mit Entwicklungsländern.Hier ist insbesondere der Abbau von Studiengebühren fürStudierende zu nennen. Studiengebühren sind hinderlichfür die Chancengleichheit; dies gilt für inländische Stu-dierende ebenso wie für Studierende aus Entwicklungs-ländern.Bildung ist der Schlüssel für ein selbstbestimmtes Le-ben, gesellschaftliche Teilhabe und effektive Armutsbe-kämpfung.Es gibt viel zu tun!
Seit Jahren kämpft die FDP für die Verbesserung derBildung in Entwicklungsländern und somit der Lebens-chancen der betroffenen Menschen. Erst jetzt kommt dieKoalition mit einem Antrag zu Bildung in Entwicklungs-ländern. Es ist traurig, dass es so lange gedauert hat,aber immerhin hat die Koalition die Wichtigkeit des Pro-
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Hellmut Königshausblems endlich erkannt. Sie hätte allerdings schon früherauf die Idee kommen können, dass die Bundesregierungin diesem Bereich bisher zu wenig getan hat. Zum Bei-spiel hätten die Koalitionsfraktionen in den Haushalts-beratungen der letzten Jahre den Anträgen der FDP-Fraktion zustimmen sollen. Wir haben jedes Jahr die Auf-stockung der Mittel im Grundbildungsbereich um insge-samt 60 Millionen Euro, aufgesplittet auf finanzielle undtechnische Zusammenarbeit, gefordert, um der Bundes-regierung die Chance zu geben, wenigstens ihre eigenenPlanungsziele einzuhalten. Leider hat die Koalition demnicht zugestimmt, und leider hat die Bundesregierung indiesem Bereich auch nichts getan.So ist die deutsche Entwicklungshilfe in diesem Be-reich deutlich zurückgegangen: Von über 5 MilliardenEuro deutscher Entwicklungshilfe wurden lediglich70 Millionen Euro der Förderung der Grundbildung zu-geschrieben, was einen Anteil von nur 1,6 Prozent derODA ausmacht. Das ist zu wenig, da Bildung von über-greifender Bedeutung für die Entwicklung ist.Bildung ist grundlegende Voraussetzung für jede Formwirtschaftlichen Wachstums. Ohne Bildung kann es keineEntwicklung geben, und ohne Fortschritt kann die Armutin den betroffenen Ländern nicht besiegt werden. Die An-wendung von Wissen und Fähigkeiten als Kern des Wirt-schaftswachstums muss zentraler Bestandteil der Ar-mutsbekämpfung werden und sowohl die Grund- als auchdie Weiterbildung gezielter gefördert werden.Armut und Bildungsarmut hängen unmittelbar zusam-men. Nachhaltige Bekämpfung der Armut erfordert alsoden Aufbau eines für alle zugänglichen Bildungssystems.Dabei ist zunächst die Grundbildung entscheidend. OhneGrundbildung können Menschen kaum an demokrati-scher Willensbildung teilnehmen. Der Manipulation undDemagogie von Kriegsherren und Kleptokraten ist freieBahn gegeben. Ohne Grundbildung ist schon eine einfa-che wirtschaftliche Betätigung erheblich erschwert. An-alphabeten werden viel eher zu Opfern von Betrügernund Fälschern.Bildungsarmut verhindert zumeist den Zugang zurJustiz. Bildungsarmut führt wegen Unkenntnis oft zuGleichgültigkeit gegenüber Menschenrechtsverletzun-gen. Deshalb muss ein Schwerpunkt deutscher und euro-päischer Entwicklungshilfe für die ärmsten Länder indem Aufbau eines für alle zugänglichen Grundbildungs-wesens liegen.Die Entwicklung von Justiz, Marktwirtschaft und ei-nem funktionierenden demokratischen System hängt da-von ab, ob es genügend Menschen in dem jeweiligen Landgibt, die in der Lage sind, Verantwortung zu übernehmen.Daher ist auch die weiterführende Bildung für den Ent-wicklungsprozess entscheidend. In der weiterführendenBildung müssen die ethischen Maßstäbe verantwortli-chen Handelns, also die Voraussetzung des „good gover-nance“, vermittelt werden.Deshalb muss ein weiterer Schwerpunkt der Entwick-lungspolitik auf Hilfen zum Aufbau eines sekundären undtertiären Bildungssektors liegen. Der Zugang zur weiter-führenden Bildung muss dabei für alle, Männer undZu ProtokollFrauen, nach Leistungsmaßstäben diskriminierungsfreizugänglich sein. Nur so kann sich Demokratie entwi-ckeln. Die zu leistende Hilfe kann nicht nur finanziell ge-dacht werden, sie sollte auch inhaltliche und strukturelleBestandteile haben.Die Bedeutung des Bildungssektors spiegelt sich auchin den Millenniumsentwicklungszielen, den MDGs, wie-der. Zwei der von den Vereinten Nationen im Jahre 2000festgesetzten MDGs benennen Bildung als einen der es-sentiellsten Beiträge im Kampf gegen Armut und fürnachhaltige Entwicklung. So sieht einerseits MDG 2 dieErreichung der universellen Grundschuldbildung fürKinder bis zum 14. Lebensjahr vor: Alle Mädchen undJungen sollen bis 2015 die Grundschule abschließen.MDG 3 bezieht sich auf die Förderung von Mädchen undFrauen und eine Gleichberechtigung der Geschlechter.Bis zum Jahr 2005 sollte eine geschlechterspezifischeUnterscheidung in der Primär- und Sekundarbildung be-seitigt werden, bis zum Jahre 2015 auf allen Ausbildungs-ebenen eine völlige Gleichbehandlung der Geschlechtererreicht werden.Auf dem Weltbildungsforum im April 2000 in Dakarverabschiedeten 164 Länder den Aktionsplan „Bildungfür alle“, dessen sechs Ziele sich im Kern auf die Bereit-stellung von angemessenen Bildungsangeboten für alleAltersstufen und die Halbierung der Analphabetenratebis 2015 beziehen. Im April 2002 wurde unter Schirm-herrschaft der Weltbank die Fast Track Initiative ins Le-ben gerufen, welche eine zusätzliche technische und fi-nanzielle Unterstützung für die von Bildungsarmutbetroffenen Länder bieten soll.Bildung ist damit in den Fokus der Armutsbekämpfunggerückt. Dennoch sind im Bereich der Bildung in entwick-lungspolitischer Hinsicht zahlreiche Probleme zu bekla-gen. Insbesondere hat es die Bundesregierung in der Ver-gangenheit versäumt, ein einheitliches Konzept zurErreichung der international festgesetzten Größen vorzu-legen. Vielmehr steht nach der Hälfte des angestrebtenZeitrahmens laut dem von den Vereinten Nationen he-rausgegebenen Fortschrittsbericht bereits jetzt fest, dassdie Millenium Development Goals in den meisten der be-troffenen Länder, so unter anderem in Afrika südlich derSahara und Westasien, nicht erreicht werden. Ungefähr30 der 125 EFA-Länder sind laut dem Education for AllDevelopment Index nach wie vor weit von den EFA-Zielenentfernt; zu zwei Dritteln handelt es sich um Staaten inAfrika südlich der Sahara.Besonders schwierig ist immer noch die Situation derMenschen, die weder lesen noch schreiben können. Soweist die UNESCO in ihrem im Jahre 2005 in London pu-blizierten Weltbericht „Bildung für alle 2006“ auf die im-mer noch erschreckende Zahl von Analphabeten hin undmacht das Thema Alphabetisierung zum Schwerpunkt ih-res EFA Global Monitoring Report 2006.Die Gründe, warum ein Großteil der Kinder in Ent-wicklungsländern nicht zur Schule gehen kann oder diesevorzeitig abbricht, sind nicht ausschließlich auf die Ab-wesenheit von Schulen oder Lehrkräften zurückzuführen,sondern auch auf zahlreiche andere Faktoren wie feh-lende Infrastruktur, kriegerische Auseinandersetzungen,
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Hellmut Königshausschlechte Regierungsführung und die Notwendigkeit,dass auch die Kinder armer Familien einen Beitrag zumexistenziellen Auskommen leisten müssen.Wie soll beispielsweise ein Familienvater seine Kinderzur Schule schicken, wenn er gleichzeitig riskiert, da-durch die materielle Existenz seiner Familie zu gefähr-den, und weder weiß, ob ihnen die Schulbildung in derZukunft neue Chancen eröffnet noch ob sie am nächstenTag überhaupt etwas zu essen auf den Tisch bekommen?Ein Kind kann nun mal nicht auf dem Feld oder sonst woarbeiten und gleichzeitig auf der Schulbank sitzen undlernen. Mit hungrigem Magen lässt es sich nun einmalschlecht lernen.Bildung braucht also nicht nur Schulen und Lehrer,sondern auch ein Umfeld, in dem sich Bildungsinvesti-tionen entwickeln können. Wir täten zum Beispiel gut da-ran, EU-Agrarsubventionen abzubauen, um den afrikani-schen Bauern die Möglichkeit zu eröffnen, ihre Waren zufairen Preisen auf dem Weltmarkt anzubieten, und dafürzu sorgen, dass verfehlte Klimaschutzpolitiken nicht zueinem existenzbedrohenden Anstieg der Lebensmittel-preise und ungenutzten Anbaupotenzialen in genau denRegionen führen, die es sich am wenigsten leisten können.Diese Verfehlungen treffen natürlich in erster Linie dieÄrmsten der Armen, und ganz besonders deren Kinder.Solange wir keine Lösung für Ernährungsfragen undFragen der politischen Stabilität finden, müssen wir unsüber mangelndes Engagement der betreffenden Regie-rungen und Bevölkerungen hinsichtlich des Aufbaus ei-nes zukunftsfähigen Bildungssystems nicht wundern.Dass wir die Entwicklungsländer stärker unterstützenmüssen, darüber sind sich alle Fraktionen hier im Parla-ment offensichtlich einig. Schade nur, dass die Bundesre-gierung diesen Bereich in der Vergangenheit zu sehr ver-nachlässigt hat. Es ist insofern zu begrüßen, dass dieGroße Koalition jetzt mit einem Antrag kommt, in demsehr viele richtige Forderungen enthalten sind. Leiderwird das Fehlverhalten der Bundesregierung darin völligausgeblendet. Wieso hat die Koalition in den letzten dreiJahren denn nicht schon einmal mit ihrer parlamentari-schen Mehrheit darauf hingewirkt, dass die Regierungihre Prioritäten ändert? Jetzt diesen Antrag hinterherzu-schieben, als sei die ganze Zeit nichts gewesen, hat ledig-lich Alibicharakter.Den Antrag der Linken muss man nicht weiter kom-mentieren. Ein gutes Anliegen wird missbraucht, um lin-ker Ideologie gegen private Schulen, den Welthandel unddie Weltbank Platz zu bieten. Damit wird die Fraktion DieLinke diesem wichtigen Thema wirklich nicht gerecht.
Der Bildungssektor muss im Rahmen der vom Bundes-tag im vergangenen März geforderten Neuausrichtungder Entwicklungszusammenarbeit auf die Sozialsystemegestärkt werden. Denn weltweit sieht die Bildungssitua-tion immer noch alles andere als befriedigend aus. Nachden neuesten Zahlen können 780 Millionen Erwachseneweder lesen noch schreiben. Mindestens 72 MillionenKinder haben keine Möglichkeit, zur Schule zu gehen. DieMehrheit unter ihnen sind Mädchen. Am härtesten trifft esZu ProtokollKinder mit Behinderung, von denen nicht einmal 10 Pro-zent eingeschult werden.Die Linke legt heute einen Antrag vor, der die Umset-zung der im April 2000 auf dem Weltbildungsforum inDakar vereinbarten sechs Entwicklungsziele fordert, da-runter die Sicherstellung einer obligatorischen, gebüh-renfreien und qualitativ guten Grundschulbildung für alleKinder bis 2015. Die damalige Bundesregierung hat sichselbst verpflichtet, dieses Ziel durch einen angemessenenBeitrag zu unterstützen.Leider müssen wir heute feststellen, dass sie diesesVersprechen gebrochen hat. Dies gilt insbesondere für dieGrundbildung. Dieser Sektor stellt nach wie alles andereals einen Schwerpunkt der deutschen Entwicklungszu-sammenarbeit dar. Die Ausgaben für Grundbildung be-trugen 2006 nicht mehr als 1 Prozent des Entwicklungs-haushaltes.Angesichts dieser Defizite ist es zu begrüßen, dassauch die Bundestagsfraktionen von SPD und Union durchdie Vorlage eines eigenen Bildungsantrages heute ihre ei-gene Regierung an die eingegangenen Selbstverpflich-tungen erinnern wollen. Doch leider müssen wir dabeifeststellen, dass sie am Ende Angst vor der eigenen Cou-rage bekamen. Wie sonst ist es zu werten, dass sie in ih-rem vorliegenden Antrag nirgends konkret werden? Sieverlieren sich in Allgemeinplätzen, die nichts bewegenwerden. Deutlich wird das etwa an ihrem Umgang mitdem multilateralen Bildungsfonds FTI. Sie prangern dasDefizit an, das die Zahlungsunwilligkeit der G 8 in die-sem Fonds hinterlassen hat. Doch zum konkretenEngagement der Bundesregierung fällt kein Wort.Ich helfe ihnen auf die Sprünge. Auf der Brüsseler Bil-dungskonferenz vom Mai 2007 sagte die Bundesregie-rung die Bereitstellung von 8 Millionen Euro für densogenannten Catalytic Fund der FTI zu. Das ist praktischnichts. Die Niederlande haben sich bereit erklärt, in dendenselben Fonds bis 2009 satte 470 Millionen Euro ein-zustellen. Das Schönreden haben sie von ihrer Regierungabgeguckt. Seit Jahren fordern Nichtregierungsorganisa-tionen und die Linke, dass endlich eine saubere Buch-führung bei der Ausweisung der offiziell geleisteten Ent-wicklungshilfe eingeführt wird. Die bilaterale Hilfe wirdin den Bilanzen der Bundesregierung systematisch aufge-bläht. 2005 wurden 985 Millionen Euro der bilateralenLeistungen für den Gesamtsektor Bildung ausgewiesen.Davon entfielen allerdings 745 Millionen auf die Anrech-nung der Studienplatzkosten ausländischer Studierenderin Deutschland. Das ist eine rein fiktive Größe. Solangesie nicht aufhören, die Bilanzen derart zu schönen, blei-ben ihre vollmundigen Versprechen vollkommen unglaub-würdig.Fakt ist: Gemessen am Bruttonationaleinkommen lägenach Berechnungen der Globalen Bildungskampagne derangemessene Anteil Deutschlands zur Finanzierung derbildungspolitischen Millenniumsziele bei jährlich rund560 Millionen Euro. Tatsächlich brachte die Bundesrepu-blik im Durchschnitt der Jahre 2004 und 2005 davon bes-tenfalls 39 Prozent auf – wenn man von der großzügigenAnnahme ausgeht, dass ein Drittel der unspezifiziertenGelder für Entwicklungshilfe im Bereich Bildung in dieFörderung von Grundbildung fließen.
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Hüseyin-Kenan AydinHier wird klar: Ihre Buchführung ist deshalb so unsau-ber, weil sie das ganze Ausmaß der Kluft zwischen Ankün-digungen und Umsetzung vertuschen wollen. Lassen Siemich noch dieses anfügen: Dort, wo die Regierungsfrak-tionen konkret werden, dort wo sie nicht beschönigen,dort stellen sie der Bundesregierung ein erbärmlichesZeugnis aus. Ich spreche von Afghanistan. Sie stellen fest:Afghanistan hat mit 72 Prozent die höchste Analphabe-tenrate weltweit – und das nach fast sieben Jahren des so-genannten Wiederaufbaus. Und ich füge an: Auch aufdem alle sozialen Indikatoren umfassenden Weltentwick-lungsindex ist Afghanistan in dieser Zeit noch weiter zu-rückgefallen. Deutlicher kann man wohl kaum machen,dass der ganze Bundeswehreinsatz in Afghanistan eineinziges kostspieliges Desaster darstellt. Sparen Sie end-lich die Milliarden für den Militäreinsatz ein! Dannwürde auch für die Bekämpfung des weltweiten Analpha-betismus mehr übrig bleiben.Ich komme zum Schluss noch auf ein Problem zu spre-chen, das häufig in den Diskussionen untergeht. Es istgut, wenn die KfW-Entwicklungsbank den Bau von Schu-len in den Elendsvierteln Nairobis finanziert. Doch dasallein bringt uns dem Ziel einer qualitativ guten Grund-bildung nicht näher. Entscheidend ist, dass genügend gutausgebildete Lehrkräfte zur Verfügung stehen. Sie findenin manchen Entwicklungsländern häufig unhaltbareSituationen vor, selbst dort, wo alle Kinder eines Orteseingeschult worden sind. So zeigte jüngst eine Dokumen-tation des Senders arte beispielhaft, wie in einer Grund-schule in Madagaskar eine Lehrerin in ein und derselbenStunde zwei Klassen gleichzeitig unterrichten muss – mitje 50 Kindern! Da verwundert es nicht, dass viele Kinderzwar eingeschult werden, aber nicht einmal die vier Klas-sen der Grundschule absolvieren. Es ist deshalb erforder-lich, neben den Einschulungsraten auch die Abbrecher-quoten bei der Bewertung der Fortschritte in derGrundbildung zu berücksichtigen.Die Linke fordert, dass sich die Entwicklungszusam-menarbeit mit Nachdruck auf die Erhöhung der Anzahlqualifizierter Lehrkräfte orientiert. Nach Schätzungender UNESCO müssen in Schwarzafrika bis 2015 zusätz-lich 1,6 Millionen Lehrkräfte eingestellt werden, damit je-des Kind eine angemessene Grundschulbildung erhaltenkann. Um hier Abhilfe zu schaffen, kommen wir nicht um-hin, auch über die Beteiligung der Entwicklungszusam-menarbeit an Qualifizierungsmaßnahmen und der Besol-dung der Lehrkräfte nachzudenken. Dies wäre imRahmen einer konditionierten Budgethilfe auch ohneWeiteres machbar. Des Weiteren müssen CIM als inte-griertes Rückführungsprogramm von Arbeitsagenturenund GTZ weiter gestärkt werden. Modelle der so genann-ten zirkulären Migration, wie sie im Antrag der Regie-rungsfraktionen propagiert werden, sind hingegen zumScheitern verurteilt, da sie auf Zwang statt auf Anreiz be-ruhen.
Zu Recht wird der Bildung in der internationalen Ent-wicklungszusammenarbeit ein hoher Stellenwert einge-räumt. Denn Bildung kann den Armutskreislauf durch-brechen und ist eine der wesentlichen Voraussetzung fürZu Protokolldie Entwicklung eines Landes. 1998/99 waren in Sub-Sahara-Afrika nur 57 Prozent der Kinder eingeschult.Dann kamen im Jahr 2000 das Weltbildungsforum inDakar/Senegal und die Millenniumserklärung der Ver-einten Nationen. Die Staatengemeinschaft verpflichtetesich in den Erklärungen der beiden Gipfel die Bildungs-situation in den Entwicklungsregionen der Welt zu ver-bessern. Grundschulbildung soll bis 2015 allen Kindernzugänglich gemacht werden. Die Statistiken der VereintenNationen zeigen seit den Verpflichtungserklärungen guteFortschritte bei den Einschulungsquoten. So erhöhte sichbesonders prägnant in den Ländern Sub-Sahara-Afrikasdie Quote bis 2005 auf 70 Prozent. In allen Entwicklungs-regionen zusammengenommen stieg diese zwischen1998/99 bis 2005 von 83 auf 88 Prozent. Nimmt man ab-solute Zahlen, so wird deutlich, dass es immer noch sehrviel zu tun gibt; denn 77 Millionen Kinder erhalten welt-weit immer noch keine Grundbildung. Neben Armut, dieviele Kinder dazu zwingt ihren Beitrag zur Haushalts-kasse beizutragen, sind es vor allem Schulgebühren, dieviele arme Familien, besonders auf dem Land, daran hin-dern ihre Kinder in die Schule zu schicken. Eine gebüh-renfreie Grundschulbildung zu erreichen muss in den Bil-dungsplänen der jeweiligen Staaten implementiertwerden. Besondere Fortschritte sind demnach auch inden Ländern zu verzeichnen, die ebendiese abgeschaffthaben, so in Ghana oder Mosambik.Deutschland hat sich den internationalen Entwick-lungszielen verpflichtet und muss seinen Beitrag leisten,um das Ziel des universellen Zugangs zu einer Grund-schulbildung bis 2015 zu erreichen. Die Mittel, die es da-für ausgibt, sind aber relativ gering. Die Globale Bil-dungskampagne attestiert Deutschland, dass es für dieGrundbildung weit unter dem „fairen Anteil“ gemäß derdeutschen Wirtschaftskraft liegt. In der Tat gilt es zu klä-ren, wie eine angemessene Beteiligung Deutschlandsauszusehen hätte und auf welcher Grundlage diese zu er-rechnen wäre. Besonders das geringe EngagementDeutschlands in der Education For All, EFA, – Fast TrackInitiative, FTI, der Weltbank ist sehr kritisch zu sehen. Inder Initiative werden in erster Linie diejenigen Entwick-lungsländer finanziell wie technisch unterstützt, diedurch langfristig angelegte Aktionspläne den Zugang zuBildung systematisch verbessern wollen. Dadurch gibt esein hohes Maß an verbindlicher Planung und Identifika-tion mit den Bildungszielen der Vereinten Nationen. Diegroßen Geberländer sollten der Initiative den entspre-chenden finanziellen Spielraum einräumen, um die Re-formbemühungen der Partnerländer effizient zu unter-stützen. Deutschland muss sich aus unserer Sicht an derInitiative mit mehr Geld beteiligen. Bis dato sind drei Mil-lionen US-Dollar für EFA-FTI aus dem Bundeshaushaltgeflossen. Verglichen mit den Niederlanden, die sich bis-her mit 430 Millionen US-Dollar beteiligen, ist das ein-fach zu wenig. Den Koalitionsfraktionen ist dies schein-bar aufgefallen. Sie fordern von der Bundesregierungeine angemessene finanzielle Ausstattung der EFA-FTI,lassen aber nicht erkennen an welche Größenordnung siedabei denken.Ein wesentlich höherer Betrag wird für die Förderungausländischer Studierender und die Hochschul- und Wis-senschaftskooperation ausgegeben. Im Grundsatz ist die
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17656 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Ute KoczyHochschul- und Wissenschaftskooperation nicht zu kriti-sieren und wir teilen nicht die Auffassung, dass dadurchdie bilateralen EZ-Mittel künstlich aufgebauscht werden.Dass würde voraussetzen, dass diese Formen der Förde-rung und Kooperation keine Instrumente der Entwick-lungszusammenarbeit sind bzw. sein sollten. Sie sind esaber, denn sie leisten einen wichtigen Beitrag zum gefor-derten Capacity Building in den Entwicklungsländern.Ich frage aber kritisch nach, ob die finanzielle Überge-wichtung dieses Sektors in Relation zur Förderung derGrundbildung den Entwicklungszielen der Bundesregie-rung nicht zuwider läuft.Der Antrag der Koalitionsfraktionen beschreibt um-fassend den Bereich Bildung in der Entwicklungszusam-menarbeit. Wichtige Handlungsfelder werden erwähnt,von der Grundschulbildung über weiterführende Bildungund Berufschulbildung bis zu Bildung in fragilen Staaten.Es lässt sich allerdings – insbesondere im Forderungsteil –nicht immer nachvollziehen, worin der optimale deutscheBeitrag liegt. Wo hat Deutschland wirkliche Kompetenz,die von den Partnerländern verstärkt und erwünschtwird? So wäre es interessant zu wissen, was die Koalitionunter den „komparativen Vorteilen Deutschlands bei derKonzeption von Bildungssystemen“ verstehen und vor al-lem wie diese in Entwicklungsländern eingebracht wer-den können. Konkret: Was können Mali oder Vietnam vomdeutschen Bildungssystem lernen? Dazu brauchten wireine Bestandsaufnahme unserer Stärken im Bildungsbe-reich, wobei immer noch die Frage zu klären wäre, obund wie sich diese auf andere Länder übertragen ließen.Ähnliches gilt für den Hinweis, sich verstärkt in fragilenStaaten zu engagieren. Bildung in Konfliktstaaten ist einwichtiges Thema. Dies steht nicht zur Frage. Aber die Ar-beit mit und in fragilen Staaten ist komplex, und die Welt-gemeinschaft steht damit noch am Anfang. Es stellt sichalso die Frage, ob es eine realistische Einschätzung gibt,welche bildungspolitischen Konzepte in solchen Staatennotwendig und möglich sind? Haben wir in diesem Be-reich Konzepte anzubieten und können wir auf Erfah-rungswerte zurückgreifen?Der Antrag lässt aus unserer Sicht keine Schwerpunkt-setzung erkennen. Es reicht nicht aus, den ganzen Bogender Probleme zu benennen, ohne den eigenen Anteil an ei-ner möglichen Lösung wirklich benennen zu können.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/9424 und 16/8812 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Verfahren vereinfachen, Bürger entlasten,
Rechtssicherheit schaffen – Notwendige Be-
dingungen für die Sinnhaftigkeit eines Pro-
jekts „Umweltgesetzbuch“
– Drucksache 16/9113 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Andreas
Jung , CDU/CSU, Dr. Matthias Miersch,
SPD, Horst Meierhofer, FDP, Lutz Heilmann, Die Linke,
Sylvia Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen.
Wir reden heute über einen Antrag der FDP-Fraktion,
der durch den Gesetzentwurf für ein UGB, der vor kurzem
versendet worden ist, zum Teil schon überholt ist. Zu-
nächst einmal vorweg: Die Union will das UGB; das ha-
ben wir bereits im Koalitionsvertrag deutlich gemacht.
Aber genauso gilt: Wir wollen das UGB nicht als Selbst-
zweck, wir verbinden damit konkrete Anforderungen;
auch das wird bereits im Koalitionsvertrag deutlich.
Die Anforderungen, die wir stellen, unterscheiden sich
nicht wesentlich von jenen, die die FDP in ihrem Antrag
benennt: Wir wollen das UGB, um das zersplitterte deut-
sche Umweltrecht zusammenzuführen. Wir wollen da-
durch Verfahrenserleichterungen erreichen. Wir wollen
weniger Bürokratie, und wir wollen bessere Europataug-
lichkeit. Auch in dem, was wir nicht wollen, treffen wir
uns mit der FDP: Die bestehenden materiellen Umwelt-
standards müssen erhalten bleiben. Mit dem UGB sollen
Standards weder erhöht noch abgesenkt werden. Wir wol-
len keine Beeinträchtigung von Privateigentum oder Be-
wirtschaftungsmöglichkeiten, die über das aktuelle Maß
hinausgeht. An all diesen Vorgaben wird die Union den
vorliegenden Entwurf Punkt für Punkt messen. Wo die
Anforderungen nicht erfüllt werden, wird sich die Union
für Änderungen starkmachen.
Die gute Nachricht: Vieles von dem, was die FDP in
ihrem Antrag befürchtet, ist bereits vom Tisch: Das gilt
für den befürchteten Eingriff in bestehende Eigentums-
rechte durch Beschränkung des Bestandsschutzes für alte
Rechte und alte Befugnisse. Die Union hat klargemacht,
dass sie dem nie und nimmer zustimmen wird. Damit ha-
ben wir erreicht, dass diese Regelung im Gesetzentwurf
erst gar nicht auftaucht. Das gilt auch für die kritisierte
freie Widerruflichkeit jeglicher Gewässerbenutzung im
Rahmen der integrierten Vorhabengenehmigung, die im
Referentenentwurf enthalten war. Die Kritik aus der
Union hat dazu geführt, dass hier eine Alternative ge-
sucht wurde, die den Bestandsschutz sichern soll. Wir
werden sorgfältig prüfen, ob das durch die im Gesetzent-
wurf enthaltene Regelung erreicht wird.
Und schließlich: Das EEG soll nicht Bestandteil des
UGB werden. Warum? Nicht weil es nicht wichtig wäre –
das EEG ist eines der zentralen Instrumente zur Verwirk-
lichung der Klimaschutzziele. Aber es passt nicht in ein
Buch, in dem das zersplitterte Umweltrecht zusammenge-
führt werden soll. Das EEG ist ein Förderprogramm wie
etwa das Marktanreizprogramm oder das CO2-Gebäude-
sanierungsprogramm. Mit welchem Argument sollte man
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Andreas Jung
das eine Gesetz aufnehmen, die anderen aber nicht? Sys-
tematisch ist es sinnvoller, Fördergesetze von der im UGB
zusammengefassten Materien zu trennen.
Entscheidend wird am Ende sein: Erreichen wir mit
dem UGB tatsächlich Verfahrenserleichterungen? Kern-
stück soll die integrierte Vorhabengenehmigung sein.
Den im Gesetzentwurf hierfür enthaltenen Vorschlag
werden wir daher besonders intensiv prüfen. Zu diesem,
aber auch zu allen anderen Punkten werden wir unseren
Standpunkt in Gesprächen mit den Betroffenen, mit Ver-
tretern von Wirtschaft und Umwelt, mit Experten aus der
Praxis und der Wissenschaft erarbeiten. Dazu werden wir
im parlamentarischen Verfahren nach der Sommerpause
und gerade bei den notwendigen Anhörungen ausrei-
chend Gelegenheit haben.
Ich freue mich auf die Beratungen.
Als ich den vorliegenden Antrag der FDP zum Um-weltgesetzbuch auf den Schreibtisch bekam, musste icherst einmal genau hingucken, welches Datum dieser An-trag trägt. Ich dachte zunächst, es handele sich um einenveralteten Antrag aus dem Jahr 2005. Aber: Es ist tat-sächlich ein Antrag vom 7. Mai 2008!Was soll dieser Antrag zu dieser Zeit? Er enthält in denÜberschriften zunächst eine Aufzählung allgemeinerAussagen, die bereits vor und nach der Föderalismus-reform stets genannt wurden, wenn das große Vorhabeneines Umweltgesetzbuches angesprochen wurde:Sie schreiben: „Das UGB soll Potenziale zur Verein-fachung und Entbürokratisierung umfassend ausschöp-fen“ – na klar –, „Die bestehenden Umweltstandardsmüssen erhalten bleiben“ – selbstverständlich –, „dasUGB muss Planungssicherheit für Investitionsentschei-dungen sowie Bestandsschutz gewährleisten“ – natürlich– und – Ihr letzter Punkt – „Das UGB muss Rechtssicher-heit und Rechtsklarheit für die Rechtsanwender schaf-fen“ – sehr gutes Ziel! Als politische Zielsetzung wäre IhrAntrag im Jahr 2005 durchaus diskutabel gewesen. Ja, erwäre auch in den 70er-Jahren zeitgemäß gewesen, nach-dem bereits dort über eine Kodifikation des Umweltrechtsnachgedacht wurde. Im Jahr 2008 ist er jedoch überflüs-sig und nicht zielführend.Sie wissen, dass wir aktuell weiter sind. Es liegt ein Re-ferentenentwurf vor. Insoweit wäre – wenn überhaupt zudiesem Zeitpunkt – eine Auseinandersetzung mit diesemaugenblicklich in der Anhörung befindlichen Regie-rungsentwurf angezeigt gewesen. Wenn Sie jedoch denEntwurf ansprechen, bleiben Sie äußerst oberflächlich.Zudem scheinen die Aussagen in Ihrem Antrag auch wi-dersprüchlich zu sein, sodass er insoweit zudem nicht zu-stimmungsfähig ist. Da führen Sie zum Beispiel aus, dassdas Gesetz für den Vorrang erneuerbarer Energien mitden Regelungsmotiven des UGB wenig gemein habe.Klima- und Ressourcenschutz sowie die Abkehr vonden fossilen Energieträgern sind die zentralen Um-weltthemen. Sind Sie wirklich der Auffassung, dass einUmweltgesetzbuch zu diesen zentralen Themen schwei-gen sollte? Ist nicht das UGB auch der richtige Ort, umZu Protokollklare Zielsetzungen des Umweltrechts zu formulieren, andenen sich die Rechtsanwendung orientieren muss?Weiter kritisieren Sie unter der Überschrift „beste-hende materielle Umweltstandards müssen erhalten blei-ben“ die Einführung einer Genehmigungspflicht kleinerBiogasanlagen bzw. die Wärmenutzung als Genehmi-gungsvoraussetzung. Haben Sie sich die Effizienz be-stimmter Anlagen einmal angesehen? Sie wissen doch ge-nau, dass bestimmte Anlagen mit den notwendigenUmweltstandards nicht mehr zu vereinbaren sind, sodasses doch mehr als fahrlässig wäre, diese Punkte im Rah-men eines Umweltgesetzbuches nicht anzusprechen.Interessant sind auch die Aussagen zum Wasserrecht.Auf Seite 2 fordern Sie noch die Ausschöpfung der Poten-ziale zur Vereinfachung und Entbürokratisierung. Wennes dann aber um die Vereinheitlichung geht und alteRechte, die teilweise bis in das 13. Jahrhundert zurück-reichen und überhaupt nicht mehr rechtlich zu handhabensind, in ein einheitliches Regelungssystem überführt wer-den, kritisieren Sie das wieder. Ich habe deshalb den Ein-druck, dass Entbürokratisierung bei Ihnen eine andereBedeutung hat und eher die Forderung nach der Absen-kung von Umweltstandards beinhalten soll. Sie wissendarüber hinaus, dass mit der Wasserwirtschaft geradeauch hier intensiv beraten wurde und wohl eine – für alleBeteiligten – akzeptable Regelung gefunden werdenkann. Das waren exemplarisch nur einige Beispiele, die zei-gen, dass Ihre umweltpolitischen Zielsetzungen offenkun-dig nicht mit den im Antrag gewählten Überschriften zuvereinbaren sind. Ich könnte jetzt noch weitere dieserWidersprüchlichkeiten aufzählen, will jedoch die Zeitnutzen, um für die SPD-Fraktion noch einmal ein paarDinge zum weiteren Verfahren zu sagen:Wir begrüßen ausdrücklich, dass das Bundesumwelt-ministerium nun das Verfahren zur Anhörung der Länderund Verbände mit einem Entwurf eingeleitet hat, der do-kumentiert, dass wir eine Stufe erreicht haben, die in denfrüheren Jahrzehnten, in denen es zahlreiche vergeblicheAnläufe gegeben hat, nie erreicht wurde.Wir fordern alle Beteiligten auf, dieses Vorhaben nunkonstruktiv zu begleiten. Auch die SPD-Fraktion wird dasbereits in diesem Stadium tun, wenngleich ich darauf hin-weisen möchte, dass das parlamentarische Verfahren erstnach der Kabinettsentscheidung beginnen wird und wiruns dann, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, überall die Inhalte austauschen können und werden. Dazusollten Sie jedoch differenziertere und substanziellereVorschläge ausarbeiten.Der Weg zum vorliegenden Entwurf war bereits stei-nig. Die Diskussionen unter den Ressorts haben die un-terschiedlichen Vorstellungen offenbart. Bezieht man dieAbweichungskompetenz und die Sichtweise der Ländermit ein, so zeigt sich, vor welch großen Herausforderun-gen das Bundesumweltministerium gestanden hat undweiter steht.Ich erachte es deshalb als sinnvoll, dass sich das Bun-desumweltministerium zunächst auf die Kodifikation desUmweltrechts bei gleichzeitigem Erhalt der bestehenden
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17657
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Dr. Matthias MierschUmweltstandards konzentriert und sich nicht schon imVorfeld auf von Einzelinteressen geleitete Regelungeneinlässt. Der Entwurf soll das bislang durch einzelneFachgesetze zersplitterte deutsche Umweltrecht stärkerintegrativ unter Berücksichtigung von Wechselwirkungenzwischen den Umweltmedien Wasser, Luft und Boden aus-richten. Aber: Die Erwartungen sollten insoweit aber auchnicht überspannt werden.Natürlich ist es Aufgabe der Opposition, die Dinge zukritisieren. Aber die vollständige Aufnahme des Immis-sionsschutzrechts wäre nach meiner Einschätzung einesolche Überspannung. Sie unterschlagen bzw. verkennenin diesem Zusammenhang auch, dass sich mit der Schaf-fung der integrierten Vorhabengenehmigung erstmals dieChance bietet, Genehmigungsverfahren zusammenzufüh-ren. Damit entsteht die Möglichkeit, einerseits für denNormadressaten eine Vereinfachung zu konzipieren. Ichbin deshalb zuversichtlich, dass zudem der Vollzugsauf-wand der öffentlichen Verwaltung gesenkt wird, sodassRationalisierung auch zu mehr Effektivität und Effizienzführen kann. In Planspielen und Fachgesprächen sindvor allem die Genehmigungs- und Verfahrensvorschriftenmit Vertretern des BMU von Zulassungsbehörden undUnternehmen eingehend auf Praxistauglichkeit überprüftworden. All dieses bildet eine hervorragende Grundlage. Die anstehenden Beratungen werden eine große He-rausforderung sein.Da alle Fraktionen des Deutschen Bundestages ihreUnterstützung bei der Schaffung des UGB signalisiert ha-ben, sollte das Bundesumweltministerium ausreichendeRückendeckung erhalten, einen möglichst breiten, aberauch zielorientierten Dialog über die verschiedenen Auf-gabenstellungen und Anforderungen zu führen. Bereits imFrühjahr 2007 fand ein erstes ausführliches Symposiumzwischen Wissenschaft, Bundesumweltministerium undUmweltpolitikern des Deutschen Bundestages statt. Trotzoder gerade wegen der unterschiedlichen Interessensla-gen und der aufgezeigten Probleme sollte das UGB Er-gebnis eines möglichst breit angelegten Dialoges sein,der gegebenenfalls auch Perspektiven für die weitere Ar-beit nach der Verabschiedung eines ersten UGBs eröff-net. Die nun im Juni folgende Anhörung und Erörterungfür Verbände, Länder und kommunale Spitzenverbändewird die SPD-Fraktion mit großer Aufmerksamkeit ver-folgen. Das Umweltgesetzbuch muss verwirklicht werden. Eswäre ein erster, aber wichtiger Schritt hin zu einem über-sichtlichen und anwenderfreundlichen Umweltrecht. Eskann darüber hinaus zugleich eine solide Grundlage lie-fern für weitere innovative Schritte im Bereich des Um-weltrechts.
