Protokoll:
16154

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 16

  • date_rangeSitzungsnummer: 154

  • date_rangeDatum: 10. April 2008

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  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:25 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 16/154 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Rentenanpassung 2008 (Drucksache 16/8744) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Olaf Scholz, Bundesminister BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Antrag der Abgeordneten Gudrun Kopp, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Strukturelle Wettbewerbsdefizite auf den Energiemärkten bekämpfen (Drucksache 16/8079) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU) . . . . . . Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16113 B 16113 C 16115 C 16117 A 16117 C 16119 A 16120 D 16122 A 16122 B 16130 A 16130 A 16131 D 16132 B Deutscher B Stenografisc 154. Si Berlin, Donnerstag, I n h a Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Detlef Dzembritzki und Joachim Stünker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahl des Abgeordneten Dr. Hans-Ulrich Krüger zum stellvertretenden Mitglied des Vermittlungsausschusses und des Gemeinsa- men Ausschusses nach Art. 53 a des Grund- gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung des Tagesordnungspunktes 19 . . . Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . Zusatztagesordnungspunkt 2: 16111 A 16111 B 16111 B 16112 D 16112 D Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . 16123 A 16123 C undestag her Bericht tzung den 10. April 2008 l t : Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Das Energiekartell aufbrechen – Für Klimaschutz, Wettbewerb und faire Ener- giepreise (Drucksache 16/8536) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16124 C 16125 A 16126 B 16127 C 16128 D 16129 D Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gudrun Kopp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16132 D 16134 D II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Franz Obermeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Gudrun Kopp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU) . . . . Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gudrun Kopp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Zeil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 28: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 15. Dezem- ber 2003 über Politischen Dialog und Zusammenarbeit zwischen der Euro- päischen Gemeinschaft und ihren Mit- gliedstaaten einerseits und der Anden- gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten (Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Peru und Venezuela) andererseits (Drucksache 16/8654) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Rainder Steenblock, Kerstin Andreae, Marieluise Beck (Bre- men), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: EU- Strukturfonds zur nachhaltigen Ent- wicklung einsetzen (Drucksache 16/1069) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Krista Sager, Kai Gehring, Priska Hinz (Herborn), wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Gleichstellung und Genderkompetenz als Erfolgsfak- tor für mehr Qualität und Innovation in der Wissenschaft (Drucksache 16/8753) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Evaluierungsbericht der Bundesregie- rung über die Erfahrungen und Ergeb- nisse mit der Regulierung durch das Energiewirtschaftsgesetz (Drucksache 16/6532) . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 4: a) Antrag der Abgeordneten Gisela Piltz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der 16136 A 16138 C 16139 C 16140 C 16141 C 16142 A 16143 B 16144 B 16146 D 16147 C 16148 C 16149 B 16150 D 16150 D 16151 A 16151 A Fraktion der FDP: Für einen umfassen- den Schutz der europäischen Bürgerin- nen und Bürger bei der Verarbeitung ihrer Daten im Bereich der sogenannten dritten Säule der Europäischen Union (Drucksache 16/5473) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Cajus Caesar, Marie-Luise Dött, Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heinz Schmitt (Landau), Marco Bülow, Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Weltnaturschutz- gipfel 2008 in Bonn – Biologische Viel- falt schützen, nachhaltig und gerecht nutzen (Drucksache 16/8756) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Detlef Parr, Daniel Bahr (Münster), Heinz Lanfermann, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Eigenverantwortung und klare Aufgabenteilung als Grundvorausset- zung einer effizienten Präventionsstra- tegie (Drucksache 16/8751) . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Cornelia Hirsch, Volker Schneider (Saar- brücken), Dr. Kirsten Tackmann und der Fraktion DIE LINKE: Gleichstellung in der Wissenschaft durch Modernisie- rung der Nachwuchsförderung und der Beschäftigungsverhältnisse herstellen (Drucksache 16/8742) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 29: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Einheiten im Messwesen und des Eichge- setzes, zur Aufhebung des Zeitgesetzes, zur Änderung der Einheitenverordnung und zur Änderung der Sommerzeitverordnung (Drucksachen 16/8308, 16/8610) . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 5: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktio- nen der CDU/CSU und der SPD: Aktuelle Lage in Tibet . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Gernot Erler, Staatsminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Toncar (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eckart von Klaeden (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Michael Leutert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Walter Kolbow (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16151 A 16151 B 16151 B 16151 B 16151 C 16151 D 16152 A 16153 B 16154 C 16155 C 16156 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 III Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arnold Vaatz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Holger Haibach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . Eduard Lintner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD) . . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches Sozial- gesetzbuch – Verbesserung der Ausbil- dungschancen förderungsbedürftiger jun- ger Menschen (Drucksache 16/8718) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Brandner, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg Rohde (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) . . . Franz Romer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Cornelia Hirsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg Tauss (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) . . . . . . Willi Brase (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uwe Schummer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent- wurfs eines Ersten Gesetzes zur Ände- rung des Conterganstiftungsgesetzes (Drucksache 16/8743) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Contergan- stiftungsgesetzes (Drucksache 16/8653) . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit 16158 A 16159 A 16160 A 16161 A 16162 A 16163 B 16164 A 16164 D 16165 A 16166 C 16167 C 16168 C 16169 C 16171 B 16172 A 16173 A 16174 A 16175 C 16176 C 16177 C 16177 D Zusatztagesordnungspunkt 6: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Angemessene und zukunftsorientierte finanzielle Unterstützung der Contergan- geschädigten sicherstellen (Drucksache 16/8754) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Birgitt Bender, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Für einen umfassen- den Ansatz beim Umgang mit den Folgen des Contergan-Medizinskandals (Drucksache 16/8748) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ilse Falk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antje Blumenthal (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . Tagesordnungspunkt 7: a) Antrag der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Gisela Piltz, Sabine Leutheusser- Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates über die Verwendung von Fluggastdatensät- zen zu Strafverfolgungszwecken (Drucksache 16/8115) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn, Volker Beck (Köln), Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Keine Speicherung von EU-Fluggastdaten (Drucksache 16/8199) . . . . . . . . . . . . . . . Ernst Burgbacher (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gert Winkelmeier (fraktionslos) . . . . . . . . . . 16177 D 16178 A 16178 A 16179 B 16180 A 16181 B 16182 A 16183 B 16184 C 16185 D 16185 D 16186 A 16187 C 16188 D 16190 A 16191 B 16192 A IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 Tagesordnungspunkt 6: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zu dem Beschluss des Rates vom 7. Juni 2007 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemein- schaften (Drucksachen 16/7686, 16/8533) . . . . . . . . . . Axel Schäfer (Bochum) (SPD) . . . . . . . . . . . . Michael Link (Heilbronn) (FDP) . . . . . . . . . . Helmut Lamp (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Hagemann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- nanzausschusses zu dem Antrag der Abgeord- neten Dr. Barbara Höll, Dr. Lothar Bisky, Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion DIE LINKE: Einkommensteuerta- rif gerecht gestalten – Steuerentlastung für geringe und mittlere Einkommen umsetzen (Drucksachen 16/5277, 16/6799) . . . . . . . . . . Gabriele Frechen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Geset- zes zur Änderung des Jugendschutzgeset- zes (Drucksache 16/8546) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Waitz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Kucharczyk (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16192 D 16193 A 16194 A 16195 B 16196 D 16197 D 16199 A 16200 A 16200 C 16201 D 16202 A 16204 A 16204 D 16205 C 16207 A 16208 A 16209 A 16209 A 16210 B 16211 C 16212 B 16213 A 16214 A Tagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Von der Abfallpolitik zur Ressourcenpolitik – Von der Verpackungs- verordnung zur Wertstoffverordnung (Drucksache 16/8537) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Brand (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerd Bollmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung wehr- rechtlicher und anderer Vorschriften (Wehrrechtsänderungsgesetz 2007 – WehrRÄndG 2007) (Drucksachen 16/7955, 16/8640) . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Winfried Nachtwei, Grietje Bettin, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Wehrpflichtige in Stu- dium und Ausbildung vollständig vor Einberufung schützen (Drucksachen 16/8044, 16/8640) . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: a) Antrag der Abgeordneten Uwe Barth, Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Finanzierungsberatung für Stu- dierwillige und Studierende (Drucksache 16/8196) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Uwe Barth, Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Förderung von Studierenden durch Aufbau eines nationalen Stipen- diensystems (Drucksache 16/8407) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Cornelia Hirsch, Dr. Petra Sitte, Dr. Lukrezia Jochimsen, Volker Schneider (Saarbrücken) und der Fraktion DIE LINKE: Studienfinanzie- rung ausbauen – Soziale Hürden ab- bauen (Drucksache 16/8741) . . . . . . . . . . . . . . . 16214 D 16215 A 16216 A 0000 A16217 D 16219 A 16220 A 16221 A 16221 A 16221 C 16221 D 16221 D Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 V d) Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Priska Hinz (Herborn), Krista Sager, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Auswirkungen von Studiengebühren evaluieren – Mo- nitoringsystem umgehend aufbauen (Drucksache 16/8749) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung: – zu dem Antrag der Abgeordneten Anette Hübinger, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab- geordneten Dr. Sascha Raabe, Gabriele Groneberg, Stephan Hilsberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Entwicklungsorientierte Wirt- schaftspartnerschaften zwischen der EU und den AKP-Staaten – Chance für politische, wirtschaftliche und so- ziale Stabilität – zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: EU-AKP- Abkommen: Faire Handelspolitik statt Freihandelsdiktat – zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Ute Koczy, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Wirtschaftspartnerschaftsab- kommen und Interimsabkommen zwischen EU und AKP-Staaten ent- wicklungsfreundlich gestalten – zu der Unterrichtung durch die Bundes- regierung: Vorschlag für eine Verord- nung des Rates mit Durchführungs- bestimmungen zu den Regelungen der Wirtschaftspartnerschaftsabkom- men oder der zu Wirtschaftspartner- schaftsabkommen führenden Ab- kommen für Waren mit Ursprung in bestimmten Staaten, die zur Gruppe der Staaten Afrikas, des karibischen Raums und des Pazifischen Ozeans (AKP) gehören KOM (2007) 717 endg.; Ratsdok. 14968/07 (Drucksachen 16/7487, 16/7473, 16/7469, 16/7575 Nr. 1.45, 16/8244) . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung zu dem An- 16222 A 16222 B trag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Ute Koczy, Renate Künast, Fritz Kuhn und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für ein Entwicklungspartnerschaftsab- kommen der Europäischen Union (EU) mit den Staaten der Afrika-, Karibik-, Pazifikgruppe (AKP) (Drucksachen 16/4055, 16/4839) . . . . . . . Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Hellmut Königshaus (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Erste Beratung des von der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Ge- setzes zur Änderung des Strafgesetzbuches (Drucksache 16/6379) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Für eine erfolgreiche Überprüfungs- konferenz des Chemiewaffenübereinkom- mens und eine Stärkung des Vertragsre- gimes (Drucksache 16/8755) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Antrag der Abgeordneten Jürgen Trittin, Kerstin Müller (Köln), Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine umfas- sende Strategie zur demokratieverträgli- chen und zivilgesellschaftlichen Stabilisie- rung Pakistans (Drucksache 16/8752) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Alexander Bonde, Winfried Nachtwei, Jürgen Trittin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Keine U-Bootlieferung an Pakistan (Drucksache 16/5594) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16222 C 16222 D 16224 C 16225 C 16226 D 16227 B 16228 B 16229 D 16230 A 16231 A 16231 A 16231 B VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 Tagesordnungspunkt 16: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Bildung, Forschung und Tech- nikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Ab- geordneten Uwe Schummer, Ilse Aigner, Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Willi Brase, Jörg Tauss, Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Neuausrichtung der Eu- ropäischen Stiftung für Berufsbildung (Drucksachen 16/8382, 16/8738) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Christine Scheel, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Steuerverlagerung ins Aus- land verhindern (Drucksache 16/6451) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Technologie: – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Krogmann, Laurenz Meyer (Hamm), Veronika Bellmann, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Martin Dörmann, Dr. Rainer Wend, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Breitbandversorgung in ländlichen Räu- men schnell verbessern – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans- Joachim Otto (Frankfurt), Gudrun Kopp, Martin Zeil, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Datenbasis für flä- chendeckende Versorgung mit breitban- digem Internetzugang schaffen – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Dr. Lothar Bisky, Katrin Kunert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Schnelles Internet für alle – Unternehmen zum Breitband- anschluss gesetzlich verpflichten – zu dem Antrag der Abgeordneten Grietje Bettin, Kerstin Andreae, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Den Aus- bau der Breitbandinfrastruktur flächen- deckend voranbringen (Drucksachen 16/8381, 16/7862, 16/8195, 16/8372, 16/8781) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16231 C 16232 A 16232 A Tagesordnungspunkt 20: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 22. November 2004 über das Europäische Korps und die Rechtsstellung seines Haupt- quartiers zwischen der Französischen Re- publik, der Bundesrepublik Deutschland, dem Königreich Belgien, dem Königreich Spanien und dem Großherzogtum Luxem- burg (Straßburger Vertrag) (Drucksachen 16/8250, 16/8780) . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung wehrrechtlicher und anderer Vorschriften (Wehrrechtsänderungsgesetz 2007 – WehrRÄndG 2007) – Antrag: Wehrpflichtige in Studium und Ausbildung vollständig vor Einberufung schützen (Tagesordnungspunkt 10 a und b) Rolf Kramer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Birgit Homburger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . . Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Finanzierungsberatung für Studierwillige und Studierende – Förderung von Studierenden durch Auf- bau eines nationalen Stipendiensystems – Studienfinanzierung ausbauen – Soziale Hürden abbauen – Auswirkungen von Studiengebühren eva- luieren – Monitoringsystem umgehend aufbauen (Tagesordnungspunkt 13 a bis d) Marion Seib (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 16233 A 16233 C 16235 A 16235 B 16236 D 16237 B 16238 C 16239 C 16240 D Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 VII Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Jörg Tauss (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uwe Barth (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cornelia Hirsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches (Tagesordnungspunkt 15) Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörn Thießen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Für eine erfolgreiche Überprü- fungskonferenz des Chemiewaffenüberein- kommens und eine Stärkung des Vertragsre- gimes (Tagesordnungspunkt 14) Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . . Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Für eine umfassende Strategie zur demo- kratieverträglichen und zivilgesellschaftli- chen Stabilisierung Pakistans – Keine U-Bootlieferung an Pakistan (Tagesordnungspunkt 17 und Zusatztagesord- nungspunkt 8) Ruprecht Polenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Johannes Pflug (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Norman Paech (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 16242 A 16243 A 16244 B 16246 C 16247 B 16248 B 16249 A 0000 A16249 C 16250 C 16251 A 16252 B 16254 A 16255 B 16256 C 16257 C 16259 A 16260 B 16261 A 16261 D Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Neuausrichtung der Europäischen Stiftung für Berufsbildung (Tagesordnungspunkt 16) Uwe Schummer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Willi Brase (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Cornelia Hirsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Steuerverlagerung ins Ausland verhindern (Tagesordnungspunkt 21) Manfred Kolbe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . Carl-Ludwig Thiele (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu den Anträgen: – Breitbandversorgung in ländlichen Räu- men schnell verbessern – Datenbasis für flächendeckende Versor- gung mit breitbandigem Internetzugang schaffen – Schnelles Internet für alle – Unternehmen zum Breitbandanschluss gesetzlich ver- pflichten – Den Ausbau der Breitbandinfrastruktur flächendeckend voranbringen (Tagesordnungspunkt 18) Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU) . . . . . . . Dr. Hans-Heinrich Jordan (CDU/CSU) . . . . . Martin Dörmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) . . . . . 16262 C 16264 A 16264 C 16265 B 16266 A 16266 D 16267 B 16268 B 16269 C 16271 C 16272 B 16273 A 16273 D 16275 A 16275 C 16276 D 16277 C VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . Grietje Staffelt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 22. November 2004 über das Europäi- sche Korps und die Rechtsstellung seines Hauptquartiers zwischen der Französischen Republik, der Bundesrepublik Deutschland, dem Königreich Belgien, dem Königreich Spanien und dem Großherzogtum Luxemburg (Straßburger Vertrag) (Tagesordnungspunkt 20) Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerd Höfer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16278 B 16278 D 16280 A 16280 D 16281 C 16282 C 16283 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16111 (A) (C) (B) (D) 154. Si Berlin, Donnerstag, Beginn: 1
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    1) Anlage 10 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16235 (A) (C) (B) (D) Rolf Kramer (SPD): Der heute in zweiter und dritter Lesung zu beratende Gesetzentwurf eines Wehrrechts- Das bisherige, zeitraubende und kostenintensive Verfah- ren der Unabkömmlichstellung wird damit aufgegeben. Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung wehr- rechtlicher und anderer Vorschriften (Wehr- rechtsänderungsgesetz 2007 – WehrRÄndG 2007) – Antrag: Wehrpflichtige in Studium und Ausbildung vollständig vor Einberufung schützen (Tagesordnungspunkt 10 a und b) Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Altmaier, Peter CDU/CSU 10.04.2008 Bluhm, Heidrun DIE LINKE 10.04.2008 Bülow, Marco SPD 10.04.2008 Golze, Diana DIE LINKE 10.04.2008 Irber, Brunhilde SPD 10.04.2008 Kramme, Anette SPD 10.04.2008 Laurischk, Sibylle FDP 10.04.2008 Nitzsche, Henry fraktionslos 10.04.2008 Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 10.04.2008 Roth (Heringen), Michael SPD 10.04.2008 Schily, Otto SPD 10.04.2008 Schmidt (Eisleben), Silvia SPD 10.04.2008 Schultz (Everswinkel), Reinhard SPD 10.04.2008 Seehofer, Horst CDU/CSU 10.04.2008 Steinbach, Erika CDU/CSU 10.04.2008 Wellmann, Karl-Georg CDU/CSU 10.04.2008 Anlagen zum Stenografischen Bericht änderungsgesetzes, hat – das zeigt schon die Jahreszahl 2007 in der Überschrift – eine lange Vorlaufzeit gehabt. Schon vor der Einbringung des Gesetzentwurfes im vergangenen Jahr in den Bundesrat gab es intensive Beratungen zwischen den Vertretern des Bundesvertei- digungsministeriums und den Berichterstattern der Koalitionsfraktionen. So konnten vorab einige Unstim- migkeiten geklärt werden. Weitere Ergänzungen und Änderungen ergaben sich dann aus den intensiven Bera- tungen des Gesetzentwurfes im Bundesrat und in den Ausschüssen des Bundestages. Auf die einzelnen Punkte werde ich im Verlauf meiner Ausführungen noch einge- hen. Mit diesem Entwurf wird das Wehrrecht an die aktuell den Streitkräften gestellten Anforderungen angeglichen. So ist vorgesehen, dass Reservisten auf freiwilliger Ba- sis auch zu vorbereitenden Übungen einberufen und im Falle einer Katastrophe unverzüglich eingesetzt werden können sollen. Dies gilt ebenfalls für ihre Heranziehung zu humanitären Hilfsmaßnahmen der Streitkräfte außer- halb Deutschlands. Für humanitäre Hilfsmaßnahmen im Ausland, zum Beispiel bei Flutkatastrophen oder Erdbe- ben, konnten Angehörige der Reserve bislang nur im Rahmen einer besonderen Auslandsverwendung oder im Rahmen einer Wehrübung einberufen werden. Die be- sondere Auslandsverwendung setzt aber einen vorheri- gen Beschluss der Bundesregierung voraus. Ist Eile ge- boten, kann dieser nicht in jedem Fall rechtzeitig erwirkt werden. Diese Lücke wird nunmehr in Anlehnung an die Bestimmungen für humanitäre Einsätze im Inland mit der vorgeschlagenen Regelung geschlossen. Eine weitere Neuregelung fällt in den Bereich des Bü- rokratieabbaus. Das bisher zeitaufwendige Verfahren der Unabkömmlichstellung von Wehrpflichtigen wird in Friedenszeiten durch einen neuen Zurückstellungstatbe- stand vereinfacht. Die Anwendung der Unabkömmlich- stellungsverordnung wird auf den Spannungs- und Ver- teidigungsfall beschränkt. Die bisherige Rechtslage sieht zwei Verfahren zur Feststellung vor, ob ein Wehrpflichti- ger in einem Betrieb oder einer Behörde zum Zeitpunkt des Wehrdienstes unentbehrlich ist: Handelt es sich um den eigenen Betrieb des Wehrpflichtigen oder den seiner Eltern, entscheidet das Kreiswehrersatzamt auf Antrag des Wehrpflichtigen in Form eines Verwaltungsakts. Handelt es sich um einen „fremden“ Betrieb oder steht der Wehrpflichtige in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- verhältnis, entscheidet das Kreiswehrersatzamt auf Vor- schlag der zuständigen Behörde in einem behördeninter- nen Verfahren, an dem der Wehrpflichtige nicht beteiligt ist. Die Entscheidung des Kreiswehrersatzamtes ist nicht justiziabel. Diese verfahrensrechtliche „Zweigleisigkeit“ ist im Frieden sachlich nicht mehr begründbar. Durch die Schaffung eines neuen Zurückstellungstatbestandes ent- scheiden die Wehrersatzbehörden künftig im Frieden in allen Fällen betrieblicher oder behördlicher Unentbehr- lichkeit eines Wehrpflichtigen durch Verwaltungsakt 16236 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 (A) (C) (B) (D) Nur für den Spannungs- und Verteidigungsfall bleibt die Möglichkeit des bisherigen Verfahrens bestehen. Diese Neuregelung wird für die Betriebe und Behörden sowie die Wehrpflichtigen eine erhebliche Vereinfachung mit sich bringen. Auch beim Rechtsschutz der Soldatinnen und Soldaten gibt es weitere Verbesserungen. Er wird verfahrensmäßig an die allgemein gegebenen Rechtsbehelfsmöglichkeiten angepasst. So wird zum Beispiel die Frist zur Einlegung der Beschwerde sowie der weiteren Beschwerde von zwei Wochen auf einen Monat verlängert. Im Fall der Verhinderung durch unabwendbare Ereignisse soll die Einlegung der Beschwerde künftig bis zu zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses – anstatt bisher innerhalb von drei Tagen – zulässig sein. Damit trägt die Neurege- lung auch den besonderen Erfordernissen der Auslands- einsätze der Bundeswehr Rechnung. Diese von der Bundesregierung vorgeschlagenen Neuregelungen und noch einige weitere Detailregelun- gen waren zwischen dem Verteidigungsministerium und den Koalitionsfraktionen unstrittig und von den Verteidi- gungspolitikern auch als notwendig erachtet worden. In- sofern hätte dieses Gesetz ohne Veränderungen verab- schiedet werden können. Dass dem nicht so ist, liegt an den von der Bundesregierung vorgeschlagenen Verände- rungen bei den Zurückstellungstatbeständen. Hier mel- deten die Verteidigungs- und Bildungspolitiker beider Koalitionsfraktionen Änderungsbedarf an. Auch der Bundesrat mahnte in seiner Stellungnahme vom 11. Mai letzten Jahres, die auf der Basis eines Antrages aus Bay- ern beschlossen worden war, Änderungen an. Der Änderungsbedarf betraf insbesondere die geplante Neuregelung der Einberufungspraxis für Studierende in sogenannten dualen Studiengängen. Die von der Bundes- regierung in der ursprünglichen Gesetzesbegründung an- geführte Gleichbehandlung mit „normalen“ Studierenden greift aus unserer Sicht gerade hier nicht. Die enge Ver- netzung von Studium und Ausbildung rechtfertigt es, diese Studierenden wie Auszubildende zu behandeln, so- dass sie ihre Ausbildung insgesamt nicht unterbrechen müssen. Der Bundesrat hat dies in seiner Stellungnahme zu diesem Punkt aus unserer Sicht schlüssig begründet. Insofern war es zu begrüßen, dass die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung diesen Punkt positiv aufgriff und in Ihrem Änderungsvorschlag zum Teil umsetzte. Die Ko- alitionsfraktionen haben diesen Vorschlag in ihrem Ände- rungsantrag zum dualen Studium aufgegriffen. Ich möchte hier nicht verhehlen, dass wir Sozialde- mokraten uns eine weitergehende Regelung hinsichtlich des dualen Studiums im Sinne der Stellungnahme des Bundesrates gewünscht hätten. Vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom Oktober letzten Jahres denke ich jedoch, dass ein umsetzbarer Kompromiss erreicht worden ist, der den Besonderhei- ten dieses Studiengangs entgegenkommt. Positiv ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass sich die Bundesregierung mit der Zuordnung der Ausbildung an Berufsakademien zur beruflichen Ausbil- dung über die gängige Rechtsprechung, die die Berufs- akademieausbildung nicht als berufliche Ausbildung, sondern als Studium wertet, hinwegsetzt. Aus Gründen der Rechtssicherheit wäre es aus Sicht der SPD-Bundes- tagsfraktion sogar besser gewesen, diese Ausnahmerege- lung für die Berufsakademien in den Gesetzestext zu übernehmen und nicht nur in der Begründung zu belas- sen. Dies gilt auch für einen weiteren Punkt, die Berück- sichtigung der neuen Bachelor- und Masterstudiengänge. Wir begrüßen, dass in der Gesetzesbegründung diese Studiengänge als zusammenhängender Ausbildungsab- schnitt behandelt werden. Damit bleibt es bei der Rege- lung, dass während eines Studiums allgemein nur vor Beginn des dritten Fachsemester einberufen werden kann. Eine Übernahme in den Gesetzestext, wie es in der Stellungnahme des Bundesrates vorgeschlagen wurde, wäre aus unserer Sicht allerdings der bessere Weg gewe- sen. Ich hoffe sehr, dass die Bundeswehrverwaltung bei ihren Entscheidungen nicht nur in den Gesetzestext schaut, sondern auch die Begründung des Gesetzgebers zur Hand nimmt. Ein weiterer Punkt war insbesondere den Bildungs- politikern der Koalitionsfraktionen wichtig; ihrer Argu- mentation konnten wir Verteidigungspolitiker uns nicht entziehen. Durch den von CDU/CSU und SPD einge- brachten Änderungsantrag wird auch künftig sicherge- stellt sein, dass junge Männer, die einen Aufstiegsfort- bildungsgang begonnen haben, ebenfalls nicht mehr einberufen werden können. Der Regierungsentwurf war hier mehrdeutig und hätte im Zweifel dazu geführt, dass junge Männer in Meister-, Techniker- oder Fachwirte- ausbildungsgängen einberufen worden wären. Mit der gefundenen Formulierung im Gesetzestext sowie der er- läuternden Begründung ist hier aus meiner Sicht eine gute Lösung gefunden worden. Auch wenn nicht alle Wünsche der Bildungspolitiker erfüllt werden konnten: Insgesamt ist ein Kompromiss erzielt worden, der Bildungsinteressen und wehrpoliti- sche Interessen besser aufeinander abstimmt. Im Zweifel sollte aus unserer Sicht aber auch in Zukunft gelten, dass Ausbildungsinteressen Vorrang behalten. In diesem Zu- sammenhang bedanke ich mich hier ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit zwischen den Arbeitsgruppen bei- der Fraktionen. Dieser heute zu verabschiedende Gesetzentwurf ist ein gutes Beispiel für das Struck’sche Gesetz, dass eben kein Gesetz unverändert aus den Beratungen des Parla- mentes herauskommt. Die SPD-Fraktion stimmt der Be- schlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zu. Birgit Homburger (FDP): Der vorliegende Entwurf eines Wehrrechtsänderungsgesetzes zeigt erneut, dass die Wehrpflicht in ihrer Ausgestaltung problembehaftet ist. Durch den Gesetzentwurf wird zunächst einmal ein Großteil der wehrrechtlichen Anpassungen umgesetzt, die durch den Transformationsprozess der Bundeswehr notwendig geworden sind; er ist somit logische und zwingende Folge dieser noch nicht abgeschlossenen Umstrukturierung. Auch die Änderungen der Zurück- stellungsregelungen im Wehrpflichtgesetz, speziell für Studierende dualer Studiengänge sowie für Masterstu- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16237 (A) (C) (B) (D) dierende und Absolventen von Meister- bzw. Techniker- kursen, sind ein Schritt in die richtige Richtung. Hier werden mit dem Wehrrechtsänderungsgesetz in der jetzt vorliegenden Form Verbesserungen herbeigeführt. Allerdings ist das Problem der Zurückstellung von Studierenden und Auszubildenden auch mit diesen Neu- regelungen immer noch nicht stringent gelöst. Schon aus diesem Grunde werden viele jener Probleme weiter be- stehen bleiben, die regelmäßig von Wehrpflichtigen, die vor ihrer Einberufung stehen, an mich herangetragen werden. Des Weiteren müssen die im Gesetzentwurf enthalte- nen Änderungen auch vernünftig umgesetzt werden; denn vielfach ist es die Umsetzung der gesetzlichen Re- gelungen, die zu Missmut und Frustration bei den Wehr- pflichtigen führt. Jungen Männern, die bereit sind, ihren Wehrdienst abzuleisten, dürfen nicht auch noch durch eine miserable Organisation bei der Einberufungspraxis Nachteile entstehen. Immer wieder erreichen mich – und ich denke, das geht vielen von uns Bundestagsabgeord- neten so – Zuschriften von jungen Männern, die sich an uns wenden, da sie durch die Einberufung aus einem Ar- beitsverhältnis gerissen werden oder dieses nicht einge- hen können. Bedenken Sie nur, dass 60 Prozent aller tauglichen jungen Männer weder Wehr- noch Ersatz- dienst leisten. Angesichts der bekanntermaßen ange- spannten Lage auf dem Arbeitsmarkt ist es bedenklich, wenn man ausgerechnet denjenigen, die bereits in Lohn und Brot stehen, ihre Arbeit durch einen Pflichtdienst nimmt, der sicherheitspolitisch absolut nicht mehr ge- rechtfertigt ist. Mir wurde kürzlich ein Fall von einem jungen Mann geschildert, der drei Tage nach seiner Einberufung zur Bundeswehr ausgemustert wurde. Sein Arbeitsplatz wurde vom Betrieb anderweitig besetzt, er ist seither ar- beitslos. Nun könnte der Verteidigungsminister einwen- den, dass nach den bestehenden Regelungen im Arbeits- platzschutzgesetz der Arbeitsplatz bei einer Einberufung geschützt sei. Doch was bliebe dem Wehrpflichtigen? Er müsste den Betrieb verklagen, in dem er eigentlich ar- beiten will. Der Betrieb hingegen ist vielleicht auf jede Hand angewiesen und kann sich das Freihalten des Ar- beitsplatzes für neun Monate nicht erlauben. Sie sehen, in welche Situation junge Männer und ins- besondere kleine und mittelständische Betriebe durch ei- nen Pflichtdienst gebracht werden, der absolut nicht mehr erforderlich ist. Der Bundesminister der Verteidi- gung muss endlich der Realität ins Auge blicken, auch wenn das für ihn sicherlich unbequem ist. Die Wehr- pflicht ist sicherheitspolitisch nicht mehr zu rechtferti- gen und auch gesellschaftspolitisch überholt, von der mangelnden Wehrgerechtigkeit ganz zu schweigen. Es ist daher höchste Zeit, die Wehrpflicht endlich auszuset- zen. Ein entsprechender Antrag der FDP-Bundestags- fraktion liegt dem Deutschen Bundestag vor. Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): Das Wehrrechts- änderungsgesetz nimmt an nicht weniger als 13 Geset- zen und Verordnungen Änderungen vor. Sicherlich sind einige dieser Anpassungen notwendig und wünschens- wert, und es ist bezeichnend, dass die Bundesregierung so lange brauchte, offensichtliche Defizite zu korrigie- ren. Andere Anpassungen atmen den „Geist der Zeit“ und sind geprägt von dem Vorhaben, das Aufgabenspek- trum der Bundeswehr zu erweitern und die Bundeswehr weiter zu einer Interventionsarmee umzubauen. Wie schon die laufenden Auslandseinsätze der Bun- deswehr zeigen, allen voran in Afghanistan, gibt es ein Interesse in der Bundeswehr, zunehmend Reservisten für gewisse Aufgaben im Ausland einzusetzen – zur Entlas- tung der kämpfenden Einheiten und zur Verbesserung der CIMIC-Arbeit vor Ort. Was bei Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit weitestgehend problemlos möglich ist, gilt so nicht für die nur gedienten Wehrpflichtigen. Der Einsatz dieser Reservisten war bislang nur im Inland vorgesehen (§ 6 c WpflG). Nun soll mit dem neuen § 6 d des Wehrpflichtgesetzes auch der Einsatz von Reservis- ten im Rahmen von humanitären Hilfeleistungen im Ausland ermöglicht werden. Anders als beim Pendant § 6 c, der den Einsatz im Inland regelt, fehlt bei dem neuen § 6 d ein direkter Bezug auf das Grundgesetz aus dem einfachen Grund, weil das Grundgesetz keinen sol- chen Einsatz der Bundeswehr im Ausland vorsieht! Die Regierung ist bislang jegliche Begründung für diese ziel- gerichtete Ausweitung des Aufgabenspektrums und da- mit auch Konkurrenz zu zivilen Behörden, wie dem THW, in dessen originären Aufgabenbereich zivile Hil- feleistungen im Ausland fallen, schuldig geblieben. Insbesondere bei den Änderungen im Wehrpflichtge- setz zeigt sich erneut, wie stark die Wehrpflichtigen nach wie vor als simple einfache Verfügungsmasse angesehen werden. Die Bundeswehr braucht die Wehrpflichtigen nicht für irgendwelche militärischen Aufgaben mit ei- nem direkten Bezug zur Landesverteidigung, dazu reicht die Ausbildungszeit gar nicht. Einfache Dienste wie Fahrzeugfahren oder die Bedienung in Offiziersheimen – euphemistisch Stabsdienst genannt – sollen sie leisten. Diese müssen ja schließlich auch gemacht werden, sagen die Offiziere. Hierfür werden gerne 14 Prozent der Dienstposten reserviert. Die Bundeswehr braucht die Wehrpflichtigen also gar nicht, will aber um jeden Preis die Möglichkeit behalten, junge Männer zum Grundwehrdienst zu zwingen. Statt einen Schlussstrich unter dieses fatale System zu ziehen und die Wehrpflicht abzuschaffen, findet sich im Wehr- rechtsänderungsgesetz nur die Fortsetzung des gewohn- ten Stückwerks, zulasten der Wehrpflichtigen. Die Wehrpflicht ist ein schwerwiegender Eingriff in die Lebensplanung der Betroffenen, die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist alles andere als rosig. In Zukunft will das Verteidigungsministerium selbst die Unabkömmlich- keitsstellung von Wehrpflichtigen für Kleinst- und Fami- lienbetriebe nur befristet aussprechen. Auch wer einen befristeten Arbeitsvertrag hat, hat keinen Anspruch auf Zurückstellung bis zur Erfüllung der Arbeitsverträge. Nach wie vor werden die Auszubildenden in dualen Stu- diengängen gravierend benachteiligt. Ihnen droht trotz gültiger Ausbildungsverträge eine Einberufung, falls sie nicht drei Monate nach der Ausbildung ihr Studium be- ginnen. Und schließlich wurde darauf verzichtet, dem 16238 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 (A) (C) (B) (D) Vorschlag des Bundesrats zu folgen und den Studieren- den in Masterstudiengängen einen eindeutigen Rechts- anspruch auf Zurückstellung zu geben. Das vorliegende Sammelsurium markiert erneut eine verpasste Gelegenheit, die Geschäftsgrundlagen der Bundeswehr klar und deutlich zu formulieren. Einigen längst überfälligen relativen Verbesserungen stehen ge- radezu dogmatische Schwächen gegenüber: Wir brau- chen nicht mehr Reservisten im Ausland, wir brauchen nicht mehr die Wehrpflicht. Aber auch im Kleinen zeigt sich die Inkonsequenz und Widersprüchlichkeit. Das Wehrrechtsänderungsge- setz versucht sich an einer Reform der Wehrbeschwerde- ordnung und der Wehrdisziplinarordnung – zwei Doku- mente, deren genaues Studium jedem zu empfehlen ist, der glaubt, in Deutschland gäbe es nur eine grundle- gende Rechts- und Gesetzesordnung. Nach nur 50 Jah- ren wird jetzt die bei zivilen Verfahren übliche „auf- schiebende Wirkung“ von Beschwerden zugelassen und die entsprechende Frist verlängert. Bezeichnenderweise gilt dies allerdings nur für Verwaltungsangelegenheiten und nicht für truppendienstliche Maßnahmen, wie zum Beispiel Disziplinarstrafen. Nicht geändert wurden die Bestimmungen zur Verhängung des Disziplinararrests – einer sogenannten einfachen Maßnahme. Der Diszipli- narvorgesetzte beantragt den Arrest, der Truppendienst- richter kann dem ohne Begründung und ohne Verhand- lung zustimmen. Legt der Betroffene eine Beschwerde ein, entscheidet das gleiche Truppendienstgericht über die Zulässigkeit der Beschwerde. Solche freiheitseinschränkenden oder -entziehenden Bestrafungen von Soldaten in Form von Ausgangsbe- schränkungen und Disziplinararrest unterliegen keinem Verfahren, welches rechtsstaatlichen Ansprüchen ge- nügt. Wohin das führen kann, zeigte im letzten Jahr der Fall des Totalverweigerers Moritz Kagelmann, der allein aufgrund der Entscheidungen des Disziplinarvorgesetz- ten und dem Truppendienstrichter mehr als 50 Tage in Einzelhaft gesessen hat, mit willkürlich eingeschränk- tem Besuchsmöglichkeiten und nur einer Stunde Hof- gang. Daher muss die gesamte Wehrrechtsordnung einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Ohne Zweifel bedürfen viele der Gesetze und Verord- nungen des Wehrrechts einer Änderung, Ergänzung – oder im Fall des Wehrpflichtgesetzes der einfachen Ab- schaffung. Wenn schon, dann hätte die Bundesregierung tatsächlich Fortschrittlichkeit demonstrieren können, zum Beispiel indem endlich die Bestimmungen des Fa- kultativprotokolls zu Kindersoldaten eins zu eins im Wehrpflichtgesetz und Soldatengesetz verankert wird. Nach wie vor kann die Bundeswehr Minderjährige ein- berufen. Und obwohl das Fakultativprotokoll vorsieht, dass in einem solchen Fall die Einziehung wenigstens nur freiwillig erfolgen darf und nur mit Zustimmung bei- der gesetzlicher Vertreter, kann die Musterung als erster Schritt gegen den Willen des Wehrpflichtigen und auch ohne Zustimmung der gesetzlichen Vertreter erfolgen. Es findet keine ausreichende Prüfung der Freiwilligkeit der Entscheidung des Wehrpflichtigen statt. Außerdem fehlt bislang eine gesetzliche Garantie, dass Minderjäh- rige nicht an kämpferischen Auseinandersetzungen be- teiligt werden. Der Entwurf des vorliegenden Wehrrechtsänderungs- gesetzes ist unter dem Strich alles andere als fortschritt- lich und positiv zu bewerten. Erneut wurde eine Chance verpasst, Missstände in der Bundeswehr zu korrigieren. Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das von der Bundesregierung vorgelegte Wehrrechts- änderungsgesetz soll wehrrechtliche Vorschriften, die Wehrpflichtigen oder Dritten Einschränkungen oder Er- schwernisse aufbürden, kritisch hinterfragen und an die geänderten sicherheitspolitischen Anforderungen oder Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt anpassen. Dieser Anspruch ist anerkennenswert. Einzelne Regelungen im Gesetzesentwurf, wie die Stärkung des Rechtsschutzes für Bundeswehrsoldaten oder die Verbesserung der Berufsförderung für Unter- offiziere des Militärmusikdienstes, sind richtig. Dass die im ursprünglichen Gesetzesentwurf von der Bundes- regierung geplanten massiven Verschlechterungen für Wehrpflichtige, die sich im Studium oder in der Ausbil- dung befinden, auf Druck aus Verbänden, den Kirchen und der Wirtschaft, aber auch von uns Grünen nun mit dem Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen teilweise zurückgeholt werden sollen, ist dringend notwendig. An- ders als ursprünglich von der Bundesregierung geplant, sollen nun doch Wehrpflichtige in Meister-, Fachwirt- und Technikerausbildungen mit Auszubildenden gleich- gestellt und vor Einberufung geschützt werden. Auch der geplanten Einberufung von Wehrpflichtigen wäh- rend ihres Masterstudiums wurde ein Riegel vorgescho- ben. Bachelor- und Masterstudiengänge sollen nun doch als Einheit betrachtet werden. Diese Änderungen sind aber längst nicht ausreichend. Vor allem für Absolventen dualer Studiengänge, einer Kombination von Studium und betrieblicher Ausbil- dung, soll es bei nicht hinzunehmenden Nachteilen blei- ben. Wehrpflichtige in dualen Studiengängen sollen nur dann vor Einberufung geschützt werden, wenn sie ihr Studium spätestens drei Monate nach Beginn der be- trieblichen Ausbildung aufgenommen haben. Diese Re- gelung steht in völligem Gegensatz zu den Anforderun- gen eines dualen Studiums. Es bleibt ausgeklammert, dass ein duales Studium auch eine betriebliche Ausbil- dung einschließt. Zudem werden vor allem diejenigen dualen Studiengänge benachteiligt, die mit einem länge- ren Praxisanteil beginnen. Nicht zu vergessen, dass dadurch Betriebe, die diese anspruchsvollen Ausbil- dungsmöglichkeiten anbieten, massiv bestraft und abge- schreckt werden. Angesichts des massiven Fachkräfte- mangels und den wohlfeilen Reden der Bundesregierung über bessere Ausbildungs- und Bildungsmöglichkeiten in Deutschland ist das geradezu ein Offenbarungseid. Sehr nachvollziehbar kritisieren daher Unternehmen und Verbände den Gesetzesentwurf der Bundesregierung und erwarten eine völlige Gleichstellung von Absolventen dualer Studiengänge mit Auszubildenden. Sie befürchten zu Recht, dass sie sonst ihre Auszubildenden mit der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16239 (A) (C) (B) (D) Einberufung zum Wehrdienst mitten in der Ausbildung bzw. gleich zu Beginn der Ausbildung verlieren könnten. Wir Grünen werden deshalb auch dem geänderten Gesetzesentwurf der Bundesregierung nicht zustimmen. In unserem Antrag „Wehrpflichtige in Studium und Aus- bildung vollständig vor Einberufung schützen“ fordern wir die Bundesregierung auf, künftig alle Studenten und Auszubildenden uneingeschränkt vor der Einberufung zum Wehr- oder Zivildienst zu schützen. Wir wollen, dass der Schutz vor Einberufung von dem Tag an gilt, an dem ein Wehrpflichtiger sein zulassungsfreies Studium aufgenommen oder ihm ein zulassungsbeschränkter Stu- diumsplatz oder ein Ausbildungsplatz verbindlich zuge- sichert wurde. Ausbildungs- und Bildungsinteressen dürfen nicht nur Lippenbekenntnisse bleiben, sondern müssen tatsächlich auch Vorrang haben. Wir werden dem Gesetzesentwurf der Bundesregie- rung aber auch aus einem zweiten Grund nicht zustim- men: Wir halten den Umgang der Großen Koalition mit der Wehrpflichtfrage weder für die von der Wehrpflicht betroffenen jungen Männer noch für die Bundeswehr für politisch verantwortbar. Wenn binnen fünf Jahren die Untauglichkeitsquote von 17 Prozent auf 45 Prozent hochschnellt, dann wird die Tauglichkeitsprüfung zu ei- nem Scheunentor der Manipulation: So wird künstlich der Anteil der für den Wehrdienst zur Verfügung stehen- den jungen Männern kleingerechnet, um den Anschein von Wehrgerechtigkeit zu simulieren. In Wirklichkeit verstößt die reale Restwehrpflicht massiv gegen die Vor- gabe des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Wehr- pflicht eine gleich belastende Pflicht sein muss. Wo sich die Wehrpflichtrealität auf so dünnem verfas- sungsrechtlichem Eis bewegt, wo die Wehrpflichtigen für die Bundeswehr mehr Lasten als Nutzen sind und ihr Beitrag zur Integration der Streitkräfte in die Gesell- schaft marginal ist, da ist der Abschied von der Wehr- pflicht überfällig. Der verantwortliche Ausstieg aus der Wehrpflicht darf nicht länger auf die lange Bank gescho- ben werden. Bereits das Urteil des Verwaltungsgerichtes Köln vom 21. April 2004 hat bestätigt, dass längst nicht mehr der überwiegende Teil der Wehrpflichtigen einberufen, die neue Einberufungspraxis willkürlich und gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Wehrgerechtigkeit verstoße. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht dieses Urteil revidiert, aber vom Gesetzgeber gefordert, die Tauglichkeitskriterien neu zu regeln. Dieser Forderung ist die damalige rot-grüne Bundesregierung mit der Än- derung des Zivildienstgesetztes nachgekommen, indem sie die Tauglichkeitskriterien nach oben geschraubt hat. Seitdem werden nur noch T1- und T2-Gemusterte einge- zogen. Quantitativ wurde damit der Grundrechtseingriff der Wehrpflicht zwar relativiert, gleichzeitig aber dieje- nigen, die ihren Wehrdienst ableisten müssen, doppelt bestraft. Mit dieser krassen Wehrungerechtigkeit muss endlich Schluss sein. Hier helfen auch keine ideologi- schen Bekenntnisse zur Wehrpflicht. Wehrgerechtigkeit lässt sich angesichts der neuen Aufgaben der Bundes- wehr und damit verbunden eines massiv gesunkenen Be- darfes an Grundwehrdienstleistenden auch in absehbarer Zukunft nicht herstellen. Unsinnig und kontraproduktiv sind Überlegungen wie die von der CSU zu einer Gemeinschaftsdienstpflicht. Sowohl das Grundgesetz als auch die allgemeine Erklä- rung der Menschenrechte und der internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte verbieten eine allgemeine Dienstpflicht. Es muss endlich Schluss sein mit jeder Art von Zwangsdiensten. Wer richtigerweise junge Menschen für die Bundeswehr „gewinnen und nicht kaufen“ will und an einem möglichst hohen Aus- tausch zwischen Bundeswehr und Gesellschaft interes- siert ist, sollte sich endlich auf unseren Vorschlag eines freiwilligen, flexiblen und attraktiven Kurzdienstes für Männer und Frauen einlassen. Damit ließe sich der Übergang von der Wehrpflicht- hin zu einer Freiwilli- genarmee verantwortlich gestalten – zum Vorteil aller Beteiligten. Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister der Verteidi- gung: Mit dem Ihnen jetzt vorliegenden Entwurf des Wehrrechtsänderungsgesetzes wird dem Anpassungs- und Änderungsbedarf bei einer ganzen Reihe wehrrecht- licher und sachlich verwandter Gesetze entsprochen. Vorrangig zu nennen sind das Wehrpflichtgesetz, das Soldatengesetz, die Wehrbeschwerdeordnung, die Wehr- disziplinarordnung und das Zivildienstgesetz. Es zeigt sich, dass der eingeleitete und weiter fortzu- setzende Transformationsprozess der Bundeswehr vor dem Wehrrecht nicht halt macht. Daher gilt es, auch in diesem – für rechtsstaatlich eingebundene Streitkräfte wichtigen – Gebiet, die erforderlichen Anpassungen an die aktuellen Anforderungen vorzunehmen. Dem Entwurf kommt aus drei Gründen eine beson- dere Bedeutung für die Bundeswehr zu. Erstens, Stär- kung des Rechtsschutzes von Soldatinnen und Soldaten: Wehrbeschwerdeordnung und Wehrdisziplinarordnung haben sich im Grundsatz für den Rechtsschutz der Sol- daten gut bewährt. Sie werden aber verfahrensrechtlich modernisiert. Beispiele sind die Verlängerung der Be- schwerdefrist, die Einführung einer Rechtsbeschwerde, die Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Diszipli- nargerichtsbescheides und die grundsätzliche Einfüh- rung der aufschiebenden Wirkung von Verwaltungsbe- schwerden. Dies hat für unsere Soldaten erhebliche Bedeutung und wird von ihnen auch als Ausdruck prak- tischer Fortentwicklung im Bereich der Inneren Führung wahrgenommen. Zweitens, Verbesserungen für den Dienst von Reser- visten: Die Regelungen für die Einsätze von Reservisten im Inland werden an die neu strukturierte zivil-militäri- sche Zusammenarbeit angepasst und um die Möglichkeit vorbereitender Übungen erweitert. Weiterhin sieht der Entwurf die vereinfachte Heranziehung von Reservisten für humanitäre Hilfeleistungen im Ausland vor. Hier- durch wird nicht nur die Flexibilität der Bundeswehr ge- stärkt, sondern auch die Attraktivität für Reservisten er- heblich gesteigert. 16240 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 (A) (C) (B) (D) Drittens, Entbürokratisierung: Durch die Klarstellung und Streichung entbehrlich gewordener Vorschriften trägt der Gesetzentwurf zum allgemeinen Ziel der Ent- bürokratisierung und besseren Rechtsetzung bei. Damit wird nicht zuletzt auch die Akzeptanz des Wehrdienstes und der Wehrpflicht gesteigert, indem Belastungen für Wehrpflichtige und Arbeitgeber beseitigt werden. Ich freue mich daher, dass es – zugegebenermaßen nach relativ langen und nicht immer ganz einfachen poli- tischen Diskussionen – gelungen ist, einen ausgewoge- nen und zielführenden Gesetzentwurf zu erarbeiten. Den Hinweis auf die intensiven Diskussionen will ich dabei keinesfalls als Kritik verstanden wissen. Wenn Parla- ment und Regierung es sich bei wehrrechtlichen Gesetz- gebungsvorhaben nicht leicht machen, ist das vielmehr ein gutes Zeichen und zeigt den hohen Stellenwert, den unsere Bundeswehr genießt. Ich nutze an dieser Stelle erneut die Gelegenheit, klar- zustellen: Die Bundesregierung bekennt sich vorbehalt- los zur allgemeinen Wehrpflicht als der für unser Land richtigen und zukunftsweisenden Wehrform. Es ist daher gleichermaßen konsequent, auf der einen Seite Verbesse- rungen bei der rechtlichen Ausgestaltung der Wehr- pflicht einzuführen, wie es andererseits keine Regelun- gen geben kann, die die Wehrpflicht selbst infrage stellen oder gezielt Schlupflöcher für diejenigen eröff- nen, die sich ihrer verfassungsrechtlichen Pflicht auf be- queme Art und Weise entziehen wollen. Vor ziemlich genau vier Wochen haben wir an dieser Stelle die Erhöhung des Wehrsoldes beschlossen – eine deutliche Maßnahme zur Steigerung der Attraktivität des Wehrdienstes. Die wehrpflichtrechtlichen Regelungen des jetzigen Entwurfs zielen in dieselbe Richtung, auch wenn sie sich weniger auf den Wehrdienst als solchen, sondern mehr auf die Rechtsstellung der Wehrpflichti- gen beziehen. Grundsätzlich bleibt es dabei, dass der Wehrdienst vor der Aufnahme eines Studiums abzuleisten ist. Erst ab dem dritten Semester kann eine Zurückstellung erfol- gen, die dann aber auch eine Einberufung bis zum 25. Lebensjahr ermöglicht. Für die Umstellung des Hochschulstudiums auf den Bachelor-/Masterabschluss haben wir hier eine angemessene und den Wehrpflichti- gen entgegenkommende Regelung gefunden. Ab dem dritten Semester wird in der Regel einem Zurückstel- lungsantrag bis zum Abschluss des Bachelor entspro- chen. Folgt das Masterstudium unmittelbar dem Bache- lorabschluss und baut es inhaltlich darauf auf, so kann eine weitere Zurückstellung bis zu dessen Abschluss be- antragt werden. Auch für diejenigen Wehrpflichtigen, die einen soge- nannten dualen Studiengang aufnehmen, der universitäre und praktische Ausbildung miteinander verknüpft, ent- hält der Entwurf erhebliche Verbesserungen. Sie wissen, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung einen dualen Studiengang wie ein klassisches Hochschulstudium qua- lifiziert mit der Folge, dass bislang eine Rückstellung erst ab Erreichen des dritten Semesters beansprucht wer- den kann. Mit der jetzt vorgesehenen Regelung ist unter bestimmten Voraussetzungen auch eine Zurückstellung bereits mit dem Beginn des dualen Ausbildungsganges möglich. Weitergehende Regelungen sind aber nicht mehr möglich, da sonst wegen der unbestimmten Dauer von Studiengängen viele überhaupt nicht mehr zum Wehrdienst einberufen werden können. Dies liefe auf eine nicht zu rechtfertigende Privilegierung von Studie- renden hinaus, was sich schon aus Gründen allgemeiner Gerechtigkeit verbietet. Der vorliegende Gesetzentwurf ist das Ergebnis inten- siver und umfassender Erörterungen. Mit ihm wird ein meines Erachtens ausgewogener und begründeter Aus- gleich zwischen unterschiedlichen Schwerpunktsetzun- gen und Interessenlagen erreicht. Ich möchte an dieser Stelle nochmals den Fachleuten der Bundestagsfraktio- nen für die konstruktive Zusammenarbeit danken. Der Gesetzentwurf stellt jetzt eine gute Grundlage für eine breite parlamentarische Zustimmung dar, um die ich Sie bitte. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Finanzierungsberatung für Studierwillige und Studierende – Förderung von Studierenden durch Aufbau eines nationalen Stipendiensystems – Studienfinanzierung ausbauen – Soziale Hür- den abbauen – Auswirkungen von Studiengebühren eva- luieren – Monitoringsystem umgehend auf- bauen (Tagesordnungspunkt 13 a bis d) Marion Seib (CDU/CSU): Wir sind uns alle einig, dass das deutsche Hochschulwesen international wettbe- werbsfähiger gemacht werden muss. Reformen sind not- wendig; auch darin sind wir uns einig. Dass dafür auch finanzielle Mittel bereitgestellt werden müssen, versteht sich von selbst. Andernfalls wird sich eine Verbesserung der Situation im Bereich Forschung und Lehre nicht ein- stellen. Wir müssen darüber reden, wie wir es schaffen, mög- lichst noch mehr jungen Menschen aus bürgerlichen, mittelständischen Familien ein Studium finanziell zu er- möglichen. In Deutschland werden laut Deutschem Stu- dentenwerk rund 2 Prozent der Studierenden durch ein Stipendium gefördert. Berücksichtigt man nun, dass etwa 3 Prozent der Kinder eines jeden Jahrgangs hoch- begabt sind, ist die Begabten- und Nachwuchsförderung in Deutschland noch nicht dort, wo sie sein könnte. Aber wir arbeiten daran. Immerhin sind wir uns einig, dass der Anteil der Geförderten auf 10 Prozent erhöht werden soll. Die Förderung von Studierenden ist ein wichtiges Element zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands. Die durch die Begabtenförderung bereit- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16241 (A) (C) (B) (D) gestellten Mittel sind von 80,5 auf 113 Millionen Euro gestiegen, und sie werden bis zum Ende der Legislatur- periode kontinuierlich weitersteigen. Im Rahmen der Qualifizierungsinitiative wird beson- ders Begabten aus der beruflichen Bildung durch die Ge- währung von Aufstiegsstipendien ein Hochschulstudium erleichtert, und natürlich werden mit dem seit 1. Januar 2008 in Kraft getretenen 22. Gesetz zur Änderung des BAföG ab dem Wintersemester 2008/2009 der Bedarfs- satz um 10 Prozent, die Freibeträge für das anrechenbare Einkommen um 8 Prozent angehoben. Damit wurde der Kreis der Geförderten erheblich er- weitert. Dies wird voraussichtlich zu einer Steigerung von 18 Prozent führen. Außerdem verweise ich auf den Hochschulpakt und die Exzellenzinitiative, die ebenfalls die strukturellen und finanziellen Bedingungen für Studierende verbes- sern sollen. Das zeigt, dass die Chancengleichheit für Studierende aus den sozialen Herkunftsgruppen mit mittleren und niedrigen Einkommen eine gewisse Priorität im Ausbil- dungsförderungsrecht besitzt. Den Weg, wie ihn die FDP in ihrem Antrag „Förde- rung von Studierenden durch Aufbau eines nationalen Stipendiensystems“ vorschlägt, halte ich allerdings für nicht ausreichend durchdacht. Grundsätzlich begrüße ich den Vorschlag aus Nordrhein-Westfalen, die Wirtschaft zur Unterstützung von Studierenden stärker in die Pflicht zu nehmen und Anreize zur Vergabe von Stipendien zu schaffen. Von den knapp 2 Prozent Stipendieninhabern werden nur rund 900 durch die Stiftung der Deutschen Wirt- schaft finanziert. Immerhin sind es ja auch die Unterneh- men, die den Fachkräftemangel beklagen. Im Bereich Stipendien kann die deutsche Wirtschaft im internationa- len Vergleich in der Tat noch aufholen. Zustiftungen an die Stiftung der Deutschen Wirtschaft oder auch an die Studienstiftung des deutschen Volkes sind jederzeit möglich und willkommen. Dies wird sicher auch der Imagepflege als gesuchter Arbeitgeber dienen. Insofern stehen einer weiteren Harmonisierung und Erweiterung des Stipendienwesens die Türen offen. Die weitaus meisten Jugendlichen in Deutschland – rund 60 Prozent eines Altersjahrgangs – beginnen nach der Schule eine duale Berufsausbildung in einem staatlich anerkannten Ausbildungsberuf. Das bedeutet, die Aus- bildung übernimmt der Betrieb. Das heißt, in der über- wiegenden Zahl der Fälle gibt es keine staatliche Förde- rung. Warum sollte dann nicht auch die Wirtschaft im Be- reich der akademischen Fachkräfte mitwirken? Stattdes- sen wurde es bisher vor allem dem Staat bzw. dem Steu- erzahler überlassen, die Akademiker auszubilden, und die berufliche Ausbildung wurde vor allem durch die Wirtschaft getragen. Allerdings ist darauf zu achten, dass durch die Bezuschussung der Stipendien nicht das bewährte System der Begabtenförderung ausgehebelt wird. Sie weisen in Ihrem Antrag zur Finanzierungsbera- tung für Studierwillige auf die aus Ihrer Sicht beste- hende Unübersichtlichkeit der Studienfinanzierungsan- gebote – BAföG, Studienkredite, Stipendien – hin. Die Bundesregierung soll deshalb aufgefordert werden, ein Konzept zur frühzeitigen Finanzierungsberatung für Stu- dierwillige und Studierende zu erarbeiten; insbesondere Personen ohne Anspruch auf BAföG-Förderung sollen „maßgeschneiderte Finanzierungspläne“ angeboten wer- den. Ihre plötzliche Freude am Aufbau neuer Bürokratien überrascht mich! Als bayerische Abgeordnete möchte ich hier anmer- ken: Was die Studienfinanzierungsberatung betrifft, übernehmen in Bayern die Studentenwerke diese Auf- gabe, die wiederum alle Studierenden durch ihre Bei- träge mitfinanzieren und die für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben zudem einen staatlichen Zuschuss erhalten. Insoweit sehe ich keinen Handlungsbedarf, da die Bera- tung schon besteht und anerkanntermaßen auch recht gut funktioniert. Im Übrigen kann ich von einem erwachse- nen Menschen, der nach der erreichten Hochschulzu- gangsberechtigung ein Studium beginnen möchte, er- warten, dass er sich in Eigeninitiative anhand der Vielzahl an Angeboten und Möglichkeiten eine für ihn passende heraussuchen und nutzen kann. Gerade von den Liberalen hätte ich mehr Mut zum Vertrauen in die Kräfte des Marktes und das Funktionieren der Selbstor- ganisation der Betroffenen erwartet. Nicht nur über das Vergleichen von Stiftung Waren- test, sondern auch aus den Internetauftritten der KfW und privater Geschäftsbanken sowie privater Beratungs- seiten – „studis online“ – sind vorzügliche Übersichten über das Marktangebot im Kreditsegment verfügbar. Das unter anderem von BMBF, KMK, BA und HRK mitgetragene Netzwerk „Wege ins Studium“ bietet auf seiner Internetseite unter der Rubrik „Studium – wie fi- nanzieren?“ eine Übersicht und weiterführende Hin- weise und Links auch zu anderen Finanzierungsinstru- menten wie Begabtenstipendien etc. Es kann nicht Aufgabe des Bundes sein, dem durchaus funktionieren- den Prozess der themenorientierten Informationsverbrei- tung via Internet zusätzlich durch den Versuch eines öf- fentlichen Beratungskonzepts Konkurrenz zu machen. Die Beratungsaufgabe aufseiten der öffentlichen und öf- fentlich beliehenen Institutionen ist da bei den Studen- tenwerken schon richtig und ausreichend verankert. Bund und Länder haben zudem auf dem gemeinsam betriebenen Bildungsserver im Internet unter der Rubrik „Studienfinanzierung/Studienkredite“ einen umfassen- den Überblick über existierende Finanzierungsangebote und Hinweise zu Vergleichen und Bewertungen Dritter zusammengestellt, mit dessen Hilfe sich alle Interessen- ten unmittelbar weiterinformieren und gezielt um Bera- tung nachsuchen können. Neue Beratungsstrukturen halte ich nicht für erforder- lich, wohl aber die weitere Werbung für die vorhandenen Informationssysteme. 16242 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 (A) (C) (B) (D) Der Gerichtsentscheid des Bundesverfassungsge- richts zum 6. Hochschulrahmenänderungsgesetz hat aus- drücklich festgelegt, dass der Bund die Erhebung von Studiengebühren nicht verbieten kann. Wenn die linke Fraktion sich darüber hinwegsetzt und erneut ein Verbot fordert, dann missachtet sie nicht nur die Entscheidung eines Verfassungsorgans, sondern sie will auch in Zu- kunft den nichtakademischen Steuerzahlern zumuten, über ihre Steuern zu 90 Prozent die Ausbildung der künftigen Akademiker zu bezahlen. Was an dieser Poli- tik sozial sein soll, ist gänzlich unverständlich. Monika Grütters (CDU/CSU): Zum wiederholten Mal diskutieren wir hier im Deutschen Bundestag nun Themen, die nur sehr begrenzt in die Zuständigkeit des Bundes fallen. Das liegt in der Natur der Sache, denn Hochschulthemen sind in der föderalen Ordnung der Bundesrepublik nun einmal Ländersache. Und dennoch versucht die Opposition, dort vor allem die Grünen und die Linke, uns wiederholt derartige Debatten aufzudrän- gen, haben sie doch beide in den Bundesländern wenig Gelegenheit, sich zu profilieren, weil sie eben auch da in der Opposition sind. Also versuchen wir uns im Bundes- tag in einer Debatte, die in die Länder gehörte. Sei’s drum. Meine Kollegin Seib hat zu den Vorstellungen der FDP über eine Finanzierungsberatung für Studierende ausreichend Stellung bezogen, daher geht mein Kommentar an Sie, die Linke, und auch an die Grünen, die sich im föderalen Geflecht der Bundesrepublik nur schlecht zurechtfinden. Zunächst zu den Linken, die sich einmal mehr in einem Reflex gegen Studiengebühren gefallen, ohne auch nur annähernd realistische Vorschläge für eine aus- kömmliche Hochschulfinanzierung zu machen. Und in den wenigen Ländern, in denen Sie mitreden können, wie Berlin zum Beispiel, toppen Sie diese weltfremde Haltung auch noch durch eine Ablehnung neuer Rechts- formen oder einer Flexibilisierung der Hochschul- verfassungen. Das ist nicht nur unverantwortlich und populistisch, sondern basiert auch auf falschen Annahmen über die Wirkung von Studienbeiträgen: Die Behauptung beispielsweise, durch Studien- beiträge würden junge Menschen vom Studium abgehal- ten, ist falsch. Fakt ist dass in den Ländern, in denen Stu- dienbeiträge erhoben werden, zum Beispiel Niederlande, Australien, die Studienanfängerzahlen sogar gestiegen sind. Die Gebühren werden hier für den Ausbau des Sys- tems verwandt und kommen so den Studierenden selbst zugute. Und auch bei uns in Deutschland ist es so, dass private Hochschulen, die Studiengebühren erheben – und diese übrigens durch entsprechende Stipendien für Bedürftige oder Begabte kompensieren – sehr attraktiv sind. Das gilt auch für Studierende mit geringerem Elterneinkommen, wie das Beispiel Witten-Herdecke zeigt: Dort ist der Anteil der BAFöG-Empfänger ge- nauso hoch wie an staatlichen, kostenfreien Hochschu- len. Ein Verbot von Studiengebühren, das übrigens das Bundesverfassungsgericht im Januar 2005 für unzulässig erklärt hat, würde die Chance leichtsinnig aufs Spiel setzen, die Hochschulen wenigstens etwas besser zu- gunsten der Studierenden auszustatten. Studienbeiträge definieren das Verhältnis zwischen zahlenden Nachfra- gern und Anbietern der Lehrleistungen auch ganz neu: Studierende werden nicht länger als Last begriffen, son- dern die Hochschulen werben neuerdings mit bedarfsge- rechten und differenzierten Angeboten in einem qualita- tiven Wettbewerb um Studierende. Ganz entscheidend in der Debatte aber ist, dass Sie sich endlich von dem Mär- chen verabschieden, Studienbeiträge verschärften die so- ziale Ungleichheit! Wissenschaftliche Gutachten zeigen, dass das bei- tragsfreie Studium de facto eine Umverteilung von arm zu reich bedeutet: Die schlechter Verdienenden finanzie- ren mit ihren Steuern den später besser Verdienenden das Studium, die Krankenschwester finanziert das Medizin- studium des Arztsohnes jedenfalls mit. Auch das Argument, Arbeiterkinder würden durch Studiengebühren vom Studium und somit vom sozialen Aufstieg abgehalten, ist falsch. Die soziale Selektion, die in Deutschland leider immer noch stärker ist als in ande- ren europäischen Ländern, erfolgt nämlich, wie die PISA-Studie jüngst wieder bestätigt hat, nicht beim Übergang zwischen Schule und Universität, sondern schon viel früher, beim Übergang von der Grund- zur weiterführenden Schule. Und zum Schluss erlaube ich mir auch den Hinweis darauf, dass jüngste repräsentative Umfragen einmal mehr belegt haben, dass eine deutliche Mehrheit der Deutschen, 67 Prozent, nicht gegen, sondern für die Ein- führung von Studienbeiträgen ist. Hier manifestiert sich das Bewusstsein für den indivi- duellen Wert eines Hochschulstudiums, das der Staat in Deutschland deshalb so weitgehend finanziert, weil es eben auch einen großen gesamtgesellschaftlichen Nut- zen an unseren Akademikern gibt. Als hochschulpolitische Sprecherin der CDU in Ber- lin – und diese Themen sind ja eben Ländersache – bin ich immer für sozialverträgliche Studienbeiträge einge- treten, auch für ein entsprechend auszubauendes Stipen- diensystem, das sich an Bedürftige und vor allem an Be- gabte richtet. Wir haben immer schon für die sogenannten nach- laufenden Gebühren plädiert, wie sie jetzt in Hamburg eingeführt werden sollen: Hier gibt es tatsächlich keine abschreckende Wirkung, und im Blick zurück werden die Absolventen den Wert ihres Studiums noch höher schätzen. Dass die Grünen ein Monitoring anmahnen, das diese und andere Wirkungen neuerer Beitragsvarianten in eini- gen Bundesländern beschreibt und bewertet, kann ich verstehen – das ist sicher sinnvoll. Aber wie so vieles auch ist dieses Ländersache. Daher gibt es ja auch bei der KMK eine Ministerarbeitsgruppe Hochschulfinan- zierung, die ein solches Monitoring zu liefern hat. Viel- leicht mus man ihr Beine machen, aber den Bund damit Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16243 (A) (C) (B) (D) zu beauftragen, wäre eines von vielen föderalen Miss- verständnissen. Studienbeiträge haben ihren Schrecken verloren, denn sie entfalten in vielen Ländern mittlerweile eine ver- nünftige Wirkung. Zu dieser Vernunft sollten wir alle zu- rückkehren! Jörg Tauss (SPD): Die Frage einer ausreichenden, tragfähigen und sozial sensiblen Studienfinanzierung ist sicher eine zentrale Zukunftsfrage für den Innovations- standard Deutschland. Wir brauchen über die Notwen- digkeit der Steigerung der zuletzt wieder fallenden Stu- dierendenquote – Studiengebühren lassen grüßen – als Beitrag auch zur mittelfristigen Sicherung unseres Fach- kräfteangebots an dieser Stelle sicher nicht zu streiten. Aber die Frage sozial vertretbarer Finanzierungs- modelle ist noch weit davor eine grundlegende Frage der echten Chancengleichheit in der Hochschulbildung. Für die SPD als Bildungspartei ist und bleibt die weiterhin gültige Diagnose, dass soziale Herkunft und die finan- ziellen Möglichkeiten der Eltern auch heute noch zu oft über Bildungschancen entscheiden, eine der unerträgli- chen Fehlentwicklungen unserer Zeit. Bildungschancen sind Lebens- und damit Zukunftschancen. Das ist auch der Grund, weshalb wir als SPD gemein- sam mit dem Finanzminister Peer Steinbrück die Kraft- anstrengung im letzten Jahr unternommen haben, das BAföG deutlich auszuweiten und vor allem um 10 Pro- zent zu erhöhen. Über 300 Millionen Euro wird allein der Bund ab dem Wintersemester 2008/2009 jährlich zu- sätzlich für bedürftige Studierende aufwenden. Es ist und bleibt unbefriedigend, dass ein Teil dieser Leistungsverbesserungen in einigen Ländern nicht bei den Studierenden ankommen wird, sondern über die Stu- diengebühren wohl letzten Endes die Landeshaushalte entlasten wird. Wenn sie die Begleichung von Heizkos- tenrechnungen als Beitrag zur Verbesserung der Studien- bedingungen sehen wollen, dann wird ein Teil der Ge- bühren sicher durchaus aufgabenbezogen verwendet. Abgesehen davon, dass Studiengebühren ein bildungs- politischer Irrweg sind, haben die Gebührenländer es bisher auch versäumt, ihre schwarz-gelbe Campusmaut den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts anzupas- sen. Weder ist der Verzicht auf Gebühren für BAföG- Empfänger flächendeckend gelungen, noch sind die An- forderungen des Bundesverfassungsgerichts in Karls- ruhe hinsichtlich der sozialverträglichen Ausgestaltung auch nur im Ansatz berücksichtigt. Die Koalitionsgespräche von CDU und GAL in Ham- burg stellen an diesem Punkt zumindest Erleichterungen für die betroffenen Studierenden in Aussicht, da sie Karlsruhe ernster nehmen als die Union oder die FDP al- lein, wenn das Konzept nachlaufender und einkommens- abhängiger Gebührenerhebung denn dann tatsächlich zum Tragen kommt. Aber eine Erkenntnis hat Hamburg bereits jetzt ge- bracht: Die Grünen wären für die Regierungsbeteiligung bereit, Studiengebührenpartei zu werden. Bereits beim ersten Lackmustest sind sie umgefallen, liebe Frau Sager und liebe Frau Hinz. Es ist zu hoffen, dass die grünen Kolleginnen und Kollegen in Hessen diese Scharte we- nigstens zum Teil wieder auswetzen und die desaströse Bildungspolitik von Roland Koch an dieser Stelle korri- gieren helfen. Wenn nicht, dann ist die SPD die letzte ernstzunehmende Partei in Bund und Ländern, die Stu- diengebühren ablehnt. Wir werden Sie 2009 daran erin- nern, liebe Freunde von den Grünen. Die Studienfinanzierung steht heute neben dem El- ternbeitrag und dem BAföG auf zwei weiteren, wenn auch weit kleineren Säulen. Erstens bilden die Studien- kredite der KfW eine sinnvolle Ergänzung des Studien- finanzierungsangebots. Sie werden weitergeführt, auch wenn die Resonanz weit hinter den Erwartungen der KfW oder der Finanzmarktpuristen – wo auch immer sie sich in diesen Tagen hin verkrochen haben – zurück- bleibt. Auf keinen Fall wird es aber mit uns für Studien- kredite eine Ausfallbürgschaft des Bundes geben. Unser Augenmerk ist und bleibt auf denjenigen, die trotz vor- handener Fähigkeiten ein Studium nicht finanzieren kön- nen. Das ist ein Aspekt der Daseinsvorsorge und originär öffentliche Aufgabe; das ist Bildungspolitik für eine echte Chancengleichheit für alle, für die die SPD steht. Eine zweite, in Deutschland viel zu wenig ausge- prägte Säule stellt die Stipendienfinanzierung dar. Sie liegt in Deutschland mit knapp 2 Prozent aller Studieren- den alarmierend niedrig, ebenso wie die durchschnittli- che Stipendienhöhe von 328 Euro monatlich. Deutsch- land liegt hier weit zurück im Vergleich etwa zu Ländern wie die Niederlande oder vor allem Skandinavien, die laut aktuellen Studien des Hochschul-Informations-Sys- tems im Vergleich um 20 bis sogar 40 Prozent höhere Finanzierungsanteile von öffentlichen und privaten Sti- pendien aufweisen. Wir als Koalition haben uns daher das Ziel gesetzt, die Begabtenförderung auszubauen und die Stipendien- quote deutlich zu erhöhen. Entsprechende Weichenstel- lungen sind in den Haushalt eingeflossen. So sind etwa die Mittel für Begabtenförderungswerke für Studierende um über 40 Prozent auf 113 Millionen Euro in 2008 er- höht worden. Wir stehen zu dieser Politik, auch weil sie komplementär zur BAföG-Erhöhung ist und die SPD so eine vermeintlich „elitenorientierte“ Einseitigkeit der öf- fentlichen Förderung ausschließen konnte. Wer aber erneut seinen Beitrag nicht geleistet hat, sind die Länder und ist die Wirtschaft. Die Realität sieht verglichen mit den vollmundigen Ankündigungen der Studiengebührenfreunde im Vorfeld des Gebühren- urteils, es werde Zehntausende von Stipendien „regnen“, desaströs aus. Die Wirtschaft hat sich faktisch verwei- gert; die Länder ringen bis heute um ein abgestimmtes Stipendienkonzept. Hier will die FDP erneut die öffentli- che Hand als Inkubator nutzen und die gebrochenen Ver- sprechungen des Privatsektors mit staatlichen Mitteln teilweise kurieren. Das ist schon bemerkenswert. Den Gipfel der Unverfrorenheit stellt sicher der Pinkwart-Vorschlag dar, indirekt den Bund kräftig mit zur Kasse zu bitten für eine Aufgabe, die Karlsruhe in die Hände der Länder gelegt hat. Hinzu kommt die Sprengkraft dieses FDP-Vorschlags für die Hochschul- 16244 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 (A) (C) (B) (D) landschaft insgesamt, wenn man etwa die unterschiedli- chen wirtschaftlichen und strukturellen Voraussetzungen in den verschiedenen Hochschulregionen berücksichtigt. Von einem „ebenen Spielfeld“ im angedachten Wettbe- werb um Privatmittel kann hier sicher keine Rede sein. So erfreulich jedes neue Stipendium für alle Bil- dungspolitiker ist, so klar ist, dass die SPD-Bundestags- fraktion dieses FDP-Manöver nicht mitmachen wird. Oder klarer: Der Bund wird keinen finanziellen Beitrag zur Finanzierung von Stipendiensystemen der Länder leisten. Für uns hat die soziale Frage und die Regelung in klaren Rechtsansprüchen Vorrang, weil nur sie bei der Chancengleichheit in der Bildung ansetzt und nicht, wie viele Stipendien, lediglich deren durch soziale Ungleich- heit geprägtes Ergebnis in die Hochschulen hinein ver- längert. Aber die heute eingebrachten Anträge von der FDP haben neben dieser Kritik auch ihr Gutes. Wir finden die Idee einer Verbesserung der Finanzierungsberatung für Studierende interessant und werden uns an der Klärung der Frage beteiligen, wer das mit welchem Personal zu welchen Kosten leisten kann – und wer dies finanziert. Denn dazu sagen Sie nichts, Frau Pieper. Ebenso ernüchternd wie die Politik der Grünen in Hamburg stellt sich deren eingebrachter Antrag dar. Im Grunde fordern Sie mit dem Studiengebühren-Monito- ring sozusagen eine Beobachtung des Verlaufes eines Schadens, den Sie selbst in Hamburg mit anrichten. Ich wiederhole große Worte, wenn ich sage, auf das Handeln kommt es an. Die Linke stellt auf den ersten Blick bei einiger in- haltlicher Übereinstimmung doch wieder einen unfinan- zierbaren Wunschkatalog an Maßnahmen auf, die zudem oft nicht einmal in der Zuständigkeit des Bundes liegen. Leider spricht abschließend kaum ein Antrag die Ur- sache für die Missstände an den Hochschulen und indi- rekt auch für die Studiengebührendebatte an, nämlich deren chronische Unterfinanzierung. Es ist überfällig, endlich zu einem neuen Finanzierungsmodell zwischen den Ländern zu kommen, das echte Anreize für Kapazi- täten und für den Wettbewerb um Studierende setzt. Der Hochschulpakt II oder auch der Qualifizierungsgipfel im Herbst bieten Chancen, hier endlich im Sinne eines „Geld folgt Studierenden“ weiterzukommen und dem Stückwerk ein Ende zu setzen. Zurück zu hier und heute: Alle heute eingebrachten Anträge werden im Ausschuss sicher zu intensiven Dis- kussionen führen, auf die wir uns bereits heute sehr freuen. Alle drei Oppositionsfraktionen werden einiges zu beantworten haben, wenn diese Anträge wirklich die Grenzen ihrer Vorstellungskraft für die Studienfinanzie- rung von morgen darstellen. Wenn nicht, sind wir gern bereit zu hören, was sie eigentlich gemeint haben. Uwe Barth (FDP): Die Fraktion der FDP legt Ihnen heute zwei Anträge vor, die sich aus unterschiedlichen Richtungen mit der Frage beschäftigen, wie junge Men- schen ihr Studium finanzieren können. Zum einen ist es unser Anliegen, mithilfe eines auf in- ternationales Niveau angehobenen Stipendiensystems die Instrumente, die jungen Menschen zur Finanzierung ihres Studiums zur Verfügung stehen, um ein wesentli- ches Element zu erweitern. Das ist vor allem deshalb wichtig, weil es viele Fälle gibt, in denen Eltern nicht ausreichend zur Unterstützung des studierwilligen Nach- wuchses in der Lage sind, obwohl das Familieneinkom- men so hoch ist, dass ein nennenswerter BAföG-An- spruch eben nicht gegeben ist. BAföG funktioniert zur Unterstützung von Studierenden aus einkommensschwa- chen Elternhäusern. Diese Studenten profitieren darüber hinaus von der sozialen Abfederung der Studienbeiträge. In NRW zahlen – aufgrund der Deckelung der Rückzah- lungshöhe auf 10 000 Euro – zwei Drittel der BAföG- Empfänger faktisch keine Studienbeiträge. Die Behaup- tung, dass gerade Kinder aus einkommensschwachen Milieus zwangsläufig unter Studienbeiträgen zu leiden hätten, ist also schlicht gelogen! Doch es gibt tatsächlich ein Problemfeld: Die verges- sene Mitte. Gerade weil das BAföG nur eine Minderheit der Studierenden erreicht, ist es dringend notwendig, dass auch den anderen Studentinnen und Studenten die Möglichkeit offengehalten wird, unabhängig von einer häufig unsicheren Unterstützung des Elternhauses und des Jobbens ihren Lebensunterhalt während des Stu- diums zu bestreiten. Dazu ist der Ausbau eines – auch leistungsfördernd wirkenden – Stipendiensystems unver- zichtbar. Derzeit werden nach Angaben des Deutschen Studentenwerks lediglich rund 2 Prozent der Studieren- den durch ein Stipendium gefördert. Es muss dringend angestrebt werden, den Anteil der Studierenden, die ein Stipendium erhalten, schrittweise auf mindestens 10 Prozent zu erhöhen. Auch wenn es sicher ein Spezial- fall ist; gerade für ausländische Studenten ist ein Stipen- dium mangels BAföG-Anspruch häufig die einzige Fi- nanzierungsquelle. Privaten Stiftern steht es frei, auch Ausländer in ihre Stipendienprogramme einzubeziehen; der Staat sollte hier ein gutes Beispiel geben und Auslän- der nicht von vornherein von seinen Programmen aus- schließen. Gerade die Vergabe von Leistungsstipendien eröffnet hier Möglichkeiten. Mit unserem zweiten Antrag wollen wir eine indivi- duelle Finanzierungsberatung etablieren, die jungen Menschen zeigt, wie sie ihr Studium finanzieren können und wie auch nach einem Studium anfallende Rückzah- lungsverpflichtungen – sei es aus BAFöG oder auch Stu- dienkrediten – bewältigt werden können. Wir wollen diesen jungen Menschen, die etwas leisten wollen, die sich Grundlagen für ein selbstbestimmtes Leben schaf- fen wollen, die lernen wollen und eben das umsetzen, was wir immer sagen – nämlich den einzigen Rohstoff, über den unser Land verfügt, zu nutzen, dabei helfen, dies auch tun zu können, und das ohne Angst, sondern mit Zuversicht und auch in der Erwartung auf einen ganz persönlichen Gewinn, denn auch das ist ein legitimer Antrieb. Die Erstellung eines maßgeschneiderten Finanzie- rungsplans – beim Bau eines Hauses ganz selbstver- ständliche Voraussetzung, selbst beim Kauf eines Autos mit Überlegungen über Verbrauch, Versicherungsklasse Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16245 (A) (C) (B) (D) und Werkstattkosten ein völlig normaler Vorgang – ist für die Finanzierung eines Studiums alles andere als nor- mal. Laut aktueller HIS-Studie fühlen sich über 33 Pro- zent der Studierenden in Finanzierungsfragen schlecht bis sehr schlecht beraten. Bei Studenten mit „niedriger sozialer Herkunft“ sind dies sogar 44 Prozent! Wie viele tatsächlich schlecht beraten sind, bleibt offen. Hinsicht- lich der Beratungsquellen befragt, gaben nämlich 77 Pro- zent der Studierenden das „Elternhaus“ oder den „Freun- deskreis“ an. Auf Informationen aus dem Dunstkreis des Studentenwerks griffen 20 Prozent der Befragten zurück. Wer sich ein kleines bisschen mit der Vielfalt studen- tischer Lebensbedingungen zwischen München, Ilmenau und Kiel auskennt, wer sich mit den vielfältigen Ange- boten und Modellen zur Finanzierung des Lebensunter- halts von Studierenden beschäftigt hat, den müssen diese Umfrageergebnisse alarmieren. Der mangelhafte Profes- sionalisierungsgrad bei der Finanzierungsberatung ist er- schreckend – denn es ist kaum davon auszugehen, dass die allermeisten Studenten auf ausgewiesene Finanz- experten im Familienkreis verweisen können. Das Stu- dentenwerk hat freimütig zugegeben, dass die vorhan- dene Expertise mit Blick auf die Darlehenssituation auf dem freien Markt höchst begrenzt ist. In diesem Lichte ist es eben wichtig, zu unterscheiden, ob „sich gut bera- ten fühlen“ mit „gut beraten sein“ gleichzusetzen ist. Zweifel sind hier sicher angebracht. An diesem Umstand muss sich etwas ändern – gerade aus diesem Grund for- dern wir Bund, Länder und Hochschulen auf, ein umfas- sendes Konzept zu entwickeln, um die hilfesuchenden Studenten und künftigen Studenten besser über das breite und gute Angebot zu informieren. Das deutsche Hochschulwesen ist chronisch unter- finanziert. Das ist kein Geheimnis. Den Hochschulen fehlt Geld. Ebenso wenig ist neu, dass die öffentliche Hand nicht die Möglichkeit hat, den Hochschulen die Mittel zu geben, die notwendig wären, um diese interna- tional konkurrenzfähig zu halten. Diese Tatsache ist allen bekannt, die sich auch nur etwas mit der Materie auseinandergesetzt haben. Doch leider fehlt die Bereit- schaft, daraus Konsequenzen zu ziehen. Insbesondere die linke Seite des Hohen Hauses akzeptiert den Sub- stanzverlust des deutschen Hochschulwesens, ohne mit der Wimper zu zucken. Hauptsache, die Klientel wird nicht verschreckt. SPD, Linke und Grüne intonieren Schauerlieder über die Folgen von Studienbeiträgen und Darlehen. In ihrem Antrag macht die Linke sogar die dringend benötigten Stipendien schlecht. Die Genossen ängstigen die Betroffenen lieber mit platten Vorurteilen über die horrenden Darlehnszinsen und Schuldenberge am Ende des Studiums. „Visionen“ haben sie nur, wenn sie den er- lahmten AStA-Linken vom Trip an die „Bolivarische Universität“ des Egomanen Chavez vorschwärmen – wir erinnern uns an die letzte Plenarwoche! Dabei sind es gar nicht die vermeintlich Armen, die mit diesen wirren Ideen angesprochen werden oder sogar davon profitieren könnten. Interessanterweise war es Karl Marx, der nicht zu Unrecht angemerkt hat, dass, „solange nur wenige Studenten Zugang zu höherer Bil- dung haben, Gebührenfreiheit ein Subventionspro- gramm für das Bürgertum darstellt.