Die bisherigen Bemühungen der Bundesregierung, einUmweltgesetzbuch zu schaffen, zeigen deutlich: Nicht nurbeim Klimaschutz und bei den erneuerbaren Energien,auch bei der Umweltgesetzgebung wird die Luft fürZu ProtokollSchwarz-Rot langsam dünn. Die Differenzen in der Gro-ßen Koalition sind auch hier längst offensichtlich.Ob das Vorhaben UGB in dieser Legislaturperiodenoch gelingt, bezweifeln mittlerweile selbst Abgeordneteaus den Regierungsfraktionen. Noch immer gibt es eineReihe zentraler Punkte, bei denen Union und SPD aufkeinen gemeinsamen Nenner kommen. Ich denke da nuran die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung!Und dabei wird die Zeit so langsam wirklich knapp.Ein Vermittlungsverfahren darf eigentlich schon nichtmehr vorkommen, wenn das UGB tatsächlich noch vor2010 in Kraft treten soll.Der einstmals von Herrn Gabriel angekündigte großeWurf ist in weite Ferne gerückt, um nicht zu sagen, er hatsich in Luft aufgelöst. Mit viel Glück wird die Bundesre-gierung am Ende der Legislaturperiode ein Regelwerkpräsentieren, auf dessen Einband „UGB“ steht.Doch: Das reicht nicht! Wir Liberale sind der Mei-nung, die Schaffung eines einheitlichen Umweltgesetz-buchs sollte mehr sein als ein Beschäftigungsprogrammfür Ministerialbeamte und Prestigeprojekt des ein oderanderen Beteiligten.Wir sind der Meinung, ein UGB macht nur – und nurdann – Sinn, wenn es vor allem folgende drei Vorausset-zungen erfüllt: Das UGB muss erstens grundlegende Ver-besserungen und Vereinfachungen im Verwaltungsver-fahren herbeiführen.Das UGB muss zweitens mehr Rechtsicherheit undmehr Rechtsklarheit für die Rechtsanwender bringen.Und drittens müssen die materiellen Umweltstandardstatsächlich unangetastet bleiben. Wir wollen weder eineVerschärfung noch eine Absenkung, sondern eine Beibe-haltung des Status quo.Das haben wir auch in unserem Antrag deutlich ge-macht, und daran werden wir die Arbeit der Bundesregie-rung messen.Vor diesem Hintergrund begrüße ich es natürlich, dassdie neuesten Entwürfe zumindest an der einen oder ande-ren Stelle den Forderungen unseres Antrags Rechnungtragen. Dies gilt vor allem für die Abkehr von der freienWiderruflichkeit des wasserrechtlichen Teils der inte-grierten Vorhabengenehmigung und den Fortbestand dersogenannten alten Rechte, aber zum Beispiel auch für dieBegriffsdefinitionen im Naturschutzrecht.Ich begrüße es auch, dass die Bundesregierung unse-rer Forderung nachgekommen ist, das EEG nicht im UGBaufzunehmen. Es hat da einfach nichts verloren!Und trotzdem: Auch die neuen Entwürfe bleiben nochimmer hinter unseren Erwartungen an ein wirklich sinn-volles UGB zurück, das diesen immensen Aufwand über-haupt wert ist. Auch die neuen Entwürfe enthalten nochimmer Regelungen, durch die die Genehmigungsverfah-ren gerade für den Mittelstand komplizierter anstatt ein-facher werden.Zum anderen hat parteipolitisch gefärbte Lyrik in ei-nem solchen Regelwerk – dessen Anspruch eine Allge-meingültigkeit ähnlich der des BGB ist – nichts zu suchen.
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17658 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Horst MeierhoferDas gilt vor allem für die klar erkennbaren Tendenzen hinzu einer Rekommunalisierung, die das Wasserbuch, wieeinen roten Faden durchziehen.Vor allem der SPD sei an dieser Stelle gesagt: Gemein-wohl und Privatisierung sind keine Gegensätze. AuchPrivate können von den Kommunen klar umrissene Auf-gaben zur vollsten Zufriedenheit der Bürgerinnen undBürger in unserem Land erfüllen.Die Bedeutung und Reichweite des Begriffs der Da-seinsvorsorge ist alles andere als klar, sodass wohl auchdas Ziel der Rechtsvereinfachung eher konterkariertwird; man wollte nur einmal mehr eine Streicheleinheitan die kommunalen Unternehmen ins Gesetz packen; in-haltlich schwammig, aber zumindest wird es einem warmums Herz.Ich hoffe, dass sich bis zur endgültigen Verabschie-dung des UGB noch einiges zum Positiven verändert. DieFDP wird das Projekt jedenfalls weiterhin kritisch beglei-ten.
Durchhalten ist Ihre Parole, meine Damen und Herrnvon der Koalition. In zentralen Fragen bekommen Sienichts auf die Reihe. Das Umweltgesetzbuch droht wieder zweite Teil Ihres sogenannten Klimapakets zu flop-pen. Die von Ihnen eingeleitete Anhörung der Verbändeund der Länder ist nichts als Augenwischerei. Hier wol-len Sie ein Vorankommen vortäuschen, das es gar nichtgibt. Fakt ist, dass zentrale Elemente des Umweltgesetz-buches innerhalb der Regierung immer noch nicht abge-stimmt sind. Es ist schon ein einmaliger Vorgang, dasssich die Länder nun aussuchen können, wie sie es denngerne hätten. Das ist Wünsch-dir-was-Politik.Die FDP – die sich auch viel wünscht – bestätigt mitihrem Antrag wieder einmal, dass sie der parlamentari-sche Arm der Wirtschaftsverbände ist.Ich werde mich aber jetzt nicht mit der Vorhabensge-nehmigung auseinandersetzen, sondern mit dem ebensoumstrittenen Naturschutzrecht im Umweltgesetzbuch.Hier ist es vor allem das Landwirtschaftsministerium, dasblockiert, wo es nur geht. Herr Seehofer scheint alles da-ranzusetzen, den Naturschutz so weit auszuhöhlen, dassdie Landwirte im wahrsten Sinne freie Bahn haben. Wäh-rend sich die Bundeskanzlerin auf der Bonner Biodiver-sitätskonferenz als überzeugte Ökologin präsentierte undsogar ein paar Millionen lockermachte, setzt ihr Ministerund Fraktionskollege Seehofer alles daran, den Natur-schutz in Deutschland zu beerdigen. Vielleicht ist das nurbayerisches Wahlkampfgetöse. Der zweite große Blockie-rer im Natur- und Umweltschutz ist wohl nicht zufälligder andere CSU-Minister. Im Bundesrat blockiert Bayernnoch ungenierter. Ich hoffe, dass die bayerischen Wähle-rinnen und Wähler der CSU den fälligen Denkzettel ver-passen. Diese bayerische Landesregierung gehört end-lich abgewählt.Anscheinend hatten die Blockierer bereits Erfolg: Dervorliegende Entwurf bedeutet eine erhebliche Abschwä-chung des Naturschutzes. Dabei ist die Wunschliste ausdem Hause Seehofer noch lang und noch gar nicht ab-Zu Protokollschließend geklärt. Das betrifft die Eingriffsregelung,und das betrifft den Artenschutz. Beginnen möchte ichaber mit § 1, in dem üblicherweise die Ziele des Gesetzesfestgelegt werden. Wenigstens das müsste noch hinzukrie-gen sein, denke ich mir. Aber bereits hier zeigt sich, wiewenig Ihnen der Naturschutz wert ist. Die Ziele werdenaufgeführt; das ist in Ordnung, auch wenn da ruhig einwenig mehr drin stehen dürfte. Aber sie wollen die Abwä-gung dieser Ziele mit anderen Interessen: mit Interessender Landwirtschaft, des Verkehrs, der Industrie usw.ebenfalls als Ziel festlegen. Die Abwägung ist das Ziel.Das ist nicht nur juristisch Quatsch – der Weg zum Errei-chen der Ziele wird üblicherweise in den folgenden Para-grafen konkretisiert –, das ist für den Naturschutz auch imhöchsten Maße gefährlich. Wenn die Abwägung mit an-deren Interessen ein gleichberechtigtes Ziel ist, schwindetdie Bedeutung der eigentlichen Ziele, sie stehen dann vonvornherein unter dem Damoklesschwert der Abwägung.Alle weiteren Paragrafen, die das Erreichen der Zielefestlegen, stehen unter Vorbehalt, sind praktisch nichtmehr viel wert. Das bedeutet eine massive Schwächungdes Naturschutzes. Das ist Ihr Offenbarungseid im Natur-schutz!Frau Merkel, Ihre in Bonn zugesagten 500 Millionensind für mich eine moderne Form des Ablasshandels. Sieberuhigen Ihr schlechtes Gewissen, machen aber munterweiter wie bisher mit Ihrer die Natur zerstörenden Politik.Nun zur Eingriffsregelung. Nach der bisherigen Ein-griffsregelung müssen Schädigungen an der Tier- undPflanzenwelt real, das heißt, tatsächlich ausgeglichenwerden. Bundeslandwirtschaftsminister Seehofer möchtedies gerne abschaffen. Statt eines realen Ausgleichs sollein moderner Ablasshandel entstehen. Natur kaputt, Geldgezahlt – alles paletti. So geht das aber nicht; denn ir-gendwann ist von der Natur nicht mehr viel übrig. Danützt Geld dann auch nichts mehr. Damit ist der Kern derbewährten Eingriff-Ausgleich-Regelung bedroht. DasLandwirtschaftsministerium lässt den Lobbyverbändenfreie Hand beim Zerstören der Natur – trotz der gerade zuEnde gegangenen UN-Biodiversitätskonferenz in Bonn.Nun zur SPD. Ich möchte an die Diskussionen um dieKleine Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes vom letz-ten Jahr erinnern. Unsere Kritik war, dass es nur für dienach dem europäischen Recht geschützten Arten ein ho-hes Schutzniveau gibt. Die national geschützten Artenwerden zu „Freiwild“. Die SPD hat damals gesagt, dieKleine Novelle sei dafür nicht der richtige Ort, weil damitnur das Urteil des Europäischen Gerichtshofes umgesetztwerde. Das solle aber mit dem Umweltgesetzbuch nach-geholt werden. Wir haben im Referentenentwurf einmalnachgeschaut. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als obdie SPD Wort gehalten hat: Durch einen einzigen zusätz-lichen Halbsatz sind nun auch national geschützte Artenvor der Vernichtung durch Land- und Forstwirtschaft ei-nigermaßen gefeit. Wenn man aber genau liest, sieht man,dass nur ein ganz kleiner Teil dieser Arten geschützt wird.Sie schaffen eine Zweiklassengesellschaft bei nationalgeschützten Arten. Wie bisher wird zwischen besondersund streng geschützten Arten unterschieden; so weit, sogut. Innerhalb der besonders geschützten Arten soll esnun aber besonderere und weniger besondere geben. Die
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17659
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Lutz Heilmannbisherige Definition lautete, dass besonders geschützteArten solche heimischen Arten seien, die im Inland durchmenschlichen Zugriff in ihrem Bestand gefährdet sind.Nun gibt es einen zweiten exklusiven Club der Arten. Derumfasst nur die Arten, für die Deutschland – wer auch im-mer das definieren soll – in hohem Maße verantwortlich ist.Nur für diese Arten soll es Einschränkungen für Land-,Forst- und Fischereiwirtschaft geben. Diese Arten umfas-sen aber nur cirka 10 Prozent der derzeit besonders ge-schützten Arten. Die anderen 90 Prozent können von derLandwirtschaft beliebig vernichtet werden.Denn die andere einschränkende Bedingung, die gutefachliche Praxis der Landwirtschaft, ist das Papier nichtwert, auf dem sie steht. Die wird noch schlechter, als sieohnehin schon ist. 90 Prozent der national geschütztenArten sollen also der Landwirtschaft ausgeliefert werden.Die Artenvernichtung wird also fast ungehindert weiter-gehen. Das Schlimme ist, dass noch diese Definition derbesonders geschützten Arten umstritten ist. Da der vorlie-gende Entwurf die Fassung enthält, die den Wünschendes BMU entspricht, kann sich das noch weiter ver-schlechtern. Dann bleibt von Ihrer Ankündigung, liebeSPD, vielleicht gar nichts mehr übrig.Ich fasse zusammen: Mit diesem Gesetz schaden Siedem Naturschutz. Die Eingriffsregelung steht vor demAus, die nationalen Arten bleiben Freiwild – und dasganze Gesetz steht unter Vorbehalt. So sieht fortschrittli-cher Naturschutz nicht aus; das ist ein klarer Rückschritt.
Wir debattieren heute einen Antrag der FDP zum Ge-setzgebungsverfahren des Umweltgesetzbuches, der imTitel behauptet, Bürger entlasten zu wollen. Tatsächlichgeht es den Freidemokraten natürlich darum, Unterneh-men von vermeintlichen Belastungen zu befreien und dieebenso beliebte wie unstimmige Litanei über die Unver-einbarkeit von wirtschaftlicher Entwicklung und Mit-spracherechten der Bürgerinnen und Bürger an eben die-sen Entwicklungsprozessen anzustimmen.Als wirkliche Fürsprecherinnen und Fürsprecher derBürgerrechte lehnen Bündnis 90/Die Grünen den Abbauder Beteiligungsrechte in den Planungsbeschleunigungs-gesetzen ab. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen,SRU, hat bereits mehrfach betont, dass die maßgeblichepolitische Rechtfertigung für die Beschleunigungsmaß-nahmen einer tragfähigen empirischen Grundlage ent-behrt. Weder ist eine übermäßig lange Dauer der deut-schen Zulassungsverfahren für Infrastruktur- undIndustrieanlagen festgestellt worden noch sprechen dieErgebnisse empirischer Studien dafür, dass ein relevanterZusammenhang zwischen der Verfahrensdauer und derStandortwahl von Investoren besteht. Bürgerinnen undBürger müssen Einfluss auch auf Planungen von Wirt-schaftsstandorten haben. Das ist Teil der Demokratie. Mitder Vorlage zum UGB wird jetzt der Versuch unternom-men, die Standardabsenkung durch die Beschleunigungs-gesetzgebung zum Teil wieder rückgängig zu machen,schließlich wird die Einschränkung der Öffentlichkeits-beteiligung von zahllosen Experten auch als Europa-rechtsbruch eingestuft.Zu ProtokollAn der FDP scheint diese Debatte vorbeigegangen zusein. Obwohl sie sich gern als Bürgerrechtspartei be-zeichnet, will sie Rechte von Bürgern und Bürgerinnenbeschneiden – das kann man nur bedauernd zur Kenntnisnehmen. Kernbestandteile der europäischen Vorgabenfür die Öffentlichkeitsbeteiligung sind jedoch: die Bürge-rinnen und Bürger in sachgerechter, rechtzeitiger und ef-fektiver Weise frühzeitig zu informieren; ausreichend Zeitzur effektiven Vorbereitung und Beteiligung einzuräu-men; eine frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung zu einemZeitpunkt zu initiieren, zu dem alle Optionen noch offensind und eine effektive Öffentlichkeitsbeteiligung stattfin-den kann; seitens der Behörden künftige Antragsteller zuermutigen, die betroffene Öffentlichkeit zu ermitteln, Ge-spräche aufzunehmen und über den Zweck ihres Antragszu informieren, bevor der Antrag auf Genehmigung ge-stellt wird; Zugang zu allen Informationen zu ermögli-chen, die für die entsprechenden Entscheidungsverfahrenrelevant sind und zum Zeitpunkt des Verfahrens zur Öf-fentlichkeitsbeteiligung zur Verfügung stehen.In Deutschland haben wir die bewährten Instrumenteder Einsicht in Planungsunterlagen und des Erörterungs-termins, um Gespräche aufzunehmen, über den Zweck ei-nes Antrags zu informieren und Zugang zu allen Informa-tionen zu ermöglichen. Wir lehnen es ab, auf dieseInstrumentarien zu verzichten, wenn es denn den Behör-den opportun erscheint und fordern dagegen die Auswei-tung der Öffentlichkeitsbeteiligung.In Sachen Vorhabensgenehmigung vollführt die FDPeinen weiteren Kniefall vor der Wirtschaft. Sie fordert tat-sächlich den Verzicht auf die von allen Seiten gefordertePflicht zur Kraft-Wärme-Kopplung bei Anlagen, die Ab-wärme bzw. Wärme produzieren und nennt als Beispielfossile Kraftwerke. Die am häufigsten in Deutschlandeingesetzten Kraftwerke werden mit Kohle als Primär-energie betrieben. Ihr Wirkungsgrad liegt deutlich unter50 Prozent, häufig erreichen sie nur rund 35 Prozent odernoch weniger. Das heißt, dass etwa 65 Prozent der Ener-gie nicht genutzt werden, während gleichzeitig selbst vonSteinkohlekraftwerken bis zu 860 Gramm Kohlendioxidpro Kilowattstunde ausgestoßen werden. Angesichts desKlimawandels und der Reduktionsziele, zu denen sichDeutschland verpflichtet hat, ist die Nutzung der Ab-wärme von Kraftwerken ein Gebot der Stunde. Die FDPzeigt auch mit dieser Forderung, dass sie nicht auf demStand der Technik ist, um mit dem Bundesimmissions-schutzgesetz zu sprechen, sondern sich einer Wirtschaftverpflichtet fühlt, die sich weniger am Gemeinwohl als ander Gewinnmaximierung ihrer Shareholder orientiert.Während die FDP mit ihrem Antrag offenbar den wei-teren Ausbau der Stromproduktion in Deutschland mittelsKohlekraft fördern will, fordern wir Grüne den Stoppneuer Kohlemeiler. Alle politische Energie muss sich da-rauf konzentrieren, um schnellstmöglich den Umstieg aufdas postfossile Energiezeitalter zu erreichen. Nur durcheinen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien, mitEffizienztechnologien und mit dem Reduzieren unseresEnergieverbrauchs können wir diese Aufgabe meistern.Die FDP zeigt mit ihrem Antrag, dass sie davon nichtsverstanden hat.
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17660 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17661
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Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9113 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Achten
Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanz-
reformgesetzes
– Drucksachen 16/9275, 16/9288 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses
– Drucksache 16/9467 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Tillmann
Bernd Scheelen
Carl-Ludwig Thiele
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Antje
Tillmann, CDU/CSU, Bernd Scheelen, SPD, Carl-Lud-
wig Thiele, FDP, Dr. Axel Troost, Die Linke, Britta Ha-
ßelmann, Bündnis 90/Die Grünen.
Den Gemeinden steht seit der Abschaffung der Gewer-
bekapitalsteuer zum 1. Januar 1998 ein Anteil in Höhe
von 2,2 Prozent an der Umsatzsteuer zu. Im Jahr 2007
entsprach das 3 409 Millionen Euro. Damit werden circa
6 Prozent des kommunalen Gemeindesteueraufkommens
gedeckt. Die Frage, wie diese Summe auf die Städte und
Gemeinden verteilt wird, ist also entscheidend, sodass
dieses spröde Gesetz ganz handfeste Auswirkungen auf
das kommunale Leben hat.
Derzeit erfolgt die Verteilung des Gemeindeanteils an
der Umsatzsteuer auf die einzelnen Gemeinden nach ei-
nem nicht bundeseinheitlichen Übergangsschlüssel.
Der unterschiedliche Schlüssel in den alten und neuen
Bundesländern rührt daher, dass die gemeindliche Um-
satzsteuerbeteiligung als Ersatz für den Wegfall der Ge-
werbekapitalsteuer eingeführt wurde, die Eingang in die
Schlüsselkomponenten fand. In den neuen Ländern war
dies nicht möglich, da diese Steuer dort nicht erhoben
wurde. Durch die Berücksichtung des Merkmals „Gewer-
bekapitalsteuer“ ist dieser Schlüssel nicht nur nicht bun-
deseinheitlich, sondern auch nicht fortschreibungsfähig.
Von dem Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer entfällt
derzeit auf die Gemeinden der alten Bundesländer ein-
schließlich Berlin-West – ein Anteil von insgesamt
85 Prozent und auf die Gemeinden der neuen Bundeslän-
der sowie auf Berlin-Ost – ein Anteil von 15 Prozent. Der
prozentuale Anteil der neuen Bundesländer am zugewie-
senen Umsatzsteueraufkommen war damals großzügig
berechnet. Da die Gewerbekapitalsteuer nur in den alten
Bundesländern bestand, mussten damals Schätzungen in
den neuen Bundesländern über das Einnahmepotenzial
an der Gewerbekapitalsteuer erfolgen.
Das Gemeindefinanzreformgesetz enthält nun den
Auftrag an den Gesetzgeber, die Verteilung dieses Ge-
meindeanteils am Aufkommen der Umsatzsteuer mit Wir-
kung ab dem Jahr 2009 auf einen fortschreibungsfähigen
und bundeseinheitlichen Schlüssel umzustellen, um so
den Gemeinden weiterhin eine ausreichende Finanzaus-
stattung zur Verfügung zu stellen.
Bereits zum Jahre 2003 sollte ein bundeseinheitlicher
Schlüssel die Umsatzsteuerverteilung auf die Gemeinden
regeln. Schlüsselelement sollte das Betriebsvermögen
– Sachanlagen, Vorräte, Löhne und Gehälter – sein. Das
Statistische Bundesamt hatte zwar Modellrechnungen er-
stellt, die jedoch in zahlreichen Fällen nicht nachvoll-
ziehbare Unstimmigkeiten in Bezug auf einzelne Länder
und einzelne Gemeinden aufzeigten. Nach allgemeiner
Auffassung des Bundes, der Länder und der kommunalen
Spitzenverbände konnten die vorliegenden Daten nicht
Grundlage für einen gerichtsfesten Verteilungsschlüssel
sein. Die Erhebung scheiterte. Der derzeitige Vertei-
lungsschlüssel wurde wieder verlängert und Modell-
rechnungen des Statistischen Bundesamtes mit den
Schlüsselmerkmalen „Gewerbesteueraufkommen“, „so-
zialversicherungspflichtige Beschäftigte“ und „sozial-
versicherungspflichtige Entgelte“ erstellt.
Im Gesetzentwurf wurde ein Kompromiss gewählt, der
von den drei großen Spitzenverbänden mitgetragen wird.
Der vorgesehene endgültige Verteilungsschlüssel setzt
sich zusammen aus: 25 Prozent aus dem Gewerbesteuer-
aufkommen – brutto – der Jahre 2001 bis 2006, 50 Pro-
zent aus der Anzahl der sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten am Arbeitsort – ohne Beschäftigte von Ge-
bietskörperschaften und Sozialversicherungen sowie de-
ren Einrichtungen – der Jahre 2004 bis 2006 sowie zu
25 Prozent aus den sozialversicherungspflichtigen Ent-
gelten am Arbeitsort – ohne Beschäftigte von Gebietskör-
perschaften und Sozialversicherungen sowie deren Ein-
richtungen – der Jahre 2003 bis 2005.
Beschäftigte und Entgelt werden mit dem durchschnitt-
lich gewogenen örtlichen Gewerbesteuer-Hebesatz des
jeweiligen Erfassungszeitraums gewichtet.
Die nun vorgeschlagene Regelung hat gegenüber den
anderen diskutierten Varianten den Vorteil, dass sie das
geringste Umverteilungsvolumen zwischen den Ländern
hat. Trotzdem ergeben sich natürlich Änderungen bei der
Zuweisung an die Kommunen.
Deshalb besteht Einvernehmen zwischen den Ländern
und den kommunalen Spitzenverbänden darüber, ange-
sichts der Umverteilungswirkung zum Zeitpunkt des
Schlüsselwechsels den endgültigen Schlüssel nicht voll-
ständig mit Wirkung ab dem Jahr 2009, sondern mit ei-
nem Übergangszeitraum – in Anlehnung an die Fort-
dauer des Solidarpakts II – bis 2018 einzuführen. In der
Gesetzesbegründung heißt es dazu:
Bis zu diesem Zeitpunkt sollte die Angleichung der
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der neuen
Länder so weit fortgeschritten sein, dass der ab-
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Antje Tillmann
schließende Übergang auf den endgültigen Vertei-
lungsschlüssel allenfalls geringfügige Auswirkun-
gen hervorrufen dürfte.
Ich kündige aber jetzt schon an, dass wir – sollte diese
Erwartung nicht eintreten – erneut über eine Neugestal-
tung des kommunalen Ausgleichs sprechen müssen.
In dem Übergangszeitraum von 2009 bis einschließ-
lich 2017 wird ein Übergangsschlüssel Anwendung fin-
den, der eine Kombination aus geltendem und zukünfti-
gem Schlüssel darstellt.
Folgende Stufen sind vorgesehen: In den Jahren 2009
bis 2011 geht der endgültige Schlüssel mit einem Anteil
von 25 Prozent und der geltende Schlüssel mit einem An-
teil von 75 Prozent ein, in den Jahren 2012 bis 2014 ge-
hen endgültiger und geltender Schlüssel jeweils mit
50 Prozent ein und in den Jahren 2015 bis 2017 geht der
endgültige Schlüssel mit einem Anteil von 75 Prozent und
der geltende Schlüssel mit einem Anteil von 25 Prozent
ein.
Daneben werden die Auswirkungen bei den Ländern,
die nach der Neuverteilung mit Mindereinnahmen zu
rechnen haben, durch den Länderfinanzausgleich deut-
lich abgemildert. Berechnungen haben ergeben, dass die
Umverteilungswirkung durch den Länderfinanzausgleich
um fast 60 Prozent gemildert wird. Wir werden in den
Länderparlamenten, in denen wir die Verantwortung tra-
gen, dafür sorgen, dass dieser Ausgleich auch bei den
Kommunen ankommt.
Der nun vorliegende endgültige und bundeseinheitli-
che Verteilungsschlüssel ist ein solider Baustein für die
Gemeindefinanzen. Städte und Gemeinden leisten ihre
Arbeit direkt am Bürger. Für Bildung, Erziehung, Verkehr
und Verwaltung brauchen Kommunen deshalb diese si-
chere Finanzierung. Für das Verhältnis Unternehmen/
Kommunen ist es hilfreich, wenn die Städte und Gemein-
den auch finanzielle Vorteile aus der Ansiedlung von Ge-
werbe haben.
Die Kommunen haben nun Anreize, sich um eine er-
folgreiche Ansiedlungspolitik zu kümmern. Die Abschaf-
fung der Gewerbekapitalsteuer als Substanzbesteuerung
war richtig. Die Skepsis der Kommunen hat sich als un-
berechtigt erwiesen, wir haben ihnen durch die Übertra-
gung des Umsatzsteueraufkommens Planungssicherheit
gegeben.
Wir werden dem Gesetzentwurf der Bundesregierung
daher zustimmen.
Gerade wenn es um unsere Kommunen geht, freue ichmich, weiterhin an den Anfang meiner Reden und State-ments im und außerhalb des Deutschen Bundestages im-mer noch als erste gute Nachricht setzen zu können: Nachden Ergebnissen der Steuerschätzung werden sich diekommunalen Steuereinnahmen auch in 2008 – mit leichtreduzierter Zuwachsrate – erhöhen. Seit 2006 ist es dabeinicht mehr nur die Gewerbesteuer, die einen erheblichenAnstieg aufweist. Auch die Einnahmen aus den Gemein-deanteilen an der Einkommensteuer und der Umsatz-Zu Protokollsteuer legen stark zu. Hinter der günstigen Gesamtent-wicklung verbergen sich lokale Unterschiede, zu derenAusgleich die Länder verpflichtet sind.Als zweite gute Nachricht gilt für mich die in dieserWoche anstehende Verabschiedung des Gemeindefinanz-reformgesetzes, oder, wie es im Amtsdeutsch heißt, desAchten Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanzre-formgesetzes. Es sieht vor, den derzeit geltenden Über-gangsverteilungsschlüssel für den Gemeindeanteil amAufkommen der Umsatzsteuer mit Wirkung ab dem Jahr2009 in vier Stufen – bis 2018 – auf einen endgültigen,fortschreibungsfähigen und bundeseinheitlichen Schlüs-sel umzustellen.Als Bundestagsabgeordnete sind ihnen hierzu die ent-sprechenden Drucksachen, das heißt, der Gesetzentwurfder Bundesregierung vom 26. Mai 2008 und die Be-schlussempfehlung und der Bericht des Finanzausschus-ses vom gestrigen Tage, zugegangen. Den Dokumentenkönnen sie viele fachliche Details über die jeweilige Be-deutung von einzelnen Schlüsselmerkmalen, einer He-besatzgewichtung einzelner Merkmale sowie zur Diskus-sion über zwölf Modellrechnungen des StatistischenBundesamtes im Vorfeld der Entscheidung für die jetzigeGesetzesregelung entnehmen. Dies gilt auch für die ab2018 geltende Gewichtung eines bundeseinheitlichenSchlüssels mit einem Anteil von 25 Prozent bezogen aufdas Gewerbesteueraufkommen der Jahre 2001 bis 2006,50 Prozent bezogen auf die Anzahl der sozialversiche-rungspflichtig Beschäftigten und 25 Prozent bezogen aufsozialversicherungspflichtige Entgelte.Somit könnte man zur dritten guten Nachricht überge-hen: Sowohl im für das Gemeindefinanzreformgesetz fe-derführenden Finanzausschuss als auch in den mitbera-tenden Fachausschüssen Haushalt sowie Verkehr, Bauund Stadtentwicklung wurde die Annahme des Gesetzent-wurfs mit überwältigender Mehrheit empfohlen. Von derOpposition stimmten lediglich die Kolleginnen und Kol-legen der Nachfolgeorganisation der PDS nicht für dieseVorlage. Die über zwei Legislaturperioden andauerndeintensive Beratung war somit ein Erfolg. Was langewährt, wird doch noch gut.Ich möchte heute die Gelegenheit wahrnehmen, meineAusführungen auf einige andere Dinge zu lenken, die sichmir im Laufe des langjährigen Gesetzgebungsverlaufeszum Gemeindefinanzreformgesetz darstellten: Die Not-wendigkeit einer starken und frühzeitigen Beteiligung derKommunen an allen sie betreffenden Gesetzgebungsver-fahren, die Berücksichtigung vielschichtiger unterschied-licher Interessenlagen von großen, oft finanzstarkenStädten, unseren kleineren Gemeinden und des ländlichenRaumes – somit die Stärkung kommunaler Stärken und dieVerantwortung zur Überwindung von Defiziten durch dieLänder aber auch in Zusammenarbeit mit dem Bund –, dieEinheit unseres Landes mit jedem Gesetzgebungsverfah-ren voranzutreiben und unser Versprechen im BonnerBundestag, in Berlin für unsere Bürgerinnen und Bürgerein gläsernes Parlament zu sein.Ich werde mit dem letzten Punkt anfangen: das glä-serne Parlament. Gerade dieses Gesetzgebungsverfahrenverdeutlichte: Wir sind für das „Funktionieren“, für ge-
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17662 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
gegebene Reden
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Bernd Scheelenregelte Abläufe, für die Erfüllung der uns vom Grundge-setz auferlegten Pflichten verantwortlich, aber auch da-für, dies jedem Bürger verständlich zu machen. Dahermein Verweis am Beginn meiner Rede auf die in denDrucksachen des Deutschen Bundestages und Papierendes Bundesministeriums für Finanzen nachzulesendenFachdetails zum heutigen Gesetzentwurf: ein Eldoradofür die Fachleute im Lande.Für mich ist wichtig, dass man uns vor Ort versteht:Dieses Gesetz ist keine Ergänzung unserer erfolgreichen– gerade von der SPD Fraktion vehement vorangetriebe-nen – Gewerbesteuerreform. Sie brachte im Ergebnis fürStädte und Gemeinden im letzten Jahr Rekordüber-schüsse von 8,6 Milliarden Euro, das heißt, eine erhebli-che Verbesserung der kommunalen Finanzkraft. Es dientvielmehr einer längst überfälligen Neuregelung eines ge-rechten Verteilungsschlüssels für den Anteil an der denGemeinden zustehenden Umsatzsteuer.Diese Beteiligung war 1998 in Höhe von 2,2 Prozenteingeführt worden. Damals ging es um die Kompensationfür den Einnahmeausfall durch die Abschaffung der soge-nannten Gewerbekapitalsteuer. Der Gemeindeanteil ander Umsatzsteuer wird in einem ersten Schritt auf dieLänder und dann auf die Kommunen nach bestimmten,statistisch ermittelten Kriterien, sogenannter Schlüssel-merkmale, verteilt.Das Gemeindefinanzreformgesetz von 2001, das diesregelt, war bewusst bis 2005 befristet worden; denn inihm gelten unterschiedliche Bewertungskriterien für diealten und neuen Bundesländer. Zum 1. Januar 2006 sollteim Rahmen eines neuen Gesetzes festgelegt werden, nachwelchen – für die neuen und die alten Bundesländer ein-heitlichen – neuen Schlüsselmerkmalen die Umstellungauf eine für die Zukunft fortschreibungsfähige Bewertungerfolgen könnte.Seit Anfang 2005 bemühten sich die Koalitionsfraktio-nen des Deutschen Bundestages und das Bundesfinanz-ministerium gleichermaßen um eine von den Kommunen,Ländern und dem Bund akzeptierbare Lösung. Immerhingeht es um die Neuverteilung eines Finanzvolumens von3,53 Milliarden Euro. Mit dem gefundenen Schlüssel istsichergestellt, dass die Umverteilungswirkung im erstenJahr der veränderten Verteilung mit 35 Millionen Euround nach acht Jahren mit rund 140 Millionen Euro vonsieben auf neun Länder sehr maßvoll ausfällt.Damit wurde ein guter Weg gefunden, ein Weg, bei demjeder Bürger für seine Kommune davon ausgehen kann,dass dieser nicht willkürlich ist, sondern basierend aufgesicherten statistischen Daten vorgezeichnet wird. Diefestgelegten Schlüsselmerkmale zur Zuweisung des An-teils der jeweiligen Gemeinde an der Umsatzsteuer gebenzudem einen hohen Anreiz, die Zusammenarbeit zwischenihr und der Wirtschaft zu intensivieren.Die Notwendigkeit, kommunale Interessen auf Bun-des- und Landesebene im Wege einer starken und frühzei-tigen Beteiligung zu berücksichtigen, ist ein weiteres, ge-rade aus diesem Gesetzgebungsverfahren gestärktesAnliegen – nicht nur weil dies eine Thematik ist, die ge-rade von der SPD-Bundestagsfraktion in der letzten undZu Protokolldieser Legislaturperiode vehement verfolgt und auf dieTagesordnung gesetzt wurde.Selbstverständlich gibt es zu jedem Gesetzgebungsver-fahren auch Anhörungen, zu denen auch die kommunalenSpitzenverbände, manchmal einzelne kommunale Vertre-ter, geladen werden. Ein grundgesetzlich bzw. gesetzlichverankertes Anhörungsrecht, das von den Spitzenverbän-den gefordert wird, und, wie sich das auch immer deutli-cher auf europäischer Ebene herauskristallisiert, gibt esnicht.Sie, meine Damen und Herren, werden mit Recht aufunsere parlamentarische Geschäftsordnung verweisen.Viele Geschäftsordnungen der Bundesministerien undLänderverfassungen enthalten differenzierte Anhörungs-rechte. Aber es gibt keinerlei einheitliche Regelung –auch nicht in der Handhabung. Mir genügt nicht die Be-gründung, Kommunen seien nach dem Grundgesetz Teilder Länder und keine selbstständige dritte Säule im Staat,und die Länder nähmen umfassend die Rechte der Kom-munen wahr.Kommunen sind die Basis unseres Landes. Diese Basismuss nicht nur finanziell gesichert sein. Sie muss mitge-staltend auf Landes- und Bundesebene einbezogen wer-den, das heißt, regelmäßig, ohne Einschränkung, selbst-verständlich, nicht in Abhängigkeit von der Entscheidungeines Sachbearbeiters, umfassend und nicht abhängigvom Themenkomplex sozusagen nach dem Motto: bei in-nerdeutschen Fragestellungen ja, soweit erforderlich, beieuropäischen nein oder vielleicht eingeschränkt.Dieses Gesetzgebungsverfahren zum Gemeindefinanz-reformgesetz verdeutlichte allen Beteiligten: Ohne dieVertreter des Deutschen Städtetages, des DeutschenStädte- und Gemeinebundes, des Deutschen Landkreista-ges mit ihren Fachkenntnissen und Erfahrungen vor Ortwäre die Verabschiedung des Gesetzes heute nicht mög-lich gewesen. Gerade sie förderten in vielen Gesprächenden Kompromiss zwischen den Gemeinden, zwischenKommunen und den Ländern und im Verhältnis zumBund.Vielleicht kann man anführen: Nun ja, die Notwendig-keit der Anhörung liegt hier ja quasi auf der Hand. – DenBürgern draußen sei gesagt: Rund 70 Prozent aller Ge-setze des Deutschen Bundestages – inklusive der Umset-zung europäischer Richtlinien – betreffen ihre kommuna-len Interessen vor Ort – mal offensichtlich, mal versteckt.„Gläsern“ heißt also auch: Anhörung und Beteiligungder kommunalen Vertreter auf Bundesebene. Ich persön-lich möchte mich nicht darauf verlassen, dass unsereStädte und Gemeinden als Teil der Länder von diesen aus-schließlich vertreten werden. Ich glaube, dass es hiernoch Diskussionsbedarf gibt.Auf jeden Fall möchte ich mich an dieser Stelle beimBundesfinanzminister Steinbrück und seinen Mitarbei-tern bedanken, dass in diesem Gesetzgebungsverfahrendas positive Ergebnis gerade durch eine intensive Betei-ligung der kommunalen Spitzenverbände, aber auchdurch viele Gespräche mit den Ländern erreicht werdenkonnte.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17663
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Bernd ScheelenMein letzter Punkt spricht unsere Verpflichtung undunseren Wunsch zur inneren deutschen Einheit an. Auchhierfür steht das Achte Gesetz zur Änderung des Gemein-definanzreformgesetzes.Der zu Beginn meiner Ausführungen angesprochene„bundeseinheitliche“ Schlüssel zur Umverteilung deskommunalen Anteils an der Umsatzsteuer ist ein kleiner,aber deutlicher Baustein. Gerade von unseren Kollegin-nen und Kollegen aus der Nachfolgeorganisation derPDS hätte ich erwartet, dass sie diesen meinen Hinweisbesonders hervorheben würden. Stattdessen übernahmensie wieder einmal originäre Forderungen der SPD-Bun-destagsfraktion zur Stärkung der Gewerbesteuer, um alsEinzige den vorliegenden Regierungsentwurf abzuleh-nen. Und sie wiesen in der Beratung darauf hin, das Ge-setz stelle eine Umverteilung zulasten der finanzschwa-chen neuen Bundesländer dar. Unabhängig davon, dassdies von den Betroffenen – den Ostländern und ihren Ge-meinden – nicht so gesehen wird, ist eine solche Argu-mentation populistisch und fachlich falsch.Noch einmal: Das Ziel des Gemeindefinanzreformge-setzes ist nicht eine zusätzliche Stärkung kommunaler Fi-nanzkraft. Hier sollten wir die Wirkung der Maßnahmenzur Gewerbesteuer im Rahmen der Unternehmensteuer-reform 2008 abwarten. Ziel ist die bundeseinheitliche,überfällige Neuregelung des kommunalen Verteilungs-schlüssels an der Umsatzsteuer. Es kann in sehr geringemMaße zum Auslaufen einer Bevorzugung von einzelnenGemeinden in den neuen Bundesländern führen. Dies istallen Beteiligten bekannt. Zur Abmilderung der Umver-teilungswirkung – übrigens auch in ehemals gewerbeka-pitalsteuerstarken westlichen Gemeinden – wurde diesehr lange Übergangszeit bis 2018 eingebaut. Danebenverweise ich auf den kommunalen Finanzausgleich derLänder. Wie beim Auslaufen des Solidarpakts II bis 2019sind wir sicher, dass bis zu diesem Zeitpunkt alle Voraus-setzungen für einen erfolgreichen wirtschaftlichen Auf-holprozess in den neuen Bundesländern und betroffenenwestlichen Kommunen geschaffen wurden.Als kommunalpolitischer Sprecher der SPD-Bundes-tagsfraktion stehe ich voll hinter den gemeinsam mit denLändern, den kommunalen Spitzenverbänden und demBundesfinanzministerium sowie vielen Kolleginnen undKollegen in diesem Hause diskutierten und letztlich fest-geschriebenen Gesetzentwurf zur Verteilung des Gemein-deanteils an der Umsatzsteuer ab 2009.Sie verzeihen mir meinen Ausflug in Fragestellungen,die sich mir im Verfahren auftaten und mit diesemverknüpft sind auch wenn Sie sich nicht fachlich-finanz-politisch mit Bruttogewerbesteueraufkommen, sozial-versicherungspflichtigen Beschäftigten mit und ohneHebesatzgewichtung, sozialversicherungspflichtigen Ent-gelten ohne Entgelte von Beschäftigten von Gebietskör-perschaften und Sozialversicherungen sowie deren Ein-richtungen, die als Durchschnitt für die Jahre 2003 bis2005 der Beschäftigten- und Entgeltstatistik ermitteltwurden beschäftigten. Letzteres kann übrigens in § 5Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes nachgelesen werden.Ich nehme den Gesetzentwurf zum Anlass, mich für diegute Zusammenarbeit mit den kommunalen Spitzenver-Zu Protokollbänden zu bedanken und für ihr gesetzliches Anhörungs-recht zu plädieren. Ich verweise noch einmal auf unsereVerpflichtung, als „gläsernes Parlament“ unsere Gesetzeund unsere Arbeit gläsern, das heißt, für die Bürgerinnenund Bürger verstehbar, darzulegen. Ich freue mich, dassdieses in der Öffentlichkeit zu Unrecht wahrscheinlichwenig beachtete Gemeindefinanzreformgesetz die deut-sche Einheit ein Stück voranbringen wird.
Die FDP begrüßt, dass nunmehr nach jahrelangenVorarbeiten ein Kompromiss über die Verteilung der Um-satzsteuer auf die Kommunen gefunden wurde. Hinter-grund dieser Regelung ist, dass seinerzeit von derschwarz-gelben Koalition auf Drängen der FDP die Ge-werbekapitalsteuer als reine Substanzsteuer abgeschafftwurde und die Kommunen erstmalig einen Anteil an derUmsatzsteuer erhalten haben. Dieses war ein erheblicherFortschritt, zumal für die Unternehmen bis zu diesemZeitpunkt unabhängig von Ihrer Ertragslage hinzu kam,dass zu dem Gewerbekapital auch Schulden und Schuld-zinsen gerechnet wurden.Wenn der Staat direkte Steuern wie die Gewerbesteuererhebt, dann sollte Wert darauf gelegt werden, dass dieseSteuer sich am Ertrag und damit an der Leistungsfähig-keit des Steuerpflichtigen orientiert. Dieses ist bei Sub-stanzsteuern nicht der Fall; denn diese müssen auch inVerlustjahren gezahlt werden. Hierdurch verschärft sichdie finanzielle Situation ertragsschwacher Betriebe ins-besondere in Verlustjahren. Deshalb hält es die FDP auchfür einen unglaublichen Fehler der Großen Koalition,dass im Zuge der Unternehmensbesteuerung Kosten undKostenelemente als Bemessungsgrundlage für die Kör-perschaftsteuer eingeführt wurden. Dieses ist der falscheWeg. Die FDP-Bundestagsfraktion stimmt dem Gesetz-entwurf in der vom Ausschuss verabschiedeten Fassungzu. Es handelt sich bei dieser Gesetzesvorlage um einenKompromiss, der von den Beteiligten sicher nicht alsIdeallösung betrachtet wird. Letztlich können aber wohlalle damit leben, auch die kommunalen Spitzenverbände,die die vorgesehene dauerhafte Umstellung des Vertei-lungsschlüssels für den Umsatzsteueranteil der Gemein-den als akzeptabel mittragen. Den Spitzenverbänden derKommunen ist diese Position auch durch die vorgesehenelangfristige Übergangsregelung erleichtert worden, nachder der endgültige Verteilungsschlüssel in Anlehnung anden Solidarpakt II erst 2018 voll in Kraft treten wird. DerDeutsche Städtetag hatte in einem Beschluss seines Prä-sidiums vom 12. Februar dieses Jahres einen gleitendenÜbergang vom noch geltenden Verteilungsschlüssel, derselbst nur Übergangscharakter hat, zum endgültigen Ver-teilungsschlüssel gefordert. Zu begrüßen ist es, dass dieNeuregelung zu einer Vereinheitlichung des Verteilungs-schlüssels zwischen den alten und den neuen Bundeslän-dern führt.Die jetzt auf den Weg gebrachte Anschlusslösung fürdie derzeitige Verteilung des Umsatzsteueranteils der Ge-meinden ist die letzte Phase eines grundlegenden Schrittszur Änderung der Gemeindefinanzen, den die frühereKoalition aus CDU/CSU und FDP vor zehn Jahren getanhat: die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer. Nach
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Carl-Ludwig Thielejahrelangem, teilweise erbittertem Tauziehen zwischenden damaligen Koalitionsfraktionen und der SPD-Frak-tion war diese antiquierte Steuer schließlich mit dem Ge-setz zur Fortsetzung der Unternehmensteuerreform vom29. Oktober 1997 abgeschafft worden. Den Gemeindensind damals 2,2 Prozent des Umsatzsteueraufkommensals Ersatz für den Wegfall der Gewerbekapitalsteuer zu-gesprochen worden. Die Streichung der Gewerbekapital-steuer war eine überfällige Maßnahme zu einer struktu-rellen Verbesserung der Gemeindefinanzen; denn damitwurde – neben dem Verzicht auf die Erhebung der Vermö-gensteuer im Rahmen des Jahressteuergesetzes 1997 –eine weitere Substanzsteuer aufgehoben. Substanzsteuernin der Unternehmensbesteuerung sind von Übel, weil siedie Ertragslage der Betriebe ausblenden. Sie sind auch inZeiten geringer Erträge und selbst in Verlustjahren zuzahlen und können dadurch die Existenz von Unterneh-men und damit auch Arbeitsplätze gefährden. Diese Er-kenntnis hat allerdings die Große Koalition nicht darangehindert, die ertragsunabhängigen Elemente der Ge-werbesteuer in der Unternehmensteuerreform 2008 aus-zubauen. Betriebswirtschaftliche Kosten werden jetzt vonihr steuerlich zum Teil nicht mehr als Kosten anerkannt.Die Begrenzung der Abzugsfähigkeit von Zinskostendurch Einführung der Zinsschranke und die Hinzurech-nungsbesteuerung von Zinsen, Mieten, Pachten, Leasing-und Lizenzgebühren bei der Gewerbesteuer werden aberin Zeiten ungünstiger Erträge oder Verluste zu einemschweren Ballast für die betroffenen Unternehmen wer-den. Mit ihrem Anteil an der Umsatzsteuer haben dieKommunen einen guten Tausch gemacht. Sie haben da-durch eine stabile und zukunftsträchtige Finanzierungs-quelle erhalten, die der Wirtschaft nicht schadet. Durchdie in den vergangenen Jahren nur gedämpfte Entwick-lung des privaten Konsums ist der Umsatzsteueranteil derGemeinden zwar weniger dynamisch gestiegen, als manhätte erwarten können. Die Kommunen haben aber zu-mindest von der Mehrwertsteuererhöhung durch dieGroße Koalition profitiert. Um rund 15 Prozent liegen dieUmsatzsteuereinnahmen der Gemeinden in 2008 überden entsprechenden Einnahmen in 2006.Die FDP geht den vor zehn Jahren eingeschlagenenWeg der Beteiligung der Kommunen am Aufkommen derMehrwertsteuer programmatisch weiter. Sie fordert, wieauf ihrem Bundesparteitag vom 31. Mai/1. Juni 2008 be-schlossen, eine Reform der Gemeindefinanzen mit einemErsatz der Gewerbesteuer durch einen auf 12 Prozent er-höhten Anteil der Kommunen an der Umsatzsteuer undeinen Zuschlag mit eigenem Hebesatzrecht auf die Ein-kommen- und Körperschaftsteuer in gleicher Höhe. DieKoalitionsfraktionen setzen auf immer mehr Gewerbe-steuern. Die FDP dagegen tritt nach wie vor für einen Ab-bau dieser schädlichen und mit einigen Merkwürdigkei-ten versehenen Steuer ein.
Dieser Gesetzentwurf kommt auf den ersten Blick alsein recht technokratisches Werk zur Neuaufteilung deskommunalen Umsatzsteueranteils daher. Bei genauererBetrachtung der damit einhergehenden Verteilungswir-kungen stellt man aber fest, dass der Gesetzentwurf denZu ProtokollWettbewerbsföderalismus in ganz erheblichem Umfangweiter verschärft. Trug die Verteilung des kommunalenUmsatzsteueranteils zwischen den Kommunen bisherdazu bei, dass auch Kommunen in strukturschwächerenRegionen eine gewisse finanzielle Mindestausstattung er-hielten, so werden diesen Städten und Gemeinden nun ge-zielt Mittel zugunsten ohnehin besser ausgestatteter Ge-bietskörperschaften entzogen. Durch die Neuregelungwird das Wohl und Wehe jeder einzelnen Kommune in Zu-kunft noch stärker davon abhängen, ob es ihr gelingt, ge-werbesteuerkräftige Unternehmen anzusiedeln. Damitwird die ohnehin schon häufig ruinöse Standortkonkur-renz zwischen den Kommunen weiter verschärft. Das Er-gebnis ist bekannt: Am Ende haben die Kommunen zu-sammen genommen weniger in der Tasche, die sozialeInfrastruktur wird weiter eingeschränkt.Unter dem Strich werden die Kommunen im OstenDeutschlands je nach Bundesland zwischen rund 14 und26 Prozent am Umsatzsteueranteil verlieren. Mit Aus-nahme der hessischen Kommunen werden hingegen dieKommunen im Westen per saldo mit Zugewinnen rechnenkönnen.Sicher ist es richtig, jenen Kommunen, die durch dieAbschaffung der Gewerbekapitalsteuer Einnahmerück-gänge zu verzeichnen hatten, einen angemessenen Ersatzzu verschaffen. Jedoch ist der hier vorgeschlagene Wegeiner Neuaufteilung des kommunalen Umsatzsteueran-teils völlig unangebracht. Ein adäquater Ersatz für dieGewerbekapitalsteuer, für deren Wiedereinführung auchDie Linke nicht plädiert, kann nur in der Art geschehen,dass die Gewerbesteuer in ihrer derzeitigen Ausgestal-tung und Anwendung auf den Prüfstand gehört. Dabeimuss eine angemessene Einbeziehung der Selbstständi-gen und freiberuflich Tätigen in die Steuerpflicht ebensogeprüft werden wie die Ausweitung der Bemessungs-grundlage. Darüber hinaus gilt es, der Entwicklung Ein-halt zu gebieten, dass immer weitere Unternehmensarten,hier vor allem Akteure auf den Finanzmärkten, von derGewerbesteuerpflicht entbunden werden. Nur so – undnicht etwa auf dem Wege der Umsatzsteuerneuverteilungzwischen den Kommunen – kann den Städten und Ge-meinden auch in angemessener Weise etwas für die Be-reitstellung von Infrastruktur an die Unternehmen undzur Finanzierung der Daseinsvorsorge zurückgegebenwerden.Gerne setzen wir uns mit Ihnen darüber auseinander,wie die Kommunen besser an den Gemeinschaftssteuernbeteiligt werden können, als es derzeit der Fall ist. Dabeihalten wir es für überlegenswert, den Anteil der Städteund Gemeinden am Umsatzsteueraufkommen von derzeitrund 2 Prozent auf 20 Prozent zu erhöhen und im Gegen-zug die Beteiligung an der Einkommensteuer und amZinsabschlag aufzugeben. Dabei könnte eine gerechtereVerteilung des kommunalen Umsatzsteueranteils zwi-schen den Kommunen dadurch erfolgen, dass als Vertei-lungsschlüssel die Einwohnerzahl zugrunde gelegt wird.Nach diesem Lösungsansatz könnten alle ostdeutschenLänder und alle westdeutschen Nehmerländer spürbarefinanzielle Zugewinne für ihre Kommunen verbuchen.Die Begründung des vorliegenden Gesetzentwurfes stelltbesonders heraus, wie sehr der Gesetzentwurf einen müh-
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17665
gegebene Reden
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17666 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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(D)
Dr. Axel Troostsam gefundenen Kompromiss zwischen Bund, Ländernund Gemeinden widerspiegelt. Wir sind aber ausdrück-lich optimistisch, dass auch unser Vorschlag die Zustim-mung der Länder und Kommunen finden würde. Klarmuss aber auch sein, dass allein eine gerechtere Vertei-lung des Mangels zwischen den Kommunen – die immer-hin fast 70 Prozent aller öffentlichen Investitionen schul-tern müssen – dem kommunalen Finanzierungsbedarfallein nicht gerecht wird. Hier stehen Bund und Ländergemeinsam in der Pflicht, für eine angemessene Finanz-ausstattung der Kommunalhaushalte mit Sorge zu tragen.Will man den Worten von CDU/CSU, SPD, FDP und Grü-nen glauben, dass nämlich die mittleren und unteren Ein-kommensgruppen keine weiteren Steuerbelastungen er-fahren sollen und der Staatshaushalt keiner zusätzlichenVerschuldung ausgesetzt werden soll, so wird auch in die-ser Frage kein Weg daran vorbeiführen, die Besitzer gro-ßer Vermögen und die Gewinne der großen Unternehmenstärker zur Finanzierung des Gemeinwesens heranzuzie-hen.
Wenn diese Bundesregierung einen Gesetzentwurf in
den Deutschen Bundestag einbringt, in dem das Wort
„Kommunen“ vorkommt, dann haben Städte und Ge-
meinden hinterher fast immer weniger Geld als vorher.
Insofern ist diese Änderung des Gemeindefinanzreform-
gesetzes eine denkwürdige Ausnahme von der Regel.
Denn dieses Mal haben hinterher zumindest nicht alle
Städte und Gemeinden weniger Geld, sondern nur einige.
Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, ist kein gro-
ßer Wurf für die Gemeindefinanzen. Nur der verwegenste
Optimist erwartet von dieser zerrütteten Regierungs-
koalition im Juni 2008 überhaupt noch irgendeinen gro-
ßen Wurf. Aber er ist zumindest einmal eine handwerklich
ordentliche Vorlage, die im fairen Einvernehmen mit den
kommunalen Spitzenverbänden verhandelt wurde und ei-
nen tragfähigen Kompromiss darstellt. Deshalb stimmen
wir heute auch zu.
Nach Auffassung meiner Fraktion ist es richtig, bei der
Verteilung des Gemeindeanteils am Umsatzsteuerauf-
kommen schrittweise zu einem einheitlichen Schlüssel für
Ost und West zu kommen. Es ist auch systematisch sinn-
voll, die vollständige Einführung des neuen Schlüssels an
das Auslaufen des Solidarpakts II zu koppeln, denn die
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zwischen Ost und West
muss noch weiter angeglichen sein, um einen so stark
wirtschaftskraftbezogenen Verteilerschlüssel voll wirk-
sam werden zu lassen.
Wir alle wissen, und das streitet auch die Bundesregie-
rung nicht ab, dass es sinnvollere Kriterien zur Verteilung
gäbe, die wir aber nicht anlegen können, wenn es keine
zuverlässige Datengrundlage dafür gibt. Deshalb ist es
für uns nachvollziehbar, einen Schlüssel zu finden, der
sich auf die amtliche Statistik für das Gewerbesteuerauf-
kommen sowie die Entgelt- und Beschäftigtenzahlen
stützt. Ausdrücklich begrüßen wir, dass der neue Schlüs-
sel zu verhältnismäßig geringen Umverteilungswirkun-
gen im Vergleich zum Status quo führt, zumal die Verluste
von Ländern wie Sachsen und Berlin auch noch durch
den Länderfinanzausgleich teilweise kompensiert wer-
den.
Die Hauptauseinandersetzung bei der Festsetzung
dieses Schlüssels lag bekanntlich in der Frage, wie hoch
wir das Gewerbesteueraufkommen werten. Hier wurde
ein sinnvoller Weg gefunden. Aber die Begründung der
Bundesregierung ist vor dem Hintergrund der Debatten,
die wir hier sonst führen, bemerkenswert: Die Gewerbe-
steuer ist verhältnismäßig gering gewichtet, denn Sie ist
ja so konjunktursensibel. Interessant. Ich möchte nur si-
chergehen: Reden wir hier über die gleiche Steuerquelle,
deren Aufkommenssteigerung Sie sonst immer zum An-
lass nehmen, um einen strukturellen Reformbedarf bei
den Kommunalfinanzen abzustreiten?
Mit der jüngsten Steuerschätzung haben Sie sich selbst
ins Stammbuch geschrieben: Wer bei der Konsolidierung
der Gemeindefinanzen alleine auf die Gewerbesteuer
baut, der baut finanzpolitisch auf Sand. Die Einnahmen
bei der Gewerbesteuer gehen zurück, und wenn der Auf-
schwung weiter an Dynamik verliert, dann haben wir hier
bald wieder die gleichen Diskussionen wie zuvor.
Meine Fraktion bleibt dabei: Es bedarf einer födera-
len Kraftanstrengung zur Stärkung der Kommunalfinan-
zen. Dazu brauchen wir eine Gemeindefinanzreform, in
deren Mittelpunkt die Weiterentwicklung der Gewerbe-
steuer zu einer kommunalen Wirtschaftssteuer steht. Wir
brauchen aber auch die Verankerung der Konnexität ge-
genüber den Kommunen im Grundgesetz und eine kom-
munale Altschuldenhilfe im Rahmen der Föderalismusre-
form II. Und wir brauchen eine Politik, die nicht mehr
versucht, im Windschatten konjunktureller Erholung die
versprochenen 2,5 Milliarden Euro jährliche Entlastung
für die Kommunen klammheimlich einzukassieren.
Es lässt sich auch einfacher zusammenfassen: Wir
brauchen eine andere Bundesregierung.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 16/9467, den Gesetzentwurf der Bundesregierungauf den Drucksachen 16/9275 und 16/9288 in der Aus-schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-ratung bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mitden Stimmen des restlichen Hauses angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mitden Stimmen des restlichen Hauses angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jel-pke, Petra Pau, Sevim Dağdelen, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKE
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17667
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne KastnerV-Leute in der NPD abschalten– Drucksache 16/9007 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um dieReden folgender Kolleginnen und Kollegen: KristinaKöhler , CDU/CSU, Gabriele Fograscher,SPD, Christian Ahrendt, FDP, Ulla Jelpke, Die Linke,Monika Lazar, Bündnis 90/Die Grünen und Gert Win-kelmeier.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist gegen das Ab-
schalten der V-Leute in der NPD. Der Schaden, der unse-
rer freiheitlich-demokratischen Grundordnung dadurch
droht, ist größer als die Aussicht auf Erfolg einer solchen
Maßnahme. Die Bekämpfung des Extremismus muss eben
mit Hirn und Verstand erfolgen, auch wenn man gefühls-
mäßig gerne anders entscheiden würde. Denn rein ge-
fühlsmäßig wünschen wir uns doch wohl alle, dass die
NPD und ihr antidemokratischer und antisemitischer
Rassismus von der Bildfläche verschwinden.
Aber so einfach ist es eben nicht, weil zum einen schon
fraglich ist, ob ein Verbot der NPD überhaupt zielführend
ist. Wir wissen, dass das Verbot einer Organisation noch
nie dazu geführt hat, dass ihre Anhänger plötzlich einem
anderen Weltbild folgen. Die Ideologie wird sich eine an-
dere Struktur geben und in einem anderen Gewand weiter
machen, vielleicht vorerst im Untergrund – aber dadurch
nicht weniger gefährlich, sondern nur weniger beobacht-
bar und weniger angreifbar. Die einzige dauerhafte Lö-
sung liegt daher darin, die NPD politisch zu demaskieren
und den Menschen zu zeigen, warum eine solche Partei
eine Partei des nationalen Untergangs ist und nicht des
gemeinsamen Fortschritts.
Nun gibt es aber auch einige, die sagen, dass ein Ver-
bot der NPD trotzdem das kleinere Übel wäre. Und ob-
wohl ich diese Meinung nicht teile, gibt es natürlich gute
und respektable Gründe für diesen Standpunkt. Voraus-
setzung für solch ein Verbotsverfahren ist aber – und da-
rum dreht sich ja der vorliegende Antrag – das Abschal-
ten aller V-Leute in der NPD, weil eben nur Material,
welches nicht kontaminiert ist, bei dem also zweifelsfrei
feststeht, dass kein V-Mann des Verfassungsschutzes ir-
gendetwas damit zu tun hat, in den Verbotsantrag einflie-
ßen darf. Es genügt also nicht, Zitate aus öffentlich zu-
gänglichen Quellen zusammenzukopieren, sondern es
muss sich um Material handeln, welches zweifelsfrei
nicht kontaminiert ist. Und dieses Material muss man
erstmal sammeln, und, das ist richtig, dies geht nur, wenn
alle V-Leute abgeschaltet sind und wenn man dann zwei
bis drei Jahre lang sammelt und darauf aufbauend einen
neuen Verbotsantrag vorbereitet.
Fakt ist deshalb aber, dass wir nach einem Abschalten
der Quellen für mehrere Jahre auf Erkenntnisse über das
Innere der NPD und damit auch in das mit ihr verbundene
rechtsextreme Netzwerk verzichten müssten, und das zu
einem Zeitpunkt, in dem sich die NPD auch durch die Ver-
netzung mit anderen rechtsextremistischen Strukturen
und Gruppen zunehmend noch weiter radikalisiert, zu-
gleich aber nach außen versucht, den Biedermann zu ge-
ben. Deshalb wird die intensive und auch ins Innere ge-
hende Beobachtung dieser Partei umso wichtiger. Und
deshalb wäre es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nach Mei-
nung aller unserer Experten auch grob fahrlässig, die
Quellen abzuschalten, zumal auch nach einem Abschal-
ten der V-Leute nicht garantiert wäre, dass ein neues Ver-
botsverfahren erfolgreich sein würde
Die Verfassungsfeindlichkeit einer Partei reicht dafür
ja nicht aus, sondern sie muss auch verfassungswidrig
sein. Und das heißt, man muss der NPD nachweisen, dass
sie aktiv aggressiv-kämpferisch die freiheitlich-demokra-
tische Grundordnung beeinträchtigt. Da mag nun jeder
für sich denken, eigentlich dürfte es daran bei der NPD
keinen Zweifel geben. Viele Experten haben aber erhebli-
che Zweifel, ob sich dies alleine mit offenen, nichtkonta-
minierten Materialien auch verfassungsgerichtsfest
nachweisen lässt. Mit den jetzt von manchen Ländern
vorgelegten Sammlungen lassen sich diese Zweifel nicht
widerlegen, weil noch nicht einmal sicher ist, ob die Ma-
terialien kontaminiert sind oder nicht. Alleine dass es
sich um öffentlich zugängliche Quellen handelt, sagt da-
rüber eben noch überhaupt nichts aus.
Es gibt also starke Zweifel, ob ein NPD-Verbot über-
haupt Sinn macht. Es gibt starke Zweifel, ob sich der
Nachweis eines aktiven aggressiv-kämpferischen Vorge-
hens gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung
alleine aus offenen Quellen führen lässt. Auf der anderen
Seite gibt es keine Zweifel, dass es sehr gefährlich wäre,
für Jahre auf interne Einblicke in die NPD verzichten zu
müssen.
Und es gibt auch keinen Zweifel daran, dass ein erneu-
tes Scheitern des Verbotsverfahrens ein Super-Gau für
unsere Demokratie wäre. Deshalb können wir nach Ab-
wägung aller uns vorliegenden Tatsachen uns nicht für
das Abschalten der V-Leute in der NPD aussprechen.
Vor gut einem Jahr haben wir bereits einen inhaltsglei-
chen Antrag der Fraktion Die Linke beraten. Sie wissen,
dass er derzeit keine Bereitschaft des Bundesinnenminis-
ters und der Mehrheit der CDU/CSU-Länderinnenminis-
ter gibt, ein erneutes NPD-Verbotsverfahren anzustren-
gen. Für einen neuen Verbotsantrag braucht es mehr als
nur das Abschalten der V-Leute der Verfassungsschutz-
ämter in der NPD. Wir müssen nachweisen, dass die NPD
eine verfassungsfeindliche und aggressiv-kämpferische
Partei ist. Auch wenn es uns gelingen würde, die NPD zu
verbieten, ist es naiv zu glauben, dass damit das Problem
des Rechtsextremismus gelöst sei.
Selbst wenn wir, und das will die SPD, die NPD ver-
bieten lassen könnten, so hätten wir das rechte Gedan-
kengut damit in den Köpfen noch lange nicht verdrängt.
So wünschenswert ein NPD-Verbot ist, so wenig wird es
rechte Einstellungen, rassistische, antisemitische und
ausländerfeindliche Parolen sowie gewalttätige Über-
griffe zurückdrängen oder gar verhindern.
(C)
(D)
Gabriele Fograscher
Fest steht – und hier zitiere ich den Bayerischen Ver-
fassungsschutzbericht 2007 –: „Das von der Partei ver-
tretene Staats- und Menschenbild steht im krassen Ge-
gensatz zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung.“
Das Ziel der NPD ist die Beseitigung der parlamenta-
rischen Demokratie und des demokratischen Rechtsstaa-
tes. Sie bedient sich hierzu auch aggressiver Agitation
und Propaganda. Das können und dürfen wir nicht zulas-
sen.
Leider – und das muss ich an dieser Stelle sagen –,
stellt sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der Bundes-
innenminister und die Mehrheit der CDU/CSU-Länder-
innenminister gegen ein NPD-Verbot. Unserer Meinung
nach reicht das vorhandene Material, das zur Prüfung
beim Bundesinnenministerium liegt, für ein erfolgreiches
Verbotsverfahren aus, auch wenn die Hürden für ein Par-
teiverbot in Deutschland zu Recht sehr hoch sind.
Neben der Prüfung eines NPD-Verbotsverfahrens soll-
ten wir alle rechtsstaatlichen Mittel anwenden, um
rechtsextreme Vereine und Organisationen, die auch im
vorpolitischen Raum aktiv sind, zu verbieten. Ich begrüße
ausdrücklich, dass der Bundesinnenminister auf Drängen
der Koalitionsfraktionen das Collegium Humanum und
zwei dazugehörige Vereine kürzlich verboten hat. Konse-
quent wäre es, weitere Verbote gegen solche Organisa-
tionen auszusprechen.
Der Verein Heimattreue Deutsche Jugend, HDJ, ist
eine Organisation, die zunehmend aktiver und unverfro-
rener auftritt. Die HDJ gilt als Kaderschmiede und Elite-
schule für den rechtsextremen Nachwuchs, sie agiert
paramilitärisch, pflegt den Hitlergruß und ist führerori-
entiert. Das bereits bestehende Uniformierungsverbot
wird nicht durchgesetzt, da es vor Ort meist weder der Be-
völkerung noch der Polizei bekannt ist. Hier sind die Län-
der gefordert, ihre Polizeibeamtinnen und -beamte darü-
ber zu informieren und die Bevölkerung aufzuklären. Die
HDJ ist bundesweit tätig und versucht auch über die ei-
genen rechten Kreise hinaus, Kinder und Jugendliche für
ihren Kampf gegen unsere freiheitlich demokratische
Grundordnung zu rekrutieren. Um in Jugendlichen Krei-
sen auf sich aufmerksam zu machen, hat die HDJ ein Wer-
bevideo in der Nähe von Wunsiedel in Bayern gedreht.
Dieses Video ist auf der Internetseite www.youtube.de zu
sehen und zeigt einen erschreckenden Umgang mit Kin-
dern und Jugendlichen.