“ Wenn er auch viel geirrt haben mag – da stimme ich dem Herrn mit dem Rauschebart zu! Das tut auch die taz, die nun nicht gerade als Haus- und Hofblatt der FDP bekannt ist. In der Ausgabe vom 17. März 2008 heißt es: Gerecht wäre es nicht etwa, Studiengebühren abzu- schaffen, sondern sie für zehn Jahre in Deutschland flächendeckend einzuführen. Und weiter heißt es: In Hamburg und Hessen kämpfen Studenten darum, dass die Studiengebühren abgeschafft werden. Un- terstützt werden sie von der parlamentarischen Lin- ken, von SPD, Grünen und Linkspartei, die in schö- ner Eintracht die Campusmaut als einen Verstoß gegen Chancengleichheit skandalisieren. Das ist nur auf den ersten Blick eine wunderbare Fusion von außerparlamentarischer und parlamentarischer Linker. Es ist eine verkehrte Welt. Und weiter: Das Bildungssystem steht Kopf. Kindergärten kos- ten teilweise bis zu 400 Euro pro Monat und bereits in der Grundschule werden Schüler mit zehn Jahren einer harten Auslese unterzogen. Die Studenten ficht das nicht an. Sie fordern die Abschaffung von monatlich 83 Euro Studiengebühren und das Verbot jeglicher Auslese für Elitekurse an Hochschulen. Verkehrte Bildungswelt. Es wird Zeit, sie auf die Füße zu stellen. Ihr Antrag zeugt davon, dass diese verkehrte Welt ge- nau die Ihre ist: Wer Studienbeiträge nicht per Gesetz verbietet, soll auch keine Leistungen aus dem Hoch- schulpakt erhalten. Das könnte man als Erpressungsver- such bezeichnen; jedenfalls ist es klarer Ausdruck bru- talstmöglicher Klientel- und Verteilungspolitik. BAföG soll wieder Vollförderung werden, Kredite gehören ab- geschafft, die Altersgrenze aufgehoben, Stipendien am besten verboten und der Leistungsgedanke aus den Hochschulen verbannt. Wie krank muss ein Hirn sein, dem solch ein Wust von verqueren Gedanken und Vor- stellungen entspringt? Kommt alle studieren, von der Schule bis zur Rente, Vollversorgung ohne Gegenleis- tung oder gar Rückforderung garantiert! Solch ein Sam- melsurium von unglaublichem Unfug ist mir lange nicht mehr untergekommen. Der Antrag der Grünen liest sich da vergleichsweise angenehm. Beim unterirdischen Niveau des PDS-Antra- ges ist dies aber nicht wirklich ein Lob; das hätte der An- trag denn auch nicht wirklich verdient. Dem Anliegen, die Auswirkungen von Studiengebüh- ren im Rahmen der empirischen Bildungsforschung zu untersuchen, könnte ich ja noch folgen, auch wenn Der- artiges ausweislich beispielsweise der HIS-Studien be- reits erfolgt. Auch können wir auf positive Erfahrungs- werte aus dem Ausland zurückgreifen. So liefert Österreich geradezu ein Paradebeispiel. Nach einer An- fangsflaute befinden sich die Studentenzahlen auf einem 16246 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 (A) (C) (B) (D) „Allzeithoch“. Und Gutes lässt sich auch aus Deutsch- land berichten. Der neue HIS-Bericht belegt, dass sich die finanzielle Situation von Studierenden aus Gebüh- renländern fast genauso positiv darstellt – 73 Prozent – wie anderswo: 75 Prozent. Es gibt also keinen Grund, das Ruder herumzureißen – eine gute Nachricht! Einen großen Haken hat der Antrag dann aber doch: Sie fordern im gleichen Antrag die Abschaffung allge- meiner Studiengebühren. Dass wir Liberale ihn allein deshalb nicht unterstützen können, wird niemanden überraschen. Wie Sie allerdings eine empirische For- schung an einem Objekt machen wollen, welches es dann gar nicht mehr gibt, das würde mich schon interes- sieren. Mit empirischen Daten werden ja gerade theoreti- sche Annahmen am „lebenden Objekt“ überprüft. Fehlt das Objekt, geht der Forschung der Gegenstand verloren. Was soll das? Zum Schluss möchte ich noch auf die aktuellen Dis- kussionen in Hessen und Hamburg eingehen: Der Vor- stoß von SPD, Linken und den Grünen, in Hessen ein Studiengebührenverbot zu erzwingen, ist eine Katastro- phe für die betroffenen Bildungseinrichtungen. Die hes- sischen Hochschulen rechnen mit finanziellen Ausfällen von 50 bis 100 Millionen Euro. In Hamburg sind die Grünen dagegen etwas weiter. Dort sitzen sie ja fröhlich mit am Tisch und haben eine vermurkste, umständliche Form der Studiengebühren mit der CDU ausgehandelt. Das dortige Modell der „nachgelagerten“, also erst nach Abschluss des Studiums erfolgenden Beitragserhebung halte ich jedoch aus meh- reren Gründen für ungeeignet: Den Hochschulen wird Geld vorenthalten, weil diese Zahlungen erst viel später erfolgen. Es nützt auch den Betroffenen nichts: zum ei- nen, weil sie selbst nicht in den Genuss ihrer eigenen Leistung kommen, und zum anderen, weil auch eventu- ell aufgenommene Kredite – wenn überhaupt – erst nach Abschluss des Studiums zurückgezahlt werden müssen, während hier den Hochschulen das Geld aber unmittel- bar zur Verfügung steht. Dass eine völlig unnütze zusätz- liche Bürokratie aufgebaut wird, komplettiert die Män- gelliste des Modells. Die Pressemitteilung des Kollegen Gehring vom 18. Februar mit dem sperrigen Titel „Keine Studienge- bühren statt neuer Stipendien“ ist heute, kaum sechs Wo- chen später, schon wieder Makulatur. In dem Pressepa- pierchen werden die Studienbeiträge noch als „Ursache allen Übels“ bezeichnet und im selben Zug den FDP- Vorstoß für ein nationales Stipendiensystem abgelehnt. Aber nun ist vielleicht alles anders? Jetzt, wo die Grünen Sinn, Zweck und Notwendigkeit von Studienbeiträgen offenbar erkannt haben und ihre Einführung unterstüt- zen, sind jetzt auch die Vorbehalte gegenüber zusätzli- chen Stipendien gewichen? Ich bin gespannt! Lassen Sie uns gemeinsam für ein umfassendes Sti- pendiensystem eintreten; bringen wir Licht in den Finan- zierungsdschungel und verbessern wir die Beratungs- angebote für künftige Studierende! Interessant wäre es doch, zu erfahren, ob die Regierungsfraktionen außer dem reflexhaften Hinweis, dies alles sei doch Länder- sache, auch eine inhaltlich Meinung zu den Themen ha- ben. Ich freue mich deshalb auf die weiteren Beratungen. Cornelia Hirsch (DIE LINKE): Die heute von der FDP vorgelegten Anträge zur Studienfinanzierung haben beide einen entscheidenden Fehler. Dieser Fehler ist, dass in beiden davon ausgegangen wird, dass allgemeine Studiengebühren ein wichtiges politisches Ziel und alter- nativlos sind. Nie war diese Einschätzung verkehrter als heute, wo es in Hessen gelingt, was vor einigen Monaten noch undenkbar schien: Das erste Bundesland, das allge- meine Studiengebühren eingeführt hat, ist dabei sie wieder abzuschaffen! Das ist ein Riesenerfolg für all die- jenigen, die in den letzten Jahren immer wieder uner- müdlich gegen Studiengebühren auf die Straße gegangen sind. Die Linke kämpft in und außerhalb des Parlaments dafür, dass Hessen kein Einzelfall bleibt. Das Studium muss endlich wieder bundesweit gebührenfrei werden! Für diese Forderung werden wir uns auch in die Födera- lismusreform II stark machen. Wir sind und bleiben kon- sequent gegen Studiengebühren in jeder Form! Im Gründungsaufruf des Aktionsbündnisses gegen Studiengebühren, in dem Die Linke Mitglied ist, heißt es: „Studiengebühren sind aus gesellschafts-, sozial- und bildungspolitischen Gründen abzulehnen. Sie lösen kein einziges Problem, sondern verschärfen die Krise des Bil- dungssystems.“ Dem ist nichts hinzuzufügen! Studien- gebühren sind unsozial. Sie machen den Zugang zu Bil- dung vom Geldbeutel der Eltern abhängig. Das Recht auf freie Bildung für alle wird damit abgeschafft. Bil- dung zur Ware und zur Privatsache gemacht. Schon jetzt machen sich erste Auswirkungen von Studiengebühren hierzulande bemerkbar. So geht die Zahl der Studienan- fängerinnen und Studienanfänger zurück und mehr und mehr werden kritische Wissenschaften aus den Vorle- sungsverzeichnissen gestrichen. Studiengebühren be- nachteiligen insbesondere Frauen. Eine am Freitag veröffentlichte Studie des HIS zeigt: 31 Prozent der weiblichen, aber nur 19 Prozent der männlichen Befrag- ten, die kein Studium im Jahrgang 2006 aufgenommen haben, sehen sich nicht in der Lage für anfallende Stu- diengebühren aufzukommen. Sehr geehrte Damen und Herren von der Bundesregierung! Deshalb beenden Sie endlich diese unsoziale Politik und nehmen sie ihre Ver- antwortung wahr, bundesweit für ein gebührenfreies Stu- dium einzutreten! Damit will ich zu den uns heute vorliegenden Anträ- gen kommen: Die Linke hält weder den Antrag der FDP mit der Forderung nach einer besseren Finanzierungsbe- ratung für Studierende, noch den Antrag der Grünen mit der Forderung nach einem Studiengebührenmonitoring für ausreichend. Beide Fraktionen haben sich durch ihr Agieren in den Ländern als Bündnispartner für Studie- rende disqualifiziert. Insbesondere die Grünen haben in Hamburg ihr Versprechen, Studiengebühren abzuschaffen gebrochen! Ich bin deshalb gespannt, was die Grünen Hochschulgruppen künftig bei Wahlen zu den studenti- schen Interessenvertretungsgremien an den Hochschulen plakatieren wollen. Am treffendsten wäre wahrschein- lich: „Wir sind ein bisschen für und ein bisschen gegen Studiengebühren – je nachdem wie wir schneller an die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16247 (A) (C) (B) (D) Regierung kommen!“ Wir finden es erschreckend, dass sich ausgerechnet die Grünen zum Wegbereiter und Ret- ter allgemeiner Studiengebühren machen lassen! Die Frage der Studienfinanzierung ist aber nicht nur ein Thema in den Ländern. Wenn die Bundesregierung ein ernsthaftes Interesse daran hat, den Zugang an die Hochschulen zu öffnen und soziale Ungleichheiten ab- zubauen, muss deutlich mehr passieren, als FDP und Grüne mit ihren Anträgen vorschlagen. Wir stellen in unserem Antrag deshalb ganz konkrete Forderungen auf: Erstens geht es uns darum, dass die Bundesregierung den Ländern für ihren unsozialen Gebührenkurs nicht mehr länger Rückendeckung gibt. Insbesondere muss hierzu dem ratifizierten UN-Sozialpakt zur Gültigkeit verholfen werden, indem die Ablehnung von Studienge- bühren in den Landeshochschulgesetzen zur Vorausset- zung an der Beteiligung zum Hochschulpakt gemacht wird oder im Zuge der geplanten Föderalismusreform II die Unentgeltlichkeit der Bildung im Grundgesetz veran- kert wird. Zweitens muss das BAföG grundlegend ausgebaut werden. Die Bildungsexpansion wäre ohne eine Vollför- derung durch das BAföG in den 1960er Jahren undenk- bar gewesen. Wer mehr Studierende an den Hochschulen will und vor allem endlich den beschämend niedrigen Anteil der Studierenden aus nicht akademischen Haus- halten steigern möchte, muss das BAföG auf eine Voll- förderung umstellen! Um dem sozialen Knick im Bil- dungstrichter nach der Sekundarstufe I entgegen zu wirken, brauchen wir zudem endlich wieder ein umfas- sendes BAföG für Schülerinnen und Schüler. Außerdem ist es absurd, dass Studierende, die doch eindeutig voll- jährig sind, immer noch als Anhängsel ihrer Eltern wahr- genommen werden. Die Linke will deshalb endlich eine elternunabhängige Förderung im BAföG erreichen. Auch muss die diskriminierende Altersgrenze von 30 Jahren endlich der Vergangenheit angehören. Wir sollten es vielmehr begrüßen, wenn junge Menschen bereit sind sich weiter zu qualifzieren! Durch die Umstellung der Studienstruktur auf Bachelor- und Masterstudiengänge haben sich viele Finanzierungsprobleme für die Studie- renden ergeben, bei denen nachgebessert werden muss. Drittens muss der Antrag der FDP zum Aufbau eines nationalen Stipendiensystems unmissverständlich zu- rückgewiesen werden. Das vorgeschlagene Stipendien- system kann die soziale Auslese beim Hochschulzugang nicht vermindern. Im Gegenteil: Er wird die Türen der Hochschulen für Jugendliche aus nichtakademischen und finanzschwachen Elternhäusern weiter schließen und er wird die Privatisierung der Hochschulen weiter beschleunigen. Die Studierenden brauchen eine verläss- liche Studienfinanzierung. Ein Rechtsanspruch auf Stu- dienfinanzierung wie ihn das BAföG vorsieht, ist daher unerlässlich. Ich hoffe, dass wir in den Ausschussberatungen zu diesen Forderungen Einigkeit herstellen können. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn wir heute über Studienfinanzierung reden, dann müssen wir auch über aktuelle Entwicklungen in Hessen und Hamburg reden: In Hessen hat gestern auf Antrag von Grünen und SPD die vollständige Abschaffung der schwarzen Studiengebühren die erste parlamentarische Hürde genommen. Der rot-grüne Gesetzentwurf ist so- lide gegenfinanziert und verursacht keine Einnahmever- luste für die Hochschulen. Das zeigt: Wo ein politischer Wille ist, da gibt es auch einen finanzpolitischen Weg. In Hamburg ist Schwarz-Grün für Ole von Beust eine Chance, seine bisher falsche hochschulpolitische Linie zu korrigieren. Unser Ziel, die Studiengebühren voll- ständig abzuschaffen, haben wir dabei gegenüber der Union noch nicht durchsetzen können. Der voraussicht- liche Koalitionskompromiss bringt aber eine deutliche Entschärfung. Die neue Lösung entspricht nicht unserem Ziel; sie ist aber unbestreitbar besser als die bestehende. Damit ist klar: Wir Grüne kämpfen bundesweit wei- terhin für einen kostenfreien Hochschulzugang und tra- gen dazu bei, Studiengebühren für alle ab dem ersten Se- mester zu überwinden. Unser Ziel ist und bleibt die Abschaffung der derzeitigen Unimaut in den Ländern. Mit der Abschaffung in Hessen und der deutlichen Ent- schärfung in Hamburg haben wir Grüne eine Trend- wende eingeleitet: Die bisherige Studiengebührenfront bröckelt! Das ist eine gute Nachricht für alle Studieren- den. Die Campusmaut könnte bundesweit zum Auslauf- modell werden, wenn es nicht in fünf weiteren Bundes- ländern schwarze oder schwarz-gelbe Mehrheiten gäbe, die am unsozialen Bezahlstudium festhalten. Solange es diese Studiengebühren noch gibt, müssen wir damit um- gehen. Mit unserem heutigen Antrag fordern wir daher Bund und Länder auf, die Auswirkungen von Studienge- bühren systematisch und regelmäßig zu evaluieren. Die Daten, die uns bislang vorliegen, liefern klare Hinweise darauf, dass Studiengebühren junge Menschen vom Studium abschrecken, insbesondere Studienberech- tigte aus einkommensschwachen und hochschulfernen Familien. Diese ersten Belege reichen noch nicht aus, vor allem dann nicht, wenn sie von Gebührenbefürwor- tern á la FDP und CDU partout nicht zur Kenntnis ge- nommen werden. Daher brauchen wir endlich ein systematisches, von Bund und Ländern getragenes Monitoringsystem, das die Auswirkungen der Unimaut auf Studierende und Stu- dienberechtigte differenziert untersucht. An einem sol- chen Instrument müssten übrigens gerade auch die Ge- bührenbefürworter, die meinen, dass ihre Unimaut keinen Schaden anrichtet, interessiert sein. Denn wenn Studiengebühren so harmlos sind, wie Sie behaupten, dann gibt es auch nichts zu verheimlichen – aber mittels Monitoring umso mehr zu erforschen. Doch es geht hier nicht nur um einen gutes politisches Argument, sondern auch um einen klaren verfassungs- rechtlichen Auftrag: Das Bundesverfassungsgericht hat 2005 klargestellt, dass ein Eingreifen des Bundes in Sa- chen Studiengebühren gerechtfertigt ist, wenn diese die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im Bundesge- biet beeinträchtigen. Wie aber soll der Bund jemals in 16248 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 (A) (C) (B) (D) Erfahrung bringen, ob sein Eingreifen erforderlich ist, wenn er die Folgen der Studiengebühren nicht genau un- tersucht? Wer sich also heute einem systematischen Gebührenmonitoring verweigert, zeigt sowohl dem Bun- desverfassungsgerichts als auch den Sorgen der Studie- renden die kalte Schulter. Die FDP hat auch etwas zu der heutigen Debatte bei- getragen. Immerhin beschäftigen auch Sie sich mit der Frage der Studienfinanzierung. Und offenbar erkennen sogar Sie, dass die Finanzierungssituation vieler Studie- render prekär ist. Die Finanznöte der Studierenden sind aber nicht allein durch eine bessere Beratung zu behe- ben. Vielmehr braucht es ein stärkeres BAföG, das Aus für die Campusmaut und keine Schuldenberge durch Kredite. Ein nationales Stipendiensystem á la FDP mag zu- nächst gut klingen, widerspricht aber ihrem sonstigen hohen Loblied auf die föderalen Zuständigkeiten. Wa- rum gerade der Bund nun die Studiengebührensuppe der Länder auslöffeln sollte, bleibt mehr als schleierhaft. Wieso startet Minister Pinkwart nicht sein eigenes Lan- desstipendienprogramm NRW? Wieso gewinnt er nicht die Wirtschaft in NRW dafür, ein Programm aufzulegen? Da hat er noch viele Hausaufgaben zu machen. Wenn es der FDP darum geht, die sozialen Auswir- kungen der von Ihnen mit eingeführten Unimaut auszu- bügeln, gebe ich Ihnen einen einfachen Ratschlag: Setzen auch Sie sich dafür ein, die derzeitigen Studien- gebühren abzuschaffen und das Bafög weiter zu stärken. Das hilft den Studierenden deutlich mehr als Ihre An- träge. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches (Tages- ordungspunkt 15) Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ CSU): Nach der Katastrophe des von Deutschland aus- gelösten Zweiten Weltkrieges war für die Mütter und Väter des Grundgesetzes ein Bekenntnis für den neu auf- zubauenden Staat unumstößlich: „Von deutschem Boden soll nie wieder Krieg ausgehen.“ Dieses Prinzip des friedlichen Zusammenlebens der Völker hat in Art. 26 Abs. 1 des Grundgesetzes seinen konkreten Niederschlag gefunden. Der stellt „insbeson- dere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten“ unter das Verdikt der Verfassungswidrigkeit und er for- dert, solche Handlungen unter Strafe zu stellen. Nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Grundgesetzartikels wird ausschließlich die Vorbereitung als verfassungs- widrig qualifiziert. Wenn jedoch schon die Vorbereitung eines Angriffskriegs von Verfassungswegen verboten ist, dann ist erst recht auch die Führung eines Angriffskrie- ges verfassungswidrig. So die logische Schlussfolge- rung, die sowohl von namhaften Kommentatoren als auch durch eine Entscheidung des Bundesverwaltungs- gerichts aus dem Jahr 2005 gestützt wird. Im Verfassungsrecht kann ein solcher Schluss gezo- gen werden; im Strafrecht verbietet sich dies, weil eine solche Analogie gegen das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz verstoßen würde. Genau an dieser Stelle setzt nun der von der Fraktion Die Linke vorgelegte Gesetzentwurf an, der auf eine Än- derung des § 80 des Strafgesetzbuches abzielt. Die im Jahr 1968 mit dem 8. Strafrechtsänderungsgesetz einge- führte Vorschrift bestraft die Vorbereitung eines An- griffskriegs, an dem die Bundesrepublik Deutschland be- teiligt sein soll und dadurch die Gefahr eines Krieges für die Bundesrepublik herbeiführt, mit lebenslanger Frei- heitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jah- ren. Nun wird Herr Kollege Nešković behaupten, § 80 StGB setze den Gesetzgebungsauftrag des Art. 26 Abs. 1 Satz 2 GG nur teilweise um. Denn nicht nur die Vorbe- reitung eines Angriffskrieges sei unter Strafe zu stellen, sondern auch die Auslösung oder Durchführung eines solchen. Das Führen des Angriffskriegs selber sei jedoch nach der derzeitigen Gesetzeslage nicht strafbar. Zum Beweis, dass es sich hierbei nicht um eine lediglich theo- retische Frage handelt, zieht die Linksfraktion eine Ant- wort des Generalbundesanwalts auf eine Strafanzeige von Friedensinitiativen gegen Mitglieder der damaligen rot-grünen Bundesregierung aus dem Jahr 2006 heran. Darin kam der Generalbundesanwalt zu dem Schluss, dass nach dem Wortlaut der Vorschrift nur die Vorberei- tung an einem Angriffskrieg und nicht der Angriffskrieg selbst strafbar sei, sodass auch die Beteiligung an einem von anderen vorbereiteten Angriffskrieg nicht strafbar sei. Solchen Interpretationen des § 80 StGB soll nach dem Willen der Linksfraktion künftig durch eine Ergän- zung und Präzisierung des Tatbestands der Boden entzo- gen werden. Auf den ersten Blick mag die Argumentation der Linksfraktion etwas für sich haben. Ein zweiter und tie- fer gehender Blick in die Materie zeigt jedoch, dass man es sich so einfach nicht machen kann. Schon der Gesetzgeber des Jahres 1968 hatte erhebli- che Schwierigkeiten mit der einfachgesetzlichen Umset- zung des Verfassungsauftrages. Das Problem lag und liegt in der Unbestimmtheit des Begriffs „Angriffs- krieg“; denn eine allgemein akzeptierte völkerrechtliche Definition dieses Begriffs bestand weder im Jahr 1968 noch gibt es sie heute. Der damalige Gesetzgeber hat je- doch eine Anknüpfung des Begriffs des Angriffskriegs an das Völkerrecht gewollt. Dass es im Völkerrecht nach wie vor an einer verbindlichen Definition des Angriffs- kriegs fehlt, zeigt sich auch im Römerstatut des Interna- tionalen Strafgerichtshofs (IStGH-Statut). Nach Art. 5 Abs. 2 IStGH-Statut wird die Gerichtsbarkeit des Inter- nationalen Strafgerichtshofs in Den Haag über das Ver- brechen der Aggression so lange nicht ausgeübt, bis auf internationaler Ebene „eine Bestimmung angenommen worden ist, die das Verbrechen definiert und die Bedin- gungen für die Ausübung der Gerichtsbarkeit im Hin- blick auf dieses Verbrechen festlegt“. Eine solche Ver- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16249 (A) (C) (B) (D) ständigung wurde bislang nicht erzielt. Wie zu hören ist, gestalten sich die entsprechenden Verhandlungen eher schwierig. Vor diesem Hintergrund wird das Anliegen der Links- fraktion in den anstehenden Beratungen im Rechtsaus- schuss kritisch zu bewerten sein, zumal Straftatbestände wegen des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebots restriktiv auszulegen sind. Hierin liegt der wesentliche Mangel des Gesetzentwurfs. Es begegnet nämlich tief- greifenden Bedenken, mit einem in der völkerrechtli- chen Diskussion noch offenen Begriff wie dem des An- griffskrieges einen Straftatbestand weiter auszubauen und dies als eine „Präzisierung des Straftatbestandes“ anzupreisen. Aber nicht nur deswegen ist der Gesetzent- wurf der Linksfraktion kritisch zu beurteilen. So soll nach deren Willen die einschränkende Bestimmung, nach der an dem Angriffskrieg die Bundesrepublik Deutschland beteiligt sein muss, ersatzlos wegfallen. Der Sinn erschließt sich schnell: Die Linken wollen da- mit künftig das Verhalten ausländischer Staaten vor deutsche Strafgerichte bringen, um das Instrument des Strafprozesses für politische Zwecke zu instrumentali- sieren. Dazu werden wir ihnen die Hand nicht reichen. Schon der Gesetzgeber von 1968 hat dieses Problem klar erkannt und ausgeführt, dass „es nicht Aufgabe deut- scher Strafgerichte sein kann, eine Art internationale Ge- richtsbarkeit auszuüben“. Dem ist nichts hinzuzufügen. Jörn Thießen (SPD): Die Fraktion der Linken ist von ihrem auch in diesem Punkte unsinnigen Tun nicht abzu- bringen. Ihnen geht es in Wahrheit nicht um die Wahrheit – es geht Ihnen darum, auf einen höchstselbst hingeworfe- nen Misthaufen zu steigen und von dort herab Ihr Gega- cker über den eigenen Hühnerhof schallen zu lassen. 2003 wollten Sie Kanzler Schröder verklagen, weil er den USA Überflugrechte auf dem Weg in den Irak gewährte, und wegen der deutschen Beteiligung an AWACS-Flü- gen. Weil der Generalbundesanwalt Nehm Ihnen damals erklärt hat, dass dies Unfug sei, versuchen Sie es jetzt über eine Änderung des § 80 StGB, in der Hoffnung, dass Frau Harms beim nächsten Mal wenigstens einen An- fangsverdacht annehmen muss. Die Frage ist doch, ob es bei Ihnen irgendjemanden gibt, der sich wirklich für die Materie interessiert, oder ob Sie nur wieder einmal mit Ihrer PR-Arbeit auf die Sahne hauen wollen. Tatsache ist, dass Sie fünf Jahre später diese Vorlage aus dem Eimer ziehen und als Ge- setzentwurf einbringen, dessen Quintessenz darin be- steht, ex post all jene bestrafen zu wollen, die dafür ge- sorgt haben, dass Deutschland nicht in einen Krieg im Irak verwickelt wurde. Das ist doch weder anständig noch intellektuell redlich. Sie schreiben: Die Abweisung der Strafanzeige seitens des Gene- ralbundesanwalts macht eine Ergänzung und Präzi- sierung des Straftatbestandes erforderlich. Nichtjuristen wie mir drängt sich da der Eindruck auf, dass Sie der interessanten Meinung zu sein scheinen, man könne Gesetze einfach so lange kneten, bis sie der eigenen Wunschvorstellung vom strafrechtlich Relevan- ten entsprechen. Da wünsche ich Ihnen viel Glück bei dieser anspruchsvollen Aufgabe, gehe aber davon aus, dass das Rechtsstaatsverständnis am Ende über die poli- tische Opportunität obsiegen wird. Während wir uns nun in der kommenden Zeit mit Ih- rem Gesetzentwurf beschäftigen werden, fordere ich Sie auf, Ihre dem zugrunde liegenden Gedanken auch ein- mal in einer Schule, einer Akademie, einer Kaserne zu vertreten. Ich fordere Sie auf, Ihre Haltung möglichst klar in ein Programm zu packen und einer breiten Öf- fentlichkeit zugänglich zu machen. In meinem Heimatland Schleswig-Holstein findet dies an keinem einzigen Ort statt. Das ist aber dringend notwendig, damit sich die Menschen ein Urteil über Sie bilden können. Wie dieses ausfallen wird, das weiß ich schon heute. Deshalb danke ich Ihnen für diesen Gesetz- entwurf, der im kommenden Wahlkampf wunderbare Argumente gegen Sie liefern wird. Dr. Matthias Miersch (SPD): Selbstverständlich werden werden wir den hier gestellten Antrag mit der notwendigen Sorgfalt in den Ausschüssen beraten. Aller- dings möchte ich bereits an dieser Stelle einige Punkte unmissverständlich klarstellen: Erstens. Wenn der Antrag suggerieren soll, dass im Falle der hier beantragten Änderung des § 80 StGB Mit- glieder der rot-grünen-Bundesregierung in der 14. und 15. Legislaturperiode hätten strafrechtlich belangt wer- den können, so ist dies absurd. Es ist das historische Ver- dienst der rot-grünen Bundesregierung und namentlich das Verdienst des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder und des Außenministers Joschka Fischers, dass sich die Bundesrepublik Deutschland nicht am Irak- Krieg beteiligt hat. Jeden Tag können wir noch heute se- hen, dass diese Entscheidung vollständig richtig gewe- sen ist. Zudem – wenn wir uns an die Stellungnahmen maßgeblicher Politikerinnen und Politiker in diesem Haus erinnern, die eine Beteiligung forderten – können wir feststellen, dass diese Entscheidung zwischen den Fraktionen hochumstritten gewesen ist, sodass die Leistung nicht hoch genug gewürdigt werden kann. Ich finde, es gehört zur Redlichkeit in der Politik dazu, die Leistung anderer Parteien in einem entspre- chenden Kontext auch zu würdigen. Deshalb ist die Ver- bindung des Antrages von der Fraktion Die Linke mit dem Regierungshandeln in der 14. und 15. Legislaturpe- riode unangemessen. Insoweit ist auch zu betonen, dass der Generalbundes- anwalt in seiner Einstellungsverfügung auf zahlreiche Aspekte eingeht, die einen Anfangsverdacht nicht be- gründen und die bereits gegen das Vorhandensein von Anhaltspunkten für das Vorliegen einer Straftat spra- chen. Nur ein paar dieser Gründe möchte ich nennen: Auch der Generalbundesanwalt betont, dass Bundes- kanzler Schröder bei zahlreichen Gelegenheiten immer wieder bekundet habe, dass sich Deutschland unter kei- nen Umständen an einem Krieg gegen den Irak beteili- gen werde. 16250 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 (A) (C) (B) (D) Der Generalbundesanwalt geht ausführlich auf die Frage des Merkmals „Angriffskrieg“ im § 80 StGB ein und weist auf die Tatsache hin, dass kein allgemein aner- kannter und auch nur einigermaßen ausdifferenzierter Begriff der völkerrechtswidrigen bewaffneten Aggres- sion gegeben sei. Gewalt könne im Einzelfall auch völ- kerrechtlich zulässig sein. Im Rahmen der strafrechtli- chen Prüfung sei nicht zu entscheiden, ob die Anwendung von Gewalt durch die Vereinigten Staaten völkerrechtlich zulässig sei. All diese Aspekte müssen berücksichtigt werden. Lei- der geht der Antrag auf diese Umstände in keiner Weise ein. Da vielmehr unterstellt wird, es bestünden Rechtslü- cken, komme ich zur nächsten Klarstellung: Zweitens. Art. 26 des Grundgesetzes regelt eindeutig: Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenle- ben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfas- sungswidrig. Die Verfassungslage ist somit klar, sodass auch des- halb keinesfalls davon gesprochen werden kann und darf, es bestünden irgendwelche Rechtslücken. Drittens. Aufgrund der Verfassungslage und auf der Basis internationaler Grundlagen einschließlich der ent- sprechenden Gerichtsbarkeiten wäre es insoweit heute möglich, Aggressoren zu belangen bzw. in entsprechen- den Fällen auch zu intervenieren. Eine Regelungslücke, um ein rechtswidriges Verhalten in diesem Feld zu ver- hindern, erkenne ich insoweit nicht. Allerdings ist das Strafrecht nach Auffassung des Ge- neralbundesanwalts enger als die Verfassungsnorm, wes- halb ich zum vierten und letzten Punkt komme: Viertens. § 80 StGB belegt die Vorbereitung eines Angriffskrieges und die dadurch entstehende Gefahr ei- nes Krieges für die Bundesrepublik Deutschland mit le- benslanger Freiheitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren. Die Norm setzt also bereits bei der Vorbereitung eines entsprechenden Krieges an. Der Ge- setzgeber hatte klar vor Augen, dass von deutschem Bo- den niemals mehr ein Krieg ausgelöst werden dürfe. Die Durchführung setzt eine Vorbereitung voraus, sodass der Ansatz des Strafrechts in § 80 logisch und konsequent ist. Nun werden wir uns mit der Frage beschäftigen, ob die beantragte Änderung des § 80 StGB notwendig und zweckmäßig ist. Dabei werden die auch in der Einstel- lungsverfügung genannten Aspekte eine Rolle spielen müssen, also zum Beispiel die Tatsache, dass wir mit dem deutschen Strafrecht keine anderen Staaten für ihr Verhalten belangen können, dass es somit nicht Aufgabe deutscher Strafgerichte sein kann, eine Art internationale Gerichtsbarkeit auszuüben, oder dass es schwer sein dürfte, Begriffe im deutschen Strafrecht mit internatio- nalen Vorgängen zu erfassen. Auch diese Argumente waren es, die im Jahre 1968 zu der Formulierung des § 80 StGB führten. Vor dem Hintergrund der klaren Ver- fassungslage, der internationalen Bestimmungen und der heutigen Gegebenheiten werden wir deshalb beurteilen müssen, ob sich heute im Gegensatz zu der Einschätzung des damaligen Gesetzgebers Veränderungsbedarf ergibt. Jörg van Essen (FDP): Es ist ärgerlich, dass wir uns bei einem so wichtigem Thema wie der Bewahrung des Friedens mit einem Schaufensterantrag beschäftigen müssen. Es ist bekannt, dass ich grundsätzlich großen Respekt vor Gesetzentwürfen habe, die von einer Oppo- sitionsfraktion erarbeitet werden. Wir alle wissen sehr genau, wie viel Arbeit damit verbunden ist und welchen Aufwand es darstellt, einen solchen ohne ministerielle Hilfe vorzulegen. Hier ist eine solche Mühe leider nicht erkennbar. Die Begründung ist mehr als dünn. Bei dem heute vorliegenden dreiseitigen Antrag geht es nur um kurze Effekthascherei: So wie die Fraktion der Linken generell jedem Einsatz der Bundeswehr ihre Zustim- mung verweigert, geht es auch bei diesem Antrag nicht um die Sache. Nein, man hat vielmehr den Eindruck, dass die Linke, nachdem sie zuletzt auch mit ihrer Klage gegen den Tor- nado-Einsatz in Afghanistan in Karlsruhe gescheitert ist, nun einen neuen Schauplatz zum Vortrag alter Argu- mente, dieses Mal im Strafrecht, eröffnen will. Ein sol- ches Vorgehen ist unseriös! An solchen Spielchen wird sich meine Fraktion nicht beteiligen. Dabei ist es ja in der Tat richtig, dass man sich darü- ber unterhalten kann, inwieweit § 80 StGB die Vorgaben von Art. 26 Grundgesetz tatsächlich umsetzt. Auch in dem Standardkommentar von Fischer zum StGB heißt es, dass die Vorschrift den Verfassungsauftrag des Art. 26 I 2 GG „im Wesentlichen erfüllt“ – man kann also durchaus über Nuancen streiten. Man mag auch da- rüber diskutieren können, ob aufgrund der zitierten Be- wertungen des Generalsbundesanwalts eine Anpassung des Straftatbestandes angezeigt ist. Der Gesetzentwurf der Linken sieht allerdings keine „Präzisierung und Ergänzung“ vor, sondern die vollkom- mene Neufassung des § 80 StGB. So ist zum Beispiel auch von dem Tatbestandsmerkmal der Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr die Rede. So muss es sich ja bisher um einen Krieg handeln, an dem nach den Vorstellungen des Täters die Bundesrepublik unter Einsatz ihrer Streitkräfte als kriegführende Macht beteiligt werden soll. § 80 StGB schützt den Völkerfrie- den nicht umfassend. Friedensverrat – und darüber reden wir hier – ist schon jetzt keine Petitesse. Es ist richtig, hier das scharfe Schwert des Strafrechts einzusetzen. Auch unsere Ge- schichte lehrt uns, den Frieden zu bewahren. Aber: Der vorschnelle Ruf nach dem Staatsanwalt darf nicht dazu führen, dass das Schwert stumpf wird. Ich erinnere mich noch gut an eine Strafanzeige der Partei Die Grünen ge- gen Helmut Schmidt, Hans Dietrich Genscher, Hans Apel, Helmut Kohl, Herbert Wehner und Wolfgang Mischnick wegen des Plans, die neuen Pershing-2-Rake- ten und Cruise Missile der USA entsprechend des NATO-Beschlusses zu stationieren – die Grünen sahen damals darin einen Verstoß gegen § 80 StGB. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16251 (A) (C) (B) (D) Die Geschichte hat uns damals recht gegeben. Ein Angriffskrieg wurde damals nicht vorbereitet. Tatsäch- lich wissen wir heute, dass die damalige Entscheidung wahrscheinlich ein wesentlicher Mosaikstein hin zu „Glasnost“ und zum Mauerfall war. Gleichzeitig – das möchte ich an dieser Stelle auch sagen – ist das Verhalten der rotgrünen Bundesregierung im Irak-Krieg auch nach dem Schreiben des Generalbun- desanwalts nicht ad acta zu legen. Mit dem 1. Unter- suchungsausschuss stehen uns als Parlamentariern aber ganz andere Instrumente als das StGB zur Verfügung. Das Gremium wird sich noch mit der Widersprüchlich- keit der alten Bundesregierung in Sachen Irak-Krieg zu beschäftigen haben. Ob und inwieweit damit auch straf- rechtliche Implikationen verbunden sind, werden wir se- hen. Eine Lehre aus den Kriegen der Vergangenheit ist für mich vor allem diese: Bei der Entscheidung zwischen Krieg und Frieden ist zuallererst ein starkes Parlament gefordert. Leider verweigern sich die Linken seit jeher der außenpolitischen Verantwortung aller Parteien. Da- bei wissen wir alle: Die Justiz alleine wird den Weltfrie- den nicht bewahren können. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): An- griffskriege sind Verbrechen gegen die Menschheit und ein fundamentaler Verstoß gegen die internationale Frie- denspflicht. Wenn ich als Deutscher in Art. 26 GG lese, dass alle Handlungen, die geeignet sind, das friedliche Leben der Menschen zu stören, insbesondere die Vorbe- reitung von Angriffskriegen, zu verbieten sind, dann denke ich historisch an den Angriff Deutschlands auf Polen, die Niederlande und Frankreich, auf Norwegen und viele andere Staaten und nicht zuletzt auf die Sowjet- union. Über 50 Millionen Menschen verloren ihr Leben durch deutsche Angriffskriege. Das menschliche Leid und die Zerstörung kultureller Schätze sind unermess- lich. Die Ächtung von Angriffskriegen in unserer Ver- fassung ist nichts weniger als die Lehre aus dem tiefsten moralischen Niedergang, den unser Land und wir Deut- sche verursacht und erlitten haben: Von Deutschland soll nie wieder Krieg und Vernichtung ausgehen. Der Verfassungsauftrag des Art. 26 GG, friedensver- räterische Handlungen unter Strafe zu stellen, blieb lange unerfüllt. Erst 1968 – nach jahrelangen Diskussio- nen und mehreren fruchtlosen Anläufen – wurden die §§ 80 und 80 a ins StGB aufgenommen. Danach stehen sowohl Vorbereitungen zu Angriffskriegen als auch jeg- liche sie schürende Propaganda unter Strafe. Warum hat es so lange gedauert? Die Dokumente der damaligen Diskussion, insbesondere der Bericht des Sonderaus- schusses für die Strafrechtsreform – Drucksache V/2860 – geben Auskunft. In der Völkergemeinschaft bestand lange Uneinigkeit über den Begriff des Angriffskrieges. Inzwischen sind die Grenzen – mehr oder weniger klar – herausgearbeitet, um völkerrechtswidrige Angriffskriege zu scheiden von Gewalt zur Beendigung von Gewalt, von Gewalt zur Rettung unschuldiger Menschen vor Ge- noziden, von Gewalt, um Angriffskriegen zuvorzukom- men, von Gewalt zur Befreiung von Unterdrückung und Fremdbeherrschung. Der jetzige § 80 StGB ist beileibe nicht vollkommen, und es ist leicht, sich – wie die Linke es heute tut – wich- tigtuerisch und besserwisserisch in Kritik zu üben. Ver- gleichen wir aber die bisherigen Versuche zur völkerrecht- lichen Durchsetzung der internationalen Friedenspflicht und der Ächtung von Angriffskriegen, die bereits ange- sprochenen Schwierigkeiten in der Umsetzung des Ver- fassungsauftrages des Art. 26 GG, die intensiven, kon- troversen und bis heute andauernden Debatten in der verfassungs- wie strafrechtlichen Literatur zu diesem Thema, vergleichen wir also die Tiefe und Intensität die- ser Diskurse mit dem heutigen – ärmlich schlichten und in der Begründung dürftigen – Antrag der Linken, dann müssen wir feststellen: So schludrig, so oberlehrerhaft, so problemignorant können sich des Themas nur diejeni- gen annehmen, denen es weniger um die Sache selbst als vielmehr darum geht, sich im Parlament in Pose zu set- zen und sich als die angeblich einzige Friedenskraft zu präsentieren. Die Begründungsarmut des vorliegenden Antrags dokumentiert das Ausmaß, mit dem sich die Linke an rechtspolitischen Debatten im Bundestag betei- ligt: überaus dürftig und wenig ernsthaft! Unbestritten: Niemand anders als die Generalbundes- anwaltschaft lieferte den Linken die Vorlage, unter dem Deckmantel angeblich offener Arbeitsaufträge der Ver- fassung einen infamen und irrealen politischen Angriff gegen die Politik der früheren rot-grünen Bundesregie- rung zu führen. Die Generalbundesanwaltschaft hatte sinngemäß geäußert: Nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift – § 80 StGB – sei nur die Mitwirkung an der Vorbereitung eines Angriffskriegs strafbar, nicht jedoch die Führung des Angriffskriegs selbst, sodass auch die Beteiligung an einem von anderen vorbereiteten An- griffskrieg nicht strafbar sei. Diese von den Linken in ih- rem Antrag leider ohne Fundstelle wiedergegebene Äu- ßerung ist richtig; aber ist auch die inhaltliche Aussage richtig? Könnte nicht vielmehr richtig sein, dass, wenn die Vorbereitung des Verbrechens „Angriffskrieg“ zur einer selbstständigen strafrechtlichen Haupttat erhoben ist, für die lebenslange Freiheitsstrafe droht, das nachfolgende Führen des vorbereiteten Angriffskriegs gedanklich nach den Grundsätzen der mitbestraften Nachtat zu beurteilen ist? Könnte es sein, dass das Unter-Strafe-Stellen der Teilnahme an einem gegen die Bundesrepublik Deutsch- land gerichteten Angriffskrieg einen Widerspruch zum geltenden Art. 82 Abs. 2 der Genfer Kriegsgefangenen- konvention begründen könnte? Und zusätzlich ist zu be- denken: Bei deutschen Soldaten würde eine Strafbeweh- rung nach § 80 StGB aus dem schon heute richtigen wie wichtigen Recht zur Verweigerung völkerrechtswidriger Befehle eine strafbewehrte Pflicht machen. Zu all diesen Fragen und Überlegungen findet sich im Antrag der Linken keinerlei Erwägung oder ernsthafte Auseinandersetzung, von Antworten ganz zu schweigen. Was bleibt, ist der Komplex der Beteiligung an einem Angriffskrieg, der nicht von Deutschland ausgeht und sich nicht gegen Deutschland richtet. Es gibt gute Gründe, diese Frage noch einmal sorgfältig zu prüfen und zu entscheiden. Ich weise an dieser Stelle jedoch ausdrücklich die penetrante Unterstellung der Linken zu- 16252 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 (A) (C) (B) (D) rück, diese Frage sei bei den militärischen Einsätzen auf dem Balkan, dem militärischen Vorgehen von NATO- Einheiten gegen Serbien oder bei dem Verhalten Deutschlands bzw. einzelner deutscher Beamter gegen- über dem Krieg der USA gegen den Irak zu stellen. Deutschland hat sich zu keinem Zeitpunkt am Irak-Krieg beteiligt! Auch die Rolle von zwei BND-Agenten, die im laufenden Untersuchungsausschuss noch aufzuklären sein wird, kann nicht zum Friedensverrat, zu einer Betei- ligung am Irak-Krieg umgemünzt werden. Und das mili- tärische Eingreifen der NATO auf dem Balkan sollte Blutvergießen, Vertreibung und Massentötungen been- den. Es ist eine Ungeheuerlichkeit und inzwischen auch international klar zurückgewiesen, dies zu einem An- griffskrieg gegen ein friedliches Land umdeuten zu wol- len. Genau das steckt jedoch in Wirklichkeit hinter dem heute vorgeschobenen Gesetzesansinnen der Linken. Wir nehmen ihnen nicht ab, dass sie nur darauf aus seien, Lücken im Strafrecht und den Auftrag der Verfas- sung zum Schutz des Friedens zu erfüllen. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Für eine erfolgreiche Überprüfungskonferenz des Chemiewaffen- übereinkommens und eine Stärkung des Ver- tragsregimes (Tagesordnungspunkt 14) Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/ CSU): Das Übereinkommen über das Verbot chemischer Waffen, CWÜ, welches am 29. April 1997 in Kraft trat, kann trotz aller nicht zu leugnenden fortbestehenden Probleme – beispielsweise hinsichtlich der konkreten Umsetzung der weitreichenden Bestimmungen des kom- plexen Regelwerkes – doch zunächst als Erfolg gewertet werden. Bei allen Schatten, die das Feld der Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik uns nach einem zuerst sehr ambitionierten Aufbruch nach dem Ende des Kalten Krieges seit einigen Jahren bietet, ist das CWÜ ein hoff- nungsvoller Lichtstrahl inmitten einer derzeit eher trüb- seligen abrüstungspolitischen Wetterlage. Die grundsätzlich konstruktive Zusammenarbeit der Vereinigten Staaten und Russlands mit den anderen Mit- gliedern der Völkerfamilie wie auch mit den Vereinten Nation darf als ermutigend empfunden werden. Die USA und die Russische Föderation als Besitzer der welt- weit größten Bestände an Chemiewaffen haben das Übereinkommen bereits im Jahre 1997 ratifiziert, und obwohl die Vernichtung der Bestände nicht ohne Hinder- nisse verläuft, kann doch an der Vertragstreue beider Seiten nicht gezweifelt werden. Die Tatsache, dass die Bundesregierung insbesondere Russland bei der Erfül- lung seiner Vertragspflichten unterstützt, muss lobend erwähnt werden. Vor diesem Hintergrund darf zaghaft darauf gehofft werden, dass eine erfolgreiche Gestaltung des CWÜ eine gewisse Strahlkraft auf andere abrüs- tungspolitische Themenfelder entfalten kann. Dies wäre angesichts der insgesamt unbefriedigenden abrüstungspolitischen Gesamtsituation durchaus wün- schenswert. Dachte man vor wenigen Jahren, nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes sei entsprechender Raum gegeben für umfassende und globale abrüstungspoliti- sche Initiativen, so müssen wir heute feststellen, dass nicht nur Spuren alter Konfliktmuster wiederbelebt wer- den, sondern zudem neue Bedrohungen entstanden sind, denen die Staaten nur allzu oft durch Modernisierung ih- rer Waffenarsenale begegnen. Nun finden wir uns also wieder auf dem knarzenden Boden der Tatsachen. Neue Bedrohungen und ein damit verbundenes anhaltendes Gefühl von asymmetrischer Gefahr und Unsicherheit in den internationalen Bezie- hungen haben unter anderem dazu geführt, dass die Staa- ten in ihrer Gesamtheit, aber vor allem die alten und neuen aufstrebenden Großmächte nicht bereit sind, in dem Sinne auf den Erhalt und Aufbau ihrer Waffenarse- nale in dem Maße zu verzichten, wie wir es uns in die- sem Hohen Hause vielleicht wünschten. Inmitten einer Situation, in welcher wir eine schmerz- hafte Erosion der meisten abrüstungspolitischen Verein- barungen wahrnehmen müssen, die nach dem Ende des Kalten Krieges in Angriff genommen werden konnten, stellt das Chemiewaffenübereinkommen jedoch ein sta- biles, dauerhaftes und mittlerweile nahezu universelles Regelwerk dar. Das ist in der Tat ein großer Erfolg, der sich auch auf die zähen, jahrelangen und manchmal frus- trierten Anstrengungen der deutschen und europäischen Seite gründet. Die bisherigen, durchaus beachtlichen Er- gebnisse im Bereich der Chemiewaffen mögen hierfür entschädigen und zur Fortsetzung der Arbeit – auch auf anderen konfliktiveren abrüstungspolitischen Bereichen – anhalten. Ich möchte es vor diesem Hintergrund keinesfalls ver- säumen, den zuständigen Stellen der Bundesregierung, des Auswärtigen Amtes und den sachkundigen wie auf- merksamen Kollegen aller Parteien für ihr großes und zielgerichtetes Engagement zu danken. Die manchmal zähen und langwierigen Verhandlungen über inhaltliche Anpassungen des komplexen Regelwerkes sind sicher- lich ebenso zehrend und mühsam wie die Umsetzung der Bestimmungen des Abkommens über die Erfassung und Vernichtung der noch existierenden Chemiewaffenbe- stände. Auch die von der Bundesregierung verfolgten Aktivitäten im Rahmen der G-8-Initiative „Globale Part- nerschaft“ seien hier anerkennend unterstrichen. All dies ist wahrlich kein leichtes Brot. Gleichwohl war diese Ar- beit bisher erfolgreich. Dies verdient an dieser Stelle ein ausdrückliches Lob. Als bedeutender Vertragspartner erwächst uns jedoch aus ebendiesen Erfolgen die fortgesetzte Verpflichtung zur Wachsamkeit über die Einhaltung der Vertragsbe- stimmungen, wie auch zur harten Arbeit in der konkre- ten Umsetzung und Anpassung des Abkommens. Hierzu gehört es sicherlich, auf eine konsequente Offenlegung der Chemiewaffenbestände aller Mitgliedstaaten zu drängen. Offene Fragen gibt es in diesem Zusammen- hang an Sudan; aber auch die Volksrepublik China ist gefordert, in diesem Bereich noch überzeugender als bis- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16253 (A) (C) (B) (D) her Transparenz zu schaffen und damit Vertrauen in ihre Rolle als verantwortungsbewusster internationaler Ak- teur zu schaffen. Die fortgesetzte Arbeit am Chemiewaffenüberein- kommen muss umso wichtiger erscheinen, als die Schre- cken chemischer Massenvernichtungswaffen noch im- mer als manifeste Bedrohung der globalen Sicherheit begriffen werden müssen. Diese Gefahren – zumindest aufseiten staatlicher Akteure – zwar noch nicht vollstän- dig gebannt, doch deutlich eingeschränkt zu haben, ist das große Verdienst des Regelwerkes und aller damit be- fassten Parteien und Personen. Die Gefahr einer Weiter- verbreitung chemischer Waffen und Agenzien an isla- mistische und sozialrevolutionäre terroristische Gruppen darf nicht aus dem Blickfeld geraten. Durch die im CWÜ-Abkommen angestrebte vollständige Erfassung und Vernichtung der Chemiewaffenbestände wird letzt- lich auch entscheidend einer Proliferation an diese nicht- staatlichen terroristischen Akteure vorgebeugt. Ein Inter- esse, welches die Weltgemeinschaft nahezu ohne Ausnahme eint und welches die unvermindert gegebene Notwendigkeit aufzeigt, mit nicht nachlassender Energie an einer weiteren Verbesserung des CWÜ zu arbeiten. Die Überprüfungskonferenzen des Chemiewaffenüber- einkommens bleiben damit auch ein wesentliches und unverzichtbares Instrumentarium zur Wahrung und Her- stellung von Sicherheit gegen terroristische Bedrohun- gen. Das Chemiewaffenübereinkommen selbst ist als ein dynamisches Regelwerk zu begreifen. Die Überprü- fungskonferenz ist gefordert, auf neue Entwicklungen zeitnah zu reagieren. Die Erfassung und Kontrolle neuer handlungsunfähiger Agenzien stellt in diesem Kontext sicherlich eine der großen Herausforderungen dar. Es be- steht die dringende Notwendigkeit, auf der anstehenden Konferenz ein gemeinsames Verständnis der Vertrags- staaten zu schaffen, unter welchen Umständen der Ein- satz dieser toxischen Agenzien zulässig ist. Ein ungemein wichtiges Anliegen muss uns jedoch die Universalisierung des Abkommens sein. Bisher sind 183 Staaten der Konvention beigetreten, darunter alle Mitgliedstaaten der NATO und der Europäischen Union. Insgesamt umfasst das CWÜ mittlerweile etwa 98 Pro- zent der Weltbevölkerung sowie etwa 98 Prozent der chemischen Industrie. Bisher erfasste die „Brandung“ damit zwar zahlreiche Steine; entscheidende Felsblöcke bleiben allerdings außen vor. So sind zwölf Staaten au- ßerhalb des Abkommens. Unter den Staaten, die das Abkommen bisher nicht einmal unterzeichnet haben, befinden sich beispiels- weise Angola, Somalia, aber auch Ägypten. Deutschland ist laut BMZ derzeit der viertgrößte Geber des Landes. Laut BMZ genießt „die kontinuierliche deutsche Unter- stützung hohes Ansehen“. Diese Vertrauensbasis ermög- lichte es – laut BMZ – „der deutschen Seite, auch bei po- litisch sensiblen Themen richtungweisende Anregungen zu geben“. Dass dies in Fragen des Umweltschutzes und der Arbeitsmarktpolitik gelingen mag, ist sicherlich er- freulich. Ob diese Fragen allerdings politisch so sensibel sind, bleibt vorerst dahingestellt. Jedoch verdient in diesem Zusammenhang die Frage Beachtung, inwiefern unter anderem das Bundesministe- rium für wirtschaftliche Zusammenarbeit es bisher ver- säumt hat, Fortschritte in der Frage einer Unterzeich- nung des CWÜ einzufordern. Ähnliches gilt es zu Syrien zu sagen, welches ebenso wenig das CWÜ unterzeichnet hat. Das Auswärtige Amt als auch das BMZ bekräftigen bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihr Bekenntnis zu einem tiefen und kostspieligen Engagement in Syrien und betonen stets die Notwendigkeit eines intensiven Dialoges. Allein die mehr als mageren Ergebnisse dieses Dialoges lassen an dessen Notwendigkeit mitunter doch berechtigte Zweifel aufkommen. Die beiden angespro- chenen Häuser bleiben aufgefordert, die abrüstungspoli- tische Forderung einer CWÜ-Zeichnung durch Kairo, insbesondere aber durch Damaskus stärker als bisher in den Vordergrund zu stellen. Dies wäre zudem mehr als hilfreich, um aufseiten Israels berechtigte Bedrohungs- wahrnehmungen abzubauen und Tel Aviv dafür zu ge- winnen, einer bisher erfolgten Zeichnung auch bald eine Ratifizierung folgen zu lassen. Eine Universalisierung des Chemiewaffenübereinkom- mens würde die globale Sicherheit ein wesentliches Stück voranbringen. Ich bin mir sicher, dass die Bundes- regierung und ihre Ministerien die hohe Priorität einer Unterzeichnung und Ratifizierung des CWÜ-Abkom- mens in die diplomatischen und politischen Konsultatio- nen mit den besagten Staaten einzubringen wissen wer- den. Auch die bisherige Weigerung Nordkoreas, das Abkommen zu zeichnen, muss uns mit großer Sorge er- füllen. Nordkorea steht im Verdacht, größere Bestände an waffenfähigen chemischen und toxischen Substanzen zu besitzen. Nicht nur die an den Sechs-Parteien-Gesprä- chen mit Pjöngjang beteiligten Nationen sind daher aus- drücklich aufgefordert, Nordkorea in aller Klarheit zu ei- ner Unterzeichnung des CWÜ zu drängen. Das CWÜ kann in vielerlei Hinsicht als beispielge- bend empfunden werden und sollte als Musterbeispiel für analoge Problemlösungen auf dem Gebiet der Rüstungs- kontrolle herangezogen werden. Dies muss insbesondere für die mit der Thematik eng verzahnten BWÜ-Überprü- fungskonferenzen für biologische Waffen gelten. Auch dem BWÜ sind bisher alle Mitgliedstaaten der NATO beigetreten; die Universalität des Abkommens ist bei ei- nem derzeitigen Stand von 156 Zeichnern jedoch noch weit entfernt. Zudem sieht das BWÜ im Gegensatz zum Chemiewaffenübereinkommen nur sehr unbefriedigende Verifikationsmaßnahmen vor. Anläßlich der BWÜ-Über- prüfungskonferenzen von 1986 und 1991 wurden zwar Vertrauensbildende Maßnahmen im Sinne von Informa- tionsaustausch über relevante biologische Aktivitäten, zivile Forschungs- und Produktionseinrichtungen sowie die nationalen B-Schutzprogramme vereinbart. Es muss jedoch daran erinnert werden, dass sich weniger als ein Drittel der Vertragsstaaten hieran beteiligen. Im Jahre 2006 haben neben Deutschland nur weitere 46 Staaten VBM-Meldungen abgegeben. Auf der letzten im Jahre 2006 stattgefundenen BWÜ-Überprüfungskonferenz gab es ermutigende Signale, aber letztlich noch zu wenig greifbare Fortschritte. Das bisherige Engagement der EU zur Unterstützung des BWÜ im Rahmen der Massenver- 16254 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 (A) (C) (B) (D) nichtungswaffenstrategie der EU ist löblich. Gleichwohl ist hier weiterer Handlungsbedarf gegeben, den ich im Namen der Unionsfraktion bei den zuständigen Häusern der Regierung anregen möchte. Uta Zapf (SPD): Seit gestern findet in Den Haag die Überprüfungskonferenz zum Chemiewaffenüberein- kommen, CWÜ, statt. Das CWÜ ist das erfolgreichste Abrüstungsabkommen. Eine ganze Kategorie von Waf- fen wurde geächtet. Es hat ein Verifikationsregime mit Inspektionen und einer abschließend geregelten Liste der geächteten Stoffe. Ihm gehören bisher 183 Staaten an. Ziel auch dieser Überprüfungskonferenz ist die Univer- salisierung des Abkommens – die Hoffnung, dass alle 195 Staaten beitreten sollen. Dieses ehrgeizige Ziel hat- ten sich die Mitgliedstaaten für 2007, dem Jahr des zehn- jährigen Jubiläums, gesetzt. Dieses Ziel ist nicht voll- ständig erreicht, und so wird der Aktionsplan, der die fehlenden Länder einbinden soll, verlängert werden müssen. Ägypten, Angola, Somalia, Syrien und Nordko- rea fehlen im Kreis der Mitgliedstaaten. Bei Irak und Li- banon bestehen Chancen, sie einzubinden, Israel hat ge- zeichnet. Schon bei der Pariser Konferenz im Jahr 1993 zeich- neten 130 Staaten. Eine ganze Kategorie von inhumanen tödlichen Waffen wurde abgeschafft, die Staaten ver- pflichteten sich zur völligen Vernichtung der tödlichen Bestände. Die Staaten verpflichteten sich ebenfalls zur Deklaration ihrer Bestände und zu deren Vernichtung bis 2007. Russland und die USA, Indien, Libyen, Südkorea und Albanien haben ihre Bestände deklariert, aber keiner dieser Staaten konnte den Zeithorizont einhalten. Einzig Albanien hat mittlerweile alle Bestände vernichtet. Die USA und Russland haben eine Verlängerung der Ver- nichtungsfrist bis 2012 beantragt und erhalten. Auch die anderen Länder erhielten verlängerte Fristen. Allerdings ist absehbar, dass beide großen Staaten möglicherweise noch längere Fristen brauchen werden. Die USA haben angegeben, dass die Vernichtung möglicherweise sogar bis 2023 dauern könnte, obwohl die Vernichtung auf dem Johnston-Atoll schon im Jahre 1990 begann. Die Vernichtungspläne der USA haben mehrere Rückschläge erlitten, sodass die Vernichtung nur in zwei der insgesamt sieben Chemiewaffenlager be- endet ist. Fehlende Finanzmittel, technische Probleme wie Umweltverschmutzung und Ausbruch von Feuer ha- ben den Prozess mehrfach gestoppt. Politische Probleme wie Sicherheitsbedenken, Angst vor Gesundheitsproble- men und Umweltgefährdung waren weitere Hindernisse. Ähnliche Hindernisse tauchten in Russland auf. Bürger- proteste gegen geplante Vernichtungsanlagen und tech- nische Schwierigkeiten gab es auch hier. Schon frühzeitig, 1992, waren sich alle Parteien im Deutschen Bundestag darin einig, Russland bei der Vernichtung seiner Chemiewaffen zu helfen. Damals wurden 10 Millionen DM in den Haushalt als Abrüs- tungshilfe eingestellt. 1993 unterzeichneten Deutschland und Russland ein Kooperationsabkommen zur Errich- tung von Vernichtungsanlagen. Eine Pilotanlage in Gorny zerstörte seit 2002 1 200 Tonnen Lewisit und Yperit, die in Kanistern und Fässern gelagert waren. Eine weitere Vernichtungsanlage in Kambarka arbeitet seit 2006, und ein weiteres Projekt in Potschep ist in Pla- nung. Deutschland beteiligt sich mit insgesamt 1,5 Mil- liarden Dollar an der globalen G-8-Partnerschaft bis 2012, die internationale Abrüstungshilfe für Russland leistet. Das Engagement der Bundesregierung und des Bun- destages ist immer enorm gewesen. Ich habe den gesam- ten Prozess der Beratungen als Abgeordnete miterlebt und will hier allen Bundesregierungen, die ich miterlebt habe, ausdrücklich danken. Ebenso engagiert waren die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die bei der Bereitstellung von Haushaltsgeldern nie knausrig waren. Es gilt, weiterhin große Anstrengungen zur Universali- sierung des Vertrages zu unternehmen und die Vernich- tung der tödlichen Stoffe voranzutreiben. Aber es gibt auch neue Herausforderungen, die gemeistert werden müssen. Ein Problem ist das Missverhältnis zwischen den In- spektionen der Vernichtungsstätten, die viel Geld und In- spektionskapazitäten der Organisation für das Verbot chemischer Waffen, OPCW, in Den Haag verschlingen, und dem Mangel an Kapazitäten für Industrieinspektio- nen. Wir wollen deshalb, dass sich die Bundesregierung für die Stärkung der Organisation einsetzt. Dies bringt Probleme mit den Schwellenländern mit sich. Aus der Sicht der westlichen Staatengruppen sind verstärkte Inspektionen ein Erfordernis der Umsetzung dieses Ab- rüstungs- und Nichtverbreitungsvertrages. Die soge- nannten Non-Aligned-Members sehen in vermehrten In- dustrieinspektionen eine Bedrohung ihrer wirtschaftlich- technologischen Entwicklung. Es muss aber klar sein, dass die Kontrolle der Ver- tragstreue klar geschieden werden muss von der Frage der technologischen Zusammenarbeit. Inspektionen müssen auch als vertrauensbildende Maßnahmen zwi- schen den Teilnehmerstaaten akzeptiert werden. Die ständige Verbesserung der Verifikationstechnologien, die heute der OPCW zur Verfügung stehen, sind auch eine schiere Notwendigkeit angesichts der Veränderun- gen und Fortschritte in der chemischen Industrie. Obwohl es in der Vergangenheit Fälle von Verdacht auf Vertragsbruch gegen einige Länder gegeben hat, sind Verdachtsinspektionen bisher noch nie durchgeführt worden. Das Abkommen sieht solche Verdachtsinspek- tionen vor, um geheime Einrichtungen und Produktionen aufzudecken oder undeklarierte Bestände zu finden. Die USA haben zum Beispiel 1994 Südafrika, Ägypten, Saudi-Arabien, Iran, Libyen, China, Indien und Pakistan sowie Nordkorea, Südkorea, Thailand und Indonesien verdächtigt, chemische Waffen zu besitzen. Im Jahre 2005 standen China, Russland und Sudan unter Ver- dacht. Niemals jedoch wurden Verdachtsinspektionen angefordert. Die Gründe dafür mögen vielschichtig sein: Angst, Geheimdienstinformationen zu enthüllen, diplo- matische Rücksichten. Wir geben mit dem Verzicht das Schlüsselelement der Verifikation aus der Hand, das uns zur Verfügung steht. Aber gerade angesichts des drama- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16255 (A) (C) (B) (D) tischen technischen und wissenschaftlichen Fortschritts der chemischen Industrie ist dieses Instrument unerläss- lich, um Verstöße aufzudecken oder Zweifel auszuräu- men. Das größte ungelöste Problem im Rahmen des CWÜ sind handlungsunfähig machende Agenzien, vulgo „nichttödliche Waffen“ genannt. Wir erinnern uns an die Katastrophe im Moskauer Theater und die dadurch ent- fachte heftige Diskussion ebenso wie an unsere eigenen quälenden Diskussionen im Jahre 2004 bei der Ände- rung des Ausführungsgesetzes zum CWÜ nach den Un- ruhen im Kosovo. Was sind erlaubte Mittel zur „Unruhe- bekämpfung“? Hier weist der Vertrag Unschärfen auf, die durch die stürmischen Entwicklungen der chemi- schen und biochemischen Wissenschaften erneut in den Fokus der Diskussion rücken. Mittel zur Unruhebekämpfung dürfen laut der allge- meinen Verpflichtungen des Vertrages nicht im Krieg eingesetzt werden. Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, Mittel zur Be- kämpfung von Unruhen nicht als Mittel der Kriegs- führung einzusetzen. Toxische Agenzien sind zu Zwecken „der Aufrechterhal- tung der öffentlichen Ordnung einschließlich der innerstaat- lichen Bekämpfung von Unruhen“, Art. II, 9 d, erlaubt. Al- lerdings ist die Interpretation von „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“ umstritten. „Aufrechterhal- tung der öffentlichen Ordnung einschließlich der inner- staatlichen Bekämpfung von Unruhen“ wird unter- schiedlich interpretiert. Sind Polizeieinsätze im Inneren die begrenzende Definition oder eine Einsatzmöglichkeit für chemische Stoffe unter anderen Möglichkeiten? An- titerroreinsätze, Geiselbefreiung könnten auch Einsatz- szenarien sein. Chemische Stoffe für „Aufstandsbe- kämpfung“ müssen der OPCW nicht gemeldet werden. Tränengas und Pfefferspray sind nicht das Problem. Sie verursachen nur schnelle, vorübergehende sensorische Störungen. Aber die Stoffe, die im Moskauer Theater verwendet wurden, kosteten 130 Menschen das Leben. Ihre Wirkung ging weit über die im CWÜ erlaubten Wir- kungen hinaus. Die Versuchung, Stoffe zu entwickeln, die nichttödlich sind, ist angesichts von Peace-Keeping- Operationen, Aufständen und Terrorbekämpfung groß. Die Blix-Kommission warnt vor einer Aushöhlung des CWÜ angesichts der Tendenz, die strikte Interpretation der CWÜ-Regeln aufzuweichen, um „handlungsunfähig machende Agenzien“ auch in anderen Situationen als Polizeieinsätzen anzuwenden. Die Überprüfungskonfe- renz muss dieses heiße Eisen endlich anpacken, um zu definieren, welche Agenzien unter dem CWÜ unter wel- chen Umständen angewendet werden dürfen. Elke Hoff (FDP): Als Abrüstungspolitiker geht man in eine solche Plenumsdebatte zum Chemiewaffenüber- einkommen, die wir vor dem Hintergrund der in Den Haag tagenden Überprüfungskonferenz führen, mit ei- nem weinenden und einem lachenden Auge. Das Chemiewaffenübereinkommen ist bis heute – glück- licherweise – nicht von der schweren Krise gezeichnet, in der sich viele Instrumente der internationalen Rüstungs- kontrolle befinden. Vor dem Hintergrund des andauern- den kritischen Zustands der anderen multilateralen Ko- operationsregime, wachsender Konflikte innerhalb der CWÜ-Vertragsgemeinschaft und des Problems der kaum noch einzuhaltenden Vernichtungsfristen für alle Che- miewaffen im Jahre 2012 stellt sich aber die Frage, wie lange das CWÜ noch von ersten größeren Krisensym- ptomen verschont bleibt. Chemiewaffen sind historisch betrachtet die ersten der im Begriff „Massenvernichtungswaffen“ zusammen- gefassten Waffentypen, die in Erscheinung getreten sind und deren Einsatz international geächtet wurde. Wirklich umfassend und völkerrechtlich verbindlich wurde das in- ternationale Verbot von Chemiewaffen aber erst mit dem Abschluss des Chemiewaffenübereinkommens. Als das CWÜ am 29. April 1997 in Kraft trat, war es das erste und bislang einzige Abkommen der internatio- nalen Rüstungskontrolle, das Erwerb, Entwicklung, Pro- duktion und Weitergabe einer ganzen Waffenkategorie untersagt und für dieses Verbot umfangreiche Überprü- fungsmechanismen vorsieht. Die beinahe erreichte Uni- versalität des Vertragswerks ist ein beispielhaftes Sym- bol für den internationalen Konsens zur Ächtung von Chemiewaffen. Nichtsdestotrotz sollten Deutschland und die Europäi- sche Union weiterhin das Ziel einer vollständigen Uni- versalität im Auge behalten und die Bemühungen ver- schiedener lateinamerikanischer Staaten unterstützen, die versuchen, viele kleinere Länder in Ozeanien zum Beitritt zu bewegen. Wirklichen Anlass zur Sorge unter den Staaten, die noch außerhalb des CWÜ-Konsenses stehen, bieten Nordkorea, Syrien und Ägypten. Alle drei Staaten stehen im Verdacht, Chemiewaffenprogramme zu entwickeln oder bereits zu unterhalten. Die internationale Gemein- schaft muss gegenüber diesen Ländern mit Nachdruck die Aufgabe ihrer Chemiewaffenpotenziale einfordern und für einen Beitritt zum CWÜ werben. Das CWÜ ist wie kein anderes Rüstungskontrollab- kommen ein Ergebnis und ein Erfolg der Hochphase der internationalen Kooperationsbereitschaft sowie der Ab- rüstungseuphorie nach dem Ende des Ost-West-Kon- flikts. Gerade im Zusammenhang mit den schwierigen Aufgaben, denen sich die Weltgemeinschaft gegenwärtig auf dem Feld der Nichtverbreitung von Massenvernich- tungswaffen gegenübersieht, wäre es wichtig, den Geist dieser Epoche der Abrüstungsbemühungen wiederzubele- ben. Denn in einer globalisierten, zusammenwachsenden Welt sind Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtver- breitung mehr denn je wesentliche Instrumente kooperati- ver Sicherheit, deren Erhalt, Förderung und Weiterent- wicklung wieder oberste Priorität haben muss. Trotz seiner Stärken und bisherigen Erfolge wird das Chemiewaffenübereinkommen in Zukunft mit mehreren Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Ich bin aber opti- mistisch, dass sie bereits auf dieser Überprüfungskonfe- renz thematisiert und vielleicht auch schon gelöst wer- den können. 16256 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 (A) (C) (B) (D) Das CWÜ ist ein sehr komplexer Vertrag. Dies führt dazu, dass viele – vor allem kleinere – Staaten Schwie- rigkeiten haben, die Vertragsbestimmungen national zu implementieren. Die Vertragsgemeinschaft und die Or- ganisation zum Verbot Chemischer Waffen, OVCW, müssen dafür Sorge tragen, dass diesen Staaten alle er- denkliche Hilfe bei der jeweiligen Umsetzung der Ver- tragsbestimmungen geleistet wird. Denn die jeweilige nationale Implementierung ist eine wesentliche Voraus- setzung für eine erfolgreiche Nichtverbreitungspolitik. Gerade deshalb ist es besonders begrüßenswert, dass die Europäische Union dies zu einem wesentlichen Aspekt ihres gemeinsamen Standpunktes zur Chemiewaffen- überprüfungskonferenz gemacht hat. Der gemeinsame Standpunkt der EU ist für mich da- rüber hinaus ein wichtiges Signal der europäischen Ge- schlossenheit auf dem Feld der Nichtverbreitungspolitik insgesamt. Ein solches Signal wünsche ich mir auch für die kommende, weitaus konfliktreichere Überprüfungs- konferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages. Eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg von multilateraler Abrüstung ist Vertrauen. Grundlegende Elemente einer solchen Vertrauensbildung sind Ver- tragstreue und die Einhaltung von Vertragsverpflichtun- gen durch die Mitgliedstaaten. Deshalb ist es von beson- derer Bedeutung, dass sowohl die USA als auch Russland – die beiden Staaten mit den größten weltwei- ten Chemiewaffenpotenzialen – ihre Verpflichtung ein- halten, ihre chemischen Waffen bis 2012 vollständig zu beseitigen. Ein Verstreichen dieser Frist würde dem CWÜ einen erheblichen Glaubwürdigkeitsverlust zufü- gen und könnte eine nachhaltige Aushöhlung der Ver- tragsnormen zur Folge haben. Deshalb begrüßt meine Fraktion ausdrücklich die Be- mühungen, die Deutschland im Rahmen der Globalen Partnerschaft unternimmt, um Russland bei der Beseiti- gung seiner Chemiewaffen zu unterstützen. Die Projekte in Gorny, Kambarka und bald Potschep sind beispielhaft für eine erfolgreiche bilaterale Abrüstungskooperation. Die voranschreitende technische Entwicklung und die wachsende Akzeptanz von sogenannten incapacitants – darunter versteht man nichttödliche, handlungsunfähig machende Stoffe – sind eine weitere Herausforderung für das CWÜ. Sie bergen die Gefahr, auf Dauer die Ver- botsnorm über Entwicklung, Weitergabe und Einsatz von Chemiewaffen aufzuweichen. Denn die Grenze zwi- schen tödlicher und nichttödlicher Wirkung solcher che- mischen Stoffe liegt häufig nur in der Dosierung der ein- gesetzten Menge. Auch ist bislang unklar, welche chemischen Stoffe zu der Gruppe der nichttödlichen Waffen gezählt werden können und beispielsweise zur Bekämpfung von innerstaatlichen Unruhen eingesetzt werden dürfen. Deshalb hängt ein Aspekt der Zukunfts- fähigkeit des CWÜ maßgeblich davon ab, ob es der Ver- tragsgemeinschaft in den kommenden Jahren gelingt, ei- nen verbindlichen Konsens über die Definition von nichttödlichen chemischen Stoffen zu erzielen und die Umstände ihrer Verwendung festzulegen. Des Weiteren ist bedauerlich, dass bis zum heutigen Zeitpunkt das wichtige Verifikationsinstrument der Ver- dachtsinspektion nicht eingesetzt wurde, und dies, ob- wohl bereits Mitgliedstaaten der Konvention beschuldigt worden sind, das CWÜ gebrochen zu haben. Meiner Meinung nach ist es wesentlich, dass in Zukunft das Auslösen einer Verdachtsinspektion nicht mehr länger nur von einem einzelnen Mitgliedstaat beantragt werden muss, sondern auch von der Organisation zum Verbot von Chemiewaffen ausgelöst werden kann. Solange ein unausgesprochenes Tabu über dem Instrument der Ver- dachtsinspektion liegt, bleibt dieses eigentlich effektive Verifikationsinstrument ein stumpfes Schwert. In ihrer Gesamtheit ist die Geschichte des Chemie- waffenübereinkommens eine Erfolgsgeschichte. Lassen Sie uns gemeinsam mit unseren internationalen Partnern daran arbeiten, diese Erfolgsgeschichte fortzuschreiben. Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): Das 1992 ver- einbarte Chemiewaffenübereinkommen gilt zu Recht als eines der wichtigsten Rüstungskontroll- und Abrüs- tungsvereinbarungen. Anders als im Übereinkommen zum Verbot biologischer Waffen und im Nichtverbrei- tungsvertrag wurde für die gesamte Kategorie dieser schrecklichen Massenvernichtungswaffen ein für alle Staaten gültiges absolutes verbindliches Verbot verein- bart. Für die Überprüfung der Einhaltung des Überein- kommens wurde ein spezifischer Verifikationsmechanis- mus aufgebaut, die Organisation für das Verbot von chemischen Waffen. So weit, so gut. Leider zeigt sich in der Realität ein anderes Bild: Das ambitionierte Ziel des CWÜ, bis 2007 sämtliche C-Waffen vernichtet zu haben, wurde nicht erreicht. Die USA und Russland sind weit hinter ihren Abrüstungs- verpflichtungen geblieben, und es gilt als ausgemacht, dass die USA auch die bis 2012 verlängerte Frist nicht einhalten werden. Staaten wie Ägypten, Angola oder Syrien sind dem CWÜ noch nicht beigetreten, Israel oder Birma haben das CWÜ bislang nicht ratifiziert. Einige Staaten, allen voran erneut Russland und die USA, sind bestrebt, das umfassende Verbot für C-Waf- fen aufzuweichen und die Entwicklung und den Einsatz von handlungsunfähig machenden Agenzien für die Si- cherheitskräfte zu erlauben. Damit würden Tür und Tor geöffnet für die Proliferation chemischer Waffen. Ob Agenzien töten oder handlungsunfähig machen, ist in der Regel eine Frage der Dosierung, und in jedem Fall dienen sie auch der Kriegführung. Globale Exportkontrollregime sind ein wichtiges und effektives Instrument zur Unterbindung der Proliferation von ABC-Waffen. Wesentlich problematischer ist es, wenn selektive Staatengruppen, wie im Fall von C-Waf- fen die Australische Gruppe, der im Wesentlichen die In- dustriestaaten angehören, die Normen alleine festsetzen. Vor allem bei den Mitgliedstaaten der Gruppe des „Non- aligned Movement“, NAM, wächst der Unmut über die Exportkontrollpolitik der sogenannten Australischen Gruppe. Statt vor allem die wachsende chemische Indus- trie in den ärmeren Staaten zu kontrollieren und einzu- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16257 (A) (C) (B) (D) schränken, fordern die NAM-Vertreter eine Auswertung der finanziellen und technologischen Unterstützung für die friedliche Nutzung der Chemie. Obwohl das CWÜ über einen starken Verifikations- mechanismus verfügt, werden die Instrumente nicht aus- reichend genutzt. Gerade das eigentlich äußerst effektive Instrument der Verdachtsinspektionen chemischer For- schungs- und Produktionseinrichtungen wird nicht ein- gesetzt aus Sorge vor einer Gegeninspektion. Die erfolgreiche Lösung dieser Probleme muss eine der vordringlichsten Aufgaben auf der CWÜ-Überprü- fungskonferenz sein. Die Bundesregierung wäre gut be- raten, sich nicht auf das Anliegen der Regierungsfraktio- nen einzulassen. Ihr Antrag ist doppelbödig formuliert. Einerseits wird die allgemeine Ächtung chemischer Waffen als größte Errungenschaft des CWÜ betont und festgestellt, dass der Einsatz sogenannter nichttödlicher Waffen das umfassende Verbot zu unterminieren droht. Andererseits wird am Ende des Antrages deutlich, wo- rum es den Regierungsparteien wirklich geht: eine Auf- weichung des umfassenden Verbots. Sie wollen die Ent- wicklung nichttödlicher chemischer Waffen und Wirksubstanzen zulassen. Das erinnert an die fatale Un- terscheidung zwischen gefährlicher und ungefährlicher Streumunition, die derzeit eine internationale Ächtung der Streumunition verhindert. Es gibt keine nachvoll- ziehbaren Gründe, warum toxische Chemikalien bei der Kontrolle von Unruhen eingesetzt werden müssen. Das Prinzip der Abrüstung gilt nun mal auch für den Bereich der inneren Sicherheit. Es hätte den Regierungsparteien gut angestanden, ihren Antrag noch einmal in den Fach- ausschüssen debattieren zu lassen, statt ihn Hals über Kopf durchzustimmen und der Bundesregierung damit ein Mandat für Zugeständnisse in diesem Bereich zu ver- schaffen. Zugleich ist zu hoffen, dass die Teilnehmerstaaten an der CWÜ-Überprüfungskonferenz ihren Blick auch auf die größte zukünftige Herausforderung richten. Der ra- pide technologisch-wissenschaftliche Fortschritt im Be- reich der Naturwissenschaften hat dazu geführt, dass von einer klassischen chemischen Industrie nicht mehr zu re- den ist und damit ein wachsender Teil der Produktions- stätte für chemische Substanzen aus dem Verifikations- raster herausfällt. Noch bedenklicher ist die zunehmende Verschränkung biologischer und chemischer Agenzien. Während das Übereinkommen zum Verbot biologischer Waffen und das CWÜ in Zeitlupe ausgebaut werden, fin- det der technologisch-wissenschaftliche Fortschritt mit Lichtgeschwindigkeit statt. Für einen Großteil der in der Sparte „Life Sciences“ für kosmetische oder medizini- sche Zwecke entwickelten Substanzen sind auch Ver- wendungen im militärischen Bereich oder bei der „Auf- rechterhaltung öffentlicher Sicherheit und Ordnung“, sprich Polizeieinsätzen, möglich. Für diese neue Dual- use-Gefahr reicht das jetzige CWÜ nicht aus – erst recht nicht, wenn das eigentlich absolute Verbot gelockert wird und ihr Einsatz als nichttödliche Waffe gestattet wird. Hier müssen beizeiten neue Wege gefunden wer- den. Eine Möglichkeit wäre zum Beispiel ein Rahmen- übereinkommen für BWÜ und CWÜ, mit dem Ziel, Lü- cken in den Grenzbereichen zu vermeiden und bei der Verifikation Synergieeffekte zu erzielen. Bislang fehlt es an einer überzeugenden abrüstungs- politischen Konzeption der Bundesregierung. Das zeigt sich auch im Bereich der B- und C-Waffen. Auf der ei- nen Seite schürt die Bundesregierung – und vor allem In- nenminister Schäuble – gerne die Angst vor terroristi- schen Anschlägen mit Massenvernichtungswaffen. Auf der anderen Seite ist nicht erkennbar, was die Bundesre- gierung selber dagegen zu tun bereit ist und tut, Es geht bei C-Waffen nicht um die Theorie, sondern um die Pra- xis. Notwendig wären zum Beispiel Anstrengungen, dass Produzenten und Händler von C-Waffen und der entsprechenden Technologie auch international straf- rechtlich verfolgt werden können. Die Bundesregierung muss stärksten Druck auf die USA und Russland aus- üben, ihr Arsenal an C-Waffen so schnell wie möglich zu vernichten. Die Universalisierung des CWÜ erfordert auch direktes bilaterales Engagement seitens der Bundes- regierung, um den Nichtunterzeichnerstaaten unmissver- ständlich klarzumachen, dass dies kein Kavaliersdelikt ist. Über allem aber muss sie sich unmissverständlich gegen eine Ausnahme nichttödlicher chemischer Waffen und Wirkstoffe vom allgemeinen Verbot aussprechen. Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit Montag findet in Den Haag die zweite Überprüfungs- konferenz zum Chemiewaffenübereinkommen statt. Wir hoffen und wünschen, dass die Vertragsstaaten bis zum 18. April ein Schlussdokument vorlegen, das dieses wichtige Abrüstungsabkommen bekräftigt, stärkt und in entscheidenden Bereichen weiterentwickelt. Chemische Waffen gehören zu den scheußlichsten und grausamsten Waffen der Welt. Sie wurden nicht nur im Ersten und Zweiten Weltkrieg mit verheerenden Fol- gen eingesetzt. Chemiewaffen wurden unter anderem auch im Vietnam-Krieg verwendet und vor kurzem jährte sich zum zwanzigsten Mal der Giftgaseinsatz ge- gen die kurdische Bevölkerung im irakischen Halabscha. Vor diesem Hintergrund ist es eine nicht zu unter- schätzende Errungenschaft, dass wir vor knapp einem Jahr das zehnjährige Bestehen der Chemiewaffenkon- vention feiern konnten. Das 1997 in Kraft getretene Che- miewaffenabkommen ist in mehrfacher Hinsicht muster- gültig: Das Abkommen kann fast weltweite Gültigkeit bean- spruchen: 183 Staaten sind dem Abkommen beigetreten, fünf weitere haben es unterzeichnet. Das Abkommen verbietet Entwicklung, Herstellung, Besitz, Weitergabe und Einsatz einer ganzen Kategorie von Massenvernich- tungswaffen. Die Chemiewaffenbestände sind durch die Vertragsstaaten offenzulegen und binnen 10, spätestens 15 Jahren, unter internationaler Aufsicht zu vernichten. Das Herzstück des CWÜ ist das „allgemeine Zweckkri- terium“, wonach alle toxischen Chemikalien und Vor- produkte verboten und nur für bestimmte Zwecke er- laubt sind. Es gibt ein permanentes Sekretariat und ein Verifikationssystem, das die Einhaltung des Abkom- 16258 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 (A) (C) (B) (D) mens, dessen Weiterentwicklung und die Vernichtung der Waffen sicherstellen soll. Man stelle sich vor: Hätten wir ein solch breit getra- genes Abkommen für den Bereich der Atomwaffen, dann wäre die Welt im Jahr 2020 weitgehend atomwaf- fenfrei! Obwohl das CWÜ eine wichtige Errungenschaft ist, gibt es sowohl im Bereich der Implementierung aber vor allem im Bereich der Weiterentwicklung eine Reihe von Problemen, die hier nur stichwortartig genannt werden können. Der Vertrag ist in vielen Staaten nur unzureichend in nationales Recht umgesetzt. Wichtige Staaten, die im Verdacht stehen, C-Waffen zu besitzen, sind dem Ab- kommen noch nicht beigetreten. Die Bundesregierung und die EU sollten weiterhin und nachdrücklicher auf Nordkorea, Somalia, Angola aber auch auf Ägypten, Sy- rien und Israel einwirken, dem Abkommen beizutreten. Von den 71 000 Tonnen deklarierter Chemiewaffen sind bislang lediglich knapp 28 000 Tonnen zerstört. Das Ziel, bis 2012 alle Waffenbestände vernichtet zu haben, wird bei dem gegenwärtigen Mitteleinsatz voraussicht- lich nicht erreicht. Hier müssen die nationalen Bemü- hungen vor allem der USA und Russlands und die inter- nationalen Hilfen erhöht werden. Um Mitgliedstaaten nicht falschen Verdächtigungen auszusetzen ist das schärfste Verifikationsinstrument – die „Verdachtsinspektion“ – bislang nur übungsweise, aber nicht real zur Anwendung gekommen. Die Bundes- regierung sollte die Mitgliedstaaten des CWÜ ermun- tern, eine unangemeldete Verdachtsinspektion in Deutschland durchzuführen. Die Grenzen zwischen ziviler und militärischer, tödli- cher und nichttödlicher Wirkung, Schutz- und Militär- forschung sind fließend. Ein ganz besonderes Problem stellt die technologische, wissenschaftliche und indus- trielle Weiterentwicklung in diesem Dual-use-Bereich dar. Die chemischen Produktionsanlagen werden immer kleiner. Sie werden bislang nur unzureichend kontrol- liert. Im Bereich der Biotechnologie und Nanotechnolo- gie gibt es rasante – auch sicherheitspolitisch relevante – Entwicklungen. Um eine Aushöhlung des C-Waffenab- kommens zu verhindern, müssen die Vertragsstaaten auf diese Entwicklungen bereits heute und nicht erst nach Abschluss der C-Waffenvernichtung reagieren. Hierzu liegen Experten-Vorschläge vor. Dies gilt auch für den heiklen Bereich des Einsatzes von Reizgasen und sogenannter nichttödlicher Waffen. Sicherheitskräfte, insbesondere in den USA und Russ- land, experimentieren seit Jahren mit nichttödlichen Waffen. Darunter sind auch chemische Mittel, die Men- schen bewegungsunfähig machen oder beruhigen sollen. Falsch dosiert oder in bewaffneten Konflikten eingesetzt können diese tödliche Folgen haben. Im Oktober 2002 setzten russische Spezialkräfte im Moskauer Musical- Theater ein hochdosiertes Betäubungsmittel zur Geisel- befreiung ein. Dabei wurden 132 der 830 Menschen ge- tötet. Kurz zuvor war bekannt geworden, dass auch das amerikanische Militär ein breites Spektrum an vermeint- lich nichttödlichen Chemiewaffen für Kriegseinsätze entwickelt. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie sich auf der Überprüfungskonferenz dafür einsetzt, dass sich die Vertragsstaaten dieses Problems annehmen. Und wir erwarten auch, dass die Bundesregierung ihre For- schungsaktivitäten im Bereich der nichtletalen Waffen offenlegt. Die Bundesregierung hat in der Vergangenheit einen wichtigen Beitrag zur Stärkung des Regimes geleistet. Die finanziellen, personellen und technischen Beiträge, die Deutschland zum Beispiel im Rahmen des Globalen Part- nerschaftsprogramms der G 8 zur Vernichtung der C-Waf- fen in Russland leistet, sind beispielhaft. Insgesamt hat die Bundesregierung bis zu 340 Millionen Euro für die Errichtung von drei Anlagen zur Vernichtung chemi- scher Waffen in Russland bereitgestellt. Im Gegensatz zu meinem hoch geschätzten FDP-Kollegen Stinner, halte ich diese Abrüstungshilfe für eine gute und friedensför- derliche Investitition. Sie kommt nicht nur deutschen Unternehmen, sondern auch deutsch-russischer Vertrau- ensbildung und Abrüstung zugute. Bei Delegationsrei- sen nach Gorny und Kambarka konnten wir uns vom Vorbildcharakter dieser deutsch-russischen Abrüstungs- zusammenarbeit überzeugen. Wir appellieren an Russland, seine Anstrengungen zur Beseitigung der Chemiewaffen zu erhöhen. Aber auch Deutschland, die EU und andere Staaten sollten künftig ihre Bemühungen intensivieren um andere Staa- ten bei der Sicherung und Vernichtung von Chemiewaf- fen tatkräftig zu unterstützen. Lassen Sie mich zum Schluss noch auf einen innen- politischen Aspekt kommen. Die Bundesregierung ist der Ansicht, Deutschland habe seine Bestände an vor 1945 produzierten, „alten chemischen Waffen“ vertrags- konform bis Ende April 2007 komplett vernichtet. Dies mag für die an Land gelagerten bzw. gefundenen C-Waf- fen gelten. Es gilt aber nicht für die Munitionsaltlasten, die heute noch vergraben sind bzw. in der Nord- und Ostsee lagern. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg wurden riesige Mengen chemischer Waffen und Kampf- stoffe im Meer versenkt. In der Lübecker Bucht liegen vermutlich 15 Flaschen mit hochgefährlichem Giftgas, die selbst noch 1961 und offenbar unter offizieller Auf- sicht versenkt worden sein sollen. Erst auf erheblichen öffentlichem Druck entschied sich die Landesregierung vor kurzem, die Giftgasflaschen zu bergen. Es gibt Hin- weise, dass auch in der Flensburger und Kieler Förde, zwischen Usedom und Bornholm und an diversen ande- ren Stellen chemische Kampfstoffe liegen. Dieses Teufelszeug ist damit nicht aus der Welt ge- schafft und nicht in der Versenkung verschwunden. Es ist eine ständige Bedrohung. Immer wieder kommt es vor, dass Fischer oder Strandbesucher von Senfgas, Ta- bun oder Phosphor verletzt werden. Hier sind nicht nur die Länder, hier ist auch der Bund in der Pflicht. Es ist schwer zu erklären, warum die Bundesregierung Russ- land aber nicht Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig- Holstein oder Niedersachsen bei der Identifizierung, Si- cherung, Bergung und Vernichtung von Munitionsaltlas- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16259 (A) (C) (B) (D) ten unter die Arme greift. Es wäre daher sehr zu begrü- ßen, wenn sich der Bund hier zu seiner Verantwortung bekennt. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Für eine umfassende Strategie zur demokra- tieverträglichen und zivilgesellschaftlichen Stabilisierung Pakistans – Keine U-Bootlieferung an Pakistan (Tagesordnungspunkt 17, Zusatztagesordnungs- punkt 8) Ruprecht Polenz (CDU/CSU): Es ist gut, dass wir uns heute auf der Grundlage von zwei Anträgen der Frak- tion Bündnis/Die Grünen mit Pakistan beschäftigen und mit der Frage, wie wir diesen für uns strategisch wichti- gen Schlüsselstaat dauerhaft stabilisieren können. Der ständige Strom von militanten Aufständischen und wohl auch von Al-Qaida-Terroristen aus Pakistan nach Afgha- nistan gehört zu den wichtigsten Sicherheitsproblemen, vor denen Afghanistan und die 40 000 ISAF-Soldaten sowie die Tausenden von zivilen Aufbauhelfern aus vie- len Länder dieser Welt in Afghanistan stehen. Ein strate- gischer Schlüsselstaat ist Pakistan auch im Hinblick auf den internationalen Terrorismus geworden, wie die Aus- bildungslager zeigen, in denen immer häufiger auch Deutsche gesehen werden. Und nicht zuletzt: Pakistan ist ein Atomwaffenstaat. Mit ihrem Antrag „Für eine umfassende Strategie zur demokratieverträglichen und zivilgesellschaftlichen Stabi- lisierung Pakistans“ unternimmt die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen eine wie ich finde zutreffende Beschreibung der Lage. Auch die Einzelmaßnahmen, die die Grünen von der Bundesregierung einfordern, finden im Großen und Ganzen meine Zustimmung; schließlich entsprechen sie weitgehend der bisherigen Politik – die allerdings weiter verstärkt werden muss – wie auch den Empfeh- lungen der International Crisis Group. Andererseits sollten wir uns immer dessen bewusst bleiben, dass Pakistan von außen nur schwer zu beein- flussen ist. Hier habe ich eine kritische Anmerkung zu dem Antrag: Erwartet wird eine nationale, deutsche Pa- kistan-Strategie, die gleichwohl umfassend genannt wird. Wirklich „umfassend“ wäre nur eine gemeinsame EU/NATO-Strategie, die möglichst viele auch der ande- ren ISAF-Truppenstellerländer „umfassen“ müsste. Denn nur wenn Pakistan von möglichst vielen von au- ßerhalb die gleichen Signale empfängt, besteht die Aus- sicht, dass Einfluss genommen werden kann. Ansätze zu einem gemeinsamen europäischen Vorgehen sind in der EU-Entwicklungshilfepolitik gegenüber Pakistan vor- handen; sie ist erfreulicherweise in den letzten Jahren verstärkt worden. In jedem Fall brauchen wir für eine „umfassende“ Pakistan-Strategie eine enge Abstimmung zwischen der Europäischen Union und den USA. Einen wichtigen Faktor dürfen wir dabei nicht überse- hen: die Rolle Chinas. China ist seit jeher ein wichtiger Verbündeter Pakistans, und wir wissen, dass China in seiner Außenpolitik durchaus eigene Ziele verfolgt. Lei- der gehört zu diesen Zielen nicht das, was uns gerade im Falle Pakistans besonders wichtig ist: Zivilgesellschaft, Rechtsstaat, Demokratie. Lassen Sie mich noch einen Hinweis auf Verbindun- gen geben, die sich für eine Pakistan-Strategie vielleicht mehr als bisher nutzen lassen: Pakistan unterhält ein aus- gesprochen enges Verhältnis zu den Vereinigten Arabi- schen Emiraten. Vor allem sind Pakistan und die Türkei eng und freundschaftlich miteinander verbunden. Wa- rum machen wir uns diese Verbindung nicht stärker zu- nutze als bisher? Pakistan hat 165 Millionen Einwohner. Pakistan ist damit der sechstgrößte Staat auf dieser Welt. Pakistan ist seit 60 Jahren unabhängig, gegründet als „Staat für Mus- lime“. Unter diesen Voraussetzungen wäre Pakistan heute überall sonst auf der Welt eine bedeutende Regio- nalmacht, also ein Staat, auf den sich kleinere Nachbarn in ihrer Politik beziehen und die Pakistan mit seiner Politik beeinflussen könnte. Aber das „geografische Schicksal“ hat es so gefügt, dass Pakistan mit Indien und China zwei Milliardenvölker zu Nachbarn hat und mit Iran ebenfalls einen Staat mit regionalem Macht- anspruch. Das Verhältnis zu Afghanistan ist zwiespältig, belastet durch eine koloniale Grenzziehung, die von bei- den nicht anerkannt wird. Aus seiner Stellung in der Re- gion kann Pakistan also Positives für seine Identität zie- hen. Aus dem „Staat für Muslime“, als der Pakistan ge- gründet wurde, ist heute ein Staat geworden, der sich de- zidiert als islamischer Staat versteht. Weil das in sich ein Widerspruch ist – der Islam definiert sich gerade nicht in nationalstaatlichen Grenzen, sondern versteht sich als Umma, als alle Muslime auf der Welt umfassend –, hat Pakistan ein gravierendes Identitätsproblem. Es hat sich hauptsächlich eine Art Antiidentität entwickelt: gegen Indien, gegen den Westen, insbesondere gegen die USA. Das Islamverständnis ist, vor allen Dingen auf dem radi- kalen Flügel der pakistanischen Gesellschaft, immer mehr vom Dschihad, also von einem kämpferischen Is- lam geprägt. Die Fixierung auf Indien – man hat mehr- fach Krieg gegeneinander geführt – hat schließlich zur nuklearen Aufrüstung beider Seiten geführt und in Pa- kistan die dominierende Rolle der Armee bis heute im- mer wieder gefestigt. Warum erwähne ich das alles? Ich glaube, wenn wir über eine umfassende Pakistan-Strategie nachdenken, müssen wir auch überlegen, ob es für Pakistan so etwas wie eine konstruktive regionale Rolle geben könnte. Es könnte unter bestimmten Voraussetzungen sinnvoll sein, die Verbindungen zwischen Pakistan und den zentralasi- atischen Staaten zu stärken. Auch das Pipelineprojekt zwischen Iran, Pakistan und Indien gehört in einen sol- chen Kontext, der allerdings weit in die Zukunft weist. Lassen sie mich einige Anmerkungen zu dem zweiten Antrag – „Keine U-Boot-Lieferung an Pakistan – ma- chen: Im Sinne unserer restriktiven Richtlinien für den 16260 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 (A) (C) (B) (D) Export von Rüstungsgütern wird Pakistan als „sonstiges Land“ außerhalb von EU und NATO sowie diesen gleichgestellten Ländern bezeichnet. Bei Rüstungsex- porten in diese Länder ist in besonderer Weise sowohl die innere Lage, die Menschenrechtssituation, die regio- nale Stabilität und die Gefahr der Proliferation in die Ab- wägung einzubeziehen, ob überhaupt Rüstungsgüter ge- liefert werden können. Was nun die U-Boote anbetrifft, so gibt es bisher eine positiv entschiedene Voranfrage. Über einen endgültigen Liefervertrag ist bisher noch nicht entschieden. Aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage der FDP geht allerdings hervor, dass es bisher praktisch noch nicht vorgekommen ist, dass nach einer positiv entschiedenen Voranfrage das Ausfuhrgeschäft letztlich nicht genehmigt wurde. Im Zu- sammenhang mit den möglichen U-Boot-Exporten ist wichtig, dass die Bundesregierung definitiv erklärt hat, dass sie keine Genehmigung für Waffensysteme erteilt, die nuklear bewaffnet werden könnten. Trotzdem halte ich den Export dieser U-Boote für außerordentlich pro- blematisch. Zur Begründung verweise ich auf das vorher Gesagte und auf die in den Anträgen wie ich finde weit- gehend zutreffend beschriebene Analyse der Lage im Land und in der Region. Nach der Ausrufung des Not- stands durch Präsident Musharraf hatten wir am 8. No- vember 2007 im Deutschen Bundestag eine Pakistan- Debatte, in der ich mich für ein Moratorium für Militär- hilfe an Pakistan ausgesprochen habe, das so lange ein- gehalten werden soll, bis man deutlich erkennen kann, in welche Richtung sich Pakistan entwickelt. Daran möchte ich auch im Hinblick auf den U-Boot-Export festhalten. Eine Bemerkung zum Tenor des Antrags kann ich mir zum Abschluss nicht verkneifen: Wenn man den Antrag der Grünen liest, könnte man den Eindruck bekommen, es habe zu Zeiten der rot-grünen Bundesregierung über- haupt keine Rüstungsexporte an Pakistan gegeben. Denn viele der Gründe, die jetzt gegen den U-Boot-Export an- geführt werden, gab es auch schon vor 2005, und sie hät- ten, nimmt man sie so apodiktisch, wie sie in dem An- trag formuliert sind, dazu führen müssen, dass jeder Antrag auf Export von Rüstungsgütern abgelehnt hätte werden müssen. Aber so war es nicht: 2003 wurden aus Deutschland Rüstungsgüter im Wert von 900 000 Euro nach Pakistan ausgeführt, 2004 schon für 32,7 Millionen Euro, 2005 für knapp 100 Millionen Euro. So viel zur Übereinstimmung von Rhetorik und tatsächlichem Han- deln bei unseren grünen Kolleginnen und Kollegen. Johannes Pflug (SPD): In der Plenardebatte am 8. November 2007 habe ich die Auffassung vertreten, dass es für Pakistan aus meiner Sicht vier Entwicklungs- szenarien gibt: der Staat zerfällt und wird unkontrollier- bar wie Afghanistan; es entsteht ein Islamischer Gottes- staat; die Militärdiktatur bleibt an der Macht; die Demokratisierung mit der Gefahr, dass Teile der alten korrupten Eliten wieder in Führungsämter gelangen. Am 18. Februar dieses Jahres haben die Menschen in Pakistan tatsächlich ein neues Parlament gewählt und die EU-Wahlbeobachtungskommission hat dieser Wahl grundsätzlich ihren Segen gegeben. Zwar haben die Wahlbeobachter die Rahmenbedingungen kritisiert, den- noch habe die Wahl ihren pluralistischen Maßstäben ge- nügt. Man darf hoffen, dass die Koalition aus den jahrzehn- telangen Hauptkonkurrenzparteien PPP und PML-N plus der säkularen Awami National Party, ANP, und der reli- giös-konservativen Jamiat Ulema-e-Islam, JUI-F, zur Stabilisierung des Landes beiträgt. Dass die Situation sich vom vergangenen Jahr bis heute etwas stabilisiert hat, wird ja auch deutlich im Un- terschied der Beurteilungen, die sich im Antrag 16/5594 von Bündnis 90/Die Grünen „Keine U-Bootlieferung an Pakistan“ vom 13. Juni 2007 und dem Antrag derselben Fraktion vom heutigen Tage widerspiegelt. Lassen Sie mich feststellen, dass ich im Wesentlichen Ihre Beurtei- lung von heute teile. Allerdings glaube ich zum einen, dass die Bundesregierung sich übernehmen würde, wenn sie Ihrer Forderung nach Vorlage einer umfassenden Pa- kistan-Strategie nachkommen sollte. Zum Zweiten sollte man vorsichtig sein mit der For- derung nach Freilassung aller noch in Haft befindlichen politischen Gefangenen. In einem Staat wie Pakistan sollte man damit behutsam umgehen, weil der Übergang zwischen Islamisten, Fundamentalisten, Extremisten bis hin zu Terroristen mitunter kaum identifizierbar ist, und somit auch nach unserem Verständnis die Abgrenzung zwischen politischem Extremismus und Kriminalität nicht ohne Weiteres möglich ist. Dem Rest Ihrer Forde- rungen stimme ich zu, möchte aber feststellen, dass es im Moment und in der Zukunft wichtig ist, dass sich die Lage wieder normalisiert und stabilisiert. Pakistan darf weder zerfallen noch ein islamischer Gottesstaat werden. Dies hätte gravierende Auswirkungen auf die ganze Re- gion Südasien. Deshalb sollten Deutschland und die Europäische Union durchaus auch im Sinne Ihres Antrages die pakis- tanische Regierung und das pakistanische Parlament in ihren Bemühungen um Demokratisierung und Stabilisie- rung unterstützen, da dies von höchster Bedeutung für die Entwicklung in Afghanistan ist. Die jüngsten Ent- wicklungen in Pakistan sollten uns Deutschen zu einer stärkeren Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern und den USA veranlassen. Zusammen müssen wir als internationale Gemeinschaft auf eine Rückkehr zur Normalität drängen, aber auch die notwendige Hilfe leisten, politisch und finanziell. Abschließend will ich noch auf den Antrag „Keine U-Bootlieferung an Pakis- tan“ vom 13. Juni des letzten Jahres eingehen. Zurzeit befindet sich die Lieferung der U-Boote in einer Stornie- rungsphase. Wie ich schon eingangs feststellte, hat sich in den letzten Wochen die Situation in Pakistan etwas verbessert. Da die Bundesregierung schon bei ihrer ers- ten Entscheidung im letzten Jahr der Meinung war, dass die Voraussetzungen des vierten Kriteriums des EU-Ver- haltenskodexes für Pakistan nicht vorliegen, hat sich ihre Auffassung mithin in der heutigen Situation wohl kaum verändert. Ich will mich darüber nicht weiter auslassen, aber ausdrücklich festhalten, dass ich über die Lieferung von U-Booten nach Pakistan nicht glücklich bin, zumal diese Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16261 (A) (C) (B) (D) kaum zur Stabilisierung der Situation an der pakistani- schen Westgrenze beitragen dürften. Elke Hoff (FDP): Dass sich der Deutsche Bundestag mit der Stabilisierung Pakistans beschäftigt, ist überfäl- lig. Die Bundesregierung beschreibt zwar immer wieder zutreffend die Bedeutung Pakistans als Schlüssel zur Lö- sung der Probleme in der Region, doch halten sich die Anstrengungen der Bundesregierung in Grenzen, wenn es darum geht an der Lösung mitzuwirken. Dabei hofft man in Pakistan gerade nach der überraschend fair und demokratisch verlaufenen Parlamentswahl im Februar auch auf eine deutsche Unterstützung bei der weiteren Stabilisierung und Demokratisierung des Landes. Deutschland ist als ehrlicher Makler hoch willkommen. Es besteht aber auch ein unmittelbares deutsches Inte- resse daran, die demokratische, zivilgesellschaftliche und ökonomische Entwicklung in Pakistan zu fördern. Verlust an regionaler Sicherheit wirkt sich stets auf die weltweite Sicherheitsbalance aus. Wenn es in Pakistan aufwärts geht, wird man das zuerst in Afghanistan spü- ren. Die dortige Verschlechterung der Sicherheitslage hängt neben einem Verlust von Einfluss der pakistani- schen Sicherheitskräfte in der pakistanisch-afghanischen Grenzregion auch mit der miserablen wirtschaftlichen und infrastrukturellen Situation in der dortigen Region zusammen. Darüber hinaus hat Deutschland Know-how und Technologien anzubieten, die helfen können, die Le- bensbedingungen vieler Menschen und wirtschaftliche Rahmenbedingungen zu verbessern. Ich denke hier ins- besondere an Infrastrukturprojekte, Bildungsangebote, alternative Energien sowie technologische Unterstüt- zung bei der Grenzsicherung. Uns sollte Mut machen, dass Pakistan über ein großes Reservoir an gut ausgebil- deten jungen Menschen verfügt, die Teil einer zukünfti- gen politischen und wirtschaftlichen Elite sein können. Mit diesen Hoffnungsträgern muss ein intensiver Dialog aufgenommen werden. Ohne Frage ist Pakistan auch nach den Wahlen wei- terhin von stabilen demokratischen Verhältnissen, wie wir sie uns vorstellen, entfernt. Daher brauchen wir Ge- duld und sollten unsere Erwartungen an die Geschwindig- keit von Modernisierungsprozessen auf ein realistisches Maß reduzieren. Nur wenn wir die gesellschaftlichen und kulturellen Besonderheiten Pakistans verstehen, wird ein Dialog mit Pakistan Erfolg haben können. Bei aller angebrachten Skepsis teile ich die düstere Einschätzung in den Anträgen von Bündnis 90/Die Grü- nen nicht und halte die Zustandsbeschreibung und die Forderungen auch für keine sinnvolle Grundlage, die Rolle Deutschlands im Stabilisierungsprozess Pakistans zu definieren. Pakistan steht nicht an der Grenze zum Staatszerfall, und die Nuklearwaffen drohen derzeit auch nicht in die Hände von Extremisten zu fallen. Die Wah- len haben gezeigt, dass die Masse der pakistanischen Be- völkerung die Islamisten nicht will und politisch nicht unterstützt. Sie haben nur einen Sitz im Parlament errun- gen und haben darüber hinaus in den paschtunischen Stammesgebieten an der Grenze zu Afghanistan und in der Nordwestprovinz ihre Regierungsbeteiligung verloren. Ebenso erfreulich ist, dass die von Präsident Musharraf im vergangenen November entlassenen und unter Haus- arrest gestellten Richter endlich wieder freikommen. Die Bewegung der Rechtsanwälte hat in den letzten Monaten gezeigt, dass es auch außerhalb der Parteien ein großes zivilgesellschaftliches Potenzial in Pakistan gibt. Auch wenn sich die Rolle des Militärs in Pakistan mit unseren Vorstellungen von Streitkräften innerhalb einer Demokratie nicht vereinbaren lässt, so muss man aber konstatieren, dass es auch in den Zeiten größter Instabili- tät die Kontrolle über die pakistanischen Nuklearwaffen sichergestellt hat. Wenn Deutschland einen Beitrag zur Stabilisierung Pakistans leisten will, muss es auch möglich sein, die pa- kistanischen Sicherheitskräfte, insbesondere die Grenz- polizei, sowohl bei deren Ausbildung als auch bei der Ausstattung zu unterstützen. Daher halte ich nichts von einer pauschalen Ablehnung dieser an manchen Stellen notwendigen technologischen Unterstützung, wie sie im vorliegenden Antrag formuliert wird. Vielmehr sollte man im Rahmen eines vertrauensvollen Dialogs versu- chen, Pakistan und auch Indien an die internationalen Rüstungskontrollregime heranzuführen. Pakistan muss vor allem auch durch die internationale Unterstützung in die Lage versetzt werden, gegen die Proliferation von sensiblem Wissen und Technologien nichtstaatlicher Ak- teure besser gerüstet zu sein. Hier war Pakistan in der Vergangenheit zu anfällig, wie der Erfolg des Khan- Netzwerkes gezeigt hat. Ich möchte die Bundesregie- rung ermuntern, die neue Situation in Pakistan für einen Ausbau der bilateralen Beziehungen zu nutzen. Ich halte die von Bündnis 90/Die Grünen vorgenom- mene Verknüpfung des Antrags zur Stabilisierung Pa- kistans mit dem Antrag gegen eine Lieferung deutscher U-Boote nach Pakistan für falsch. Man kann zur U-Boot- Lieferung ja durchaus unterschiedlicher Auffassung sein, dieser Antrag hätte jedoch in die Debatte zum Jahresrüs- tungsbericht oder zum Rüstungskontrollbericht gehört. Das Wahlergebnis hat sowohl der PPP als auch der Muslimliga breiten Rückhalt eingeräumt. Wie stark die Parlamentsfraktionen gegenüber Präsident Musharraf agieren können, hängt sicher auch von der Unterstützung ab, die das pakistanische Parlament aus dem Ausland er- fährt. Daher wünsche ich mir einen intensiveren inner- parlamentarischen Austausch zwischen dem pakistani- schen Parlament und dem Deutschen Bundestag. Unsere pakistanischen Kollegen suchen aktiv nach politischen Kontakten in Deutschland. Ein solcher Austausch kann und soll auf beiden Seiten Türen öffnen, sodass er sich auch mittelfristig im Bereich der Universitäten, der Wirt- schaft und beim Aufbau der zivilen Organisationen nie- derschlagen kann. Dr. Norman Paech (DIE LINKE): Nach den Wahlen am 18. Februar diesen Jahres sieht es so aus, als stabili- siere sich das Land: Musharraf wurde abgewählt, radi- kale religiöse Parteien konnten sich nicht behaupten, die zwei Wahlsieger haben eine Regierung gebildet. 16262 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 (A) (C) (B) (D) Dies kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Pakistan nach wie vor einer der gefährlichsten Staa- ten auf der Welt ist. Politische Stabilität und demokrati- sche Entwicklung sind auch nach den Wahlen nicht gegeben: Es gibt einen weiterhin mächtigen und unkon- trolliert agierenden Geheimdienst, das Land verfügt über Atomwaffen, und das Militär dominiert Politik und Wirt- schaft sowie die sozialen Beziehungen. Kurz: Pakistan ist ein destabilisiertes Land. Pakistan ist auch deshalb so instabil, weil die interna- tionale Gemeinschaft der Militärdiktatur Musharraf als Partner im Anti-Terrorkampf jahrelang einen Blanko- scheck erteilt hat. Die USA haben in den letzten Jahren 10 Milliarden US-Dollar in das Land gepumpt und die- ses damit massiv aufgerüstet. Auch Deutschland liefert fleißig Rüstungsgüter und unterstützt damit das Wettrüs- ten der Region. Heute sehen wir das Ergebnis dieser Politik. Die Be- drohungen sind größer geworden, für Pakistan und seine Menschen, aber auch für die internationale Gemein- schaft. Einer demokratischen und friedlichen Entwick- lung stehen Gefahren entgegen, die aus der bisherigen Entwicklung Pakistans erwachsen. So werden die Militärs nicht bereit sein, ihre umfas- sende Kontrolle des politischen und ökonomischen Lebens einfach so abzugeben und einem Demokratisie- rungsprozess unterzuordnen. Allerdings wird die inter- nationale Gemeinschaft gleichzeitig dagegen sein, dass die Kontrolle des atomaren Waffenarsenals aus den Hän- den der Militärs genommen wird, die zurzeit noch für die Sicherheit der Atomwaffen stehen. Dieses Dilemma wird sich in absehbarer Zukunft nicht einfach so auflö- sen. Zu befürchten ist, dass die internationale Gemein- schaft weiterhin auf das Militär setzt, und damit feuda- listische und nicht demokratische Strukturen gestärkt werden. Weiterhin besteht die Gefahr eines Staatszerfalls. Die krassen ökonomischen und sozialen Unterschiede kön- nen zu einer Radikalisierung von Teilen der Bevölke- rung führen, die bestehenden ethnischen Spaltungen der Gesellschaft lassen sich leicht instrumentalisieren. Über manche Provinzen des Landes, über Warizistan und Be- lutschistan, hatte bereits die alte Regierung keine Kon- trolle mehr. Und nicht zuletzt steht zu befürchten, dass Pakistan wegen seiner geopolitischen zentralen Lage sowie seiner immensen Öl- und Gasvorkommen auch in Zukunft im Machtpoker anderer Mächte eine zentrale Rolle spielen wird. Das bedeutet, dass Demokratisierung und der Schutz der Menschenrechte weiterhin die Nebenrollen einnehmen werden. Das sind düstere Aussichten für die Menschen in Pa- kistan. Die derzeitige katastrophale Situation in Pakistan ist auch ein Ergebnis des gescheiterten „Kampfes gegen den Terror“. Die „Koalition der Willigen“ hat in der Ver- gangenheit allein auf Militär und Krieg gesetzt. Hinter- lassen wurde ein hochgerüstetes Pakistan, über das man die Kontrolle vollständig verloren hat. Nicht zuletzt die Bundesregierung hat mit ihrer Rüstungsexportpolitik diesen Zustand mit herbeigeführt. Die deutsche Bundes- wehr führt Krieg in Afghanistan. Und solange dieser Krieg andauert, solange wird auch Pakistan weiter desta- bilisiert. Da helfen auch keine Entwicklungs- und Stabi- lisierungsprogramme, wie der vorliegende Antrag der Grünen fordert. Denn dieser zeigt, dass die Grünen das eigentliche Problem verkennen. Vordringlich notwendig ist die Entmilitarisierung der ganzen Region, das heißt die Beendigung des Krieges in Afghanistan. Notwendig ist der Stopp der Aufrüstung Pakistans sowie eine internationale Kontrolle ihres Atomwaffenpotenzials, die darauf abzielt, es vollständig zu beseitigen. Zudem müssen die territorialen Konflikte mit dem Nachbarn Indien gelöst werden. Dann können auch Entwicklungsprogramme eine nachhaltige Wirkung erzielen. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In den letzten Jahren haben wir die Entwicklungen in Pa- kistan mit Sorge zur Kenntnis genommen. Seit der Machtübernahme von Präsident Musharraf 1999 betrifft das nicht nur das innere Demokratiedefizit und eine mi- serable Menschenrechtsbilanz. Pakistan drohte sich in Richtung eines Failed State und zunehmenden Aktions- felds für islamistische Extremisten zu entwickeln. Lange Zeit hielten vor allem die USA an Musharraf als Hauptverbündetem im „Krieg gegen den Terroris- mus“ fest. Die Erfolgsbilanz ist ernüchternd: Die Struk- turen der Taliban in den Grenzgebieten zu Afghanistan wurden nicht entscheidend geschwächt; die Lebensbe- dingungen der dortigen Bevölkerung bleiben katastro- phal; aufseiten der pakistanischen Geheimdienste und Armee gibt es wenig Begeisterung für den US-erklärten Antiterrorkrieg und teils offene Sympathie und Verbin- dungen zu den jahrelang instrumentalisierten Taliban- kämpfern. Gerade aus diesem Grund ist die jahrelange Versor- gung Musharrafs als vermeintlich bestem Garanten von Stabilität mit Finanzmitteln und Rüstungsgütern kritisch zu hinterfragen. Denn die letzten Monate haben nicht nur gezeigt, wie schwach seine Legitimation im eigenen Land war; letztlich eskalierte unter seiner Alleinherr- schaft die extremistische Bedrohung in Pakistan infolge der Kämpfe um die „Rote Moschee“ in Islamabad wei- ter. Es fällt auf, dass unsere – damit meine ich deutsche und europäische – Politik kein umfassendes Konzept zum Umgang mit diesem Land und seiner instabilen Lage entwickelt hat. Zwar gibt es multilaterale Konsul- tationen vor allem in Bezug auf den Wiederaufbau in Af- ghanistan sowie begrenzte Aktivitäten im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit. Eine echte Pakistan-Stra- tegie fehlt aber. Deshalb hat meine Fraktion bereits zwei Anträge vorgelegt, die einerseits eine solche Strategie auf die Tagesordnung setzen, andererseits auf die Unver- antwortlichkeit und großen Gefahren deutscher Rüs- tungslieferungen an Pakistan hinweisen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16263 (A) (C) (B) (D) Die jüngsten Entwicklungen in Pakistan waren be- sorgniserregend; mit den jüngsten Wahlen gab es aber auch positive Zeichen. Die Alleinherrschaft Musharrafs wurde im letzten Jahr in Pakistan zunehmend unpopulä- rer. Der Versuch, per Notstand und Einschränkung der Zivilgesellschaft eine wachsende Protestbewegung zu stoppen, scheiterte. Erst sicherte sich Musharraf eine Wiederwahl, die nur durch eine verfassungswidrige Ab- setzung der obersten Richter möglich wurde. Danach legte Musharraf zwar seinen Posten als Armeekomman- deur nieder und hob den Notstand auf; die Kritik an sei- ner demokratisch nicht legitimierten Amtsführung hielt aber an. Bei den jüngsten Parlamentswahlen am 18. Februar dieses Jahres erlitt Präsident Musharraf mit seiner Partei eine deutliche Wahlniederlage. Die Wahlsieger von der Pakistan Peoples Party, PPP, der am 27. Dezember 2007 ermordeten Benazir Bhutto und die Pakistan Muslim League-N, PML-N, unter Nawaz Sharif haben eine ge- meinsame Regierung gebildet und Yousaf Raza Gillani zum Premierminister gewählt. Das Personal dieser Par- teien bietet zwar nur eingeschränkt die Aussicht auf dy- namische Veränderung in Richtung von Rechtsstaatlich- keit und Demokratie in Pakistan. Dennoch: Erstmals seit langem existiert eine demokratisch zweifelsfrei legiti- mierte Regierung. Immerhin wurden auch die von Musharraf unter Hausarrest gestellten Richter und Rechtsanwälte von der neuen Regierung freigelassen. Für eine Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung ist notwendig, dass sie ihre Ämter wieder aufnehmen kön- nen. Die internationale Gemeinschaft und insbesondere deutsche und europäische Politik muss jetzt diese Rück- kehr zur verfassungsmäßigen Ordnung unterstützen und gemeinsam mit der neuen Regierung den neugewonne- nen Spielraum nutzen. Pakistan ist ein weitaus pluralistischeres Land, als wir es oftmals wahrnehmen. Es existiert eine ausgeprägte und vielfältige Presselandschaft; die Zivilgesellschaft ist ebenfalls aktiv. Ihr kraftvollstes Element war die Bewe- gung der Richter und Rechtsanwälte unter Führung des ehemaligen Obersten Richters Iftikhar Chaudhry, die über Monate offen ihre Kritik an Musharrafs Willkür- herrschaft übte. Mit diesen Kräften, welche die neue Re- gierung einbeziehen muss, existieren viele Ansprech- partner, mit denen wir den Dialog suchen müssen. Insbesondere entwicklungspolitische Instrumente müs- sen wir nutzen, um rechtsstaatliche Strukturen und Insti- tutionen, um die Zivilgesellschaft zu stärken. In Pakistan ist die Rolle der Armee so stark, dass oft- mals von einer „Armee, die einen Staat hat“ anstelle ei- nes „Staates mit einer Armee“ gesprochen wird. Pakis- tan wird nur dann dauerhaft stabil werden können, wenn die zentrale Rolle der Armee im staatlichen Gefüge um- sichtig abgebaut wird und zivile Strukturen an ihre Stelle treten. Der Stabilitätsgarant einer starken Armee ist trü- gerisch; denn Konfliktpotenziale in der Region wie der Kaschmir-Konflikt mit Indien bestehen weiterhin und werden sich nicht durch weiteres Aufrüsten entschärfen lassen. Der Glaube, dass nur mit der Militärherrschaft Musharrafs Stabilität in Pakistan zu gewährleisten sei, war ein Missverständnis. Die Hoffnung insbesondere der USA, einen zuverlässigen Partner im „Krieg gegen den Terrorismus“ zu haben, war und ist trügerisch. Musharrafs Doppelspiel aus Appeasement und harter militärischer Linie gegenüber radikalen islamistischen Gruppen hat die Probleme in den schwierigen Gebieten, insbesondere in Wasiristan und Belutschistan, nicht lö- sen können. Wie groß das Störungspotenzial radikaler Organisationen ist, zeigen dagegen die anhaltenden, teils schweren Selbstmordattentate und Anschläge in Pakis- tan. Islamistische Parteien in Pakistan erlitten in den jüngsten Wahlen dagegen eine herbe Niederlage. Die Lage im Land ist und bleibt instabil, die weitere Entwicklung unvorhersehbar. Auch deshalb ist die Bot- schaft unseres Antrages zu den Rüstungslieferungen an Pakistan eindeutig: Die Ausfuhr von Kriegswaffen oder sonstigen Rüstungsgütern ist unter keinen Umständen zu rechtfertigen und wäre eine endgültige Abkehr vom Grundsatz restriktiver Rüstungsexportpolitik. Der Bun- dessicherheitsrat hat dennoch eine Voranfrage Pakistans über die Lieferung zweier U-Boote positiv beschieden und Hermeskredite über 1,2 Milliarden Euro in Aussicht gestellt. Der Bundestag wurde im Vorfeld dieser Ent- scheidung weder unterrichtet noch konsultiert. Es bleibt ein großer Missstand deutscher Rüstungsexportkon- trolle, dass hier hinter verschlossenen Türen entschieden und dem Parlament jegliche Kontrollfunktion verwehrt wird. In der Antwort auf eine Große Anfrage unserer Frak- tion hat die Bundesregierung erklärt, dass sie die innere Lage in Pakistan bei ihrer Abwägung einbezieht. Wenn dem so ist, müsste es ein Leichtes sein, ein deutliches Nein für die in Aussicht gestellte U-Boot-Lieferung zu formulieren – ebenso wie für weitere Lieferungen in die angespannte Region. Rüstungslieferungen an Pakistan sind in keiner Weise geeignet, zur Stabilität beizutragen, sondern drohen den Rüstungswettlauf in der Region an- zuheizen. Die ungeklärte innere Lage und Instabilität verbieten die Lieferungen ebenso wie die bisherige of- fensichtliche Rolle Pakistans bei der Weiterverbreitung und der direkten und indirekten Unterstützung für extre- mistische Organisationen, insbesondere mit Blick auf Afghanistan. Pakistan ist Nuklearstaat, und wie bei kaum einem anderen Land besteht die Sorge, Massen- vernichtungswaffen könnten angesichts der instabilen inneren Lage und des anhaltenden Dauerkonflikts mit Indien außer Kontrolle geraten oder in die falschen Hände gelangen. Auch Politikerinnen und Politiker der Koalitionsfraktionen haben bereits ihre Bedenken ge- genüber Rüstungsexporten nach Pakistan eingeräumt, die gegen alle Grundsätze deutscher und europäischer Rüstungsexportrichtlinien verstoßen. Ein klares Nein der Bundesregierung ist gefordert. Sie muss darüber hinaus darauf hinwirken, dass Pakistan nicht weiterhin zu einer Quelle der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und deren Trägerwaf- fen wird, sondern sich den internationalen Rüstungskon- trollregimen anschließt. Außerdem müssen wir dringend darüber diskutieren, wie der Deutsche Bundestag end- lich an einer wirksamen Kontrolle der Rüstungsexporte beteiligt werden kann. 16264 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 (A) (C) (B) (D) Es gibt jetzt eine Chance, Pakistan langfristig zu sta- bilisieren, was auch eine wichtige Voraussetzung für den Aufbau in Afghanistan ist. Das geht nicht mit Rüstungs- lieferungen! Es muss jetzt darum gehen, eine möglichst umfassende Strategie zu entwickeln, wie in Pakistan um- fassende Verbesserungen in zentralen staatlichen Berei- chen wie Justiz, Verwaltung, Parlament und Rechtsstaat- lichkeit sowie bei den Menschenrechten und aufseiten der Zivilgesellschaft erreicht werden können. Einen wei- teren gescheiterten Staat in der Region können wir uns nicht leisten. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Neuausrichtung der Europäischen Stiftung für Berufsbildung (Tagesordnungs- punkt 16) Uwe Schummer (CDU/CSU): Ein europäischer Bil- dungsraum wird immer wichtiger. Hierbei gilt es, die kulturellen Eigenheiten im Blick zu behalten. So sollen mit dem Europäischen Qualifikationsrahmen alle erwor- benen Kompetenzen zwischen Portugal und Malta ver- gleichbar werden. Hierzu wird derzeit eine engagierte Debatte geführt. Die duale Berufsausbildung ist als Mar- kenkern Deutschlands neben dem Europäischen Qualifi- kationsrahmen auch bei der Neuordnung der Europäi- schen Stiftung für Berufsbildung angemessen zu berücksichtigen. Sie ist bei der weiteren Gestaltung des Europäischen Bildungsraumes ein zentraler Punkt. Die Europäische Stiftung für Berufsbildung leistet seit 1990 eine gute und wichtige Arbeit in Europa und darüber hinaus. Der Vorschlag der Europäischen Kom- mission für eine Änderung der Verordnung zur Errich- tung der Europäischen Stiftung für Berufsbildung geht jedoch über das Ziel hinaus. Neben einer sinnvollen und notwendigen Anpassung des geografischen Wirkungsbe- reiches der Stiftung möchte die Kommission das Aufga- bengebiet verwässern. Um die Tragweite zu verdeutli- chen, zitiere ich aus dem Vorschlag der Kommission: „Das thematische Arbeitsgebiet der ETF sollte auf die gesamte Humanressourcenentwicklung, insbesondere die allgemeine und berufliche Bildung unter dem Ge- sichtspunkt des lebenslangen Lernens, sowie auf damit verbundene Arbeitsmarktfragen ausgeweitet werden.“ Damit würde sie ihren Markenkern – die berufliche Bil- dung – aufweichen. Die vorgeschlagene Kompetenzerweiterung ist zu all- gemein gefasst. In unserem Koalitionsantrag benennen wir von daher drei klare Punkte: Als Erstes soll der Aufgabenbereich der Stiftung nicht unklar und zu weitgehend ausgeweitet werden. Bei der Neuanpassung der Aufgaben müssen die Kompetenzre- gelungen des EG-Vertrages eingehalten werden. Das Subsidiaritätsprinzip ist zu beachten. Die Bundesregie- rung ist gefordert, dies mit auf den Weg zu nehmen und umzusetzen. Als Zweites ist wichtig, dass unser deutsches duales Ausbildungssystem angemessen berücksichtigt und ge- würdigt wird. Deshalb sollten die Mitgliedstaaten in den Gremien der Stiftung weiterhin mit mehr Stimmen als die Europäische Kommission vertreten sein. Damit wird gewährleistet, dass die Regierungen ihre nationalen Be- lange auch in Zukunft angemessen einbringen können. Durch eine klare Aufgabenerweiterung und eine Mehr- heit der Mitgliedstaaten in den Gremien der Stiftung wird es keine zentralen Entscheidungen der Kommission geben. Vielmehr stehen die Mitgliedstaaten und deren Berufsbildungssysteme im Mittelpunkt. Als Drittes möchten wir, dass sich die Stiftung in der Entwicklungszusammenarbeit mit den zuständigen Insti- tutionen und Gebern stärker abstimmt. Bildung schafft Beteiligungschancen. Als Vorausset- zung für lebenslanges Lernen wird die berufliche Bil- dung immer wichtiger. Das deutsche duale System ist auch ein Exportschlager und ein gutes Modell für andere Länder. Mit unserem Antrag zur Neuausrichtung der Eu- ropäischen Stiftung für Berufsbildung wollen wir einen Beitrag leisten, damit dies zukünftig weiter verbessert werden kann. Willi Brase (SPD): Die Europäische Stiftung für Be- rufsbildung hat als eine Einrichtung der Europäischen Union seit ihrer Gründung 1990 in Turin wertvolle Ar- beit hinsichtlich der Entwicklung der Berufsbildungssys- teme in Drittstaaten sowie bei der Heranführung neuer Mitgliedstaaten geleistet. Im Netzwerk internationaler Berufsbildungsinstitutionen und Spezialisten arbeitet un- ter anderem auch das Bundesinstitut für Berufsbildung eng mit dem ETF zusammen. Im Zeitalter der offenen Grenzen in der Europäischen Union und der Entwick- lung eines gemeinsamen starken Wirtschaftsraumes hat die berufliche Bildung einen sehr hohen Stellenwert. Umso wichtiger ist ein reger gedanklicher Austausch zwischen den entsprechenden Mitgliedsländern und EU- Institutionen. Dass die Europäische Stiftung für Berufs- bildung diesbezüglich gut gearbeitet hat, zeigt die im Rahmen der Evaluation durchgeführte Aufgabenüber- prüfung. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Arbeit der Stiftung wurde als gut eingestuft. Auf Grundlage der Bewertung hat die Kommission einen Legislativvorschlag veröffentlicht. Das themati- sche Arbeitsgebiet der ETF soll – ich zitiere aus dem Antrag – „auf die gesamte Humanressourcenentwick- lung, insbesondere die allgemeine und berufliche Bil- dung unter dem Gesichtpunkt des lebenslangen Lernens, sowie auf damit verbundenen Arbeitsmarktsfragen aus- geweitet werden“. Unter diesem Gesichtpunkt ist es mei- ner Meinung nach sehr wichtig, dass die Aufgabenaus- weitung im Rahmen des EG-Vertrages vollzogen wird. Danach liegt die Verantwortung für Inhalt und Gestal- tung der beruflichen Bildung in der Verantwortung der Mitgliedstaaten. Die berufliche Bildung in Deutschland – und hier möchte ich besonders die duale Berufsausbildung her- vorheben – genießt international einen sehr guten Ruf. Um diesen weiter zu verbessern, hat die SPD gemeinsam Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16265 (A) (C) (B) (D) mit dem Koalitionspartner bereits vor zwei Jahren einen Antrag zur „Weiterentwicklung der europäischen Be- rufsbildungspolitik“ verabschiedet. Europa soll zu einer Wissensgesellschaft entwickelt werden. Schon alleine daraus begründet sich der hohe Stellenwert von Bildung, Wissen und Fähigkeiten. Zur- zeit leben in der EU rund 80 Millionen Bürgerinnen und Bürger, die zu der Gruppe der gering Qualifizierten zäh- len. Ihre Qualifikationsniveaus müssen weiter verbessert werden. Hier gilt es, innerhalb der Mitgliedstaaten pass- genaue Instrumente zu entwickeln. Von der Begabtenför- derung über eine breite Bildungsvermittlung, dem lebenslangen Lernen als eigenständige Säule der Bil- dungssystems bis hin zur Benachteiligtenförderung müs- sen Ausbildung und Qualifikation allen europäischen Bürgerinnen und Bürger zur Verfügung stehen. Vor die- sem Hintergrund wird deutlich, wie wichtig eine gut ar- beitende Institution wie die Europäische Stiftung für Be- rufsbildung ist. Ein weiterer Schritt auf das Zusammenwachsen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die berufliche Bildung kann auch die Gestaltung europäischer Kernberufe sein. Da die Arbeits- und Geschäftsprozesse in Europa weit- gehend einheitlich sind, können auch die beruflichen Standards gemeinsam auf europäischer Ebene formuliert werden. Im Dialog der Sozialpartner können unter Betei- ligung der Europäischen Kommission die beruflichen Qualifikationen gemeinsam definiert werden, die junge Menschen erlernen sollen. Den Staaten bleibt es dann überlassen, an welchen Lernorten die Inhalte vermittelt werden. Um die Transparenz von Qualifikationen und grenzüberschreitende Mobilität zu erleichtern, sollte der in der EU eingeführte Europass umfassend genutzt wer- den. Von einem abgestimmten Konzept würden sowohl die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Mitglied- staaten als auch die Wirtschaft profitieren. Auch vor diesem Ausblick ist es wünschenswert, dass in der ETF an verantwortlicher Stelle Fachleute tätig sind, die über spezifische Kenntnisse des dualen Ausbil- dungssystems verfügen und dafür Sorge tragen, dass die Vorzüge des Ausbildungssystems hinreichend bei der Arbeit der Stiftung Berücksichtigung finden. Die duale Berufsausbildung in Deutschland verfolgt einen ganz- heitlichen Ansatz des Lernens in Schule und Betrieb. Bei ihrem Berufseinstieg nach der Lehre sind die jungen Menschen voll berufsfähig, weisen eine hohe soziale Kompetenz auf und tragen in einem hohen Maße dazu bei, den Fachkräftebedarf der Wirtschaft zu decken. Uns ist es sehr wichtig, dass die Arbeit der ETF pro- fessionell weitergeführt wird. Klar muss aber auch sein, dass die Bildungskompetenz in der EU bei den Mitglied- staaten liegt und dort auch bleiben muss. In diesem Sinne freuen wir uns auf eine gute Arbeit der Europäi- schen Stiftung für Berufsbildung. Patrick Meinhardt (FDP): Die Europäische Stiftung für Berufsbildung, ETF, soll ihr Gesicht verändern. 18 Jahre nach ihrer Gründung – sozusagen im Alter der Volljährigkeit – ist es auch mehr als sinnvoll, Ausrich- tung und Inhalte mit den Anforderungen und dem Er- reichten abzugleichen. Die Entscheidung zur Umstrukturierung und Neuaus- richtung gründet auf einer Expertise aus dem Jahr 2005, als die Tätigkeit der Stiftung umfassend und kritisch un- ter die Lupe genommen wurde. Im Jahr 2006 lag der Kommission für diese so wichtige Stiftung der Empfeh- lungskatalog vor. Und Empfehlung heißt: Handeln. Über drei Jahre nach der Vorlage der Expertise werden jetzt die nationalen Parlamente damit beschäftigt. Selbst für die EU ist es unglaublich, dass die Mühlen der Bildungs- bürokratie 36 Monate gemahlen haben. Die Änderungs- anmerkungen sind sinnvoll, sie sind nachvollziehbar, sie sind konsequent. Schließlich ist der Bildungsbereich ei- ner stetigen Dynamik und dem Wandel unterworfen. Da- her muss jetzt auch über notwendige Anpassungen de- battiert und entschieden werden. Natürlich muss auch die Europäische Stiftung für Berufsbildung den Wand- lungsprozess berücksichtigen und nachvollziehen, den die Staaten der Europäischen Union bereits beschritten haben. Denn im Moment hinkt sie der bildungspoliti- schen Debatte hinterher, statt sich an die Spitze zu stel- len. Gerade neue Strategien und Ansätze im Bereich der beruflichen Bildung müssen sich in den Strukturen der Stiftung für Berufsbildung wiederfinden – und für uns Liberale zählt: Die duale Ausbildung muss ein Referenz- projekt für berufliche Bildung in Europa werden. Berufliche Bildung ist auch schon lange kein zeitlich ab- gegrenzter Lebensbereich mehr. Ständige Wissenserwei- terung, ein Ausbau von Lernmodulen weit über den schulischen Bereich hinaus und eine steigende Anzahl von Seminarangeboten machen deutlich: Lebenslanges Lernen wird die persönliche Herausforderung für die Zu- kunft. Deswegen muss auch der Inhalt der Stiftung zügig den aktuellen Entwicklungen angepasst werden. Der Be- reich der beruflichen Bildung kann, sollte und darf nicht mehr von anderen Teilen des gesamten Bildungssystems losgelöst betrachtet werden. Diese Stiftung muss sich zu einer Stiftung des lebenslangen Lernens fortentwickeln. Aber auch die Veränderungen aus der Neuordnung der Außenbeziehungen der EU müssen sich bindend in der Ausrichtung der Europäischen Stiftung für Berufs- bildung niederschlagen. Der geographische Wirkungsbe- reich der ETF muss mit den Aufgaben und Beziehungen der EU wachsen. Aber: Dies gilt nicht als Automatismus. Es gibt nicht automatisch mehr Geld, es gibt nicht automatisch mehr Kooperationen, es gibt nicht automatisch eine größere Bürokratie. Wir entscheiden heute über eine Aktualisie- rung der Aufgaben – und über nichts anderes. Hier er- warten wir Liberale, dass die Bundesregierung diesen Prozess aufmerksam und kritisch begleitet. Das Maßnahmenpaket der Kommission besteht im Wesentlichen aus folgenden drei Kernforderungen: Erstens. Das thematische Arbeitsgebiet der ETF soll auf die gesamte Humanressourcenentwicklung ausge- weitet werden. 16266 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 (A) (C) (B) (D) Zweitens. Der Wirkungsbereich der ETF im Bereich der Außenbeziehungen soll aktualisiert werden. Drittens. Schließlich sollen – dem aktualisierten Auf- gabenfeld der ETF geschuldet – die Lenkungsstrukturen der Stiftung gemäß der Vorgaben der interinstitutionellen Vereinbarung über Regulierungsagenturen modernisiert werden, um eine wirksame Entscheidungsfindung zu er- reichen. Allerdings nach dem Prinzip: „Weniger regulie- ren, sondern mehr fördernd beraten“. Der Antrag von CDU/CSU und SPD bezieht sich nun auf dieses Maßnahmenbündel und greift auch berechtige Sorgen auf. Die Neuausrichtung der ETF ist überfällig – unter ständiger Beteiligung der Länder. Der Antrag for- dert die Bundesregierung dazu auf, die Zuständigkeit der Länder bei der Ausgestaltung der Bildungsgänge zu be- tonen, die Sicherung der deutschen Interessen mit Blick auf das System der dualen Ausbildungsgänge zu ge- währleisten und ein sparsames Arbeiten der ETF sicher- zustellen. Ohne diese Grundprinzipien wäre ein Be- schluss nicht herbeizuführen! Und nur mit diesem kann und wird die FDP zustimmen. Cornelia Hirsch (DIE LINKE): Wir sollen heute ei- nen Antrag der Koalitionsfraktionen mit dem Titel „Neuausrichtung der Europäischen Stiftung für Berufs- bildung“ verabschieden. Vom Titel her klingt das ja sehr gut, „Neuausrichtung“ hört sich nach Veränderung an. „Europäische Stiftung“ hört sich international und ge- meinnützig an. Und dass Bildung und insbesondere Be- rufsausbildung sehr wichtige Themen sind, hat ja nun auch die Koalition erkannt, auch wenn sie bisher wenig Hilfreiches hervorgebracht hat. Wir begrüßen, dass die Koalition ebenfalls die vorge- schlagene Verlagerung der Entscheidungskompetenz auf die Kommission ablehnt. Allerdings entspräche eine Stär- kung des Europäischen Parlaments viel eher unseren Vor- stellungen von demokratischer Mitbestimmung. Der An- trag der Koalition fordert jedoch die Verlagerung in die Entscheidungskompetenz der Bundesregierung. Wir be- dauern, dass die Koalition die Möglichkeit zu mehr De- mokratie in Europa verpasst hat. Die von der Kommis- sion vorgeschlagene Abschaffung des Beratergremiums will die Koalition nicht grundsätzlich rückgängig ma- chen. Sie will künftig „auch wieder mehr Fachleute“ an verantwortlicher Stelle in der ETF beschäftigt sehen. Hier wäre ein klares Signal nötig gewesen, statt ihrer halbher- zigen „Auch-wieder-mehr“-Forderung. Die ehemals in diesem Gremium einbezogenen Sachverständigen, inter- nationalen Organisationen, Vertreter der Partnerländer sowie der Sozialpartner verlieren so ihre Stimme. Ver- stärkt wird diese Schwächung der zivilgesellschaftlichen Kräfte durch die Forderung, dass die ETF zukünftig auf die vereinbarten Ziele der „Pariser Erklärung“ achtet. Diese sieht eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit den Regierungen der Partnerländer vor. Viele Nichtregie- rungsorganisationen sehen hierin eine Schwächung der Zivilgesellschaft. Geradezu typisch für Ihre Politik ist ihre Formulie- rung, dass „durch die neue Aufgabenbeschreibung des ETF kein Mittelmehrbedarf begründet wird.“ Sie erklä- ren ständig, was Sie wieder neues in Angriff nehmen wollen, Geld jedoch stellen Sie dafür nicht gerne bereit. Dieses Spardogma zieht sich durch ihre Politik wie ein roter, man möchte eher sagen schwarzer Faden. Dabei fordern seit Jahren alle national und international aner- kannten Organisationen der Entwicklungsarbeit, dass die Bundesregierung endlich einmal mehr Geld für diese so wichtige Aufgabe in die Hand nehmen muss. Unsere eigentliche Kritik jedoch bezieht sich auf die neue Strategieausrichtung der ETF. Die stärkere Einbin- dung in die berufsbildungspolitische Strategie der EU, dass heißt eine stärkere Ausrichtung an den Wettbewerbs- zielen der Lissabon-Strategie, lehnen wir grundsätzlich ab. Als Beitrag zur Lissabon-Strategie vereinbarten die europäischen Bildungsministerinnen und Bildungsminis- ter das Arbeitsprogramm „Allgemeine und berufliche Bil- dung 2010“. Die Fokussierung auf die Wettbewerbsfähig- keit widerspricht jedoch einer auf eine Angleichung der Teilhabe an Bildung und den Lebensverhältnissen ausge- richteten EU-Außenhilfe. Diese Neuausrichtung wird durch die Erweiterung des thematischen Arbeitsgebiets der ETF sichtbar. Dieses soll insofern erweitert werden, als Berufsbildung künftig als Teil eines „umfassenden Konzepts der Humanressourcenentwicklung“ aufgefasst und daher stärker im Rahmen der gesamten Bildungssys- teme, aber auch im Zusammenhang mit Arbeitsmarktfra- gen betrachtet werden soll. Die Bildung verkommt hier zu einer ökonomisch ausschlachtbaren Ressource und die Zusammenarbeit dazu, sich die Arbeitskräfte der zukünf- tigen Beitrittsländer verfügbar zu machen. Diese strategische Ausrichtung allein auf die Verwert- barkeit des Menschen im ökonomischen Prozess, die Re- duktion auf die Wettbewerbsfähigkeit, stellt die Koali- tion mit ihrem Antrag leider nicht in Frage. Wir bedauern dies sehr. Die Fraktion Die Linke kann daher dem Antrag der Koalition keinesfalls zustimmen. In ei- nigen wenigen Punkten stellt der Antrag die Fehlent- wicklung fest, greift in seinen Lösungsansätzen jedoch zu kurz. Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Die Europäische Stiftung Berufsbildung (ETF) ist eine dezentrale Einrichtung der EU mit dem Ziel, in Partnerländern außerhalb der EU einen Beitrag zur Ent- wicklung der Berufsbildungssysteme zu leisten. Die ETF wurde ursprünglich gegründet, um im Rahmen des Gemeinschaftshilfeprogramms PHARE in den Ländern Mittel- und Osteuropas die Berufsbildung zu unterstüt- zen. Inzwischen hat sich der geografische Wirkungsbe- reich auch auf Zielländer anderer Programme – TACIS, CARDS und MEDA – ausgedehnt. Eine 2002 bis 2005 vorgenommene Evaluierung be- scheinigte der ETF ein gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis bei ihrer Arbeit. Auch die Fachkompetenz wurde positiv beurteilt. Die EU strebt nun einige Anpassungen bei der ETF an. Die Koalition nimmt dies zum Anlass, einen Antrag vorzulegen, der von einem unterschwelligen Misstrauen gegenüber der EU gekennzeichnet ist. Das verwundert uns schon ein bisschen, und das können wir so nicht teilen. Wir sehen zum Beispiel keine Gefahr, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16267 (A) (C) (B) (D) dass die Änderungen bei der ETF zu Kompetenzüber- schreitungen der EU im Bildungsbereich führen könn- ten. Ein paar Worte zu den geplanten Veränderungen: Ers- tens soll der geografische Wirkungsbereich der Stiftung vergrößert werden, vor allem in Richtung Zentralasien. Außerdem will die EU das thematische Arbeitsgebiet der ETF auf die gesamte Humanressourcenentwicklung – Stichwort lebenslanges Lernen – ausweiten. Das sehen wir im Grunde sehr positiv, weil es der Entwicklung hin zur Wissensgesellschaft entspricht. Allerdings fragen wir uns, welche Auswirkungen dies auf die finanzielle Ausstattung der Stiftung hätte. Pauschal zu beschließen, dass man hier nicht mehr Geld geben will, wie die Koali- tion es in ihrem Antrag tut, ist nicht zielführend. Zudem sollen mit der Reform auch die Lenkungs- strukturen der ETF moderner werden. Der Vorstand würde auf 15 Personen reduziert, das heißt je sechs Ver- treter aus den Mitgliedstaaten und der Kommission so- wie drei nicht stimmberechtigte Vertreter der Partnerlän- der. Die Amtszeit des Vorstands würde von drei auf fünf Jahre verlängert. Auch hier hat die Koalition wieder Angst, dass die EU-Kommission zu stark werden könnte. Sie will daher festlegen, dass mehr Vertreter der Mitgliedstaaten als der Kommission vertreten sind. Das halten wir für verzichtbar. Insgesamt können wir die mantra-artig wiederholte Befürchtung strukturkonservativer Berufsbildungspoliti- ker aller Couleur, die Vorzüge des deutschen dualen Ausbildungssystems würden in der EU nicht ausrei- chend gewürdigt, nicht mehr hören. Auch das ist ein Grund, den Antrag abzulehnen. Wenn das duale Ausbil- dungssystem alle Probleme lösen würde, dann hätten wir doch nicht die Ausweitung des Übergangssystems, in dem sich inzwischen mehr als die Hälfte der Jugendli- chen in Deutschland befinden, und die Ausweitung der vollschulischen Ausbildung. Wenn man – wie es die Ko- alition ja immer vorgibt – wirklich an die Umsetzung des Europäischen Qualifikationsrahmens glaubt, sollte man sich nicht immer ausschließlich auf den Lernort Betrieb fixieren. Stattdessen sollte die Große Koalition ihre Kraft darauf lenken, bei der Entwicklung des Deutschen Qualifikationsrahmens tatsächlich die Orientierung an Kompetenzen durchzusetzen und nicht – wie unlängst berichtet – schon jetzt bestimmte Abschlüsse bestimm- ten Niveaustufen zuordnen. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Steuerverlagerung ins Ausland verhindern (Tagesordnungspunkt 21) Manfred Kolbe (CDU/CSU): Der vorliegende An- trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beschäftigt sich mit der Frage: Welche Maßnahmen müssen wir un- ternehmen, um Steuerverlagerungen ins Ausland zu ver- hindern? Die Frage ist richtig gestellt, und seitens der Union sind auch wir schon immer um wirkungsvolle Lö- sungen bemüht. Die Fraktion der Grünen beantwortet die Frage allerdings sehr einseitig mit ihrem Antrag. Nur durch einen Wechsel von der Freistellungs- zur Anrech- nungsmethode in den Doppelbesteuerungsabkommen kann Steuerflucht ins Ausland nicht effektiv und wir- kungsvoll bekämpft werden. Lassen sie mich beide Methoden für im Ausland woh- nende bzw. arbeitende Deutsche kurz erläutern. Erzielt zum Beispiel ein in Deutschland Wohnender in Frankreich Einkünfte, so sind diese französischen Einkünfte einer Doppelbesteuerung ausgesetzt. Sie wer- den in Deutschland besteuert, weil für einen hier Woh- nenden das Welteinkommensprinzip gilt. In Frankreich werden sie auch besteuert, weil sie dort erzielt worden sind. Diese Doppelbesteuerung ist nur durch freiwillige Koordination der beteiligten Staaten im Rahmen eines Doppelbesteuerungsabkommens zu lösen. Im Prinzip gibt es hier zwei Lösungen – die Freistellungs- und die Anrechnungsmethode: Freistellungsmethode würde in dem Beispiel bedeuten, dass Frankreich – zugunsten von Deutschland – die in Frankreich erzielten Einkünfte von der Besteuerung freistellt, so dass sie nur einmal, näm- lich von deutscher Seite, besteuert werden können. An- rechnungsmethode würde bedeuten, dass Deutschland – zugunsten von Frankreich – die in Frankreich auf Grund der beschränkten Steuerpflicht bezahlten Steuern auf die deutsche Steuerschuld anrechnet, so dass eine Doppelbesteuerung im Ergebnis vermieden wird. Nun ist es sicherlich legitim, einmal über Vor- und Nachteile beider Methoden nachzudenken, um die Kon- sequenzen für das Steueraufkommen für die Bundes- republik Deutschland zu untersuchen. Wir werden dies in den weiteren Beratungen des Finanzausschusses gründlich tun. Allerdings sei schon hier auf einige grundlegende Einwände gegen eine vollständige Um- stellung von der Freistellungs- auf die Anrechnungsme- thode hingewiesen: Mehr als 100 Doppelbesteuerungsabkommen gehen bisher von der Freistellungsmethode aus und müssten bei einer Umstellung auf die Anrechnungsmethode grundlegend neue verhandelt werden. Dies wäre ein langwieriger Prozess über sicherlich ein, zwei oder drei Jahrzehnte. Auch der bürokratische Aufwand einer Umstellung für unsere Steuerverwaltung wäre gigantisch, da Deutschland dann ja auch die Gegenseitigkeit gewähren müsste und von Ausländern in Deutschland gezahlte Einkommensteuer auf deren inländische Steuern ange- rechnet werden müsste. Die deutsche Finanzverwaltung müsste viele Millionen von Bescheinigungen erstellen, da allein bei uns 3,8 Millionen Ausländer aus EU-Staa- ten und weitere rund 3 Millionen Nicht-EU-Ausländer leben. Der fiskalische Ertrag wäre demgegenüber wohl eher bescheiden, da nur rund 1,5 Millionen Deutsche im Aus- land leben. Die meisten dürften in europäischen Nach- barländern mit einem mehr oder weniger gleich hohen Steuerniveau wie in der Bundesrepublik Deutschland leben, so dass der Ertrag gering wäre. Schnellschüsse 16268 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 (A) (C) (B) (D) helfen also nicht weiter, und gerade eine solche grundle- gende Umstellung muss vorher gründlich beraten wer- den. Einig sind wir uns aber in dem Ziel, Steuerverlage- rungen ins Ausland härter entgegenzutreten als bisher, um das deutsche Steueraufkommen zu sichern und auch für mehr Gerechtigkeit zu sorgen. Aus diesem Grunde befürworten wir von der Union Folgendes: Erstens. Steuerharmonisierung in Europa: Mit der Europäischen Zins-Richtlinie soll eine Mindestbesteue- rung von Kapitaleinkünften in Europa erreicht werden. Eine europäische konsolidierte Bemessungsgrundlage für die Körperschaftsteuer soll geschaffen werden. Zweitens. Gegen Steueroasen vorgehen: Für ein be- sonderes Ärgernis halte ich es, dass es mitten in Europa Steueroasen, wie die britischen Kanalinseln und einige Schweizer Kantone, gibt, die praktisch keine Steuern er- heben. Aber auch Kernländer der EU, wie Luxemburg oder die Niederlande, treiben bisweilen einen unfairen Steuerwettbewerb. Drittens. Wettbewerbsfähige Steuersätze in Deutsch- land: Mit der Unternehmensteuerreform haben wir die no- minale Körperschaftsteuerbelastung von Kapitalgesell- schaften von 38,65 Prozent auf 29,83 Prozent ermäßigt und damit das fiskalische Interesse der Unternehmen an einer Verlagerung der in Deutschland erwirtschafteten Erträge ins Ausland deutlich gemindert. Die Einführung einer 25-prozentigen Abgeltungsteuer auf Kapitalein- künfte mindert das Interesse privater Anleger, Kapital al- lein aus steuerlichen Gründen ins Ausland zu verlagern, deutlich. Die Unionsfraktion wird daher den Antrag an den Finanzausschuss überweisen. Hier werden wir dann den Antrag ausführlicher beraten. Antje Tillmann (CDU/CSU): „Steuerverlagerung ins Ausland verhindern“, das ist ein Anliegen, mit dem wir uns beschäftigen – mindestens seitdem ich Mitglied des Deutschen Bundestages bin. Wir haben in vielen Geset- zen diesem Anliegen Rechnung getragen, zuletzt im Un- ternehmensteuerreformgesetz 2008. Heute schlagen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, vor, von der bishe- rigen Freistellungsmethode für im Ausland erzielte Ein- künfte deutscher Steuerpflichtiger auf die Anrechnungs- methode überzugehen. Der Gedanke, der auch seit einiger Zeit im Finanzausschuss Thema ist, ist nicht neu. Die Bundesregierung hat dem Finanzausschuss zuletzt am 18. März 2008 einen Bericht, in dem sie auf Chancen und Probleme der Methodenwahl eingeht und diese ge- genüberstellt, zugesandt. Sie stellt klar, dass ein bloßer Methodenwechsel nicht die Ideallösung zur Vermeidung von Steuerverlagerungen ins Ausland ist. Die Ausfüh- rungen in diesem Bericht sind so präzise, dass ich im Weiteren diese Darstellungen zugrunde lege. Doppelbesteuerungsabkommen können Lenkwirkun- gen auf grenzüberschreitende Investitionen entfalten und so neben dem Steueraufkommen unter anderem Wachs- tum und Beschäftigung im Inland sowie Konzernstruktu- ren beeinflussen. Über die DBA-Politik können neben der Erzielung stabiler Steuereinnahmen weitere politi- sche Ziele wie zum Beispiel die Förderung von Investi- tionen im Ausland und im Inland verfolgt werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage der Methoden- wahl für die deutsche DBA als sehr komplex dar. Beide Methoden haben bezüglich ihrer ökonomischen und fiskalischen Auswirkungen Vor- und Nachteile. Ökonomische Auswirkung der Anrechnungsmethode: Die Anrechnungsmethode im Doppelbesteuerungsrecht entspricht dem Prinzip der Kapitalexport-Neutralität. Dies bedeutet Herstellung derselben Wettbewerbslage für alle inländischen Anleger durch identische Besteue- rung – unabhängig davon, ob sie im Ausland oder im In- land investieren. Auslandsinvestitionen werden durch die Anrechnungsmethode im Prinzip weder steuerlich begünstigt noch zusätzlich belastet oder sonst behindert. Eine Verzerrung von Standortentscheidungen kann sich häufig jedoch aufgrund von sogenannten „Anrechnungs- überhängen“ ergeben, da die Anrechnung ausländischer Steuern auf das inländische Steuerniveau der Körper- schaft- oder Einkommensteuer begrenzt ist. Die Anrech- nungsmethode erstreckt sich nicht auf die Gewerbe- steuer, da diese nur auf inländische Einkünfte erhoben wird. Darüber hinaus macht die Anrechnungsmethode ein Sitzland mit höherem Steuerniveau für multinatio- nale Unternehmen weniger attraktiv und trägt so zu einer Verzerrung von multinationalen Eigentumsstrukturen bei. Dadurch könnte Deutschland Konzernspitzen verlie- ren bzw. keine neuen anziehen. Erschwert werden könnte zudem die Nutzung von Größenvorteilen sowie der Zugang zu Lieferanten und Vertriebswegen. Diese Folgen wären negativ für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Ökonomische Auswirkung der Freistellungsme- thode: Die Freistellungsmethode wiederum entspricht dem Prinzip der Kapitalimport-Neutralität. Dies bedeu- tet Herstellung derselben Wettbewerbslage für alle In- vestoren im Anlagestaat – unabhängig davon, ob sie ihre Investitionen aus dem Ausland oder aus dem Inland vor- nehmen. Besteuert wird der Kapitalexport günstiger als die inländische Anlage, sofern der ausländische Staat ein niedrigeres Steuerniveau als das Inland hat. Eine Anla- geentscheidung ist neben wirtschaftlichen auch durch steuerliche Faktoren am Anlageort motiviert, das heißt gegebenenfalls durch Steuergefälle und Steuerwettbe- werb verzerrt und ökonomisch weniger effizient. Im Ge- winnfall profitiert das Unternehmen von einer niedrigen Steuerbelastung im Ausland, was Standortentscheidun- gen erheblich verzerren kann. Im Bereich der Einkom- mensteuer wird diese Wirkung gemindert. Dieser wird in deutschen DBA regelmäßig in Verbindung mit der Frei- stellung vereinbart. Der ökonomische Effekt der Methodenwahl hängt stark vom Steuergefälle zwischen den beiden DBA-Staa- ten ab. Je niedriger der Unterschied zwischen den Steu- ersätzen ist, desto weniger fallen Vor- und Nachteile der Methoden zur Vermeidung der Doppelbesteuerung ins Gewicht: Bei Freistellung ist eine Verlagerung allein aus steuerlichen Gründen unattraktiv, und umgekehrt Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16269 (A) (C) (B) (D) beschwert die Anrechnungsmethode die heimische Wirt- schaft weniger durch den höheren inländischen Steuer- satz auf alle Gewinne. Die Unternehmensteuerreform mit der Absenkung des Körperschaftsteuersatzes auf 15 Prozent hat daher die Bedeutung der Methodenwahl reduziert; dies gilt aber nur, solange andere Staaten ihre Steuern nicht weiter senken. Die Europäische Union ist daher aufgefordert, eine gleichmäßige Besteuerung si- cherzustellen. Fiskalische Auswirkungen der Anrechnungsme- thode: Hervorheben möchte ich auch die Anfälligkeit der Anrechnungsmethode für Steuergestaltungen, die zum Beispiel zunächst den Abzug ausländischer Verluste zur Senkung der inländischen Steuerbelastung ausnutzen und ausländische Gewinne der inländischen Besteuerung entziehen, indem sie zum Beispiel durch einen vom in- ländischen Steuerpflichtigen verschiedenen ausländi- schen Rechtsträger erzielt werden. So sehen sich auch Staaten, die traditionell die Anrechnungsmethode ver- wenden, in massivem Umfang mit steuerminimierenden Gestaltungen konfrontiert. In den USA gibt es bereits Vorschläge, partiell von der Anrechnungsmethode zur Freistellungsmethode überzugehen. Fiskalische Auswirkungen der Freistellungsmethode: Die Freistellungsmethode erlaubt dem Steuerpflichtigen, von niedrigen ausländischen Steuersätzen zu profitieren. Damit wird sie anfällig für den internationalen Steuer- wettbewerb und bietet Anreize zur künstlichen Verlage- rung inländischer positiver Einkünfte in niedriger be- steuernde DBA-Staaten. Für die Freistellungsmethode spricht, dass nach derzeitiger deutscher Rechtsauffas- sung Finanzierungskosten und Verluste im Zusammen- hang mit einer ausländischen Betriebsstätte nicht abzugsfähig sind. Beachtet werden muss aber, dass die erforderliche Aufwandsaufteilung gestaltungsanfällig ist. Außerdem wird die Nichtberücksichtigung von Auf- wand erst durch grundsätzlichen Verzicht auch auf die Besteuerung von Gewinnen erreicht. Zudem wird dies EG-rechtlich angegriffen. Nach dem EuGH-Urteil vom 31. Dezember 2005 müssen auch Verluste ausländischer Tochtergesellschaften grenzüberschreitend im Sitzstaat der Muttergesellschaft berücksichtigt werden, obwohl die Gewinne der ausländischen Tochtergesellschaft dort – mangels unbeschränkter Steuerpflicht – nicht besteuert werden können. Die Frage der Übertragbarkeit dieser Rechtsprechung auf Deutschland, wo eine solche Verlust- berücksichtigung nicht generell zulässig ist, und auf Ver- luste ausländischer Betriebsstätten trotz Anwendung der Freistellungsmethode aufgrund eines DBA ist Gegenstand eines weiteren EuGH-Verfahrens, RS C-414/06-„Lidl“. Sollte der EuGH entscheiden, dass ausländische Be- triebsstättenverluste trotz Geltung der Freistellungsme- thode nach einem DBA im Inland zu berücksichtigen sind, wäre die symmetrische Freistellung von Gewinnen und Verlusten nicht mehr möglich. In diesem Fall käme es zu einer Kombination der fiskalischen Nachteile der Freistellungsmethode – Nichtbesteuerung ausländischer Betriebsstättengewinne – mit den Nachteilen der An- rechnungsmethode – Berücksichtigung ausländischer Betriebsstättenverluste. Fazit: Beim aktuellen Stand der Steuergestaltungs- techniken sind daher beide Methoden in hohem Maß ge- staltungs- und missbrauchsanfällig und erfordern jeweils eine Abwehrgesetzgebung. Zum gegenwärtigen Zeit- punkt lässt sich nicht beurteilen, wie die Unternehmen auf die Unternehmensteuerreform 2008 reagieren wer- den. Die finanziellen Folgen aus einer eventuell breite- ren Anwendung der Anrechnungsmethode sind daher nicht abschätzbar. Auch das Urteil des EuGH sollte bei einer Entscheidung berücksichtigt werden. Wir plädieren daher dafür, den Antrag an den Finanzausschuss zu über- weisen und alle Aspekte beider Methoden intensiv zu diskutieren. Ein solcher Methodenwechsel ist so auf- wändig und riskant, dass wir sicher sein sollten, alle As- pekte bedacht zu haben. Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Die mit dem Antrag verfolgte Idee ist ein verständlicher Reflex auf die Ermittlungen der Steuerfahnder der Staatsanwalt- schaft Bochum gegen zahlreiche Personen wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung. Enorme Vermögens- werte sollen nach Liechtenstein verschoben worden sein, um die daraus zufließenden Einkünfte dem Zugriff des deutschen Fiskus zu entziehen. Ich gehe davon aus, dass die bisherigen Erkenntnisse lediglich die Spitze des Eis- bergs sind. Dieser Skandal ist nur Teil eines umfassenderen Phä- nomens, das wir seit einiger Zeit beobachten und ener- gisch bekämpfen. Denn nicht nur vermögende Privatper- sonen, sondern auch international operierende Konzerne betreiben eine massive Steuerverlagerung ins Ausland – zum Schaden des ehrlichen Steuerzahlers und auf Kos- ten der Handlungsfähigkeit des Staats. Deshalb brauchen wir einen umfassenderen Ansatz in der Steuerpolitik, wahrscheinlich weniger auf der Seite der Gesetzgebung, der Legislative, als vielmehr im Bereich des Vollzugs, der Exekutive. Die unterschiedlichen Formen der Steuerhinterzie- hung und -gestaltung gedeihen prächtig auf einem Nähr- boden, der offensichtlich auch von zu vielen Steuerbe- trügern und ihren Helfershelfern in ausgewählten Banken und Regierungen von Steueroasen zum eigenen Vorteil bestellt wird. Begünstigt werden diese gesetzes- widrigen Tricksereien und die unseriösen Geschäfts- praktiken durch Mängel in der Finanzmarktkontrolle so- wie im Gesetzesvollzug. Diese Lücken wollen wir schließen, denn Steuerkri- minalität verbaut den Weg zu unserem Ziel einer solida- rischen Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft und unterspült deren finanzielles Fundament. Wir streben an, dass das Risiko, entdeckt zu werden, für Steuerbetrü- ger deutlich steigt. Denn ein System, das steuerehrliche Personen oder Unternehmen nicht vor Wettbewerbs- nachteilen schützen kann und betrügerischen Gestaltun- gen keinen Einhalt gebietet, hat schwerwiegende Ge- rechtigkeitsdefizite, Akzeptanzprobleme übrigens auch. Steuergerechtigkeit erfordert auch die Gleichbehand- lung aller Steuerpflichtigen und die gleichmäßige und angemessene Verteilung ihrer Finanzierungslasten. Steu- ergerechtigkeit und Steuerehrlichkeit sind zwei Seiten 16270 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 (A) (C) (B) (D) einer Medaille und spiegeln wichtige Aspekte des mora- lischen Grundkonsenses unserer Gesellschaft wider. Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen will mit seinem Vorschlag der Umstellung von der Freistel- lungs- auf die Anrechnungsmethode bei Doppelbesteue- rungsabkommen nichts Falsches. Allerdings zielt der Vorschlag auf einen viel zu kleinen Anwendungsbereich und droht schon dadurch, sein Ziel zu verfehlen. Deshalb werden wir diesem Antrag nicht zustimmen. Zu viele zentrale Sachverhalte sind nicht berücksichtigt. Bleiben wir einen Augenblick bei dieser Spezialbe- trachtung: Doppelbesteuerungsabkommen. Ich plädiere bei der Ausgestaltung der DBAs für einen Ansatz, der die sehr unterschiedliche Qualität der bilateralen Bezie- hungen berücksichtigt. Damit können wir den Unter- schieden in Art und Umfang der Wirtschaftsbeziehungen ebenso wie unseren eigenen Besteuerungsinteressen an- gemessen Rechnung tragen. Zudem ist auch die Anrechnungsmethode für Steuer- gestaltungen anfällig. Deshalb haben auch Länder mit Anrechnungsverfahren wie etwa die USA eine umfang- reiche Kontroll- und Abwehrgesetzgebung installiert, um dieses Problems Herr zu werden. Der Preis dafür ist allerdings hoch, denn damit werden die Verfahren unnö- tigerweise kompliziert. So kann das Anrechnungsverfah- ren etwa bei Dividendeneinkünften, die in tief geschach- telten Konzernstrukturen anfallen, zu sehr komplizierten und aufwendigen Besteuerungsverfahren führen. Unser Grundsatz lautet in Anlehnung an eine ironi- sche Bemerkung von Albert Einstein dagegen: Gesetze müssen so einfach sein wie möglich – aber nicht einfa- cher. In der SPD-Fraktion bzw. der SPD-Arbeitsgruppe Finanzen entwickeln wir deshalb einen Antrag zur Be- kämpfung von Steuerhinterziehung und Gewinnverlage- rung ins Ausland. Damit setzen wir unsere Strategie der Bekämpfung der Erosion unserer Steuerbasis fort. Das Vorgehen gegen Steuerbetrug bedarf starker Ver- bündeter auf nationalstaatlicher, auf europäischer und auf globaler Ebene. In den vergangenen Jahren haben wir daher gemeinsam mit den Bundesländern und im Austausch mit den anderen Mitgliedstaaten der EU wirk- same Instrumente der Strafverfolgung und Ahndung von Steuervergehen entwickelt, die den Missbrauch steuer- rechtlicher Regelungen bekämpfen. Ich sage wirksam. Allerdings gibt es hier im Vollzug doch einige Schwä- chen, die von Steuersündern radikal ausgenutzt werden. Deshalb möchte ich zunächst kurz darstellen, welche In- strumente wir in den vergangenen Jahren entwickelt und gesetzlich geregelt haben und anschließend weitere Maßnahmen vorstellen, um die Wirksamkeit und Dichte der Gesetze zu erhöhen. Mit dem Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften (SESTEG) und der Unternehmensteuerreform 2008 sind wir Steuergestaltungen, insbesondere der Gewinnverla- gerung ins Ausland, begegnet und haben zahlreiche Steuerschlupflöcher geschlossen. Ich denke etwa an die Sofortversteuerung an der Grenze oder die starke Ein- schränkung der grenzüberschreitenden Verlustverrech- nung. Das Wirkungsspektrum dieser erst kürzlich einge- führten Maßnahmen kann sich naturgemäß erst langsam entfalten. Die Weiterentwicklung unserer Strategie der Bekämpfung von Steuerbetrug bedarf einer sorgfältigen Evaluierung der vorhandenen Kapazitäten und Kompe- tenzen. Die Abgabenordnung sieht in § 370 zur Ahndung von Steuerhinterziehung Freiheitsstrafen vor, in besonders schweren Fällen sogar ein Höchststrafmaß von zehn Jah- ren. Gegen Zahlung einer Geldbuße kann zur Beschleu- nigung des Verfahrens die Einstellung der Ermittlungen erfolgen. Bei Verdacht auf schwere Fälle des Umsatz- steuerbetrugs besteht die Möglichkeit der Telefonüber- wachung. Steuerrechtlich relevante Informationen, die im Rahmen einer Betriebsprüfung erhoben werden, kön- nen nach § 193 der Abgabenordnung vom Prüfer im Wege der Kontrollmitteilung an das zuständige Finanz- amt übermittelt werden, wenn Anzeichen für Steuerbe- trug vorliegen. Mit dem Kontenabrufverfahren verfügen Finanzbe- hörden über ein Kontrollverfahren, das über den Zugriff auf Kontostammdaten die Aufdeckung unvollständiger oder nicht wahrheitsgemäßer Angaben von Steuerpflich- tigen und die Bekämpfung von Sozialleistungsmiss- brauch ermöglicht. Die Europäische Richtlinie zur Zinsbesteuerung re- gelt innerhalb der Europäischen Union sowie in der Schweiz, in Liechtenstein, San Marino, Monaco und An- dorra die einheitliche und gleichmäßige Besteuerung der Zinseinnahmen aller EU-Bürger mit EU-Wohnsitz, un- abhängig davon, wo sie dieses Zinseinkommen erwirt- schaften. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD hat Informationspflichten für Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, erarbeitet. Die Umset- zung dieses Regelwerkes für die europäischen Wertpa- piermärkte ist allerdings nicht von allen Mitgliedstaaten lückenlos und einheitlich geleistet worden. Hier gibt es noch großen (Ver)Handlungsbedarf. Das Steuerverkür- zungsbekämpfungsgesetz trat Anfang 2001 in Kraft und verbesserte die Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten der Finanzbehörden beim Umsatzsteuerbetrug. Neuge- gründete Unternehmen sind verpflichtet, ihre Umsatz- steuervoranmeldung monatlich abzugeben, um kurz- lebige Firmen zu identifizieren, die nur zum Zweck des Umsatzsteuerbetrugs gegründet wurden. Finanzbehör- den können unangemeldet eine Umsatzsteuernachschau durchführen, um sich einen objektiven Eindruck eines Unternehmens zu verschaffen. Auch im Steueränderungsgesetz 2003 und im Haus- haltsbegleitgesetz 2004 wurden die Kompetenzen der Fi- nanzverwaltung zur Umsatzsteuerbekämpfung gestärkt und Maßnahmen zur Vermeidung von Steuerausfällen ergriffen. Die beim Bundeszentralamt für Steuern einge- richtete Zentrale Datenbank zur Speicherung und Aus- wertung von Umsatzsteuerbetrugsfällen und Entwick- lung von Risikoprofilen erfasst bundesweite Betrugsfälle und ermöglicht den schnellen Informationsaustausch, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16271 (A) (C) (B) (D) was Finanzbehörden die frühzeitige Aufdeckung von Scheinunternehmen ermöglicht. Die Zentrale Koordinie- rungsstelle beim Bundeszentralamt für Steuern arbeitet mit den zuständigen Stellen der EU-Mitgliedstaaten und den Bundesländern zusammen und koordiniert die staa- ten- und länderübergreifenden Umsatzsteuersonderprü- fungen und Steuerfahndungsprüfungen. Das Verfahren zur länderumfassenden Namensabfrage ermöglicht den Online-Zugriff auf Daten des Grundinfor- mationsdienstes, die bei Vergabe einer Umsatzsteueriden- tifikationsnummer erhoben werden. Dieses Verfahren wird erweitert, indem Zugriffsmöglichkeiten ausgebaut und eine Vernetzung mit der Informationsdatenbank ZAUBER geschaffen werden. Auch im Bereich der Überprüfung von Umsatzsteuer- voranmeldungen wurden mittlerweile gute Instrumente entwickelt: Fast alle Bundesländer setzen ein sogenann- tes regelbasiertes Entscheidungssystem ein, mit dem alle eingehenden Umsatzsteuervoranmeldungen bezüglich ihres typischen Risikos hinsichtlich eines Umsatzsteuer- betrugsversuches oder einer ungerechtfertigten Erstat- tung bewertet werden. Sie sehen, dass schon sehr viel in den vergangenen Jahren geschehen ist. Zur Vermeidung und zur Bekämp- fung von Steuerbetrug muss dieser rechtliche Rahmen aber auch auf der Basis einer hinreichenden Personalaus- stattung ausgeschöpft werden. Leider haben einige Län- der, zum Beispiel Hamburg und Bayern, in den hier angesprochenen Zuständigkeitsbereichen Personal abge- baut. Die Zahl der Steuerfahnder und die personelle Ausstattung der Länderfinanzverwaltungen reichen oft nicht aus, um den effizienten Vollzug einer ordnungsge- mäßen Besteuerung zu sichern und Steuerhinterziehung aufzudecken. Das ist ein Standortwettbewerb zum Scha- den des Ganzen und falsch verstandener Föderalismus. Abschließend will ich die gegenwärtig reflektierten Eckpunkte unseres Antrags zur Bekämpfung des Steuer- betrugs skizzieren. Wir vertrauen dabei weiterhin auf die enge Zusammenarbeit mit unseren Partnern in der Euro- päischen Union und im Europäischen Wirtschaftsraum sowie in den Steuerverwaltungsbehörden der Bundeslän- der. Wir denken unter anderem an Folgendes: klare EU- weite Koordinierung der Bekämpfung von Steuerhinter- ziehung und der Austrocknung von Steueroasen, um de- ren Attraktivität für Steuerbetrüger zu verringern; wir wissen alle, dass „Austrocknung“ eine komplizierte bis fast unmögliche Angelegenheit werden kann, aber Sie wissen ja: Sisyphos war ein glücklicher Mensch; ent- schlossene Ausnutzung der Kompetenzen der Ermitt- lungs- und Strafverfolgungsbehörden, die etwa in § 370 AO angelegt sind; Verschärfung und Erweiterung der EU-Zinsrichtlinie zur Erfassung von Kapitaleinkünften; aktive Unterstützung der Arbeit der OECD gegen schäd- lichen Steuerwettbewerb; personelle Verstärkung bei Steuerfahndern, Betriebsprüfern und Staatsanwaltschaf- ten; Einrichtung einer Bundessteuerverwaltung, die ein- heitlich im ganzen Bundesgebiet und auch grenzüber- schreitend agieren kann. Unser Antrag bündelt also Maßnahmen aus vielen Bereichen, um mit einer guten Kombination aus gesetz- lichen Regelungen und effizienten Vollzugsmaßnahmen die berechtigten Interessen des Staates und aller ehrli- chen Steuerzahler – Bürgerinnen und Bürger ebenso wie Unternehmen – zu schützen. Dies ist ein ehrgeiziges Vorhaben, aber bedauerlicherweise notwendig. Denn Steuerehrlichkeit ist eine moralische Tugend, die leider nicht voller Vertrauen den guten Willen aller vorausge- setzt, sondern – wie wir gelernt haben – nur in einem sta- bilen gesetzlichen Rahmen garantiert werden kann. Dafür hoffen wir auf Ihre konstruktive Mitarbeit und Unterstützung. Carl-Ludwig Thiele (FDP): Mit dem heute von den Grünen in erster Lesung eingebrachten Antrag unter der Überschrift „Steuerverlagerung ins Ausland verhindern“ erwecken die Grünen den Eindruck, dass es eine zuneh- mende Steuerverlagerung ins Ausland gebe und diese verhindert werden müsse. In ihrem Antrag schlagen die Grünen vor, ein bislang an konkreten Einzelfällen diskutiertes Verfahren abzuschaffen und eine grund- sätzliche Änderung der Doppelbesteuerungsabkommen vorzunehmen. Zunächst ist dabei zu fragen, inwieweit es tatsächlich zutrifft, dass zunehmend eine „Steuer- verlagerung“ in das Ausland erfolgt. Im Zuge der Globa- lisierung sind viele Firmen darauf angewiesen, Teile ihrer Produktion nicht nur in Deutschland zu halten, sondern diese auch ins Ausland zu verlagern. Dieses dient gerade auch der Sicherung einheimischer Arbeits- plätze. Anders als durch einen offenen Wettbewerb, durch offene Märkte und durch die entsprechende Aus- landstätigkeit deutscher Unternehmen wäre die Wettbe- werbsfähigkeit Deutschlands im Export überhaupt nicht zu halten. Die FDP ist stolz darauf, dass Deutschland der Exportweltmeister ist. Die FDP ist schon lange der Auffassung, dass es im Zuge des internationalen Wettbewerbs – den es auch im Steuerrecht gibt – dringend notwendig ist, das deutsche Steuerrecht grundlegend zu vereinfachen und wettbe- werbsfähiger zu gestalten. Wir brauchen eine grundsätz- liche Steuerreform, die unser Steuerrecht einfacher und gerechter gestaltet und für niedrige Steuersätze sorgt. An dieser Stelle unterscheidet sich die FDP ganz fundamen- tal von allen anderen Fraktionen im Deutschen Bundes- tag. Die FDP will die dringend notwendige völlige Neu- ordnung und Neujustierung des Steuersystems in Deutschland angehen. Die anderen Parteien dagegen möchten gerne das derzeitige System beibehalten und fortentwickeln. Dies ist jedoch der falsche Ansatz. Wer sich vor Augen führt, wie komplex und kompliziert un- ser Steuerrecht durch den Gesetzgeber durch jährliche Veränderungen des Steuerrechtes in enormer Größenord- nung geworden ist, der muss feststellen, dass in Deutsch- land inzwischen ein schier undurchdringliches Dickicht an Rechtsvorschriften entstanden ist. Dieses wird nur noch übertroffen durch die Arbeit des Verordnungsge- bers, der stets noch zusätzlich auf die Auswüchse des Gesetzgebers draufsattelt. Es reicht daher nicht aus, die- ses Dickicht an der einen oder anderen Stelle mit der Nagelschere zu beschneiden, um so einen Weg für ein 16272 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 (A) (C) (B) (D) einfacheres Steuerrecht freizumachen. Man muss viel- mehr mit der Machete ansetzen, um wirklich in der Lage zu sein, neue Wege aus dem Dickicht hinaus zu finden. Dem Finanzausschuss des Deutschen Bundestages liegt ein aktueller Bericht des Bundesministeriums der Finanzen von Mitte März vor, in dem die aktuellen Aspekte der deutschen Politik im Bereich der Abkom- men zur Vermeidung der Doppelbesteuerung ausgeführt sind. Diese Unterrichtung enthält neben der Darstellung aktueller Herausforderungen an die deutsche Doppel- besteuerungspolitik detaillierte Ausführungen bezüglich der Wahl der Methode zur Vermeidung der Doppel- besteuerung. Dieser Bericht sollte zunächst im Finanz- ausschuss diskutiert werden bevor in abschließender Lesung der Antrag der Grünen beraten wird. Es ist hier darauf hinzuweisen, dass die Parteitags- beschlüsse der Grünen darauf angelegt sind, Mehr- einnahmen in der Höhe von 60 Milliarden Euro pro Jahr vorzusehen. Deshalb ist die komplette Steuerpolitik der Grünen darauf angelegt, zu Mehreinnahmen in zigfacher Milliardenhöhe zulasten der Steuerzahler kommen zu müssen. Anders lässt sich dieses Ausgabenprogramm der Grünen überhaupt nicht finanzieren. Insofern drängt sich bei diesem Antrag der Verdacht auf, dass die Grünen auch mit diesem Antrag die Steuern erhöhen wollen, um ihre Forderungen überhaupt finanzieren zu können. Sämtliche Steuerpflichtige sollen vor diesem Hintergrund mit sämtlichen Steuereinkünften bei deut- lich höheren Steuersätzen in Deutschland einer höheren steuerlichen Belastung ausgesetzt sein, unabhängig da- von, wo diese Einkünfte erzielt werden. Das ist der tra- gende Teil des Antrages der Grünen. Dieses ist der Grunddissens, der seitens der FDP mit den Grünen besteht. Die FDP möchte einen leistungsfä- higen Staat, der sich auf die Kernaufgaben beschränkt. Deshalb schlagen wir in jeder Haushaltsdebatte entspre- chende Einsparungsvorschläge im Bundeshaushalt vor. Die Grünen haben diesen Sparvorschlägen der FDP noch nie zugestimmt. Sie benötigen mehr Staatseinnahmen, um viele zusätzliche Ausgabenwünsche zu erfüllen. Auch auf Basis dieser unterschiedlichen konzeptionellen Ansätze würde die FDP es begrüßen, wenn auch die an- deren Fraktionen endlich die Vereinfachung des deut- schen Steuerrechtes mit breiter Bemessungsgrundlage und niedrigeren Steuersätzen beschließen könnten. So- lange dies aber nicht der Fall ist, ist die FDP der Auffas- sung, dass der Antrag der Grünen viel zu pauschal und zu wenig differenziert ist. Die FDP-Bundestagsfrak- tion lehnt den vorgelegten Antrag daher ab. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Der Vorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Verhinderung der Steuerverlagerung ins Ausland ist im Prinzip sinnvoll. Die Fraktion Die Linke hatte bereits im Mai des vergan- genen Jahres die Forderung nach der Umstellung auf das Anrechnungsverfahren im Rahmen des Antrags „Unter- nehmen leistungsgerecht besteuern – Einnahmen der öf- fentlichen Hand stärken“ – Drucksache 16/5249 – erho- ben. Laut Bundesfinanzministerium wendet Deutschland nach wie vor grundsätzlich bei Doppelbesteuerungsab- kommen die Freistellungsmethode mit Progressionsvor- behalt an. Nur bei Zinsen von ausländischen Schuldne- rinnen und Schuldnern, Lizenzgebühren ausländischer Lizenznehmerinnen und -nehmer und Dividenden aus- ländischer Kapitalgesellschaften findet im Regelfall die Anrechnung der ausländischen Steuer auf die deutsche Steuer statt. Ein aktuelles Beispiel für eine solche Aus- gestaltung ist das zum 1. Januar 2008 in Kraft getretene Doppelbesteuerungsabkommen zwischen der Bundesre- publik Deutschland und Georgien. Die Freistellungsmethode schafft Anreize zur Steuer- vermeidung durch die Verschiebung von Gewinnen und Vermögen in Länder mit niedrigerer Besteuerung. Denn bei deren Anwendung wird häufig das Besteuerungs- recht dem ausländischen Staat überlassen: So finden sich beispielsweise im Abkommen mit der Volksrepublik China entsprechende Überlassungsregelungen. Dabei verzichtet der hiesige Fiskus, zur Vermeidung der Dop- pelbesteuerung bei im Ausland erzielten Einkünften von in Deutschland Ansässigen auf eine adäquate Erfassung der steuerlichen Bemessungsgrundlage. Der Progres- sionsvorbehalt, also die Berücksichtigung der ausländi- schen Einkünfte bei der Bestimmung des Steuersatzes, kann diese faktischen Steuerbefreiungen nicht kompen- sieren: Würden ausländische wie inländische Einkünfte gleich behandelt, ergäbe sich derselbe durchschnittliche Steuersatz auf ein durch die Auslandseinkünfte erhöhtes zu versteuerndes Einkommen. Gerade Besserverdienende und Vermögende haben und nutzen diese Möglichkeiten zur Vermeidung von Steuern. Die konsequente Anwendung der Anrechnungs- methode könnte dagegen garantieren, dass Einkünfte von Inländerinnen und Inländern steuerlich gleich be- handelt werden, unabhängig vom Ort der Entstehung dieser Einkünfte. So müsste beispielsweise bei einer Ka- pitalanlage in einem Land mit niedrigerer Besteuerung der Kapitalerträge als in Deutschland, der sich ergebende Differenzbetrag hierzulande nachgezahlt werden. Die Umstellung in der Ausgestaltung der Doppelbesteue- rungsabkommen auf die Anrechnungsmethode bietet so- mit eine Chance auf mehr Steuergerechtigkeit. Für eine wirksame Verhinderung von legaler, aber auch von illegaler internationaler Steuerverlagerung greift der Vorschlag der Grünen zu kurz. Insbesondere fehlt jeglicher Hinweis darauf, dass für eine wirksame Besteuerung auf im Ausland erzielte Einkünfte das ent- sprechende Wissen über diese bei den Finanzämtern vor- liegen muss. Wie der aktuelle Steuerhinterziehungsskan- dal um Herrn Zumwinkel und Konsorten zeigt, ist der internationale Informationsaustausch über Kapitalein- künfte äußerst lückenhaft. Für einen besseren internatio- nalen Informationsaustausch wären flankierende Maß- nahmen notwendig, wie beispielsweise die Ergreifung von Maßnahmen gegenüber Staaten, die bezüglich des Informationsaustausches über die Kapitalerträge von Steuerpflichtigen nicht kooperieren, die Stärkung der Durchsetzungsfähigkeit der Finanzbehörden, insbe- sondere deren personelle Aufstockung und Neuverhand- lungen innerhalb der EU, mit der Zielsetzung einer Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16273 (A) (C) (B) (D) Ausweitung der EU-Zinsrichtlinie auf weitere Kapital- ertragsarten, wie beispielsweise Dividenden. Insgesamt kann die Umstellung der Doppelbesteue- rungsabkommen von der Freistellungsmethode auf die Anrechnungsmethode nur ein Baustein im Rahmen eines Maßnahmenbündels zur Bekämpfung der Steuerverlage- rung darstellen. Ohne ergänzende Maßnahmen würde die Einführung dieser Methode lediglich zu einer Ver- schiebung von legaler zu illegaler Steuerverlagerung führen. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kaum ein anderes Thema hat die Menschen in den ver- gangenen Wochen so bewegt wie der Skandal um die nach Liechtenstein verschobenen Millionen von Zumwinkel & Co. Die Aufregung war deswegen so groß, weil es hier um die Frage geht, wie sich gutverdienende Menschen an der Finanzierung des Gemeinwohls beteili- gen und mit welcher Kaltschnäuzigkeit sie dies immer wieder verweigern. Keine Gestaltung scheint zu kompli- ziert, wenn es darum geht, dem Fiskus ein Schnippchen zu schlagen und ihre Einkommensmillionen von der Steuer unbehelligt in ausländische Stiftungen einzubrin- gen. Die Erträge daraus müssten im Wohnsitzland ver- steuert werden, was aber häufig nicht passiert. Staaten regeln normalerweise den steuerlichen Um- gang mit Einkommen, die ihre Bürger und Bürgerinnen in einem anderen Land erzielen, mit sogenannten Dop- pelbesteuerungsabkommen, DBA. Sinn und Zweck die- ser Vereinbarungen: Die Leute sollen nicht zweimal Steuern auf das gleiche Einkommen zahlen. Mit einer Vielzahl von Staaten weltweit unterhält die Bundesrepu- blik solche Abkommen, nicht aber mit Steuer- und Re- gulierungsoasen wie Liechtenstein und anderen. Noch nicht einmal an diesem Mindestmaß an internationaler Kooperation beteiligt sich das alpenländische Fürsten- tum. Schief an der Debatte um die Steuerhinterziehung per liechtensteinischer Stiftung ist: Die Bundesregierung könnte selbst viel mehr gegen Steuerverlagerung ins Ausland tun, als das gegenwärtig der Fall ist. Finanz- minister Steinbrück und andere sind schnell dabei, wenn es darum geht, auf die Hinterziehungspraxis zu schimp- fen und an die Steuermoral zu appellieren. Sie vergessen dabei, dass die Bundesregierung es an verschiedenen Stellen selbst in der Hand hat, für mehr Steuergerechtig- keit zu sorgen. Eine zentrale Stellschraube dabei sind die Doppelbesteuerungsabkommen. Sie folgen üblicher- weise dem Musterabkommen der OECD. Darin festge- schrieben sind im Grundsatz zwei zentrale Verfahren: Die Anrechnungs- und die Freistellungsmethode. Letz- tere öffnet einer faktischen Nullbesteuerung Tür und Tor. Denn diese Methode besagt, dass im Ausland bereits versteuertes Einkommen in Deutschland nicht erneut be- steuert werden darf. Als „versteuert“ gilt dabei aber auch Einkommen, das im Ausland einem Nullsatz unterliegt. Bestes Beispiel dafür: Das Doppelbesteuerungsabkom- men mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, VAE, das im Sommer 2006 von der Bundesregierung entgegen an- derslautender Versprechungen um zwei Jahre verlängert wurde. Der Wüstenstaat erhebt auf viele Einkommens- arten gar keine Steuer; dennoch gilt das Einkommen in Deutschland dann als versteuert. Weil die Freistellungs- methode angewendet wird, geht der deutsche Fiskus leer aus. Wir sind gespannt, was die Bundesregierung von der Neuverhandlung mit den VAE berichtet und ob sie die Anrechnungsmethode in das neue DBA festschrei- ben konnte. Wir sind dafür, dass sich Deutschland an die Muster- abkommen der OECD hält, weil wir eine möglichst ein- heitliche Abkommensstruktur wollen. Wir fordern aber, dass die Bundesregierung in allen Abkommen zur An- rechnungsmethode wechselt und, wenn notwenig, beste- hende Abkommen neu verhandelt. Nur dann sind nach dem Welteinkommensprinzip alle im Ausland erzielten Einkommen auch in Deutschland voll steuerpflichtig. Eine eventuell im Ausland bereits gezahlte Steuer wird bei dieser Methode angerechnet, eine Doppelbesteue- rung also vermieden. Dieses Verfahren soll nicht nur für Einkommen, sondern auch für Schenkungen und Erb- schaften gelten. Besteht bereits in einem DBA die Option zum Wechsel von der Freistellungs- zur Anrech- nungsmethode, dann soll diese Möglichkeit auch umge- hend genutzt werden. Die bisherige Präferenz Deutsch- lands für die Freistellungsmethode stammt aus einer Zeit, als es Ziel deutscher Politik war, den deutschen Un- ternehmen den Weg ins Ausland zu ebnen und den ärme- ren Ländern das Instrument der steuerlichen Förderung ausländischer Investitionen zu ermöglichen. Heute, vor dem Hintergrund vor allem zahlreicher Steueroasen, die dieses Instrument massiv zur Förderung von Steuer- flucht missbrauchen, muss die bisherige Sichtweise kor- rigiert werden. Wir sind neugierig, ob SPD und Union in den parlamentarischen Verhandlungen ihren Worten Ta- ten folgen lassen und mit uns gemeinsam für mehr Steu- ergerechtigkeit in Deutschland sorgen wollen. Unser An- trag bietet die Gelegenheit dazu. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu den Anträgen: – Breitbandversorgung in ländlichen Räumen schnell verbessern – Datenbasis für flächendeckende Versorgung mit breitbandigem Internetzugang schaffen – Schnelles Internet für alle – Unternehmen zum Breitbandanschluss gesetzlich ver- pflichten – Den Ausbau der Breitbandinfrastruktur flä- chendeckend voranbringen (Tagesordnungspunkt 18) Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU): Schnelle Zu- gangsmöglichkeiten zum Internet sind für die wirtschaft- liche und gesellschaftliche Entwicklung unseres Landes von grundlegender Bedeutung. Eine leistungsfähige 16274 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 (A) (C) (B) (D) Breitbandinfrastruktur ist eine wesentliche Vorausset- zung für Wachstum, Innovation und Arbeitsplätze. Im- mer mehr Geschäftsmodelle, Dienste und Anwendungen können nur mit einem schnellen Zugang zum Netz ge- nutzt werden. Wertschöpfungs- und Kommunikations- prozesse in Unternehmen, Verwaltungen und im gesell- schaftlichen Leben werden immer stärker über schnelle Datenleitungen abgewickelt. Zentrales Ziel ist es deshalb, möglichst schnell flä- chendeckenden Breitbandzugang in Deutschland zu er- reichen. Diese Zielsetzung ist nicht nur für die Stärkung des Wirtschaftsstandortes Deutschland von entscheiden- der Bedeutung. Sie ist auch eine zwingende Vorausset- zung dafür, die Chancengleichheit der Bürgerinnen und Bürger zu wahren. Alle Bürgerinnen und Bürger müssen in Deutschland an den Chancen der Informationsgesell- schaft teilhaben können. Der Breitbandmarkt in Deutschland ist in den vergan- genen zwei Jahren sehr stark gewachsen. Wir haben in Deutschland derzeit circa 20 Millionen Breitbandan- schlüsse. Allerdings gibt es erhebliche Versorgungsun- terschiede zwischen Ballungszentren und ländlichen Räumen. Viele Kommunen in der Fläche sind von den Möglichkeiten der Breitbandnutzung immer noch ausge- schlossen. Sie gehören zu den sogenannten weißen Fle- cken, in denen – sieht man einmal von Satellitenverbin- dungen ab – nach wie vor kein Zugang zum Breitband möglich ist. Dies ist auch deshalb paradox, weil breit- bandiges Internet besonders geeignet ist, gerade ländli- chen Räumen einen erheblichen Wachstumsimpuls zu vermitteln. Nach wie vor sind rund 2 000 Kommunen in Deutschland schlecht oder unzureichend mit Breitband versorgt. Die Gründe für den fehlenden Breitbandanschluss sind vielfältig. In vielen Kommunen im ländlichen Raum ist die Entfernung zum nächsten bestehenden DSL-Hauptverteiler zu groß. Aufgrund geringer Bevöl- kerungsdichte ist meist aus Sicht der Telekommunika- tionsunternehmen die Zahl potenzieller Nachfrager zu gering, als dass sich die notwendigen Investitionen für die Breitbanderschließung für drahtgebundene Übertra- gungswege – DSL, Kabel – derzeit betriebswirtschaft- lich lohnen würden. Deshalb müssen wir auch bereit sein, die bisherigen Maßnahmen zu verstärken und auch neue Wege zu be- schreiten, um möglichst schnell flächendeckendes Breit- band zu ermöglichen. Aus unserer Sicht hängen weitere Fortschritte bei der Flächenabdeckung vor allem von ei- ner Steigerung des intermodalen Wettbewerbs in Deutschland ab. Eine Stärkung des Wettbewerbs bleibt unser Leitprinzip. Es gibt aber Kommunen, in denen un- ter anderem aufgrund dünner Besiedlung eine Breit- bandanbindung im wettbewerblichen Umfeld auch auf absehbare Zeit nicht möglich ist. In diesen Fällen muss zusätzlich die Verwendung staatlicher Fördermittel in Betracht gezogen werden. Der klare Vorrang für wettbewerbliche Lösungen muss ergänzt werden durch eine flexible und effiziente Frequenzpolitik. Frequenzen sind eine der wichtigsten Ressourcen in der Informationsgesellschaft. Eine ineffi- ziente Nutzung von Frequenzen muss unbedingt vermie- den werden, da diese Frequenzen sonst nicht für neue Funktechnologien und innovative Anwendungen genutzt werden können. Eine effiziente Nutzung der Frequenzen birgt dagegen große Chancen, auch dünn besiedelte ländliche Regionen ohne aufwendige Leitungsverlegung über Funk an Breitbandinternet anzuschließen. Wichtig ist uns zudem eine verbesserte Markttranspa- renz und Information. Telekommunikationsmärkte sind gekennzeichnet durch schnelle Innovationszyklen und rasche technologische Weiterentwicklungen. Umso wichtiger sind eine zeitnahe Information und Markt- transparenz für Anbieter und Nutzer gleichermaßen. Hier besteht Handlungsbedarf. Bürgermeister und Ge- meinderäte können auch vor dem Hintergrund der sich schnell weiterentwickelnden Technologien oftmals nicht beurteilen, welche Technologien für eine Breitbandan- bindung ihrer Gemeinde speziell für ihre lokalen Bedürf- nisse geeignet und sinnvoll sind. Darüber hinaus fehlen ihnen oftmals notwendige Planungsparameter, um mit potenziellen Anbietern über geeignete Realisierungs- möglichkeiten zu verhandeln. Zudem wird DSL in Deutschland immer noch zu häufig als Synonym für Breitband gesehen. Dies verstellt den Blick auf die Chancen anderer Zugangstechnologien insbesondere in der Fläche. Hier bedarf es einer umfassenden Informa- tionskampagne in Deutschland. Die für die Versorgung der Gemeinden notwendige Technologie- und Imple- mentierungsberatung müssen zentral organisiert sein. Was die Markttransparenz anbetrifft, so ist der Breit- bandatlas der Bundesregierung ein richtiges Instrument. Er kann jedoch nur zu größerer Markttransparenz beitra- gen, wenn er geografisch in höherer Präzision dargestellt wird. Konkret fordern wir die Bundesregierung auf, für die notwendige Erschließung der „Weißen Flecken“ in Deutschland im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie eine „Task Force“ einzurichten, die schnellst- möglich für jede der rund 700 bislang vollkommen unerschlossenen Gemeinden sowie die 1 400 schlecht an- gebundenen Gemeinden in Deutschland aktive Hilfestel- lung bei der Informationsbeschaffung und -aufbereitung, der Bewertung ökonomischer Alternativen und bei der Auswahl der geeigneten Technologie bieten kann; eine Internetplattform einzurichten, auf der Beispiele erfolg- reicher Kommunen gebündelt dargestellt werden, um den Erfahrungsaustausch über unterschiedliche Lö- sungsmodelle zu erleichtern und transparenter zu ma- chen und das Bewusstsein für lokale Lösungsmöglich- keiten bzw. gegebenenfalls für einen Technologiemix zu steigern; die Markttransparenz für Anbieter und Nutzer zu erhöhen und den Breitbandatlas geografisch in höhe- rer Präzision darzustellen; dabei vorrangig für die nicht vollständig angeschlossenen Gemeinden eine detaillierte Darstellung der tatsächlichen Versorgung und Versor- gungsmöglichkeiten zu erarbeiten; stärker als bisher auf die schnelle Vergabe und effiziente Nutzung von Funk- frequenzen hinzuwirken und hierbei dem Aspekt der Flächenabdeckung in Form von Versorgungsauflagen für die Fläche seitens der Frequenzinhaber so weit wie mög- lich Rechnung zu tragen; den Gemeinden, in denen dau- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16275 (A) (C) (B) (D) erhaft nicht mit einer Breitbandversorgung im wettbe- werblichen Umfeld zu rechnen ist, Unterstützung bei der Inanspruchnahme öffentlicher Fördermittel – EU-Struk- tur-/Regionalfonds, Beihilfen – in Form von Informatio- nen und Hilfestellungen anzubieten. Wir sind überzeugt, dass mit der Umsetzung dieser Forderungen den heutigen „Weißen Flecken“ schnell ge- holfen werden kann – für flächendeckendes Breitband in Deutschland. Dr. Hans-Heinrich Jordan (CDU/CSU): Unbestrit- ten ist der ländliche Raum ein Herzstück unseres wirt- schaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Lebens. Ungefähr 65 Prozent unserer Bevölkerung leben außer- halb von Ballungsräumen. Mehr als 75 Prozent aller Ge- meinden in Deutschland haben weniger als 5 000 Ein- wohner. Von 3,5 Millionen Wirtschaftsbetrieben, davon circa 400 000 landwirtschaftliche Betriebe, befindet sich die Mehrzahl in kleinen Gemeinden und Mittelstädten. Trotz der besonderen Bedeutung besteht jedoch eine Vielzahl von Nachteilen, deren Auswirkungen auf die- sen Raum es zu kompensieren gilt. Die Stärkung der Zukunftschancen auch in ländlichen Räumen bedingt zu- allererst auch den Aus- und Aufbau moderner Infrastruk- turen. Ein bedeutender Teil davon stellt die Schaffung moderner Kommunikationstechnologien dar. Die Wei- chen müssen heute gestellt werden. Ich bin froh, dass alle Fraktionen dem Grunde nach dies genauso sehen. Die Breitbandversorgung als ein Schlüssel für die Zu- kunft ist in den ländlichen Regionen bisher noch völlig unzureichend entwickelt. Die Ursachen dafür sind struk- tureller Art. Deshalb besteht die Verpflichtung, zur Wah- rung der Wettbewerbschancen finanzielle Ausgleichs- leistungen zu erbringen. Der vorliegende Antrag der Regierungskoalition eröffnet Hilfeleistungen und unter- stützt den Wettbewerb zwischen verschiedenen Anbie- tern und Technologien. Internationale Studien belegen: Diejenigen Länder, in denen ein Wettbewerb zwischen verschiedenen Breitbandzugangstechnologien besteht, sind gleichzeitig am erfolgreichsten bei der Flächenab- deckung. Die unterschiedlichen Technologien sind dabei nicht als alternativ, sondern als zueinander gleichwertig zu betrachten. Angesichts der rasanten technologischen Entwicklung in der Vergangenheit wäre es fatal, hier nur eine Breitbandtechnologie zu favorisieren. Ob DSL, Ka- bel, SAT, UMTS, EDGE, WiMAX, HSDPA, LTE oder Funk-DSL – die Verfügbarkeit und die Bandbreiten die- ser Technologien sind in den letzten Jahren enorm ge- stiegen bzw. werden steigen. Soll der Markt entscheiden, welche der Technologien sich etablieren und durchset- zen werden. Ein großes Anliegen dieses Antrages ist es, die Ge- meinden im ländlichen Raum in die Lage zu versetzen, sich eine eigene Breitbandlösung zu schaffen. Die sich daraus ergebenden Aufgaben müssen von allen Akteuren schnell, unbürokratisch und lebensnah angepackt wer- den. In meinem Wahlkreis gibt es bereits einige Gemein- den, die sich für eine Funk-DSL-Lösung entschieden ha- ben. Ähnliche solcher Projekte wurden jetzt durch das Bundesministerium für Wirtschaft in einem Beispiel-Ka- talog zusammengefasst. Das sind alles Projekte, die Mut machen und eine zukunftsfeste Lösung darstellen. So ein Projekt kann in wenigen Wochen umgesetzt werden – wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen. Hierbei entstehen im Übrigen auch völlig neue Chancen für den Mittelstand, denn diese Art der Breitbandversorgung kann auch von lokalen mittelständischen Unternehmen vorgenommen werden. Die Union ist deshalb entschie- den gegen eine voreilige Aufnahme von Breitband in die Universaldienste. Es sollte vielmehr ein Leistungsange- bot eines Anbieters sein. Aufgabe der Bundespolitik ist es, die dazu nötigen Rahmenbedingungen für Wahlmög- lichkeiten und Wettbewerb zu setzen. Besonders dankbar bin ich, dass erstmals im Haushalt 2008 des Bundes- ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Ver- braucherschutz (BMELV) Fördermittel bereitstehen. Das BMELV hat mit der Aufnahme der Breitbandför- derung in die Gemeinschaftsaufgabe zur „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ wichtige Im- pulse zur schnellen Verbesserung der Breitbandsituation in strukturschwachen und ländlichen Regionen gesetzt. Das schnelle Internet ist eine Voraussetzung für eine wettbewerbsfähige Wirtschaft und zum anderen ein viel- versprechendes Angebot, um der weiteren Abwanderung junger Menschen aus dem ländlichen Raum entgegenzu- wirken. Breitbandangebote als Standortfaktor erhöhen die Attraktivität des ländlichen Raums und stärken des- sen Zukunftsfähigkeit. Martin Dörmann (SPD): In Deutschland können wir uns über einen besonders dynamischen Breitbandmarkt freuen. Gerade im letzten Jahr sind 5 Millionen neue Breitbandanschlüsse hinzugekommen, insgesamt sind es nun fast 20 Millionen. Damit liegen wir an der Spitze Europas. Ein funktionierender Wettbewerb hat zu äu- ßerst verbraucherfreundlichen Preisen geführt. Und auch die Qualität der Anschlüsse ist im europäischen Ver- gleich hervorragend. Diese überaus positive Bilanz wird jedoch dadurch getrübt, dass noch nicht alle Regionen über ein adäqua- tes Angebot für breitbandige Internetanschlüsse verfü- gen. Einige Gemeinden in eher ländlichen Räumen dro- hen abgekoppelt zu werden, sodass viele von einer „Digitalen Kluft“ sprechen. Etwa 2 000 Gemeinden sind davon betroffen. Dabei nimmt die Bedeutung des Inter- nets täglich zu. Gesellschaftliche Teilhabe der Menschen und die wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten ei- ner Kommune sind zunehmend abhängig von der Fähig- keit, ein breitbandiges Internetangebot zu nutzen. Ziel der Großen Koalition ist es, zu einer flächende- ckenden Breitbandversorgung in Deutschland zu kom- men und die weißen Flecken möglichst schnell zu schlie- ßen. Mit dem vorliegenden Antrag legen wir ein Maßnahmenbündel vor, das die Rahmenbedingungen hierfür entscheidend verbessert. Vorrangig setzen wir auf den dynamischen Wett- bewerb und die Kreativität von Unternehmen und unter- versorgten Gemeinden, passgenaue Lösungen für jede betroffene Region zu finden. Dies wollen wir durch die 16276 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 (A) (C) (B) (D) Verbesserung der Informationsgrundlagen sowie unter- stützende und koordinierende Angebote für die betroffe- nen Kommunen fördern. Der seit 2005 bestehende Breitbandatlas der Bundes- regierung soll präzisiert werden. Es soll eine Task-force gebildet werden, die weiße Flecken genau lokalisiert und konkrete Lösungsmöglichkeiten aufzeigt. Beispiele er- folgreicher Kommunen sollen gebündelt über eine Inter- netplattform dargestellt werden, um Anregungen zu ge- ben, passgenaue Lösungsmodelle zu erleichtern und das Zusammenwirken von Gemeinden und Unternehmen zu intensivieren. In den meisten Fällen hängt es entscheidend von der Initiative der Gemeindeverwaltung ab, die den eigenen Bedarf vor Ort abklären und Unternehmen aktiv anspre- chen sollte. Mit entsprechendem Engagement sind bereits heute in den allermeisten Fällen relativ schnell kreative Lösungen zu finden, wenn auch möglicherweise mit unterschiedlichen Bandbreiten. Dies belegen die bis- herigen Erfahrungen. Einige von ihnen hat die Bundes- regierung auf ihrer Homepage www.zukunft-breitband.de als „Best-Practice-Beispiele“ eingestellt. Es ist stärker als bisher ins Bewusstsein zu rücken, dass es inzwischen zahlreiche Alternativen zum DSL gibt, auch wenn diese Technik heute noch 95 Prozent der Anschlüsse in Deutschland abdeckt. Da DSL jedoch lei- tungsgebunden ist, rentiert sich für die Unternehmen ein Ausbau in dünn besiedelten Regionen oft nicht. Hier rü- cken insbesondere die modernen Funktechnologien in den Vordergrund, da über diese Breitbandanschlüsse kostengünstiger umzusetzen sind, insbesondere WLAN, WiMAX oder der UMTS-Standard HSDPA. Hinzu kom- men die Angebote der Kabelnetzbetreiber. Im Prinzip überall verfügbar ist heute bereits die Satellitentechno- logie, allerdings immer noch mit etwas höheren Kosten sowie Bandbreitennachteilen, insbesondere bei der Rückkanalfähigkeit. In vielen Fällen wird ein Mix unter- schiedlicher Technologien in Betracht kommen. Die Möglichkeiten, über Funktechnologie Breitband- anschlüsse anzubieten, soll nach Auffassung der Großen Koalition durch eine möglichst effiziente Frequenzpoli- tik unterstützt werden. Dies bedeutet beispielsweise, bei der Vergabe von neuen Frequenzen, dort wo es sinnvoll ist, Ausbauverpflichtungen hinsichtlich der nicht voll- ständig angeschlossenen Gemeinden im Vergabeverfah- ren vorzusehen. Hier hinein spielt auch die Frage, wie wir die „Digitale Dividende“ nutzen, die durch die Um- stellung des Rundfunks von der analogen auf die digitale Technik entstanden ist. Insofern müssen zunächst der Bestand und die Entwicklungsmöglichkeiten des Rund- funks gesichert sein. Soweit hierfür Frequenzbereiche nicht mehr gebraucht werden, sollten wir zügig und gründlich prüfen, inwieweit diese für den weiteren Breit- bandausbau genutzt werden können. Denn die betroffe- nen Frequenzen liegen in einem niedrigen Frequenz- bereich, der besonders kostengünstige Lösungen ermöglicht. Nach Vorstellung der Großen Koalition sollen staatli- che Fördermittel ergänzend eingesetzt werden, wo sich der Ausbau ansonsten nicht rechnen würde. Neben EU-Fördermitteln stehen hierfür bereits Mittel im Bun- deshaushalt zur Verfügung, die durch Ländermittel er- gänzt werden. So stellt die Bundesregierung seit 2008 jährlich 10 Millionen Euro im Rahmen der Gemein- schaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz“, GAK, bereit; zusätzlich ist auch eine Förderung aus den Mitteln der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der re- gionalen Wirtschaftsstruktur“, GA, möglich. Wir sind zuversichtlich, dass mit den zuvor genannten Maßnahmen und technischen Entwicklungsmöglichkei- ten die weißen Flecken in absehbarer Zeit beseitigt wer- den können. Voraussetzung ist, dass alle Akteure ihre Hausaufgaben machen und zusammenwirken, von den Gemeinden über die Länder und den Bund bis hin zu den Unternehmen. Vorsorglich setzen wir uns für den Fall, dass dies wider Erwarten nicht erreicht werden sollte, dafür ein, dass der EU-Rechtsrahmen dahin gehend ab- geändert wird, dass die Aufnahme von Breitband- internetanschlüssen als Universaldienst durch die Mit- gliedsländer grundsätzlich ermöglicht werden sollte, sofern die EU-Kommission entsprechende Vorschläge entwickelt. Angesichts der bestehenden technischen Möglichkei- ten und der Dynamik des Wettbewerbs wäre es jedoch verfrüht und unangemessen, bereits heute alleine die Einführung des Universaldienstes als Lösungsmodell an- zubieten, zumal die Umsetzung aus vielerlei Gründen kurzfristig kaum zu realisieren wäre. Von daher greift der Antrag der Fraktion Die Linke, der sich alleine hie- rauf bezieht, viel zu kurz und wäre sogar kontraproduk- tiv, weil er die schnelle Umsetzung alternativer Lösun- gen zunächst einmal behindern würde. Auch der Antrag der FDP-Fraktion ist völlig einseitig, da er lediglich auf die Verbesserung der Informationen über die weißen Fle- cken setzt. Diese ist zwar eine Voraussetzung und wird deshalb gerade auch im Antrag der Großen Koalition nachhaltig verfolgt, ist aber für sich genommen noch nicht die vollständige Lösung des Problems. Hingegen habe ich am Antrag der Grünen inhaltlich wenig auszu- setzen, da er bis auf wenige Nuancen weitgehend auf den Antragsentwurf der Großen Koalition zurückgreift, der ihnen frühzeitig vorlag. Zusammenfassend lässt sich deshalb feststellen: Mit ihrem Antrag legt die Große Koalition ein umfassendes und realistisches Maßnahmenpaket vor, um möglichst schnell zu einer flächendeckenden Breitbandabdeckung in Deutschland zu gelangen. Wir wollen die „Digitale Kluft“ überwinden und in allen Regionen die gesell- schaftliche Teilhabe der Menschen ermöglichen sowie die wirtschaftlichen Entwicklungspotenziale durch das Internet nutzen. Lassen Sie uns in einer gemeinsamen Kraftanstrengung sicherstellen, dass wir die sozialen, kulturellen und ökonomischen Chancen nachhaltig nut- zen. Deutschland soll nicht nur hinsichtlich der Quantität und Qualität von Breitbandanschlüssen, sondern auch bei der Flächenabdeckung an der Spitze Europas stehen. Manfred Zöllmer (SPD): Das Internet müssen wir als Infrastruktur unseres Landes betrachten wie unsere Straßen, die Energienetze oder Bahntrassen. Genau wie Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16277 (A) (C) (B) (D) diese Infrastruktur Anbindung ländlicher Regionen oder Metropolen bedeutet, so bedeutet der Internetzugang, genauer gesagt der breitbandige schnelle Zugang, Teil- habe für Privatpersonen oder Unternehmen. Er ist damit zentraler Standortfaktor. Der aktuelle Jahresbericht der Bundesnetzagentur für 2007 weist aus, dass die hohe Nachfrage nach Breit- bandanschlüssen weiter anhält. Die Gesamtzahl der breitbandigen Anschlüsse lag bei nahezu 20 Millionen. Allein im Jahre 2007 wurden fast 5 Millionen neue Breitbandanschlüsse geschaltet. Die Verbraucherinnen und Verbraucher benutzen das Internet mit großer Selbstverständlichkeit als Informa- tionsportal, zum Downloaden von Fotos, Filmen und Musik. Sie buchen ihre Reise darüber, ersteigern und kaufen Waren. Aber auch für die Unternehmen ist das Internet unverzichtbar geworden. In unserer auf Export ausgerichteten Wirtschaft erleichtert das Internet in nie da gewesener Weise Zugang zu Märkten und Abneh- mern. Trotz der weiten Verbreitung von Breitbandanschlüs- sen müssen wir aber feststellen, dass in Deutschland eine „digitale Kluft“ besteht. In Großstädten und Ballungs- zentren haben wir eine überwiegend gute Versorgung, hingegen sind ländliche Regionen vielfach von der Ent- wicklung abgekoppelt. Die Bundesregierung ließ einen Breitbandatlas erstellen, der ausweist, dass für etwa 97 Prozent der Haushalte die Möglichkeit besteht, einen Breitbandanschluss zu erhalten, aber vielen Regionen diese Option verwehrt ist. Wir können dabei von etwa 2 000 Gemeinden ausgehen. Dies ist eine viel zu hohe Zahl. Diese digitale Spaltung können und wollen wir nicht hinnehmen, da Chancenunterschiede beim Zugang zum Internet und anderen digitalen Informations- und Kom- munikationstechniken für die betroffenen ländlichen Räume vielfältige negative gesellschaftliche und wirt- schaftliche Auswirkungen haben. Wir haben daher im vorliegenden Antrag formuliert, welche Anstrengungen wir unternehmen müssen, um bei der Flächenabdeckung der Breitbandversorgung schnel- ler Fortschritte zu erzielen und die Breitbandinfrastruk- tur nachhaltig zu verbessern. Hierbei gibt es nicht den einen richtigen Weg oder den einen richtigen Dienst. Es ist nicht nur DSL, das uns zur Verfügung steht. Als Technikalternativen bieten sich beispielsweise Richtfunk, WiMAX, kommerzielle oder selbst verwaltete WLAN-Netzwerke, Satellit, UMTS so- wie TV-Kabelinternet an. Erwähnt sei, was unter dem Stichwort „Digitale Dividende“ zu verstehen ist: Dies ist der Gewinn an Übertragungskapazität durch den Um- stieg auf die Digitaltechnik. Diese Rundfunkfrequenzen eignen sich besonders für Funktechnologien. Sie können vergleichsweise kostengünstig für die Breitbandversor- gung ausgebaut werden. Wir glauben, dass nur eine Zusammenarbeit aller Ak- teure, also von Bund, Ländern und Kommunen, aber auch mit den Anbietern und Nutzern, eine sinnvolle Lö- sung darstellt, um die weißen Flecken der Versorgung zu füllen. Hier hat es in der Vergangenheit erhebliche Defi- zite gegeben. Alle Beteiligten müssen an einen Tisch. Nur wenn zusammengearbeitet wird, kann es entspre- chende Ergebnisse geben. Das Bundeswirtschaftsministerium wird eine Task- force einrichten, die für jede der bislang vollkommen un- erschlossenen Gemeinden und der schlecht angebunde- nen Gemeinden eine aktive Hilfestellung bei der Infor- mationsbeschaffung und -aufbereitung, der Bewertung ökonomischer Alternativen und bei der Auswahl der ge- eigneten Technologie bieten soll. Darüber hinaus wird eine Internetplattform eingerich- tet, auf der Beispiele erfolgreicher Kommunen darge- stellt werden, um den Erfahrungsaustausch zu erleich- tern. Insgesamt sind die Maßnahmen vielfältig, individuell ausgerichtet und geeignet, eine bestehende Kluft im Zu- gang zum Internet zu beseitigen. Nur eine Infrastruktur, die auch die ländlichen Räume abdeckt, ist eine gute In- frastruktur. Dies gilt bei Bahn, Energie und Straßen wie beim Internetzugang. Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Zuletzt ha- ben wir vor einigen Wochen an dieser Stelle über die massiven Nachteile, die eine unzureichende Versorgung bestimmter Gebiete in Deutschland mit breitbandigem Internetzugang hervorrufen, gesprochen. Kein Zweifel: Das Problembewusstsein ist bei den meisten inzwischen vorhanden, Unterschiede gibt es zwischen den Fraktio- nen vor allem über die Prioritäten bei der Lösung des Problems. Ich bedauere, dass sich die Koalitionsfraktionen nicht zu einer Unterstützung der Initiative der FDP haben durchringen können. Wir haben uns frühzeitig detailliert mit dem Thema „Weiße Flecken“ auseinandergesetzt und in unserem Antrag den einschlägig als höchste Prio- rität anerkannten Handlungsbedarf aufgezeigt. Denn die FDP-Bundestagsfraktion hatte im Dezember eine Exper- tenanhörung durchgeführt, bei der führende Vertreter aus Wissenschaft, Industrie und staatlicher Regulierung an- wesend waren. Sämtliche – ich wiederhole: sämtliche! – Experten waren der Auffassung, dass die Hauptursache der weißen Flecken das Fehlen einer detaillierten und belastbaren Datenbasis ist. Und eine solche Datenbasis liefert der Breitbandatlas der Bundesregierung aus dem Hause des Bundeswirtschaftsministers zweifellos nicht. Dieser ist lediglich eine mehr oder weniger interessante Übersicht über die bestehenden Infrastrukturen. Insofern kann ich auch das Lob der Koalitionsfraktionen über die- sen Atlas nicht uneingeschränkt teilen. Sie sagen es ja im Prinzip selbst: Er ist nicht präzise genug. Er schafft so- mit eben keine ausreichende Grundlage für Investitio- nen. Weder der Antrag der Koalitionsfraktionen noch der der Grünen geht auf diese zentrale Investitionsvorausset- zung explizit ein. Ihre altbekannten Forderungen heißen stattdessen: ein paar Fördersubventionen hier, ein paar Frequenzen dort, garniert mit der obrigkeitsstaatlichen Keule der „Universaldienstverpflichtung“. Natürlich 16278 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 (A) (C) (B) (D) sprechen Sie auch richtige Punkte an. Das Thema „Fle- xibilisierung des Frequenzmanagements“ bzw. „Digi- tale Dividende“ haben Sie richtigerweise auf dem Schirm, und ich bin froh, dass nicht – wie sonst üblich – reflexartig sofort Besitzstandsdebatten um den öffent- lich-rechtlichen Rundfunk aufkommen. Das wird ange- sichts der Sitzung des Beirates der Bundesnetzagentur am vergangenen Montag noch wichtiger, in der von den entsprechenden Anbietern eingeräumt wurde, dass sta- tionäre Funklösungen wie WiMAX letztendlich ökono- misch wohl nicht kostendeckend seien. Da Sie also ver- kehrte Prioritäten setzen und noch immer die Keule einer gesetzlichen Regelung schwingen, von der wir alle wis- sen, dass sie nicht zum erwünschten Ziel fuhren wird, kann die FDP Ihren Anträgen nicht zustimmen. Was wir brauchen, ist ein Produktmix, der sich an den topografischen, demografischen, ökologischen und öko- nomischen Besonderheiten der jeweiligen Regionen orientiert. Während in einem Bereich vielleicht mit dem Kabel ein Breitbandzugang geschaffen werden kann, brauchen wir in einem anderen intelligente, mobile Funklösungen. Es verbleiben unter Umständen auch ei- nige wenige Gebiete, wo nur der Satellit einen wirt- schaftlich tragfähigen Breitbandzugang schaffen kann. Welche Lösung ganz konkret wo die sinnvollste ist, diese Antwort kann nur die von uns als vordringlich er- kannte präzise Datenerhebung liefern. Deshalb appel- liere ich an Sie nochmals: Unterstützen Sie unseren An- trag und damit die Aufstellung einer belastbaren Datenbasis. Unterstützen Sie den Appell der kommuna- len Verbände mit dem VATM. Die dabei gegebenenfalls zusätzlich notwendigen Mittel sind in den zahlreichen Fördertöpfen bereits enthalten. Sie müssen nur effektiv und an den richtigen Stellen eingesetzt werden. Von technologiefixierten Förderungen und der Keule des Ge- setzgebers sollten Sie dagegen Abstand nehmen. Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Der Markt ver- sagt dabei, jedem Dorf und jedem Stadtteil einen Zugang zum schnellen Internet zu verschaffen – diese Meinung hat lange Zeit nur die Linke vertreten. Jetzt hat ein Um- denken eingesetzt, was wir als Linke begrüßen. Auch die Grünen und weite Teile von Union und SPD zweifeln in- zwischen daran, ob der Markt für das Problem fehlender Internetanschlüsse die richtige Lösung ist. In dem Antrag der Koalition heißt es: Auf dem Land ist „meist aus Sicht der Telekommunikationsunterneh- men die Zahl potentieller Nachfrager zu gering, als dass sich die notwendigen Investitionen“ lohnen würden. Und die Grünen stellen völlig richtig fest: „Entgegen der ursprünglichen Hoffnung regelt der Markt die flächende- ckende Versorgung mit Breitbandverbindungen nicht von selbst.“ Nur die FDP ist hier unbelehrbar. In der Tat haben wir ein großes Problem: Unterneh- men meiden den Netzausbau im ländlichen Raum, weil sie sich hier keinen oder zu wenig Gewinn versprechen. Dieses rein betriebswirtschaftliche Verhalten einzelner Unternehmen führt dazu, dass gegenwärtig 5 bis 6 Millionen Menschen keinen Zugang zum schnellen In- ternet haben. Was dies im Einzelfall für den Betroffenen oder die Betroffene bedeutet, habe ich in meiner letzten Rede an einem Beispiel dargelegt. Mit dem Ausbau der neuen Hochgeschwindigkeitsnetze in den großen Städ- ten wächst die digitale Kluft weiter. Ich begrüße, dass Sie erkannt haben, dass der Markt das Problem fehlender Zugänge zum schnellen Internet nicht allein regelt. Leider haben Sie bisher aus der richti- gen Erkenntnis völlig unzureichende Schlussfolgerun- gen gezogen. Die Bundesregierung sucht jetzt die Zu- sammenarbeit mit den Kommunen, sammelt Daten über die Unterversorgung einzelner Gemeinden. All das ist nicht falsch, eher selbstverständlich. Gesichert ist damit jedoch nicht, dass im nächsten Jahr tatsächlich die über- wältigende Zahl der Gemeinden, die heute keinen schnellen Zugang zum Internet haben, diesen wirklich bekommen. Das allein kann nur der Universaldienst leisten. Er schreibt vor, dass jedem Haushalt ein schneller Internet- anschluss angeboten werden muss. Er verpflichtet größere Unternehmen in ländlichen Regionen, das Tele- kommunikationsnetz auszubauen, auch wenn sie aus dem Geschäft dort nicht hohe Renditen erwarten. Jahrelang ist das Problem fehlender schneller Internet- anschlüsse bekannt. Jahrelang hat die Bundesregierung auf den Markt gesetzt und Gesprächsrunden mit der Wirtschaft geführt. All das hat zu nichts geführt. Auch die Fördermittel, die die Bundesregierung jetzt zur Ver- fügung stellt, werden das Problem nicht umfassend lö- sen. Wollen wir weiter auf den Markt vertrauen und ab- warten? Nein! Es ist jetzt schnelles und entschiedenes Handeln gefragt. Der Gesetzgeber muss jetzt und sofort einen schnellen Internetanschluss für jedermann gesetz- lich festschreiben. Nur so können wir ausschließen, dass wir in einem Jahr wieder über das Problem reden und die digitale Kluft in Deutschland weiter zunimmt. Und der Universaldienst hat einen weiteren Vorteil: Mit ihm können auch größere Unternehmen über ein Umlageverfahren dazu verpflichtet werden, Gelder für den Netzausbau im ländlichen Raum zur Verfügung zu stellen. Damit würde verhindert, dass, wie gegenwärtig, der Staat mit Millionenbeträgen die Tilgung der „weißen Flecken“ auf dem Land subventioniert, den Unterneh- men aber die Ballungszentren und großen Städte über- lässt, um dort ordentliche Gewinne zu machen. Meine Damen und Herren von der Großen Koalition, Sie haben die Wahl: Entweder Sie vertrauen weiter auf den Markt und lassen damit Millionen Menschen ohne schnellen Internetanschluss. Oder Sie nehmen den schnellen Internetanschluss in die staatlich garantierte Grundversorgung auf und sorgen damit für gleiche Le- bensbedingungen in Deutschland. Grietje Staffelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Deutsche Bundestag hat sich früher häufiger mit Südko- rea befasst, vornehmlich im Außenausschuss. Südkorea sollte uns inzwischen aber auch im Medienausschuss be- schäftigen. Denn in diesem Land haben ungefähr dop- pelt so viele Menschen wie in Deutschland einen Breit- bandanschluss zur Verfügung. Das ist erstaunlich. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16279 (A) (C) (B) (D) Glauben wir Deutschen doch gerne, wir hätten technisch die Nasenspitze ganz vorn. Dass dem nicht so ist, zeigen die nackten Zahlen. Rund 4 Millionen Haushalte und Unternehmen haben hierzulande keinen Anschluss an das schnelle Internet. Das sind 4 Millionen Haushalte ohne die Chance auf ein Fernstudium per Internet, ohne die Möglichkeit zur elektronischen Steuererklärung und ohne die Aussicht auf „Nachrichten-online“. Das ist nicht nur ungerecht, das ist unhaltbar. Was die Breitbandversorgung betrifft, sollte Südkorea Vorbild für uns sein. Wir müssen dringend tätig werden, um ein solches Netz auch in Deutschland zu schaffen. Meine Fraktion bietet dazu ein ausgefeiltes Konzept. Wir fordern im Kern drei Dinge: erstens mehr Transpa- renz, zweitens sinnvolle Transfers und drittens weniger „Telekom-Beschützerdenken“. Transparenz brauchen wir vor allem, damit sich in- vestitionswillige Unternehmen schneller und besser in- formieren können. Dazu ist eine Datenbasis nötig, die nicht nur aufnimmt, wo Breitbandanschlüsse bereits be- stehen, sondern auch, wo wer noch welche will. Ein sol- cher Breitbandbedarfsatlas beschleunigt den Ausbau, weil private Telekommunikationsanbieter schneller ein- schätzen können, ob sich die Investitionen lohnen. Das hat auch die FDP erkannt. Allerdings hat sie in der ersten Lesung hier im Parlament im Eifer des Ge- fechts übersehen, dass sowohl wir als auch die Regie- rung genauso weit gedacht haben. Allerdings auch noch weiter, liebe Kolleginnen und Kollegen der Freien De- mokraten. Denn es ist klar, dass private Telekommunika- tionsunternehmen eindeutige Interessen haben. Diese lauten: Gewinne erwirtschaften. Das ist nicht verwerf- lich, aber wie bitte soll in einem kleinen Dorf wie Wustrow in Brandenburg ein entsprechender Gewinn er- wirtschaftet werden? In dieser Milchmädchenrechnung scheinen Sie dann doch ein paar Variablen vergessen zu haben. Wir jedenfalls ziehen den Schluss: Der Markt re- gelt das Problem nicht alleine. Sonst ständen wir auch nicht vor der Situation, in der wir uns seit mehr als zehn Jahren befinden: Die Städter sind schnell und schneller im Internet unterwegs. Die Menschen auf dem Land schauen buchstäblich in die leere Röhre. Transparenz brauchen wir aber auch, damit sich Bür- gerinnen und Bürger besser über die Möglichkeiten der Eigeninitiative informieren können. Es gibt bereits För- derungen, es gibt Beispiele, bei denen Dörfer zur Schau- fel gegriffen haben. Schade nur, wenn das Rad immer wieder neu erfunden werden muss oder Gelder unge- nutzt in Fördertöpfen liegen. Wir fordern deshalb eine Informationsplattform, die für Interessierte ohne schnel- les Internet zugänglich ist. Transfer dagegen brauchen wir bei der Verwendung von Geldern. Herr Tiefensee hat in seinem Ministerium 13 Milliarden Euro für Infrastrukturmaßnahmen zu Ver- fügung. Diese Mittel müssen umgeschichtet werden. Wir fordern eine Umverteilung von der Straße auf die schnelle Datenautobahn. Dann endlich kommen die Da- ten zu den Menschen und nicht andersrum! Jetzt komme ich zu unserem dritten Punkt. Das Tele- kom-Beschützerdenken der Großen Koalition: Sie ma- chen in Ihrem Antrag Vorschläge für eine gesetzliche Verpflichtung zum Ausbau von Breitband, soweit die EU das empfiehlt. Bei der Universaldienstrichtlinie an- zusetzen, ist ja zunächst richtig, aber Sie machen einen Denkfehler. Denn wenn die geltende Universaldienstver- pflichtung einfach vom Anspruch einer Telefonleitung auf den eines schnellen Internetanschlusses ausgedehnt wird, dann geht diese Verpflichtung an die Telekom, die dafür die Kosten vom Staat erstattet bekommen würde. Das kann teuer werden! Wir Grüne dagegen setzen auf das Prinzip Wettbewerb, auch im Rahmen der Universal- dienstrichtlinie: Für unterversorgte Regionen fordern wir ein wettbewerbliches Ausschreibungsverfahren. Das Unternehmen mit dem besten Angebot bekommt den Zuschlag. So garantieren wir nicht nur niedrige Kosten, sondern auch die sinnvollste Technik für jede Region. Ausschreibungsverfahren setzen wir doch sonst in der Verwaltung für jeden Papierkorb ein, der neu angeschafft werden muss. Offensichtlich wollen Sie – liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition – wieder einmal die Mo- nopolstrukturen im Telekommunikationsmarkt stärken. Das kennen wir ja bereits vom VDSL-Ausbau der Tele- kom. Jedenfalls treibt ein solches Vorgehen die Kosten unnötig in die Höhe, und die Zeche zahlen am Ende die Verbraucherinnen und Verbraucher. Deshalb können wir dem auch nicht zustimmen. Da liefern wir einfach bes- sere Vorschläge. Die Linke dagegen setzt weder auf Transparenz noch auf Transfer, sondern glänzt mit Totalverweigerung der Realität. Erstens wissen Sie selbst, dass eine Universal- dienstverpflichtung zum jetzigen Zeitpunkt nicht mög- lich ist, ohne sich Unternehmensklagen auf EU-Ebene einzuhandeln. Zweitens wissen wir alle, dass solche Kla- gen in erster Linie Zeitverzögerung bedeuten. Drittens würde die von Ihnen vorgeschlagene Verpflichtung eine bestimmte Technik vorschreiben. Dadurch wird Geld zum Fenster rausgeschmissen, weil nicht garantiert ist, dass für die jeweiligen Regionen die beste technische Lösung gewählt wird. Diese Lehre sollten wir aber schon gezogen haben. Ganze Landstriche Ostdeutsch- lands wurden vor 15 Jahren mit ISDN-Leitungen verka- belt, mit denen wir heute nicht viel anfangen können. Für Breitband sind sie unbrauchbar. Aus diesen Fehlern sollten wir aber lernen und sie nicht wiederholen. Unsere Debatte hat verdeutlicht, dass wir uns im Ziel eigentlich einig sind. Wenn Sie dem grünen Konzept fol- gen, könnten wir die weißen Flecken wirklich zügig be- seitigen und dadurch die digitale Spaltung in Deutsch- land endlich stoppen. Um noch mal auf Südkorea zurückzukommen: Das Land weist nicht nur bei den In- ternetanschlüssen eine gute Bilanz auf, sondern hat auch bei PISA hervorragend abgeschnitten. Das gibt zu den- ken. Über einen Zusammenhang können wir nur speku- lieren. Wir können aber festhalten, dass unsere Regie- rung sich stärker dafür engagieren muss, unsere Bürgerinnen und Bürger mit der nötigen Basis für die Wissens- und Informationsgesellschaft auszustatten. Die entsprechenden Strukturen lassen noch zu wünschen üb- rig. 16280 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 (A) (C) (B) (D) Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 22. November 2004 über das Europäische Korps und die Rechtsstellung sei- nes Hauptquartiers zwischen der Französischen Republik, der Bundesrepublik Deutschland, dem Königreich Belgien, dem Königreich Spa- nien und dem Großherzogtum Luxemburg (Straßburger Vertrag) (Tagesordnungspunkt 20) Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU): Die Ratifizierung des Straßburger Vertrags ist ein weite- rer, wichtiger Meilenstein auf dem Weg der europäi- schen Integration: Der Vertrag vom 22. November 2004 über das Europäische Korps und die Rechtsstellung sei- nes Hauptquartiers zwischen der Französischen Repu- blik, der Bundesrepublik Deutschland, dem Königreich Belgien, dem Königreich Spanien und dem Großherzog- tum Luxemburg besitzt vor dem Hintergrund der europäi- schen Kriege des 19. und 20. Jahrhunderts eine histori- sche Dimension. Die Aufstellung des Eurokorps kann als das Ergebnis des am 22. Januar 1963 vom französischen Staatspräsi- denten General de Gaulle und dem deutschen Bundes- kanzler Konrad Adenauer unterzeichneten Élysée-Ver- trages betrachtet werden. In diesem Vertrag, der auf die Vertiefung der deutsch-französischen Beziehungen ab- zielte, verpflichteten sich beide Länder zur Zusammen- arbeit im Bereich der Verteidigung. Abgesehen von engeren politischen Beziehungen planten die beiden Länder ein Personalaustauschprogramm zwischen ihren Armeen und die Zusammenarbeit im Bereich der Rüs- tungsindustrie. Die Gründerväter im konkreten Sinne waren dann freilich der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl und der französische Präsident François Mitterrand am 22. Mai 1992 beim Gipfel in La Rochelle, als beide offi- ziell die Aufstellung des Eurokorps beschlossen. Bereits am 1. Juli, nur wenige Wochen später, richtete sich ein Aufstellungsstab in Straßburg ein, dessen Ziel die Auf- stellung des Eurokorps war. Diese Initiative weckte schnell das Interesse weiterer europäischer Partnerlän- der. Bereits ein Jahr später traten Belgien, 1994 Spanien und 1996 Luxemburg dem Eurokorps bei. Als Aufgaben benennt der Art. 3 des Vertrags neben Einsätzen im Rahmen der Vereinten Nationen, der West- europäischen Union, der NATO und im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Euro- päischen Union auch Einsätze, die von den fünf Ver- tragspartnern beschlossen werden können. Dabei geht es auch um „Aufgaben im Rahmen der Teilnahme an der gemeinsamen Verteidigung, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen.“ Der erste reale Einsatz des Eurokorps begann 1998: Rund 470 Angehörige des Eurokorps-Hauptquartiers verließen in vier aufeinanderfolgenden Kontingenten Straßburg in Richtung Bosnien-Herzegowina, als Ver- stärkung für das Hauptquartier der SFOR. Die Euro- korpssoldaten machten über ein Drittel der Kräfte des Hauptquartiers aus. Am 28. Januar 2000, weniger als zwei Jahre später, beschloss der NATO-Rat, dass das Hauptquartier des Eurokorps den Kern des Hauptquartiers der KFOR- Truppen im Kosovo stellen solle. Von März bis Oktober 2000 bildeten die rund 350 Soldaten des Eurokorps den Kern der Hauptquartiere in Priština und Skopje. Vor eine besondere Herausforderung wurde das Eurokorps Mitte des Jahres 2004 gestellt, als die Soldatinnen und Solda- ten die Führung der ISAF in Afghanistan übernahmen. In ihre Einsatzzeit fiel die Abhaltung der reibungslosen Wahlen im Oktober und die Einrichtung zusätzlicher Provincial Reconstruction Teams sowie die Ausweitung des Verantwortungsbereichs über Kabul hinaus. Im Jahr 2002 evaluierte die NATO die allgemeinen und die operativen Fähigkeiten des Straßburger Haupt- quartiers in mehreren Schritten. Die Übung „Common Effort“ war ein wichtiger Teil dieses Prozesses, bei des- sen Abschluss das Hauptquartier die Zertifizierung als Krisenreaktionskorps erhielt. Das Korps war mehrfach turnusgemäß mit Aufgaben der NATO Response Force betraut. Kommandierender General, stellvertretender Kom- mandierender General, Chef des Stabes und stellvertre- tender Chef des Stabes wechseln rotierend zwischen den Mitgliedstaaten. Seine Weisungen erhält der Komman- dierende General des Eurokorps vom Gemeinsamen Ko- mitee, dem die Generalstabschefs und die politischen Direktoren der Außenministerien jeder Vertragspartei angehören. Dieses Gemeinsame Komitee ist das wich- tigste Koordinierungsinstrument zwischen politischem und militärischem Bereich. Der Vertrag regelt in 46 Artikeln sehr präzise und de- tailliert eine Fülle von Fragen bis hin zu Schadens-, Steuer-, Zoll-, Haushalts- und Finanzbestimmungen. Da- mit erklärt sich möglicherweise die lange Verhandlungs- dauer bis zum Vertragsschluss. Schwerer zu verstehen ist allerdings, dass es von der Vertragsunterzeichnung am 22. November 2004 bis zur Ratifizierung heute noch ein- mal dreieinhalb Jahre dauerte. Wir haben im Eurokorps seit 15 Jahren ein Stück ge- lebte europäische Solidarität und Kooperation. Dafür sollten wir dankbar sein. Das Eurokorps hat seine Auf- gaben bisher hervorragend erfüllt. Bedauerlicherweise ist dieses wichtige Instrument der europäischen Integra- tion im Bewusstsein der Öffentlichkeit noch zu wenig verankert. Dies zu ändern, haben wir Parlamentarier mit- tels Besuchen selbst in der Hand. Den Soldatinnen und Soldaten des Eurokorps spreche ich unseren Dank und unsere Anerkennung aus und wünsche ihnen allzeit Soldatenglück! Die CDU/CSU-Fraktion stimmt dem Gesetz zu. Gerd Höfer (SPD): Heute ratifiziert der Deutsche Bundestag endlich den sogenannten Straßburger Vertrag Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16281 (A) (C) (B) (D) zur Rechtsstellung des Eurokorps mit Sitz seines Stabes in Straßburg – endlich deshalb, weil die Aufstellung die- ses Korps schon am 22. Mai 1992 vom Deutsch-Franzö- sischen Verteidigungs- und Sicherheitsrat in die Wege geleitet wurde – Bericht von La Rochelle – und die bel- gische Regierung am 25. Juni 1993, die spanische am 1. Juli 1994 und die luxemburgische am 7. Mai 1996 beigetreten sind. Erst am 22. November 2004 kam es zur Formulierung eines Vertrages über die Rechtsstellung der Soldatinnen und Soldaten des Eurokorps und dessen Institutionen. Dieser Vertrag soll nun heute mit der Vor- lage eines Gesetzentwurfes der Bundesregierung völker- rechtlich ratifiziert werden. Das ist löblich und dem ist zuzustimmen, worum ich im Namen der SPD-Fraktion bitte; der Bundesrat hat am 15. Februar 2008 bereits be- schlossen, gegen den Gesetzentwurf keine Einwendun- gen zu erheben, hat also zugestimmt. Warum dauert das eigentlich so lange und ist unendlich kompliziert? Allein die interministerielle Abstimmung in Deutschland, aber auch bei den Vertragspartnern hat gedauert. Jede betei- ligte Nation hatte und hat das Bestreben, so viel wie möglich an nationalen Rechten für ihre „Staatsbürger in Uniform“ zu bewahren und keine eigenstaatliche Souve- ränitätsrechte und -ansprüche preiszugeben. Es ist ein heikler Balanceakt, Regelungen zu finden, die sich mit Rechten und Pflichten der multinationalen Truppe ausei- nandersetzen und statusrechtliche Verfahren regeln. Ob es um die Befehls- und Kommandogewalt des Kommandierenden Generals geht, wie Dienstpflichtver- letzungen disziplinarisch und von wem geahndet wer- den, welche Steuer- und Zollbestimmungen angewendet werden können, welchen Rechtsstatus die Angehörigen des Korps und seiner Untergliederungen haben, all dies ist Paragraf für Paragraf geregelt. Wenn dann alle betei- ligten Nationen diesen Straßburger Vertrag ratifiziert ha- ben, soll er eine Dauer von zehn Jahren haben. Man könnte sich beinahe wünschen, dass ein Vertragspartner sich noch etwas Zeit nimmt, dann ist die Laufzeit länger. Schließlich soll das Korps im Auftrag der Vereinten Nationen, der Westeuropäischen Union, WEU, der NATO, der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU, aber auch durch einen gemeinsamen Beschluss der Vertragsparteien eingesetzt werden und dabei Aufga- ben der gemeinsamen Verteidigung, humanitäre und Rettungseinsätze und friedenserhaltende Aktivitäten ent- falten, aber auch Kampfeinsätze bei Krisenbewältigung oder friedensschaffende Maßnahmen bewältigen; siehe Art. 3 des Vertrages. Fakt zurzeit ist, dass das Eurokorps nachgewiesen hat, zu allen diesen Aufträgen fähig zu sein; es ist auch zertifiziert, aber bisher nie geschlossen eingesetzt wor- den. Seine nationalen Teile waren mit unterschiedlicher Dauer und Häufigkeit in den Einsatzgebieten dieser Welt, nie gemeinsam. Ausgenommen davon ist der Stab, der bisher einmal das Einsatzhauptquartier gestellt und eine Mission geführt hat. Das widerspricht eigentlich dem Gründungszweck, zeigt, wie kompliziert gemeinsa- mes Handeln im Rahmen internationaler Engagements ist. Für die Soldatinnen und Soldaten allerdings ist es Frust. Wozu übt man jahrelang gemeinsames Handeln im Rahmen von Truppenübungsplatzaufenthalten, be- kommt höchste militärische Anerkennung und die Bestä- tigung, einsatzbereit und -fähig zu sein, wenn man dann aber nicht darf? Hier zeigt sich der gute Wille, im europäischen Geist gemeinsam zu agieren, ohne allerdings verbindliche Normen europäisch zu entwickeln, die in allen Mitglied- staaten Geltung haben. Der Straßburger Vertrag zeigt, wie steinig und beschwerlich der Weg zu einer vertiefen- den Integration in Europa ist, und das nicht nur auf dem Sektor der GASP und der ESVP. Dennoch ist dies kein Grund, heute nicht zuzustim- men. Deshalb bitte ich das Haus, dem Vertrag mit großer Mehrheit beizutreten und mitzuarbeiten, beharrlich die europäische Integration zu fordern und zu fördern. Dr. Rainer Stinner (FDP): Im Jahr 1987 beschlos- sen Bundeskanzler Kohl und Staatspräsident Mitterrand eine Intensivierung der deutsch-französischen Koopera- tion im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungs- politik. Dem folgte die Aufstellung der deutsch-französi- schen Brigade und die Gründung des Eurokorps im Jahr 1992. Heute beteiligen sich Deutschland, Frankreich, Belgien, Spanien und Luxemburg am Eurokorps. Dies ist ein großer Erfolg der Aussöhnung in Europa nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Gegner in zwei Weltkriegen arbeiten nun eng und vertrauensvoll zusam- men. Auch der Stationierungsort des Eurokorps, Straßburg, ist bewusst gewählt. Die Region Elsass-Loth- ringen verdeutlicht die wechselvolle und viel zu oft krie- gerische Vergangenheit von Deutschland und Frank- reich. Das Eurokorps ist eine beeindruckende Leistung auf dem Weg der Versöhnung in Europa. Zudem ist es ein ermutigendes Zeichen für die wachsende Zusam- menarbeit im Bereich der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Durch diese strukturierte Zusammenarbeit mit euro- päischen Partnern wird das gegenseitige Verständnis für die jeweiligen militärischen Führungskulturen, Konzep- tionen, Einsatzgrundsätze und die Materialplanung ge- fördert. Dies ist ein erster Schritt zur Harmonisierung der jeweiligen Grundlagen und zur Erarbeitung von eu- ropäischen Standards. Das vorliegende Vertragswerk ist umfassend und von hohem Detaillierungsgrad. Dies er- scheint jedoch notwendig, um die unterschiedlichen militärischen Kulturen und Verwaltungsbestimmungen – soweit möglich – zusammenzuführen. Es ist besser, dies jetzt umfassend zu regeln, anstatt im Nachhinein zu streiten. Wir brauchen jedoch eine realistische Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen einer verstärkten Euro- päisierung von Streitkräften – oder gar einer europäi- schen Armee. Um schon vor der Aufstellung supranatio- naler Streitkräfte Fortschritte erzielen zu können, wird in den letzten Jahren verstärkt über ein Pooling von natio- nalen Fähigkeiten und Finanzmitteln und über eine Spe- zialisierung der Streitkräfte im Sinne einer Arbeitstei- lung nachgedacht. Durch ein solches Pooling von 16282 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 (A) (C) (B) (D) Fähigkeiten sollen bestehende Doppelstrukturen obsolet werden. Somit sollen die für Verteidigungszwecke aus- gegebenen Steuergelder weitaus effizienter eingesetzt werden. Ein Beispiel für das Pooling von Fähigkeiten ist das geplante europäische Lufttransportkommando. Beim Pooling von Finanzmitteln für die Forschung und Be- schaffung von Wehrmaterial ist mit der 2004 gegründe- ten Europäischen Verteidigungsagentur, EDA, ein – wenn auch bescheidener – erster Schritt gemacht. Es bestehen hier aus politischen und militärischen Gründen auch mittelfristig enge Grenzen. In einem weitergehen- den Schritt wird eine Spezialisierung nationaler Streit- kräfte vorgeschlagen. Durch eine solche Arbeitsteilung sollen die hohen Entwicklungs-, Beschaffungs- und Be- triebskosten minimiert werden und die Typenvielfalt der Waffensysteme stark reduziert werden. Aus rein ökonomischer Perspektive wäre eine europäi- sche Armee die Ideallösung. In einer solchen europäi- schen Armee könnte aufgrund der zu erwartenden Ska- leneffekte ein weitaus effizienterer Mitteleinsatz möglich sein. Eine solche – stark ökonomisch geprägte – Betrachtungsweise stößt jedoch sehr schnell an politi- sche und militärische Grenzen. Ein Pooling, also ein Verzicht von Fähigkeiten oder auch Teilfähigkeiten auf nationaler Ebene, führt unweigerlich zu einem Souverä- nitätsverlust. Auch nach der Verabschiedung der europäi- schen Sicherheitsstrategie bestehen in Europa jedoch er- hebliche Differenzen bezüglich des Zwecks, der Ziele und der Mittel der Sicherheitspolitik. Hinzu kommt, dass die meisten Mitgliedstaaten über den europäischen Rahmen hinausgehende, historisch be- dingte, nationale Interessen verfolgen. Insbesondere Staaten mit einer ausgeprägt kolonialen Vergangenheit haben nationale Interessen, die nicht immer mit den eu- ropäischen Interessen kongruent sind. Diese Interessen können jedoch nur dann gewahrt werden, wenn diese Staaten Streitkräfte zur Verfügung haben, die weitge- hend autonom, also ohne Beiträge europäischer Partner, als geschlossenes Gesamtsystem handlungsfähig sind. Deutschland strebt eine solche Autonomie nur bei der Rettung und Evakuierung von Staatsbürgern an. In allen anderen Fällen wird von einem multinationalen Kräf- teansatz ausgegangen. Da die meisten Partner diese Grundannahme nicht teilen, kommt es nur sehr zögerlich zum Pooling von Fähigkeiten oder gar der Spezialisie- rung von Streitkräften. Nur wenn sich Verbündete auf die Verlässlichkeit aller Kooperationsteilnehmer unein- geschränkt verlassen könnten, wäre ein solcher Souverä- nitätstransfer möglich. Bis dahin ist es jedoch noch ein weiter Weg. Eine europäische Armee ist daher – wenn überhaupt – nur langfristig, also in mehr als 30 Jahren, realisierbar. Aber auch wenn diese politischen Probleme der euro- päischen Integration überwunden wären, ist eine Euro- päisierung auf unteren Ebenen aus militärischen Grün- den nicht sinnvoll. Die Erfahrungen der deutsch- französischen Brigade zeigen, dass eine Internationali- sierung unterhalb der Brigadeebene bereits aus Sprach- gründen, aber auch aufgrund unterschiedlicher Füh- rungsphilosophien unzweckmäßig ist. Der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Budde, hat dies sehr tref- fend beschrieben: „Ein Kampftruppenbataillon ist kein Sprachlabor.“ Daher gilt es auch zukünftig, mit Reali- tätssinn und Augenmaß die Integration der Streitkräfte voranzutreiben. Im Mittelpunkt dürfen nicht idealpoliti- sche Wunschvorstellungen, sondern die Einsatzbereit- schaft unserer Streitkräfte stehen. Inge Höger (DIE LINKE): Fünf europäische Staaten, Frankreich, Deutschland, Spanien, Belgien und Luxem- burg kooperieren im Rahmen des 1996 aufgestellten Eurokorps miteinander. Es ist ein Fortschritt, dass Län- der wie Deutschland und Frankreich heute eng zusam- menarbeiten und die erbitterte Feindschaft und die Kriege zwischen ihnen der Vergangenheit angehören. Aber es ist ein Fehler, die militärische Kooperation von ehemaligen Feinden mit Friedenspolitik zu verwechseln. Der hier zur Abstimmung stehende Vertrag ermög- licht es, das bisherige militärische Agieren des Euro- korps rechtlich abzusichern. Durch die von der Bundes- regierung gewünschte Ratifizierung des Straßburger Vertrags wird das Eurokorps „die notwendige finanzielle Autonomie haben, um in einem multinationalen Rahmen schnell Maßnahmen ergreifen zu können.“ Der Vertrag schafft darüber hinaus neue Einsatzoptionen. Insgesamt ist das Eurokorps fest in die Militärpolitik der NATO und der Europäischen Union integriert. Um es klar zu sa- gen: Das Eurokorps ist fähig und in der Lage, überall auf dieser Welt Kriege und Angriffe durchzuführen. Es ist eindeutig kein Friedensprojekt. Der Stab des Eurokorps bildete bereits den Kern des KFOR-Hauptquartiers im Kosovo und hatte das ISAF-Kommando in Afghanistan inne. Soldaten des Eurokorps sind an den Kampftruppen der NATO, der sogenannten Nato Response Force, ebenso beteiligt wie an den Schlachttruppen der Euro- päischen Union. Der offensive Charakter des Eurokorps zeigt sich in seiner gesamten Struktur. So soll sich die deutsch-französische Brigade, ein zentraler Teil des Eurokorps, „zum Kernelement der schnellen Eingreiffä- higkeit der Europäischen Union, zu ihrer am ehesten verfügbaren und universell einsetzbaren ,Speerspitze‘ weiterentwickeln.“ Der Straßburger Vertrag ermöglicht im Art. 3 Ein- sätze des Eurokorps im Rahmen der Vereinten Nationen, der NATO, der WEU und der EU. Dies entspricht der bisherigen deutschen Rechtslage, die Einsätze im Rah- men eines kollektiven Sicherheitssystems ermöglicht, zumindest wenn der Begriff „Verteidigung“ so über- dehnt wird, wie es zurzeit bei der Bundesregierung und ihren Verbündeten üblich ist. Neu ist jedoch, dass der Vertrag auch den Einsatz des Eurokorps auf Grundlage eines Beschlusses der Ver- tragsparteien vorsieht – auch ohne einen Beschluss von NATO oder EU. Ein solcher Einsatz im Rahmen einer Koalition der Willigen widerspricht der deutschen Rechtslage. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundesta- ges teilte auf Anfrage mit: „Ein gemeinsamer Beschluss Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16283 (A) (C) (B) (D) der Vertragsparteien … bietet verfassungsrechtlich keine ausreichende Grundlage für einen Auslandseinsatz der Bundeswehr.“ Es geht bei der Formulierung im Straßburger Vertrag also darum, Vorsorge zu treffen für eine zukünftige Auf- weichung der grundgesetzlichen Regelungen für den Bundeswehreinsatz. Der Wissenschaftliche Dienst spricht von „einer Öffnungsklausel für zukünftige Kon- stellationen“. Um welche Konstellationen es sich dabei handeln könnte, bleibt offen. In der Denkschrift zum Straßburger Vertrag ist zwar davon die Rede, dass das Eurokorps nur „gemäß den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen der fünf Ver- tragsstaaten“ eingesetzt werden darf. Die Denkschrift ist jedoch rechtlich nicht verbindlich – im Gegensatz zum Straßburger Vertrag. Es ist für die Fraktion Die Linke nicht akzeptabel, dass hier ein Vertrag unterzeichnet werden soll, der Ein- sätze ermöglicht, die im Widerspruch zum Grundgesetz stehen. Wir lehnen den Vertrag deswegen entschieden ab. Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 63 Jahre, das ist keine lange Zeit, wenn man zurück- blickt in die Geschichte. Vor 63 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Damals endete eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte, und es endete eine der leidvollsten Phasen für die Menschen in Europa. Seit- dem hat Europa viel gelernt und sich enorm verändert. Schlüssel dafür war und ist die Erkenntnis, dass Europa zusammenwachsen muss. Dies gilt auch für den Bereich der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Vor den Erfahrungen der Geschichte war dieser Pro- zess nicht immer einfach. Der Versuch der Benelux- Staaten und Frankreichs, wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit Italien und Deutschland eine integrierte europäische Armee aufzubauen, war denn auch zum Scheitern verurteilt. Die französische Nationalversammlung lehnte 1954 die Ratifizierung des Vertrags über eine Europäische Verteidigungsgemein- schaft ab. Es sollte viele Jahre und Jahrzehnte dauern, bis eine deutsch-französische Brigade, ein Eurokorps oder eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungspo- litik möglich werden sollten. Ich erinnere daran, welche Diskussionen die Einrichtung des ersten Deutsch-Nie- derländischen Korps Anfang der 90er-Jahre gerade in den Niederlanden auslöste. Die Entscheidung, dass große Teile des niederländischen Heeres künftig zeit- weise unter dem Kommando deutscher Offiziere stehen sollten, weckte angesichts der Geschichte anfangs erheb- liche Emotionen. Doch das Korps besteht seit nunmehr 13 Jahren, und es ist damit letztlich auch ein gutes Bei- spiel für das Zusammenwachsen Europas. Heute beraten wir hier das Ratifizierungsgesetz zum Straßburger Vertrag. 1993 aufgestellt, ist dieser multina- tionale militärische Verband, dem inzwischen Soldaten aus Deutschland, Frankreich, Belgien, Spanien und Lu- xemburg angehören, seit 1996 einsatzbereit. Es hat ein wenig gedauert, bis wir nun den Straßburger Vertrag, der rechtliche Grundlagen für diesen Verband schaffen wird, ratifizieren können. In den Ausschussberatungen wurde vonseiten der Linksfraktion darauf hingewiesen, dass dieser Vertrag verfassungswidrig sei. Die Linke sieht den Parlamentsvorbehalt gefährdet. Ich halte diese Befürch- tung substanziell für unbegründet. Ein Blick in den Ver- tragstext hätte genügt, um dies einzusehen: In der Denk- schrift zum Art. 3, in dem „ein gemeinsamer Beschluss der Vertragsparteien“ als Tatbestandsvoraussetzung an- geführt wird, ist völlig unmissverständlich klargestellt, dass „die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen der fünf Vertragsstaaten“ bindend sind. Das heißt; der Ver- fassungs- und der Parlamentsvorbehalt des Grundgeset- zes sind somit nicht nur nicht in Gefahr, sondern im Straßburger Vertrag explizit geschützt. Auch finde ich es deutlich überzogen, wenn die Linksfraktion keine Gelegenheit auslässt, um vor einer angeblichen fortschreitenden Militarisierung der Euro- päischen Union zu warnen. Dies ist hier völlig fehl am Platze. Das Eurokorps ist kein stehendes Korps, sondern ein Korps, das bei Bedarf aus Truppen der Mitgliedstaa- ten zusammengestellt wird. Das trägt zur Vertrauensbil- dung und Vertiefung der europäischen Integration bei. Eine sich vertiefende EU wirkt friedensstiftend in Eu- ropa. Die weitere Stärkung der gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist ein wichtiges Element dieser weiteren Vertiefung der Europäischen Union. Sie sollten diesen friedenschaffenden Charakter der EU besser würdigen, liebe Kolleginnen und Kolle- gen der Linksfraktion. Selbstverständlich muss die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik von einem Sicherheitsverständnis aus- gehen, das mehr ist als klassische Verteidigungspolitik. Im Mittelpunkt muss eine zivile Außenpolitik stehen, die sich an den Zielen Frieden, Demokratie und Menschen- rechte ausrichtet. Frieden braucht Expertise. Deshalb werden Expertinnen und Experten gebraucht, die bei Be- darf gut ausgebildet und gut ausgestattet für internatio- nale Friedenseinsätze zur Verfügung stehen. Deshalb werden wir uns weiterhin dafür einsetzen, dass sich die Staaten der EU auch für den Aufbau eines europäischen zivilen Friedenskorps einsetzen. Die Zeit hierfür ist reif. Die Kooperation europäischer Sicherheitskräfte im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidi- gungspolitik – wie im Falle des Eurokorps – ist wichtig und richtig. Die Europäische Sicherheits- und Verteidi- gungspolitik muss aber gleichzeitig das Primat des Zivi- len garantieren und umfassenden parlamentarischen Kontrollrechten des Europaparlaments und der nationa- len Parlamente unterliegen. Hier muss auf europäischer Ebene noch nachgebessert werden. Die Bemühungen um eine gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind die Lehre aus unserer deutschen Geschichte und der europäischen Ge- schichte. Vor diesem Hintergrund verstehe ich den au- ßen- und sicherheitspolitischen Kurs der Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion nicht. Die Ratifizie- 16284 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 (A) (C) (B) (D) rung des Straßburger Vertrages, die Debatte um das Eu- rokorps, dies ist der falsche Ort für Ihre polemische Ohne-uns-Rhetorik! Der Partei mit der höchsten Offi- ziersdichte in Deutschland nimmt man die Wandlung vom Saulus zum Paulus nicht ab. Machen Sie lieber kon- struktive Vorschläge dazu, wie das zivile Element in der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ge- stärkt werden kann, anstatt hier Schaufensterdebatten zu führen. Ich fasse zusammen: Meine Fraktion begrüßt grund- sätzlich die Kooperation europäischer Sicherheitskräfte im Rahmen der ESVP. Wir haben klare Anforderung be- züglich des Primats des Zivilen und der parlamentari- schen Kontrolle der ESVP. Hier werden wir nacharbeiten müssen. Wir sehen jedoch keinen Anlass zu verfassungs- rechtlichen Bedenken angesichts des vorliegenden Straß- burger Vertrages. Daher werden wir dem Ratifizierungs- gesetz zustimmen. 154. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7 Anlage 8 Anlage 9 Anlage 10
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1615400000