Wir fordern deshalb den Bundesinnenminister auf, ein
Verbot dieser bundesweit agierenden Organisation ernst-
haft zu prüfen. Selbst wenn es gelänge, die NPD und an-
dere rechtsextreme Vereine und Organisationen zu ver-
bieten, bleibt es die Aufgabe für Politik, Staat und
Zivilgesellschaft, die Einstellungen und das braune Ge-
dankengut, die zur Zustimmung und sogar Mitgliedschaft
in rechtsextremen Vereinen und Parteien führen, zurück-
zudrängen. Studien belegen, dass rechtsextreme Einstel-
lungen keine Randerscheinung, kein Jugendproblem,
kein ostdeutsches Problem und auch kein Problem der
Ewiggestrigen sind, sondern ein Problem in der Mitte der
Gesellschaft ist. Diesem Problem müssen wir uns sach-
lich und engagiert, aber entschieden stellen, es konse-
quent angehen und es nicht nur dann, wenn es rechts-
Zu Protokoll
extreme Übergriffe oder Wahlerfolge solcher Parteien
gibt, auf die Agenda setzen.
Wir fordern die Prüfung und ein konsequentes Verbot
von Vereinen und Organisationen, die im rechtsextremen
Bereich tätig sind und die Aberkennung der Gemeinnüt-
zigkeit. Wir brauchen die verlässliche und nachhaltige
Finanzierung von Organisationen, Projekten und Initia-
tiven, die für die Stärkung der demokratischen Kultur auf
allen Ebenen – Bund, Länder und Kommunen – in unse-
rem Land arbeiten. Eine „Kultur der Gewöhnung“, wie
es in einem Spiegel-Artikel vom 2. Juni 2008 heißt, darf es
in Deutschland nicht geben.
Die FDP-Fraktion hält einen Abzug von V-Leuten ausder NPD für die falsche Konsequenz als Reaktion auf dasöffentlich gescheiterte NPD-Verbotsverfahren.Es ist die Aufgabe des Verfassungsschutzes, extremis-tische Organisationen zu beobachten, gleich welcher po-litischen Szene sie angehören. Dazu gehört auch die In-formationsgewinnung über den Einsatz von V-Leuten.Oftmals kann nur so ein klares Lagebild erreicht werden.Vielfach sind die Informationen von V-Leuten hilfreichgewesen, um gefährliche Straftaten zu verhindern.Es gibt keine Gewährleistung dafür, dass ein NPD-Verbotsverfahren erfolgreich wäre, wenn die V-Leuteheute abgeschaltet werden würden. Denn hierdurch wür-den die heute vorliegenden Erkenntnisse nicht verwert-bar. Welche Erkenntnisse und Quellen in Zukunft heran-gezogen werden könnten, um ein NPD-Verbotsverfahrenerfolgreich zu bestreiten, ist derzeit ungewiss. Es ist da-her ein Trugschluss, dass mit dem Abschalten der V-Leutedie Quellen von gestern gerichtsverwertbar werden wür-den.Kritisch ist aber zum Einsatz von V-Leuten Folgendesanzumerken: So sehr es darum geht, die rechtsextremis-tische Szene aufzuklären, so wenig darf der Einsatz vonV-Leuten in der NPD dazu führen, dass der Verfassungs-schutz eine Art Garant dafür wird, dass ein NPD-Verbots-verfahren nicht durchgeführt werden kann. Beobachtenist das eine. Eine aktive oder anders formuliert mittelbarebzw. unmittelbare Beeinflussung von Quellen durch denVerfassungsschutz darf es jedoch nicht geben. DasBVerfG hat in seinem Beschluss vom 18. März 2003 zuRecht festgestellt, dass Parteien grundsätzlich eine„staatsferne Veranstaltung“ sind, der Staat also auf diepolitische Willensbildung in den Parteien keinen Einflussnehmen darf.Das Problem des Einsatzes von V-Leuten zur Beobach-tung der „Rechten Szene“ ist nach dem gescheitertenNPD-Verbotsverfahren zu einem Problem des Verfas-sungsschutzes geworden. Es bedarf der Aufklärung, wodie intensive Beobachtung der NPD durch V-Leute zu ei-ner gezielten und wirkungsvollen Einflussnahme auf dieWillensbildung der Vorstände der NPD auf Bundes- undLandesebene geworden ist.Ich habe der Bundesregierung mit meiner Kleinen An-frage vom letzten Monat eben diese Fragen gestellt. DieBundesregierung hat die Fragen nicht beantwortet. Ins-
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17668 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Christian Ahrendtbesondere ist vollständig offen geblieben, wie durch die„Führung von V-Leuten“ die Einflussnahme auf die poli-tische Willensbildung ausgeschlossen wird.Man kann also getrost festhalten: Das NPD-Verbots-verfahren scheitert weniger an der nachrichtendienstli-chen Überwachung der NPD durch den Verfassungs-schutz, sondern vielmehr daran, wie diese Überwachungin der Vergangenheit organisiert und durchgesetzt wor-den ist. Deswegen ist der Antrag der Partei Die Linke derfalsche Ansatz, um sich dem eigentlichen Problem zu wid-men.Ich möchte mit einem Hinweis schließen. Es kommtnicht nur darauf an, sich mit einem NPD-Verbotsverfah-ren auseinanderzusetzen. Es ist ebenso bedeutsam, dieOrganisationen im Umfeld der NPD zu verbieten. Mitdem Verbot des Vereins „Collegium Humanum“ ist einAnfang gemacht. Aber wenn man sich anschaut, wielange dieser Verein existiert hat, hat das richtige Ergebnislange auf sich warten lassen.Ebenso bedeutsam ist es, die Finanzierungsquellen fürextremistische Organisationen trocken zu legen. Es kannnicht sein, dass solche Organisationen wie beispielsweiseder eben erwähnte Verein „Collegium Humanum“ dasSiegel der Gemeinnützigkeit erhalten und damit Spendenan solche Organisationen steuerlich begünstigt sind.Auch hier hat meine Kleine Anfrage vom März gezeigt,dass die Bundesregierung keinen Überblick über diesesThema besitzt. Der Bundesregierung ist etwa die Zahl vonKörperschaften, die vom Verfassungsschutz beobachtetund zeitgleich vom Staat steuerlich gefördert werden,nicht bekannt. Ebenso wenig werden Fälle von Körper-schaften registriert, denen die Gemeinnützigkeit entzogenwurde, weil ihre Verfassungsfeindlichkeit festgestelltwurde. Dies verwundert doch sehr. In einem Staat, in demdie mittlere Lufttemperatur in Petrisberg jeden Monatvom Bundesamt für Statistik akribisch festgehalten wird,ist es ein starker Tobak, dass über die Gemeinnützigkeitder verfassungsfeindlichen Körperschaften keine Notizgemacht wird.Helfen wir der NDP also nicht länger durch eine stän-dig neue Verbotsdebatte. Lassen Sie uns den rechtenSumpf im Umfeld der NPD effektiv trocken legen. Das isteffizienter, nicht so öffentlichkeitswirksam, führt aberzum selben Ziel.
Die Frage eines möglichen Verbots der NPD ist in denletzten Wochen wieder in den Hintergrund der Debattegetreten. Das hat vor allem zwei Gründe: In erster Liniehaben die Unionsinnenminister deutlich gemacht, dasssie die Voraussetzungen für ein solches Verbot – Abzugder V-Leute – nicht herstellen werden. Und zweitens ha-ben Sie mal wieder die angebliche Gefahr von links sohochgeredet, dass der tägliche Straßenterror der NPDund ihrer Unterstützer in der öffentlichen Wahrnehmungrelativiert wurde.Das verbal-radikale Auftreten einiger Innenpolitikerder Koalition hat offensichtlich keine praktischen Konse-quenzen. Weil CDU/CSU ein neues NPD-Verbotsverfah-Zu Protokollren ablehnen, die NPD jedoch weiterhin als besondersgefährlich einschätzen, wollen sie diese weiterhin beob-achten. Die SPD fordert hingegen ein erneutes Verbots-verfahren, obwohl nicht in allen SPD-geführten Bundes-ländern die Innenminister zum notwendigen Abzug derV-Leute bereit sind. Dieser Abzug ist jedoch notwendig,da das Parteienverbot „ein Höchstmaß an Rechtssicher-heit, Transparenz, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit“verlangt – so das Bundesverfassungsgericht bei der Ein-stellung des letzten Verbotsverfahrens 2003. Dies setztvoraus, dass die „Quellen in den Vorständen einer politi-schen Partei ,abgeschaltet“ sind.Damit hat das Verfassungsgericht noch gar keine Aus-sage darüber getroffen, ob bei der NPD die für ein Verbotnotwendige „aggressiv-kämpferische Haltung“ gegendie verfassungsmäßige Ordnung vorliegt. Ehrhart Kör-ting, der sozialdemokratische Innensenator Berlins, hatim April dieses Jahres festgestellt, die Verfassungswidrig-keit der NPD auch ohne V-Leute-Einsatz nachweisen zukönnen. Daher verwundert es, dass nicht alle Innenminis-ter der von der SPD geführten Bundesländer ihre V-Män-ner abziehen wollen. Es passt nicht zusammen, einerseitsauf die besondere Gefahr hinzuweisen, die von der NPDausgeht, und andererseits nicht die nötigen Schritte zu ih-rem Verbot zu unternehmen.Wie im Fall eines V-Mannes in Ostwestfalen wurde inletzter Zeit deutlich, dass der Verfassungsschutz nicht nurin Einzelfällen entgegen seines eigentlichen Auftrageshandelt. Der genannte V-Mann soll sich des Drogenhan-dels, der Körperverletzung und Verstößen gegen das Waf-fengesetz schuldig gemacht haben. Er wurde danach vonseinem V-Mann-Führer vor laufenden Ermittlungsmaß-nahmen gewarnt. Ein weiterer aktueller Fall ist der lau-fende Prozess gegen die verbotene Neonazi-Gruppe„Sturm 34“ im sächsischen Mittweida. Dort kam heraus,dass ein Angeklagter Informant des Staatsschutzes war.Bisher ist davon auszugehen, dass der Informant schonbei Gründung der Gruppe für den polizeilichen Staats-schutz tätig war.Diese Kumpanei mit einem Kriminellen ist skandalösund macht die aus diesen Quellen gewonnenen Erkennt-nisse auch nicht gerade glaubwürdig. Die Aussagen desehemaligen V-Manns Wolfgang Frenz beim ersten NPD-Verbotsverfahren belegen zudem, dass V-Leute generellnicht im Hintergrund der jeweiligen Gruppe agieren, son-dern vielmehr eskalierend und radikalisierend auf andereMitglieder einwirken. Wolfgang Frenz war von 1962 bis1995 bezahlter V-Mann bei der NPD und bis in hohe Par-teiämter aktiv. Eine solche Entwicklung liegt in der Logikverdeckter Arbeit innerhalb von Parteien, da eine Unter-wanderung eine aktive Rolle der V-Leute erfordert. Da-durch wird nichts verhindert, und im Hinblick auf einmögliches Parteiverbot ist solche Art der Unterwande-rung auch kontraproduktiv.Das gescheiterte NPD-Verbotsverfahren und auch dieaktuellen Fälle aus NRW belegen, dass eine effektiveKontrolle des Einsatzes von V-Leuten nicht möglich ist.Die Informationen, die die Bundesregierung durch denEinsatz von V-Leuten erhält, sind, wie man den Antwortenauf diverse Kleine Anfragen der Linken zum Thema
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17669
gegebene Reden
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Ulla JelpkeRechtsextremismus entnehmen kann, durchgängig sehrdürftig. Die meisten Antifa-Gruppen sind hier offensicht-lich besser informiert.Die Linke bleibt daher dabei: Die Spitzel des Verfas-sungsschutzes müssen sofort aus allen Gremien der NPDabgezogen werden. Sie tragen nichts zur Aufklärung bei,sondern sind allzu oft staatlich bezahlte Nazihetzer undKriminelle. Statt des Verfassungsschutzes sollte eine ausöffentlichen Mitteln finanzierte unabhängige Beobach-tungsstelle für Rechtsextremismus, Rassismus und Anti-semitismus geschaffen werden.
Jeder siebte NPD-Funktionär steht auf der Gehalts-liste des Verfassungsschutzes! Das wurde im Zusammen-hang mit dem gescheiterten Verbotsantrag im Jahr 2003bekannt. Auch heute noch arbeiten viele Spitzel zugleichfür NPD und Verfassungsschutz – und kassieren oft dop-pelt. Diese Strategie erwies sich vielfach als kontrapro-duktiv. Es gibt etliche absurde und peinliche Beispiele,wie Nazispitzel den Verfassungsschutz gezielt an der Naseherumgeführt haben. Trotz jahrelanger Zusammenarbeitmit V-Leuten gelang es den staatlichen Stellen nicht, dieNPD nachhaltig zu schwächen und ihren Einfluss zurück-zudrängen. Im Gegenteil: V-Leute in der Parteiführunggarantieren der NPD stetige Subventionen und sind über-dies der beste Schutz vor einem Verbotsverfahren. Dassieht nach einem einseitig guten Geschäft für die Nazi-partei aus.Das demokratische Lager muss sich natürlich fragen:Welchen Nutzen bringt uns der Einsatz von V-Leuten inden NPD-Führungsetagen? Die Linksfraktion appelliertin ihrem Antrag pauschal: Keinen Nutzen, es ist höchsteZeit, alle V-Leute abzuschalten. Dies betrachtet sie alsersten – und ausreichenden – Schritt für ein neues, dies-mal erfolgreiches Verbotsverfahren. Und das ist daswahre Ziel ihres Antrags. Seit jeher plädiert die Linke fürein schnelles NPD-Verbot als zentrale Maßnahme gegenRechtsextremismus. Wir wissen jedoch, dass ein NPD-Verbot die rechtsextreme Ideologie im Denken vielerMenschen nicht ändert. Im Gegenteil, es gäbe vielleichtsogar noch eine Art Märtyrerbonus für Nazikader. Auchsehen wir die sehr reale Gefahr, dass sich nach einem Ver-bot aktive NPD-Truppenteile unter anderem Namen neuformieren oder aus dem Untergrund weiteragieren wür-den. Darüber muss die Politik sich Gedanken machen,bevor sie symbolträchtig nach Repressionen ruft. Dennselbst wenn die NPD verboten würde, ihre Wählerinnenund Wähler können wir nicht verbieten oder wegsperren.Sie leben weiter in unserem Land, für das wir Verantwor-tung tragen. Die zentrale Frage angesichts des wachsen-den Rechtsextremismus lautet deshalb für mich: Warumerreicht aktuell die demokratische Politik so viele Men-schen nicht mehr, und wie können wir das ändern? DieseFragestellung lässt der Antrag der Linksfraktion leideraußen vor.Im Vordergrund der politischen Debatte sollte die Be-kämpfung des grundlegenden Problems stehen, nicht dasVerbot einer daraus erwachsenen Struktur. Dieses Pro-blem besteht in der rassistischen, antisemitischen undZu Protokollneofaschistischen Haltung vieler Bürgerinnen und Bür-ger. Die Verdrängung der NPD in die Illegalität würde dieUltrarechten zweifellos strukturell schwächen. Auf Nazi-ideologie und rechtsextreme Gewalt wäre sie jedochkeine geeignete Antwort. Auch müsste man mit der Bil-dung von Nachfolgeorganisationen rechnen. Ein Argu-ment für ein Verbotsverfahren – und im Vorfeld für denzwingenden Verzicht auf Informanten – ist die staatlicheParteienfinanzierung. Mich ärgert es sehr, dass die NPDdavon profitiert. Die Lösung dieses Problems liegt jedochnicht in einem Parteiverbot, sondern in der Förderungder Zivilgesellschaft, damit die NPD gar nicht erst ge-wählt wird. Starkes Demokratiebewusstsein kann rechts-extremen Parteien die Basis für ihre menschenverach-tende Politik entziehen. Demokratische Strukturenentstehen aber nicht durch Verbote! Wir müssen sie lang-fristig und quer durch alle Parteien und Gesellschafts-schichten entwickeln.Diesen Ansatz vermisse ich im Antrag der Linksfrak-tion. Stattdessen erhebt er die gern gehörte, symbolpoli-tische Forderung nach einem NPD-Verbot. „Symbolpoli-tisch“ nenne ich sie, weil die V-Leute dabei als scheinbareinziges Hindernis für ein Verbot instrumentalisiert wer-den. Die Linksfraktion legt nahe, dass einzig die Infor-manten die Zerschlagung der Nazistrukturen verhindernwürden. Dies ist weder sachlich richtig noch zielführend.Selbstverständlich verurteilen auch wir die Missständebei der Überwachung der NPD durch den Verfassungs-schutz. Angesichts öffentlicher Skandale sind Skepsisund Wachsamkeit durchaus angebracht. Es ist höchstbedauerlich, wie stümperhaft und lasch offenbar ge-wisse Überwachungen durchgeführt wurden. Wir for-dern den Verfassungsschutz auf, professioneller zu agie-ren und Informanten besser auf ihre Eignung zu prüfen.Es ist abzusichern, dass staatliche Behörden nicht Straf-taten billigend in Kauf nehmen oder gar unterstützen.Eine Überwachung, die das Selbstbewusstsein agieren-der Nazis und die Gefahren durch die NPD nur weiter er-höht, verfehlt ihr Ziel in fataler Weise.Sollen wir also sofort alle V-Leute abschalten, wie dieLinke vorschlägt? Unsere Antwort lautet: Nein. Das wärenicht realisierbar. Der Staat ist auf Informationen ausdem NPD-Umfeld angewiesen und zudem verpflichtet,aus Schutzgründen die Anonymität der V-Leute zu wah-ren. Das heißt jedoch nicht, alles könne weiterlaufen wiebisher. Die Überwachung muss viel professioneller ge-staltet werden. Die zuständigen Gremien auf Bund- undLänderebene haben ihre Kontrollfunktion gewissenhafterund konsequenter auszuüben. Erkenntnisse des Verfas-sungsschutzes müssen kooperativ ausgewertet und sinn-voll genutzt werden. Leider hat aber die Innenminister-konferenz großen Nachbesserungsbedarf aufgezeigt. MitSteuermitteln gewonnene Informationen wurden zurück-gehalten. Politikerinnen und Politiker griffen einanderöffentlich an. Von einer abgestimmten Strategie warnichts zu hören.Ohne Zusammenarbeit der demokratischen Kräftewerden wir aber scheitern. Das gilt für Repression wie fürPrävention! In unserem Land finden fast ständig ir-gendwo Wahlen statt. Lassen Sie uns mit starken Bündnis-sen und präventiven Mitteln dafür sorgen, dass die NPD
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17670 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17671
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Monika Lazardabei auf der Verliererseite steht. Dann erübrigt sich dieDebatte um V-Leute und Verbotsverfahren.
Vorab erst einmal ein ernst gemeinter Dank an die
Fraktion der FDP: Die Kleine Anfrage von Anfang Mai
dieses Jahres korrespondiert hervorragend mit dem hier
zu debattierenden Antrag meiner Partei, der Linken. Sie
spült viel Wasser auf die Mühlen derjenigen Demokraten,
denen es ein dringendes Bedürfnis ist, der NPD das – der-
zeit noch vom Staat zwangsläufig mitfinanzierte – Hand-
werk zu legen. Die „Antwort“ der Bundesregierung
scheint hingegen vermeintlich gesetzlich gestützte Stau-
dämme errichten zu wollen. Sie ist schlicht eine Frech-
heit. Nur wird diese Nicht-Antwort das Gegenteil bewir-
ken: Derart substanzlose Mauer-Versuche werden
unweigerlich durch die zu erwartenden Gegenströmun-
gen zu Fall kommen. Auch nicht gegebene Antworten sind
interpretierbare Aussagen. Ende des Jahres 2006, als
meine Partei eine ähnliche Anfrage stellte, war die Bun-
desregierung noch ein klein wenig beredter.
Mich freut es, dass die FDP in Belangen der Bürger-
rechte immer häufiger zu ihren Wurzeln zurückfindet und
– in schier endlosen Zeiten der Opposition – hier wieder
ein halbwegs verlässlicher Partner werden kann. Das
war – im Protokoll bitte fett unterstreichen! – alles andere
als ein Koalitionsangebot.
Dieses Land braucht eine neue Bürgerbewegung:
Otto-Kataloge und Schäuble 2.0 schreien förmlich nach
Opposition. Zu diesem zivilgesellschaftlichen Engage-
ment zählt zwingend das Aufbegehren gegen rechtsextre-
mistische Tendenzen, die sich immer mehr in die Mitte un-
serer Gesellschaft ausbreiten. Alle demokratisch
denkenden Menschen in Deutschland sollten denen auf
die Füße treten, wenn sie mit rassistischen und menschen-
feindlichen Parolen der NPD und der ihr anhängenden
Kameradschaften und Zusammenschlüssen konfrontiert
werden.
Wir brauchen den zivilen Widerstand – die Gesinnung.
Aber wir benötigen auch den Widerstand der Politik und
der Gesetze. Das Bundesverfassungsgericht hat Vorga-
ben für ein Verbot der NPD formuliert. Die Linke – und
jetzt auch die FDP – haben dem auf den Zahn gefühlt. Es
könnte so einfach sein! Und hier benenne ich auch einen
sicherlich nicht ausschlaggebenden Kritikpunkt an dem
Antrag meiner Partei: Der Antrag fordert, alle Spitzel aus
der NPD abzuziehen. Die Entscheidung des Bundesver-
fassungsgerichts hingegen spricht von den Führungs-
strukturen als Hindernis für ein neues Verbotsverfahren.
Vielleicht ließe sich ja an dieser Stelle ein Kompromiss
finden. Dies böte sich, nach Lektüre des Urteils von 2003,
an.
Es geht um das Ziel: Eigentlich wollen alle demokra-
tisch gesinnten Menschen in dieser Republik, dass den
Volksverhetzern der Rechten Mittel und Wege entzogen
werden, ihre Ideen zu verbreiten. Genau aus diesem
Grund erschließt sich mir nicht, weshalb die Union an
dieser Stelle versucht, diese vermeintlichen Mauern zu
ziehen.
Allerdings überkommt mich gerade die Erinnerung
ans vergangene Jahr: Es ist erschreckend und einer De-
mokratie unwürdig, wenn das Bundesministerium des In-
nern ein erneutes NPD-Verbotsverfahren ablehnt, ob-
wohl es die Partei als „verfassungsfeindlich“ einschätzt.
Es ist zynisch, die NPD als „antidemokratisch“ und „an-
tisemitisch“ einzustufen, sie aber nicht verbieten zu wol-
len, weil man die rechtsextremistische Partei dann nicht
mehr mit „nachrichtendienstlichen Mitteln“ beobachten
lassen könne.
Im Klartext heißt dies: Innenminister Schäuble und
sein treuer Adjutant, Unions-Fraktionsvize Wolfgang
Bosbach, wollen einer verfassungsfeindlichen Partei das
Parteien-Privileg gewähren, um diese weiter durch den
Verfassungsschutz beobachten zu können. Das ist eine
absurde und gefährliche Denkstruktur.
Das erste Verfahren ist 2003 zu Recht daran geschei-
tert, dass sich kaum noch unterscheiden ließ, ob die NPD
von V-Männern oder ihren eigenen Leuten geführt wird.
Es geht also bei einem neuerlichen Anlauf darum, die
Leute des Verfassungsschutzes an verantwortlicher Stelle
im NPD-Parteiapparat abzuschalten. Dann hätte ein Ver-
botsverfahren gegen die rechtsextremistische Partei gute
Chancen auf Erfolg.
Es darf nicht sein, dass der allumfassende Beobach-
tungswahn des Dr. Wolfgang Schäuble und seines Minis-
teriums dazu führt, dass eine verfassungsfeindliche Par-
tei weiterhin mit öffentlichen Geldern ihr Unwesen
treiben kann.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/9007 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom24. September 2005 zwischen der Regierungder Bundesrepublik Deutschland und der Re-gierung der Vereinigten Arabischen Emirateüber die Zusammenarbeit im Sicherheitsbe-reich– Drucksache 16/9039 –Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 16/9343 –Berichterstattung:Abgeordnete Ralf GöbelMichael Hartmann
Gisela PiltzUlla JelpkeWolfgang WielandWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll gegeben. Es handelt sich um die
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17672 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne KastnerReden folgender Kolleginnen und Kollegen: Ralf Göbel,CDU/CSU, Michael Hartmann , SPD,Dr. Max Stadler, FDP, Ulla Jelpke, Die Linke, WolfgangWieland, Bündnis 90/Die Grünen.
Der technologische Fortschritt, die kommunikative
Vernetzung und offene Ländergrenzen verändern unsere
Gesellschaft insgesamt und damit auch die Strukturen
und das Bedrohungspotenzial von Kriminellen.
Kehrseite der Globalisierung ist aber auch, dass Kri-
minelle grenzüberschreitend agieren und global vernetzt
sind. Dass auch der Terrorismus schnell an globaler
Reichweite gewinnt, zeigt der „Europol Terrorism and
Trend Report 2007“, den die europäische Polizeibehörde
Europol im März vorgestellt hat. Danach wurden allein
im vergangenen Jahr 200 islamistische Terrorverdäch-
tige in der Europäischen Union festgenommen, darunter
die im Sauerland Verhafteten. Auch der Fall des deut-
schen Islamisten Eric B., der in Pakistan oder Afghanis-
tan vermutet wird und Gesinnungsgenossen per Video-
botschaft im Internet zum Dschihad aufruft, macht
deutlich, dass die Sicherheitsbehörden international en-
ger zusammenarbeiten müssen. Sie müssen ebenso grenz-
überschreitend agieren wie Kriminelle und genauso ver-
netzt sein wie diese.
Was die Zusammenarbeit der nationalen Behörden auf
europäischer Ebene anbelangt, hat sich einiges getan: So
haben sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union
kürzlich darauf geeinigt, den Vertrag von Prüm, den sie-
ben Einzelstaaten zuvor auf völkerrechtlicher Basis ge-
schlossen hatten, in den Rechtsrahmen der Europäischen
Union zu überführen. Dieser ermöglicht unter anderem
verschiedene Formen der polizeilichen Kooperation auf
europäischer Ebene sowie den Informationsaustausch
über Terrorverdächtige. Neben einer verbesserten euro-
päischen Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden bei
der Bekämpfung von Kriminalität ist auch die Koopera-
tion auf internationaler Ebene erforderlich, um den ernst-
zunehmenden Gefahren, insbesondere denen des interna-
tionalen Terrorismus, begegnen zu können. Es ist wichtig,
internationale Netzwerke gegen den Terrorismus und die
organisierte Kriminalität auf- und auszubauen.
Neben Interpol und multilaterale Kooperationsinstru-
mente unter Federführung der Vereinten Nationen treten
dabei bilaterale Rechtsinstrumente. Um ein solches han-
delt es sich auch bei dem vorliegenden Abkommen, das
die Bundesrepublik Deutschland mit den Vereinigten Ara-
bischen Emiraten im Jahr 2005 geschlossen hat. Ziel des-
selben ist es, die Zusammenarbeit der beiden Staaten im
Bereich der Bekämpfung des internationalen Terrorismus
und der grenzüberschreitenden Kriminalität auszubauen
und so die innere Sicherheit in den Vertragsstaaten zu er-
höhen. Gegenstand der Zusammenarbeit sind die Vorbeu-
gung und Bekämpfung der organisierten Kriminalität,
des Terrorismus, der Rauschgiftkriminalität und anderer
Straftaten von erheblicher Bedeutung, die beispielhaft in
Art. 1 des Abkommens aufgelistet sind. Die Beschränkung
der Zusammenarbeit auf Straftaten mit einer gewissen
Eingriffsintensität gewährleistet, dass der andere Ver-
tragsstaat nicht wegen jeder beliebigen, geringfügigen
Straftat um Amtshilfe ersucht wird. Die aufgelisteten De-
liktsbereiche markieren zugleich die Schwerpunkte der
gemeinsamen Sicherheitspolitik.
Die Formen der Zusammenarbeit der deutschen Be-
hörden mit denen der Vereinigten Arabischen Emirate
sind abschließend in Art. 2 des Abkommens aufgelistet.
Zu ihnen gehört zunächst der Austausch von Informatio-
nen: In der Praxis müssen die Sicherheitsbehörden, um
zeitnah reagieren zu können, schnell über Daten über ver-
dächtige Personen verfügen können. Es muss den Sicher-
heitsbehörden daher möglich sein, einen schnellen Zu-
griff auf die Daten bekommen, die für eine effektive
Gefahrenabwehr und Strafverfolgung unerlässlich sind.
Nur mit möglichst umfassenden Informationen haben wir
eine Chance, Bedrohungen und Gefahren abzuwehren,
bevor es zum Schaden kommt. Deswegen können wir
nicht darauf verzichten, Informationen zu erheben und zu
vernetzen. Dafür brauchen wir effektive Ermittlungs-
instrumente sowie die nationale und internationale
Kooperation der Behörden. Die Mitgliedstaaten haben
sich daher dazu entschlossen, den Austausch von Infor-
mationen als erste Form der Zusammenarbeit im Abkom-
men festzuhalten. Danach tauschen die Vertragsstaaten
Informationen über in den Mitgliedstaaten begangene
oder geplante Straftaten und über kriminelle Organisa-
tionen, deren Strukturen und Verbindungen sowie die Mit-
tel und Methoden ihrer Tätigkeit aus, allerdings unter
dem Vorbehalt, dass dies für die Verhütung und Aufklä-
rung von Straftaten von erheblicher Bedeutung erforder-
lich ist. Damit wird sichergestellt, dass die Behörden die
Informationen erlangen, die für ihre Ermittlungsarbeit
von Bedeutung sind, über die sie aber selbst nicht verfü-
gen.
Des Weiteren sieht das Abkommen den Austausch von
Erfahrungen im Bereich der Rauschgiftkriminalität sowie
von Forschungsergebnissen vor. Hierdurch profitieren
beide Seiten vom jeweiligen Know-how des anderen Staa-
tes.
Als weitere Form der Zusammenarbeit kommt die Ent-
sendung von Verbindungsbeamten in Betracht, sofern Be-
darf besteht. Ferner können Beweismittelmuster geliefert
werden, die aus Straftaten erlangt oder für diese verwen-
det wurden oder werden können. Schließlich besteht die
Befugnis, auf Ersuchen der anderen Vertragspartei und
soweit das Recht der ersuchten Vertragspartei es zulässt,
abgestimmte operative Maßnahmen zur Verhütung und
Aufklärung von Straftaten von erheblicher Bedeutung
durchzuführen.
Zugleich sieht das Abkommen für jede Vertragspartei
die Möglichkeit der Nichterfüllung des Amtshilfeersu-
chens vor. Voraussetzung für ein solches vollständiges
oder teilweises Verweigerungsrecht ist allerdings, dass
die Erfüllung des Ersuchens die Souveränität, die Sicher-
heit, die öffentliche Ordnung oder andere wesentliche In-
teressen beeinträchtigen kann oder die Erfüllung des Er-
suchens gegen innerstaatliches Recht verstoßen würde.
Ein Ablehnungsrecht besteht auch dann, wenn das Ersu-
chen eine Handlung betrifft, die nach dem Recht des er-
suchten Staates keine strafbare Handlung darstellt.
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Ralf Göbel
Deutschland ist nach alledem nicht gezwungen, Infor-
mationen um jeden Preis an die Vereinigten Arabischen
Emirate herauszugeben. Dieses – meiner Meinung nach
unverzichtbare – Abkommen trägt dazu bei, internatio-
nale Sicherheitsnetzwerke auszubauen und derzeit beste-
hende Sicherheitslücken infolge von Informationsdefizi-
ten zu minimieren.
Mit Ihrer Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf leisten
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, einen wichtigen Bei-
trag dazu, dass das Abkommen in nationales Recht umge-
setzt werden kann und für die Bundesrepublik Deutsch-
land Rechtsverbindlichkeit erlangt.
In einer globalisierten Welt sind auch Terror und orga-
nisierte Kriminalität schon längst keine nationalen Phä-
nomene mehr. Den Netzwerken des Verbrechens sind des-
halb Netzwerke der inneren Sicherheit entgegen zu
stellen. Vor diesem Hintergrund begrüßt die SPD-Frak-
tion ausdrücklich das Abkommen zwischen der Bundes-
republik Deutschland und der Vereinigten Arabischen
Emirate über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich.
Wie mit anderen Staaten auch, so wird nunmehr die
Kooperation mit einem wichtigen arabischen Land auf
ein solides Fundament gestellt. Das ist gut und richtig.
Durch das Gesetz wird – zu dem bereits am 24. September
2005 paraphierten Vertrag – ein weiterer wichtiger Mo-
saikstein zur Befestigung unserer inneren Sicherheit von
uns eingefügt. Dass der arabische Raum besonders, aber
keineswegs nur, beim Kampf gegen den Terror eine wich-
tige Rolle spielt, liegt auf der Hand. Hier die Bande enger
zu knüpfen, liegt also in unserem wohl erwogenen Eigen-
interesse. Dass dabei stets die rechtsstaatlichen Grundla-
gen unserer Verfassung zu wahren sind, versteht sich von
selbst.
Nicht nur der Wissens- und Informationsaustausch
wird dadurch erheblich verbessert, sondern auch der
Austausch und die Mitwirkung von Beobachtern bei ope-
rativen Maßnahmen wird nunmehr stattfinden können.
Das dient der Verbesserung der Präventions- und Repres-
sionsarbeit der Sicherheitsbehörden beider Vertragspar-
teien. Obendrein werden das Verständnis und die Kennt-
nis der Mentalitäten und der Sicherheitskultur in beiden
Staaten erhöht. Der Austausch von Verbindungsbeamten
hilft dabei zusätzlich. Moderne Kriminalität findet zuneh-
mend im und mithilfe des World Wide Web statt. Daher
will ich ausdrücklich loben, dass es gelungen ist, auch
den Kampf gegen Computerkriminalität zu erfassen.
Möge das Gesetz vor allem aber das Vertrauen zwi-
schen zwei Staaten unterschiedlicher Kulturen fördern.
Denn anstatt einen „Clash of civilisations“ herbeizure-
den, wie manche dies allzu leichtfertig tun, geht es auch
hier um die vornehmste Aufgabe von Politik: Vertrauen
schaffen.
Heute diskutieren wir hier das Gesetz zur Ratifizierungdes Abkommens vom 24. September 2005 zwischen derBundesregierung und der Regierung der Vereinigten Ara-Zu Protokollbischen Emirate. Um es vorwegzunehmen: Wir werdender Ratifizierung nicht zustimmen.Erneut ist es die Bedrohung durch den internationalenTerrorismus, die einen weiteren Eingriff in die Freiheits-rechte der Bürgerinnen und Bürger rechtfertigen soll.Schon zu Zeiten der rot-grünen Bundesregierung, aberauch seit der letzten Bundestagswahl und dem damit ver-bundenen Amtsantritt von Wolfgang Schäuble als Bundes-innenminister dient die Terrorgefahr als Vorwand für di-verse Gesetze, die staatliche Überwachung ermöglichensollen oder, wie hier, über datenschutzrechtliche Bestim-mungen schlicht hinweggehen. Ungeachtet mehrerer Ent-scheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denenfestgestellt wurde, dass die Koalition beim „Schutz“ derBürgerinnen und Bürger regelmäßig zu weit geht, verfol-gen Regierung und Koalition ihre fragwürdige Sicher-heitspolitik unbeirrt weiter. Es scheint mir so, als ob dieEinschränkung von Freiheitsrechten das Einzige ist, wo-rauf sich die Koalitionsparteien noch einigen können.Bei dem Abkommen, über dessen Ratifizierung wirheute zu beraten haben, handelt es sich um einen weiterenSchritt in Richtung „gläserner Bürger“. So sehr wir Li-berale internationale Zusammenarbeit unterstützen, sowenig ändert dies etwas an unserer Haltung gegenüberdiesem Abkommen. Wir sind davon überzeugt, dass dieProbleme in einer globalisierten Welt nicht durch natio-nale Alleingänge gelöst werden können. Aus diesemGrund sind vertrauensvolle Beziehungen gerade auch zuden arabischen Staaten von herausragender Bedeutung.Gleichwohl können wir bilateralen Abkommen dannnicht zustimmen, wenn Regelungen enthalten sind, diewir auch auf nationaler Ebene seit jeher ablehnen.Mit unserer Zustimmung zu diesem Abkommen durftedie Bundesregierung schon aufgrund von Art. 10 des Ab-kommens nicht rechnen. Dass wir die Ausweitung derAufnahme biometrischer Daten in Ausweisdokumente ab-lehnen, ist allseits bekannt. Ebenso problematisch wieArt. 10 und ein weiterer Schritt in Richtung „gläsernerBürger“ ist Art. 9 des Abkommens. Dieser bestimmt, dassdie Verwendung persönlicher Daten nicht nur zu den imAbkommen geregelten Zwecken, sondern auch zur Verfol-gung „schwerwiegender Straftaten“ und zum Zweck derAbwehr von „erheblichen Gefahren für die öffentliche Si-cherheit“ möglich sein soll.Die Übermittlung und die Verwendung persönlicherDaten an unbestimmte Rechtsbegriffe zu knüpfen, ist ansich schon fragwürdig. Der Begriff der „schwerwiegen-den Straftat“ ist darüber hinaus auch noch besondersschwammig. Es bedarf also einer Auslegung dieses Be-griffes. Zu welchem Auslegungsergebnis ein Land wie dieVereinigten Arabischen Emirate kommen wird, dessenRechtssystem sich doch recht stark von unserem unter-scheidet, ist schwer zu beurteilen.Allerdings heißt es zum Beispiel auf der Internetseiteder deutschen Botschaft Abu Dhabi in einer Warnung fürBesucher der Emirate:Drogenbesitz auch in kleinsten Mengen und unterUmständen auch im Körper nachweisbarer kurz zu-rückliegender Drogenkonsum werden strengstens
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17673
gegebene Reden
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Dr. Max Stadlerverfolgt und ziehen in der Regel die Verurteilung zueiner Gefängnisstrafe nicht unter 4 Jahren nachsich.Gleichlautende Hinweise finden sich auch auf derHomepage des Auswärtigen Amtes. – Ist eine Handlung,die eine Strafe von mindestens vier Jahren Gefängnisnach sich zieht eine schwerwiegende Straftat?Es ist unserer Auffassung nach nicht auszuschließen,dass Daten, die im Sinne des Abkommens rechtmäßigübermittelt werden, anschließend zur Verfolgung von„schwerwiegenden Straftaten“ im Sinn des „innerstaat-lichen Rechts der jeweiligen Vertragspartei“ genutzt wer-den. Denn genau danach soll sich die Verwendung derübermittelten Daten richten. Für mich stellt sich daherdie Frage, warum dieser Begriff der „schwerwiegendenStraftat“ gewählt wurde. Warum hat man sich stattdessennicht auf einen Straftatenkatalog geeinigt und die Ver-wendung und die Übermittlung an die Aufklärung einersolchen Katalogtat gebunden?Auch der andere unbestimmte Rechtsbegriff wirft ei-nige Fragen auf. Wann liegt denn eine „erhebliche Ge-fahr für die öffentliche Sicherheit“ vor? Terrorismus al-lein kann nicht gemeint sein, da dessen Verhütung bereitsZweck des Abkommens ist. Art. 9 Nr. 3 Satz 2 soll geradeeine darüber hinausgehende Verwendung ermöglichen.Im Ergebnis wird durch dieses Abkommen einer will-kürlichen Verwendung persönlicher Daten Tür und Torgeöffnet.
Bei dem, was die Bundesregierung unter der Bekämp-
fung des Terrorismus versteht, wird leider in aller Regel
der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben. Das gilt auch
für die Vereinigten Arabischen Emirate, die uns von der
Bundesregierung hier als glaubwürdiger Akteur in Sa-
chen Menschenrechte verkauft werden. Doch das ist der
reine Hohn. Ich fordere Sie auf, meine Damen und Herr-
en: Lesen Sie den Länderbericht von Amnesty Internatio-
nal, und dann denken Sie noch einmal darüber nach, mit
wem Sie hier in aller Freundschaft Abkommen über poli-
zeiliche Zusammenarbeit schließen wollen.
Denn die Menschenrechte werden dort regelrecht mit
Füßen getreten. Der dortige Inlandsgeheimdienst ist be-
rüchtigt dafür, Menschen in Haft zu nehmen, weil sie an-
geblich Islamisten sein sollen, oder auch nur, weil sie es
wagen, politische Reformen zu fordern. Eine Anklageer-
hebung hält man für unnötig. Die Betroffenen bleiben mo-
natelang in sogenannter incomunicado-Haft, das heißt
ohne dass ihnen irgendein Kontakt zur Außenwelt ge-
währt wird. Manche Menschen „verschwinden“ einfach.
Die Todesstrafe wird verhängt, und grausame und ernied-
rigende Körperstrafen wie Auspeitschungen sind dort
keine Seltenheit. Wir wissen außerdem, dass in diesem
Land Homosexualität als sogenannte unzüchtige Hand-
lung verboten und unter Strafe gestellt ist.
Mit einem Wort: Die Vereinigten Arabischen Emirate
gehören mit zu den Staaten, die man nur als Menschen-
rechtsverletzer beschreiben kann. Und mit dessen Behör-
den sollen jetzt nach dem Willen der Bundesregierung po-
Zu Protokoll
lizeiliche Erkenntnisse ausgetauscht werden. Beruhigend
heißt es in dem Dokument, dass beide Seiten strikt auf Er-
forderlichkeit und Verhältnismäßigkeit zu achten hätten.
Doch von solchen Zusicherungen lässt sich Die Linke
nicht einlullen.
Denn wer kann garantieren, was mit diesen Daten pas-
siert? Wer von Ihnen legt seine Hand dafür ins Feuer,
dass die Behörden der Arabischen Emirate tatsächlich
„verhältnismäßig“ vorgehen?
Jeder, der in den Emiraten, sei es zu Recht oder auch
zu Unrecht, schwerer oder auch minder schwerer Strafta-
ten beschuldigt wird, muss damit rechnen, eingesperrt
und geschlagen zu werden oder zu verschwinden. Die
Vorstellung, dass das mit Hilfe deutscher Behörden pas-
siert, die ihren arabischen Kollegen erst die notwendigen
Informationen liefern, ist doch reiner Horror.
Wir wissen ja, dass die Bundesregierung eine emsige
Zusammenarbeit mit Folterregimen praktiziert, auch im
Militär- und Polizeibereich. Um Menschenrechte, um
Frieden und die Eindämmung illegitimer Gewalt geht es
dabei kaum, vielmehr geht es um machtpolitische Interes-
sen. Das fängt an bei den wichtigsten NATO-Verbünde-
ten, die mit ihrer Politik der weltweiten Angriffskriege
und Folterlager oftmals Gegengewalt erst hervorrufen.
Doch daran mag bis auf die Fraktion Die Linke ja keine
Fraktion in diesem Haus erinnert werden.
Abkommen mit menschenrechtsfeindlichen Staaten be-
gründet die Bundesregierung gerne damit, sie könnten
dabei helfen, eine grund- und menschenrechtsorientierte
Sicherheitspolitik zu etablieren. Ein Beispiel hierfür hat
sie allerdings bisher nicht vorgelegt. Würde sie ihre ei-
gene Begründung wenigstens selbst ernst nehmen, hätte
sie ja versuchen können, für das Gesetzgebungswerk
Menschenrechtsorganisationen zu Rate zu ziehen. Das ist
nicht geschehen.
Noch ein letzter Hinweis: Wie so oft vermischt die Bun-
desregierung auch hier Terrorismus und illegalisierte Mi-
gration. Sie will Menschen daran hindern, ohne staatli-
che Erlaubnis nach Europa zu kommen, ohne sich für
Fluchtgründe und Situation dieser Menschen zu interes-
sieren. Statt dessen wirft sie sie einfach in einen Topf mit
angeblichen Terroristen. Das ist inhuman, das ist unsach-
lich.
Die Fraktion Die Linke fordert eine an Menschenrech-
ten orientierte Außenpolitik. Davon kann im Zusammen-
hang mit diesem Abkommen keine Rede sein. Wir lehnen
den Gesetzentwurf daher ab.
Wir haben heute schon über ein Abkommen zwischender Bundesrepublik und den USA debattiert. Da habenwir gesehen, was man bei einem solchen Abkommen allesfalsch machen kann. Das nun vorliegende Abkommen mitden Vereinigten Arabischen Emiraten ist ähnlich gela-gert, aber handwerklich besser und wesentlich wenigerbedenklich als das Übereinkommen mit den USA. Aberauch in diesem Fall bleiben Probleme, die uns eine Zu-stimmung nicht möglich machen.
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17674 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17675
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Wolfgang WielandZu begrüßen sind die klareren Antworten auf die Fra-gen: Wer? Was? Warum? Das Abkommen zählt explizitauf, welche Stellen die Kooperation abwickeln. Es könnenalso nicht durch die Hintertür neue Zuständigkeiten fürandere Behörden geschaffen werden. Es herrscht auchweitgehende Klarheit über die Straftaten, bei denen dasAbkommen zum Tragen kommen kann. Die Liste ist zulang geraten. Es stellt sich schon die Frage, ob die Kfz-Kriminalität – vulgo: Autoklau – zwischen Deutschlandund Dubai ein wirklich dringliches Problem ist. „Eigen-tumskriminalität“ ist ebenfalls eine zu umfassende Kate-gorie, um einen – notorisch schwer zu kontrollierenden –Datenaustausch mit einem anderen Land immer zu recht-fertigen. Es gibt aber auch in diesem Abkommen den un-definierten Begriff „Terrorismus“, bei dem man befürch-ten muss, dass er in einer freiheitlichen Demokratie dochanders definiert ist als in einem Emirat.Aber immerhin wird deutlich geregelt, dass der Infor-mationsaustausch nur dann stattfindet, soweit dies für dieVerhinderung und Aufklärung von Straftaten von erhebli-cher Bedeutung erforderlich ist. Die Art und die Mengeder übermittelten Daten sind nach den Standards desnationalen Rechts und nach der Verhältnismäßigkeit zubestimmen. „Erheblich“, „erforderlich“ und vor allem„verhältnismäßig“ sind Worte, die man auch bei andereninnenpolitischen Projekten dieser Bundesregierung gerneöfter lesen würde.Der Datenaustausch ist also beschränkt. Es wird – so-weit das geht – die Einhaltung der eigenen Datenschutz-standards festgeschrieben und die Verwendung für an-dere Zwecke so eng limitiert wie nur möglich. Das löstnatürlich nicht das Problem, dass man Daten nicht mehrwirksam kontrollieren kann, wenn sie den eigenen Ho-heitsbereich verlassen haben. Aber es setzt ein Signal undeine Grenze, und es muss sich rechtfertigen, wer dieseGrenze überschreitet.Auch das Recht der Betroffenen wurde berücksichtigt.Sie können nach den Gesetzen ihres Heimatlandes Aus-kunft über die über sie gespeicherten Daten und den Ver-wendungszweck erhalten. Das ist nicht perfekt; aber imGegensatz zu dem Abkommen mit den USA wird hierdeutlich, dass die Betroffenen als Menschen mit schüt-zenswerten Rechten und nicht ausschließlich als Ver-dachtsmomentslieferanten betrachtet werden.Bis hierhin also Licht und Schatten, wobei das Lichtvor allem relativ ist – neben dem durch und durch ver-schatteten Abkommen, das der Bundesinnenminister mitden USA ausgehandelt hat, glänzt dieser Text.Zum Ende aber zwei klare Kritikpunkte. Da gibt esArt. 10, der – löblich und sinnvoll – die Einführung fäl-schungssicherer Reisedokumente fordert. Weniger erfreu-lich ist die Verpflichtung zur Einführung biometrischerMerkmale in diesen Papieren. Da liest sich dieses nochvon Otto Schily ausgehandelte Abkommen, mit Verlaub,eher wie eine Exportwerbung für deutsche Produkte.Das größte Bedenken ergibt sich aber aus dem Ver-tragspartner. Auch wenn es in letzten Jahren Fortschrittegegeben hat, bleiben die Emirate ein bestenfalls vorde-mokratischer Staat, in dem rechtsstaatliche Ansätze vonEntscheidungen nach der Scharia überlagert werden. Esgibt immer wieder Berichte über Folter in den Emiraten.So wünschenswert es ist, für die Bekämpfung des isla-mistischen Terrorismus Partner zu gewinnen, geradeauch im arabischen Raum: Es fragt sich, ob angesichtsdes Umgangs mit politischer Opposition tatsächlich nurder Extremismus bekämpft wird, den auch wir bekämp-fen, oder ob eben nicht auch demokratisch orientierte Be-wegungen als Terroristen verunglimpft und verfolgt wer-den. Solange das nicht sicher zu sagen ist, sollte man sichnicht der Gefahr aussetzen, unwillentlich dazu Beihilfe zuleisten. Insofern können wir nur hoffen, dass die Bundes-regierung bei der Umsetzung dieses Abkommens entge-gen ihren sonstigen Gewohnheiten einmal vorsichtig undumsichtig mit sensiblen Daten umgeht.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 16/9343, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 16/9039 anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu
erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalition bei
Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und FDP und
Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses zu dem
Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler,
Omid Nouripour, Volker Beck , weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Humanitäre Standards bei Rückführungen
achten
– Drucksachen 16/4851, 16/7347 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff
Ulla Jelpke
Josef Philip Winkler
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Hans-Wer-
ner Kammer, CDU/CSU, Rüdiger Veit, SPD, Hartfrid
Wolff , FDP, Ulla Jelpke, Die Linke, Josef
Philip Winkler, Bündnis 90/Die Grünen.
Was ist flüssiger als flüssig? Überflüssig. Diese Be-schreibung passt sehr gut auf den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen „Humanitäre Standards beiRückführungen achten“. Erstens: Deutschland hält be-reits aufgrund der internationalen Abkommen, ich ver-weise hier auf die Europäische Menschenrechtskonven-tion, derartige Standards ein. Es ist doch eineSelbstverständlichkeit, dass Deutschland bei Rückfüh-
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Hans-Werner Kammerrungen die humanitären Grundsätze und die Menschen-rechte achtet.Insofern sollten wir nicht noch eine Reihe von generel-len Abschiebeerschwernissen einführen, die Drittstaats-angehörigen zu leichte Möglichkeiten bieten, der Ab-schiebung zu entgehen. Ich betone ausdrücklich, dass ichniemanden mit pauschalen Verdächtigungen belegenwill, aber wir dürfen die Augen nicht vor dem Faktumverschließen, dass es auch Menschen gibt, die Möglich-keiten, einer Abschiebung zu entgehen, missbrauchen.Insbesondere der absolute Abschiebestopp für Traumati-sierte, den die Grünen in ihrem Antrag fordern, führt jaschon jetzt bei Rückführungen zu einem erheblichenMissbrauch. Mit dem Hinweis auf eine Traumatisierunghaben viele Personen, insbesondere Frauen, versucht, ei-ner Abschiebung zu entgehen. Wundersamerweise war invielen Fällen bei Rückführung in das Heimatland einemedizinische Hilfestellung nicht mehr erforderlich. Ge-rade wenn es weitere bzw. andere Gründe für eine Ab-schiebung gibt, darf ein Drittstaatsangehöriger sich nichthinter einer Traumatisierung verstecken. Ich möchte hierniemanden unter einen Generalverdacht stellen, aberumso wichtiger ist an dieser Stelle die Einzelfallprüfung.An dieser Stelle genießt das Bundesamt für Flüchtlingeund Migration mein vollstes Vertrauen.Die Einführung künstlicher Abschiebehindernissehalte ich zudem für kontraproduktiv. Sobald wir dieSchwelle für Abschiebungen und den Kreis der schutzbe-dürftigen Personen erweitern, helfen wir vor allem denSchleuserbanden, die Menschen um ihr Hab und Gut inder Heimat bringen, indem sie mit immer mehr Verspre-chen die Menschen hierher schleusen und ihre Notsitua-tion schamlos ausbeuten. Es kann nun wirklich keinerwollen, dass wir mit immer mehr künstlichen Abschiebe-hindernissen neue Anreize für Schleuserbanden schaffen.Jeder, der aus berechtigten Gründen nicht abgescho-ben werden kann, wird auch in Deutschland nicht abge-schoben. Das ist in Deutschland und in Europa Standard,auch ohne Ihren Antrag.Angestoßen durch die deutsche EU-Ratspräsident-schaft, hat zudem die portugiesische Ratspräsidentschafteinen entsprechenden Richtlinienentwurf neu initiiert.Nach mehrjährigen Verhandlungen haben sich die EU-Innenminister heute auf gemeinsame Regelungen zur Ab-schiebung verständigt. Mit dieser Einigung sind wir ei-nen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer gemeinsameneuropäischen Migrationspolitik gegangen. In einemEuropa ohne Grenzen muss es auch eine einheitliche Mi-grationspolitik geben. Erst durch einheitliche Standardskönnen wir auch die Bedingungen der Menschen, die un-ter unmenschlichen Bedingungen hier zum Teil ein Skla-vendasein führen, verbessern. Dazu gehört zum Beispiel,dass die EU-Kommission künftig die Haftbedingungenkontrollieren kann und so einheitliche Standards gewähr-leistet werden können. Ich bin mir in diesem Zusammen-hang sicher, dass es in Deutschland relativ wenig Verbes-serungsbedarf gibt.Zudem begrüße ich es ausdrücklich, dass Wiederein-reiseverbote, die in den einzelnen Mitgliedstaaten ver-Zu Protokollhängt wurden, dann EU-weit gelten werden. So ist eine ef-fektive Bekämpfung von Schleuserbanden und anderenkriminellen Aktivitäten erst möglich.Ich bin zudem erfreut, dass sich die EU-Innenminister-konferenz heute in Luxemburg auf eine Begrenzung derAbschiebehaft auf 18 Monate geeinigt hat, also so, wie esbisher in Deutschland schon gesetzlich geregelt ist. Tat-sächlich ist es so, dass die durchschnittliche Haftdauer inDeutschland weit darunter liegt.Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf die im In-nenausschuss und auch hier bereits geführte Diskussionum die Abschiebehaft eingehen. Während die FraktionBündnis 90/Die Grünen in ihrem Antrag die Abschiebehaftals letztes Mittel anerkennen, schießt in dieser Diskussionmal wieder die SED-Nachfolgepartei Die Linke den Vogelab, indem sie eine generelle Abschaffung der Abschiebe-haft fordert. Dass gerade Sie nach über 40 Jahren Re-pression gegen das eigene Volk an dieser Stelle mit huma-nitären Argumenten kommen, ist schon ein Hohn. Undwir haben in der vergangenen Woche in diesem Hause jawieder erleben dürfen, wer schon Hand in Hand mit demUnrechtssystem DDR gearbeitet hat, Ihr Fraktionsvorsit-zender, Herr Gysi. Dass Herr Gysi nur einer von vielen inder Partei Die Linke ist, die das System unterstützt haben,ist keine Neuigkeit. Bei vielen Gelegenheiten dokumentie-ren Sie immer wieder Ihre Nähe zu den Erfüllungsgehil-fen des Systems. Wer Leute in seinen Reihen duldet, dieBautzen mitzuverantworten haben, der sollte eine De-batte um humanitäre Haftbedingungen mit mehr Augen-maß führen.Es gibt übrigens ein effektives Mittel, die Abschiebe-haft zu verhindern: nämlich die freiwillige Ausreise beiangeordneter Abschiebung. Darüber hinaus kommenauch nur die Personen in Abschiebehaft, die nicht glaub-würdig versichern können, dass sie sich der Abschiebungin irgendeiner Form entziehen können. Nur in solchenFällen ist eine Abschiebehaft vorbehaltlich des richterli-chen Einverständnisses vorgesehen. Ich erlaube mir indem Zusammenhang den Hinweis, dass es sich bei der il-legalen Einreise immer noch um einen Straftatbestandhandelt.Die CDU/CSU-Fraktion lehnt nicht nur vor dem Hin-tergrund der heute getroffenen Einigung, die noch der Zu-stimmung des EU-Parlamentes bedarf, den Antrag vonBündnis 90/Die Grünen ab. Wir halten Ihren Antrag auchim Hinblick auf die Abschiebehindernisse für kontrapro-duktiv. Gerade mit der Einführung der Traumatisierungführen Sie eine sehr undifferenzierte Bedingung zur Ver-hinderung einer Abschiebung ein, die möglicherweise ei-ner missbräuchlichen Nutzung Tür und Tor öffnet. Fernerhalten wir in Deutschland die humanitären Standards inden Haftanstalten ein. Und es ist in Deutschland eineSelbstverständlichkeit, dass Rückführungen aus Deutsch-land unter Einhaltung des Menschenrechtes und rechts-staatlicher Gesichtspunkte vollzogen werden.Zum Schluss möchte ich mich noch bei Herrn Staats-sekretär Altmaier dafür bedanken, dass die verhandelteEU-Rückführungsrichtlinie in vielen Teilen die Hand-schrift der CDU trägt.
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17676 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
gegebene Reden
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Der Antrag, den wir heute diskutieren, fordert die Ein-haltung menschenrechtlicher Normen bei Rückführun-gen. Dass dieses Anliegen als solches meine Unterstüt-zung findet, wird Sie nicht überraschen. Die Achtung derMenschenrechte auch gegenüber denen, denen ein Auf-enthaltsrecht in Europa versagt wird, muss für uns als In-nenpolitiker und Europäer eine Selbstverständlichkeitsein. Ich zitiere aus dem Haager Programm: „Der Euro-päische Rat fordert zur Festlegung einer wirksamenRückkehr- und Rückübernahmepolitik auf, die auf ge-meinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass diebetreffenden Personen auf humane Weise und unter voll-ständiger Achtung ihrer Menschenrechte und Würde zu-rückgeführt werden.“ Doch Anspruch und Wirklichkeitsind nicht immer leicht zu vereinen. Im Ringen um euro-päische Kompromisse muss sich der menschenrechtlicheAnspruch immer wieder gegen Einzelinteressen aus ins-gesamt 27 Mitgliedstaaten durchsetzen, die oft genug vonnationalen, auf Abwehr gerichteten Prinzipien geleitetsind. So kann es nicht erstaunen, dass auch die Diskus-sionen über die Rückführungsrichtlinie von heftigstenKontroversen begleitet sind. Diese haben den Anlass ge-geben, dass sich die slowenische Ratspräsidentschaft umKompromissgespräche bemüht hat.Nun haben sich der Berichterstatter und die sloweni-sche Ratspräsidentschaft am 23. April 2008 auf einenKompromiss einigen können. Die aktuelle Fassung derRichtlinie nach diesem Kompromiss liegt mir noch nichtvor. Ich muss mich daher auf Angaben unserer Kollegin-nen und Kollegen aus Brüssel verlassen. Sie deuten da-rauf hin, dass einige Verbesserungen erreicht werdenkonnten, aber kritische Punkte bestehen bleiben. LassenSie mich beispielhaft drei Aspekte aufgreifen. Die Höchst-dauer der Abschiebehaft wurde auf maximal sechs Mo-nate, in Ausnahmefällen auf bis zu 18 Monate festgesetzt.Dabei muss die Haft in vernünftigen Abständen überprüftwerden. Leider aber fehlt es an einer genaueren zeitlichenEinschränkung, wann die Haftprüfung erfolgt. Die frei-willige Ausreise soll die Regel darstellen. Nach Prüfungdes Einzelfalls soll eine Frist zwischen sieben und 30 Ta-gen festgesetzt werden. Zwar sind die Mitgliedstaatenverpflichtet, die Betroffenen über diese Möglichkeit zuinformieren, gleichwohl ist die Frist nicht nur kurz be-messen, sondern soll zudem nur auf Antrag eingeräumtwerden. Zuletzt sollen Mitgliedstaaten bei Abschiebungs-anordnungen ein Wiedereinreiseverbot verhängen, dasbis zu fünf Jahre betragen kann. Dies wurde von vielenSeiten als zu lang kritisiert.All dies wird nur vor dem Hintergrund verständlich,dass die bisherigen innerstaatlichen Standards in denMitgliedstaaten stark auseinandergehen. Während dieInhaftierung in Zypern und Frankreich auf höchstens ei-nen Monat begrenzt ist, ist sie in immerhin acht europäi-schen Staaten zeitlich unbegrenzt möglich. Während diefreiwillige Ausreisefrist in Deutschland bis zu sechs Mo-nate betragen kann, kennen mehrere europäische Staatengar keine Frist, sondern nur die sofortige Ausreise. Wäh-rend in mehreren Mitgliedstaaten – je nach Fallkonstel-lation – eine Wiedereinreise bereits nach einem Jahr wie-der möglich sein kann, kann in anderen, hierunter auchZu ProtokollDeutschland, dem Gesetz nach theoretisch ein unbegrenz-tes Wiedereinreiseverbot verhängt werden. Insbesonderedas Beispiel der Abschiebehaft führt zur entscheidendenFrage: Soll man einem im Detail kritikwürdigen Kompro-miss zustimmen, um wenigstens minimale Garantien zuerreichen, wo in manchen Mitgliedstaaten gar keine be-stehen?Dies ist die Frage, die unsere Kolleginnen und Kolle-gen im Europäischen Parlament derzeit umtreibt. Uns imDeutschen Bundestag sollte der Austausch mit eben die-sen Kolleginnen und Kollegen umtreiben, um das Er-reichte zu würdigen, aber auch die verbleibenden Kritik-punkte zu erkennen. Und eben diese führen uns zu derAufgabe, die vor uns liegt: Wo wir mit dem Kompromissnicht einverstanden sind, müssen wir unsere nationalenRegelungen mit ihm vergleichen und überprüfen, ob wiran günstigeren Regelungen – so etwa im Bereich der Fristfür die freiwillige Ausreise – festhalten oder gar neueschaffen möchten. Denn wie immer im Bereich des euro-päischen Asylrechtes gilt: Es steht den Mitgliedstaatenfrei, innerstaatlich günstigere Bestimmungen zu schaffen.Mit dem Zuwanderungsgesetz haben wir zumindest imBereich der geschlechtsspezifischen Verfolgung ein Bei-spiel dafür gegeben. In § 60 Abs. 1 Satz 3 Aufenthaltsge-setz haben wir die Regelung getroffen, dass eine Verfol-gung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmtenGruppe auch dann vorliegen kann, wenn sie allein an dasGeschlecht anknüpft. Die Qualifikationsrichtlinie siehthier in Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d Satz 3 zweiter Halbsatzeine deutliche Einschränkung vor. Hiernach können ge-schlechterbezogene Aspekte berücksichtigt werden,rechtfertigen aber für sich allein genommen noch nichtdie Annahme, dass dieser Artikel anwendbar ist.Wegen weiterer Einzelheiten zum vorliegenden An-tragstext verweise ich auf die Rede, die ich im Rahmender ersten Lesung am 29. März 2007 gehalten habe. Ichmöchte daher mit folgendem Appell schließen: Lassen Sieuns die europäische Diskussion als einen Prüfauftrag imeben genannten Sinne verstehen. Diesen allerdings müs-sen wir auf Grundlage der aktuellen Verhandlungsergeb-nisse umsetzen. Der heute diskutierte Antrag hingegenwendet sich noch an die deutsche Ratspräsidentschaft,die bekanntlich vorbei ist, und greift den aktuellen Ver-handlungsstand nicht auf. Aus diesem Grund ist er trotzrichtigen Grundanliegens abzulehnen.Hartfrid Wolff (FDP):Der Umgang mit illegal sich in Deutschland auf-haltenden Menschen betrifft durchaus auch das Selbst-verständnis einer freiheitlichen Gesellschaft und diegrundsätzlichen Fragen der Durchsetzung unsererrechtsstaatlichen Ordnung. Natürlich gilt auch aus libe-raler Sicht, dass mit dem Instrument der Abschiebehaftsehr behutsam umgegangen werden muss. Es gibt eineganze Reihe von Verbesserungsmöglichkeiten, die umge-setzt werden müssen. Grundsätzlich halten wir die Ab-schiebehaft für durchaus gerechtfertigt und in manchenFällen auch für unumgänglich.Die Grünen benennen konkrete Probleme in ihrem An-trag und zeigen einige Lösungsvorschläge auf. Das ist
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17677
gegebene Reden
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Hartfrid Wolff
nicht selbstverständlich, wenn man bedenkt, was fürWünsch-dir-was-Kataloge zu dieser Thematik hier vonmanchen vorgelegt werden. Doch auch die Grünen be-leuchten in ihrem Antrag – vielleicht nicht unbeabsichtigt –nur Teilaspekte und übersehen den Gesamtzusammen-hang.Natürlich sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt, umHindernisse für die Abschiebepraxis zu errichten. So istdie Forderung der Grünen, die Abschiebehaft dürfe kei-nesfalls die Dauer von sechs Monaten überschreiten,wohlfeil. Schnelle Entscheidungen schaffen Klarheit füralle. Leider haben die Grünen keine Vorschläge gemacht,wie die Abschiebeverfahren beschleunigt werden können.Bereits im Koalitionsvertrag 1998 hatten die Grünen un-terschrieben, die Praxis der „Abschiebehaft im Licht derVerhältnismäßigkeit zu prüfen“. Sie hatten doch siebenJahre Zeit dazu, das zu tun und es besser zu machen. Wasist denn daraus geworden?Wir stimmen den Grünen aber zu, wenn sie in ihrer An-tragsbegründung auf die drei essenziellen Aspekte hin-weisen, die die EU-Kommission beschlossen hat. Dem-nach müssen das Primat der freiwilligen Rückkehrgestärkt, verfahrensrechtliche Mindestgarantien gesi-chert und die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden. Aller-dings vermittelt auch der vorliegende Grünen-Antrag denEindruck, schön klingende Forderungen nicht bis in dieletzte Konsequenz durchdacht zu haben – oder diese nichtoffensichtlichen Konsequenzen letztlich sogar zu wün-schen. Wer unbegleitete Minderjährige, Behinderte, Alteund Schwangere insgesamt von Abschiebung vollständigausnehmen will, sagt letztendlich: Ihr dürft illegal einrei-sen – ist zwar nicht erlaubt, aber wir machen nichts da-gegen! Organisierte kriminelle Schleuser könnten so zueiner „Spezialisierung“ neigen, wenn absolute Regelun-gen in dieser Form geschaffen werden. Wer auf Abschie-bung verzichtet, sagt: Ihr könnt zuwandern. Das ist einweitgehendes Aushöhlen unserer zuwanderungsrechtli-chen Regeln.Ich halte nichts davon, mit humanitär klingenden For-derungen grundsätzlich den Vollzug des deutschen Aus-länderrechts zu untergraben. Wir sollten gemeinsam einrationales Verfahren entwickeln, das festlegt, wie vieleMenschen hier derzeit integrierbar sind, welche nachwirtschaftlichem Bedarf, etwa gemäß dem von der FDPvorgeschlagenen Punktesystem, zuwandern dürfen undwelche Zuwanderer wir aus humanitären Gründen auf-nehmen wollen. Gerade im letzten Punkt müssen wir dasIndividuum achten. Das ist ehrlicher, als immer wiederneue Anläufe zu nehmen, illegalen Migranten die ohnehinschon nicht recht dichten Türen zur Zuwanderung weiterzu öffnen.Unter den Lösungsangeboten der Grünen für dieSicherstellung humaner Standards bei Rückführungenüberwiegt leider die weitgehende Erschwerung oder dergenerelle Verzicht auf Abschiebungen. Damit ist nieman-dem gedient, insbesondere den Menschen nicht, die legalund unter Beachtung der Gesetze der BundesrepublikDeutschland hierher eingewandert sind und sich recht-mäßig im Lande aufhalten. Eine individuelle Bewertungist notwendig. Institutionalisierte und automatischeZu ProtokollNachsicht mit denen, die sich nicht an unsere Rechtsord-nung halten, kann das Ansehen aller Zuwanderer beein-trächtigen und die Rechtstreue im Alltag aushöhlen. Auchdeswegen bleibt die Abschiebehaft ein letztes, aber legi-times Mittel, den Abschiebevollzug sicherzustellen.
Die Fraktion der Grünen legt heute einen Antrag zurAbstimmung vor, für den es eigentlich schon zu spät ist.Denn just heute hat das Europäische Parlament den Ent-wurf der so genannten Abschiebe-Richtlinie angenom-men, der leider von den hier geforderten Standards weitentfernt ist. Beispielsweise soll nun EU-weit eine Ab-schiebehaft von bis zu 18 Monaten möglich sein.Schlimmer noch: Nach der ersten Debatte über diesenAntrag vor über einem Jahr hat die Koalition von Unionund SPD noch weitere Verschärfungen bei der Abschie-behaft vorgenommen. Sie wurde erstens ergänzt um dieDurchbeförderungshaft für Überstellungen im Rahmender Dublin-Verfahren. Zweitens wurde für den sogenann-ten Transitgewahrsam in Flughäfen eine 30-Tage-Fristeingeführt, nach der dieser Gewahrsam überprüft werdenmuss. Damit wurde diese Form der Inhaftierung über-haupt erst mal reglementiert. Aber der eigentliche Skan-dal, dass man Menschen am Flughafen festhält, ohne sieeinreisen zu lassen, der ist geblieben. Den größtenKlopper hat sich die Koalition aber mit der Inhaftie-rungsbefugnis für die Ausländerbehörden geleistet. DieAusländerbehörde wird nach über 40 Jahren wieder zurFremdenpolizei. Sachbearbeiter ohne jede juristische Be-fähigung können Menschen in Haft nehmen lassen, weilsie glauben, dass diese sich einer Abschiebung entziehenkönnten. Erst im Anschluss muss ein Richter darüber ent-scheiden.Das ist aber auch keine ausreichende Sicherung gegeneine fehlerhafte Einweisung in Abschiebehaft. MehrereUntersuchungen belegen, dass Urteile von Amtsgerichtenzur Verfügung von Abschiebehaft oft fehlerhaft sind. Aberden Betroffenen werden systematisch die Mittel verwei-gert, sich dagegen juristisch zur Wehr setzen zu können.Mit der nun von der Koalition in die Wege geleiteten Re-form der Freiwilligen Gerichtsbarkeit wurde der Rechts-schutz ausgehebelt, indem die Berufungsmöglichkeitenfaktisch abgeschafft wurden und den Betroffenen der Wegzum Oberlandesgericht versperrt bleibt.Und es muss auch noch einmal darauf hingewiesenwerden, dass mindestens ein Drittel der Abschiebehäft-linge entlassen wird, ohne abgeschoben zu werden. Indiesen Fällen ist die Abschiebehaft ganz klar rechtswid-rig und mit rechtsstaatlichen Prinzipien nicht vereinbar.In einem Rechtsstaat gilt die Zweckbindung von Geset-zen. Die Abschiebehaft gilt der Durchsetzung der Ab-schiebung. Offensichtlich werden aber Menschen in Ab-schiebehaft genommen, obwohl man gar nicht weiß, ob esüberhaupt zu einer erfolgreichen Abschiebung kommt.Das ist ganz klar ein willkürliches Verhalten der Behör-den!Abschiebehaft wird mehr und mehr als Druckmittelder Ausländerbehörden eingesetzt. Mit der Länge der Ab-schiebehaft steigt der Anreiz für die Behördenmitarbeiter,
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17678 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
gegebene Reden
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Ulla Jelpkediese als Druckmittel einzusetzen. Und zwar gerade ge-gen Menschen ohne Passpapiere, die damit zur Koopera-tion bei der Passbeschaffung gezwungen werden sollen.Ich will am Schluss noch auf zwei ganz dunkle Kapitelder deutschen Abschiebehaft zu sprechen kommen. Mankann nicht oft genug daran erinnern, dass zwischen 1993und 2006 50 Menschen in deutschen Abschiebegefäng-nissen infolge von Hungerstreik oder Selbstmordversu-chen ums Leben gekommen sind. 399 Abschiebehäftlingehaben sich in dieser Zeit beim Versuch, sich umzubringen,ernsthaft verletzt. Das zeigt, in welche Verzweifelung diedeutsche Abschiebepolitik die Betroffenen treibt.Der zweite Punkt, den ich am Schluss meiner Rede an-sprechen möchte, betrifft minderjährige Flüchtlinge.Aufgrund des deutschen Asylverfahrensrechts können16- und 17-jährige Minderjährige in Abschiebehaft ge-nommen werden, ohne eine entsprechende jugendge-rechte Betreuung. Nach den zuletzt vorliegenden Zahlendes Bundesinnenministeriums aus 2004 befanden sichüber 300 Minderjährige in Abschiebehaft, im Schnittüber einen Monat.Auch wenn wir die Kritik der Grünen an der Abschie-behaft teilen, bleibt es dabei: Wir werden uns bei der Ab-stimmung enthalten. Denn der Antrag der Grünen akzep-tiert grundsätzlich die Abschiebehaft als probates Mittel.Wir sagen aber: Die Betroffenen haben keine Straftat be-gangen. Gegen sie wird, aus mehr oder weniger plausib-len Gründen, der Verdacht erhoben, sich in Zukunft einerVerwaltungsmaßnahme – der Abschiebung – entziehen zuwollen. Uns wollen keine überzeugenden Argumente ein-fallen, warum ein Mensch deshalb gleich wie ein Straftä-ter behandelt werden soll. Wir fordern weiterhin die Ab-schaffung der Abschiebehaft in Deutschland.