Die Sitzung ist eröffnet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir in unsere
heutige Tagesordnung eintreten, gibt es einige Mitteilun-
gen und Veränderungen bzw. durchzuführende Entschei-
dungen.

Zunächst möchte ich dem Kollegen Detlef
Dzembritzki herzlich gratulieren, der am 23. März sei-
nen 65. Geburtstag gefeiert hat. Ebenso gratuliere ich
dem Kollegen Joachim Stünker, der am 29. März sei-
nen 60. Geburtstag feiern konnte. Im Namen des ganzen
Hauses beiden Kollegen herzliche Gratulation und alle
guten Wünsche.


(Beifall)


Die Fraktion der SPD hat mitgeteilt, dass der Kollege
Jörg-Otto Spiller als stellvertretendes Mitglied aus dem
Vermittlungsausschuss und aus dem Gemeinsamen
Ausschuss nach Art. 53 a des Grundgesetzes aus-
scheidet. Als Nachfolger wird der Kollege Dr. Hans-
Ulrich Krüger vorgeschlagen. Sind Sie damit einver-
standen? – Das ist offenkundig der Fall. Damit ist der
Kollege Krüger zum stellvertretenden Mitglied sowohl

Rede
des Vermittlungsausschusses wie des Gemeinsamen
Ausschusses nach Art. 53 a des Grundgesetzes gewählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführ-
ten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:

Unterschiedliche Auffassungen innerhalb der
Bundesregierung zur Erhöhung der Biosprit-
beimischung (siehe 153. Sitzung)


ZP 2 Erste Beratung des von den Fraktion
CSU und der SPD eingebrachten En
Gesetzes zur Rentenanpassung 200

– Drucksache 16/8744 –
tzung

den 10. April 2008

0.31 Uhr

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Strukturelle Wettbewerbsdefizite auf den
Energiemärkten bekämpfen

– Drucksache 16/8079 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren (Ergänzung zu TOP 28)


a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela

text
Piltz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP

Für einen umfassenden Schutz der europäi-
schen Bürgerinnen und Bürger bei der Verar-
beitung ihrer Daten im Bereich der sogenann-
ten dritten Säule der Europäischen Union

– Drucksache 16/5473 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ng des Antrags der Abgeordneten Cajus
, Marie-Luise Dött, Dr. Christian Ruck,
er Abgeordneter und der Fraktion der
en der CDU/
twurfs eines
8

b) Beratu
Caesar
weiter

CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heinz






(A) (C)



(B) (D)


Präsident Dr. Norbert Lammert
Schmitt (Landau), Marco Bülow, Dirk Becker,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Weltnaturschutzgipfel 2008 in Bonn – Biolo-
gische Vielfalt schützen, nachhaltig und ge-
recht nutzen

– Drucksache 16/8756 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef
Parr, Daniel Bahr (Münster), Heinz Lanfermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Eigenverantwortung und klare Aufgabentei-
lung als Grundvoraussetzung einer effizienten
Präventionsstrategie

– Drucksache 16/8751 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra

(Saarbrücken)

DIE LINKE

Gleichstellung in der Wissenschaft durch Mo-
dernisierung der Nachwuchsförderung und
der Beschäftigungsverhältnisse herstellen

– Drucksache 16/8742 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD:

Aktuelle Lage in Tibet

ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD

Angemessene und zukunftsorientierte finan-
zielle Unterstützung der Contergangeschädig-
ten sicherstellen

– Drucksache 16/8754 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Birgitt Bender, Britta Haßelmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Für einen umfassenden Ansatz beim Umgang
mit den Folgen des Contergan-Medizinskan-
dals

– Drucksache 16/8748 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Alexander Bonde, Winfried Nachtwei, Jürgen
Trittin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Keine U-Bootlieferung an Pakistan

– Drucksache 16/5594 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
Federführung strittig

ZP 9 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
FDP:

Haltung der Bundesregierung zur Tätigkeit
deutscher Sicherheitskräfte in Libyen

Wir beginnen unsere Beratung gleich also nicht mit
dem Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Aus-
bildungschancen förderungsbedürftiger junger Men-
schen, sondern mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Ren-
tenanpassung 2008. – Aus der Zusammensetzung des
Plenums gewinne ich den begründeten Eindruck, dass
die meisten auf diese Veränderung eingestellt sind. Die
Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen verschie-
ben sich dadurch jeweils um einen Platz nach hinten.

Außerdem ist vorgesehen, den Tagesordnungs-
punkt 19 abzusetzen und an dieser Stelle den Tagesord-
nungspunkt 21 aufzurufen.

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Schließlich mache ich auf zwei geänderte Ausschuss-
überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-
merksam:

Der in der 126. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-
lich dem Finanzausschuss (7. Ausschuss) zur Mitbera-
tung überwiesen werden.






(A) (C)



(B) (D)


Präsident Dr. Norbert Lammert
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-
ordnung und Modernisierung des Bundes-

(Dienstrechtsneuordnungsgesetz – DNeuG)


– Drucksachen 16/7076, 16/7440 –
überwiesen:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Finanzausschuss

Der in der 134. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll nicht mehr dem
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordnung (1. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen
werden.

Entschließungsantrag der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN zu der Beratung der Gro-
ßen Anfrage der Abgeordneten Volker Beck

(Köln), Irmingard Schewe-Gerigk, Marieluise

Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Europäisches Jahr der Chancengleichheit für
alle

– Drucksachen 16/4933, 16/6314, 16/7537 –
überwiesen:
Ältestenrat

Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 2 unserer Tagesordnung auf:

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Rentenanpassung 2008

– Drucksache 16/8744 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann kann das als vereinbart gelten.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst dem Bundesminister für Arbeit und Soziales,
Olaf Scholz.


(Beifall bei der SPD)

Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Sozia-
les:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor einer
Woche hat das ZDF eine Umfrage veröffentlicht. Da-
nach finden 61 Prozent der unter 30-Jährigen, dass die
jetzt vorgesehene Erhöhung der Rente um 1,1 Prozent
richtig ist. 28 Prozent hätten sich sogar mehr gewünscht,
und nur 8 Prozent sagen, diese Erhöhung sei zu hoch.
Diese repräsentative Umfrage bei unter 30-Jährigen
macht also deutlich: Es gibt keinen Generationenkonflikt
in Deutschland. Er wird in den Medien und an vielen an-
deren Stellen lediglich herbeigeredet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Unser Gesetzentwurf, den wir jetzt beraten wollen,
stärkt die Solidarität zwischen den Generationen, die
viel größer ist, als oft behauptet wird. Wir haben in
Deutschland eine solidarische Mehrheit, die zwischen
den Generationen und in jeder Familie in Deutschland
vorhanden ist. Darauf können wir uns bei unseren Bera-
tungen auch verlassen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Was wollen wir erreichen? – Wir wollen, dass auch
die Rentnerinnen und Rentner an dem Aufschwung, den
wir jetzt überall beobachten können, teilhaben.


(Zuruf von der FDP: Steuern senken!)


Gleichzeitig wollen wir stabile Beiträge, die für die jün-
gere Generation mit ihrer Arbeitsleistung bezahlbar sind.
Wir können garantieren, dass die Beitragssätze auch im
nächsten Jahrzehnt nicht höher ausfallen werden als
jetzt; sie werden unter 20 Prozent bleiben. Das ist eine
große Leistung für die Stabilisierung der Rentenfinan-
zen, die wir in den letzten Jahren zustande gebracht ha-
ben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir gehen einen sehr gut verantwortbaren Schritt.
Wir haben im Hinblick auf die Stabilität der Renten-
finanzen in den letzten Jahren beschlossen, bei der An-
passung der Rente über mehrere Jahre hinweg die zu-
sätzliche Altersvorsorge, die die Jüngeren zu betreiben
haben, zu berücksichtigen. Das werden wir noch viermal
tun. Jetzt wollen wir die Berücksichtigung der privaten
Altersvorsorge für zwei Jahre aussetzen, um eine Renten-
erhöhung um 1,1 Prozent zu ermöglichen. Gleichzeitig
stellen wir klar, dass das zu einem späteren, zu einem
günstigeren Zeitpunkt nachgeholt wird. Das ist eine sehr
vernünftige, stabile und verantwortbare Politik.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zuruf von der FDP: Warum denn?)


Das nächste Jahrzehnt ist ein günstigerer Zeitpunkt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Später ist immer günstiger, Herr Scholz!)


Was ist in den letzten Jahren geschehen, und wie ist die
jetzige Situation? Drei Jahre lang haben die Rentnerin-






(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Olaf Scholz
nen und Rentner in Deutschland keine Rentenerhöhung
bekommen. Im letzten Jahr gab es nur eine geringe Er-
höhung. Deshalb ist es vernünftig, die private Altersvor-
sorge der Jüngeren nicht jetzt bei der Berechnung der
Rente zu berücksichtigen, sondern zu einem Zeitpunkt,
in dem wir größere Spielräume haben. Das gilt aller-
dings nur, wenn wir gleichzeitig all das miteinbeziehen,
was zur Stabilisierung der Rentenfinanzen notwendig
ist. Genau das tun wir auch. Wir sind prinzipienfest, aber
wir sind keine Prinzipienreiter. Das ist gute demokrati-
sche und pragmatische Politik.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Überall ist vom Aufschwung die Rede. Aber wir
müssen verhindern, dass es einigen so geht wie jeman-
dem, der sehr lange auf den Bus wartet, einsteigen will,
nachdem dieser endlich gekommen ist, aber in genau
diesem Moment die Tür wegen Überfüllung zugeht, der
Bus wegfährt und er auf den nächsten Bus warten muss.
Auch die Älteren in unserer Gesellschaft sollen etwas
von dem Aufschwung haben. Darum geht es in unserem
heute vorgelegten Gesetzentwurf.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Seien wir ehrlich: 1,1 Prozent sind nicht viel. Wenn
man all die zusätzlichen Belastungen und Aufwendun-
gen berücksichtigt, die in den letzten Jahren auf die äl-
tere Generation zugekommen sind, dann stellt man fest,
dass das nur eine kleine Erholung von den schwierigen
Situationen ist, die viele beschreiben, wenn sie zum Bei-
spiel über ihre Miete oder die Preise im Supermarkt re-
den. Aber wir zeigen den Älteren in diesem Lande, dass
wir ihre Situation verstehen. Das Signal, das der Deut-
sche Bundestag heute geben kann, ist notwendig und un-
verzichtbar.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir sollten die Lage der älteren Menschen in die-
sem Lande nicht vergessen; sie unterscheidet sich von
der anderer Menschen. Ein 35-Jähriger, der von seinem
Chef mitgeteilt bekommt, dass das Weihnachtsgeld ge-
strichen ist, denkt nichts Nettes über diesen, und wenn er
klug ist, tritt er in eine Gewerkschaft ein.


(Andrea Nahles [SPD]: Aber in eine richtige! – Wenn er klug ist, ist er schon drin!)

Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1615400100

– „Wenn er klug ist, ist er schon drin“, sagt die Kanzle-
rin. Da muss man ihr recht geben. –


(Heiterkeit bei der SPD)


Ein 35-Jähriger, der mit dieser Situation konfrontiert ist,
sagt sich, dass er an dieser Situation noch einmal etwas
ändern kann. Wer aber 68 oder 72 Jahre alt ist und es
jahrelang schwer hatte mit seiner Rente, der kann an sei-
ner Situation nichts mehr ändern.


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Der kommt zur FDP!)


Deshalb ist es eine wichtige Botschaft zu zeigen, dass
wir die Situation der Älteren in diesem Land im Blick
haben. Das haben sie auch verdient.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Die Rente eignet sich nicht für Diskussionen über
Generationenkonflikte. Denn mit der Rente – das muss
uns allen klar sein – haben wir alle fast ein Leben lang
etwas zu tun. Durchschnittlich werden heutzutage
40 Jahre lang Beiträge gezahlt und wird die Rente
17 Jahre lang bezogen. Wir nehmen alle mit großer Be-
geisterung zur Kenntnis, dass der Bezugszeitraum im-
mer länger wird. Das funktioniert aber nur, wenn bei den
Jüngeren all die Jahrzehnte, in denen sie Beiträge zahlen,
die Vorstellung vorherrscht, dass sie zunächst leistbare
Beiträge zu zahlen haben, dafür aber im Alter eine Rente
in akzeptabler Höhe bekommen werden. Das ist das, was
wir zu leisten haben. Das gewährleisten wir. Wir schaf-
fen Vertrauen in die Rentenversicherung. Das ist das Ge-
genteil von Generationenkonflikt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass ein „alter Be-
kannter“ nicht mehr da ist. Es gab viele Zeitungsartikel,
zahlreiche Sendungen und vieles mehr über das soge-
nannte Rentenloch, über die Unsicherheit bei den Ren-
tenfinanzen und über die Gefahren, die der Rentenversi-
cherung drohten.


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ich sage nur: Riester!)


Davon sind wir heute weit entfernt. Wir haben eine or-
dentliche Nachhaltigkeitsrücklage gebildet. An eine
bestimmte Seite dieses Hauses möchte ich sagen: Die
anstrengende Politik der letzten Jahre hat sich gelohnt.
Jetzt haben wir in Deutschland stabile Rentenfinanzen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In der letzten Woche haben wir den 50. Geburtstag
des Sozialbeirates der Bundesregierung gefeiert. Zu die-
sem Anlass haben bekannte Experten, die sich in
Deutschland oft zu diesem Thema zu Wort melden, ge-
sprochen, zum Beispiel Professor Rürup.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Für wen? Für die Allianz?)


Es haben sich aber auch Experten der EU, der Internatio-
nalen Arbeitsorganisation und der OECD geäußert. Alle
haben uns übereinstimmend bescheinigt: Deutschland ist
eines der wenigen Länder, das die Herausforderungen
des demografischen Wandels, der aufgrund der Tatsache,
dass unsere Bevölkerung Gott sei Dank immer älter
wird, auf uns zukommt, bewältigt und stabile Renten-
finanzen geschaffen hat. Wir haben das, was andere
Staaten noch vor sich haben, schon erreicht. Das darf die
demokratische Politik in diesem Lande mit Stolz erfül-
len, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es wird ja gerne schnell und ohne weiteres Nachden-
ken über Politiker geschimpft. Aber die verantwortli-
chen Politiker in Deutschland haben getan, was man von
ihnen verlangt. Sie haben nicht auf die nächste Wahl ge-
schielt,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was?)