Die EU-Innenminister haben sich heute auf gemein-same Regeln für die Abschiebung von Flüchtlingen ver-ständigt. Die Abschieberegeln sehen unter anderem vor,dass Menschen ohne gültige Papiere vor einer Abschie-bung in ihre Herkunftsländer bis zu 18 Monate in Haft ge-nommen werden können. Diese Möglichkeit gilt aus-drücklich auch für Minderjährige. Weiterhin wurde eineEinreisesperre von fünf Jahren für alle Mitgliedsstaatender EU nach einer Abschiebung beschlossen.Dieser Beschluss der EU-Innenminister ist vollkom-men unverhältnismäßig. Es ist offensichtlich, dass dieInnenminister die existierenden und mangelhaften Asyl-verfahrens- und Abschiebehaftregeln einiger Mitglied-staaten nicht antasten wollten und sich auf den kleinstengemeinsamen Nenner geeinigt haben und dieser kleinstegemeinsame Nenner heißt „Haft statt Asyl“. Damit wirdein fatal schlechter Standard für den Menschenrechts-schutz in Europa gesetzt. Dass ausgerechnet der deutscheParlamentarische Staatssekretär im BMI, Peter Altmaier,die Beschlüsse auch noch dahin gehend begrüßt, dass„die Abschiebung von denen, die wir loswerden wollen,in Zukunft erleichtert“ wird, ist skandalös.Zu ProtokollEs ist festzuhalten: Es ist kein Verbrechen, einen Asyl-antrag zu stellen. Der generelle Vorwurf der illegalenEinreise ist für von Verfolgung bedrohte Flüchtlinge einebodenlose Unterstellung. Auch das Wiedereinreiseverbotvon fünf Jahren – selbst bei Verfolgungsgefahr – ist einVerstoß gegen das internationale Flüchtlingsrecht, dasnämlich vielmehr vorsieht, diesen schutzsuchenden Men-schen zu helfen. Eine besondere Schweinerei ist die Mög-lichkeit, auch ausreisepflichtige Minderjährige in Haftnehmen zu können. Das ist eindeutig ein Verstoß gegendie UN-Kinderrechtskonvention.Der ursprüngliche Richtlinienentwurf der EU-Kom-mission griff Forderungen von Nichtregierungsorganisa-tionen auf und setzte begrüßenswerte Mindeststandardszum Beispiel für eine freiwillige Ausreisefrist, für das Ver-fahren, für die Anwendung von Abschiebehaft; hier warenim Entwurf maximal sechs Monate vorgesehen. Die Ver-handlungen in den Ratsarbeitsgruppen haben jedochdazu geführt, dass der Entwurf der Richtlinie extrem ver-schärft wurde. Maßgeblichen Anteil daran hatte die skan-dalöse deutsche Verhandlungsführung. StaatssekretärAltmaier sagt jetzt sogar voller Stolz, man habe „sehr vielvon der deutschen Philosophie in den Richtlinientext hi-neingebracht“. Dies bedeutet nichts anderes, als dass dieVerhängung von Abschiebungshaft nun in allen EU-Mit-gliedsstaaten bis zu 18 Monate lang möglich ist – und dasfür Personen, die kein Verbrechen begangen haben, son-dern einzig und allein einen Asylantrag gestellt haben.Im vorliegenden Antrag hatten wir die Bundesregie-rung aufgefordert, im Rahmen der deutschen EU-Präsi-dentschaft, aber auch darüber hinaus darauf hinzuwir-ken, dass bei einer europäischen Regelung vonRückführungen humanitäre Standards gewahrt und aus-gebaut werden. Diesem Anspruch ist die Bundesregie-rung definitiv nicht gerecht geworden. Ich kann nurhoffen, dass die Abgeordneten des Europäischen Parla-ments, denen die Rückführungsrichtlinie am 18. Juni2008 zur Abstimmung vorliegt, sich mehrheitlich gegenden Entwurf entscheiden, weil er definitiv menschen- undflüchtlingsrechtlichen Mindeststandards nicht genügt.Meine Fraktion setzt sich seit langem dafür ein, dieAnordnungsdauer von Abschiebehaft auf ein Mindestmaßzu begrenzen. Wir vertreten die Position, dass Abschiebe-haft lediglich der Sicherung einer Abschiebung dienendarf. Das heißt, nur dann, wenn sich jemand der Abschie-bung erkennbar entziehen will, darf Abschiebehaft ver-hängt werden. Wenn das in dieser Art und Weise durchge-führt würde, könnte, nebenbei bemerkt, eine große Anzahlder in Deutschland befindlichen Abschiebehaftanstaltengeschlossen werden. Des Weiteren setzen wir uns seit lan-gem dafür ein, dass Minderjährige nicht inhaftiert wer-den dürfen; denn die schwerwiegenden psychischen Fol-gen, die Haft besonders auf Kinder und Jugendlichehaben kann, sind offensichtlich und bedürfen, glaube ich,keiner weiteren Erläuterung.Bei Rückführungen von Flüchtlingen muss aus grünerSicht die Einhaltung menschenrechtlicher Normen wirk-sam gewährleistet sein. Das gilt insbesondere für denVollzug der Abschiebehaft und für die Anwendung unmit-telbaren Zwangs bei Abschiebungen.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17679
gegebene Reden
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17680 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Josef Philip WinklerDie Bundesregierung hätte bei den Verhandlungen umeine Rückführungsrichtlinie der EU viel stärker auf dieGewährleistung folgender Grundsätze hinzuwirken müs-sen: Schutzbedürftige dürfen nicht abgeschoben werden.Familien dürfen durch Rückführungsmaßnahmen nichtgetrennt werden. Der Zugang zu wirksamen Rechtsmit-teln muss gewährleistet sein. Abschiebehaft muss vermie-den und begrenzt werden. Humanitäre Standards beiFlugabschiebungen müssen verbessert werden. Unab-hängige Überprüfung – sogenanntes Monitoring – mussgewährleistet sein.Im Interesse des Flüchtlingsrechts und der Menschen-rechte bitte ich Sie um Zustimmung zu unserem Antrag.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
16/7347, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 16/4851 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen von Bünd-
nis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktionen Die
Linke und FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
gierung
Weißbuch
Gemeinsam für die Gesundheit: Ein strategi-
KOM 630 endg.; Ratsdok. 14689/07
– Drucksachen 16/7575 Nr. 1.5, 16/9412 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jens Ackermann
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Michael
Hennrich, CDU/CSU, Dr. Wolfgang Wodarg, SPD, Jens
Ackermann, FDP, Dr. Ilja Seifert, Die Linke, Dr. Harald
Terpe, Bündnis 90/Die Grünen, und der Parlamentari-
schen Staatssekretärin Marion Caspers-Merk.
Mit der Beschlussempfehlung und dem Bericht desAusschusses für Gesundheit zu der Unterrichtung durchdie Bundesregierung zum „Weißbuch Gemeinsam für dieGesundheit: Ein strategischer Ansatz der EU für 2008 bis2013“ möchten wir ein Zeichen setzen; ein Zeichen, dassder Bundestag Anteil an der Diskussion auf der europäi-schen Ebene nimmt und die Europäische Kommission inIhrem Bemühen der klaren Kompetenzaufteilung unter-stützen möchte.Dabei ist gleich zu Beginn anzumerken, dass die Ge-sundheitsstrategie als ein kohärenter Politikansatz dereuropäischen Gemeinschaftspolitiken ausdrücklich zubegrüßen ist und das die effektive Umsetzung der Strate-gie unterstützt werden soll. Grundlage ist hier aber imEU-Vertrag vor allem Art. 152. Er stellt klar, dass die Tä-tigkeit der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Gesund-heitspolitik die Politik der Mitgliedstaaten ergänzt, dieZusammenarbeit der Mitgliedstaaten fördert und derenTätigkeit unterstützt. Außerdem wird dort festgestellt,dass die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Orga-nisation des Gesundheitswesens und die medizinischeVersorgung in vollem Umfang gewahrt wird.Der Entschließungsantrag entstand aus der Einschät-zung von Abgeordneten des Deutschen Bundestages, dassdie Kommission mit Ihrem Ansinnen im Weißbuch Ge-sundheit stellenweise zu weit gehen und dabei die vorge-gebene Kompetenzverteilung, also letztlich das Subsidia-ritätsprinzip verletzen könnte. Darauf möchten wirhiermit aufmerksam machen. Die Regelungen im EU-Ver-trag gilt es daher zu schützen, wie Erfahrungen mit derDienstleistungsrichtlinie und der Offenen Methode derKoordinierung deutlich gezeigt haben.Die Bundesregierung wird mit der vorliegenden Ent-schließung aufgefordert, bei der Erarbeitung derSchlussfolgerungen zur Umsetzung die vom DeutschenBundestag eingenommene Position zu beachten. Beson-dere Bedeutung kommt der autonomen Zuständigkeit derMitgliedstaaten auf nationaler, regionaler und kommuna-ler Ebene für den Gesundheitsbereich zu und damit auchder Beachtung, dass es zu keiner Aushöhlung dieserKompetenzen kommt. Diese Kompetenzwahrung stehtnicht im Gegensatz zu einer europäischen Zusammenar-beit, im Gegenteil: Bereits seit langem arbeiten wir mitden anderen Mitgliedstaaten der EU zusammen und ler-nen voneinander. Dies geschieht jedoch nicht aufoktroy-iert, sondern freiwillig im Rahmen des Best-Practice-An-satzes.Für weiter gehende Initiativen stellt sich immer dieFrage nach dem Mehrwert gemeinschaftlichen Handelns.Aus Sicht des Deutschen Bundestages sollte ein Handelnauf europäischer Ebene im Gesundheitsbereich nur andenjenigen Stellen geschehen, wo ebendieser Mehrwertidentifiziert wird – und dann nicht durch Vergemeinschaf-tung des entsprechenden Bereichs, sondern – wie auch imEU-Vertrag vorgesehen – durch Einzelermächtigungen inBezug auf das konkrete Anliegen. Einzelermächtigungenhaben sich beispielsweise im Arzneimittelsektor als sinn-voll erwiesen. So wird seitdem über die Arzneimittelzu-lassung auf europäischer Ebene entschieden, was denVerbrauchern unter anderem günstigere Preise und denUnternehmen einen größeren Absatzmarkt beschert.Aber auch hier zeigt sich, dass dies allenfalls eine ergän-zende Initiative sein sollte, denn die Diskussion um dieeuropäische Arzneimittelzulassung sollte nicht zumNachteil kleiner und mittlerer Hersteller vonstatten ge-hen. Deshalb sollte es mit Einschränkungen auch bei na-tionalen Zulassungsmöglichkeiten bleiben. Daher ist dergeforderte Mehrwert aus deutscher Sicht sozusagen dasHerzstück der europäischen Gesundheitsstrategie unddamit zentraler Bestandteil der Feststellungen des Deut-schen Bundestages. Ein gemeinsames Handeln im Ge-sundheitsbereich ist nur dann notwendig, wenn dies ein-
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Michael Hennrichzelstaatlich nicht erreicht werden kann. Die von derBundesregierung signalisierte Bereitschaft, dieses Anlie-gen in die Ratsberatungen einzubringen, begrüße ich da-her sehr.Der Deutsche Bundestag erkennt an, dass es neue ge-sundheitliche Herausforderungen gibt, wie auch dieKommission sie in ihrem Weißbuch beschreibt. Hierzu ge-hören die demografische Entwicklung samt ihren Folgen,Gesundheitsgefahren wie Pandemien, übertragbareKrankheiten, Bioterrorismus und Auswirkungen des Kli-mawandels sowie die rasche Entwicklung neuer Techno-logien. Hier müssen neue Wege beschritten und Lösungengesucht werden. Ich möchte daher an dieser Stelle derKommission danken, dass sie darauf aufmerksam machtund Lösungsvorschläge unterbreitet. Wir unterstützen dieEuropäische Union bei ihrem Tätigwerden auf diesen Ge-bieten.Insofern ist das Weißbuch eine gute Grundlage, da ak-tuelle Herausforderungen darin benannt werden. Es istdas Ergebnis umfangreicher Konsultationen der Kom-mission aus den Jahren 2004 bis 2007. Das Weißbuchstellt einen strategischen Ansatz vor, der für die Jahre2008 bis 2013 gelten und danach überarbeitet werdensoll. Zum ersten Mal wird hierfür eine einheitliche Stra-tegie festgelegt. Darin sind vier zentrale Prinzipien unddrei strategische Themenschwerpunkte vorgesehen.Es ist wichtig, uns die zentralen Prinzipien in Erinne-rung zu rufen, gemeinsame Werte als Grundlage der Stra-tegie; Gesundheit als Grundvoraussetzung für Wachstumund Wohlstand; Gesundheit in allen Politikbereichen;mehr Mitsprache der EU in der globalen Gesundheitspo-litik. Konkrete Maßnahmen gibt es dazu viele. Nennenmöchte ich hier beispielhaft die Annahme einer Erklä-rung über grundlegende Gesundheitswerte, eine stärkereEinbeziehung von Gesundheitsaspekten in alle Politikbe-reiche der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten, dieStärkung des Gemeinschaftsstatuts in internationalen Or-ganisationen und der Zusammenarbeit in Gesundheits-fragen mit strategischen Partnern und Ländern sowie ei-nen Gemeinschaftsrahmen für sichere, hochwertige undeffiziente Gesundheitsdienstleistungen.Die Kommission plant mit dem Weißbuch des Weiterenauch die Schaffung eines Mechanismus der strukturiertenZusammenarbeit zur Einbindung der Mitgliedstaaten undanderer Stakeholder. Damit soll die Gesundheit verstärktin alle Politikbereiche einbezogen werden. Dies würdeder Kommission grundlegend erlauben, bestehende Me-chanismen zu ersetzen, Prioritäten zu setzen, Indikatorenfestzulegen, Leitlinien und Empfehlungen auszusprechenund Fortschritte zu evaluieren. Diesen Mechanismusbeurteilt der Deutsche Bundestag kritisch. Es wird darineine zunehmende Vergemeinschaftung des Gesundheitsbe-reichs, ein weiteres Ausufern der Organisation und Büro-kratie sowie ein Übergehen der Bedürfnisse der Mitglied-staaten befürchtet. Wir haben bereits mit der OffenenMethode der Koordinierung die Erfahrung gemacht, dassein derartiger neuer Mechanismus dazu führen kann,dass Kompetenzen auf der EU-Ebene konzentriert wer-den und er sich der parlamentarischen Kontrolle entzieht.Am besten sichtbar ist dies im Bereich des Sozialschutzes.Zu ProtokollDie Regelungen sind dort mittlerweile sehr weitgehendund greifen in mitgliedstaatliche Kompetenzbereiche einohne dass dies vertraglich so vorgesehen war.In der vorliegenden Beschlussempfehlung finden sichzehn Feststellungen und vier Forderungen. Im Folgendenwerde ich daher zunächst auf einige der Feststellungeneingehen.Die zentrale Feststellung zielt darauf ab, die im Weiß-buch angesprochene originäre Zuständigkeit der Mit-gliedstaaten durch deren nationale, regionale und kom-munale Ebene zu schützen. Die von der Kommissionangesprochene Verlagerung der Kompetenzen auf dieEU-Ebene hinterfragt der Bundestag – wie bereits ange-sprochen – gerade auch im Zusammenhang mit dem ge-planten Mechanismus der strukturierten Zusammenar-beit kritisch.Es ist ja nicht so, dass wir nicht bereits zusammenar-beiten würden; denn im nichtharmonisierten Bereich gibtes bereits eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, ihrePolitiken zu koordinieren. Ein Tätigwerden der Unionsetzt hier daher eine Ermächtigung voraus. Dies ist bei-spielsweise in der Zusammenarbeit bei Fragen der Aids-strategie oder beim Themenfeld Ernährung und Bewe-gung geschehen und wurde dort auch positiv vermerkt.Der Bundestag begrüßt daher das bewährte und grundle-gende Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Wirhaben bereits genügend Instrumente, um sinnvoll zusam-menarbeiten zu können. Wir brauchen daher die struktu-rierte Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich nicht.Denn auch hier stellt sich die bereits eingangs skizzierteFrage nach dem Mehrwert, der klar identifizierbar seinsollte und keine neuen Gremien schafft. Ich kann diesenMehrwert hier nicht erkennen und spreche mich daherklar gegen diesen neuen Mechanismus aus.Ein weiterer wichtiger Aspekt bezieht sich auf die Bü-rokratie. Der Deutsche Bundestag lehnt die zunehmendenBerichtspflichten ab und fordert eine Verschlankung be-stehender Strukturen, eine Verschlankung, die die beste-henden Gremien bündelt und damit die Entscheidungs-und Konsultationsprozesse transparenter und sichtbarergestaltet und Doppelarbeit vermeidet. Eine – wie von derKommission vorgesehen – kohärente Gesundheitsstrate-gie bietet eine einzigartige Möglichkeit, um bisherigeStrukturen zu überdenken sowie über Zusammenlegungenund effektivere Nutzungen neu zu ordnen, also um unnö-tige Bürokratie abzubauen. Hier lohnt es sich, mutig vo-ranzugehen.Schließlich könnte man sich nun fragen, warum wirnicht weiter gehen beziehungsweise warum wir gegenweiter gehende Kompetenzen sind. Hier sind ganz klardie Komplexität und unterschiedlichen historischen Wur-zeln sowie die daraus folgenden Unterschiede der Ge-sundheitssysteme in den Mitgliedstaaten der Europäi-schen Union zu nennen. Sie unterscheiden sich vor allemin ihren jeweiligen Finanzierungssystemen, dem Kreisder Versicherten beziehungsweise der Leistungsberech-tigten, dem Umfang des Leistungsrahmens sowie den so-zial- und gesundheitsökonomisch relevanten Kennzahlen.
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Michael HennrichIn Europa lassen sich im Wesentlichen zwei Modellevon Gesundheitssystemen unterscheiden: Das Beveridge-Modell, das sich in der Finanzierung primär auf Steuernstützt, ist in den nordeuropäischen Ländern sowie in Ir-land und dem Vereinigten Königreich anzutreffen. Auchsüdeuropäische Länder wie Spanien, Portugal und Grie-chenland sind seit den 80er-Jahren eher dieser Gruppezuzurechnen. Das Bismarck-Modell mit der gesetzlichenKrankenversicherung ist hingegen in fast allenmitteleuropäischen und seit etwa zehn Jahren auch in na-hezu allen osteuropäischen Ländern verbreitet. DieseModelle lassen sich noch ausdifferenzieren hinsichtlichder genauen Finanzierung. Zu betrachten ist auch dieMöglichkeit in den einzelnen Ländern, sich noch zusätz-lich zu versichern als Substitut, Ergänzung oder Zusatz.Dies enthält aus meiner Sicht zwei wichtige Feststel-lungen: Zum einen sind diese Systemunterschiede mitquantifizierbaren Zielen, wie sie im Weißbuch gefordertwerden, nicht vereinbar. Gerade auch angesichts der ori-ginär nationalstaatlichen Zuständigkeit ist eine Quantifi-zierung kritisch zu beurteilen und deshalb nicht möglichals verpflichtende Form der Zusammenarbeit. Zum ande-ren hat die Unterschiedlichkeit der Systeme auch Auswir-kungen auf die Bildung von Indikatoren auf europäischerEbene. So ist die Datenlage oft unbefriedigend, und damitist die weitere Verarbeitung und letztlich die Vergleich-barkeit der Daten nicht gewährleistet. Hier ist es bedeut-sam, eine bessere Lösung zur Erhebung der Daten undderen Weiterverwendung zur Definition, Erstellung undseriösen Interpretation von Indikatoren zu finden. In Ge-bieten, in denen ein Mehrwert in der Zusammenarbeit aufeuropäischer Ebene erkannt wurde, sollten die Mitglied-staaten dann auch freiwillig vermehrt in den Prozess derIndikatorenerhebung und -verarbeitung einbezogen wer-den. Fundierte Daten tragen zu einer besseren Vergleich-barkeit und zu einer größeren Transparenz bei. Dies giltes aus Sicht des Deutschen Bundestages zu fördern.All diese Feststellungen münden schließlich in besagtevier Forderungen an die Bundesregierung ein, welcheauch zuvor immer wieder angesprochen wurden. Diesebesagen in gekürzter Form letztlich Folgendes: Autono-mie im Gesundheitsbereich ohne weitere Aushöhlung derKompetenzen; Ablehnung der strukturierten Zusammen-arbeit, wenn diese die Schaffung neuer Institutionen be-inhaltet; effektivere Nutzung bestehender Strukturen undKonzentration auf Bereiche, in denen ein europäischerMehrwert identifiziert wurde und wo sich grenzüber-schreitende Herausforderungen stellen, Ablehnung derFestlegung quantifizierter Ziele und damit der politi-schen Bindung der Mitgliedstaaten in einem ihrer origi-nären Kompetenzbereiche. Mit diesen Forderungen sollmöglichen Fehlentwicklungen auf europäischer Ebeneentgegengewirkt und damit ein konstruktiver Beitrag zurzentralen Stellung der Gesundheitspolitikgelegt werden.Aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion ist die Wahrung derSouveränität ein Kernanliegen. Zusammenfassend istnoch einmal zu sagen, dass eine Offenheit für eine Zu-sammenarbeit im Gesundheitsbereich auf europäischerEbene zwar nicht kategorisch ausgeschlossen wird. Diesewird jedoch nur dann begrüßt, wenn dabei ein MehrwertZu Protokollidentifiziert werden kann, also beispielsweise in Fällen,in denen es sich um grenzüberschreitende Herausforde-rungen handelt. Die Schaffung einer strukturierten Me-thode der Zusammenarbeit sehen wir – wie bereits zuvorangeführt – aufgrund der Erfahrung aus der Einführungder Offenen Methode der Koordinierung, beispielsweiseim Bereich Sozialschutz, sehr kritisch und hinterfragendie Notwendigkeit. Schließlich wird die Einführung quan-tifizierter Ziele hinterfragt und stattdessen die bewährteMethode des gegenseitigen Lernens durch Erfahrungs-austausch befürwortet.Die Rolle der Europäischen Union im Gesundheitsbe-reich ist daher aus meiner Sicht hauptsächlich die einesModerators und Motivators. Es sollte für sie darum ge-hen, den Austausch über die jeweiligen Erfahrungen derMitgliedstaaten im Gesundheitsbereich voranzutreibenund im Rahmen des freiwilligen Best-Practice-AnsatzesVerbesserungen zu erreichen. Dies entspricht einer Hilfezur Selbsthilfe. Die EU würde damit die Mitgliedstaatenin die Lage versetzen, ihre selbst gesetzten gesundheits-politischen Ziele zu realisieren. In den konkreten Berei-chen, in denen im Rahmen dieses Austauschs ein Mehr-wert im gemeinsamen europäischen Vorgehen erkanntwurde, kann die Europäische Union auch ermächtigtwerden, selbst als Akteur in Erscheinung zu treten und eingemeinsames Vorgehen zu erarbeiten.Die Rezeption der Beschlussempfehlung ist eindeutig.Sie wurde von allen Fraktionen unterstützt und mit nur ei-ner Enthaltung angenommen. Anders ausgedrückt könnteman auch sagen, dass sie von keiner der Fraktionen ab-gelehnt wurde. Dies ist ein deutliches Zeichen.Daher möchte ich zum Schluss nochmals besondersdie Unterstützung durch die Bundesregierung hervorhe-ben. Ich begrüße es persönlich sehr, dass die Bundesre-gierung dieses Zeichen ernst nimmt und die Position desDeutschen Bundestages in der Sitzung des Rates für Be-schäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucher-schutz am 9. und 10. Juni 2008 in Luxemburg einbringenwird. Für die Verhandlungen wünsche ich der Bundesre-gierung viel Erfolg.Ich hoffe, dass das Zeichen dieser Entschließung aufeuropäischer Ebene wohlwollend aufgenommen wird unddass die Entschließung einen Beitrag zur Wahrung derautonomen Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten, einerklaren Kompetenzverteilung und der nachhaltigen Suchenach einem europäischen Mehrwert leistet.
Mit der kritischen Bewertung der von der Kommissionvorgeschlagenen sogenannten strukturierten Zusammen-arbeit haben wir klargemacht, dass Gesundheit inDeutschland – wie in den meisten anderen europäischenLändern – ein wichtiger Bereich staatlicher Daseinsvor-sorge ist und bleiben soll. Die Europäische Union küm-mert sich zunehmend auch um den europäischen Binnen-markt „Gesundheit“, und es ist nicht zu leugnen, dasssich in Europa längst ein großer Wirtschaftsbereich ent-wickelt hat, der uns grenzüberschreitend mit Arzneimit-teln, Medizintechnik, Hilfsmitteln und zunehmend auchmit Dienstleistungen versorgt. Auch staatliche Gesund-
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Dr. Wolfgang Wodargheitssysteme, wie die skandinavischen, das spanischeoder das britische, kaufen Leistungen auf diesem über-staatlichen Markt; doch sie organisieren ihr System auto-nom und, den Prinzipien der Subsidiarität folgend, aufnationaler Ebene. Diese Länder sind stolz, wenn sie ihreBevölkerung auf hohem Niveau gesund halten und altwerden lassen können und dafür möglichst wenig der sokostbaren öffentlichen Ressourcen einsetzen müssen.Wir in Deutschland sind bisher nicht so klar davor:Wer demnächst die Berliner Gesundheitstage besucht,wird dort von den Epigonen des boomenden Gesundheits-marktes belagert werden, die vom „Wachstumsmotor Ge-sundheitswesen“ sprechen und hierbei von volkswirt-schaftlicher Effizienz so wenig hören mögen wie dieZigarettenindustrie vom Nichtraucherschutz. EffizienteGesundheitspflege ist jedoch nicht nur ethisch geboteneDaseinsvorsorge, sie ist auch die Voraussetzung für einennachhaltigen staatlichen Ressourceneinsatz im Wettlaufder Nationen um globalen Einfluss und wirtschaftlicheMacht. Ein Staat, der wie zum Beispiel Finnland seineMenschen mit wenig Aufwand auf hohem Niveau gesundhält, kann die gesparten Mittel in die Bildung stecken unddamit erheblich effizienter sein als sein KonkurrentDeutschland, der schon einen weit größeren Anteil seinerWirtschaftskraft im Gesundheitswesen verpulvert. DerMarkt kann einer effizienten Daseinsvorsorge dienlichsein. Die Daseinsvorsorge selbst aber nach den Regelndes Marktes zu bewerten oder gar zu ordnen, das würdedie Staaten Europas schwächen und vor allem der Ge-sundheit seiner Einwohner abträglich sein – freut sichdoch der Markt über jeden Patienten.Wir sind in unserem Antrag einen Kompromiss mit demKoalitionspartner eingegangen, der die nationale Zu-ständigkeit für Gesundheit betont und einfordert, der aberauch gewährleisten soll, dass in Zukunft auf europäischerEbene die Gesundheitssysteme sinnvoll miteinander ver-glichen und evaluiert werden können. Wir wollen, dassdie Nationalstaaten gerade im gesundheitspolitischenBereich, das Subsidiaritätsprinzip verteidigen und dassdas Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gewahrtbleibt. Neue koordinierende Strukturen dürfen nicht dazuführen, dass eine schrittweise Aushöhlung der mitglied-staatlichen Kompetenzen bei gleichzeitig minimaler Kon-trolle durch das Parlament erfolgt.Dennoch halte ich den Vorschlag der Kommission ineinem wichtigen Punkt für positiv, und dieser hätte mei-nes Erachtens in dem Entschließungsantrag noch deutli-cher zum Ausdruck kommen können: Die Kommissionwill innerhalb der Europäischen Union Voraussetzungendafür schaffen, dass die europäischen Gesundheitssys-teme miteinander verglichen werden können. Unser Zielmuss doch sein, langfristig einen möglichst gleichmäßighohen qualitativen und quantitativen Versorgungsstandin der Europäischen Union zu erreichen.So hat zum Beispiel die PISA-Studie einen positivenEffekt auf die teilnehmenden Länder, da diese gezwungenwerden, sich dezidiert mit den Schwächen des eigenenBildungssystems auseinanderzusetzten. Für Deutsch-land, so verheerend die ersten Ergebnisse auch waren,hat diese eine breite bildungspolitische Debatte ausgelöstZu Protokollund zu vielen guten neuen Ansätzen und Qualitätsverbes-serungen des Bildungsangebotes geführt.Es ist wichtig, dass wir den Wettbewerb um die effi-zientesten Gesundheitsysteme in Europa ermöglichenund hier eine verbesserte Transparenz nicht scheuen.Schlechte Erfahrungen bei der Methode der offenenKoordinierung im sozialen Bereich sollten uns nicht ent-mutigen. Daher erachte ich eine demokratische Formu-lierung gesundheitspolitischer Endpunkte und die dazu-gehörige Indikatorenbildung als einen wichtigenMehrwert europäischer Kooperation im Gesundheitsbe-reich. Es ist mir eine Freude, festzustellen, dass die imAntrag genannten Ziele auch von einer großen Mehrheitder Gesundheitspolitikerinnen und -politiker getragenwerden.
Die Europäische Kommission hat im Oktober 2007das Weißbuch „Gemeinsam für die Gesundheit: Ein stra-tegischer Ansatz der EU für 2008 bis 2013“ vorgelegt,mit dem der Gesundheit in politischen Strategien mehrGewicht gegeben werden soll. Nach der Unterzeichnungdes Lissabon-Vertrages erwartet die Kommission neuePrioritäten auf Gemeinschaftsebene sowie eine ver-stärkte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten imGesundheitsbereich. Zentrale Herausforderungen sinddemnach die Überalterung der Gesellschaft, neue Ge-sundheitsgefahren wie Pandemien und die Entwicklungund Anwendung neuer Technologien der Gesundheitsver-sorgung. Das Weißbuch ist in diesem Zusammenhang alsein erster Ansatz einer kohärenten europäischen Politikzu deuten, deren Ziel die Verankerung von Gesundheits-frage als Querschnittsaufgabe ist. Dafür hat die Kommis-sion vier Prinzipien entwickelt, von denen sie sich bei derFormulierung von EG-Maßnahmen im Gesundheitswe-sen leiten lassen will. Obgleich die Kommission unter-streicht, dass die hauptsächliche Zuständigkeit bei denMitgliedstaaten liegt, hebt sie insbesondere im Zusam-menhang mit der Unterzeichnung des Lissabon-Vertrageseine stärkere eigene Kompetenz hervor. Hierzu hat siedrei Ziele mit insgesamt zehn Maßnahmen vorgeschla-gen, die von neuen Leitlinien für Krebsvorsorgeuntersu-chungen über die Berücksichtigung von Gesundheitsas-pekten der Anpassung an den Klimawandel bis hin zueinem Gemeinschaftsrahmen für Gesundheitsdienstleis-tungen gehen. Als Durchführungsmechanismus sieht dasPapier das Verfahren der strukturierten Zusammenarbeitvor.Abgesehen von der Tatsache, dass die Kommissionhier auf Grundlage eines Vertrages argumentiert, dernoch nicht endgültig ratifiziert ist und der in Irland kom-mende Woche noch die Hürde des Referendums nehmenmuss, begrüßt die FDP das Vorhaben, der Gesundheits-politik mit einem kohärenten Weißbuch einen größerenStellenwert zukommen zu lassen.Allerdings müssen wir sehr genau hinsehen, wie dieKommission sich die Umsetzung der Ziele und Maßnah-men vorstellt. Hier haben wir einige Bedenken, insbeson-dere vor dem Hintergrund, dass die Gesundheitspolitik inerster Linie Aufgabe der Mitgliedstaaten ist. Ich bin skep-
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Jens Ackermanntisch, ob das Weißbuch dieser Tatsache ausreichendRechnung trägt. Unzweifelhaft ist, dass überall dort, woeine europäische Zusammenarbeit zu wesentlich besserenErgebnissen führt, als wenn die einzelnen Länder dieseThemen isoliert angehen, eine sinnvolle Koordination ge-fördert werden muss. Für jedermann einleuchtend ist daszum Beispiel bei der Abwehr beziehungsweise Bewälti-gung von Pandemien.Für die FDP ist aber das Subsidiaritätsprinzip nachwie vor ganz entscheidend, um gute Politikergebnisse er-zielen zu können. Das bedeutet, dass die jeweils höhereEbene nur dann tätig werden soll, wenn die unteren Ebe-nen nicht in der Lage sind, die anstehenden Aufgaben zu-friedenstellend zu lösen. Dies gilt auch und noch ver-stärkt nach der Ratifikation des Lissabon-Vertrages: DieGesundheitspolitik ist und bleibt ein nationales Politik-feld. Das muss auch die Kommission wissen. Die von ihrvorgesehenen Zuständigkeiten bei der Umsetzung derZielvorgaben sprechen aber eine andere Sprache: Alleinacht der zehn Maßnahmen sollen ausschließlich in denKompetenzbereich der Kommission fallen, darunter Leit-linien für die Krebsvorsorgeuntersuchung und ein Ge-meinschaftsrahmen für Gesundheitsdienstleistungen.Mitgliedstaaten und Europäisches Parlament werden imWeißbuch nicht ausreichend berücksichtigt.Ich habe aber den Eindruck, dass hier schleichend einnationales Politikfeld erneut auf die europäische Ebenegehoben werden soll. Insofern begrüßt die FDP auch denEntschließungsantrag, der noch einmal verdeutlicht, dasses nicht zu einer ungewollten Aufweichung nationalerKompetenzen kommen darf. Darüber hinaus unterstützenwir die ablehnende Haltung im Hinblick auf den struktu-rierten Dialog, da dies mit der Bildung neuer europäi-scher Strukturen einhergeht. Mit dieser Art der sanftenEuropäisierung haben wir im Zusammenhang mit der Of-fenen Methode der Koordinierung bereits Erfahrungenmachen dürfen. Soweit es nur um eine Fokussierung dereuropäischen Koordinierung auf grenzüberschreitendeBereiche kommt, können wir das begrüßen. Mit umfang-reichen Berichtspflichten und quantifizierbaren Indikato-ren sollte aber äußerst vorsichtig umgegangen werden.Letztlich muss eine europäische Gesundheitspolitikauf Bereiche begrenzt bleiben, die einen Mehrwert gegen-über nationalen Regelungen haben und keine neuenStrukturen oder Europäisierungsprozesse nach sich zie-hen. Aufgrund der dargelegten Bedenken unterstützenwir den Entschließungsantrag.
Die Gesundheitspolitik ist, allen Versuchen, dies zuändern zum Trotz, noch immer in nationaler Verantwor-tung. Die EU kann dazu flankierend tätig werden, abernicht die Souveränität der Einzelstaaten unterlaufen.Dieses Prinzip wird mit unserem gemeinsamen Entschlie-ßungsantrag gestärkt. Die Regierungskoalition, die FDPund Die Linke unterstreichen gemeinsam, dass das Sub-sidiaritätsprinzip der EU im sozialen Bereich, der nachArt. 152 des EG-Vertrages in der Verantwortung der ein-zelnen Mitgliedstaaten verbleibt, nicht unterlaufen wer-Zu Protokollden darf. Insofern stellen wir die „strukturierte Zusam-menarbeit“ des Weißbuch-Entwurfs infrage. Denn mitdieser strukturierten Zusammenarbeit würde es der Kom-mission gestattet werden, bestehende Mechanismen zuersetzen, Prioritäten zu setzen, Indikatoren festzulegen,Leitlinien und Empfehlungen auszusprechen und Fort-schritte zu evaluieren. Einen solchen Eingriff in die Sou-veränität der Mitgliedstaaten lehnen die Fraktion DieLinke und der Gesundheitsausschuss des Deutschen Bun-destages ab.Die Festlegung von Indikatoren klingt zunächst einmalungefährlich, aber mit ihnen könnten dann die bishernicht näher erläuterten „quantifizierbaren Ziele“ defi-niert werden. Ohne Beteiligung der nationalen Parla-mente bei der Erstellung der Indikatoren kann und sollDeutschland dem Weißbuch nicht zustimmen. Ansonstenwürde dem wiederholten Ansatz Brüssels, die Souveräni-tät der Mitgliedstaaten für die Gesundheitsversorgung zuunterlaufen, nachgegeben werden.Ich möchte aber auch klarstellen, dass das Weißbuchdurchaus gute Ansätze zeigt, die von uns unterstützt wer-den. So soll das Weißbuch auch dazu dienen, Gesundheitin allen Politikbereichen zu etablieren, die Bedeutung derGesundheit der Bevölkerung als Voraussetzung fürWachstum und Wohlstand zu begreifen und gemeinsameWerte zur Grundlage der Gesundheitspolitik zu machen.Es ist zweifelsohne eine wichtige Aufgabe der Mitglied-staaten, sich stärker für die geriatrische Versorgung derBevölkerung einzusetzen und in gemeinsamen Anstren-gungen gegen Infektionskrankheiten vorzugehen.Da die Zuständigkeit für das Gesundheitswesen beiden Mitgliedstaaten liegt, sollen sie eng in die Durchfüh-rung der Strategie eingebunden werden. Die Kommissionschlägt daher vor, einen neuen Mechanismus der struktu-rierten Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich einzu-führen. Dieser soll die Kommission beraten und dieKoordinierung zwischen den Mitgliedstaaten fördern. Sosoll der Kooperationsmechanismus der Kommission un-ter anderem helfen, Prioritäten zu nennen, Indikatorenfestzulegen, Leitlinien und Empfehlungen zu erarbeiten,den Austausch bewährter Verfahren zu fördern und Fort-schritte zu bewerten. Da bleibt Die Linke skeptisch.Wichtig für uns ist – nicht zuletzt infolge der wettbe-werblichen Ausgestaltung der EU – die Beibehaltung desSubsidiaritätsprinzips im Bereich Gesundheit. Im Weiß-buch formulierte Ziele wie insbesondere die Verringerungder gesundheitlichen Ungleichheit werden von uns unter-stützt; wünschenswert wäre jedoch, wenn in einer ge-sundheitspolitischen Strategie der EU der Grundstein ge-legt werden könnte für eine europäische Umverteilungvon Mitteln für den Aufbau funktionierender Gesund-heitswesen in allen Mitgliedstaaten. Hiervon könnten vorallem die neuen Mitgliedstaaten profitieren. Denn so-lange eine funktionierende Gesundheitsinfrastrukturnicht gegeben ist, können gemeinsame Vorhaben wie eineAbstimmung bei der Organspende und die Unterbindungdes Organhandels nicht wirkungsvoll angegangen wer-den.
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17684 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Wenn wir heute über das Weißbuch Gesundheit debat-
tieren, so debattieren wir zunächst einmal über eine Ini-
tiative der EU-Kommission, die in einigen Aspekten
durchaus zu begrüßen ist. Eine koordinierte Zusammen-
arbeit der EU-Mitgliedstaaten ist nämlich in solchen Be-
reichen sinnvoll, in denen die einzelnen Staaten einem
Problem nicht wirksam begegnen können, wie beispiels-
weise beim Kampf gegen Pandemien oder gegen den Or-
ganhandel. Auch die Formulierung von Gesundheitszie-
len auf europäischer Ebene kann durchaus sinnvoll sein,
wenn sie von den einzelnen Mitgliedern als Aufforderung
verstanden wird, Defizite im eigenen Land zu bekämpfen
oder positive Erfahrungen aus den europäischen Nach-
barländern zu übernehmen. In den letzten Jahren konnten
wir auf EU-Ebene allerdings vielfach Bestrebungen be-
obachten, auch die Gesundheitspolitik in vielen Berei-
chen EU-weit zu harmonisieren. Dahinter steckt ein Den-
ken, das das Gesundheitswesen an sich nicht mehr als
einen Teil der Daseinsvorsorge eines Staates, sondern als
Wirtschafts- und Dienstleistungsbranche ansieht, in der
es sämtliche Hindernisse und Unterschiede zu beseitigen
gilt. Davor kann ich nur warnen. Mit diesem Weißbuch
wird ein Konzept vorgelegt, das die Schaffung eines soge-
nannten einheitlichen strategischen Ansatzes vorschlägt.
Dafür setzt die EU-Kommission unter anderem Themen-
schwerpunkte fest, die durchaus begrüßenswert sind, bei-
spielsweise die Förderung der Gesundheit in einer altern-
den Gesellschaft oder den Schutz der Bürger vor
Gesundheitsgefahren. Das Mittel zur Umsetzung, das die
Kommission dafür wählt, geht allerdings weit über eine
einfache koordinierte Zusammenarbeit hinaus, sogar
weit über das hinaus, was der EG-Vertrag in Art. 152 vor-
sieht. Die Kommission kündigt einen neuen Mechanismus
der „Strukturierten Zusammenarbeit“ an, der die Kom-
mission befähigen soll, „Prioritäten zu nennen, Indikato-
ren festzulegen, Leitlinien und Empfehlungen zu erarbei-
ten, den Austausch bewährter Verfahren zu fördern und
Fortschritte zu bewerten“. Damit begibt sie sich in die
Rolle des federführenden Akteurs, der nicht nur – wie vom
EG-Vortrag eigentlich vorgesehen – die Politik der Mit-
gliedstaaten ergänzt und gegebenenfalls unterstützt. Die
Kommission billigt sich vielmehr selbst – sowohl inhalt-
lich als auch methodisch – eine Funktion zu, die ihr recht-
lich nicht zusteht und die zudem die Gefahr einer unge-
rechtfertigten Bürokratieerweiterung birgt. Bereits heute
schafft die sogenannte Offene Methode der Koordinie-
rung einen Mechanismus, der die klaren Zuständigkeiten
der Mitgliedstaaten zu verwischen droht und der nahezu
keiner parlamentarischen Kontrolle unterliegt. Noch ein-
mal: Es geht uns nicht um die Ablehnung jeglicher Koor-
dinierungstätigkeit seitens der EU. In Einzelfällen, in de-
nen daraus für die Mitgliedstaaten ein Mehrwert entsteht,
weil die zu bewältigenden Probleme grenzübergreifend
sind, ist dies durchaus sinnvoll. Eine solche Koordinie-
rung kann aber auch im Rahmen von Einzelermächtigun-
gen stattfinden und bedarf keiner umfassenden Übertra-
gung von Kompetenzen für einen Bereich, in dem nach
Art. 152 Abs. 5 die „Verantwortung der Mitgliedstaaten
für die Organisation des Gesundheitswesens und die me-
Zu Protokoll
dizinische Versorgung in vollem Umfang“ gewahrt blei-
ben soll.
Der ursprüngliche Entwurf des heute abgestimmten
Entschließungsantrags der Koalitionsfraktionen hat
diese Aspekte klar benannt. Leider wurde diese Klarheit
bei der anschließenden Abstimmung mit dem Bundesmi-
nisterium für Gesundheit sehr reduziert. Aus diesem
Grund sehen sich die Mitglieder meiner Fraktion nicht in
der Lage, diesem Entschließungsantrag in seiner neuen
Form zuzustimmen.
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Die Befassung mit dem von der EU-Kommission vor-gelegten Weißbuch für eine EU-Gesundheitsstrategie gibtuns die Gelegenheit, einige ganz wesentliche Punkte an-zusprechen. Es geht dabei um die Haltung Deutschlandszu grundsätzlichen Weichenstellungen für die Gesund-heitspolitik auf europäischer Ebene.Diese Überlegungen haben die die Regierungskoali-tion tragenden Fraktionen gemeinsam im vorliegendenEntschließungsantrag zusammengefasst. Aus Sicht derBundesregierung möchte ich den Entschließungsantragnachdrücklich unterstützen. Es ist überaus erfreulich,dass Parlament und Regierung bei diesem Thema an ei-nem Strang ziehen.Wir sind uns einig, dass die Initiative der EU-Kommis-sion für eine Gesundheitsstrategie grundsätzlich dieChance beinhaltet, den Stellenwert und die Sichtbarkeitder europäischen Gesundheitspolitik als zentralen Poli-tikbereich zu erhöhen. Gleichwohl muss unmissverständ-lich klargemacht werden: Die Verantwortung der Mit-gliedstaaten für die Gestaltung und Steuerung derGesundheitssysteme darf nicht von der Gesundheitsstra-tegie infrage gestellt werden. Die geltende Kompetenzab-grenzung zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommis-sion muss gewahrt bleiben.Es wird bei der Umsetzung der Gesundheitsstrategiedarauf zu achten sein, dass die Zuständigkeiten auchnicht durch den beabsichtigten Mechanismus zur struktu-rierten Zusammenarbeit verwischt werden. Hier gilt ge-nauso wie in der Offenen Methode der Koordinierung,dass wir insbesondere die Festlegung von quantifiziertenZielen auf EU-Ebene nicht akzeptieren sollten.Darüber hinaus wäre der Versuch, die historisch ge-wachsenen und hochkomplexen Gesundheitssystemeüber verallgemeinerte europäische Zielvorgaben zu steu-ern, sowieso zum Scheitern verurteilt. So einfach geht dasnicht.Wir begrüßen hingegen ausdrücklich eine europäischeKoordinierung und Zusammenarbeit in den Bereichen, indenen ein klarer Mehrwert zu erkennen ist oder sich He-rausforderungen grenzüberschreitend stellen, zum Bei-spiel bei der Bekämpfung von Aids oder bei einemgemeinsamen Vorgehen zur Förderung von gesunder Er-nährung und mehr Bewegung. Hier können wir durcheine verbesserte europäische Kooperation Vorteile für dieBürgerinnen und Bürger realisieren.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17685
gegebene Reden
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17686 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/9412, in Kenntnis der Unterrichtung
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Enthal-
tung von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen des
restlichen Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Cornelia Behm, Hans-Josef Fell, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr Engagement für eine nachhaltige Tou-
rismusentwicklung – Ausweisung der CO2-Bi-
lanz bei Pauschalreisen
– Drucksache 16/9346 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Klaus
Brähmig, CDU/CSU, Dr. Reinhold Hemker, SPD, Jens
Ackermann, FDP, Dr. Ilja Seifert, Die Linke, Bettina
Herlitzius, Bündnis 90/Die Grünen.
Der heute zu debattierende Antrag zum Thema „Mehr
Engagement für eine nachhaltige Tourismusentwick-
lung“ der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zielt vor al-
lem darauf ab, Verbrauchern künftig durch die Auswei-
sung der mit einer Pauschalreise verbundenen CO2-
Emissionen die Möglichkeit zu geben, ihre Reiseentschei-
dung auch nach der Klimabelastung ihrer Reise zu tref-
fen. Deshalb sollen alle Reiseveranstalter verpflichtet
werden, die transferbedingten CO2-Emissionen und alle
anderen klimawirksamen Emissionen von Pauschalreisen
in Katalogen, Broschüren, sonstigen Printmedien sowie
im Internet gut sichtbar auszuweisen. Zur Begründung
wird darauf verwiesen, dass die mit dem Tourismus ver-
bundenen Probleme einen besonderen Stellenwert haben,
da der Tourismus etwa 5 Prozent der weltweiten CO2-
Emissionen verursacht und sich dieser Anteil aufgrund
hoher Wachstumsraten weiter vergrößern wird.
Die grundsätzliche Idee, den Verbrauchern mehr In-
formationen über die reisebedingte Umweltbelastung zur
Verfügung zu stellen, ist zu begrüßen. Diese Überlegung
sorgt aber für technische, organisatorische und finan-
zielle Probleme bei den Anbietern von Pauschalreisen.
Eine solche Auflistung für sämtliche im Rahmen einer
Pauschalreise gebuchten Verkehrsmittel wäre nicht nur
sehr aufwendig, sondern technisch schwer zu erstellen.
Bei der Angebotserstellung von Pauschalreisen stehen
die dabei genutzten Verkehrsmittel noch nicht fest. Dies
betrifft zum Beispiel unterschiedliche Flugzeugtypen
oder die Flugrouten, die vielleicht Zwischenlandungen
beinhalten. Die genaue Umrechnung auf den einzelnen
Passagier und damit auf die einzelne Reise hängt weiter
von der Auslastung sowie dem Frachtanteil des jeweili-
gen Fluges ab, was ebenfalls vorher nicht absehbar ist.
Dies wäre auch eine einseitige Belastung von Reisever-
anstaltern gegenüber den Verkehrsträgern Bus, Bahn
etc., die diese Information nicht liefern müssten. Außer-
dem würde bei dieser Erhebungspraxis der hohe Anteil
der Geschäftsreisen nicht berücksichtigt.
Dennoch wäre es wünschenswert, wenn für alle Reisen
eine annäherungsweise CO2-Bilanz vorliegen würde.
Diese könnte beispielsweise durch Durchschnittswerte
des Flottenverbrauchs der einzelnen Verkehrsträger Bus,
Schiff, Bahn und Flugzeug errechnet werden. Wir sind al-
lerdings absolut gegen eine gesetzliche Vorgabe, sondern
setzen auf freiwillige Selbstverpflichtung, und das aus gu-
tem Grund: 1994 hat Friedemann Prose in seiner Studie
„Ansätze zur Veränderung von Umweltbewusstsein und
Umweltverhalten aus sozialpsychologischer Perspek-
tive“ darauf hingewiesen, dass Selbstverpflichtungen die
größte Wirksamkeit beim Klimaschutz haben. Dort heißt
es:
Ein Klimaschutz-Marketing, mit dem eine nachhal-
tige Verhaltensänderung bewirkt werden soll,
müsste direkt und indirekt dazu beitragen, ein Ge-
meinwohldenken und -handeln sowie ein entspre-
chendes Problem- und Verantwortungsbewusstsein
zu entwickeln, bestärken und zu fördern.
Das kann nach Proses Ansicht nicht von außen er-
zwungen werden, sondern nur über die von innen kom-
mende Motivation und die Verinnerlichung entsprechen-
der Werte dauerhaft entstehen. Weiter heißt es dort:
Rein betriebswirtschaftliche Begründungen oder
ausschließliche Berechnungen der individuellen
Kosten/Nutzen-Relation wirken dem Gemeinwohl-
denken entgegen. Ordnungspolitische und finanzielle
Maßnahmen bedeuten äußeren Zwang bzw. externe
Anreize. Sie sind kaum geeignet, Einstellungen dau-
erhaft zu verändern und eine innere Motivation auf-
zubauen.
Selbstverpflichtung, Zielsetzungsprozeduren und Vor-
bildverhalten haben sich empirisch als wirksamste In-
strumente einer langfristigen Verhaltensänderung erwie-
sen.
Insofern würde ich mir wünschen, dass beispielsweise
der besonders umweltfreundliche Verkehrsträger Reise-
bus mit der Bereitstellung von solchen Informationen zur
CO2-Bilanz seinen Beitrag zum Klimaschutz noch besser
darstellen könnte. Auch deutsche Fluggesellschaften ver-
fügen aufgrund einer sehr modernen und verbrauchs-
armen Flotte über einen Wettbewerbsvorteil gegenüber
vielen ausländischen Konkurrenten. Wenn sich die ersten
Reiseveranstalter mit solchen Angaben freiwillig profilie-
ren, wird das geänderte Umweltbewusstsein automatisch
einen Druck auf die Branche erzeugen und ein langfristi-
ges Umdenken in Gang setzen.
Wir sollten bei der ganzen Diskussion um die Nachhal-
tigkeit von Reisen nicht damit anfangen, Reiseziele ge-
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Klaus Brähmig
geneinander auszuspielen. Die gegenwärtige Debatte um
Einschränkungen bei Flugreisen zugunsten des Klima-
schutzes lässt leider die vielen positiven Effekte von Flug-
reisen völlig außer Acht. Weltweit setzen viele Entwick-
lungsländer auf den Tourismus zur Armutsbekämpfung
und erwirtschaften damit dringend benötigte Devisen.
Aber auch in Deutschland sichert der Tourismus direkt
und indirekt fast 3 Millionen Arbeitsplätze – zu einem er-
heblichen Umfang auch durch Auslandsurlaub und Flug-
reisen. Gute Flugverbindungen sorgen im Übrigen mit
dafür, dass Deutschland große Zuwächse an ausländi-
schen Gästen verzeichnen kann, deren Ausgaben deutlich
über denen der inländischen Gäste liegen.
Außerdem wurde im Luftverkehr durch immer effizien-
tere Triebwerke, Flottenmodernisierungen und eine bes-
sere Auslastung der Flugzeuge eine nachhaltige Reduzie-
rung des Treibstoffverbrauchs erreicht. Ein Verbrauch
von 3 Litern auf 100 Kilometer pro Passagier ist hier
schon oft verwirklicht. Wichtige Schritte zur weiteren Re-
duzierung des Verbrauchs wären vor allem die Beseiti-
gung von Engpässen in der Verkehrsinfrastruktur, zum
Beispiel im Bereich der Flugsicherung, dem bedarfsge-
rechten Ausbau von Flughäfen und dem Abbau unnötiger
Warteschleifen.
Weiterhin leistet der Tourismus auch einen wichtigen
Beitrag zur Völkerverständigung. Tourismus ist eine her-
vorragende Form der Außenpolitik, da das Kennenlernen
anderer Kulturen die Wahrscheinlichkeit feindlicher
Handlungen oder kriegerischer Auseinandersetzungen
wesentlich verringert. Diese Aspekte des Reisens sollten
Sie, liebe Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, nicht
vernachlässigen. Gerade Sie fordern doch sonst immer
ganzheitliche Politikansätze.
Abschließend möchte ich noch auf die Forderung ein-
gehen, der Bund solle sich als Eigentümer der Deutschen
Bahn AG dafür einsetzen, dass die Bahn künftig aus-
schließlich Strom aus erneuerbaren Energiequellen be-
zieht. Die Atomkraft aus Sicht des Klimaschutzes und aus
Kostengründen aus der Betrachtung auszuschließen,
zeigt schon Ihre rein ideologische und nicht von Logik ge-
prägte Denkweise. Die Verteuerung der Bahnfahrkarten
durch Ökostrom wird sicherlich nicht die Attraktivität der
Bahn steigern. Es ist eher zu befürchten, dass der Pkw
dann vergleichsweise doch wieder ein günstiges Verkehrs-
mittel bleibt. Aber auch hier ist ja noch ein Umdenken
möglich. Vielleicht werde ich noch erleben, dass grüne
Politiker mit Transparenten für den Bau neuer moderner
Atomkraftwerke demonstrieren. Das wäre ein effizienter
Weg, den Klimawandel zu gestalten, und er wird von fast
allen westlichen Ländern – mit Ausnahme Deutschlands –
beschritten. Zwei Spitzenfunktionäre der Grünen haben
ja nach ihrem Ausscheiden aus dem Parlament das
Potenzial der Atomenergie für sich schon erkannt.
Der vorliegende Antrag befasst sich mit einem Teilas-pekt der gesamten Bemühungen für den Klimaschutz, ins-besondere durch die Minderung der CO2-Emissionen. Inden Antrag eingearbeitet sind Erkenntnisse, die in denBerichten der Bundesregierung seit langem vorgelegtZu Protokollwurden und werden. Im Feststellungsteil werden teilweiseFakten genannt, auf die sich auch die Bundesregierungim letzten Tourismusbericht, Drucksache 16/8000, bezo-gen hat. Dazu gehört die Feststellung, dass der Touris-mus nach Schätzung der Welttourismusorganisation,UNWTO, derzeit etwa 5 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verursacht, genauso wie der Verweis auf diedoppelte Verknüpfung von Tourismus und Klimawandel.Denn zum einen ist eine intakte Umwelt eine der wichtigs-ten Rahmenbedingungen für einen Tourismusstandort,zum anderen werden gerade auch durch den TourismusUmweltbelastungen verursacht, die zum Klimawandelbeitragen.Positiv ist an dem Antrag, dass bezogen auf den Be-reich Tourismus auf denkbare und bereits existente Ini-tiativen wie zum Beispiel die Initiative von atmosfair ein-gegangen wird.Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass eine isolierteInitiative, wie im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen in-tendiert, nicht losgelöst von dem ambitionierten Gesamt-konzept der Bundesregierung für einen wirksamenKlimaschutz verfolgt werden sollte. Ziel aller Einzelbe-mühungen in der Energie- und Umweltpolitik muss die Si-cherstellung von Versorgungssicherheit, Wirtschaftlich-keit und Umweltverträglichkeit sein. Das Ziel einerbesseren CO2-Bilanz soll weder die Wettbewerbsfähigkeitder Unternehmen einschränken noch die Verbraucherüberfordern. Klimaschutz muss Teil und nicht Hemm-schuh einer modernen ökonomischen Entwicklung sein.Durch den Anstieg der Preise für fossile Energie,durch die Möglichkeiten für Wertschöpfung und Beschäf-tigung bei der Ausweitung der erneuerbaren Energienund durch die großen Potenziale der Technik für erneuer-bare Energien für neue Exportmärkte erbringt Klima-schutz bereits heute mehr, als dass er „kostet“. DieserTenor sollte in allen Bemühungen zum Klimaschutz he-rausgestellt werden.Hingewiesen werden muss ebenfalls darauf, dass ein-zelne im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen erwähnteMaßnahmen ohnehin bereits zum Beispiel von den Ver-kehrspolitikern, die Verantwortung im Bereich der Deut-schen Bahn AG tragen, im Rahmen ihrer jeweiligen Zu-ständigkeit verfolgt werden. Das gilt nicht nur für dieNutzung von Strom aus erneuerbaren Energiequellen,sondern für die gesamten auf Nachhaltigkeit ausgerich-teten Maßnahmen im Bereich der Deutschen Bahn AG.Regierungsamtlich verordnet werden können solcheMaßnahmen, wie sie im Antrag genannt werden, ohnehineher nicht.Zudem ist die Bundesregierung derzeit dabei, die Emp-fehlungen der UN-Klimakonferenz auf Bali umzusetzen.Dazu gehört unter anderem auch die im Antrag vonBündnis 90/Die Grünen erwähnte europäische Initiativezur Abschaffung der Steuerbefreiung von Kerosin.Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass bei denjetzt laufenden Zwischenabstimmungen für die Bali-Nachfolgekonferenz im Jahr 2009 in Kopenhagen der Be-reich des Flugverkehrs elementarer Bestandteil der Ver-einbarungen zur Reduzierung der Treibhausgase wird.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17687
gegebene Reden
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Dr. Reinhold HemkerDabei werden einzelne Aspekte aus dem Antrag derGrünen berücksichtigt werden. Es ist auch darauf hinzu-weisen, dass zum Beispiel die Einbeziehung des Flugver-kehrs in den Emissionshandel als sehr positive Entwick-lung bewertet werden muss.Zusammengefasst: Wichtig ist, dass diejenigen, diesich um eine nachhaltige Tourismusentwicklung bemü-hen, das Gesamtkonzept der Bundesregierung mit ihrenjeweiligen Schwerpunkten begleiten und auf die baldigeVerabschiedung des Gesamtkonzeptes drängen. Einzelne,isolierte Initiativen, die zudem in den Verantwortungs-und Ausgestaltungsbereich von Reiseveranstaltern ein-greifen, sind nicht zu befürworten. In den Gesprächen mitdem Deutschen Tourismusverband und der DeutschenTourismuszentrale mit einzelnen Reiseveranstaltern sinddie im Antrag genannten Punkte ohnehin immer Ge-sprächsgegenstand.Ich freue mich auf die Fachdiskussionen und frucht-bare Anregungen im Ausschuss.
Der Antrag der Grünen „Mehr Engagement für eine
nachhaltige Tourismusentwicklung – Ausweisung der
CO2-Bilanz bei Pauschalreisen“ geht grundsätzlich in
eine richtige Richtung. Leider ist aber die Umsetzung im
Detail nicht so gut gelungen.
So wird in den ersten drei der acht Forderungen an die
Bundesregierung gefordert, die Reiseveranstalter zur
Ausweisung der CO2-Emissionen zu verpflichten, und
zwar für jede Reise, in sämtlichen Medien und Katalogen.
Das ist ein riesiger Mehraufwand für die Veranstalter,
und die dadurch entstehenden Kosten würden mit Sicher-
heit auf den Endverbraucher umgelegt werden. Dabei
sollte es doch unser gemeinsames Anliegen sein, den Tou-
rismus in Deutschland zu stärken. Die Wachstumsbran-
che Tourismus hat eine zu große ökonomische Bedeutung,
um sie willentlich mit übertriebener Bürokratie zu brem-
sen. Wir als FDP sind für den Bürokratieabbau und nicht
für den Bürokratieaufbau. Gerade für ländliche und tou-
ristisch kleiner organisierte Veranstalter ist eine weitere
bürokratische Hürde wie die Verpflichtung zur Auswei-
sung der CO2-Emission enorm blockierend. Daher sind
wir für eine Selbstverpflichtung der Reiseveranstalter.
Das gleiche gilt für Standards wie TREMOD. Warum
sollte man diese zur Verpflichtung machen? TREMOD ist
die allgemein akzeptierte Datengrundlage für Energie-
und Emissionsdaten aus dem Bereich Verkehr und damit
jetzt schon Grundlage für alle Reiseveranstalter. Warum
sollte man an einer funktionierenden Sache etwas än-
dern?
Mit der Forderung, die Verbraucher zu informieren,
muss man vorsichtig sein, werden dann doch die Verbrau-
cher, die aufgrund ihrer finanziellen Lage nicht zwischen
ökologisch sinnvollen und preiswerten Reisen unterschei-
den können, diskriminiert. Wir dürfen nicht vergessen,
dass mehr als die Hälfte aller Reisenden sich bei der Wahl
ihres Urlaubes stark am Preis orientiert. Umweltschutz
spielt für diese Gruppe nur eine untergeordnete Rolle.
Man darf diesen Teil der Urlauber aber nicht vergessen
Zu Protokoll
und sollte sie behutsam und nicht mit dem Knüppel an ei-
nen nachhaltigen Tourismus heranführen.
Daher unterstützen wir auch den Punkt fünf der For-
derungen der Grünen, nämlich den eingeschlagenen Weg
zur Stärkung des Deutschlandtourismus konsequent fort-
zusetzen. Das geht eben nicht von heute auf morgen.
Schwierig wird es bei der sechsten Forderung. Grund-
sätzlich sind wir als FDP auch für die Abschaffung der
Steuerbefreiung für Kerosin, aber nur, wenn wir welt-
bzw. mindestens europaweit eine einheitliche Lösung fin-
den. Wir können es uns nicht erlauben, den deutschen
Tourismussektor im Vergleich zu anderen Ländern so
schlechterzustellen. Dies wäre ein klarer Rückschlag für
die gesamte deutsche Tourismusbranche. Derartige na-
tionale oder europäische Alleingänge bringen nichts für
den Klimaschutz, da dies vor allem zu Verlagerungen
führt. Profitieren würde zum Beispiel ein Standort wie
Dubai, der heute schon in den Startlöchern steht und nur
auf solche ideologischen Eigentore aus Europa lauert.
Den Schaden hätte der Luftverkehrsstandort Deutsch-
land bzw. Europa. Das können auch Sie als Grüne nicht
wollen. Denn kaum eine Branche sichert so viele Arbeits-
plätze und schafft sogar neue wie der Luftverkehr.
Ich frage mich, ob die Grünen ein besonderes Interesse
an dem Unternehmen atmosfair gGmbH haben. Sie nen-
nen das Unternehmen als einziges Beispiel für einheitli-
che Regularien zur Leistung eines Beitrages zur Treib-
hausgasminderung. Dabei gibt es noch mehrere
Angebote von unterschiedlichen Unternehmen, die auf
ähnliche Weise dem ökologisch interessierten Reisenden
Möglichkeiten zur Abgeltung seiner „Ökoschuld“ bieten.
Wir weigern uns, wenn es darum geht, sich auf ein Unter-
nehmen festzulegen, da das dem Wettbewerb sicher nicht
hilft.
Die achte Forderung, dass sich die Bundesregierung
für die ausschließliche Verwendung von Ökostrom einset-
zen soll, lehnen wir ab. Die Deutsche Bahn AG wurde,
wie der Name schon sagt, bewusst zur AG, damit sich der
Bund nicht in organisatorische Abläufe einmischt. Auch
hier wäre eine Selbstverpflichtung sinnvoller als jede er-
zwungene Verpflichtung.
Voraussetzung für eine langfristig ökonomisch erfolg-
reiche Entwicklung des Tourismus sind neue Ansätze,
aber das weiß die Branche ja selber. Daher gibt es inner-
halb der Tourismusindustrie verstärkt Ideen und konkrete
Handlungen, zum Beispiel den Tourismus per Bus und
Bahn. Auch die verstärkte Nachfrage nach Reisen inner-
halb Deutschlands zeigt doch, wie stark sich auch das
Reiseland Deutschland etabliert hat. Dass die Reisenden
damit nebenbei die Umwelt schonen, weil sie auf lange
Flüge verzichten, ist doch sehr gut. Daher kann man
grundsätzlich den Antrag der Grünen als Idee gutheißen,
leider mangelt es an der realistischen Umsetzung, da es
zu viel Bürokratie bedeutet und zu teuer ist.
Ja, es stimmt: Die Tourismusbranche wächst weltweitund auch in Deutschland stärker als viele andere Wirt-schaftsbereiche. Mehr Reisende bringen auch ein Mehran Belastungen für Klima und Umwelt.
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17688 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
gegebene Reden
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Dr. Ilja SeifertTrotzdem ist es für die Linke eine Errungenschaft,wenn nicht nur wenige Reiche, sondern zunehmend mehrMenschen andere Länder und Kulturen kennenlernenkönnen. Wenn also der Ferntourismus heute einer breitenMasse offensteht, halten wir dies für eine Demokratisie-rung des Zugangs zu interkultureller Erfahrung. Selbst-verständlich wissen wir auch um die Bedeutung desKlimaschutzes und sehen die damit einhergehenden Pro-bleme. Die Situation ist und bleibt janusköpfig.Den vorliegenden Antrag halte ich vom Anliegen herzunächst einmal für begrüßenswert. Die geforderte Infor-mation über die jeweilige CO2-Emission von Touristik-angeboten folgt einem ähnlichen Prinzip der Ermögli-chung bewusster Verbraucherentscheidungen wie etwadie Ausweisung der Inhaltsstoffe von Nahrungsmitteln,die Warnungen vor Gesundheitsrisiken auf Zigaretten-schachteln, die Energiebilanz bei Elektrogeräten oderandere Beispiele der Produkttransparenz, wie sie heutebereits zum Standard geworden sind.Dennoch müssen einige Ihrer Ausgangspunkte und diedaraus vorgeschlagenen Konsequenzen hinterfragt wer-den. Sie beziehen sich bei der Analyse von CO2-Emissio-nen der Tourismuswirtschaft lediglich auf die Transfers,also das Reisen von A nach B, nicht aber auf den Aufent-halt selbst. Innerhalb dieser Transfers zielt Ihr Antrag le-diglich auf die Gruppe der Pauschalreisen, mit anderenWorten: den sogenannten Massentourismus.Die Linke hält jedoch auch die Ökobilanz des touristi-schen Aufenthaltes vor Ort für nicht unbedeutend. Hierzeigt sich, dass die individuelle Umweltbilanz gerade fürLuxusreisende – große vollklimatisierte Suiten, riesigebeheizte Pools, Golfanlagen, private Safaris etc. – weit-aus höher ist als die des einzelnen „Massentouristen“,der sich doch mit verhältnismäßig einfachem Komfort be-scheidet. Es ist also unklar, warum sich Ihre Forderungnur auf den Transfer und dann ausgerechnet auf Pau-schalreisen beschränkt.Selbst wenn man nur den Transport ins Auge fasst – alseinen ersten und wichtigen Schritt vielleicht –, wäre eszielführender und konsequent, alle Personentransportedurch die neue Regelung zu erfassen. Warum verpflichte-ten wir nicht alle Verkehrsträger – Fluggesellschaften,die Bahn, Busunternehmen, Schiffe –, auf ihren Ticketsdie jeweilige CO2-Belastung auszuweisen? Sicherlichgibt es auch Möglichkeiten, Autofahrer über ihren indivi-duellen CO2-Ausstoß je Fahrt zu informieren. Pauscha-lanbieter können dann verpflichtet werden, diese Anga-ben bei ihren Angeboten mit aufzuführen, da sie dieseAngaben beim Einkauf der Transferleistungen vom Ver-kehrsträger erhalten. All dies würde das Bewusstsein fürKlimafragen schärfen, und hier würde sich auch zeigen,dass ein Erste-Klasse-Flugticket die Umwelt deutlich hö-her belastet als eines in der Touristenklasse.Einig sind wir uns auch in der Frage, dass das Auswei-sen der CO2-Bilanz allein nicht für eine nachhaltige Tou-rismusentwicklung reicht. Notwendig sind unter anderemdie Kerosinsteuer im Flugverkehr und andererseits diestärkere Förderung des Inlandstourismus, vor allem desRad- und Wandertourismus. Ein richtiger Weg wäre, denöffentlichen Fernverkehr mit Bus und Bahn – auch imZu ProtokollVerbund mit den europäischen Nachbarländern – auszu-bauen und – verstanden als soziale und umweltbewussteAufgabe – weitgehend öffentlich zu finanzieren. Leider istdie Koalition mit der Bahnprivatisierung den entgegen-gesetzten Weg gegangen. Es war ihre Entscheidung, dieBahn profitorientiert statt sozial- und damit klimaorien-tiert zu entwickeln. Es ist pervers, wenn Menschen inner-halb Deutschlands nur mit dem Flugzeug reisen, weil esdeutlich preiswerter ist als die Bahn. Selbst Reisende mitUmweltbewusstsein müssen angesichts ihrer Einkommenauf den billigeren Verkehrsträger zurückgreifen. Ich willauch nicht das Kind mit dem Bade ausschütten: JederVerkehrsträger hat seine Stärken und Schwächen. WerFerntourismus will – und wir möchten, dass sich Men-schen verschiedener Kontinente begegnen –, brauchtauch bezahlbare Flugreisen. Amerika ist mit dem Rad,dem Bus oder der Bahn von Europa aus nicht zu errei-chen. Es geht darum, das aus umweltpolitischer Sichtjeweils optimale Verkehrsmittel für eine bestimmte Ent-fernung für den Einzelnen auch ökonomisch zum attrak-tivsten zu machen.Natürlich gibt es auch Reisen, deren Sinn mit Blick aufdie Klimabelastungen bezweifelt werden muss. Dazu ge-hören die Kurzreisen zum Shoppen nach New York, Dubaioder Mailand ebenso wie manche Geschäftsreise, die vie-len unnötigen Beamtenshuttles zwischen Berlin und Bonnoder die Reisen der Bundeswehr an den Hindukusch.Wir brauchen eine sozial gerechte und umweltbe-wusste Tourismuspolitik und keine Tourismuspolitik, beider die Klimabilanz aufgebessert wird, indem Menschenmit niedrigen Einkommen ausgegrenzt werden. Das wäreunsolidarisch und ist mit der Linken nicht zu machen.