(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Olaf Scholz
sondern wichtige und schwierige Entscheidungen getrof-
fen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ach was!)


Über die Früchte dieser Arbeit dürfen wir jetzt gemein-
sam diskutieren. Das Wichtigste dabei ist, dass wir die
Rentenversicherung in eine sichere Zukunft führen.

Neben stabilen Rentenfinanzen haben wir aber noch
eine zusätzliche Botschaft an die Jüngeren. Diese Bot-
schaft lautet: Es ist notwendig, zusätzlich private und
betriebliche Altersvorsorge zu betreiben, damit man
seinen Lebensstandard im Alter sichern kann. Darum
war es richtig, dass wir in den letzten Jahren die betrieb-
liche Altersvorsorge und die private Zusatzvorsorge mit
dem Namen Riester-Rente ausgebaut haben. An dieser
Stelle bedanke ich mich bei Walter Riester, der dort hin-
ten sitzt.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU] – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber heute werden die Leistungen, die mit dem Namen Riester verbunden sind, von Ihnen verraten!)


Ende 2007 gab es in Deutschland 10,8 Millionen
Riester-Verträge. Das ist eine große politische Leistung.

Wir sind bei diesem Thema sehr konsequent. Das
Bundeskabinett ermöglicht nicht nur, dass die Renten
stärker als erwartet steigen können, sondern wir haben
auch beschlossen, einen Berufseinsteigerbonus einzu-
führen. Dadurch soll jüngeren Leuten nahegelegt wer-
den, möglichst früh mit ihrer Altersvorsorge zu begin-
nen. Denn wir hoffen, dass derjenige, der früh damit
beginnt, auch dabeibleibt. So früh wie möglich mit der
Altersvorsorge zu beginnen, ist im Leben eines jeden
Berufstätigen die richtige Entscheidung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben dafür gesorgt, dass auch diejenigen, die
schon mit 42 oder 51 Jahren nicht mehr erwerbstätig
sein können und eine Erwerbsminderungsrente bezie-
hen, private Altersvorsorge betreiben können. Ihnen ge-
ben wir die Möglichkeit, in dieser Zeit zusätzlich eine
Riester-Rente aufzubauen. Das ist eine gute Leistung,
und sie ist konsequent, weil sie zum Gesamtbild unserer
Alterssicherungspolitik passt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir handeln sehr verantwortlich. Die wichtige Bot-
schaft, die heute von diesem Gesetzentwurf ausgeht,
kann ganz eindeutig beschrieben werden: Stabile Ren-
tenfinanzen ermöglichen in einer wirtschaftlich guten Si-
tuation größere Erhöhungen für die Rentner, und sie sind
gleichzeitig etwas, auf das die jüngere Generation ver-
trauen kann. Lassen Sie uns mit dieser Politik fortfahren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1615400200

Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb,

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1615400300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Bundesminister Scholz, nach dem Echo, das Ihre
Rentenanpassung bis in höchste Regierungskreise hinein
hervorgerufen hat – Merkel rügt Rentenpolitik ihrer Re-
gierung, hieß es –, finde ich es wirklich erstaunlich, dass
Sie Ihr Vorgehen erneut als rentenpolitische Großtat ver-
kaufen wollen.


(Beifall bei der FDP)


Nein, Herr Scholz, die von Ihnen geplante Aufsto-
ckung einer als peinlich empfundenen Rentenanpassung
in diesem und im nächsten Jahr ist in doppelter Weise
eine Beleidigung der Rentner in Deutschland. Sie wollen
die Rentner, die in den letzten Jahren in der Tat deutlich
an Kaufkraft verloren haben, mit einem Almosen abspei-
sen. Denn das, was Sie als Erhöhung vorgesehen haben,
reicht ja nicht annähernd aus, um die Belastungen auszu-
gleichen, die den Rentnern allein als Ergebnis der Politik
dieser Bundesregierung zuteil wurden: Erhöhung der
Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte, Inflation auf Re-
kordhöhe, Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge,
Erhöhung der Pflegeversicherungsbeiträge und vieles
andere mehr; ich kann gar nicht alles aufzählen.

Ihre Rentenanpassung, Herr Scholz, ist auch deswe-
gen eine Beleidigung der Rentner, weil das Motiv, Wäh-
lerstimmen bei den Rentnern zu kaufen, deutlich durch-
scheint. Wie heißt es nach Goethes Torquato Tasso, den
viele der Älteren in der Schule noch gelesen haben? –
Man merkt die Absicht, und man ist verstimmt.


(Beifall bei der FDP)


Herr Scholz, glaubt die Regierung wirklich, die Rentner
seien nicht in der Lage, über den Wahltag hinaus zu den-
ken? Tatsache ist, dass nach Ihrem Gesetzentwurf die
Rentner nach der Wahl einen Gutteil dessen, was sie
jetzt vor der Wahl erhalten, selbst werden bezahlen müs-
sen. Die Aufstockung der Rentenerhöhung ist ein Wahl-
geschenk – ein vergiftetes Geschenk. Sie kommt nicht
von Herzen und ist nicht ehrlich gemeint.


(Beifall bei der FDP – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Die FDP bringt ihnen erst recht nichts!)


Herr Scholz, Frau Bundeskanzlerin Merkel, Sie ver-
halten sich mit Ihrer panischen Aktion im Vorwahljahr
wie der junge Mann, dem auf dem Weg zur Erbtante sie-
dend heiß einfällt, dass die Tante Geburtstag hat, und der
sich schnell einen Blumentopf von ihrer Fensterbank
greift, damit er nicht mit leeren Händen vor die gute
Frau treten muss. Der hat auch nicht wirklich das Wohl
der Tante im Sinn, er denkt vor allem an sich selbst. Ge-
nauso ist es bei Ihnen, Herr Scholz.


(Beifall bei der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Heinrich L. Kolb
Doch die Wahrscheinlichkeit, dass die Tante ihren Blu-
mentopf erkennt und der Schwindel auffliegt, ist hoch,
Herr Scholz. Mit allen aufmerksamen Rentnerinnen und
Rentnern in unserem Lande lehnen wir Ihren tagespoli-
tisch motivierten Eingriff in die Rentenformel ab.

Die Rentenformel macht doch das, was künftig sein
wird, für die Rentner berechenbar, sie schafft Verläss-
lichkeit. Mit anderen Worten: Die Rentner werden durch
die Rentenformel auch geschützt. Heute gibt es als Er-
gebnis des Herumfummelns an der Rentenformel eine
Rentenerhöhung, morgen kann es eine Kürzung sein.
Deswegen sage ich: Finger weg von der Rentenformel,
Herr Scholz! Mit der geplanten Manipulation brechen
Sie mit der langfristig angelegten Politik Ihrer Amtsvor-
gänger. Rentensystematisch ist das Aufstocken der Erhö-
hung ein schwerer Sündenfall. Die Rente wird zum
Spielball parteipolitischer Interessen. Mit einer nachhal-
tigen Politik hat das nichts zu tun.


(Beifall bei der FDP – Andrea Nahles [SPD]: Wer war denn in der Regierung mit Norbert Blüm?)


– Frau Nahles, diese Manipulation der Rentenformel, die
wir Ihnen vorwerfen, nimmt zu viel und gibt zu wenig:
Sie geben den Rentnern im Durchschnitt 7 Euro pro Mo-
nat und beschädigen dafür das Vertrauen in die langfris-
tig angelegte Finanzierung der gesetzlichen Rentenversi-
cherung. Wir lehnen eine solche Rentenanpassung, die
sich allein an den Umfragewerten der Regierung orien-
tiert, ab.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Ich will ausdrücklich sagen: Auch wir, meine Damen
und Herren von der Regierung und von der Koalition,
sind sehr dafür, die Kaufkraft der Rentnerinnen und
Rentner zu stärken.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Also doch!)


Das gilt zunächst einmal, Herr Kollege Weiß, für die
sich aus der Rentenformel auch ohne Manipulation erge-
bende Erhöhung der Renten. Es ist ja nicht so, dass sich
nach der derzeitigen Rechtslage keine Rentenerhöhung
ergeben würde. Wenn es darum geht, die Rentner da-
rüber hinaus am wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben
zu lassen, gibt es Alternativen, über die wir uns durchaus
unterhalten können. Eine Verbesserung der Kaufkraft
der Rentner muss aber aus dem Steuertopf finanziert
werden. Denn die Früchte des Aufschwungs der letzten
Jahre hat mit rund 110 Milliarden Euro Mehreinnahmen
ganz überwiegend der Bundesfinanzminister, Herr
Steinbrück, abgegriffen.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Die FDP wollte doch die Steuern senken!)


Eine Alternative, um die Kaufkraft der Rentner zu ver-
bessern, wären gezielte Entlastungen der Rentner bei
den Steuern auf den Energieverbrauch.

Ehrlicher wäre es aber, Herr Scholz, wenn Sie ge-
meinsam mit Herrn Steinbrück an jede Rentnerin und an
jeden Rentner einen Brief mit etwa folgendem Wortlaut
schreiben würden: Sehr geehrte Damen und Herren, als
Ergebnis einer verfehlten Politik unserer Regierung sind
Sie leider über Gebühr belastet worden.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Stimmt ja nicht!)


Zum Ausgleich für die erlittenen Kaufkraftverluste über-
senden wir Ihnen für die Jahre 2008 und 2009 einen
Scheck über 200 Euro. Mit freundlichen Grüßen, Ihre
Bundesregierung.


(Beifall bei der FDP)


Genau das tun Sie aber nicht. Das Geld für eine sol-
che Aufstockung der Rentenerhöhung ist ja bei der IKB
und der KfW gerade eben erst verzockt worden. Nein,
Sie machen es sich einfach: Das Geschenk soll aus der
Rentenkasse bezahlt werden – von den Beitragszahlern
und den Rentnern selbst. Die Rentenkasse kann sich ein
solches Geschenk aber nicht leisten. Die Erhöhung der
Nachhaltigkeitsrücklage ist nämlich ausschließlich auf
den 13. Monatsbeitrag zurückzuführen, den die Unter-
nehmen und die Arbeitnehmer im Jahre 2006 an die
Rentenkasse abführen mussten. Aus diesem Grund ma-
che ich mir große Sorgen um die Nachhaltigkeit Ihrer
Rentenpolitik.

Nachhaltigkeit – das war die Leistung Ihres Vorgän-
gers Walter Riester, mit dem Sie sich nicht vergleichen
können, Herr Scholz.


(Andrea Nahles [SPD]: Oh!)


Die Nachhaltigkeit sollte dadurch erreicht werden, dass
den Jüngeren aufgegeben wurde, höhere Beiträge zu
zahlen, als es die jetzige Rentnergeneration musste, und
auch länger zu arbeiten, während den Älteren zugemutet
wurde, Dämpfungen ihrer Rentenzuwächse hinzuneh-
men, damit für die Jüngeren überhaupt noch ein Spiel-
raum für den Aufbau einer zusätzlichen kapitalgedeck-
ten Vorsorge verbleibt.

Ich bezweifle, dass mit dem vorliegenden Entwurf ei-
nes Gesetzes zur Rentenanpassung 2008 der durch das
Rentenversicherungsnachhaltigkeitsgesetz vorgegebene
Beitragskorridor noch eingehalten werden kann. Die
Bugwelle durch die ausgefallene Dämpfung aufgrund des
Nachhaltigkeitsfaktors in den Jahren 2005 und 2006 ist
noch nicht abgebaut. Mit der Aussetzung der Dämpfung
aus dem Riester-Faktor bauen Sie schon eine zweite Bug-
welle auf. Beide Bugwellen sollen sich durch Rentenkür-
zungen vor der übernächsten Bundestagswahl auf wun-
dersame Weise auflösen. Herr Scholz, das glauben Sie
doch selbst nicht.


(Beifall bei der FDP)


Ich fürchte eher, es wird Ihnen wie Goethes Zauber-
lehrling ergehen: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun
nicht los“. – Herr Scholz, deswegen biete ich Ihnen hier
und heute eine Wette an: Die Rente mit 67 wird das
Superwahljahr 2009 mit 16 Wahlen nicht überstehen. –
Damit kann ich gut leben; denn die FDP fordert ja statt
der Anhebung der starren Regelaltersgrenze von 65 auf
67 einen flexiblen Übergang vom Erwerbsleben in den






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Heinrich L. Kolb
Ruhestand bei einem Wegfall aller Zuverdienstgrenzen,
was ohnehin sehr viel sinnvoller ist.

Herr Minister Scholz, nach der Blamage beim Min-
destlohn – stell dir vor, es ist Mindestlohn und keiner
macht mit – stehen Sie nun auch in der Rentenpolitik vor
einem Scherbenhaufen – und das schon wenige Monate
nach Ihrem Amtsantritt. Unbewusst haben Sie sich
längst von der Agendapolitik Gerhard Schröders verab-
schiedet. Sie wollen sich das aber nicht eingestehen.
Deswegen fehlt Ihrer Politik die richtige Richtung. Ein
bisschen mehr dürfen die Menschen schon erwarten und
erwarte auch ich persönlich von einem Minister, der sei-
nen Amtseid ernst nimmt.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1615400400

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe,

CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1615400500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Je-

der Beobachter weiß: Unser Land ist wirtschaftlich auf
einem guten Weg. Die Wirtschaft wächst, und wir haben
heute 1,7 Millionen Arbeitslose weniger als vor drei Jah-
ren. Wir als Große Koalition haben gesagt: Wir wollen,
dass die Rentner an dieser guten wirtschaftlichen Ent-
wicklung teilhaben. – Was ist daran eigentlich so skan-
dalös und so zu kritisieren? Wir schlagen damit den rich-
tigen Weg ein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zwei Faktoren bleiben dabei ganz klar: Es bleibt beim
Lohnbezug der Rente und auch dabei, dass die Renten
aufgrund unserer demografischen Entwicklung nicht so
stark steigen können wie die Löhne. Das heißt, bei einem
Anstieg der Lohnsumme um 1,4 Prozent in diesem Jahr
steigen die Renten eben nur um 1,1 Prozent. Wir tun das,
was möglich ist, um die Rentnerinnen und Rentner am
Aufschwung teilhaben zu lassen. Wir schütten nicht das
Füllhorn aus, aber wir tun das, was möglich ist.

Wir tun das vor dem Hintergrund der Zumutungen,
die die Rentner in den letzten Jahren mit drei Nullrunden
unzweifelhaft erfahren haben, und auch vor dem Hinter-
grund dessen, dass wir den Beitragssatz zur Arbeitslo-
senversicherung halbiert haben, wovon die Rentner, wie
wir wissen, nicht unmittelbar betroffen sind.

Wir haben erstmals seit der Einführung der Pflegever-
sicherung den Beitrag zu dieser Versicherung, der die
Renterinnen und Rentner voll trifft, erhöhen müssen,
weil wir uns richtigerweise dazu entschieden haben, die
Leistungen in der gesetzlichen Pflegeversicherung er-
heblich auszuweiten. Deswegen ist es zu dieser Beitrags-
erhöhung gekommen.

Gelegentlich wird festgestellt, wir machten eine
Rente nach Kassenlage.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nach Umfragelage!)


Ich finde es durchaus sinnvoll, sich mit der Kassenlage
der Rentenversicherung zu beschäftigen. Als die Re-
gierung unter Angela Merkel im November 2005 ins
Amt kam, wies die Rentenkasse ein Minus von 636 Mil-
lionen Euro auf. Ende 2007 war sie bei einem Plus von
11,7 Milliarden Euro angelangt. Das wäre nicht allein
durch Minijobs, Billigjobs und Niedriglöhne möglich
gewesen; es ist vielmehr ein Erfolg unserer Arbeits-
marktpolitik, dass wieder mehr Menschen in Beschäfti-
gung sind und Steuern zahlen. Für diese Erfolge, die wir
erzielt haben und die uns diese Rentenpolitik ermögli-
chen, werden wir uns bei niemandem entschuldigen. Das
sind große wirtschaftspolitische und sozialpolitische Er-
folge.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1615400600

Lieber Kollege Brauksiepe, möchten Sie eine Zwi-

schenfrage des Kollegen Kolb beantworten?


Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1615400700

Gern.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1615400800

Herr Kollege Brauksiepe, stimmen Sie mir zu, dass

der Eindruck, den Sie vermitteln wollen, nämlich dass
genügend Geld in der Rentenkasse ist, nicht zutrifft?
Hängt nicht vielmehr der Anstieg der Rentenreserve
ganz überwiegend mit den 10,5 Milliarden Euro zusam-
menhängt, die der 13. Monatsbeitrag im Jahr 2006 in die
Rentenkassen gespült hat?

Stimmen Sie mir zu, dass die Rentenversicherung in
den zurückliegenden Jahren Jahr für Jahr ein strukturel-
les Defizit zwischen 2 Milliarden und 4 Milliarden Euro
aufgewiesen hat und dass wir auch im letzten Jahr trotz
einer Erhöhung des Rentenbeitrags um 0,4 Prozent-
punkte – das entspricht 4 Milliarden Euro – einen Über-
schuss von gerade einmal 1,2 Milliarden Euro erzielt ha-
ben, den Sie allein mit der Rentenerhöhung im Jahr 2008
wieder ausgeben wollen?


Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1615400900

Ich stimme Ihnen nicht zu, Herr Kollege Kolb.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die Behauptung, ein einmalig erzielter Effekt habe dazu
geführt, dass die Rücklagen in der Rentenversicherung
über Jahre hinweg angestiegen sind, ist völlig unlogisch.
Der Natur der Sache nach ist das völlig unmöglich.


(Zurufe von der SPD: So ist es! – Andrea Nahles [SPD]: Damit ist die Frage beantwortet!)


Von daher meine ich, Kollege Kolb: Setzen, sechs! Was
Sie hier gesagt haben, kann nicht stimmen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Ralf Brauksiepe
Die Lage der Rentenkasse wird zunehmend besser.
Dadurch haben wir die Möglichkeit, die Renterinnen
und Rentner am Aufschwung zu beteiligen, was wir
auch tun.

Ich wiederhole: Wir schütten nicht das Füllhorn aus.
Wenn wir Ihren unsinnigen und unfinanzierbaren Vor-
schlag umsetzen würden, allen Betroffenen Schecks zu
schicken, dann würden Sie das wiederum als Scheck-
buchdiplomatie der Bundesregierung bzw. der Großen
Koalition bezeichnen. Das wäre der falsche Weg.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es ist nicht unsere Aufgabe, gut zu finden, was die Bundesregierung macht!)


Herr Kollege Kolb, die FDP hat am 13. Februar eine
Aktuelle Stunde beantragt. Sie haben behauptet, der
Aufschwung komme bei den Menschen nicht an.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ja auch so!)


Er sei nur bei 1 Prozent der Menschen angekommen.
Durch die Politik dieser Bundesregierung werden jetzt
20 Millionen Menschen bessergestellt. Diesen Weg kön-
nen wir beschreiten. Wir legen eben nicht die Preise fest.
Sie werfen uns vor, wir wollten beispielsweise den Brot-
preis festlegen. Das ist aber nicht der Fall. Wir setzen an
der Stelle an, an der man etwas für die Renterinnen und
Rentner tun kann, indem sie mehr Geld bekommen.


(Jörg Rohde [FDP]: Gucken Sie mal in die Schubladen der SPD!)


Damit, dass wir rund 20 Millionen Renterinnen und
Rentner begünstigen,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


schlagen wir den richtigen Weg ein.

Natürlich beunruhigt auch uns die Preisentwicklung.
Damit wende ich mich an die Grünen: Sie sind doch
1998 mit dem politischen Ziel angetreten, dass der Liter
Benzin 5 D-Mark kosten sollte. Zum Glück sind wir
noch nicht so weit. Das ist ein wesentlicher Unterschied
zwischen uns: Wir wollen niedrigere Energiepreise. Sie
hingegen wollen höhere Energiepreise, die den Men-
schen das Geld aus der Tasche ziehen.


(Beifall des Abg. Max Straubinger [CDU/ CSU] – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Problem ist doch, dass Benzin noch teurer wird!)


Wir führen eine Debatte über die Ordnungspolitik in
dieser Frage. Wir sind durchaus bereit, darüber zu disku-
tieren. Ich erinnere Sie aber in diesem Zusammenhang
daran, dass Sie die Rentenformel viermal in sieben Jah-
ren rot-grüner Regierung geändert haben. Sie waren
doch an der Aussetzung des demografischen Faktors be-
teiligt, für die sich Gerhard Schröder später bei den
Menschen entschuldigt hat. Sie haben viermal die Ren-
tenformel geändert und drei Nullrunden herbeigeführt.
Sie haben nicht nur eine unsystematische Rentenpolitik
betrieben, sondern sie waren auch sozial erfolglos und
haben die wirtschaftliche Lage der Renterinnen und
Rentner verschlechtert. Das ist der Unterschied zwi-
schen uns: Sie mussten Rentenpolitik nach Kassenlage
machen, weil Sie die Renten nicht erhöhen konnten. Wir
haben dafür gesorgt, dass die Kassen wieder zulassen,
dass die Renterinnen und Rentner am Aufschwung teil-
haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will noch etwas zu Ihnen sagen, meine Damen
und Herren von der Linken. Sie haben in der Tat an den
Eingriffen in die gesamtdeutsche Rentenformel nicht
teilgenommen. Der letzte rentenpolitische Eingriff, den
Sie vorgenommen haben, war 1989. Damals haben Sie
zum 40. Jahrestag der DDR die Rente auf mindestens
330 Ost-Mark angehoben. Das ist die rentenpolitische
Bilanz Ihrer Partei nach 40 Jahren. Dafür sollten Sie sich
schämen, anstatt uns zu kritisieren.


(Beifall bei der CDU/CSU – Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Erzählen Sie einmal, wie die Mieten damals waren!)


In einem umlagefinanzierten Rentensystem ist völlig
klar, dass jeder zusätzliche Euro, den die Rentner be-
kommen, nur von den aktiven Beitrags- und Steuerzah-
lern aufgebracht werden kann.


(Beifall des Abg. Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP])


Deswegen sind die kritischen Fragen der Jüngeren, wie
es um die Generationengerechtigkeit bestellt ist, voll-
kommen verständlich. Es ist die Aufgabe dieser Regie-
rung genauso wie jeder anderen, auf die Herausforderun-
gen, die sich durch die Alterung unserer Gesellschaft
ergeben, generationengerecht zu reagieren. Vielen Älte-
ren erscheint die jetzige Rentenerhöhung viel zu gering,
während viele Jüngere mit Recht fragen, wie es um die
Beiträge bestellt ist, die sie zu leisten haben, und was sie
dafür bekommen. Deswegen ist es uns wichtig, dass klar
ist, dass wir mit unserer Gesetzgebung die Beitragsziele
für das Jahr 2020 und das Jahr 2030, die wir in der Gro-
ßen Koalition vereinbart haben, erreichen können.

Worüber reden wir denn bis 2020? Wir reden doch
nicht über Beitragserhöhungen und höhere Bundeszu-
schüsse. Vielmehr reden wir darüber, wann wir die Bei-
tragszahler und die Steuerzahler um welchen Betrag ent-
lasten können. Es ist klar, dass wir bis zum Jahr 2020 die
Beitrags- und Steuerzahler im Vergleich zum heutigen
Beitragssatz in der Rentenversicherung von 19,9 Prozent
entlasten können. Auch das ist ein Unterschied zur Vor-
gängerregierung. Wir streiten nicht über höhere Bei-
träge, sondern über den Zeitpunkt und das Ausmaß der
Entlastung. Das hat auch etwas mit unserer guten Wirt-
schafts- und Sozialpolitik zu tun, die für mehr Beschäfti-
gung in diesem Land gesorgt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir schütten nicht das Füllhorn aus. Wir bauen keine
Wolkenkuckucksheime auf, sondern leisten einen Bei-
trag dazu, dass die Rentnerinnen und Rentner von der
guten wirtschaftlichen Entwicklung in diesem Land
nicht abgekoppelt werden und gleichzeitig die jüngere






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Ralf Brauksiepe
Generation nicht auf unzumutbare Weise belastet wird.
Das, was wir machen, ist sozial und generationenge-
recht. Deswegen bitte ich dafür um Unterstützung.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615401000

Ich gebe das Wort dem Kollegen Volker Schneider,

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Volker Schneider (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1615401100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Als die Deutsche Rentenversicherung Bund gerade ver-
kündet hatte, dass die Renten um 0,46 Prozent steigen
sollten, sprach mich eine Rentnerin bei einer Veran-
staltung im Saarland an. Sie beziehe eine Rente von
651 Euro – das ist immerhin deutlich mehr als der
Durchschnitt, der bei Frauen in Westdeutschland bei
465 Euro liegt –, und 0,46 Prozent, sagt sie, seien noch
nicht einmal 3 Euro. Dafür könne sie sich allenfalls eine
Tasse Kaffee mehr leisten; für ein Stückchen Kuchen rei-
che das nicht mehr. Tatsächlich hätte sie sogar die Tasse
Kaffee vergessen können; denn nach Abzug des höheren
Pflegeversicherungsbeitrags bleiben netto gerade einmal
1,37 Euro übrig. Immer habe sie CDU gewählt; aber da-
mit sei nun Schluss. Beim nächsten Mal wähle sie die
Linke.


(Beifall bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen Koali-
tion, Sie wissen nur zu genau, dass dies kein Einzelfall
ist. Deshalb greifen Sie auf abenteuerliche Weise in die
Rentenformel ein. Sie wollen Wahlgeschenke verteilen.

Nun sollen die Renten um 1,1 Prozent steigen. Nach
Abzug der Erhöhung des Pflegeversicherungsbeitrags
um 0,25 Prozentpunkte bleibt eine reale Erhöhung von
0,85 Prozent übrig. Jetzt hätte unsere Rentnerin 5,53 Euro
mehr in der Tasche. Die gehen aber bei einer 50-Qua-
dratmeter-Wohnung allein für die gestiegenen Heizkos-
ten drauf. Für alle weiteren Preiserhöhungen muss an
anderer Stelle gespart werden. Ich befürchte, dass in Zu-
kunft alle Café-Besuche gestrichen werden müssen.


(Beifall bei der LINKEN – Andrea Nahles [SPD]: Was ist mit dem Wohngeld, das wir erhöhen?)


Bei den Männern und einer durchschnittlichen Rente
in Höhe von 969 Euro in den alten Bundesländern blei-
ben 8,24 Euro statt 2,03 Euro mehr in den Taschen.
Auch das ist zu wenig, um die zahlreichen Preiserhöhun-
gen ausgleichen zu können. 0,85 Prozent bei einer Infla-
tionsrate von 2,3 Prozent im Jahr 2007 und von zuletzt
3,1 Prozent im März 2008! Da besitzen Sie die Frech-
heit, zu behaupten, es gehe Ihnen darum, die Rentner am
Aufschwung teilhaben zu lassen. Es ist ein Stück aus
dem Tollhaus, wenn Bundesminister Scholz oder auch
Herr Brauksiepe uns hier weismachen wollen, es sei ein
Aufschwung, wenn die Rentner real weniger in den Ta-
schen haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Dabei ist das nur die Spitze des Eisbergs; denn die Infla-
tionsrate beinhaltet beispielsweise eine Senkung der
Computerpreise von 10 Prozent.


(Andrea Nahles [SPD]: Sie sind doch immer diejenigen, die sagen, 2 Euro seien viel Geld!)


Rentnern dürfte dies nicht wesentlich geholfen haben.
Die Steigerung der Preise für Lebensmittel und Getränke
in Höhe von 10 Prozent, die Steigerung der Heizkosten,
etwa beim Heizöl, von mehr als 40 Prozent – das ist das,
was die Rentnerinnen und Rentner hart trifft. Gemessen
am tatsächlichen Konsumverhalten liegen die Preisstei-
gerungen für die Rentner nach Berechnungen der Uni-
versität Fribourg aktuell bei 6 Prozent. Real haben Rent-
nerinnen und Rentner also mehr als 5 Prozent weniger in
der Tasche, ich wiederhole: mehr als 5 Prozent.


(Beifall bei der LINKEN)


Das ist der Aufschwung, von dem Sie sprechen. Das ist
kein Aufschwung, sondern das ist eine Verhöhnung von
Menschen, denen dieses Land für ihre Aufbauleistung
erheblichen Dank schuldet.

Sie berauschen sich an Ihrem Aufschwung, den zu be-
jubeln Sie nicht müde werden. Für das Jahr 2007 hatten
Sie eine Lohnentwicklung von 1,8 Prozent prognosti-
ziert. Das ist nicht gerade ein ambitioniertes Ziel für ein
Aufschwungjahr. Geworden sind es dann gerade einmal
1,4 Prozent. Auch bei den Arbeitnehmern kommt Ihr
Aufschwung nicht an. Statt der zu erwartenden Renten-
erhöhung von 1 Prozent beträgt diese ohne Ihre Not-
operation nicht einmal ein halbes Prozent. Da trauen Sie
sich noch, für 2012 von einer Lohnerhöhung von 2,2 Pro-
zent auszugehen und weiter anzunehmen, dass diese bis
2020 gleichmäßig auf 3 Prozent ansteigt und danach
konstant bleibt. Falls Sie es immer noch nicht bemerkt
haben: Das Einzige, was bei Ihnen beschäftigungsmäßig
explodiert, ist der Niedriglohnsektor, ist Leiharbeit, sind
Mini- und Midijobs. Insoweit sind solche Annahmen
Wolkenkuckucksheime und völlig unverantwortlich.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber in einem haben Ihre Planungen wirklich innova-
tiven Charakter. Das ist sicherlich das erste Geschenk
mit garantierter eingebauter Rückgabeverpflichtung.
46 Euro mehr wird der sogenannte Eckrentner 2008
nach Ihrem Entwurf erhalten. Der Betrag steigert sich
auf bis zu 189 Euro im Jahr 2011. Aber ab 2013 wird die
Rente nach Ihrem neuen Plan nun niedriger sein als nach
dem bisherigen. Das wird auch mindestens bis 2030 so
bleiben. Dumm ist nur, wenn man in den fetten Jahren
nicht profitieren kann, weil der Rentenbezug erst in den
mageren Jahren beginnt. Die heute 60-Jährigen, die 2013
in Rente gehen, profitieren von Ihrer Regelung nicht
mehr, sondern sie zahlen nur noch drauf.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist wahr!)


Bei den 17 Bezugsjahren, von denen auch der Bundes-
minister gerade eben gesprochen hat, wären das rund






(A) (C)



(B) (D)


Volker Schneider (Saarbrücken)

400 Euro weniger. Da sagen wir als Linke: Sozial ge-
recht sieht anders aus.


(Beifall bei der LINKEN)


Abschließend noch ein Wort zum Thema Generatio-
nengerechtigkeit. Auch durch das Dreisäulenmodell
wird der Finanzbedarf für die Altersvorsorge insgesamt
nicht niedriger. Bei dem Rentenreformgesetz von 1992
war für 2030 ein Beitragssatz in der gesetzlichen Ren-
tenversicherung von maximal 28 Prozent angenommen
worden. Die rot-grünen Rentenreformen senkten den zu
erwartenden Beitragssatz auf 22 Prozent im selben Jahr.
Die daraus resultierenden Leistungskürzungen in der ge-
setzlichen Rentenversicherung machen jedoch eine zu-
sätzliche private Altersvorsorge nötig. Das sind 3 Prozent
Riester, wenn wir die staatliche Förderung von 25 Prozent
abziehen, plus weitere 3 Prozent sonstige private Vor-
sorge. Das macht zusammen – man staunt – ebenfalls
28 Prozent, nur dass jetzt die Arbeitnehmer nicht mehr 14,
sondern 17 Prozent zu tragen haben. Gespart wird also
nichts.

Im Gegenteil: Die Studie „Altersvorsorge in Deutsch-
land – AVID –“ lässt eher vermuten, dass 6 Prozent pri-
vate Vorsorge nicht ausreichen werden, um das vorher-
gehende Versorgungsniveau zu erreichen. Wie sähe die
aktuelle Beitragsversorgung aus? Nach der Gesetzeslage
von 1992 läge der Beitragssatz heute bei rund
22 Prozent. Die Hälfte, also 11 Prozent, zahlt der Arbeit-
nehmer. Aktuell sind es für den Arbeitnehmer 9,75 Pro-
zent plus 6 Prozent private Vorsorge, also 15,75 Prozent,
oder er riskiert eine deutlich abgesenkte Versorgung im
Alter. Was daran generationengerechter sein soll, wenn
jüngere Arbeitnehmer schon heute und nicht erst 2030
deutlich höhere Beiträge für die Altersvorsorge einzah-
len müssen und sich trotzdem auf niedrigere Versor-
gungsleistungen im Alter einstellen müssen, bleibt das
Geheimnis der Kollegen Spahn, Fuchs und von wem
auch immer, der meinte, sich an dieser Debatte beteili-
gen zu müssen.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Konflikt besteht nicht zwischen Alt und Jung,
sondern zwischen oben und unten in dieser Gesellschaft,
zwischen Arm und Reich. Unternehmen und Besitzer
von Kapitalvermögen sind diejenigen, die den Löwen-
anteil des Aufschwungs einstreichen. Gleichzeitig ent-
ziehen sie sich ihren gesamtgesellschaftlichen Verpflich-
tungen. Von wegen Eigentum verpflichtet! Sie zahlen
schon heute nur 9,75 Prozent statt 11 Prozent und per-
spektivisch 2030 nur 11 Prozent statt 14 Prozent in die
gesetzliche Rente.

Für die Linke sind bezahlbare Renten für die jüngere
Generation und ein würdevolles Leben im Alter keine
Gegensätze. Sie sind eine Frage des politischen Willens.
Aber dazu fehlt dieser Bundesregierung der Wille. Mit
dem jetzt vorgelegten Taschenspielertrick werden Sie
sich auf Dauer nicht über die Runden retten können. Für
die Linke gehört der Riester-Faktor nicht aufgeschoben,
sondern abgeschafft. Mit ihm sollten alle weiteren rot-
grünen Dämpfungsfaktoren abgeschafft werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615401200

Nächster Redner ist der Kollege Fritz Kuhn, Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615401300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Das, was der Kollege Schneider von den Lin-
ken soeben vorgetragen hat, war nicht ehrlich.


(Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN)


Wer – wie die Linke – ignoriert, dass es in dieser Gesell-
schaft ein demografisches Problem gibt, der muss zu
Rentenfragen eigentlich schweigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Lafontaine hat immer wieder gesagt, die demografi-
sche Frage sei eigentlich eine neoliberale Erfindung. Sie
lehnen alle Vorschläge, die als ein sich in der Rentenfor-
mel niederschlagender Reflex auf die demografische
Entwicklung zu verstehen sind, kategorisch ab. Würde
man dem Rentenmodell der Linken folgen – ich habe
mir einmal die entsprechenden Zahlen angeschaut –,
käme es bis 2030 zu einer Beitragserhöhung auf 28 Pro-
zent.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Stimmt, das habe ich vorgetragen!)


Das heißt, der Durchschnittsverdiener müsste im Jahr
1 700 Euro mehr Beitrag zahlen. Deswegen ist das, was
Sie hier vortragen, einfach nicht ehrlich. Sie scheiden für
mich aus der Diskussion wirklich aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: So ein Quatsch!)


Damit hier kein Missverständnis aufkommt, will ich
hinzufügen: Als wir in den Medien gehört haben, der
Bundesarbeitsminister wolle die Renten in den Jahren
2008 und 2009 erhöhen, fanden wir es richtig; schließ-
lich können wir die soziale Lage der Rentner, vor allem
der kleinen Rentner, natürlich nicht ignorieren. Gerade
diejenigen, die kein privates Vermögen haben, die keine
Wohnungen besitzen, also diejenigen, die unten sind, ha-
ben Probleme. Als wir aber gesehen haben, mit welcher
Technik Sie, Herr Scholz, diese Rentenerhöhung vor-
nehmen wollen, sind wir zu dem Ergebnis gekommen:
Das können wir nicht mittragen; denn es ist ein willkür-
licher Eingriff.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615401400

Herr Kollege Kuhn, der Kollege Ernst würde gerne

eine Zwischenfrage stellen.


Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615401500

Nein, daran habe ich kein Interesse.


(Lachen bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Fritz Kuhn
– Ihnen fehlt die Grundlage für diese Debatte. Deswegen
hat es keinen Sinn.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Herr Kuhn, Sie haben überhaupt keine Ahnung, deswegen trauen Sie sich nicht!)


Die erste Frage, der Sie, Herr Arbeitsminister, sich
stellen müssen, ist folgende: Wenn 3,1 Prozent Infla-
tion für den kleinen Rentner eine unzumutbare Belas-
tung sind – das finde ich auch –, warum sind sie das
nicht auch für die Arbeitslosengeld-II-Bezieher? Sie
müssen wissen: 3 Prozent Inflation kann für bestimmte
Haushaltsformen eine Verteuerung um bis zu 6 Prozent
und mehr bedeuten, weil man nicht ausweichen kann.
Mit dem, was Sie hier vorlegen, beantworten Sie diese
Frage nicht.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Für eine der Ursachen dieser Kostensteigerung ist
diese Bundesregierung verantwortlich, nämlich für die
ruhmreiche Mehrwertsteuererhöhung, unter der die
Leute weiter leiden. Das, was Sie vorlegen, ist kein run-
des Konzept.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ordnungspolitisch müsste folgender Grundsatz gel-
ten: Wer durch haushaltsrelevante Politik wie eine Mehr-
wertsteuererhöhung bei denjenigen Menschen, die sehr
wenig haben, soziale Probleme schafft, der muss darauf
auf Ebene des Haushalts reagieren und der darf nicht
willkürlich in die Rentenformel eingreifen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Also stimmen Sie der FDP zu, Herr Kuhn?)


Ein solcher Eingriff darf meines Erachtens nicht möglich
sein. Wenn Sie ihn doch vornehmen, dann geraten Sie
ordnungspolitisch in ein ziemliches Chaos.

Tatsächlich führt der Eingriff in die Rentenformel
nur zu einer Verschiebung: Heute etwas geben, morgen
wird’s bezahlt. Dies bedeutet Kosten von insgesamt
12 Milliarden Euro, die durch noch nicht vollzogene
Lohnnebenkostensenkungen in den Jahren 2011 und
2012 finanziert werden müssen. Die Riester-Stufe muss
nachgeholt werden, und dies wird dann später durch zu
geringe Rentenerhöhungen wieder von den Rentnern zu
bezahlen sein.

Das Absurdeste Ihres Vorgehens ist, dass Sie die Er-
höhung im Jahr 2009 vornehmen. Zu 2008 kann man ja
noch sagen, dies geschehe, weil die Rentenentwicklung
der Lohnentwicklung nachhinkt. Aber dass Sie das Glei-
che im Jahr 2009 auch machen wollen, obwohl wir im
Jahr 2008, also dem Vorjahr, starke Lohnzuwächse ha-
ben und die Renten ohnehin über das Maß der vergange-
nen Jahre hinaus steigen werden, ist mit nichts anderem
zu erklären als damit, dass Sie sich gesagt haben: Wenn
wir uns jetzt hiermit schon den ordnungspolitischen Är-
ger einhandeln, dann wollen wir zumindest im Wahljahr
noch richtig eins draufpacken. Die Rentenerhöhungen
des Wahljahres, des nächsten Jahres, werden mit über
2 Prozent, vielleicht mit 2,2 bis 2,5 Prozent, so hoch
sein, wie es diejenigen der darauffolgenden drei Jahre
zusammen nicht sein werden. Damit ist doch ganz klar,
was Sie da eigentlich vorhaben und anrichten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)


Deswegen werden wir diesem Murks nicht zustim-
men, den Sie da vorlegen, denn es hätte auch andere
Möglichkeiten gegeben, die im Jahr 2008 auftretenden
Probleme auszugleichen. Sie hätten sich zum Beispiel
die Frage stellen können, ob es nicht richtiger wäre, die
Grundsicherung zu erhöhen; denn diejenigen, die in
der Altersgrundsicherung sind, werden aufgrund Ihres
Vorschlags nur 2 Euro monatlich bekommen. Oder Sie
hätten sagen können: Es wird einmalig aus dem Bundes-
haushalt ausgeglichen,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Unser Vorschlag!)


entweder nach dem Modell, das Sie dargestellt haben,
oder etwa dadurch, dass Sie ein Jahr lang für die Bezie-
her von Arbeitslosengeld II die Halbierung vom 1. Ja-
nuar 2007 zurücknehmen und doch die vollen Renten-
versicherungsbeiträge einzahlen.

Der Witz ist ja, Herr Scholz: 2 Milliarden Euro kostet
es den Bundeshaushalt ohnehin. Mit diesen 2 Milliarden
Euro hätten Sie das Problem im Jahr 2008 tatsächlich lö-
sen können, und diese Operation wäre gar nicht nötig.

Sie zerstören Vertrauen in die Rentenformel. Wel-
chen anderen Sinn als Verlässlichkeit hat denn die Ren-
tenformel? Wenn Sie wegen eines Problems, das real in
einem Jahr besteht, in diese Formel eingreifen, dann zer-
stören Sie Verlässlichkeit und Kalkulierbarkeit, und Sie
schädigen damit in großem Maße das Vertrauen, dass
Politik nachhaltige Rentenpolitik überhaupt organisieren
und finanzieren kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen hat die Bundeskanzlerin nicht Recht. Sie
hat Herrn Scholz vorgeworfen, er hätte das schlecht ver-
kauft. Aber sie hat nicht dazu gesagt, dass es Murks ist,
was er gut hätte verkaufen sollen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ein ordnungspolitisches Meisterstück! Damit das auch mal im Protokoll des Bundestages steht!)


Ich meine, damit hat sie ihn überfordert. Diesen Murks
kann man nicht gut verkaufen. Er gehört so verkauft, wie
er verkauft worden ist, weil das schlechte Gewissen und
der willkürliche Eingriff in die Rentenformel einfach
nicht durch Schauspielerei wegzureden sind.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615401600

Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem

Kollegen Ernst.


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1615401700

Herr Kollege Kuhn, einfach nur zur Klarstellung: Sie

haben jetzt eben behauptet, die Linke wäre für eine Ren-
tenerhöhung auf 28 Prozent.


(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! – Weiterer Zuruf: Eine Beitragssatzerhöhung!)


– Eine Beitragssatzerhöhung auf 28 Prozent;


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Der macht schon beim Zuhören Fehler!)


keine Aufregung, wir bringen das gleich in Ordnung.

Wenn Sie meinem Vorredner Schneider zugehört hät-
ten, dann hätten Sie festgestellt, dass er gesagt hat: Im
Jahr 2030 werden wir tatsächlich einen realen Beitrag
von 28 Prozent haben, allerdings mit einem Unterschied.
Dieser Beitrag von 28 Prozent wird nicht mehr paritä-
tisch finanziert sein, sondern es werden 11 Prozent Ar-
beitgeberbeitrag, aber faktisch 17 Prozent Arbeitneh-
merbeitrag sein.

Sind Sie wenigstens bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass, wenn dieser Beitrag von 28 Prozent paritätisch fi-
nanziert werden würde, der Beitrag für die Arbeitnehmer
auf 14 Prozent sinken würde, also 3 Prozent geringer
wäre als vorher? Zumindest auf diese mathematische
Betrachtung des Problems müsste man sich in diesem
Haus doch verständigen können. – Dies ist das Erste,
Herr Kuhn.

Das Zweite: Wenn ausgerechnet Sie von den Grünen
im Zusammenhang mit der Rentenformel von Verläss-
lichkeit reden, dann haut es einem ja den Gürtel vor. Das
kann doch nicht wahr sein! Sie haben doch die Renten-
formel in einer Art und Weise verändert, und zwar unter
Ihrer Regierung mit der SPD,


(Beifall bei der LINKEN)


dass heute jeder weiß, dass er als Rentner in Armut leben
wird bzw. nicht mehr von seiner Rente wird leben kön-
nen.

Im Übrigen, Herr Kuhn, auch das ist falsch: Der Sinn
der Rentenformel ist nicht Verlässlichkeit. Der Sinn der
Rentenformel ist, dass die Rentner im Alter vernünftig
leben können. Den haben Sie zerstört; das will ich in al-
ler Klarheit sagen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615401800

Herr Kollege Kuhn, Sie dürfen antworten.


Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615401900

Die 28 Prozent, Herr Kollege Ernst, kommen folgen-

dermaßen zustande: Wir haben uns angeschaut, was Sie
bei den Rentenreformen der letzten Jahre, die unter den
Stichworten „Demografie“ und „Generationenvertrag“
gemacht wurden, alles abgelehnt haben. Wenn man dies
auf der Basis dessen, was Sie alles abgelehnt haben,
rechnet – Sie wollten immer schön populistisch das
Händchen fein sauber halten –,


(Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Was ist daran populistisch?)


kommt man auf die 28 Prozent im Jahre 2030.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Das haben wir nie bestritten!)


Wenn ich das umrechne, dann kann ich Ihnen nach-
weisen, wie viel mehr das die Beschäftigten kostet.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Geteilt durch zwei!)


Das ist eine einfache Rechnung. Wir können sie einmal
öffentlich gemeinsam ausführen. Sie können sich aber
nicht bei jedem Punkt, der aus demografischen Gründen
im Rentensystem reformiert wird, sozusagen einen
schlanken Fuß machen und dann von uns verlangen,
nicht mehr daran erinnert zu werden, welche Konse-
quenzen Ihre Politik hätte.

Außerdem möchte ich die willkürlichen Eingriffe an-
sprechen. Ich nenne es willkürlich, die Rentenformel
durch das Aussetzen der Riester-Stufe zu verändern, um
ein Problem im Jahre 2008 zu lösen. Die Grundreformen
der letzten Jahre – ob von Rot-Grün oder der Großen
Koalition – tragen aber einer Grundtatsache Rechnung.


(Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Grundlegend falsch! – Weitere Zurufe von der LINKEN)


– Er hat doch eine Frage gestellt. Benehmen Sie sich
also und hören Sie bei der Beantwortung zu! Das ist
doch nicht so schwer, auch wenn es wehtut. – Die Ren-
tenformel muss eines berücksichtigen: den Generatio-
nenvertrag.

Wenn die heutigen jungen Einzahler merken, dass sie
zwar einzahlen, aber beim Stand der alten Rentenformel
keine auskömmlichen Renten bekommen, dann muss der
Staat, wenn er Verantwortung übernimmt, in die Renten-
formel eingreifen. Dies darf nicht willkürlich und mit
schnellem Atem geschehen, sondern prinzipiell, wie wir
es zum Beispiel mit der Riester-Rente gemacht haben.
Diese lehnen Sie ja draußen immer noch populistisch ab.

Deswegen sage ich noch einmal: Sie haben in diesem
Hause nicht auf diese Weise über die Seriosität, was den
Generationenvertrag angeht, zu sprechen, denn draußen
reden Sie anders. Das war der Sinn meiner Ausführun-
gen, Herr Ernst. – Vielen Dank noch für Ihre Frage.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD – Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Nein, wir reden überall gleich!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615402000

Nächste Rednerin ist die Kollegin Elke Ferner, SPD-

Fraktion.






(A) (C)



(B) (D)


Elke Ferner (SPD):
Rede ID: ID1615402100

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!

Es ist in den letzten Tagen und Wochen viel zum Thema
Generationengerechtigkeit gesagt worden, insbeson-
dere von jüngeren Kollegen und Kolleginnen aus dem
Hause. Es heißt, die Aussetzung der sogenannten Riester-
Treppe und die damit verbundene höhere Rentenanpas-
sung gefährdeten das Prinzip der Generationengerechtig-
keit. Ich halte das für ebenso falsch wie zynisch; denn
diejenigen, die zur heutigen Rentnergeneration gehören
– das ist die Generation meiner Eltern –,


(Katrin Kunert [DIE LINKE]: Meine sind stinksauer!)


haben den Zweiten Weltkrieg miterleben müssen – wir
haben dazu heute früh Eindrucksvolles gehört –, sind in
der Nachkriegszeit aufgewachsen. Sie haben wesentlich
schlechtere und weniger Bildungschancen gehabt als die
Angehörigen meiner Generation, der Generation danach,
haben in den 50er- und 60er-Jahren aber die Grundlagen
für den relativen Wohlstand unserer Gesellschaft gelegt.


(Beifall bei der SPD – Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Sehr richtig!)


Wenn wir über Generationengerechtigkeit reden, soll-
ten wir die Lebensleistung dieser Rentnergeneration, die
im Vergleich zu der meiner Generation oder auch der
nachfolgenden Generationen eine ganz besondere ist,
nicht kleinreden, indem wir jetzt künstlich einen Genera-
tionenkonflikt aufmachen, der so überhaupt nicht exis-
tiert.

Es geht nicht nur um Generationengerechtigkeit, son-
dern auch um Solidarität zwischen den Generationen.
Diese ist nicht nur daran zu messen, ob eine Rentenfor-
mel akribisch umgesetzt wird. Es geht auch darum, dass
alle Generationen an dem Wohlstand, der erarbeitet wor-
den ist, teilhaben können. Die Rentenformel ist kein
Dogma, darf auch kein Dogma sein, sondern muss sich
an der Lebenswirklichkeit der Menschen orientieren,
und die Lebenswirklichkeit ist, dass die Rentner und
Rentnerinnen wie die Arbeitnehmer und Arbeitnehme-
rinnen auch Preissteigerungen zu verkraften haben. Inso-
fern ist jetzt zwar kein vollständiger Ausgleich, aber
doch zumindest eine Verbesserung möglich.

Herr Kolb, es wundert mich schon ein bisschen, wenn
Sie auf der einen Seite beklagen, dass die Rentenanpas-
sung zu gering sei, gleichzeitig aber sagen, an der Ren-
tenformel dürfe nichts geändert werden. Sie fordern
steuerliche Entlastungen. Wenn ich mich nicht sehr ver-
hört habe, dann habe ich eben von Ihnen gehört, dass Sie
eine Steuerentlastung auf den Energieverbrauch der
Rentnerinnen und Rentner fordern. Das habe ich so ver-
standen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich habe zwei Vorschläge gemacht! Soll ich Ihnen das noch einmal erklären?)


Wenn das wirklich ein ernsthafter und seriöser Vorschlag
von Ihnen ist, dann weiß ich nicht, was Sie als Mitglied
der Regierung Kohl/Genscher überhaupt gelernt haben.
In dieser Zeit haben Sie auch in Rentenformeln einge-
griffen und beispielsweise die Kosten der deutschen Ein-
heit im Wesentlichen über die Sozialversicherungssys-
teme und die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler
finanziert.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615402200

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Herrn Kollegen Kolb?


Elke Ferner (SPD):
Rede ID: ID1615402300

Ja, gern.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1615402400

Frau Kollegin Ferner, ich bedanke mich für die Gele-

genheit, die beiden Vorschläge, die ich gemacht habe,
näher zu erläutern. Wären Sie bereit, Folgendes zur
Kenntnis zu nehmen? Ich habe gesagt, eine Möglichkeit
wären gezielte steuerliche Entlastungen der Rentner-
haushalte, zum Beispiel bei den Energiesteuern, weil
die Rentner besonders von den Preissteigerungen, die
gerade bei den Kraftstoffen wie Benzin und Heizöl zu
verzeichnen sind, betroffen sind. Das wäre eine Mög-
lichkeit.


(Andrea Nahles [SPD]: Wo ist Ihre Frage?)


Die andere Möglichkeit ist ehrlicher. Hier hat mir jetzt
sogar der Herr Kollege Kuhn von den Grünen zuge-
stimmt. Die andere Möglichkeit wäre, den Rentnern ein-
fach einen Scheck in der Höhe zu schicken, die sich
rechnerisch ergibt. Das sind für die beiden Jahre durch-
schnittlich 200 Euro. So etwas gibt es in den USA auch
immer mal wieder. Dann hätten Sie konkret einen Finan-
zierungsbeitrag zu dem, was die Rentnerinnen und Rent-
ner Tag für Tag in Deutschland ausgeben müssen, um ih-
ren Unterhalt zu fristen. Das sind die beiden
Alternativen.


(Andrea Nahles [SPD]: Wo ist Ihre Frage?)


Wir können über beide Möglichkeiten reden. Entschei-
dend ist, dass der Ausgleich nicht aus der Rentenkasse
erfolgen kann, weil hier nicht die Masse vorhanden ist.
Vielmehr muss die Finanzierung aus dem Haushalt er-
folgen. Weil Herr Steinbrück auch das Gros der Mehr-
einnahmen aus dem Aufschwung für sich vereinnahmt
hat, soll er auch für diese Geschenke geradestehen. Wä-
ren Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?


Elke Ferner (SPD):
Rede ID: ID1615402500

Herr Kollege Kolb, ich nehme zur Kenntnis, dass Ihre

Tätigkeit in einer Bundesregierung offenbar nicht dazu
geführt hat, dass Sie die Dinge mit klarem Blick sehen.
Erstens. Eine Steuerentlastung auf Energiekosten nur
für Rentnerinnen und Rentner entspricht für mich – ob-
wohl ich keine Juristin bin – nicht dem Gleichheitsprin-
zip des Grundgesetzes. Es gibt sehr wohl auch Familien,
die mit sehr wenig Geld auskommen müssen und die un-
ter den hohen Preisen und Energiekosten leiden. Aus
diesem Grund haben wir beispielsweise das Wohngeld
erhöht.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir wollen das sowieso für alle!)







(A) (C)



(B) (D)


Elke Ferner
– Herr Kolb warten Sie doch die Antwort ab. Sie dürfen
gern noch einmal nachfragen. – Wir werden also deshalb
das Wohngeld erhöhen und eine Energiekostenkompo-
nente in das Wohngeld einbauen.

Zweitens. Sie sagen, wir sollten jetzt einfach
200 Euro ausschütten, die aus dem Bundeshaushalt zu fi-
nanzieren sind. Entscheiden Sie bitte, was Sie wollen:
Mehrausgaben aus dem Bundeshaushalt oder Einsparun-
gen?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Andrea Nahles [SPD]: Jawohl!)


Sie fordern die Abschaffung der Mehrwertsteuererhö-
hung. Das bedeutet geringere Einnahmen. Damit kann
auch weniger ausgegeben werden. Das ist eigentlich
ganz logisch. Das scheinen Sie aber nicht begreifen zu
können.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nehmen Sie doch 2 Milliarden aus dem Bundeshaushalt!)


Ich möchte noch auf einen Punkt eingehen, den der
Kollege Kuhn eben angesprochen hat. Herr Kuhn, Sie
haben eben gesagt, nach Ihrer Auffassung hätte man die
Grundsicherung anheben können. Man kann die
Grundsicherung zum einen nicht losgelöst sehen, denn
sie hängt mit allen Grundsicherungssystemen zusam-
men. Zum anderen ist auch Ihre Aussage falsch, dass die
Grundsicherungsbezieher von der Rentenerhöhung
nichts haben; denn die Höhe und die Steigerungsrate der
Grundsicherung sind an den Mechanismus der Ren-
tenanpassung gekoppelt. Es gibt also auch dort eine Er-
höhung. Wie ich höre, wurde im Arbeits- und Sozialaus-
schuss gesagt, zwei Euro seien viel Geld, wenn es um
das Thema SGB II gehe. Wenn es um das Thema Rente
geht, dann sind zwei, drei oder sechs Euro aber nicht viel
Geld. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken,
auch hier muss man sich entscheiden.


(Andrea Nahles [SPD]: Richtig! Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Es kommt darauf an, wo einem das Wasser steht!)


Ich muss auch sagen: Die Vorschläge, die alte Renten-
formel wieder einzusetzen, wobei man sich fragt, ob dies
mit oder ohne den demografischen Faktor von Herrn
Blüm erfolgen soll, was auch noch zu klären ist, sind ge-
nauso abenteuerlich wie Ihre Finanzierungsvorschläge.
Sie müssen zur Kenntnis nehmen, auch wenn es viel-
leicht ein bisschen unbequem ist, dass die demografische
Entwicklung heute Handeln erfordert, damit sowohl die
Renten für die zukünftige Generation gesichert sind als
auch sichergestellt wird, dass die Rentenbeiträge von
denjenigen, die sie bezahlen müssen, noch getragen wer-
den können. Insofern werden wir, wie ich glaube, das
Richtige tun. Wir passen gemäß den Möglichkeiten, die
wir derzeit haben, die Renten in diesem und im nächsten
Jahr an.

Ich hoffe, dass wir uns in der nächsten Zeit auch ein-
mal über das Thema unterhalten, wie wir für armutsfeste
Renten sorgen können. Meiner Meinung nach könnten
wir das erreichen, indem wir durch die Festlegung von
Mindestlöhnen für existenzsichernde Löhne sorgen und
uns darum kümmern, dass beispielsweise Frauen häufi-
ger Vollzeit statt Teilzeit arbeiten können. Dies wäre in
meinen Augen besser als die Einführung eines Erzie-
hungsgehalts bzw. eines Betreuungsgeldes, worüber ja in
Teilen des Hauses diskutiert wird.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615402600

Ich gebe das Wort dem Kollegen Max Straubinger,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1615402700

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Die Rentenpolitik ist von jeher ein Anlass für Auseinan-
dersetzungen hier im Parlament. Darüber hinaus ist es
aber entscheidend, dass es uns gelingt, den Bürgerinnen
und Bürgern zu verdeutlichen, dass wir ein gutes Ren-
tensystem haben, das sie im Alter vor Armut schützt.
Diese Aussage sollten wir, wie ich glaube, häufiger in
den Mittelpunkt unserer politischen Debatten und Dis-
kussionen stellen. Deshalb, verehrter Kollege Kolb,
missbillige ich durchaus, dass Sie hier in dieser Debatte,
bei der es um die Erhöhung der Renten geht, von Mani-
pulation der Rentenformel, von Almosen für die Rentne-
rinnen und Rentner bzw. dem Kauf von Wählerstimmen
sprechen, nur weil Ihnen der Weg nicht gefällt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Danke für die Wiederholung!)


Ich glaube, dass dies nicht angemessen ist für eine De-
batte, in der es um die soziale Sicherung der Rentnerin-
nen und Rentner in Deutschland geht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich möchte hier darlegen, dass unser Rentenversiche-
rungssystem auf stabilen Grundfesten ruht, nämlich auf
dem Generationenzusammenhalt. Das heißt, diejeni-
gen, die im Erwerbsleben stehen und damit Beitragszah-
ler sind, können sich im Alter darauf verlassen, dass sie
abhängig von den geleisteten Beiträgen eine Rente be-
kommen. Damit ist zugleich der Anspruch an die gesetz-
liche Rentenversicherung verbunden, im Alter eine fi-
nanzielle Lebensgrundlage zu bieten.

Natürlich sind in der Vergangenheit vor dem Hinter-
grund der demografischen Entwicklung immer wieder
Anpassungen im Rentenversicherungssystem erfolgt; diese
werden auch in Zukunft – davon bin ich überzeugt – im-
mer wieder nötig sein. Auch die FDP hat ja noch 1992
einen entsprechenden Beitrag geleistet, indem sie mit für
die Einführung des Mechanismus gesorgt hat, dass Ren-
tenerhöhungen erst verzögert erfolgen, nämlich nach
entsprechenden Lohnerhöhungen in der Vergangenheit.
Dies ist meines Erachtens ebenfalls darzustellen. Auch
unter diesem Gesichtspunkt muss die geplante Renten-
erhöhung betrachtet werden.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615402800

Herr Straubinger, gestatten Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Schewe-Gerigk?


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1615402900

Ja.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herzlichen Dank, Herr Kollege Straubinger, dass Sie
mir Gelegenheit zu einer Zwischenfrage geben. – Sie
sind ja Mitglied der CSU. Man hört nun, dass Minister
Seehofer und auch Kollege Ramsauer der Meinung
seien, man solle die Riester-Treppe, also diese 0,6 Pro-
zent, für die nächsten vier Jahre ganz aussetzen.


(Thomas Oppermann [SPD]: Hört! Hört!)


Ich möchte Sie vor diesem Hintergrund fragen: Sind Sie
auch dieser Meinung? Wenn ja, möchte ich Sie als Zwei-
tes gerne fragen, ob Sie wissen, dass das 115 Milliarden
Euro kostet.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ein bisschen viel!)


Als Drittes möchte ich Sie gerne fragen, wie Sie das fi-
nanzieren wollen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt wird es gefährlich, Herr Kollege! Achtung! – Weiterer Zuruf vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Gute Frage!)



Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1615403000

Werte Frau Kollegin, herzlichen Dank für die Frage.

Das gibt mir die Gelegenheit, darzustellen, dass der
Riester-Faktor nicht zu einem beständigen Faktor der
Rentengesetzgebung werden darf. Er ist ja daraufhin an-
gelegt, dass er irgendwann ausläuft.


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor der bayerischen Landtagswahl?)


Ich bin überzeugt davon, dass er dann 2012 auch endgül-
tig auslaufen wird.

Natürlich, Frau Kollegin Schewe-Gerigk, sind wir
eine Volkspartei.


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!)


Eine Volkspartei ist breit aufgestellt, und in manchen
Diskussionsprozessen gibt es viele Meinungen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wer hat denn das Sagen?)


Diese Meinungen werden in einer breiten Volkspartei,
wie es die CSU ist, kanalisiert und dementsprechend zu
einem guten Gesamtergebnis zusammengeführt. Das ist
meines Erachtens das Entscheidende. Wir werden diese
Diskussion sehr eindringlich in unseren eigenen Reihen
führen.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber Sie sind dafür? – Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Gegen eine vernünftige Rente!)


– Ich bin nicht dafür.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Also mit der CSU für und gegen vernünftige Renten!)


– Wir sind immer für vernünftige Lösungen.

Werte Damen und Herren, ich glaube, dass dieser Ent-
wurf eines Gesetzes zur Rentenanpassung, den wir heute
einbringen, auch bedeutet, dass wir dem sozialpoliti-
schen Beistand für die Rentnerinnen und Rentner beson-
deres Gewicht beimessen. Dies ist meines Erachtens
auch erforderlich. Heute wurde ja bereits vielfältigst dar-
gelegt, dass Preissteigerungen und dergleichen mehr zu
großen Belastungen der Rentnerinnen und Rentner
ebenso wie aller Bürgerinnen und Bürger – auch derjeni-
gen, die über kleine Einkommen verfügen – führen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das macht es aber nicht besser! – Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Der Arbeitslosen auch!)


Deshalb gilt es hier nicht, Preissteigerungen zu berück-
sichtigen. Vielmehr geht es nach der guten Formel, dass
die Rente an die Entwicklung der Löhne und Gehälter
angepasst wird. Das wird auch weiterhin so sein – unter
den demografischen Gesichtspunkten.

Dass die Linke in unserem Haus die demografischen
Gesichtspunkte ausblendet, das liegt direkt auf der
Hand. Von ihrem Vorsitzenden Lafontaine wurde die de-
mografische Entwicklung immer ausgeblendet. Er war ja
einmal SPD-Vorsitzender. Zu diesem Zeitpunkt, 1997,
als wir den demografischen Faktor eingeführt haben, hat
die SPD die demografische Entwicklung ausgeblendet.
Im damaligen Bundestagswahlkampf ist gesagt worden,
dieser sei nicht notwendig. Damals wurde er von
Lafontaine ausgeblendet. Genauso muss es jetzt bei der
Linken weitergehen.

Herr Kollege Ernst, Ihr Modell bedeutet, dass die Bei-
tragszahler mit bis zu 28 und 30 Prozent belastet werden.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: 28!)


Das zeigt natürlich sehr deutlich, dass Sie eine Politik an
den Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer vorbei betreiben.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ausgerechnet!)


Sie beklagen, dass es keine paritätische Finanzierung
der Renten gebe. Dies ist aber in Zukunft mit der Kom-
bination der Riester-Rente gewährleistet; denn die um-
fangreichen staatlichen Zuschüsse über Steuergelder mit
einer Förderung von bis zu 80 Prozent bei der Riester-
Rente sind eine Form der paritätischen Finanzierung der
Zukunftssicherung im Alter. Dies sollten wir in das
Blickfeld rücken und nicht einfach kleinkrämerisch ab-






(A) (C)



(B) (D)


Max Straubinger
zählen, welche Beiträge geleistet werden. Dass damit
über die Steuerzahler ein wesentlicher Beitrag für die Si-
cherung der Bürgerinnen und Bürger im Alter geleistet
wird, das ist sehr deutlich anzuerkennen. In diesem
Sinne erleichtert dies gerade der jüngeren Generation die
Möglichkeit, verstärkt Eigenvorsorge zu betreiben, was
bereits in der Vergangenheit Gebot der Stunde war.

Auch wenn es jetzt 10 Millionen Riester-Verträge
gibt, so gab es bereits vor Beginn der Riester-Rentenge-
setzgebung bzw. der kapitalgestützten Rentengesetzge-
bung 80 Millionen Lebensversicherungsverträge und Ver-
träge der betrieblichen Altersvorsorge.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Es ist also nichts Neues, dass wir für das Alter zusätzlich
vorsorgen müssen. Das wurde ja nicht im Jahr 2005 oder
2006 erfunden. Ständiges Gebot war vielmehr: Wer sei-
nen Lebensstandard im Alter aufrechterhalten möchte,
kann sich nicht nur auf die gesetzliche Rentenversiche-
rung verlassen, –


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615403100

Herr Kollege!


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1615403200

– sondern muss zusätzlich vorsorgen. Das ist das Ge-

bot der Stunde.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615403300

Das Wort hat der Kollege Anton Schaaf, SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)



Anton Schaaf (SPD):
Rede ID: ID1615403400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich
festhalten: Die Opposition im Deutschen Bundestag ist
sich in dem Punkt einig, dass sie die Rentenerhöhung um
1,1 Prozent für Rentnerinnen und Rentner in diesem Jahr
nicht will. Das ist offensichtlich die Botschaft, die uns
allen klar geworden ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Habe ich das gesagt?)


Herr Kuhn, Sie brauchen nicht mit dem Kopf zu schüt-
teln. Sie haben gesagt, dass wir sozusagen an Prinzipien
rütteln, wenn wir an die Dämpfungsfaktoren herangehen.
Die Dämpfungsfaktoren sind aber keine Prinzipien, son-
dern Instrumente, um Ziele zu erreichen. Eines dieser In-
strumente setzen wir jetzt aus, weil wir der festen Über-
zeugung sind, dass dieses Jahr nach drei Nullrunden eine
Minianpassung für Rentnerinnen und Rentner schlicht
nicht zumutbar ist. Wir wollen die Rentnerinnen und
Rentner nicht auf mögliche Rentensteigerungen auf-
grund späterer Lohnzuwächse vertrösten; wir wollen sie
jetzt am wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben lassen.
Darum geht es. Die vorhandenen Möglichkeiten nutzen
wir dazu aus.

Herr Kolb, Sie haben im Ausschuss das Beispiel ge-
bracht, dass der Blumentopf beim Nachbarn – nicht bei
der Erbtante – geklaut worden ist. Außer der materiellen
Frage, wer den Blumentopf bezahlt hat, gibt es aber noch
eine ideelle Sichtweise: Meine Tante freut sich sehr,
wenn ich ihr ein paar Blumen schenke.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Weil Sie das wahrscheinlich so selten machen, Herr Schaaf!)


Sie fragt nicht vorrangig danach, wer die Blumen be-
zahlt hat. Sie freut sich darüber, dass ich an sie denke, sie
nicht links liegen lasse und mich um sie kümmere. Die
Rentnerinnen und Rentner in diesem Lande werden sich
über diese Erhöhung ebenfalls freuen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dass Sie diese Maßnahme zwei Jahre vor der Bundes-
tagswahl mit Wahlkampf gleichsetzen, ist schon hochin-
teressant. Herr Kolb, ich sage Ihnen: Während Ihrer Re-
gierungszeit hatten Sie nie den Mut, die großen sozialen
Probleme in diesem Lande tatsächlich anzupacken.


(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was?)


Das haben die Regierung Schröder und die Große Koali-
tion gemacht. Sie aber hatten nie den Mut dazu. Wir
müssen kämpfen, der Bevölkerung die Notwendigkeit
der großen Sozialreformen zu verdeutlichen. Uns fallen
sie sozusagen immer wieder auf die Füße. Aber wir ha-
ben im Gegensatz zu Ihnen den Mut zu Reformen. Eine
bescheidende Erhöhung jetzt als Wahlgeschenk zu be-
zeichnen, ist aus meiner Sicht sehr abenteuerlich.


(Jörg Rohde [FDP]: Aber vor 1998 alles blockiert!)


Herr Schneider hat gesagt, die Rentenerhöhung
würde für manche Rentnerinnen und Rentner, insbeson-
dere im Westen, nur 2 Euro betragen, was sehr wenig
sei. Ich will diesen Punkt aufgreifen, weil er sehr gut do-
kumentiert, wie beliebig Ihre Argumentation ist.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Wenn es um Arbeitslosengeld-II-Empfänger geht, spricht
Frau Kipping jedes Mal davon, dass 2 Euro viel Geld
sind. Für Rentnerinnen und Rentner soll das plötzlich
nicht mehr gelten? Ihre Argumentation ist beliebig. Was
Sie da betreiben, ist Populismus pur.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615403500

Herr Kollege Schaaf, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Schneider?


Anton Schaaf (SPD):
Rede ID: ID1615403600

Nein, danke.






(A) (C)



(B) (D)


Anton Schaaf
Erlauben Sie mir noch die folgende Bemerkung. Sie
von der Linken prognostizieren einen Rentenversiche-
rungsbeitrag von 28 Prozent. Indem Sie die Beiträge
für die Riester-Rente mit einbeziehen, kommen Sie zu
dem Ergebnis, dass wir schon jetzt in Richtung 28 Pro-
zent gehen. Dabei rechnen Sie aber die enorme Förde-
rung bei Riester – das sind ja keine Beiträge des Einzel-
nen, sondern Steuergelder – als Beitrag mit ein. Wie Sie
rechnen, ist schlichtweg unredlich. Das ist der entschei-
dende Punkt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615403700

Herr Kollege, lassen Sie denn eine Zwischenfrage des

Kollegen Ernst zu?


Anton Schaaf (SPD):
Rede ID: ID1615403800

Nein, danke.

Ein weiterer Punkt. Sie werfen uns vor, dass die pari-
tätische Finanzierung verletzt wird. Sie wollen 14 Pro-
zent Versicherungsbeitrag für Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer und 14 Prozent für Arbeitgeber. Die Ge-
werkschaften müssten einmal darüber diskutieren, was
die Linke da fordert und was das für die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer bedeutet. Sie schlagen vor, dieses
Geld bei den Reichen einzusammeln. Ich sage Ihnen,
was Sie machen wollen: Sie wollen das Geld bei den
Unternehmen einsammeln. Trotzdem sind die Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer unmittelbar betroffen,
weil nämlich die Sozialversicherungsbeiträge steigen.
Das kann nicht Sinn der Sache sein.

Herr Kolb, eine letzte Bemerkung zu Ihren Ausfüh-
rungen. Sie sind nicht konsistent in Ihrer Politik, wenn
Sie sagen, wir sollten die Steuern und die Beiträge sen-
ken. Seien Sie ehrlich: Wenn wir das tun würden, müss-
ten wir sofort die Renten kürzen, weil sie dann nicht
mehr finanzierbar wären.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist doch totaler Quatsch!)


Dieses sagen Sie aber den Menschen nicht. Wir machen
keine Politik, die sich aus Prinzipienreiterei zusammen-
setzt. Man kann die Instrumente verändern. Man kann
mit ihnen auch variabel umgehen, wenn die Möglichkeit
dazu besteht. Keine Prinzipienreiterei, sondern eine an
den Menschen orientierte Politik – das ist unsere Prä-
misse.

Danke.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615403900

Letzter Redner in der Debatte ist der Kollege Peter

Weiß, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1615404000

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Wie sieht die Bilanz dieser rentenpolitischen Debatte
aus? Den einen ist es zu viel, den anderen ist es zu we-
nig. Die Wahrheit liegt – wie meist – in der Mitte, und
genau deshalb ist der Gesetzentwurf der Großen Koali-
tion zur Rentenanpassung 2008 richtig.