Die Tourismuswirtschaft zählt zu den weltweit amstärksten wachsenden Branchen. Aber wir alle wissenauch, dass es durch den Tourismus zu problematischenEntwicklungen für Natur, Umwelt und bei der Einhaltungsozialer Standards kommen kann. Das haben wir in die-sem Haus bereits mehrfach thematisiert. Der Klimawan-del wird Auswirkungen auf den Tourismus haben, auchdas wird der Branche zunehmend bewusster. Leider han-delt die Tourismusindustrie aber noch nicht danach, aus-genommen wenige nachhaltige touristische Nischenpro-dukte.Mit unserem vorliegenden Antrag „Ausweisung derCO2-Bilanz bei Pauschalreisen“ wollen wir uns dieKräfte des Marktes für die von uns Grünen gewünschtenachhaltige Tourismusentwicklung zunutzemachen. Da-bei wollen wir mit unseren politischen Aktivitäten geradenicht die touristischen Nischenprodukte ansprechen. InZeiten des Klimawandels sollte auch die Massentouris-musindustrie Zeichen setzen und verpflichtet werden, beiihren Pauschalreiseangeboten die Höhe der transferbe-dingten CO2-Emissionen auszuweisen. Warum also aus-gerechnet die Ausweisung bei Pauschalreiseangeboten?Pauschal- und Bausteinreisen sind bei den Auslandsrei-sen mit knapp 60 Prozent die am häufigsten gewählte Artder Organisation einer Urlaubsreise. Bei der Wahl desVerkehrsmittels für diese Art der Urlaubsreise liegt dasFlugzeug bei den Auslandsreisen deutlich an erster Stelle.Sie alle wissen, dass beim Flugverkehr über elfmal mehr
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008 17689
gegebene Reden
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17690 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 166. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2008
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Bettina HerlitziusCO2-Emissionen im Vergleich zum Reisebus oder gar zumFernverkehr der Bahn in die Atmosphäre emittiert wer-den. Flugreisen, Flugverkehr überhaupt sind ein großesUmweltproblem. Wir Grünen wollen uns dafür stark ma-chen, dass die Verbraucher für die Problematik „Reisen– Treibhauseffekt – Klimawandel“ sensibilisiert werden.Tourismus und Mobilität sind eng miteinander verwo-ben. Tourismus ist abhängig von Mobilität und trägt da-mit unweigerlich zum Klimawandel bei. Zur Verdeutli-chung: Im Tourismus sind 75 Prozent des CO2-Ausstoßesder Mobilität zuzurechnen. Gerade deshalb steht dieWahl des Transportmittels bei einer Reise im Mittelpunkt,wenn man den CO2-Verbrauch einer Reise reduzierenwill. Man kann es nicht oft genug sagen, es gibt große Un-terschiede zwischen der Art des für eine Reise gewähltenVerkehrsmittels und den jeweiligen spezifischen CO2-Be-lastungen. Die Angaben zum CO2-Verbrauch für denTransport bei einer Pauschalreise sind deshalb ein ersterSchritt zu mehr Transparenz. Mit der von uns Grünen an-gestrebten Ausweisung hat jede/jeder Reisende selbst dieMöglichkeit, seine Reiseentscheidung auch nach der Kli-mabelastung der Reise zu treffen. Das trifft den Puls derZeit. Und auch der Deutschlandtourismus könnte von ei-ner Ausweisung der CO2-Bilanz bei Pauschalreisendurchaus profitieren und gestärkt werden.Die Verbraucher legen immer mehr Wert auf gesell-schaftliche und ökologische Verantwortung. Wir wollennicht den Sommerurlaub des „kleinen Mannes“ aufMallorca oder gar die Fernreise verbieten. Es ist auchnicht unser Ziel, den moralischen Zeigefinger zu heben.Wir Grüne setzen auf mehr Augenmerk der Verbraucherfür verantwortungsvolles Reisen. Das lässt sich nur mittransparenter Informationspolitik erreichen. Dazu bittenwir um die Unterstützung dieses Hauses.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9346 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Michaela
Noll, Antje Blumenthal, Thomas Bareiß, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Wirksame Bekämpfung der Genitalverstüm-
melung von Mädchen und Frauen
– Drucksache 16/9420 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Michaela
Noll, CDU/CSU, Angelika Graf , SPD, Si-
bylle Laurischk, FDP, Dr. Kirsten Tackmann, Die Linke,
Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
„Was lange währt, wird endlich gut.“ Unter dieses
Motto könnte man unseren Antrag fassen. Wir haben uns
die notwendige Zeit genommen, um zu einem guten Er-
gebnis zu kommen.
Die langen Verhandlungen mit unserem Koalitions-
partner haben sich daher ausgezahlt. Nie zuvor gab es im
Deutschen Bundestag einen solch umfassenden und effek-
tiven Antrag zur Bekämpfung von weiblicher Genitalver-
stümmelung. Er ist weitreichender und vielseitiger als
alle Oppositionsanträge zusammen. Wir reden nicht nur,
sondern wir handeln.
In über 20 Maßnahmen gehen wir das Thema „Female
Genital Mutilation“, FGM, von allen Seiten an. Der
Handlungsbedarf ist auch wirklich geboten. Denn insge-
samt sind weltweit circa 140 Millionen Mädchen und
Frauen an ihren Genitalien verstümmelt. Laut einer
UNICEF-Studie kommen jährlich schätzungsweise 3 Mil-
lionen Mädchen im Alter von vier bis zwölf Jahren hinzu.
Schätzungen zufolge sind in Deutschland etwa 30 000
Frauen und Mädchen von Genitalverstümmelung betrof-
fen oder bedroht. Dies können und wollen wir nicht hin-
nehmen. Genitalverstümmelung ist eine schwerwiegende
Menschenrechtsverletzung, die wir entschieden verurtei-
len.
Inzwischen hat hier eine Sensibilisierung der Öffent-
lichkeit stattgefunden, wozu sicherlich auch die Bücher
von Waris Dirie und Fadumo Korn sowie die Medienbe-
richterstattung beigetragen haben. Die Bundesärztekam-
mer hat Empfehlungen zum Umgang mit Patientinnen
nach weiblicher Genitalverstümmelung gegeben, und die
Bundesregierung berücksichtigte die Problematik aus-
drücklich in ihrem Aktionsplan zur Bekämpfung der Ge-
walt gegen Frauen.
In meiner Rede möchte ich nun unseren Antrag vor-
stellen und mich dabei auf einige Punkte konzentrieren:
Für Mädchen und Frauen, denen Genitalverstümme-
lung in Deutschland droht, gilt, dass in Deutschland Ge-
nitalverstümmelung in jedem Fall eine Körperverletzung
gemäß § 223 Strafgesetzbuch, StGB, darstellt, unabhän-
gig davon, durch wen sie durchgeführt wird. In den meis-
ten Fällen ist Genitalverstümmelung auch eine gefährli-
che bzw. schwere Körperverletzung im Sinne des § 224
Abs. 1 Nrn. 2, 4, 5 und des § 226 StGB.
Oftmals wird die Forderung erhoben, Genitalverstüm-
melungen ausdrücklich in den Tatbestand des § 226 StGB
aufzunehmen. Eine Verurteilung nach dieser Vorschrift
hat bei Ausländerinnen und Ausländern jedoch die Aus-
weisung zur Folge. Dies führt daher zu einem Auseinan-
derreißen der Familie. Denn es sind oft die Eltern, die als
Mittäter in Betracht kommen. In der Anhörung haben
(C)
(D)
Michaela Noll
verschiedene Sachverständige darauf hingewiesen, dass
eine solche Folge den betroffenen Mädchen nicht hilft.
Viel wichtiger ist es, die jungen Mädchen und ihre Fa-
milien darüber aufzuklären, dass FGM in Deutschland
verboten ist. Deshalb wollen wir durch eine konsequente
Öffentlichkeitsarbeit darauf hinwirken, dass die Strafbar-
keit der Verstümmelung weiblicher Genitalien als Kör-
perverletzung der breiten Öffentlichkeit und insbesondere
bei den Migrantenorganisationen stärker bekannt ge-
macht wird, Mädchen und Frauen umfassend über ihre
Rechte und über Beratungs- und Zufluchtsmöglichkeiten
aufgeklärt werden.
Dazu gehört aber auch, die beteiligten Berufsgruppen
entsprechend fortzubilden. Nicht überall ist das Thema
Genialverstümmelung präsent. In unserem Antrag for-
dern wir daher, in Zusammenarbeit mit den Ländern
Fortbildungs- und Sensibilisierungskampagnen für Poli-
zei und Justiz, Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen
und Erzieher, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter so-
wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Jugend-, So-
zial-, und Ausländerbehörden anzubieten.
Was ich wirklich bemerkenswert finde, ist, dass es uns
gelungen ist, eine interministerielle Arbeitsgruppe einzu-
richten. Diese interministerielle Bund-Länder-NRO-
Arbeitsgruppe, IMA, unter der federführenden Koordina-
tion des BMZ soll sich an der Struktur und Arbeitsweise
der beiden Bund-Länder-Arbeitsgruppen „Häusliche Ge-
walt“ und „Frauenhandel“ des Bundesministeriums für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend orientieren. Sie
hat drei wesentliche Aufgaben: erstens die bundesweite
zielgruppensensible Aufklärung voranzubringen, zwei-
tens die Vernetzung und einen konstanten interdisziplinä-
ren Informationsaustausch der Akteurinnen und Akteure
in allen relevanten Berufsgruppen und Organisationen
sicherzustellen und drittens die fachliche Unterstützung
für Projekte auf Landes- und auf Bundesebene zu leisten.
Soweit zu einigen Maßnahmen auf nationaler Ebene.
Vergessen dürfen wir aber auch nicht die europäische
und die internationale Ebene. Weibliche Genitalverstüm-
melung ist ein weltweites Problem, dem man auch inter-
national begegnen muss. Unser Antrag sieht daher vor,
dass Deutschland sich auf internationaler und europäi-
scher Ebene für den Abbau und die Beseitigung von Ge-
walt gegen Frauen einsetzt und insbesondere im Rahmen
der Entwicklungszusammenarbeit konsequent auf Maß-
nahmen zur Bekämpfung geschlechtsbezogener und sexu-
eller Gewalt an Frauen und Mädchen hinwirkt.
All diese Maßnahmen und Bemühungen nutzen jedoch
nur wenig, wenn wir nicht die Herkunftsländer mit einbe-
ziehen. Genitalverstümmelung wird vorherrschend in
afrikanischen Staaten durchgeführt, am häufigsten in So-
malia, Ägypten Dschibuti, Sudan und in Guinea. Anhand
der Verteilung wird deutlich, dass die Tradition der Geni-
talverstümmelung keineswegs einer bestimmten Kultur
oder Religion zuzurechnen ist. In vielen Staaten ist Geni-
talverstümmelung gesetzlich verboten, wird aber den-
noch praktiziert. Unsere Anhörung hat außerdem sehr
deutlich gezeigt, dass die Maxime „Hilfe zur Selbsthilfe“
lauten muss. Denn es macht keinen Sinn, dass wir in diese
Zu Protokoll
Länder gehen und den Menschen vor Ort nahelegen, wie
sie zu leben haben und wie sie die Genitalverstümmelung
zu bekämpfen haben. Dieser Handlungsvorschlag ist
auch explizit mit in unseren Antrag aufgenommen wor-
den. Dort heißt es dazu: Bei allen Maßnahmen im Rah-
men der Entwicklungshilfe ist die Zusammenarbeit mit al-
len Generationen zu gewährleisten und die Maxime
„Hilfe zur Selbsthilfe“ stets zu beachten.
Die Union hat sich in diesem Zusammenhang beson-
ders dafür starkgemacht, dass bei Projekten vor Ort Al-
ternativrituale und Berufsperspektiven für Beschneide-
rinnen mit berücksichtigt werden. Auch ist es wichtig, die
Männer mit ins Boot zu nehmen. Bei vielen Projekten hat
sich gezeigt: Wenn auch die Männer über dieses grau-
same Ritual aufgeklärt werden und sie erfahren, was den
Mädchen und Frauen an Körper und Seele angetan wird,
lehnen sie oftmals diese Tradition ab.
„Es muss aufhören, endlich aufhören“, schrieb die
UNO-Sonderbotschafterin Waris Dirie. Mit diesem um-
fassenden Antrag kommen wir diesem Ziel ein entschei-
dendes Stück näher.
Genitalverstümmelung ist eine schwere Menschen-rechtsverletzung. Wir haben uns schon mehrfach imDeutschen Bundestag mit dieser grausamen Praxis aus-einandergesetzt. Trotz internationaler Ächtung der Geni-talverstümmelung, der Verurteilung dieser Praxis durchzahlreiche internationale Konventionen, trotz langen undintensiven Engagements von Politikern und Politikerin-nen, Nichtregierungsorganisationen, Betroffenen undJournalistinnen im Kampf gegen die Genitalverstümme-lung, trotz umfangreicher Projekte im Rahmen der Ent-wicklungszusammenarbeit und trotz einer von islami-schen Gelehrten ausgerufenen Fatwa – Kairo 2006 – istGenitalverstümmelung immer noch ein gravierendes Pro-blem. Insgesamt sind circa 130 bis 150 Millionen Mäd-chen und Frauen von Genitalverstümmelung betroffen.Die Zahl der Betroffenen wächst laut einer UNICEF-Stu-die jährlich um 3 Millionen, das heißt täglich um circa8 220.Genitalverstümmelung ist ein Ritus, der viele unter-schiedliche Rechtfertigungen kennt: von Initiation bis zurKontrolle über die weibliche Sexualität. Eltern lassenihre Töchter oftmals aufgrund sozialen Drucks verstüm-meln, denn nicht verstümmelte Frauen finden nur schwereinen Ehemann. Sie tun es nicht, weil sie ihren Töchterngezielt Schlimmes antun wollen, sondern weil eine archa-isch-grausame Tradition es so vorschreibt. Dennoch istihnen sicher klar, dass die Prozedur brutal ist, viele Mäd-chen während des Eingriffes oder an den Folgen sterben.Die Mütter wissen außerdem sicherlich aus eigener Er-fahrung, dass ihre Töchter lebenslang gesundheitlicheBeschwerden haben werden und ihnen durch die Verstüm-melung ihr Recht auf eine selbstbestimmte und lustvolleSexualität genommen worden ist. Wie sich ein Mann fühlt,der tagaus, tagein den sexuellen Akt mit einer verstüm-melten Frau ja oft nur mit Gewalt vollziehen kann – da-rüber kann man als Frau nur spekulieren.
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Angelika Graf
Allen, die sich auf politischer Ebene dem Kampf gegendie Genitalverstümmelung verschrieben haben, ist klar:Wir brauchen zur Bekämpfung von Genitalverstümme-lung einen integrativen Ansatz, der die Eltern von Anfangan in Aufklärung, Prävention und – wenn die Verstümme-lung bereits geschehen ist – in Beratung und Betreuungmit einbezieht. Das Thema muss bei den Betroffenen ausder Tabuecke geholt werden. Dies fordern wir in unseremAntrag ebenso wie die Sensibilisierung derjenigen Be-rufsgruppen, die, wie Polizei, Justiz, Lehrkräfte, Ärzte-schaft sowie Sozial- und Jugendamtsangestellte, vonAmts wegen mit bereits verstümmelten oder von Genital-verstümmelung bedrohten Mädchen und Frauen zu tunhaben.Obwohl wir bereits einiges über Genitalverstümme-lung und ihre Folgen wissen, haben wir immer noch zuwenig Kenntnis darüber, wie wir Menschen in Ländernmit der Tradition der Genitalverstümmelung nachhaltigdavon überzeugen können, diese Menschenrechtsverlet-zung einzustellen. In vielen Ländern insbesondere Afrikasist die Genitalverstümmelung bereits heute gesetzlichverboten. Sie wird dennoch landauf, landab praktiziert.Deshalb war es uns von der SPD besonders wichtig, dievon wissenschaftlichen Institutionen und Nichtregie-rungsorganisationen gemachten Vorschläge zu offenenForschungsfragen im Bereich der Prävention in den An-trag mit aufzunehmen.In den letzten Jahren sind zarte Fortschritte gemachtworden: Es gibt in der Entwicklungszusammenarbeit seiteinigen Jahren die erfolgreiche Erprobung von alternati-ven Initiationsriten oder Umschulungsmaßnahmen fürBeschneiderinnen. Das sind gute Beispiele. Wir könnenvon ihnen lernen und müssen sie im Rahmen der Entwick-lungszusammenarbeit, von humanitären Maßnahmen so-wie von Menschenrechtsdialogen weiter entwickeln.Aber auch die Frage, wie wir bei uns lebende Elternund Mädchen aus denjenigen Ländern erreichen, in de-nen Genitalverstümmelung weit verbreitet ist – immerhin30 000 –, müssen wir stärker erforschen, genauso wie dieinstitutionellen Engagements, die dafür notwendig sind.Weil wir die ganze Arbeit nicht allein auf zivilgesell-schaftliche Organisationen abschieben sollten, bin ichsehr froh, dass wir von der SPD es geschafft haben, imAntrag eine interministerielle Bund-Länder-NRO-Ar-beitsgruppe unter der federführenden Koordination desBMZ festzuschreiben. Das ist einer der wirklich innovati-ven Ansätze in diesem Antrag. Damit machen wir deut-lich, dass viele Ressorts bei der Bekämpfung der Genital-verstümmelung gefordert sind.Diese Arbeitsgruppe sollte sich an der Struktur undArbeitsweise der beiden Bund-Länder-Arbeitsgruppen„Häusliche Gewalt“ und „Frauenhandel“ des Bundes-ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugendorientieren. Aufgabe dieser Gruppe könnte dann sein:erstens die bundesweite zielgruppensensible Aufklärungvoranzubringen, zweitens die Vernetzung und einen kon-stanten interdisziplinären Informationsaustausch der Ak-teurinnen und Akteure in allen relevanten Berufsgruppenund Organisationen sicherzustellen und drittens fachli-Zu Protokollche Unterstützung für Projekte auf Landes- und auf Bun-desebene zu leisten.
Es ist im Allgemeinen eine große Freude für eineOppositionsfraktion, zu sehen, wie eigene Vorschläge inRegierungshandeln umgesetzt werden. So können wir füruns in Anspruch nehmen, die Bekämpfung der Genital-verstümmelung von Mädchen und Frauen schon seit län-gerem zu fordern. Wir waren mit unserer Kleinen Anfragebereits im April 2006 die Ersten in dieser Legislaturperi-ode, die dieses Thema auf die Agenda dieses Bundestagesgebracht haben. Die Fakten in der Antwort der Bundes-regierung auf unsere Fragen stellen die Grundlage unse-rer heutigen Diskussion dar. Im Dezember 2006 habenwir einen entsprechenden Antrag mit einem ausführli-chen Maßnahmenkatalog gestellt. Verwunderlich ist esdabei schon, dass dieser Antrag zusammen mit den An-trägen der anderen Oppositionsfraktionen im Familien-ausschuss am 12. März 2008 ein ablehnendes Votum er-halten hat, obwohl unsere zentralen Punkte sich imKoalitionsantrag jetzt wiederfinden. In der Beschluss-empfehlung finden sich Äußerungen des Bedauerns derKoalitionsvertreterinnen, dass kein überfraktioneller An-trag zustande gekommen sei. Hätten Sie doch das Ge-spräch gesucht, wir haben es immer wieder angeboten,statt bei uns zum Teil wörtlich abzuschreiben. Schon derDezember 2006 wäre ein guter Zeitpunkt für eine über-fraktionelle Initiative gewesen. Wir hätten dies begrüßt.Die Genitalverstümmelung in ihren verschiedenenSchweregraden stellt eine der gravierendsten Menschen-rechtsverletzungen an Frauen und Mädchen dar. Sie istnie wieder gutzumachen und führt zu lebenslänglichenTraumatisierungen, neben körperlichen Auswirkungenbis hin zum Tod auch zu erheblichen nachhaltigen seeli-schen Verletzungen. Sie ist an keine Religion gebundenund immer Ausdruck einer patriarchalischen, oft armenGesellschaft mit Bildungsdefiziten, die meint, Frauennicht nur in ihren Rechten, sondern auch körperlich be-schneiden zu müssen. Die Beschneiderinnen sind zwarFrauen, aber Täter hinter diesen Täterinnen sind Män-ner.Wenn schätzungsweise 30 000 von in Deutschland le-benden Mädchen und Frauen von Genitalverstümmelungbetroffen oder bedroht sind, so ist dies ein Ausdruck auchmangelnder Integration im Inland; sie soll den Frauendie Möglichkeit einer Rückkehr in das Heimatland offen-halten.Von den angekündigten Maßnahmen sind mir folgendebesonders wichtig: Die Sensibilisierung der Jugendämterund Gerichte hat bislang schon in Einzelfällen dazu ge-führt, dass bei drohender Genitalverstümmelung im Hei-matland der Eltern oder Großeltern das Aufenthaltsbe-stimmungsrecht der Sorgeberechtigten eingeschränktwird. Diese Sensibilisierung muss durch Aus- und Fort-bildungsmaßnahmen derjenigen, die mit Genitalverstüm-melungsopfern zu tun haben könnten, fortgesetzt und ver-tieft werden.Notwendig ist gerade in solchen akuten Bedrohungssi-tuationen, dass Schutzräume in ausreichender Zahl und
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Sibylle Laurischkerreichbar vorhanden sind. Frauen- und Kinderschutz-häuser sind also auch aus diesem Grunde finanziell zu si-chern. Die Möglichkeit der Stärkung der Opfer durch eineVerjährungshemmung bis zum Erreichen der Volljährig-keit des Opfers habe ich in der Anhörung der Sachver-ständigen nachgefragt. Das ist nicht nur generalpräven-tiv nötig, sondern für die Opfer auch die einzigeMöglichkeit, ihre Traumatisierung durch das Anstoßeneines Strafverfahrens zu bewältigen. Auch die Überprü-fung der Länder Ghana und Senegal im Hinblick auf ihreEinstufung als sichere Herkunftsländer auf deutscher undeuropäischer Ebene halte ich für notwendig.Die Einrichtung einer interministeriellen Arbeits-gruppe zur Koordination der unterschiedlichen Maßnah-men erscheint durchaus sinnvoll, wenn auch nicht imBMZ, da sie die in Deutschland zu treffenden Maßnah-men koordinieren soll. Vernünftig wäre es hingegen, dieentwicklungshilfepolitischen Maßnahmen selbst besserzu vernetzen. Sehr zu begrüßen sind Maßnahmen auchauf internationaler Ebene bei sonstigen Menschenrechts-verletzungen an Frauen, wie die sogenannten Ehrverbre-chen und Zwangsverheiratungen. Sie haben die gleicheUrsache wie die Genitalverstümmelung: eine patriarcha-lische Gesellschafts- und Familienstruktur, die Frauen-rechte beschneidet.
Weibliche Genitalverstümmelung ist eine schwereMenschenrechtsverletzung, die Frauen dauerhaft der se-xuellen Selbstbestimmung und eines Teils ihrer Persön-lichkeit beraubt und das Recht auf körperliche Unver-sehrtheit in schwerster Form verletzt. Mit der Forderungnach stärkeren und schärferen Gesetzen zur Strafverfol-gung allein wird sich diese menschenverachtende Praxisnicht – weder hier noch anderswo – verhindern lassen.Ich bin erfreut, im Antrag der Fraktionen der SPD undder CDU/CSU zu lesen, dass Sie die Sichtweise unsererFraktion übernommen haben und statt der Einführung ei-nes neuen Straftatbestandes lieber darauf einwirken wol-len, dass die bereits bestehende „Strafbarkeit der Ver-stümmelung weiblicher Genitalien als Körperverletzungder breiten Öffentlichkeit und insbesondere bei den Mi-grantenorganisationen stärker bekannt gemacht wird undMädchen und Frauen umfassend über ihre Rechte undüber Beratungs- und Zufluchtsmöglichkeiten aufgeklärtwerden“. Dass es einigen Expertinnen bei der Forderungnach einem eigenen Straftatbestand nicht vorrangig umdie Strafverfolgung ging, wurde ja auch in der öffentli-chen Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend zu den Anträgen der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen, der FDP-Fraktion und unserer Frak-tion, Die Linke, am 19. September 2007 deutlich. Bei-spielsweise wurde dafür plädiert, einen eigenenStraftatbestand „eher aus programmatisch abschrecken-der Perspektive“ zu schaffen, um die Aufklärungsarbeitzu erleichtern. Aus unserer Sicht ist es der wirkungsvol-lere Weg, wenn die Koalitionsfraktionen jetzt die Aufklä-rungs- und Beratungsarbeit durch umfassende Öffent-lichkeitsarbeit unterstützen wollen. Es ist erst auf den zweiten Blick nachvollziehbar, wel-che Schwierigkeiten mit einer sensiblen und unbedingtantirassistischen Aufklärungs- und Beratungsarbeit tat-Zu Protokollsächlich verbunden sind. Es geht um mehr als ein gesell-schaftliches Tabu, das verhindert, über Sexualität zu spre-chen. Es geht oft um ganz konkrete, individuelleTraumata, die eine Gesprächspartnerin erlitten hat.Während in der europäischen Diskussion davon gespro-chen wird, dass die Genitalien der betroffenen Frauenverstümmelt wurden, bezeichnen sich die meisten Afrika-nerinnen als „beschnitten“.Uns geht es vor allem auch um einen kultursensiblenUmgang. Das bedeutet, zu verstehen, dass afrikanischeFrauen ihren Töchtern nicht nur nicht schaden wollen.Vielmehr wollen sie ihnen „etwas Gutes tun“. Denn Ge-nitalverstümmelung ist in vielen ethnischen Gruppen dieVorbedingung für die Aufnahme von Frauen in die sozialeGemeinschaft. Nur so erhalten sie die Chance, über eineEhe ihren Lebensunterhalt abzusichern. Das kann, nein,das muss man ächten – aber es erfordert eben auch denBruch mit uralten Bräuchen und Ritualen. Im Grundegeht es um nichts weniger als die notwendige Verände-rung der sozialen Stellung der Frau in diesen Gesell-schaften und Communities. Der Ruf nach härteren Stra-fen ist angesichts dieser Herkulesaufgabe ebenso hilf-wie erfolglos.Eine solche anspruchsvolle Beratungs- und Aufklä-rungsarbeit braucht viel Zeit, Geld und muttersprach-liche Mitarbeiterinnen. Bislang wird diese Arbeit voneinzelnen, meist ehrenamtlichen Aktivistinnen und Bera-tungsstellen geleistet. Ihre Arbeit muss dringend unter-stützt und zu einem echten Beratungsnetz ausgebaut wer-den. Hier sind die Forderungen der Koalitionsfraktionenallerdings erschreckend dünn ausgefallen. Es ist bei wei-tem nicht genug, wenn sich die Bundesregierung gemein-sam mit den Bundesländern dafür einsetzt, „dass fürBetroffene Beratungs- und sonstige Unterstützungsleis-tungen auch weiterhin angeboten werden“. Hier ist dieBundesregierung vielmehr in der Pflicht, endlich einezentrale Stelle zur Koordination und Vernetzung der Ini-tiativen gegen Genitalverstümmelung zu schaffen.Auch eine weitere wichtige Forderung wurde in derAnhörung bestätigt: Es ist absolut notwendig, dass Mi-grantinnen bzw. Migranten beim Arztbesuch kostenfreieine Dolmetscherin in Anspruch nehmen können. Es kannnicht sein, dass etwa männliche Verwandte als „Dolmet-scher“ zur gynäkologischen Untersuchung einer genital-verstümmelten Frau hinzugezogen werden. Dazuschweigt die Regierungskoalition aber lieber, denn dasshieße ja, sich ernsthafte Gedanken zu machen, wie ein ef-fektives Hilfesystem aufgebaut und finanziell abgesichertwerden kann.Abschließend komme ich zu einem letzten wichtigenPunkt, der weit über die notwendige Beratung und Auf-klärung hinausgeht. Selbst wenn afrikanische Frauenüber die schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen in-formiert sind und ihre Töchter vor einer Genitalverstüm-melung schützen wollen – gegen patriarchale gesell-schaftliche Normen können sie sich nur auflehnen, wennsie eigenständig für ihre eigene und die Existenz ihrerKinder sorgen können. Frau Faduma Korn von ForwardGermany e. V. hat es in der Anhörung auf den Punkt ge-bracht:
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Dr. Kirsten TackmannMütter aus Afrika beschneiden ihre Kinder nicht,weil sie Spaß daran haben, sondern weil sie keineandere Möglichkeit sehen, ihnen eine sichere Zu-kunft zu geben.Meine Fraktion, Die Linke, hat in ihrem eigenen An-trag „Weibliche Genitalverstümmelung verhindern –Menschenrechte durchsetzen“ – Drucksache 16/4152 –daher die Bundesregierung ausdrücklich aufgefordert,die vorhandene Armut in Ländern, in denen weiblicheGenitalverstümmelung verbreitet ist, durch entspre-chende Projekte und Hilfsangebote zu bekämpfen unddurch einen besseren Sozialstandard die Lebenssituationder von Genitalverstümmelung betroffenen und bedroh-ten Kinder und Frauen zu verbessern, aber auch, die fi-nanzielle Unabhängigkeit aller sich in Deutschland auf-haltenden betroffenen Frauen und Mädchen zu sichern.Denn wer diese Menschenrechtsverletzung wirksambekämpfen will, muss vor allem dem niedrigen sozialenStatus der betroffenen Frauen und ihrer wirtschaftlichenAbhängigkeit entgegenwirken, und zwar nicht nur „jen-seits in Afrika“, sondern ganz konkret hier und heute inDeutschland, in Berlin, München und anderswo.
Anderthalb Jahre ist es her, da haben wir Grünen imBundestag einen Antrag vorgelegt, mit dem wir die Regie-rung aufforderten, Frauen und Mädchen auch inDeutschland besser vor Genitalverstümmelung zu schüt-zen. Fast ein Jahr ist es her, da haben auf einer Anhörungim Ausschuss die Expertinnen unsere Forderungen weit-gehend bestätigt. Vor wenigen Wochen wurde dieser An-trag trotzdem von SPD und CDU/CSU im federführendenAusschuss abgelehnt.Soweit zu unserer Arbeit. Eigene Vorschläge derKoalition zu dem Thema mussten wir bislang ja vermis-sen.Aber jetzt haben Sie es doch noch geschafft, sich zu ei-nem Antrag zusammenzuraufen. Dass Sie dafür andert-halb Jahre brauchten, ist ja zumindest in der Frauen-politik nichts Neues. Dass Sie diese Schwierigkeiten jetztschon in ihren Pressemitteilungen kundtun, hat allerdingseine neue Qualität.Auch sonst haben Sie uns mit Ihren vollmundigen Pres-seankündigungen ja ziemlich neugierig auf Ihren Antraggemacht. Weitreichender und vielseitiger als alle Opposi-tionsanträge zusammen sollte er sein. „Wir reden nichtnur, sondern handeln“, haben Sie geschrieben – na, daswäre bei den Frauenrechten aber wirklich einmal etwasNeues!Der Antrag ist demgegenüber leider eine ziemliche Er-nüchterung. „Viel hilft viel“ scheint Ihr Motto zu sein.Zahlreiche Zeilen wurden mit schönen Worten gefüllt.Von den insgesamt 18 Forderungen sind jedoch nur we-nige konkret, und bei diesen entdecke ich viele Parallelenzu unserem grünen Antrag. Das zeigt doch, dass Siedurchaus lernfähig sind, meine Damen und Herren, –und nicht alle Mühen der Opposition vergeblich.So begrüßen wir, dass Sie unsere Forderung übernom-men haben, sicherzustellen, dass Länder, in denen Geni-talverstümmelung in einem nicht unerheblichen Ausmaßstattfindet, nicht als sichere Herkunftsländer einzustufensind.Ausdrücklich nennen Sie Ghana und Senegal. Da wol-len Sie prüfen. Aber da Sie ja angekündigt haben, zu han-deln, nehmen wir Sie beim Wort und erwarten, dasszumindest Ghana zügig von der Liste der sicheren Her-kunftsländer gestrichen wird.Auch dass Sie die Verlängerung der Verjährungsfristfordern, finden wir gut. Aber dafür müssen die Beteiligtenerstmal wissen, dass Genitalverstümmelung in Deutsch-land strafbar ist – und hier kommen wir leider zumKnackpunkt Ihres Antrags: Unserer Hauptforderung, dieGenitalverstümmelung ausdrücklich ins Strafgesetzbuchaufzunehmen, sind Sie leider nicht gefolgt. Dabei habenbeinahe alle Expertinnen dies bei der Anhörung im Bun-destag mit Nachdruck gefordert. Darin waren sie sichvöllig einig: Eine ausdrückliche Nennung im Strafgesetz-buch wäre ein klares Signal an Ärztinnen, Eltern und Op-fer: Eine solche Menschenrechtsverletzung wird von un-serem Staat nicht geduldet.Es kann doch nicht sein, dass die Genitalverstümme-lung weiter nur als einfache Körperverletzung strafbarist. Sie können einen Verstoß gegen das Grundrecht aufsexuelle Selbstbestimmung nicht mit einer Ohrfeigegleichsetzen, meine Damen und Herren!Mit einer Ankündigung haben Sie immerhin recht be-halten: Vielseitig ist Ihr Antrag – aber ebenso unkonkretund wolkig. Herr Singhammer, Frau Noll, Sie haben inIhrer Pressemitteilung ja angekündigt, nicht reden, son-dern handeln zu wollen. Dann lassen Sie uns aus Ihrenschönen Worten doch auch Taten machen! Im Rahmender Ausschussberatungen lässt sich sicherlich noch etwaskonkretisieren. Gerade bei diesem Thema wäre es dochgut, wenn wir über Parteigrenzen hinweg zusammen-arbeiten, um Frauen vor dem grausamen Ritual der Ge-nitalverstümmelung zu schützen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9420 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 6. Juni 2008, 9 Uhr,
ein.
Ich wünsche allen Gästen auf den Tribünen, allen
Kolleginnen und Kollegen und auch den Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeitern einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.