(Beifall der Abg. Andrea Nahles [SPD] – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: In Gefahr und großer Not bringt der Mittelweg den Tod, Herr Weiß!)


In einer sich schnell verändernden Gesellschaft, in der
die Zahl der Älteren im Verhältnis zu den Jüngeren deut-
lich zunimmt, wird es immer die Vermutung geben, dass
das Alterssicherungssystem den Alten, gemessen an ih-
rer Lebensleistung, zu wenig gibt. Andererseits werden
die Jüngeren vermuten, dass sie zu viel leisten müssten.
Angesichts dieses Dilemmas kann es eigentlich nur eine
seriöse Antwort geben: Generationengerechtigkeit, ge-
rechte Verteilung der Lasten. Die Bürgerinnen und Bür-
ger in unserem Land, ob jung oder alt, wollen nicht ir-
gendwelche schönen Sprüche, sondern die Wahrheit
hören. In Sachen Altersvorsorge lautet die Wahrheit: Es
geht nur, wenn die Lasten zwischen Jung und Alt gerecht
verteilt werden. Genau das machen wir.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! Davon verabschiedet ihr euch!)


Die Rentenerhöhungen orientieren sich weiterhin an
der Lohnentwicklung. Seit den Rentenreformen sorgen
verschiedene Abschlagsfaktoren aber dafür, dass nicht
mehr die volle Lohnerhöhung weitergegeben wird. Die
Rentnerinnen und Rentner mussten in den vergangenen
Jahren zusätzliche Belastungen verkraften: mehrere
Nullrunden, Umstellung auf Zahlung des vollen Pflege-
versicherungsbeitrags und teilweise der vollen Kranken-
versicherungsbeiträge.


(Martin Zeil [FDP]: Mehrwertsteuer!)


Im Jahr 2008 treffen zwei Sonderbelastungen zusam-
men: Die im vergangenen Jahr vorgenommene Erhö-
hung des Rentenversicherungsbeitrages wirkt sich min-
dernd auf die Rentenerhöhung 2008 aus,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eine ohne Not vorgenommene Erhöhung!)


und die bitternotwendige Reform der Pflegeversiche-
rung, die wir zum 1. Juli 2008 vornehmen, erfordert eine
Beitragserhöhung um 0,25 Prozentpunkte, die die Rent-
nerinnen und Rentner alleine tragen müssen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So was kommt von so was!)


Mit der Aussetzung des sogenannten Riester-Faktors,
der die Rentenerhöhung um weitere 0,64 Prozent min-
dert, ist ein gerechter Ausgleich möglich. Ansonsten
hätte die Rentenerhöhung in diesem Jahr nur
0,46 Prozent betragen. Ich finde, wenn solche Sonderbe-
lastungen zusammenkommen, muss in der Politik die
Regel gelten: Außergewöhnliche Situationen bedürfen






(A) (C)



(B) (D)


Peter Weiß (Emmendingen)

einer außergewöhnlichen Antwort. Genau das ist der In-
halt unseres Gesetzentwurfs.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist der Anfang vom Ende der berechenbaren Rentenpolitik!)


Wir verteilen die Lasten nicht einseitig auf die junge
Generation. Wir wollen den zeitlich ohnehin begrenzten
Riester-Faktor um zwei Jahre verschieben. Viele tun so,
als wäre der Riester-Faktor in der Rentenformel dauer-
haft gültig. Er ist aber zeitlich begrenzt und soll ohnehin
nur bis 2011 wirken.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Er wirkt aber auf Dauer niveauabsenkend, Herr Weiß!)


Die Stabilität der Rentenfinanzen wird dadurch nicht be-
einträchtigt; denn die Rentenversicherung kann dank
sprudelnder Mehreinnahmen – sie nimmt mehr ein, als
sie ausgibt –


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein!)


in 2008 und 2009 ihre finanziellen Rücklagen ausbauen,
obwohl wir die Renten um 1,1 Prozent erhöhen, was wir
jetzt beschließen wollen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wird in 2008 eng, und in 2009 wird es schon gar nicht mehr klappen!)


Dass man für die Rentnerinnen und Rentner in
Deutschland etwas tun muss, dass man dafür sorgen
muss, dass sie am wirtschaftlichen Aufschwung teilha-
ben, zeigen auch die Stellungnahmen der verschiedenen
Oppositionsfraktionen. Die Vorschläge, die vonseiten
der Opposition heute vorgelegt wurden, sind aber unsys-
tematisch. Zum Teil würden sie aktuell gar nichts bewir-
ken oder stellen simples Almosenverteilen dar.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Warum?)


Entschuldigung, Herr Kolb und Herr Kuhn, der Vor-
schlag, einfach einmalig Schecks zu verschicken – weil
es Ihnen gerade mal Spaß macht –, ist Almosenpolitik.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Rentner bezahlen die Mehrwertsteuer und profitieren nicht von der Absenkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge!)


Das, was Sie hier vorgeschlagen haben, Almosen an
Rentner zu verteilen, ist schlicht eine Beleidigung der
Rentnerinnen und Rentner in Deutschland.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Sie verpacken das nur schöner! Sie machen dasselbe!)


Die Rentnerinnen und Rentner in unserem Land sind
keine Almosenempfänger, denen man, wenn es brennt,
schnell eine Einmalzahlung überweist.


(Frank Spieth [DIE LINKE]: Das ist wohl wahr!)

Nein, die Rentnerinnen und Rentner haben aufgrund ih-
rer enormen Lebensleistung einen Anspruch auf eine an-
gemessene Rente.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Deswegen nehmt ihr es ihnen in 2011 und 2012 wieder weg?)


Nicht Almosen, sondern Rente ist gefragt. Deshalb lautet
der Antrag der Koalitionsfraktionen: Eine Rentenerhö-
hung um 1,1 Prozent ab 1. Juli 2008. Das erfolgt da-
durch, dass ein ohnehin zeitlich befristeter Faktor in der
Rente, der sogenannte Altersvorsorgefaktor, um zwei
Jahre verschoben wird. Damit wird nicht die Gesamtar-
chitektur des Rentensystems zerstört, damit wird keine
Rentenwillkür oder Rente nach Kassenlage etabliert
– oder wie sonst noch die Vorwürfe lauten –, sondern es
wird im System gehandelt und der Ausgleich im System
herbeigeführt.


(Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Frau Präsidentin, Kollege Ernst meldet sich zu Wort!)


Eines wird erreicht: Wir helfen den Rentnerinnen und
Rentnern jetzt, da es dringend notwendig ist und die
Rentenfinanzen es erfreulicherweise zulassen. Unsere
Rentnerinnen und Rentner sollen angemessen am Wirt-
schaftserfolg beteiligt werden.

Die Große Koalition handelt aber nicht einseitig. Ge-
nerationengerechtigkeit ist der Maßstab unseres Han-
delns. Damit auch die heute Jungen für das Alter eine
angemessene Versorgung aufbauen können, haben wir
– ich nenne einige Stichworte – die Entgeltumwandlung
zugunsten der Altersvorsorge dauerhaft steuer- und so-
zialabgabenfrei gestellt,


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Zulasten der Rentnerinnen und Rentner!)


haben wir die Förderung bei der Riester-Rente deutlich
verbessert, und werden wir mit dem geplanten Eigen-
heimrentengesetz eine zusätzliche Förderung der Alters-
vorsorge ermöglichen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ein ganzer Geschenkekorb!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615404100

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Ernst?


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1615404200

Okay.


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1615404300

Danke schön, Frau Präsidentin. – Herr Weiß, es freut

mich, dass Sie noch bereit sind, eine Zwischenfrage von
mir zu beantworten. Das hebt Sie wohltuend von den
Vorrednern ab.

Sie haben eben davon gesprochen, dass Sie mit dieser
Maßnahme das Rentenniveau wieder anheben wollen.






(A) (C)



(B) (D)


Klaus Ernst
Vorher habe ich etwas von einem Blumentopf gehört,
den man der Tante oder sonst wem schenkt.


(Elke Ferner [SPD]: Das war Herr Kolb!)


Finden Sie es angemessen, dass man diesen Blumentopf
nach einigen Jahren wieder einkassiert? Finden Sie es
korrekt, von einer Anpassung der Rente zu sprechen,
wenn diese Anpassung, wie Sie selber gesagt haben,
wieder kassiert wird? Ist es unter dem Aspekt, dass die
Anpassung, die Sie jetzt vornehmen, wieder zurückge-
nommen wird, nicht naheliegend, zu sagen, dass diese
Rentenerhöhung mit Wahlkampf zu tun hat?


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1615404400

Herr Kollege Ernst, es wurde Ihnen hier schon einmal

von einem Kollegen vorgeworfen, dass Sie das Renten-
system in Deutschland schlichtweg nicht verstehen wol-
len,


(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Nicht können!)


weil Sie den Menschen in diesem Land etwas vorgau-
keln, das nicht der Wahrheit entspricht. Das ist Ihr Pro-
blem.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Das ist nicht die Antwort auf meine Frage!)


Die gesamten Reformen der vergangenen Jahre im
Rentensystem zielen auf eines ab: den Beitrag für die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land,
den sie für die Rentenversicherung zu zahlen haben,
nicht in astronomische Höhen steigen zu lassen. Ich darf
noch einmal daran erinnern, dass Prognos 1987


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Meine Frage war eine andere!)


– ja, ich will es Ihnen aber erklären – geschätzt hat, dass
wir, wenn wir an der Rente nichts ändern, im Jahr 2030
einen Rentenversicherungsbeitrag zwischen 36 und
41 Prozent haben werden. Das wäre Enteignung der Jun-
gen in Deutschland.

Auf der anderen Seite wird die Einhaltung der Bei-
tragsziele dadurch erreicht, dass durch sogenannte Ab-
schlagsfaktoren das Rentenniveau für die künftigen – nicht
für die heutigen – Rentnerinnen und Rentner niedriger
liegt als in der Vergangenheit. Deswegen sollen die Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer zusätzlich ein zwei-
tes und drittes Standbein der Altersvorsorge aufbauen,
nämlich eine betriebliche und eine private kapitalge-
deckte Altersvorsorge. Wir als Staat – darüber habe ich
gerade gesprochen – fördern dies maßgeblich; dies hilft
übrigens gerade den Geringverdienern.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Meine Frage ist eine andere!)


Für einen Geringverdiener ist es möglich, beim Ab-
schluss einer Riester-Rente bis zu 90 Prozent staatliche
Förderung zu erhalten.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wenn Sie nicht auf meine Frage eingehen, kann ich mich setzen!)

Herr Ernst, wenn Sie dieses System verstehen wür-
den, dann bräuchten Sie Ihre Frage nicht zu stellen.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Sagen Sie, warum Sie den 60-Jährigen 450 Euro wieder abnehmen!)


Denn dieses System funktioniert nur, wenn Sie diese
Faktoren beibehalten. Das machen wir. Aber wir helfen
jetzt, da in der aktuellen Situation Sonderbelastungen
auf die Rentnerinnen und Rentner zugekommen sind:
Unser Gesetzentwurf sieht eine einigermaßen angemes-
sene Rentenerhöhung um 1,1 Prozent vor.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber Sie holen es sich wieder? Da sind wir uns einig?)


– Herr Kollege Ernst, ich habe Ihnen das System erklärt.
Ich stelle aber fest, dass Sie es nicht verstehen wollen
und nicht verstehen können. Deswegen sagen Sie den
Menschen in Deutschland die Unwahrheit!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Warum holen Sie bei den 60-Jährigen 400 Euro wieder? Warum? Keine Antwort!)


Gerade mit der Förderung der zweiten und dritten
Säule der Altersvorsorge, von der die Jungen profitieren
werden, zeigen wir als Große Koalition, dass wir die Ge-
nerationengerechtigkeit ernst nehmen. Generationenge-
rechtigkeit statt Generationenkampf – das ist die Leitli-
nie der Altersvorsorgepolitik der Großen Koalition. Jetzt
sind die Rentnerinnen und Rentnern an der Reihe; das ist
dringend notwendig. Deshalb sage ich Ja zur Rentenan-
passung 2008.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615404500

Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 16/8744 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie den Zusatz-
punkt 3 auf:

4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Kerstin Andreae, Hans-Josef Fell, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Das Energiekartell aufbrechen – Für Klima-
schutz, Wettbewerb und faire Energiepreise
– Drucksache 16/8536 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Strukturelle Wettbewerbsdefizite auf den
Energiemärkten bekämpfen

– Drucksache 16/8079 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Bärbel Höhn, Bündnis 90/Die Grünen.


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615404600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Strom ist aus dem täglichen Leben nicht wegzudenken.
Strom ist wichtig für die Wirtschaft sowie für die Ver-
braucherinnen und Verbraucher. Die Stromversorgung
ist eine extrem wichtige Frage, die in Deutschland in der
Hand von vier großen Energiekonzernen liegt. Die vier
großen Energiekonzerne Eon, RWE, Vattenfall und
EnBW beherrschen den deutschen Energiemarkt. Sie
kontrollieren 80 Prozent der Stromproduktion und
100 Prozent der Übertragungsnetze. Sie diktieren die
Strompreise, die für viele Verbraucher zunehmend zu ei-
ner sozialen Last werden. Diese Energiekonzerne ma-
chen Rekordgewinne. Damit muss Schluss sein. Dieses
Problem müssen wir anpacken!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich weiß, dass das nicht einfach ist; das ist ein Bohren
dicker Bretter. Aber wir müssen damit beginnen. Denn
wo auch immer man hinschaut, haben die vier großen
Energiekonzerne ihre Hände im Spiel: Das betrifft zum
Beispiel Wettbewerbsverstöße, Klimakiller-Kohlekraft-
werke, Lobbyisten in Ministerien oder das Verfahren der
Bundesnetzagentur gegen die vier Energiekonzerne, weil
sie den Verbrauchern in den Jahren 2006 und 2007
800 Millionen Euro zu viel berechnet haben sollen. So
darf es nicht weitergehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist kein Wunder, dass die vier Energiekonzerne in
einer Skala der Beliebtheit von Institutionen bei den
Bürgern noch vor den Finanzämtern auf dem allerletzten
Platz gelandet sind.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Hinter!)


Die Finanzfachleute wissen, dass es eigentlich nichts
Schlimmeres als das Finanzamt gibt. Aber bei den vier
Energiekonzernen machen die Verbraucher eine Aus-
nahme; sie sind noch unbeliebter als die Finanzämter.

Die Frage ist, warum es diesen Energiekonzernen
trotzdem so gut geht. Es geht ihnen so gut, weil sie einen
Freund haben, auf den sie sich verlassen können, der
Gold wert ist: das Bundeswirtschaftsministerium. Das
dürfen wir nicht zulassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulla Lötzer [DIE LINKE])


Der Bundeswirtschaftsminister, der leider nicht an-
wesend ist, weil ihm diese Frage offenbar nicht so wich-
tig ist, sagt immer wieder, er wolle gegen die vier Ener-
giekonzerne vorgehen. Tatsächlich macht er aber das
Gegenteil. Minister Glos hat in Brüssel für mehr Emis-
sionszertifikate gekämpft. Das bedeutet Mehreinnahmen
für die vier Energiekonzerne. Das ist die Arbeit von
Bundesminister Glos, die er in Brüssel geleistet hat.

Bundesminister Glos lässt keine Gelegenheit aus, eine
Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke zu fordern.


(Ernst Burgbacher [FDP]: Recht hat er!)


Er begrüßt es praktisch sogar, wenn die Unternehmen
aus dem Atomkonsens aussteigen. Auch das bedeutet
mehr Geld und Macht für die Energiekonzerne. Das ist
die Politik des Bundeswirtschaftsministers. Bundesmi-
nister Glos lässt auch keine Gelegenheit aus, deutlich zu
machen, dass die Konzerne die Netze behalten sollen. Er
will ihnen die Kontrolle über die Märkte in diesem Be-
reich sichern.

Bundesminister Glos lässt noch nicht einmal eine Ge-
legenheit aus, um auf die Argumente von Herrn
Großmann einzugehen, der von einer Stromlücke ge-
sprochen hat. Es ist schließlich das größte Angstargu-
ment, dass wir irgendwann einmal ohne Strom dasitzen.
Herr Glos warnt vor einer Versorgungslücke und sagt,
letztlich müssten wir Strom importieren. Das wäre aus
seiner Sicht dramatisch. Der Minister müsste es aber
besser wissen.


(Gudrun Kopp [FDP]: Sie aber auch!)


Im letzten Jahr waren sieben Atomkraftwerke gleichzei-
tig nicht am Netz, aber nicht eine einzige Glühbirne hat
geflackert. Deutschland hatte immer noch einen Export-
überschuss in Höhe von fast 20 Terawattstunden. Minis-
ter Glos sollte nicht mit der Angst der Leute spielen,
sondern mit harten Argumenten gegen die Energiekon-
zerne vorgehen. Das wäre die richtige Politik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulla Lötzer [DIE LINKE])


Wenn er nur halb so viel Einsatz im Kampf gegen die
unfairen Energiepreise zeigen würde, dann würden wir
uns schon freuen.

Wir Grüne verfolgen das Ziel, die Energiekartelle auf-
zubrechen. Zu diesem Zweck haben wir einen Antrag
vorgelegt. Wir hoffen, dass er Ihre Unterstützung findet.
Auf drei Aspekte dieses Antrags möchte ich kurz einge-
hen.

Der erste Punkt betrifft den Wettbewerb. Wir haben
immer die Trennung von Netz und Produktion gefordert.
Aber die Bundesregierung tut nichts, und das, obwohl es
eine große Koalition von Befürwortern der Trennung
von Netz und Produktion gibt. Dazu gehören Attac, die






(A) (C)



(B) (D)


Bärbel Höhn
Deutsche Bank, Verbraucherverbände und die EU-Kom-
misson.


(Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Und ihr!)


– Ja, und die Grünen. – Meine Damen und Herren, die
Bundesregierung sollte sich dieser Koalition anschließen
und nicht dagegen Sturm laufen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Selbst Eon will mittlerweile sein Netz verkaufen.
Aber die Bundesregierung ist uneinsichtig und blockiert.
Das tut sie übrigens Seite an Seite mit RWE; das muss
man zur Kenntnis nehmen. Damit schadet die Bundesre-
gierung dem Wettbewerb, den Verbrauchern und dem
Teil der Wirtschaft, der keine Energie herstellt, sondern
auf Energie angewiesen ist.

Der zweite Punkt: faire Energiepreise. Je knapper Öl
und Gas werden, desto teuerer werden Öl und Gas. Des-
halb müssen wir endlich die unfaire Preistreiberei der
vier großen Energiekonzerne beenden. Da wir gerade
über das Thema Rente diskutiert haben, will ich auf Fol-
gendes hinweisen: Die Renten wurden in den Jahren
2002 bis 2007 um 4 Prozent erhöht. Die Hartz-IV-Leis-
tungen wurden nicht einmal um 1 Prozent erhöht. Aber
die Gewinne der Energiekonzerne sind zwischen 2002
und 2007 auf 300 Prozent gestiegen.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist ein Skandal!)


Das sind die Verhältnisse in diesem Land. Diese Situa-
tion müssen wir ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zu diesem Zweck wollen wir bei den Emissionszerti-
fikaten ansetzen. Die Unternehmen bekommen sie um-
sonst. Trotzdem preisen sie die Emissionszertifikate in
den Strompreis ein. Hierbei geht es um eine Größenord-
nung von ungefähr 5 Milliarden Euro pro Jahr. In den
nächsten vier Jahren soll es sich laut einer Studie sogar
um 34 Milliarden Euro handeln. Aber die Bundesregie-
rung schaut tatenlos zu. Wir, die Grünen, fordern eine
Abschöpfung dieser Gewinne.


(Lachen des Abg. Lutz Heilmann [DIE LINKE])


Wir wollen dieses Geld zur Entwicklung sparsamer
Haushaltsgeräte und zur Unterstützung einkommens-
schwacher Haushalte verwenden. Die Devise muss lau-
ten: Wenn sich der Energiepreis verdoppelt, dann muss
der Energieverbrauch halbiert werden. – Das ist das
Konzept der Grünen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Nein, nein, nein!)


Das dritte Themenfeld, mit dem wir uns beschäftigen
wollen, betrifft die Lobbyverknüpfungen zwischen Wirt-
schaft und Ministerien. Die ehemaligen Wirtschaftsmi-
nister Clement und Müller sind nach ihrer Tätigkeit im
Ministerium in die Energiewirtschaft gewechselt. Gleich-
zeitig arbeiten heute viele Mitarbeiter der Energiekon-
zerne im Ministerium. Der Bundesrechnungshof hat diese
Entwicklung kritisch aufgegriffen. Wir wollen den Wech-
sel von Politikern in die Energielobby


(Ulrich Kelber [SPD]: Oder in die Ernährungswirtschaft!)


und den Einsatz von Lobbyisten in den Ministerien be-
enden


(Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Das müssen gerade die Grünen sagen! – Ulrich Kelber [SPD]: Haben Sie eben nicht ein paar Namen vergessen? Hätten Sie noch drei oder vier andere Namen genannt, wäre das besser gewesen!)


bzw. für diesen Bereich Regelungen schaffen. Derzeit ist
dies nicht geregelt. Das schadet der Politik und dem Ver-
trauen der Verbraucherinnen und Verbraucher.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615404700

Frau Kollegin Höhn.


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615404800

Ich komme zum Schluss.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615404900

Ihre Redezeit ist überschritten.


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615405000

Ja. – Wir brauchen eine Politik der fairen Energie-

preise. Wir brauchen eine klimaschonende Energiever-
sorgung. Wir brauchen mehr Wettbewerb. Das heißt: Mi-
nister Glos muss aus der Kuschelecke, in der er mit den
Energiekonzernen ist, heraus. Wir wollen die Energie-
kartelle aufbrechen.


(Frank Schäffler [FDP]: Das habt ihr doch längst geschafft!)


Ich fordere die Bundesregierung auf: Machen Sie mit!
Tun Sie etwas gegen die Energiekartelle! Denn sie scha-
den der Wirtschaft dieses Landes und den Interessen der
Verbraucher.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615405100

Ich gebe das Wort dem Kollegen Laurenz Meyer,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Laurenz Meyer (CDU):
Rede ID: ID1615405200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Frau Höhn, die Überschrift Ihres Antrags lautet:
„Das Energiekartell aufbrechen – Für Klimaschutz,
Wettbewerb und faire Energiepreise“. Diese Zielsetzung
ist richtig; insofern gibt es Übereinstimmung.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(B) (D)


Laurenz Meyer (Hamm)

Ihre Forderungen sind jedoch von großer Unglaub-
würdigkeit, weil die Grünen überall dort, wo sie Verant-
wortung tragen, haargenau das Gegenteil tun.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum?)


Sie beschweren sich in Ihrem Antrag darüber, dass die
Erzeugungskapazitäten praktisch ausschließlich in den
Händen der vier Großen sind, und fordern mehr Wettbe-
werb, mehr Konkurrenz. Doch wenn in meinem Wahl-
kreis 21 Stadtwerke ein neues Kraftwerk bauen wollen,
mit dem mehr Wettbewerb in den Markt gebracht wer-
den könnte, wird dies von den Grünen auf Landesebene
und auf kommunaler Ebene auf Teufel komm raus be-
kämpft.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Diese Art von Unglaubwürdigkeit darf man Ihnen nicht
durchgehen lassen.

In den Jahren 2006 und 2007 ist eine Vielzahl von
Maßnahmen ergriffen worden – ich trage sie Ihnen gerne
vor, wenn Sie das möchten –: Regulierung der Netzent-
gelte, Entflechtungsmaßnahmen, Verordnungen zur Er-
leichterung des Anbieterwechsels, Anreizregulierung,
Erleichterung des Anschlusses neuer Kraftwerke ans
Netz, Verbesserung der Preismissbrauchsaufsicht, sogar
mit einer Umkehrung der Beweislast. All das ist unmit-
telbar nachdem Sie nicht mehr in der Regierung waren
erfolgt.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615405300

Herr Kollege Meyer, die Kollegin Höhn würde gerne

eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie das zu?


Laurenz Meyer (CDU):
Rede ID: ID1615405400

Aber gerne, jederzeit.


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615405500

Herr Kollege Meyer, ich finde es spannend, dass Sie

Wettbewerb im Energiebereich nur auf Kohlekraft-
werke beziehen. Wäre es nicht besser für den Wettbe-
werb, wenn wir für mehr Konkurrenz sorgten, indem wir
endlich die erneuerbaren Energien ausbauten, anstatt das
eine Kraftwerk durch das nächste zu ersetzen? Das
bringt nicht mehr Wettbewerb; das ist die falsche Politik.


Laurenz Meyer (CDU):
Rede ID: ID1615405600

Frau Höhn, das ist ein Teilaspekt. Wir sind uns darin

einig, dass die erneuerbaren Energien, wie es im Regie-
rungsprogramm heißt, bis 2020 einen Anteil von
25 Prozent ausmachen sollen. Lassen Sie uns, damit wir
eine glatte Zahl haben, von 30 Prozent reden. Das ist
eine anspruchsvolle Zielsetzung. Doch selbst wenn die
erneuerbaren Energien einen Anteil von 30 Prozent aus-
machen und selbst wenn wir den Anteil der Kraft-
Wärme-Kopplung, wie wir es uns gemeinsam vorge-
nommen haben, steigern – übrigens auch mit dem uns
vorliegenden Gesetz dieser Regierung –, braucht man
immer noch Kraftwerke für die reine Stromerzeugung.

(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)


– Es war doch in der Anhörung in der letzten Woche Ihre
Position, dass der Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung auf
25 Prozent verdoppelt werden solle. Doch selbst wenn
wir 25 Prozent Kraft-Wärme-Kopplung haben, brauchen
wir für die Stromerzeugung Kondensationskraftwerke.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, die brauchen wir nicht!)


Diese Kraftwerke brauchen wir im Übrigen auch, um
Strom zu erzeugen, wenn kein Wind weht,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


oder in den 8 000 Stunden im Jahr, in denen die Sonne
nicht scheint; sie scheint in Deutschland ja nur ungefähr
800 Stunden.


(Ulrich Kelber [SPD]: Ein bisschen mehr schon! 800 Volllaststunden!)


Wir brauchen auch Kohlekraftwerke. Wenn wir die
Klimaschutzziele erreichen wollen, brauchen wir neue
Kohlekraftwerke, um die alten abschalten zu können.
Man kann nicht gleichzeitig aus Kohle und Kernenergie
aussteigen. Das haben selbst Herr Kuhn und Herr
Bütikofer letztens zugegeben. Sie von den Grünen dür-
fen nicht je nachdem, wo Sie gerade auftreten, sagen,
was Ihnen in den Kram passt.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615405700

Herr Kollege Meyer, der Kollege Fell würde gerne

eine Zwischenfrage stellen.


(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Zweiter Versuch!)



Laurenz Meyer (CDU):
Rede ID: ID1615405800

Bitte schön.


Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615405900

Herr Kollege Meyer, Sie haben gerade gesagt, wir

würden die Kohlekraftwerke aus Klimaschutzgründen
benötigen.


Laurenz Meyer (CDU):
Rede ID: ID1615406000

Neue statt der alten.


Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615406100

Umso schlimmer.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Umso besser!)


Ich möchte Ihnen mitteilen – vielleicht haben Sie da-
von schon Kenntnis –, dass einer der renommiertesten
Klimaforscher der Erde, Herr Hansen von der NASA aus
den USA, in der letzten Woche einen neuen Klimabe-
richt vorgelegt hat, in dem er erstmals die Selbstverstär-
kereffekte dieser Erde berechnet hat und zu dem Ergeb-






(A) (C)



(B) (D)


Hans-Josef Fell
nis kommt, dass die bisherigen Klimaschutzmaßnahmen
überhaupt nicht ausreichen. Vor allem schreibt er, dass
die Kohlenutzung bis 2030 weltweit beendet werden
muss, wenn dieser Planet noch gerettet werden soll.

Wie können Sie es verantworten, in den nächsten Jah-
ren noch neue Kohlekraftwerke zu bauen, die sicherlich
nicht nur 15 oder 20 Jahre lang in Betrieb sein sollen?
Nach unserer festen Überzeugung hat es nichts mit Kli-
maschutz zu tun, wenn man neue Kohlekraftwerke baut.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Laurenz Meyer (CDU):
Rede ID: ID1615406200

Die Alternativen in den nächsten 20 Jahren sind: Ent-

weder importieren wir den Strom aus anderen Ländern,
in denen er zu wesentlich schlechteren Bedingungen her-
gestellt wird, oder – das können Sie sich überlegen – wir
verringern die Anzahl neuer Kohlekraftwerke zu einem
wesentlichen Teil, indem wir die Laufzeit der Kernkraft-
werke in Deutschland verlängern, um den Zeitraum, bis
Alternativen vorliegen, zu überbrücken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist doch genau der Punkt: Ausgerechnet in der
Zeit, in der wir den Umschwung hin zu alternativen
Energiekonzepten schaffen müssen, wollen Sie die
– CO2-freien – Kernkraftwerke aus dem Betrieb neh-
men, wodurch Sie den ohnehin bestehenden Druck erhö-
hen, neue Kohlekraftwerke zu bauen. Das ist Ihre Wider-
sprüchlichkeit.


(Franz Obermeier [CDU/CSU]: So ist es!)


Eines werfe ich Ihnen wirklich vor: Wenn Sie der Mei-
nung sind, dass Kernkraftwerke unsicher sind, dann hät-
ten Sie dem Ausstiegsbeschluss niemals zustimmen dür-
fen. – Wenn ich der Meinung bin, dass ein Kernkraftwerk
unsicher ist, dann muss ich es heute und nicht erst 2015
abstellen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn es aber bis 2015 sicher ist und ich es aus Klima-
schutzgründen länger brauche, dann muss ich doch be-
reit sein, die Laufzeit bis 2020 zu verlängern, um auf
diese Weise einen vernünftigen Übergang zu erreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Je länger, desto unsicherer!)


Das ist die Politik, die wir als CDU/CSU-Fraktion ins
Auge fassen. Genau da liegen die Widersprüche.

Frau Höhn, ich komme zu einem weiteren Punkt, den
ich den Grünen vorwerfe; Sie waren damals in der Lan-
desregierung zum Teil mit dafür verantwortlich. Eine der
Großtaten der letzten Regierung Kohl war es, endlich
Wettbewerb im Energiebereich einzuführen. Viele in
den großen Unternehmen haben das überhaupt nicht für
möglich gehalten. Ich kann mich noch daran erinnern,
dass ich in meiner beruflichen Zeit in einer Versamm-
lung von leitenden Angestellten einmal gefragt habe:
Wer hat eigentlich Angst vor Wettbewerb? Unsere Vor-
stände wollten mir damals noch erklären, dass es einen
Wettbewerb im Strombereich nicht geben kann. Was für
Idioten!

Endlich hatten wir auf diesem Gebiet Wettbewerb
eingeführt. 1998 kamen Sie dann an die Regierung. Der
gerade aufkeimende Wettbewerb wurde wieder gestoppt,
weil die rot-grüne Regierung – die Kollegen müssen sich
nicht übertrieben angegriffen fühlen, aber es ist so – mit
den Energiekonzernen einen stillschweigenden Deal ab-
geschlossen hatte: Die Konzerne haben sich nicht beson-
ders gegen die zusätzlichen Belastungen am Strommarkt
durch alle möglichen Abgaben und Auflagen gewehrt
– sie haben den Mund gehalten –, und Sie haben dafür
nicht richtig hingeguckt, wenn sie die Preise erhöht ha-
ben. Das genau war der Deal, den es in Ihrer Zeit gege-
ben hat. – Jetzt, nach dem Wechsel der Regierung von
Rot-Grün zur Großen Koalition, wird der Wettbewerb
wieder eingeführt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In dieser Situation stellen Sie solche Anträge. Das ist an
Unglaubwürdigkeit wirklich nicht zu überbieten.

Jetzt komme ich zum nächsten Punkt, nämlich zur ei-
gentumsrechtlichen Entflechtung.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Wenn Sie gestern in der Anhörung gewesen wären, dann
hätten Sie sich heute wahrscheinlich nicht so geäußert,
wie Sie sich geäußert haben.


(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Wie kommen Sie denn darauf?)


Außer einem Vertreter, den die Linken benannt haben
– ich weigere mich, das, was da vorgetragen wurde, hier
jetzt zu qualifizieren –,


(Franz Obermeier [CDU/CSU]: Der kommt aus Leverkusen!)


gab es niemanden, der mehr oder wenige präzise eine
Verstaatlichung des gesamten Energiebereichs vorge-
schlagen hat.


(Bärbel Höhn Das fordern wir doch gar nicht!)


– Das wollen Sie nicht, richtig.

Hinzu kam noch ein von Ihnen benannter Vertreter – ein
ehemaliger Mitarbeiter der hessischen Landtagsfraktion
der Grünen –, der vielleicht eine ähnliche These vertre-
ten hat. Dann kamen die Fragen auf, wie die eigentums-
rechtliche Entflechtung erfolgen und wer die Netze kau-
fen soll. Spätestens an der Stelle hatten komischerweise
alle, die sich theoretisch dafür einsetzen könnten, große
Bedenken, zum Beispiel als es um die Frage ging, an
wen Eon seine Netze verkaufen könnte. Denn die Alter-
native zu unseren Unternehmen, die wir halbwegs im
Griff haben, besteht darin, dass möglicherweise irgend-
welche Fonds oder ausländische Unternehmen – viel-
leicht sogar ausländische Staatsunternehmen – in den
Besitz unserer Netze kommen. Diese Alternative gefiel






(A) (C)



(B) (D)


Laurenz Meyer (Hamm)

niemandem in dieser Anhörung. Deshalb blieb als ein-
zige klare Position eine Verstaatlichung der Netze.


(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Eine Überführung in die öffentliche Hand!)


– Sie können viele Kollegen in Ihrer Fraktion fragen,
welche Erfahrungen sie in dem Bereich gemacht haben
und in welchem Zustand die Netze waren, als die DDR
zusammenbrach.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Wie ist der Zustand denn jetzt?)


Ein riesiger Teil des Investitionsvolumens der letzten
Jahre musste für die Netze verwendet werden, weil der
Staat zu DDR-Zeiten nicht gerade viel in die Netze in-
vestiert hatte, erst recht nicht in Fernwärmenetze. Ich
habe mich mit dem Thema Fernwärme sehr intensiv be-
schäftigt. Es gab allenfalls den Effekt, dass in Halle und
Leipzig die Straßen im Winter frostfrei waren, weil die
Netze aus der Zeit vor 1920 stammten; ansonsten hat
sich in diesem Bereich nicht viel getan.

Darauf, dass ausgerechnet der Staat für eine bessere
Infrastrukturversorgung mit allen damit verbundenen
Kapitalerfordernissen eintreten soll, wusste in der gestri-
gen Anhörung auch niemand eine Antwort. Es ist nicht
nur prinzipiell Unfug, dass der Staat diese Aufgabe
wahrnimmt. Hinzu kommt, dass wir, wenn wir etwas für
die Verbraucher erreichen wollen, nach meiner Lebens-
erfahrung eine sehr konsequente Kosten- und Preis-
kontrolle brauchen, wie wir sie durchgesetzt und einge-
führt haben. Meine Lebenserfahrung sagt mir auch, dass
der Staat genauer hinsieht, wenn er Private kontrolliert,
als wenn er sich selber kontrolliert. Insofern ist es sicher-
lich richtig, dass die Bundesnetzagentur den Auftrag hat,
entsprechende Vorhaben sehr konsequent zu untersuchen
und nachzuvollziehen.

Im Übrigen sind die Kosten der Netze allein in den
letzten zwei Jahren um 20 Prozent gesenkt worden, und
zwar durch Maßnahmen, die diese Regierung eingeleitet
hat. Die Unterstützung der Bundesnetzagentur durch die
Bundesregierung geht auf das Bundeswirtschaftsminis-
terium zurück, das Sie vorhin so angegriffen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Frau Höhn, es tut mir für Sie leid, aber akzeptieren Sie
doch einfach, dass jetzt etwas passiert. In der Zeit davor
ist nichts passiert.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gucken Sie sich doch mal die Gewinne an!)


Notwendig ist also eine klare Kostenkontrolle. Unge-
rechtfertigte Preise müssen verhindert werden. Ich kenne
Sie schon lange und schätze Sie als intelligent ein. Ich
erinnere Sie daran, wie schwer wir uns damit getan ha-
ben, die Anreizregulierung im kommunalen Bereich
durchzusetzen


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

und unter welch starkem Druck die Politik vonseiten der
Stadtwerke gestanden hat, möglichst wenig strenge Kon-
trollen vorzunehmen, damit aus den Stromerlösen noch
andere Bereiche – beispielsweise Stadtbäder – mitfinan-
ziert werden können. Alle wollten daran festhalten, dass
solche Bereiche aus den Stromerlösen finanziert werden.
Sie wollten keine harte Regulierung der im Netzbereich
anfallenden Kosten.

Insofern fordere ich Sie auf: Finger weg vom Staats-
besitz! Der Staat sollte sich nicht selber kontrollieren.
Notwendig sind klare Kontrollen und eine Entflechtung
der Unternehmen. Über die Frage des Eigentums der
Netze sollten wir sehr sorgfältig nachdenken. Alles, was
die EU-Kommission vorschlägt, erscheint mir noch
nicht ausgegoren. Ich bin froh, dass unsere Bundesregie-
rung diesen Weg ablehnt und unseren Weg zunächst wei-
tergehen will, um zu schauen, ob wir mit den erzielten
Erfolgen ein Stück weiterkommen.

Sie fordern, dass alles unter einen Hut gebracht wer-
den müsse: faire Energiepreise und Klimaschutz. Las-
sen Sie uns doch unseren Weg wählen! Wir haben Ziele
für die Minderung der CO2-Emissionen und die Erhö-
hung des Anteils der erneuerbaren Energien gesetzt. Es
muss uns gelingen, diese Ziele so effizient wie möglich
zu erreichen; denn die Verbraucher erwarten, dass wir
sie nicht über Gebühr belasten. Wenn ich die Summen
sehe, die für den relativ kleinen Bereich der Fotovoltaik
zur Verfügung gestellt werden, dann muss ich feststellen,
dass dieses Ziel noch nicht in ausreichendem Maße be-
rücksichtigt wird. Wenn wir das umsetzten, was Sie in
Ihrem Antrag fordern, liefen wir Gefahr, neue Sozialleis-
tungen zu benötigen, die das, was oben willkürlich
draufgesattelt würde, unten ausgleichen. Diejenigen, die
keinen Sozialtransfer erhalten, also die „normalen“ Ar-
beitnehmer in Deutschland, wären dann die Gekniffenen
Ihrer Politik. Diesen Weg wollen wir nicht gehen. Wir
gehen unseren eingeschlagenen Weg weiter.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615406300

Für die FDP-Fraktion gebe ich das Wort der Kollegin

Gudrun Kopp.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)



Gudrun Kopp (FDP):
Rede ID: ID1615406400

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen!

Ich stelle fest, dass Ihr Antrag, meine Damen und Herren
von den Grünen, viele Ungereimtheiten enthält. Frau
Höhn, es ist richtig, dass es auf dem Markt eine Konzen-
tration der vier großen Energieerzeuger gibt und dass wir
dringend für mehr Kraftwerkskapazitäten bzw. Erzeu-
gungskapazitäten sorgen müssen. Sie kritisieren in Ih-
rem Antrag das Energiekartell der vier großen Konzerne
und stellen fest, dass mit Eon Ruhrgas nur ein einzelnes
Unternehmen im Gasbereich dominiert. Ich finde es aber
wichtig und richtig, dass Sie auch reflektieren, dass die-
ses sogenannte Energiekartell mit Ihrer Beteiligung un-
ter der Regierung von Rot-Grün geschaffen wurde. Wir






(A) (C)



(B) (D)


Gudrun Kopp
bemühen uns nun, Ihre schlechten Entscheidungen von
damals auf irgendeine Weise rückgängig zu machen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen Sie es doch!)


Wir haben Anträge auf Stärkung des Wettbewerbs und
Entflechtung eingebracht. Zu den Entflechtungsregelun-
gen wird der Kollege Zeil gleich Stellung nehmen. Sie
tun aber nun so, als hätten Sie mit dem Ganzen gar
nichts zu tun. Das ist nicht redlich.

Ihr Antrag enthält mehr oder weniger willkürlich zu-
sammengestellte Maßnahmen. Sie sprechen über die
Energiepolitik und fordern gleichzeitig eine Erhöhung
des ALG-II-Satzes. Sie fordern des Weiteren die Einfüh-
rung eines gesetzlichen Mindestlohns und wollen neue
Förderprogramme für einkommensschwache Haushalte
auflegen. Wir, die FDP-Fraktion, haben bereits vor eini-
gen Wochen den Antrag eingebracht, den zu erwarten-
den Nettoerlös in Höhe von circa 400 Millionen Euro
aus der Versteigerung der Emissionszertifikate komplett
den Energiekunden zugute kommen zu lassen. Das heißt,
wir wollen den Verbrauchern, die unter ständig steigen-
den Kosten leiden und übermäßig belastet werden, end-
lich etwas zurückgeben.


(Beifall bei der FDP)


Dass die Energiepreise, Strom-, Gas- und Spritpreis,
längst zu einem riesigen Problem für mehrere Bevölke-
rungsschichten geworden sind, ist kein Geheimnis; da-
rauf gehe ich später ausführlich ein. Aber Ihr Antrag ist
ein Ausweis von Schludrigkeit. Im Zusammenhang mit
der Einschränkung der Lobbymacht der Energiekon-
zerne wollen Sie die Verbraucherrechte durch eine euro-
päische Charta der Rechte der Energieversorger stärken.
Ich finde es interessant, dass Ihnen das gar nicht aufge-
fallen ist.

Ich gehe nun auf den Antrag der FDP-Bundestags-
fraktion ein. Wir möchten, dass die Energiepolitik in
Deutschland strukturell gestärkt wird. Herr Kollege
Meyer, Frau Kollegin Höhn, ich stelle fest, dass weder
die Opposition noch die Regierungsfraktionen oder die
Bundesregierung ein schlüssiges, in sich konsistentes
Energieprogramm haben. Das habe ich schon oft an die-
ser Stelle bemängelt. Bei Ihnen zeigt sich auch, wie
schwierig es ist, ohne eine Grundüberzeugung in der
Energiepolitik voranzukommen.

Unsere Grundüberzeugung – das sage ich ganz klar –
ist, dass wir keinen breiten Energiemix haben. Die Kli-
maziele wird die Bundesregierung aller Voraussicht nach
nicht erreichen. Das mag man auch schon daran erken-
nen, dass Herr Minister Glos einen Brandbrief an die
EU-Kommission geschrieben hat, in dem er darum bit-
tet, dass der Bundesrepublik ein Rabatt von 150 Millio-
nen Tonnen CO2 gewährt wird. Das sind 20 Prozent der
CO2-Emissionen im Energiebereich in Deutschland. Er
möchte einen Nachlass, weil er schon jetzt erkennt, dass
wir die Klimaziele und auch die Versorgungssicherheit
ohne die Kernenergie im Energiemix nicht erreichen
werden und wir nicht zu bezahlbaren Energiepreisen
kommen werden.

(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Sie fallen auch auf jeden PR-Gag rein!)


Zum Thema Entflechtung haben wir einige Vor-
schläge eingebracht; dazu kommen wir gleich noch. Wir
wollen Ihnen mit unserem Antrag das Konzept der
Netz AG nahebringen. Wir möchten, dass die vier Über-
tragungsnetzbetreiber in Deutschland ihre Netze in eine
sogenannte Netz AG einbringen, wobei sie die Eigen-
tumsanteile in Höhe ihrer Netzwerte behalten sollen. Sie
sollen aber innerhalb dieser Netz AG keinen Einfluss auf
Betrieb, Instandsetzung und Investitionen insgesamt
nehmen. Wir möchten, dass diese Netz AG unabhängig
arbeiten kann. Wir nennen dies den vierten Weg, den wir
für den richtigen halten, um in Deutschland auf der
Netzebene endlich weiterzukommen. Wir wollen mit ei-
ner solchen Netz AG ein Zweites erreichen, nämlich
dass die Aufteilung Deutschlands in derzeit vier Regel-
zonen der großen Energieerzeuger endlich wegfällt und
diese vier Zonen zu einer verschmolzen werden, damit
wir Effizienzgewinne und Kosteneinsparungen erzielen
können.

Wir wollen weiterhin mehr Energieerzeugung durch
neue Kraftwerke. Ich habe eben gesagt, wie wichtig es
ist, nicht auch noch den Neubau von Kohlekraftwerken
zu verhindern. Im Übrigen emittieren auch Gaskraft-
werke CO2, wenn auch längst nicht in derselben Höhe.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nur die Hälfte pro Kilowattstunde! Das ist ein Unterschied!)


Es ist ungefähr nur die Hälfte, aber immerhin. Auch uns
wäre es lieber, wenn wir im Rahmen des Energiemixes,
zu dem auch Kernenergie gehört, weniger Kohlekraft-
werke errichten müssten, aber dass wir sie völlig aus
dem künftigen Energiemix heraushalten können, ist, so
glaube ich, illusorisch.

Wir brauchen dringend den Netzausbau, gerade an
den Netzkuppelstellen; auch das enthält unser Antrag.
Wir wollen mehr Transparenz und schärfere Kontrollen
für die Großhandelsmärkte bei der Strombörse, eine un-
abhängige Marktbeobachtungsstelle, ein wirklich intelli-
gentes Mess- und Zählersystem für Strom, und wir wol-
len, dass die Bürger endlich entlastet werden und dass
nicht ständig mehr Steuern und Abgaben auf Energie
durch immer neue Programme erhoben werden.


(Beifall bei der FDP)


Ich nenne Ihnen zum Schluss nur eine Zahl: Würden
wir die Stromsteuer abschaffen oder über den Verkauf
der Zertifikate an die Bürger zurückführen, dann hätten
wir eine Ersparnis von allein 6,3 Milliarden Euro. Das
bedeutete pro Haushalt in Deutschland eine Einsparung
von 165 Euro pro Jahr. Das wäre eine Größenordnung,
die die Bürger gut vertragen könnten.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wovon wollen Sie die Rente bezahlen?)


Insofern ist es wichtig, dass man sich in diesem Haus
endlich Gedanken macht und dass nicht dauernd Steuer-
erhöhungen und neue Förderprogramme beschlossen
und nicht immer neue Abgaben auferlegt werden; an-






(A) (C)



(B) (D)


Gudrun Kopp
sonsten braucht man sich nicht darüber zu beklagen,
dass die Bürger kein Geld mehr für den Konsum haben.
Wenn wir dies tun, dann brauchen wir uns auch keine
Gedanken über irgendwelche Sozialprogramme zu ma-
chen. Machen Sie Ihre Hausaufgaben! Legen Sie ein
konsistentes Programm für die Energieversorgung in
Deutschland vor! Beenden Sie Ihr Stückwerk, das die
Bürger nur belastet und durch das die Bürger nicht so
versorgt werden, wie sie es eigentlich verdient hätten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615406500

Ich gebe das Wort dem Kollegen Rolf Hempelmann,

SPD-Fraktion.


Rolf Hempelmann (SPD):
Rede ID: ID1615406600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Die vorliegenden Anträge, insbesondere der Antrag
der Grünen „Das Energiekartell aufbrechen – Für Klima-
schutz, Wettbewerb und faire Energiepreise“, zeigen,
dass die eigentliche Absicht der Antragsteller darin be-
steht, die Gelegenheit zu haben, eine energiepolitische
Generaldebatte zu führen. Das ist auch legitim. Durch
das, was vorgetragen worden ist – auch durch das, was
der andere Antragsteller, die FDP-Fraktion, gesagt hat –,
zeigt sich, dass wir in der Tat mit den bekannten, uns
hier immer wieder vorgetragenen Argumenten konfron-
tiert werden.


(Gudrun Kopp [FDP]: Nein, nein!)


Einige dieser Argumente teilen wir, andere eindeutig
nicht.

Zum Antrag der Grünen. Klimaschutz, Wettbewerb
und faire Energiepreise, das sind in der Tat drei Dimen-
sionen, die unsere Energiepolitik berücksichtigen muss.
Hinzu kommt eine weitere Dimension – wir haben es
letztlich mit einem Zielviereck zu tun; darüber sind wir
uns mittlerweile einig –: die Versorgungssicherheit. Zu
unterstellen, dass eine Politik, die für Klimaschutz, Wett-
bewerb und faire Energiepreise sorgt, automatisch Ver-
sorgungssicherheit gewährleistet, würde dieser Heraus-
forderung nicht wirklich gerecht.

Es hilft auch nicht, immer wieder darauf zu verweisen
und immer wieder den eigenen Glauben daran öffentlich
vor sich her zu tragen, dass wir Versorgungssicherheit
allein mit erneuerbaren Energien und mit Effizienzstei-
gerungen in jedem Fall kurz-, mittel- und langfristig ge-
währleisten können. Wir müssen die Leute davon über-
zeugen. Man muss auch zur Kenntnis nehmen, dass zum
Beispiel die Deutsche Energie-Agentur – sie ist wirklich
keine Lobbyorganisation der großen vier – erst kürzlich
deutlich gemacht hat, dass wir sehr genau darauf achten
müssen, dass in den nächsten anderthalb Jahrzehnten die
notwendigen Investitionen in die Energieerzeugung und
in die Netze erfolgen. Damit müssen wir uns seriös aus-
einandersetzen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die
Koalition genau dies tut.
Wenn wir wollen, dass Emissionshandel wirkt, dass
durch die Kosten des Ausstoßes von CO2 möglichst viele
alte Kohlekraftwerke abgestellt werden, dann müssen
wir auch wollen – Herr Meyer hat das eben zu Recht
dargestellt –, dass diese Kraftwerke kurzfristig durch
neue, ich sage jetzt: Kraftwerke ersetzt werden. Wir ar-
beiten daran, dass ein möglichst hoher Anteil dieser
Kraftwerke auf der Basis von erneuerbaren Energien
funktioniert. Ein Anteil von 30 Prozent bis 2020, das ist
ein durchaus unbescheidenes Ziel. Wenn wir aufgrund
der Rahmenbedingungen, die wir setzen, mehr erreichen
sollten, dann werden wir uns alle freuen. Aber wir wis-
sen gerade durch die dena-Studie, dass noch eine ganze
Menge Hindernisse aus dem Weg zu räumen sind.


(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na, dann räumt sie einmal aus!)


Es ist beispielsweise so, dass wir bei den Netzen im
Augenblick unsere Probleme haben, gerade mit der An-
bindung von möglichen Offshore-Windparks. Für Inves-
titionen sind Rahmenbedingungen notwendig. Nur
wenn diese Rahmenbedingungen erfüllt sind, stellen pri-
vate Investoren entsprechende Mittel zur Verfügung. Na-
türlich müssen auch die Genehmigungsverfahren so ab-
laufen, dass diese Netze in absehbarer Zeit tatsächlich
errichtet werden können.

Wenn wir hierbei erfolgreich sind – dies wollen wir
sein –, dann heißt das aber gerade vor dem Hintergrund
eines Kernenergieausstiegs, dass wir bis zum Jahre 2020
immer noch einen erheblichen Anteil fossil betriebener
Kraftwerke haben werden; ich will mich jetzt gar nicht
auf eine konkrete Prozentzahl festlegen, weil wir uns da
womöglich von unserem Koalitionspartner unterschei-
den, der auch zum Thema Kernenergie eine andere Auf-
fassung hat. Insofern muss es unser Ziel sein, dass jeden-
falls die alten Anlagen – ich habe das gerade schon
angedeutet – so früh wie möglich aus dem Verkehr ge-
nommen werden. Dies ist der Grund für unsere Anstren-
gungen, insbesondere beim Thema Kraft-Wärme-Kopp-
lung.


(Beifall bei der SPD)


Aber auch das wird nicht ausreichen, um unsere Ener-
gieversorgung bis zum Jahre 2020 tatsächlich zu
100 Prozent abzudecken. Dabei ist schon unterstellt,
dass wir auch bei dem Thema Energieeffizienz und beim
Ausschöpfen von Energieeinsparvolumen sowohl in den
privaten Haushalten als auch in den Unternehmen er-
folgreich sind.

Zu diesem Zeitpunkt werden wir in Deutschland auch
noch das eine oder andere Kondensationskraftwerk ha-
ben. In Bezug darauf muss man sich fragen: Sollen das
alte Anlagen mit entsprechendem Mehrausstoß an CO2
sein, oder akzeptieren wir, dass auch das eine oder an-
dere neuere, effizientere Kraftwerk darunter ist? Das ist
eine Grundsatzfrage, darum dreht sich der Grundsatz-
streit insbesondere zwischen den Grünen und sicherlich
auch Teilen unserer Fraktion, es ist eine Frage neben vie-
len anderen, die wir zu lösen haben.

Ich persönlich glaube, dass wir nicht völlig ohne Neu-
investitionen in diesem Bereich auskommen werden.






(A) (C)



(B) (D)


Rolf Hempelmann
Noch einmal: Je mehr Kraft-Wärme-Kopplung, umso
besser, aber wenn das eine oder andere Kondensations-
kraftwerk dabei ist, dann muss das Ziel sein – auch daran
wird gearbeitet –, dass diese Kraftwerke möglichst CCS-
fähig sind, das heißt, dass bei ihnen eine Technik zur
CO2-Abscheidung zur Anwendung kommen kann.

Ich weiß, dass ich auch mit diesem Thema ein Fass
aufgemacht habe. Ich weiß, dass es auch hierbei noch
unbeantwortete Fragen gibt. Aber es gibt auch Unterneh-
men, die zurzeit gerade in dieses Thema investieren, im
Übrigen nicht ganz ohne Aufforderung aus dem Bereich
der Politik. Deswegen glaube ich, dass wir zumindest of-
fen dafür sein müssen, dass möglicherweise auch eine
solche Technologie eine Antwort bieten kann.

Ich weiß, dass damit auch Herausforderungen verbun-
den sind, etwa mit dem Transport und mit der Speiche-
rung von CO2. Dies sind Fragen, die hoffentlich zeitnah
beantwortet werden, und zwar auf eine Art und Weise,
die dazu führt, dass hier eine echte Alternative besteht.
Aber von vornherein und rundheraus zu sagen, dies alles
sei keine Alternative, halte ich angesichts der Herausfor-
derungen allein schon hier in Deutschland für ausgespro-
chen problematisch, aber erst recht, wenn wir über un-
sere Grenzen hinwegschauen, denn ich bin der festen
Überzeugung, dass Kohleverstromung noch lange Jahr-
zehnte in Europa, insbesondere in Osteuropa, aber auch
außerhalb Europas, gerade in den großen Schwellenlän-
dern, in Indien und in China, eine erhebliche Rolle spie-
len wird.

Wenn wir das alles wissen, dann ist es meines Er-
achtens die Aufgabe eines Industrie- und eines Hoch-
technologielandes wie Deutschland, mitzuhelfen, dass
Technologien entstehen, mit deren Hilfe diese Kohle-
verstromung jedenfalls so effizient wie möglich, das
heißt mit so wenig CO2-Emissionen wie möglich, er-
folgt.


(Beifall bei der SPD)


Wenn wir uns an dieser Stelle verweigern und nicht
mithelfen, dann haben wir genau das Aufgabenspektrum
verfehlt, das ein Land wie Deutschland zu erfüllen hat.
Wir sind nicht Frankreich, das einen hohen Anteil an
Kernenergie aufweist; die Franzosen haben ihre Aufga-
ben möglicherweise eher in diesem Bereich. Wir sind ein
Industrieland und ein Energieerzeugungsland, und un-
sere Energieerzeugung ist sehr kohlenstoffintensiv. Des-
wegen meine ich, dass wir neben der größeren Effizienz
im Verbrauch und in der Erzeugung von Energie und ne-
ben der Verbreitung von erneuerbaren Energien auch die
Aufgabe haben, solche Energieerzeugungsanlagen zu
modernisieren und technisch weiterzuentwickeln, die
fossile Brennstoffe verwenden. Dies ist meines Erach-
tens auch die Erwartungshaltung der internationalen Ge-
meinschaft, und ihr sollten wir uns in Kenntnis der Pro-
bleme, die damit verbunden sind und die ich an dieser
Stelle überhaupt nicht kleinreden will, nicht völlig ver-
weigern.

Nun möchte ich etwas zu dem Thema Eigentumsent-
flechtung sagen. Frau Höhn hat über das Aufbrechen
des Energiekartells gesprochen; auch die Überschrift des
Antrages selbst macht dies noch einmal deutlich.

Ich glaube, wir sind uns im Parlament weitgehend
darüber einig, dass wir mehr Wettbewerb im Energiesek-
tor brauchen. Ich glaube aber auch, dass wir in den letz-
ten Jahren gerade dazu eine ganze Menge gemacht ha-
ben. Weder Rot-Grün noch Schwarz-Rot sollte an dieser
Stelle sein Licht unter den Scheffel stellen, denn wir ha-
ben in den letzten Jahren gemeinsam an Rahmenbedin-
gungen für mehr Wettbewerb gearbeitet; dies habe ich in
anderen Debatten schon mehrfach vorgetragen. Wir ha-
ben im Jahre 2005 das Energiewirtschaftsgesetz verab-
schiedet. Alle Fraktionen haben daran mitgewirkt: Rot-
Grün im Deutschen Bundestag, aber im Grunde auch
Schwarz-Gelb, weil es durch den Vermittlungsausschuss
von Bundestag und Bundesrat ging, nicht aber die Linke,
da sie damals im Deutschen Bundestag als Fraktion nicht
vertreten war.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Nicht zum Schaden der Politik!)


Vor diesem Hintergrund sollten wir ein Stück weit stolz
darauf sein, dass wir die Bundesnetzagentur geschaffen
haben und dass sie im Bereich der Netze durchaus schon
Wirkung erzielt hat: sinkende Netzentgelte – Herr Meyer
hat gerade schon darüber gesprochen –, aber auch ein ho-
hes Maß an Diskriminierungsfreiheit beim Zugang zu
den Netzen. Dies gilt sowohl für diejenigen, die aus vor-
handenen Kraftwerken einspeisen wollen, als auch für
diejenigen, die neue Kraftwerke ans Netz bringen wollen.

Unter Schwarz-Rot haben wir diese Politik fortge-
führt und haben unter anderem eine Kraftwerks-Netzan-
schlussverordnung verabschiedet, die dieses Ziel noch
einmal deutlich unterstützen soll. Sie soll dafür sorgen,
dass neue Kraftwerke und damit letztlich auch neue An-
bieter bevorzugt ans Netz kommen können.

Die gestrige Anhörung hat kein Argument für die ei-
gentumsrechtliche Entflechtung geliefert.


(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Dann haben Sie nicht zugehört!)


Von keinem Sachverständigen ist die Behauptung auf-
rechterhalten worden, dass die eigentumsrechtliche
Entflechtung zu niedrigeren Preisen und zu mehr In-
vestitionen führt. Auch der Vertreter der Europäischen
Kommission – sie spricht sich bekanntermaßen für die
eigentumsrechtliche Entflechtung aus – hat ausdrücklich
gesagt, dass es diesen Nachweis, jedenfalls in Reinkul-
tur, nicht gibt.


(Beifall des Abg. Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/ CSU])


Deswegen sollte man mit diesem Thema sachlich umge-
hen.

Wir wollen, dass große Unternehmen ihre Machtposi-
tion nicht zulasten von Verbrauchern, egal ob es private
oder industrielle Verbraucher sind, ausnutzen können.
Deswegen kommt es darauf an, dass wir das Bundes-
kartellamt, aber auch die Bundesnetzagentur so stär-
ken, dass sie ihrer Aufgabe gerecht werden können. Das






(A) (C)



(B) (D)


Rolf Hempelmann
ist schon die Politik von Rot-Grün gewesen. Das ist jetzt
auch die Politik von Schwarz-Rot. Ich glaube, dass sie
auch zunehmend erfolgreich ist. Gerade die letzte Wett-
bewerbsrechtsnovelle, die Novelle des GWB, zeigt dies.
Jetzt sind insbesondere die Gasversorgungsunterneh-
men sozusagen unter der Lupe des Bundeskartellamts.
Sie unterliegen einem Missbrauchsverfahren. Hier ist in
absehbarer Zeit auch mit Entscheidungen zu rechnen.
Beim Thema Regelenergie betrifft das auch die
Stromunternehmen.

Die Verfahren sind also im Gange. Wir sollten beob-
achten, wie das, was wir angestoßen haben, wirkt. Auf
dem nationalen Markt müssen wir uns auf das Zusam-
menspiel von Bundeskartellamt, Bundesnetzagentur,
Wettbewerbsrecht und Regulierung verlassen.

International stehen die Unternehmen ohnehin in ei-
nem ganz anderen Wettbewerb, im Wettbewerb bei-
spielsweise – das ist eben schon angeklungen – mit gro-
ßen ausländischen Staatsunternehmen, die in ihren
Ländern Monopolisten sind. Ich glaube, dass es deswe-
gen schon wichtig ist, einmal sehr genau darüber nach-
zudenken: Wie müssen wir die Unternehmen hier eigent-
lich ausstatten, damit sie in diesem Wettbewerb bestehen
können?

Auch das ist im Interesse des deutschen Verbrauchers.
Wenn wir beispielsweise Gas nicht mehr preisgünstig
einkaufen können, etwa in Russland, dann geht das zu-
lasten des deutschen Verbrauchers. Ein guter Preis lässt
sich gegenüber Gasprom zum Beispiel, gegenüber den
Russen, aber nur durchsetzen, wenn eine entsprechende
Nachfragemacht dahintersteht. Wenn wir die Nachfrage-
macht zersplittern, dann wird es mit Sicherheit nicht ein-
facher, auch langfristig günstige Preise für deutsche Ver-
braucher zu erzielen.

Damit will ich sagen: Es ist schon ein bisschen kom-
plizierter, als es oft dargestellt wird.

Wir sind in dem Dilemma, dass wir uns auf der einen
Seite eigentlich starke Unternehmen wünschen müssen,
die im internationalen Wettbewerb zugunsten gerade
auch deutscher Verbraucher im unternehmerischen wie
im privaten Bereich günstige Preise durchsetzen kön-
nen. Wir müssen uns eine Regulierungs- und Wettbe-
werbskontrollpraxis wünschen, die dafür sorgt, dass
diese günstigen Konditionen auch an den Verbraucher
weitergereicht werden.

Beim zweiten Punkt sind wir in der Tat auf dem Weg,
aber wir sind noch längst nicht am Ziel. Jedenfalls hat
für mich die gestrige Anhörung ergeben, dass der Weg
nicht unbedingt eine eigentumsrechtliche Entflechtung
ist. Hier sind andere Alternativen deutlich geworden, die
wir in der Koalition auch verfolgen wollen, ich bin si-
cher, am Ende mit einem guten Ergebnis.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615406700

Ich gebe das Wort der Kollegin Ulla Lötzer, Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)


Ursula Lötzer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1615406800

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir

sind uns mit Ihnen, Frau Höhn, durchaus darin einig,
dass es eine eigentumsrechtliche Entflechtung der
Übertragungsnetze geben muss. Aber auch wir stellen
Ihnen die Frage, wer das Netz betreiben soll. Zumindest
in Ihrem Antrag drücken Sie sich um eine Aussage he-
rum. Einerseits wollen Sie eine öffentliche Kontrolle.
Andererseits kritisieren Sie uns immer wieder, wir hätten
auf alles nur die Antwort einer Überführung der Netze in
die öffentliche Hand.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist auch falsch!)


Glauben Sie im Ernst, dass dann, wenn die Netze bei-
spielsweise in der Hand von privaten Finanzinvestoren
sind, mit staatlicher Kontrolle eine soziale und ökologi-
sche Energiepolitik durchgesetzt werden könnte?


(Beifall bei der LINKEN)


Das halte ich allerdings für realitätsfremd. Das wird hier
genauso wenig gelingen wie gegenüber dem Energiekar-
tell. Das gilt erst recht für Ihren Vorschlag, Frau Kopp.
Die FDP will, dass die Konzerne ihre Netze in eine ge-
meinsame „Netz AG“ einbringen. In der Anhörung ist
das auf breite Ablehnung gestoßen; bei uns auch.


(Gudrun Kopp [FDP]: Das stimmt nicht!)


Die Monopolstellung der großen vier in einer „Netz AG“
zusammenzuführen, verstärkt das Problem und dehnt es
höchstens europaweit aus, mehr nicht.


(Gudrun Kopp [FDP]: Das ist technisch zu lösen!)


In der gestrigen Anhörung ist von der Vertreterin der
Grünen, der Kollegin Andreae, für eine Netzgesellschaft
das Modell einer öffentlich-privaten Partnerschaft in die
Diskussion gebracht oder unterstützt worden. Das ist in
der Klärung der Eigentumsfrage immerhin ein Schritt in
unsere Richtung. 51 Prozent der Netzgesellschaft sollen
in die öffentliche Hand überführt werden. Herr Krawinkel
hat für die Verbraucher ausdrücklich auch eine öffentli-
che Mehrheit für wichtig befunden, um volkswirtschaft-
liche Interessen durchzusetzen. Das bleibt aber unserer
Meinung nach auf halbem Weg stehen. Ich frage Sie: Wa-
rum sollen 49 Prozent privat sein? Begründet wurde das
in der Anhörung damit, dass die Konzerne damit für Ef-
fizienz sorgen würden. Kollegin Andreae, haben die gro-
ßen vier nicht in den letzten Jahren nachdrücklich bewie-
sen, dass ihre Effizienz vor allem darin besteht, ihre
Rendite zulasten sozialer und ökologischer Interessen zu
steigern, dies allerdings sehr effizient?


(Beifall bei der LINKEN)


Sie haben die Kunden übervorteilt. Sie haben das Land
in Regionen aufgeteilt und Preisabsprachen getroffen.
Erneut ist jetzt von der Bundesnetzagentur ein Verfahren
gegen RWE und Eon eingeleitet worden, weil sie in den
letzten Jahren Kosten in Höhe von 800 Millionen Euro
zu viel in Rechnung gestellt haben. Herr Meyer, trotz al-
lem sind die Übertragungsnetze hier und jetzt überaltert
und nicht auf die heutigen Anforderungen in der Ener-






(A) (C)



(B) (D)


Ulla Lötzer
gieversorgung ausgerichtet, und zwar trotz Gewinnstei-
gerungen von 6 Milliarden auf 20 Milliarden Euro.


(Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Deswegen gibt es bei uns die geringsten Ausfälle durch Stillstände!)


Frau Höhn, wie Sie selbst in Ihrem Antrag formuliert ha-
ben, haben sie diese Gewinne auch dadurch erzielt, dass
sie einer schmutzigen und gefährlichen Energieversor-
gung mit Atomenergie festhalten, wie insbesondere auch
die CDU.

Die Vertreter von Eon und RWE haben gestern in der
Anhörung die Dreistigkeit besessen, zu fordern, die Poli-
tik müsse die Rahmenbedingungen schaffen, damit
sich für sie Investitionen wieder lohnten. Im Klartext
heißt dies, sie wollen noch höhere Profite auf Kosten der
Verbraucherinnen und Verbraucher. Damit haben sie nur
eines deutlich gemacht: wie dringend die Maßnahmen
wären, ihnen die Übertragungsnetze endlich aus der
Hand zu nehmen. Solche Interessen haben in einer Netz-
gesellschaft nichts zu suchen.

Ein Austausch der privaten Eigentümer, zum Beispiel
RWE gegen Blackstone, löst das Problem aber nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Auch eine Netzgesellschaft in öffentlicher Hand, Herr
Meyer, würde Netzentgelte einnehmen. Diese würden
dann allerdings nicht in Form von Dividenden ausge-
schüttet, sondern könnten zum Beispiel für Investitionen
verwendet werden. Natürlich ist aber auch dann weiter-
hin eine Regulierung notwendig. Deshalb fordern wir
zumindest Sie von den Grünen auf, nicht auf halbem
Wege stehen zu bleiben, sondern uns bei unserer Forde-
rung zu unterstützen, die Netze in die öffentliche Hand
zu überführen, nicht als Allheilmittel, sondern als not-
wendige Voraussetzung für die Wahrnehmung ökologi-
scher und sozialer Interessen.

Das gilt nicht für die Verteilnetze, über die die Ener-
gie zum Endverbraucher kommt. Diese sind oft in der
Hand der Stadtwerke. Allerdings haben sich auch hier
die großen vier ihren Einfluss gesichert. An mehr als
270 Stadtwerken sind RWE und Eon beteiligt. Das Bun-
deskartellamt hat gestern den Vorschlag in die Diskus-
sion eingebracht, die Unabhängigkeit der Stadtwerke zu
stärken, indem dafür gesorgt wird, dass die großen vier
ihre Anteile an den Stadtwerken abgeben. Energiever-
sorgung gehört wieder mehr in die Hand der Kommu-
nen. Vor diesem Hintergrund unterstützen auch wir die-
sen Vorschlag.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Bekämpfung von Energiearmut, zum Beispiel
durch Umsetzung der Forderung des Verbraucherschutz-
verbandes nach einem Aktionsplan zur Sicherstellung
des Energiezugangs für alle, ist ein weiterer wichtiger
Schritt. Erfreulich ist, dass die Grünen in ihrem Antrag
die Position vertreten, dass ein armutsfester gesetzlicher
Mindestlohn eingeführt und die Hartz-IV-Regelsätze an-
gehoben werden sollen. Diese Maßnahmen sind notwen-
dig und tragen auch zur Bekämpfung von Energiearmut
bei. Allein in NRW wurde im letzten Jahr 59 000 Privat-
haushalten der Strom zumindest teilweise abgestellt. Wir
sind allerdings der Meinung, dass diese Maßnahmen
dringend durch die Bereitstellung von kostenfreien
Stromkontingenten und die Einführung eines Sozialtarifs
ergänzt werden müssen.

Energie für alle, bezahlbar, sicher und ökologisch er-
zeugt, ist nur durch Entmachtung der großen vier und
eine Rekommunalisierung der Stromversorgung mög-
lich.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615406900

Nächster Redner ist der Kollege Franz Obermeier,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Franz Obermeier (CSU):
Rede ID: ID1615407000

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! „Das Energiekartell aufbrechen – Für Klimaschutz,
Wettbewerb und faire Energiepreise“ lautet der Titel des
Antrags der Grünen. Arbeiten wir einmal auf, was zu fai-
ren Energiepreisen gehört. Der Antrag befasst sich in
erster Linie mit Strom; also nehmen wir exemplarisch
die Strompreise.

Bei der Stromerzeugung fallen zunächst einmal Pro-
duktionskosten an. In Deutschland ist die Erzeugung
von Strom mithilfe von Kohle, insbesondere Braun- und
Steinkohle, sowie Kernenergie am preiswertesten. Aus
beiden Stromerzeugungsverfahren möchten die Grünen
aussteigen. Das hätte zur Folge, dass teurere Produk-
tionsmethoden die bisherigen substituieren müssen. Das
ist so. Derzeit liegen die Produktionskosten für Strom
aus Kohle oder Kernenergie zwischen 4 und 5 Cent pro
Kilowattstunde. Bei den anderen Produktionsmethoden
liegen die Kosten aber teilweise um ein Vielfaches hö-
her. Sie müssen der Bevölkerung also erklären, was Sie
vor diesem Hintergrund unter „fairen Energiepreisen“
verstehen.

Das Zweite sind die Übertragungskosten, also die
Netzkosten. Diese Netzkosten stehen in letzter Zeit – zu
Recht – sehr stark in Rede. Darauf hat die Regierung re-
agiert und dem Kartellamt und der Bundesnetzagentur
bei ihren Bemühungen, sich verstärkt um diesen Punkt
zu kümmern, den Rücken gestärkt. Frau Höhn, Sie ha-
ben den Bundeswirtschaftsminister Michael Glos völlig
zu Unrecht kritisiert. Er hat nämlich als Erster mit Macht
darauf gedrängt, die Preisgestaltung bei den Netzkosten
unter kartellrechtlichen Gesichtspunkten zu untersuchen.
Das zeitigt bereits Erfolge. Denn die Bundesnetzagentur
hat, wie wir alle wissen, schon die ersten Bescheide ent-
sandt, zur Entlastung unserer Verbraucher.

Der Bundeswirtschaftsminister ist im Gegensatz zu
seinem Vorvorgänger nicht dafür verantwortlich, dass
wir bei der Gasversorgung ein echtes Kartell haben. Ver-
antwortlich ist jemand, der in der Regierung saß, an der
Sie von den Grünen beteiligt waren. Jetzt kommen Sie






(A) (C)



(B) (D)


Franz Obermeier
auf uns zu und werfen uns vor, dass es beim Netz ein
Kartell gibt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es ist scheinheilig, Frau Höhn, was Sie hier betreiben.
Sie hätten während Ihrer Regierungszeit die Möglichkeit
gehabt, diese Dinge zu unterbinden.

Dann haben wir bei der Strompreisgestaltung als drit-
ten großen Block den staatlich induzierten Teil. Fangen
wir einmal mit der Ökosteuer an. Die Ökosteuer macht
beim Endverbraucher immerhin 5 bis 6 Cent pro Kilo-
wattstunde Strom aus. Wer hat denn die Ökosteuer ein-
geführt? Das waren Sie.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie sie wieder zurücknehmen? Wie wollen Sie die Renten bezahlen?)


Sie haben die Ökosteuer eingeführt. Sie haben die
Zweckentfremdung solcher Einnahmen für die Renten-
versicherung induziert. Sie haben das veranlasst.


(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Genauso war das! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum haben Sie sie dann nicht wieder abgeschafft?)


Sie sind die Preistreiber auf dem Stromsektor. Das muss
man der Öffentlichkeit sagen. Wer hat denn die Kosten
erhöht?

Übrigens, Frau Lötzer, die beiden Vertreter der Ener-
giekonzerne gestern haben nicht gesagt, der Gesetzgeber
solle ihnen den Weg öffnen, damit sie leicht Netze bauen
könnten, sondern sie haben gesagt, dass sie eine gesetzli-
che Regelung wollen, damit sie überhaupt Netze bauen
können. Das wird das nächste Problem.

Im Übrigen ist diese ganze Situation auch preistrei-
bend. Dies alles zahlt der Verbraucher. Diese staatlich in-
duzierten Kosten nehmen ja einen erheblichen Teil ein.
Da darf man nicht zu laut schreien; denn wir sind mit un-
serer Mehrwertsteuererhöhung daran beteiligt.


(Gudrun Kopp [FDP]: So ist es!)


– Das gehört mit zur Wahrheit. Davor scheue ich nicht
zurück.

Aber der Hauptteil besteht darin, dass die Vorgänger-
regierung – daran waren Sie von den Grünen beteiligt –
einen großen Block auf die Stromkosten obendrauf ge-
setzt hat. Ich bin ein harter Brocken. Im Jahr 2000 haben
wir in der Energie-Enquete-Kommission furchtbar über
die Frage gestritten, ob der Weg richtig ist, dass man die
Strompreise so erhöht, dass der Stromverbrauch in
Deutschland zurückgeht. Die alte Strategie der Grünen,
dass man die Energiepreise nur genügend erhöhen muss,
damit der Verbrauch insgesamt zurückgeht, war Ihre Po-
litik. Heute beschweren Sie sich in Ihrem Antrag über
die hohen Preise.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gucken Sie doch einmal, wie die Gewinne explodiert sind! Was sagen Sie denn dazu? 300 Prozent zusätzliche Gewinne!)

Dies lassen wir Ihnen nicht durchgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir wehren uns mit Händen und Füßen dagegen, dass
Sie vor der Öffentlichkeit eine Politik betreiben, die irre-
führend ist und mit den Realitäten überhaupt nichts zu
tun hat.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615407100

Herr Kollege Obermeier, die Frau Kollegin Kopp

würde gerne eine Zwischenfrage stellen.


Franz Obermeier (CSU):
Rede ID: ID1615407200

Selbstverständlich, Frau Kopp.


Gudrun Kopp (FDP):
Rede ID: ID1615407300

Vielen Dank, Herr Kollege Obermeier. – Sie haben

eben selbstkritisch gesagt, dass Sie, die Regierung,
durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer einen Anteil
daran haben, dass die Energiepreise in die Höhe getrie-
ben worden sind. Ich finde es fair und richtig, dass Sie
das sagen. Sind Sie bereit, zu beantworten, was der Sinn
der Erhebung der Mehrwertsteuer auf den Energiever-
brauch ist, der zuvor schon durch andere Steuern belegt
ist? Ich nenne als Beispiel die Produktpreise bei den
Energieformen Gas und Strom. Darauf wird die Gas-
steuer bzw. die Stromsteuer erhoben, und darauf erhebt
die Regierung noch einmal die Mehrwertsteuer. Das ist
ein Gesamtkostenblock von 14 Milliarden Euro. Halten
Sie es für gerechtfertigt, eine Mehrwertsteuer auf bereits
mit Steuern belastete Produkte zu erheben?


Franz Obermeier (CSU):
Rede ID: ID1615407400

Sie fragen, ob ein solches Vorgehen gerechtfertigt ist.

Sie wissen doch ganz genau, wie die Mehrwertsteuer zu-
stande gekommen ist.


(Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Es wird erst seit ungefähr 15 Jahren in Deutschland so gemacht!)


Es ging in erster Linie um die Belange der Länder.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Selbstverständlich ist es in erster Linie um die Sanie-
rung der Länderhaushalte gegangen. Die entsprechenden
Erfolge gibt es schon.


(Birgit Homburger [FDP]: Auf Bundesebene könnte es auch so sein, wenn man gespart hätte!)


Die Doppelbesteuerung ist ein Faktum. Aber nehmen
Sie bitte auch zur Kenntnis, Frau Kopp, dass dieser
Punkt sicherlich nicht entscheidend ist. Der entschei-
dende Punkt bei der Preisgestaltung im Energiesektor ist
vielmehr, dass es eine Fülle von Begleitmaßnahmen
gibt, die sich auf der Produktionsseite wesentlich stärker
kostentreibend auswirken als die Mehrwertsteuererhö-
hung und die Belastung beispielsweise durch die Gas-
steuer.

Ich möchte noch etwas zur Strategie sagen und dar-
stellen, wie widersprüchlich der Antrag der Grünen ist.






(A) (C)



(B) (D)


Franz Obermeier
Was den Bereich der Stromproduktion mit Kohle angeht,
haben wir die Situation, dass die Investoren die Absicht
haben, alte Kohlekraftwerke mit einem Wirkungsgrad
von 35 bis 38 Prozent durch neue Kohlekraftwerke mit
einem Wirkungsgrad von rund 50 Prozent zu ersetzen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 45 Prozent!)


– Entschuldigung, Frau Höhn, da müssen Sie mir über-
haupt nichts sagen; davon verstehe ich garantiert mehr
als Sie.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das bezweifele ich! 45 bis 46 Prozent!)


Die Folge Ihrer Strategie wäre – das muss man wis-
sen, wenn man über Energiepreise redet –, dass die alten
Kohlekraftwerke mit einem schlechten Wirkungsgrad
am Netz blieben und dabei hohe Kosten für Emissions-
zertifikate verursachten. Diese Kosten würden wiederum
auf die Verbraucher umgelegt. Diese Strategie würde
also dazu führen, dass die Stromkosten weiter stiegen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Logik!)


Die Stromerzeuger könnten höhere Preise rechtfertigen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Zertifikate sind doch umsonst!)


Ich sage in aller Offenheit: Ob der von der Bundesre-
gierung eingeschlagene Weg letztendlich zu den in der
Klimapolitik vorgegebenen Zielen führen wird, Frau
Kopp, muss man einmal abwarten. Auch ich bin mir da
nicht ganz sicher. Wir müssen jetzt wesentliche Maß-
nahmen einleiten. Dazu gehört zum einen eine kom-
plette Modernisierung des Kraftwerkparks einschließlich
der Anlagen für erneuerbare Energien. Wir müssen mit
Macht darauf drängen, dass wir die modernsten Techno-
logien für die Stromproduktion haben. Ich nenne zum
anderen die Effizienzstrategie. Da sind wir auf einem
guten Weg. Es ist offensichtlich, wie gut die KfW-Pro-
gramme mittlerweile angenommen werden.


(Martin Zeil [FDP]: Wenn es sie noch gibt!)


– Natürlich gibt es sie noch. – Angesichts der Tatsache,
dass diese Programme gut laufen, bin ich sicher, dass un-
sere Strategie erfolgreich ist.

Ob wir aber die Klimaschutzziele erreichen, wenn es
bei dem vereinbarten Ausstieg aus der Kernenergie
bleibt, ist nicht sicher. An dieser Stelle kann ich an die
Kolleginnen und Kollegen der SPD nur appellieren:
Wenn Sie schon den Ausstieg aus der Kernenergie par-
tout wollen, dann lassen Sie uns doch miteinander da-
rüber reden, ob es nicht eine zeitliche Verzögerung beim
Ausstieg geben kann. Mit der Verlängerung der Laufzei-
ten für Kernkraftwerke könnten wir die Zeitspanne, bis
die erneuerbaren Energien und Effizienzsteigerungen die
Lücke füllen können, überbrücken. Das ist mein Petitum
zum Abschluss.

Ich bin froh, dass wir in der Energiepolitik schon so
weit sind. Ich bin überzeugt, dass wir bald mit den Kol-
leginnen und Kollegen der SPD über die Frage der Ver-
längerung der Laufzeiten für Kernkraftwerke reden kön-
nen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1615407500

Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Andreae

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615407600

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Energieversorgung ist Daseinsvorsorge, und
zwar für die Menschen und für die Wirtschaft. Wir brau-
chen eine sichere und verlässliche Energieversorgung.
Energie muss aber auch bezahlbar sein. Frau Höhn hat
schon darauf hingewiesen, wie sich die Preise entwickelt
haben, aber auch darauf, wie sich parallel dazu die Ge-
winne der Energieversorgungsunternehmen entwickelt
haben. Das sind keine fairen Preise mehr.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es gibt zwei Gründe für steigende Preise. Der eine
Grund ist der Ressourcenverbrauch; denn knappe Res-
sourcen bedeuten höhere Preise. Die Ölpreise von heute
waren für uns vor ein paar Jahren noch undenkbar. Wir
müssen damit rechnen, dass sie weiter steigen werden;
denn was knapp wird, wird teurer. Ungezügelter Ener-
gieverbrauch heißt auch hoher Ressourcenverbrauch.
Das ist teuer, schädlich für die Umwelt und Ursache für
den Klimawandel. Das ist der Hauptgrund, warum wir
sagen: Wir brauchen eine Energiewende; wir brauchen
ein Umsteuern in Richtung erneuerbarer Energien.

Welche Situation haben wir jetzt? Der Energiemarkt
wird von den vier großen Energieversorgungsunterneh-
men dominiert. In Sachen Energiewende sind diese Un-
ternehmen keine Verbündeten. Sie forcieren die erneuer-
baren Energien nicht. Deswegen müssen wir uns
überlegen, wie wir die erneuerbaren Energien voranbrin-
gen können. Eine Möglichkeit ist, das Energiekartell
aufzubrechen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die vier großen Energieversorgungsunternehmen ha-
ben die Marktmacht inne. Sie kontrollieren die Kraft-
werke, den Stromabsatz, und vor allem befinden sich die
Übertragungsnetze in ihrem Eigentum. Warum ist das
ein Problem? Mangelnder Wettbewerb erschwert den
Marktzugang. Die Energieversorgungsunternehmen er-
schweren neuen Anbietern den Marktzugang. Wir brau-
chen aber mehr Dynamik, mehr Anbieter, stärker dezen-
trale Versorgungsstrukturen und einen neutralen und
diskriminierungsfreien Netzzugang.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1615407700

Frau Kollegin, darf ich Sie unterbrechen? Der Herr

Kollege Meyer möchte gerne eine Zwischenfrage stel-
len.






(A) (C)



(B) (D)


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615407800

Bitte.


Laurenz Meyer (CDU):
Rede ID: ID1615407900

Sie haben gesagt, dass die in diesem Bereich exorbi-

tant hohen Gewinne ausschließlich mit der traditionellen
Stromerzeugung zusammenhingen und sich das geben
würde, wenn man auf neue, alternative Modelle umstei-
gen würde. Haben Sie die Kapitalverzinsung und die
Umsatzrenditen im Bereich der traditionellen Energie-
erzeugung einmal berechnet und mit den Umsatzrendi-
ten verglichen, die im Bereich der Fotovoltaik erwirt-
schaftet werden?


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn Sie sich die Berichte in den Wirtschaftsteilen
der Zeitungen anschauen, können Sie feststellen, dass
die Fotovoltaikunternehmen, die diesen Bereich in
Deutschland stützen, im letzten Jahr eine Umsatzrendite
von 45 Prozent verzeichnen konnten. Wir sind uns hier
eigentlich alle einig, dass eine Eigenkapitalverzinsung in
Höhe von 20 Prozent bei der Deutschen Bank ein ziem-
lich hoher Wert ist. Angesichts einer Umsatzrendite von
45 Prozent bei Fotovoltaikunternehmen muss ich jedoch
sagen: Wir haben noch eine ganze Menge Arbeit vor
uns, ehe die Preise für die Verbraucher akzeptabel sind.

In den Fachzeitschriften der Fotovoltaikindustrie kön-
nen Sie nachlesen, dass der Preis für 1 Watt auf dem
Weg vom Produzenten zum Verbraucher von 82 Cent auf
2,52 Euro steigt. Angesichts dessen frage ich mich, wor-
auf Sie Ihre These stützen, dass sich die Rendite der Un-
ternehmen durch einen Umstieg von Kohle- und Kern-
energie auf zum Beispiel Fotovoltaik ändern würde. Im
Moment scheint es eher so zu sein, dass sie dadurch
deutlich steigen würde.


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615408000

Sehr geehrter Herr Kollege, ich habe nicht gesagt,

dass ein neuer Energieanbieter per se niedrigere Preise
anbietet. Ich sage übrigens auch nicht, dass mehr Wett-
bewerb zwangsläufig zu sinkenden Preisen führt. Das
haben Sie angeführt. In der Anhörung wurde klar, dass
es dafür keine Belege gibt.

Wir können aber erkennen, dass mangelnder Wett-
bewerb in den letzten Jahren zu diesen enormen Preis-
steigerungen geführt hat.


(Martin Zeil [FDP]: Und der Staat!)


Wir können sehen: Mangelnder Wettbewerb führt zu
steigenden Gewinnen, die nicht mehr im Verhältnis zu
den steigenden Preisen, die von den Verbraucherinnen
und Verbrauchern gezahlt werden, stehen.


(Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Sie haben auf die Energiearten abgehoben! Meine Frage war eine ganz andere!)


Deswegen bleiben wir dabei: Mangelnder Wettbewerb
führt zu steigenden Preisen.


(Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Sie müssen meine Frage beantworten!)

Das ist im Übrigen unabhängig davon, ob es ein konven-
tioneller oder ein alternativer Energieanbieter ist. Wir
haben dieses Preisproblem. Wir brauchen Instrumente,
um dieses Preisproblem zu lösen. Ein Instrument ist, das
Energiekartell aufzubrechen, Herr Meyer.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ein Hauptpunkt – da haben die Grünen die Europäi-
sche Union von Anfang an unterstützt – ist das Owner-
ship-Unbundling. Es ist aus unserer Sicht richtig, die
eigentumsrechtliche Entflechtung hier voranzubringen.
Seit dem 28. Februar 2008 ist Bewegung in die Situation
gekommen, weil Eon selber gesagt hat, dass sie ihre
Übertragungsnetze hergeben. Übrigens am gleichen Tag
hat Wirtschaftsminister Glos in der EU weiterhin für den
dritten Weg plädiert. Ich sage Ihnen: Die EU zu unter-
stützen, ist der richtige Weg, um auf diesem Markt vo-
ranzukommen. Wir brauchen eine Entflechtung von In-
frastruktur und Energieversorgung. Die Energienetze
sind unsere große Systeminfrastruktur. Das ist zum Bei-
spiel mit dem Schienennetz der Bahn vergleichbar; hier
haben wir große Sorge, was Sie entwickeln.

Wenn wir sagen, Energieversorgung sei Daseinsvor-
sorge, und Daseinsvorsorge und Energieversorgung
brauchen ein funktionierendes Netzsystem, dann weise
ich auf Folgendes hin – deswegen habe ich gestern in der
Anhörung über ein Modell gesprochen, das wir meiner
Meinung nach in die Diskussion einbringen müssen –:
Sie müssen Kriterien entwickeln, wer diese Netz AG
– oder wie auch immer Sie es nennen wollen – irgend-
wann verwaltet, wer die Netze besitzt und wie die Politik
dieser Netz AG ausgestaltet sein muss. Darüber müssen
Sie sich Gedanken machen.

Sich heute immer noch darüber Gedanken zu machen,
dass die Entflechtung nicht kommt, ist rückwärtsge-
wandt. Ich bin ziemlich sicher – das haben wir schon vor
längerer Zeit gesagt –, dass die Entflechtung kommt. Die
EU wird sich an dieser Stelle durchsetzen. Deswegen
lassen Sie das mit dem dritten Weg. Es ist Energiever-
schwendung, den dritten Weg weiter zu forcieren. Über-
legen Sie sich vielmehr, wie das Ganze künftig ausge-
staltet sein soll.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Natürlich brauchen wir Regulierung. Wir brauchen
das Kartellamt und starke wettbewerbsrechtliche Rege-
lungen auf diesem Markt. Wir brauchen im Übrigen vor
allem das Unbundling. Denn wenn Sie die Netz AG ge-
stalten, dann darf einer, der Investor in der Netz AG ist,
nicht gleichzeitig Erzeuger sein. Also stimmt die Vor-
stellung, dass Gasprom dann zum Teil unsere Netze
quasi in der Hand hätte, nicht, weil Gasprom als Ener-
gieerzeuger nicht Netzbesitzer sein kann.

Aber ich glaube, dass wir uns über Folgendes Gedan-
ken machen sollten: staatliche Interessen, Investitionen
in die Netze, Wartung der bestehenden Netze, Ausbau
eines europäischen Energiebinnenmarktes, Ausbau der
Grenzkuppelstellen und Aufbau einer noch effizienteren
Regulierung. Wir sollten hier nicht nur über die Variante
„nur privat“ und im Übrigen überhaupt nicht über die






(A) (C)



(D)


Kerstin Andreae
Variante „nur staatlich“ reden. Vielmehr sollten wir da-
rüber reden, ob es Zwischenmodelle gibt. Das ist die Po-
sition, die wir in die Diskussion einbringen wollen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Doch der dritte Weg?)


Es spricht für mich viel dafür, das private Know-how
und das private Kapital, das bei den Energieversorgungs-
unternehmen vorhanden ist, zu nutzen und in Anspruch
zu nehmen. Es spricht auch viel dafür, sich Gedanken
darüber zu machen, wie wir die staatliche Aufgabe zur
Leistung einer der großen Systeminfrastrukturen, einer
der Lebensadern unserer Volkswirtschaft, gestalten und
mit welchen Kriterien wir sie unterlegen wollen. Wir
sollten uns sehr genau Gedanken darüber machen, wie
wir unsere Netze in Deutschland in Zukunft verwalten
und gestalten wollen. Wir sollten auf europäischer Ebene
nicht den dritten Weg forcieren, dessen Grab quasi schon
geschaufelt ist.

Ich bitte Sie ganz dringend, sich hier für mehr Wett-
bewerb einzusetzen, dem Energiekartell entgegenzuste-
hen, sich für faire Preise einzusetzen, Marktmacht zu
verhindern, die Verbraucher zu schützen und das Primat
der Ökologie in den Vordergrund zu stellen. Hierauf soll-
ten Sie Ihre Energie verwenden und nicht auf Modelle,
die keine Zukunft mehr haben.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1615408100

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Ulrich

Kelber.


(Beifall bei der SPD)



Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1615408200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Viele private Haushalte und viele Unternehmen
in unserem Land bekommen in diesen Tagen Briefe von
Energieversorgern oder von Vermieterinnen und Vermie-
tern. Die Briefe der Energieversorger sind in der Regel
durch eine deutliche Tariferhöhung gekennzeichnet, die
übrigens weit über den Prognosen zum Beispiel der In-
ternationalen Energieagentur und weit über dem liegen,
was wir als Politiker noch vor wenigen Jahren für mög-
lich gehalten haben.

Viele Mieterinnen und Mieter bekommen in densel-
ben Tagen Rechnungen über Nachzahlungen für den
Energieverbrauch, weil der Einkauf von Heizöl und
Erdgas sehr viel teurer geworden ist, als bei der Berech-
nung der Vorauszahlungen für ihre Mietnebenkosten an-
genommen wurde. Die Energiepreise sind zu einer Be-
lastung geworden. Sie sind für viele private Haushalte
nicht mehr oder nur noch unter stärksten Einschränkun-
gen zahlbar. In zahlreichen kleinen und mittelständi-
schen Unternehmen werden sie zu einem Faktor, der
Wachstum begrenzt und Arbeitsplätze gefährdet.

Der Anstieg der Energiepreise hat sich in den letzten
drei Jahren enorm beschleunigt. Es ist richtig, auf die
Gründe für diesen Anstieg zu schauen. Es gibt drei we-
sentliche Gründe, auf die dieser Anstieg zurückgeht.

Als erstes muss man natürlich die Frage nach dem
staatlichen Anteil an den Energiepreisen stellen.


(Martin Zeil [FDP]: Genau!)


Natürlich hat die Mehrwertsteuererhöhung und natürlich
haben leicht gestiegene Abgaben als Folge von Förder-
gesetzen zu höheren Energiepreisen geführt. Es gibt al-
lerdings zwei wesentliche Unterschiede zu den beiden
anderen Gründen des Preisanstiegs. Erstens sind die För-
dermaßnahmen teilweise Bestandteil von Programmen,
die ihrerseits die Energiekosten senken sollen, indem
mehr Wettbewerb entsteht. Sie kommen den Energie-
kunden also an anderer Stelle wieder zugute, ganz an-
ders als die gestiegenen Gewinnmargen der Energiekon-
zerne. Zweitens ist der staatliche Anteil an den
Energiepreisen in den letzten zwei Jahren wieder gesun-
ken, weil die Preissteigerungen der Privaten weit höher
waren als die staatlichen Belastungen.

Ich will das einmal am Beispiel des Benzins, nicht
des Stroms, deutlich machen, weil es dazu vor kurzem
einen Vorschlag des geehrten Kollegen Westerwelle ge-
geben hat. Er hat gesagt, der Staat habe an den Benzin-
preisen einen Anteil von 75 Prozent. Ich habe das einmal
überprüft und herausgefunden, dass der Kollege
Westerwelle ein ausgesprochen gutes Gedächtnis hat. Er
hat nämlich fast auf den Prozentpunkt genau den staatli-
chen Anteil im Jahr 1998 in Erinnerung gehabt, dem
letzten Jahr der FDP-Regierungsbeteiligung. In der Zwi-
schenzeit – das waren einige Jahre unter Rot-Grün und
alles Jahre mit SPD-Regierungsbeteiligung – ist der
staatliche Anteil von 75 Prozent auf 60 Prozent gesun-
ken.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gudrun Kopp [FDP]: Das stimmt nicht!)


– Wir können das gemeinsam nachrechnen, das ist ziem-
lich einfach nachzuvollziehen.

Die zweite Ursache sind die steigenden Weltmarkt-
preise. Die Politik muss den Menschen deutlich sagen,
dass sie sie vor steigenden Weltmarktpreisen kaum
schützen kann. Wir können höchstens etwas bei der Di-
versifizierung der Liefergebiete machen. Aber eigentlich
sind wir – auch im Rahmen der Europäischen Union –
viel zu klein, um etwas gegen steigende Weltmarktpreise
unternehmen zu können. Allerdings können wir helfen,
den Energieverbrauch zu senken, was dazu führt, dass
man von den teurer werdenden Energieträgern weniger
importieren muss. Dabei können wir helfen, und darauf
müssen wir uns in der Politik konzentrieren.

Das ist sehr gut mit den Anstrengungen beim Klima-
schutz kompatibel. Denn fast jede Anstrengung beim
Klimaschutz läuft darauf hinaus, weniger von den treib-
hausgasemittierenden Energieträgern zu verbrauchen.
Indem wir die Unternehmen und privaten Haushalte da-
bei unterstützen, weniger Energie zu verbrauchen, wird
einer der beiden Faktoren der Energierechnungen ge-
senkt.

(B)







(A) (C)



(B) (D)


Ulrich Kelber
Der dritte und wichtigste Grund ist das Oligopol auf
unserem Energiemarkt, das es bei der Gas- und bei der
Stromversorgung gibt. Es ist gerade gesagt worden, dass
die Gewinne der vier großen Strom- und Gasversorger in
den letzten Jahren von 6 Milliarden Euro auf 18 Milliar-
den Euro gestiegen sind. Herr Kollege Meyer, ich hätte
mich gefreut, wenn Sie die gleiche Frage, die Sie Frau
Andreae gestellt haben, auch mir gestellt hätten; denn
ich habe eine Antwort darauf. Es gibt mehrere Zehntau-
send Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland,
die sich mit Solarenergie beschäftigen. Sie haben gerade
vereinfachend die hohen Renditen von lediglich zwei
dieser mehreren Zehntausend Unternehmen genannt.


(Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Aber das sind die Großen!)


Sie sind zum Beispiel nicht darauf eingegangen, dass ein
Handwerker heutzutage eine Rendite von 2 Prozent hat,
wenn er eine Solaranlage installiert.


(Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Weil er ganz am Ende ist! Da haben inzwischen schon 30 andere verdient!)


Es gibt außerdem einen wesentlichen volkswirtschaft-
lichen Unterschied. Während die beiden Unternehmen,
die Sie genannt haben, die Gewinne jedes Jahr reinves-
tieren, um eine jährliche Verdoppelung der Kapazitäten
zu erreichen, werden die 18 Milliarden Euro Gewinn der
großen Energiekonzerne nicht, wie in den letzten Jahren
versprochen, in neue Kraftwerke und die Modernisie-
rung der Netze investiert, sondern sie werden ausge-
schüttet. Jedes Jahr gibt es eine neue Ausrede, weshalb
man die Gewinne behalten müsse und sie nicht, wie ver-
sprochen, investiere.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1615408300

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?


Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1615408400

Ja, selbstverständlich.


Gudrun Kopp (FDP):
Rede ID: ID1615408500

Vielen Dank, Herr Kollege Kelber, dass Sie die Frage

zulassen. – Sind Sie bereit, zu bestätigen, dass es in der
Solarbranche in Deutschland 35 000 Arbeitsplätze gibt
und dass die Stromkunden über die hohen Abgaben und
Steuern auf Energie 153 000 Euro pro Arbeitsplatz pro
Jahr mitfinanzieren? Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu
nehmen?


Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1615408600

Ich nehme zunächst einmal zur Kenntnis, dass Sie

eine Studie des RWI gelesen haben, zumindest Aus-
schnitte daraus bzw. die Zusammenfassung für Entschei-
dungsträger,

(Birgit Homburger [FDP]: Das ist unverschämt! – Gudrun Kopp [FDP]: Ja! Das finde ich auch!)


wie wir alle es häufig tun müssen, wenn eine Studie
mehrere 100 Seiten lang ist.


(Martin Zeil [FDP]: Zur Sache!)


Aber – jetzt kommt der Punkt – wo hat diese Studie
recht? Es fängt damit an, dass darin falsche Arbeitsplatz-
zahlen zugrunde gelegt werden. Man tut so, als seien die
Preise, die Sie gerade genannt haben, Preise pro Jahr.
Dabei wurden diese Preise über 30 Jahre hochgerechnet.

In dieser Studie wird beim Strom aus fossilen Ener-
gieträgern eine Preissteigerung in Höhe von 3 Prozent
angesetzt. In den letzten Jahren betrug die Preissteige-
rung allerdings 8 Prozent. Außerdem wird eine Senkung
der Vergütung der Kosten für Fotovoltaik in Höhe von
5 Prozent angenommen. Die Koalition wird aber auf je-
den Fall eine von 8 Prozent beschließen; das ist ein Vor-
schlag der Regierung.

Darüber hinaus wird in dieser Studie ein weiterer
eklatanter Fehler gemacht: Die größten Zubauzahlen
werden für die Jahre nach 2015 prognostiziert. In der
Studie heißt es, das werde besonders teuer. Aber im
Jahre 2015 wird nach den Beschlüssen, die die Bundes-
regierung vorbereitet hat und die Große Koalition bis zur
Sommerpause fassen wird, der Strom aus einer
Fotovoltaikanlage unter deutschen Verhältnissen billiger
sein als der Strom aus der Steckdose. Das wird der Zeit-
punkt sein, zu dem jemand, der eine Fotovoltaikanlage
installiert, keine EEG-Vergütung mehr in Anspruch neh-
men wird, sondern dafür sorgen wird, dass er den teuren
Strom von RWE, Eon & Co. nicht mehr beziehen muss.
Das ist der Augenblick, in dem der Boom erst richtig
losgehen wird.

Deswegen ist die Studie des RWI, was die Kosten be-
trifft, falsch, und zwar um den Faktor 15. Was die Zahl
der Arbeitsplätze, die entstehen sollen, angeht, liegt sie
sogar um ein Vielfaches daneben. Roland Berger zum
Beispiel geht von 200 000 Arbeitsplätzen und nicht von
35 000 Arbeitsplätzen aus.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wie Sie sehen, habe ich die Studie ausführlicher gelesen,
als Sie es vermutlich getan haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gudrun Kopp [FDP]: Sie rechnen sich das schön!)


Viel spannender ist dieses Thema, wenn man nicht die
Angaben verwendet, die RWE, Eon und Vattenfall in ih-
rer Öffentlichkeitsarbeit machen, sondern wenn man
sich ansieht, welche Informationen die Unternehmen
verbreiten, wenn sie ganz andere Ansprüche bedienen
müssen. Ein Beispiel ist die Jahresbilanzpressekonferenz
von Vattenfall in Stockholm.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Da waren Sie?)







(A) (C)



(B) (D)


Ulrich Kelber
– In Stockholm war ich schon einmal. Auf dieser Jahres-
bilanzpressekonferenz war ich aber leider nicht. Ich bin
nicht eingeladen worden, Herr Pfeiffer. –


(Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Haben Sie etwa nur Auszüge gelesen?)


Dort hieß es, dass zwei Drittel des Gewinns dieses Un-
ternehmens aus Deutschland stammen, weil man in
Deutschland im Stromgeschäft besonders hohe Margen
erzielen kann. Dasselbe Unternehmen erzählt uns, die
Preise seien in Deutschland aufgrund der hohen Abga-
ben so hoch. In Schweden hingegen sagt man, in
Deutschland seien besonders hohe Margen zu erzielen.

Man sollte sich auch einmal die entsprechenden Fo-
lien besorgen, die gezeigt werden, wenn RWE in Lon-
don Finanzinvestoren dazu motivieren will, in die Ak-
tien des Unternehmens zu investieren. Auf ihnen steht
nämlich, dass in 80 Prozent der Kraftwerke Strom für
weniger als 2 Cent produziert wird und dass man Kraft-
werke vom Markt genommen hat, um eine höhere Marge
erzielen zu können. Das steht auf den Folien dieses Un-
ternehmens. Das hört sich anders an als das, was in den
Pressemitteilungen steht, die dieses Unternehmen in
Deutschland verbreitet.

Die Politik kann dennoch einiges tun. Wir können
dazu beitragen, dass von den teuren Energieträgern we-
niger verbraucht wird. Die Stichworte lauten: erneuer-
bare Energien, Gebäudedämmung und sparsamere Ver-
wendung. Ich hoffe nach wie vor, dass wir in
Deutschland mit aller Kraft gemeinsam daran arbeiten,
auf europäischer Ebene das Top-Runner-Programm zu
verankern.

Dann können wir in Zukunft verlangen, dass man sich
bei allen Instrumenten, Maschinen und Geräten, die ver-
kauft werden, am Besten orientieren muss und dass fünf
Jahre später nur noch Geräte verkauft werden dürfen, die
mindestens so energieeffizient sind wie die besten Ge-
räte fünf Jahre zuvor. Damit würden wir einen Wettlauf
der Ingenieure auslösen, der im Interesse der Geldbeutel
der Verbraucherinnen und Verbraucher wäre und zu un-
geahnten Ergebnissen führen würde. Wer weniger Kli-
maschutz will, der lässt die Verbraucherinnen und Ver-
braucher mit den steigenden Energiekosten allein.

Viele Umstände werden dazu führen, dass wir nie
wieder niedrige Energiepreise haben werden. Die Frage
ist: Schaffen wir es, zu fairen Energiepreisen zu gelan-
gen?

Wer dazu einen Beitrag leisten will, der muss sich mit
dem Oligopol auf dem Energiemarkt befassen. Denn es
ist die Situation eingetreten, dass die Renditen im libera-
lisierten Markt höher sind, als es die Renditen vor dem
Jahr 1998 in einer regionalen Monopolsituation waren.
Das war nicht der Gedanke, der hinter der Liberalisie-
rung stand. Deswegen sind wir darauf angewiesen, jede
einzelne politische Maßnahme zu überprüfen: Stärkt sie
das Oligopol, oder bricht sie das Oligopol auf? Ich
pflichte dem Bundeswirtschaftsminister bei, wenn er
sagt: Wir brauchen als Erstes mehr Kapazität auf dem
Markt. Das ist richtig. Aber wir brauchen auch mehr
Wettbewerber auf dem Markt, wir brauchen mehr Unter-
nehmen auf dem Markt. Dafür braucht es eine ordnungs-
politische Vorgabe, wie viel Marktdominanz wir, die Po-
litik, zu akzeptieren bereit sind und wo wir, wie in
anderen Bereichen der Wirtschaft, gegen Marktdomi-
nanz Maßnahmen ergreifen.

Bei vielen Maßnahmen kann man relativ schnell
prüfen, ob sie sinnvoll sind. Eine Stärkung der Stadt-
werke zum Beispiel ist sinnvoll, weil sie mehr Wettbe-
werb bringt. Wir sind dazu aufgerufen, bei allen Energie-
wirtschaftsgesetzen auf die Bedingungen, zu denen die
Stadtwerke arbeiten müssen, stärker zu achten. Wir brau-
chen ein Gesetz zur Förderung der Kraft-Wärme-Kopp-
lung. Bei der Kraft-Wärme-Kopplung treten fast immer
regionale, kleine Wettbewerber gegen die Oligopolisten
an. Eine Förderung der erneuerbaren Energien ist eben-
falls sinnvoll. Sinnvoll ist auch, wenn im Energiesektor
ab 2013 100 Prozent der Zertifikate versteigert werden,
damit es im Emissionshandel nicht länger Wettbewerbs-
verzerrungen gibt.

Die Grünen fordern in ihrem Antrag, bei der zweiten
Emissionshandelsphase nachträglich Abschöpfungen vor-
zunehmen. Sie wissen, dass das schwierig ist. Als ich in
meinem Archiv gekramt habe, habe ich den Brief gefun-
den, den ich damals als Berichterstatter Klimaschutz an
Umweltminister Jürgen Trittin geschrieben habe und in
dem ich vor der Verabschiedung der Emissionshandels-
richtlinie nachgefragt habe: Besteht nicht die Gefahr,
dass den Energiekonzernen ungerechtfertigte Gewinne
entstehen? Antwort des damaligen Umweltministers:
Diese Gefahr sehe er nicht.

Wir müssen jetzt gemeinsam an der Richtlinie für die
dritte Emissionshandelsperiode arbeiten. Die Gefahr un-
gerechtfertigter Gewinne ist erst dann gebannt, wenn
100 Prozent der Zertifikate auktioniert werden. Wir kön-
nen die entsprechenden Einnahmen nutzen, um die Ener-
giekosten der Haushalte zu senken.

Wir diskutieren immer wieder über eine Verlängerung
der Laufzeit der Atomkraftwerke. Das ist eine Maß-
nahme, die für mehr Wettbewerb schädlich wäre.


(Gudrun Kopp [FDP]: Das sehen wir anders!)


Ich will Ihnen das an einem Beispiel verdeutlichen:
Wenn sich ein regionaler Wettbewerber überlegt, ein
Kraftwerk zu bauen, muss der Aufsichtsrat den Eigentü-
mern erklären, was für eine Rendite zu erwarten ist.
Wenn die jetzige Politik fortgesetzt wird, wenn
100 Prozent der Zertifikate auktioniert werden, wenn be-
stimmte Nutzungsrechte eingeschränkt werden, ist eine
Rendite von 11 Prozent zu erwarten. Vielen Finanzin-
vestoren wäre das zu wenig; aber ein regionaler Betrei-
ber ist bereit, für eine Rendite von 11 Prozent zu inves-
tieren. Eine Folie weiter wird betrachtet, wie die Rendite
aussieht, wenn die Laufzeit der Atomkraftwerke verlän-
gert wird. Dann sinkt diese Rendite auf unter 4 Prozent,
und das neue Kraftwerk ist nicht mehr refinanzierbar.
Das heißt, die Entscheidung eines Unternehmens, ob es
in Deutschland in den Markt einsteigt und durch Kon-
kurrenz für niedrigere Energiepreise sorgt, steht und fällt
damit, ob die Bundesregierung die Atomkraftwerke – die
hoch subventioniert waren und längst abgeschrieben






(A) (C)



(B) (D)


Ulrich Kelber
sind und noch heute von der Allgemeinheit subventio-
niert werden –


(Gudrun Kopp [FDP]: Die werden subventioniert? Das stimmt doch gar nicht!)


abschalten lässt, wie es vorgesehen ist. Sonst bleibt es
bei der Monopolrendite, sonst bleiben 80 Prozent der
Stromproduktion in den Händen von vier Unternehmen.
Wir sind es also, die entscheiden, ob Unternehmen in
den Wettbewerb einsteigen oder nicht.


(Gudrun Kopp [FDP]: Und der Klimaschutz?)


In den Anträgen der Grünen und der FDP stehen wei-
tere Vorschläge für mehr Wettbewerb. Zum einen geht es
dabei um die Netze. Ich glaube, dass wir mit der Bun-
desnetzagentur auf einem guten Weg sind; allerdings
gibt es bei der Netzregulierung noch Ausreißer, wie ein
Beispiel aus meiner Heimatstadt Bonn zeigt.

In Bonn sind 60 Prozent des Netzes im Besitz der
Stadtwerke Bonn und 40 Prozent im Besitz von RWE.
Die Kunden werden von den Stadtwerken Bonn belie-
fert; RWE bekommt Netznutzungsentgelte gezahlt.
Nachdem die Bundesnetzagentur die Netzentgelte gere-
gelt hat, darf RWE ein wesentlich höheres Netzentgelt
verlangen als die Stadtwerke Bonn. Das führt dazu, dass
die Stadtwerke Bonn RWE mit 4 Millionen Euro sub-
ventionieren. Ich kann nicht verstehen, wie so etwas das
Ergebnis einer Netzentgeltregulierung sein kann.


(Zuruf von der LINKEN: Das kann es nun wirklich nicht sein!)


Im Jahr 1995 wurde rekommunalisiert, und die Stadt-
werke haben Netze zurückgekauft. Wie kann die Bun-
desnetzagentur die Meinung vertreten, dass der Preis,
den die Stadtwerke damals gezahlt haben, zu hoch gewe-
sen sei, und deshalb nicht anerkennen, dass die Stadt-
werke die Netzentgelte zu senken haben, während die
RWE-Tochter mit dem Geld, das die Stadtwerke damals
gezahlt haben, Wettbewerb machen kann? Das kann
nicht das Ergebnis von Regulierung sein. Wir brauchen
eine Stärkung der Stadtwerke.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die Grünen haben vorgeschlagen, Kraftwerksver-
käufe und die Privilegierung neuer Wettbewerber zu
prüfen. Ich habe dafür eine persönliche Sympathie, aber
Sie machen an der Stelle einen Denkfehler: Sie kommen
damit vor Gericht nur durch, wenn Sie nachgewiesen ha-
ben, dass Sie vorher bei der Förderung von Wettbewer-
bern und der Ermöglichung des Zubaus an Kapazitäten
die notwendigen Maßnahmen ergriffen haben. So weit
sind wir nicht. Den Menschen zu erzählen, man könne
diese Maßnahmen jetzt ganz schnell ergreifen, ist
schlichtweg juristisch falsch.

Noch dazu kommen viele der neuen Wettbewerber zu
uns und sagen: Wenn ihr diese Privilegierung einführt,
dann nutzt sie uns nur in den ersten Jahren. Wissen wir
aber, ob ihr nicht nach fünf Jahren dem Nächsten dieses
Vorrecht gegenüber unseren Kraftwerken gebt, sodass
sich unsere Investition dann nicht mehr rechnet? – Sie
säen Misstrauen in den Markt, der im Augenblick leider
sehr diffizil ist und in dem die Investitionen nicht so gut
fließen, wie wir uns das wünschen.

Letzter Punkt. Die FDP schlägt die Absenkung der
Mehrwertsteuer vor. Ich finde das spannend. Mit Aus-
nahme der ersten und der letzten Erhöhung der Mehr-
wertsteuer waren Sie bei allen in der Regierung. Was
glauben Sie, wie viel von dieser Senkung RWE und Eon
wieder zurückgeben werden? Die Senkung der Mehr-
wertsteuer würde dem Gesamtbetrag entsprechen, der in
den letzten 18 Monaten aufgrund der Preiserhöhungen
der letzten Jahre mehr gezahlt werden musste. Diese
Entlastung würde innerhalb kürzester Zeit wieder aufge-
fressen werden. Dann gäbe es eine staatliche Unfähig-
keit, den Menschen bei der Senkung des Energiever-
brauchs zu helfen, weil wir die dazu notwendigen Gelder
unmittelbar in die Kassen der großen Energieversorger
umgelenkt hätten.


(Gudrun Kopp [FDP]: Also immer mehr Mehrwertsteuer!)


Ich glaube, wenn wir das Ordnungsrecht und die Kli-
maschutzinstrumente stringent anwenden, dann helfen
wir den Menschen sehr viel mehr als mit schnellen Sprü-
chen, weil wir für mehr Wettbewerb und weniger Ener-
gieverbrauch sorgen. Es gibt den alten Satz: Lieber viele
erfolgreiche kleine Schritte als einen großen Spruch.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1615408700

Nun hat der Kollege Martin Zeil für die FDP-Fraktion

das Wort.


Martin Zeil (FDP):
Rede ID: ID1615408800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Es ist in der Debatte deutlich geworden, dass
uns ein Ziel eint: Wir wollen mehr Wettbewerb.


(Beifall der Abg. Gudrun Kopp [FDP])

In der Debatte geht es um die verschiedenen Wege und
Instrumente zu mehr Wettbewerb. Und Wettbewerb ist
dabei ja kein Selbstzweck. Wenn wir den Wettbewerb in
einer Marktwirtschaft richtig organisieren, dann kann
und muss er die soziale Funktion des Marktes zum
Ausdruck bringen.

Durch die gestrige Anhörung zum 3. Binnenmarkt-
Paket der EU-Kommission wurden hinsichtlich des The-
mas Entflechtung offensichtlich unterschiedliche Wahr-
nehmungen ausgelöst. Es ist sicher deutlich geworden,
dass insbesondere die Entflechtung auf der Eigentums-
ebene Ultima Ratio sein kann und muss. Herr Kollege
Hempelmann, es war aber doch nicht so, dass alle gesagt
haben, wir brauchten keine Entflechtungsinstrumente.
Deswegen hat die FDP-Fraktion hier im Bundestag
– übrigens wie das Land Hessen im Bundesrat – einen
Gesetzentwurf vorgelegt, durch den der kartellrechtliche
Instrumentenkasten um das Instrument der Entflechtung
für alle verschiedenen Ebenen und Notwendigkeiten er-
weitert wird. Darüber sollten wir doch Einigkeit erzie-
len.


(Beifall bei der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Martin Zeil
Bemerkenswert ist, dass jetzt gerade noch einmal von
Herrn Kollegen Kelber, aber vorhin auch von den Grü-
nen auf die Monopole und Kartelle Bezug genommen
worden ist, die aufzubrechen seien. Während Ihrer letz-
ten gemeinsamen Regierungszeit hatten Sie beispiels-
weise bei der Fusion von Eon/Ruhrgas ganz konkret Ge-
legenheit, die Bildung von Marktmacht zu verhindern,
aber Sie haben die Ministererlaubnis von damals zu ver-
antworten.


(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Aber der empfiehlt heute die Wahl Ihrer Partei!)


Herr Kollege, interessant in der Debatte ist, dass die
Oppositionsparteien gerade im Verhältnis zur EU-Kom-
mission versuchen, Modelle, über die man streitig disku-
tieren muss, und Konzeptionen vorzulegen, während
sich die Regierung in entscheidenden Fragen der Kon-
zeption und der Umsetzung uneinig ist. Das hat ja auch
die heutige Debatte noch einmal gezeigt.

Herr Kollege Obermeier, weil Sie so stolz auf die
GWB-Novelle waren – von Herrn Kollegen Kelber ist
gesagt worden, es seien jüngst Briefe an die Bürgerinnen
und Bürger wegen einer Preiserhöhung verschickt wor-
den –: Diese GWB-Novelle hat, wie wir das auch vo-
rausgesagt haben, bisher in keiner Weise zu einer Preis-
senkung beigetragen.


(Beifall bei der FDP)


Unser Vorwurf, dass es sich um eine Placebo-Gesetzge-
bung handelt, ist insofern bestätigt worden.

Was die Atomkraft angeht, hat Herr Kollege Kelber
gemeint, eine Laufzeitverlängerung führe zu höheren
Preisen. Es geht doch letztlich um eine Wettbewerbs-
frage, Herr Kollege.


(Ulrich Kelber [SPD]: Eben! Das habe ich darzustellen versucht!)


Es geht darum, ob es die Aufgabe der Politik ist, aus ideo-
logischen Gründen eine Art der Energieerzeugung vom
Markt abzukoppeln und auszuschließen.


(Ulrich Kelber [SPD]: Die subventionierte Form!)


Damit verhindern Sie mehr Wettbewerb. Das Problem
besteht eben darin, dass Sie ideologisch verkrampft
Energiepolitik betreiben.


(Beifall bei der FDP – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung zum Antrag
der Grünen. Sie haben sich für einen gesetzlichen Min-
destlohn ausgesprochen, der armutsfest sein soll. Auch
dabei rate ich zu etwas mehr Glaubwürdigkeit. Sie haben
in Ihrer Regierungszeit – das war auch das erklärte Ziel –
alles getan, um Energie zu verteuern. Sie haben auf die
Energiepreise draufgesattelt. Dass Sie jetzt nach dem
Motto „Haltet den Dieb!“ den Mindestlohn einführen
wollen, ist nicht sehr glaubwürdig.

(Beifall bei der FDP – Ute Kumpf [SPD]: Es geht nicht um Mindestlohn, sondern um Strom!)


Wir brauchen auf jeden Fall mehr Wettbewerb. Ein
Weg dahin kann und muss die Einführung einer Ent-
flechtungsnorm im Kartellrecht auf nationaler Ebene
sein. Wir wollen diesen Impuls auch auf die europäische
Ebene übertragen. Wir sollten uns gemeinsam bemühen,
auf nationaler Ebene zu einer gemeinsamen Initiative zu
kommen, um den Überlegungen auf EU-Ebene eine
klare deutsche Konzeption entgegensetzen zu können.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1615408900

Nächster Redner ist für die Fraktion Die Linke der

Kollege Hans-Kurt Hill.


(Beifall bei der LINKEN)



Hans-Kurt Hill (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1615409000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der Betrug an den Stromkunden in Deutschland hat Sys-
tem. Ohne Rücksicht wird den Verbraucherinnen und
Verbrauchern von den Energieunternehmen das Geld aus
der Tasche gezogen. Nun hat die Bundesnetzagentur ein
Missbrauchsverfahren gegen die vier Energiekonzerne
Eon, RWE, Vattenfall und EnBW eingeleitet. Es besteht
der konkrete Verdacht, dass die Monopolisten künstlich
teuren Strom erzeugen, obwohl billigere Energie im
Netz ist.

Vorausgegangen sind, wie wir wissen, zahlreiche
Überprüfungen, Kontrollen und Hausdurchsuchungen,
die von den EU-Behörden angestrengt wurden. Der Vor-
wurf ist der Missbrauch des Strommarktes durch das
Monopol. Die vier Energiekonzerne verteuern den
Strom künstlich, behindern den Ausbau erneuerbarer
Energien und kassieren bei den Stromkundinnen und
Stromkunden jährlich Milliarden Euro zu viel. Wir nen-
nen das Diebstahl per Steckdose. Das muss ein Ende ha-
ben.


(Beifall bei der LINKEN)


Doch was tut die Bundesregierung? Nichts! Was noch
viel peinlicher ist: Die EU-Kommission macht ihre Ar-
beit, aber was machen Sie, meine Damen und Herren
von der Regierung? Sie reden dem Energiekartell auch
noch das Wort und blockieren. Das ist ein ungeheuerli-
cher Vorgang. Auf wessen Seite stehen Sie eigentlich?
Auf der Seite der Bürgerinnen und Bürger offenbar
nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie führen im Kanzleramt die üblichen Branchenge-
spräche mit den Strombossen. Wir haben im Wirtschafts-
ministerium nachgefragt. Aber es wird nicht verraten,
was Gegenstand dieser Treffen ist. Wir fordern Sie auf,
das Parlament und die Verbraucherinnen und Verbraucher
in vollem Umfang über diese Gespräche zu informieren.
Das ist unser gutes Recht. Denn wer sich so verhält, sieht
sich zu Recht dem Vorwurf der Vetternwirtschaft ausge-
setzt. Frau Höhn ist bereits darauf eingegangen.






(A) (C)



(B) (D)


Hans-Kurt Hill

(Beifall bei der LINKEN – Ulrich Kelber [SPD]: Sie hat nur ein paar Namen vergessen!)


Sprechen wir es offen aus: Auch die Nähe einzelner
Abgeordneter mit Regierungsverantwortung zur Ener-
giewirtschaft ist meines Erachtens unübersehbar. Ich
gebe Herrn Kelber darin recht, Frau Höhn: Wer im Glas-
haus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Ich erinnere
nur an die Frau Kollegin Rösel, die zwischenzeitlich bei
einer Tochtergesellschaft von Eon beschäftigt war


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer ist denn Frau Rösel?)


– Entschuldigung, Frau Röstel! –, und den ehemaligen
Kollegen Rezzo Schlauch, der heute im EuBW-Beirat
sitzt. Das muss man ebenfalls in Betracht ziehen.

Ich fordere die Regierung auf, endlich etwas zu unter-
nehmen. Unterstützen Sie die EU in ihren Bemühungen!
Zerschlagen Sie endlich die Stromkartelle und schaffen
Sie faire Bedingungen auf dem Energiemarkt! An die
Adresse der EU: Mit dem Energiezirkus in ganz Europa
muss endlich Schluss sein.

Immerhin wurden einige Vorschläge, die die Links-
fraktion bereits 2006 in den Bundestag eingebracht
hatte, aufgegriffen. Ich nenne nur die Erhöhung des
Wohngeldes unter Einbeziehung der Heizkosten und
Sozialtarife für arme Haushalte. Über die sogenannten
Watchdogs, Verbraucherbeiräte, zur Stärkung der Ver-
braucherrechte auf dem Strommarkt wird ebenfalls dis-
kutiert.

Was jetzt noch fehlt, ist: Nehmen Sie den Kartellen
die Stadtwerksbeteiligungen weg! Herr Meyer hat darauf
hingewiesen, dass sich 21 Stadtwerke an einem Kraft-
werk beteiligt haben. Schauen Sie genau hin, um wen es
sich dabei handelt, wie viel Prozent in den Händen der
großen Energiekonzerne liegen! Trennen Sie den Netz-
betrieb von der Stromerzeugung! Überführen Sie die
Stromübertragungsnetze in die öffentliche Hand! Führen
Sie die Strom- und Gaspreisaufsicht wieder ein! Kassie-
ren Sie die unerlaubten Gewinne der Stromkonzerne in
Höhe von bis zu 10 Milliarden Euro jährlich aus dem
Emissionshandel über eine Abschöpfungsteuer!


(Beifall bei der LINKEN)


Zum Antrag der Grünen möchte ich noch sagen: Frau
Höhn, gut abgeschrieben von unseren Anträgen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt aber nicht!)


Ich sehe, dass sich die Politik der Linken auch bei Ihnen
zunehmend durchsetzt. Allerdings ziehen Sie teilweise
falsche Schlüsse. Als sogenannte Ökopartei versuchen
Sie sich zwar in der Beantwortung sozialer Fragen. Aber
Energie kann Ihnen nicht teuer genug sein, und zwar
ohne sozialen Ausgleich für arme Haushalte. Das ver-
stehe ich nicht.

Ich fasse zusammen: Die Linke will, dass Energie
wieder bezahlbar wird und bleibt. Das geht langfristig
nur mit einer radikalen Energiewende hin zu Energie-
effizienz und erneuerbaren Energien. Kurzfristig brau-
chen wir einen fairen Ausgleich. Das bedeutet, die Ener-
giekosten insbesondere für private Haushalte mit
geringem Einkommen müssen sofort wirksam gesenkt
werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615409100

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege

Dr. Joachim Pfeiffer für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1615409200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Wir sind uns darüber einig – das ist schon ange-
klungen –, dass seit dem Beginn der Liberalisierung
1998 einiges passiert ist – und zwar auf dem Strommarkt
mehr als auf dem Gasmarkt –, aber bei weitem noch
nicht genug. Wir haben gemeinsam das Ziel, den Wett-
bewerb weiter zu forcieren und zu stärken. Dabei gibt es
einige Dinge zu bedenken, auf die ich später eingehen
möchte.

Zuerst möchte ich auf die Anträge zu sprechen kom-
men. Die FDP fordert in ihrem Antrag einen verbesser-
ten Zugang zu den Kraftwerken – Frau Kopp, das haben
wir mit der Kraftwerksanschlussverordnung erreicht –,


(Gudrun Kopp [FDP]: Nein!)


einen beschleunigten Ausbau der Kuppelstellen – das ist
auf dem Weg – und beschleunigte Planungs- und Geneh-
migungsverfahren. Das Infrastrukturplanungsbeschleu-
nigungsgesetz ist verabschiedet und in Kraft, hat aber
nicht die Wirkung, die wir alle wollen. Deshalb werden
wir im Rahmen des zweiten integrierten Klima- und
Energiepaketes im Mai mit dem Energieleitungsausbau-
gesetz die Rechtswege und die Planungsprozesse verbes-
sern. Sie fordern des Weiteren mehr Transparenz beim
Stromhandel. Auch hier sind wir auf dem richtigen Weg.

Ein anderes Stichwort ist die Marktdurchdringung
durch intelligente Zähler. Mit der Liberalisierung des
Mess- und Zählwesens werden wir einen völlig neuen
Weg beschreiten. Es wird dort zu ganz anderen Entwick-
lungen kommen, wenn das, was in anderen Bereichen
wie der Telekommunikation durch moderne Technologie
ermöglicht wurde, auch in den Haushalten Einzug hält.
Der Bürger weiß dann, wie viel Strom er verbraucht und
wie viel er dafür bezahlt. Er wird zukünftig nicht einmal
im Jahr eine Rechnung bekommen – das ist wie eine
Blackbox – und Vorauszahlungen leisten, sondern genau
wissen, wie viel Strom der Fernseher und andere Elek-
trogeräte im Stand-by-Modus verbrauchen. Wir sind
auch hier auf dem richtigen Weg.

Ich könnte das fortführen: Reduzierung der Marktge-
biete bei Gas. Natürlich gibt es zu viele Marktgebiete.
Wir reduzieren sie jetzt auf acht, aber auch das sind noch
zu viele. Insofern kann ich sagen: Ihr Antrag beschreibt
eigentlich unser Tun.


(Gudrun Kopp [FDP]: Ach!)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Joachim Pfeiffer
Sie sollten uns eigentlich dafür loben, denn die Dinge,
die Sie fordern, sind Dinge, die wir fast alle schon umge-
setzt haben. Im Übrigen sind wir dabei, die wenigen
Dinge umzusetzen, die noch nicht umgesetzt sind.


(Gudrun Kopp [FDP]: Selbstüberschätzung!)


Jetzt zu dem Antrag der Grünen. Frau Höhn, Sie ha-
ben vorhin gesagt, die Bundesregierung und der Bundes-
wirtschaftsminister würden zu wenig in Richtung Entlas-
tung und Wettbewerb tun. Sie müssen sich schon eines
fragen lassen, was der Kollege Kelber vorhin angespro-
chen hat. Wenn ich mich richtig erinnere, so war eine der
größten preistreibenden Aktionen im Strombereich der
letzten Jahre der Emissionshandel, aber nicht deshalb,
weil der Emissionshandel falsch ist, sondern weil er
falsch angegangen wurde. So wurden die Emissionszer-
tifikate kostenlos an die Energieerzeuger vergeben, was
zu Windfall Profits in Höhe von 5 Milliarden Euro ge-
führt hat.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ging nicht anders!)


– Stimmt es, oder stimmt es nicht?


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie viel hat die EU denn zugelassen?)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1615409300

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höhn?


Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1615409400

Selbstverständlich, gerne.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1615409500

Bitte sehr, Frau Höhn.


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615409600

Herr Pfeiffer, Sie haben gerade eben gesagt, der

größte Fehler sei gewesen, den Emissionshandel ohne
Versteigerung zuzulassen. Sagen Sie doch bitte, wie viel
Versteigerung die EU in der ersten Periode überhaupt zu-
gelassen hat. Bitte beantworten Sie einmal die Frage,
wie viel man hätte machen können.


Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1615409700

Die beantworte ich Ihnen sehr gern, zunächst einmal

mit einer Gegenfrage: Wer hat denn in dieser Zeit die
entsprechenden Rahmenbedingungen gesetzt? Die sind
doch nicht in Brüssel vom Himmel gefallen, sondern
aufgrund nationaler Vorschläge


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da kommen Sie aber schon ganz schön in die Bredouille!)


dort erarbeitet worden. Dort war derselbe Umweltminis-
ter, der den Emissionshandel in Deutschland so einge-
führt hat. Herr Kollege Kelber hat vorhin vorgelesen,
dass gesagt wurde, dass keine höheren Preise und keine
Windfall Profits zu erwarten seien.


(Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] nimmt Platz)

– Sie dürfen ruhig stehenbleiben, ich bin noch bei der
Beantwortung Ihrer Frage.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Frage ist beantwortet!)


– Die Frage ist noch nicht beantwortet, Frau Höhn. – Der
bvek hat ausgerechnet, dass letztlich der Verbraucher
jährlich 5 Milliarden Euro mehr zu zahlen hat. Das sind
die Fakten. Insofern frage ich Sie: Wer hat dazu beigetra-
gen?

Auch zum Thema Emissionshandel äußern Sie sich in
Ihrem Antrag ambivalent. Wir wollten den Emissions-
handel als marktwirtschaftliches Instrument – darin wa-
ren wir uns einig –, mit dem man versucht, die externen
Kosten zu internalisieren, weil der Emissionshandel die-
sen einen Preis gibt. Der Fehler bisher war in der Tat,
dass die Zertifikate unentgeltlich vergeben wurden. Jetzt
werden 10 Prozent auktioniert. Das aber hat die Große
Koalition beschlossen. Wir werden in der dritten Periode
auf jeden Fall eine hundertprozentige Auktionierung ha-
ben.

Wenn wir das aber anstreben und dieser Emissions-
handel mit dem Cap and Trade funktioniert, dann wird
über dieses Instrument auch gesteuert, wie der Kraft-
werkspark in Zukunft aussieht. Das betrifft auch den
Umweltaspekt. Wenn wir die CO2-Emissionen jährlich
senken, dann wird die Stromerzeugung für diejenigen,
die Emissionen erzeugen, teurer. Deshalb werden die
Emissionshandelspreise steigen, was auch Auswirkun-
gen auf die Kosten der Kohlekraftwerke haben wird. Wir
brauchen den Emissionshandel als funktionierendes In-
strument. Wir dürfen aber nicht – was Sie fordern – den
Neubau von Kohlekraftwerken, die noch effizienter
sind, verbieten. Sie sollten sich einmal ordnungspoliti-
sche Gedanken machen, weil diese Dinge sonst nicht zu-
sammenpassen.

Auch einen weiteren Punkt in Sachen Preistreiberei
muss man der Ehrlichkeit halber ansprechen. Der größte
Preistreiber neben dem, was ich gerade ausgeführt habe,
war und ist der Staat. Von 1998 bis 2005 – man kann es
nicht oft genug wiederholen – sind die staatlich admi-
nistrierten Abgaben von 6,5 Milliarden Euro auf
14 Milliarden Euro gestiegen. Hinzu kommt die Mehr-
wertsteuer, die Kollege Obermeier angesprochen hat.


(Gudrun Kopp [FDP]: So ist es bis heute! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: An der Mehrwertsteuer sind wir auch noch schuld?)


– Haben Sie noch eine Frage? Sie möchte noch eine
Frage stellen. –


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war nur eine Zwischenbemerkung!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1615409800

Es sieht nicht so aus, Herr Kollege.


Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1615409900

Insofern muss man die Kirche wirklich im Dorf las-

sen.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Joachim Pfeiffer
Frau Höhn, über das, was wir mittlerweile erreicht ha-
ben, sollten wir uns gemeinsam freuen. Die Große Koa-
lition hat mit der Anreiz- bzw. Übergangsregulierung,
die nächstes Jahr in Kraft tritt, erreicht, dass die
Netzentgelte im letzten Jahr zum ersten Mal eine preis-
dämpfende und keine preiserhöhende Wirkung hatten.
Was den Haushaltsstrom angeht, sind die Preise von
7,3 Cent auf 6,3 Cent zurückgegangen. Bezogen auf den
prozentualen Anteil, entspricht dies einem Rückgang
von 38,6 Prozent auf 31,5 Prozent. Das ist ein Erfolg;
die Preise wären ansonsten noch stärker gestiegen.

Insgesamt gab es in dieser Periode 2 Milliarden Euro
nicht genehmigter oder gekürzter Netznutzungsentgelte.
Diese Entgelte sind also nicht erhöht, sondern gesenkt
worden. Mit anderen Worten: Den Bürgern sind letztlich
Kosten in Höhe von 2 Milliarden Euro erspart geblieben.

Der Wettbewerb im Strombereich hat endlich auch
den Endverbraucher erreicht. Während von 1998 bis
2005 nur wenige einen Wechsel des Stromanbieters
vorgenommen haben, ist jetzt der Durchbruch gelungen,
auch dank unserer Maßnahmen und Instrumente. Mitt-
lerweile haben 4,5 Millionen Haushalte den Stromanbie-
ter gewechselt, davon allein im letzten Jahr
1,3 Millionen. Dass dies dem Wettbewerb guttut, werden
Sie wohl nicht bestreiten.

Frau Höhn, ich teile die Auffassung des Kollegen
Meyer: Sie sind intelligent. Insofern glaube ich nicht,
dass Sie sich in die eigene Tasche lügen. Vielmehr unter-
nehmen Sie hier – vielleicht sogar fast etwas bösartig –
einen Täuschungsversuch. Ich will deshalb etwas klar-
stellen. Sie haben vorhin davon gesprochen, dass im
letzten Jahr das Licht nicht ausging, obwohl von
17 Kernkraftwerken 6 oder 7 in Revision oder abge-
schaltet waren. Das ist richtig. Wir sind uns wahrschein-
lich einig: Das Licht wird auch in Zukunft nicht ausge-
hen. Sofern die Zeit reicht, gehe ich nachher gern auf das
Thema der Stromlücke ein.

Frau Höhn, Sie haben aber vergessen, zu sagen, dass
der Ausfall von Kernkraftwerken in Deutschland im
letzten Jahr nicht etwa durch Windenergieproduktion
oder gar durch Fotovoltaik ausgeglichen wurde, sondern
durch den vermehrten Einsatz von Kohlekraftwerken.
Der Ausfall von Kernkraftwerken wurde im letzten Jahr
zu 95 Prozent durch die Stromerzeugung in Kohlekraft-
werken ersetzt. Herr Ziesing vom DIW – ich glaube, er
ist unverdächtig – hat ausgerechnet, dass die CO2-Emis-
sionen im letzten Jahr, also 2007, durch die Verstro-
mung von Kohle um 3 Prozent angestiegen sind. Das
heißt, im letzten Jahr wurden 10 Millionen Tonnen CO2
mehr ausgestoßen.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)


Das sind die Konsequenzen für den Umweltschutz aus
dem Nichteinsatz von Kernkraftwerken im letzten Jahr.
Dazu kann ich nur sagen: Das ist ein laues Lüftchen,
quasi ein Vorgeschmack auf das, was auf uns noch zu-
kommt, wenn wir sämtliche Kernkraftwerke abschalten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Dann werden nämlich 160 Millionen Tonnen CO2 mehr
emittiert. Der Wegfall der Kernkraftwerke wird ausge-
glichen werden müssen.

Ein Problem wird sein, dass wir dann gegebenenfalls
eine Stromlücke haben. Wenn wir bei der Stromproduk-
tion bis 2020 das ambitionierte Ziel von 30 Prozent aus
erneuerbaren Energien erreichen wollen – wenn wir be-
sonders toll sind, dann schaffen wir vielleicht sogar
35 Prozent – und wenn wir im gleichen Zeitraum sämtli-
che Kernkraftwerke abschalten, dann müssen immer
noch 65 bis 70 Prozent des Stroms durch nicht erneuer-
bare Energien produziert werden. Ich frage Sie, wie dies
geschehen soll, wenn nicht durch Kernkraft. Diese Ener-
gie kann entweder in fossilen Kraftwerken mit entspre-
chendem CO2-Ausstoß erzeugt werden, oder sie kann
importiert werden.

Man muss wirklich beide Seiten der Medaille be-
trachten. Wir sind gut beraten, wenn wir den eingeschla-
genen Weg weitergehen. Wir sollten einen Stromerzeu-
gungsmix beibehalten, und wir sollten uns nicht
einseitig in die eine oder andere Richtung begeben. Nur
dann wird es uns gelingen, dem energiepolitischen Zieldrei-
eck „Versorgungssicherheit, Umweltschutz/Nachhaltigkeit
und Wettbewerbsfähigkeit“ gerecht zu werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1615410000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/8536 und 16/8079 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 16/8536 soll federführend
beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie beraten
werden. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 d sowie
die Zusatzpunkte 4 a bis 4 d auf:

28 Überweisungen im vereinfachten Verfahren

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 15. Dezember 2003 über
Politischen Dialog und Zusammenarbeit
zwischen der Europäischen Gemeinschaft
und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der
Andengemeinschaft und ihren Mitgliedstaa-

(Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Peru und Venezuela)


– Drucksache 16/8654 –

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Rainder Steenblock, Kerstin Andreae,
Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeord-






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

EU-Strukturfonds zur nachhaltigen Ent-
wicklung einsetzen
– Drucksache 16/1069 –

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista
Sager, Kai Gehring, Priska Hinz (Herborn),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gleichstellung und Genderkompetenz als
Erfolgsfaktor für mehr Qualität und Inno-
vation in der Wissenschaft
– Drucksache 16/8753 –

d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung

Evaluierungsbericht der Bundesregierung
über die Erfahrungen und Ergebnisse mit
der Regulierung durch das Energiewirt-
schaftsgesetz
– Drucksache 16/6532 –

ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfah-
ren

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP

Für einen umfassenden Schutz der europäi-
schen Bürgerinnen und Bürger bei der Ver-
arbeitung ihrer Daten im Bereich der so ge-
nannten dritten Säule der Europäischen Union
– Drucksache 16/5473 –

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cajus
Caesar, Marie-Luise Dött, Dr. Christian Ruck,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heinz
Schmitt (Landau), Marco Bülow, Dirk Becker,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Weltnaturschutzgipfel 2008 in Bonn – Biolo-
gische Vielfalt schützen, nachhaltig und ge-
recht nutzen
– Drucksache 16/8756 –

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef
Parr, Daniel Bahr (Münster), Heinz
Lanfermann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP

Eigenverantwortung und klare Aufgabentei-
lung als Grundvoraussetzung einer effizien-
ten Präventionsstrategie
– Drucksache 16/8751 –

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Petra Sitte, Cornelia Hirsch, Volker
Schneider (Saarbrücken), Dr. Kirsten
Tackmann und der Fraktion DIE LINKE

Gleichstellung in der Wissenschaft durch
Modernisierung der Nachwuchsförderung
und der Beschäftigungsverhältnisse herstel-
len

– Drucksache 16/8742 –

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen auch hier so be-
schlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes über Einheiten im
Messwesen und des Eichgesetzes, zur Aufhe-
bung des Zeitgesetzes, zur Änderung der Ein-
heitenverordnung und zur Änderung der
Sommerzeitverordnung

– Drucksache 16/8308 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(9. Ausschuss)


– Drucksache 16/8610 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Georg Nüßlein

Es handelt sich hierbei um die Beschlussfassung zu
einer Vorlage, zu der keine Aussprache vorgesehen ist.

Wir kommen zur Abstimmung.

Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
16/8610, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
Drucksache 16/8308 anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen, um das Handzei-
chen. – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen
der Fraktion FDP angenommen.

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung.

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
men, sich zu erheben. – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist damit mit dem gleichen Stimmen-
verhältnis wie bei der zweiten Lesung angenommen.

Ich rufe nun den Zusatzpunkt Aktuelle Stunde auf:

Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
der SPD

Aktuelle Lage in Tibet

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner für die Bundesregierung Herrn Staatsminister
Dr. Gernot Erler das Wort.






(A) (C)



(B) (D)

D
Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1615410100


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir alle sind erschüttert und tief besorgt über die Nach-
richten und Bilder, die uns seit dem 14. März aus der ti-
betischen autonomen Region und den angrenzenden Pro-
vinzen erreichen und die so gar nicht zu dem
olympischen Geist des Friedens, der Freundschaft zwi-
schen den Völkern und des edlen sportlichen Wettbe-
werbs passen.


(Dr. Peter Danckert [SPD]: Das stimmt!)


Viele Tausende Menschen haben sich dafür eingesetzt
und sich angestrengt, diesen Geist nach Peking zu tra-
gen, viele Hoffnungen haben sich damit verbunden.
Viele Millionen Menschen haben sich darauf gefreut,
einfach bei diesen traditionsreichen Spielen im bevölke-
rungsreichsten Land der Erde zuschauen zu dürfen.

Bilder der Gewalt und der Zerstörung haben uns jäh
aus dieser Vorfreude herausgerissen. Der Blick in die
Tiefe, ja, in die Abgründe eines Konflikts war eine böse
Überraschung und die Erfahrung beidseitiger Gewaltan-
wendung ein Schock. Das bezieht sich ebenso auf die
blutigen Übergriffe tibetischer Protestler gegen wehrlose
und unbewaffnete chinesische Mitbewohner wie auf die
Reaktion der chinesischen Staatsgewalt, die nach Au-
genzeugenberichten erst zurückhaltend, dann aber brutal
reagierte: mit massenhaften Festnahmen, mit Einschüch-
terungsversuchen, mit Umerziehungsmaßnahmen bei
den Mönchen und mit einer völligen Abriegelung der be-
troffenen Gebiete.

Die Bundesregierung ist zutiefst davon überzeugt,
dass diese beiderseitige Gewaltanwendung kein einziges
Problem lösen kann.


(Beifall im ganzen Hause)


Sie nutzt der tibetischen Seite nicht und kann sogar sehr
schnell die berechtigten Forderungen der Tibeter nach
kultureller und religiöser Autonomie diskreditieren, eine
Gefahr, auf die übrigens der Dalai Lama, der Gewaltan-
wendung strikt ablehnt, selber hingewiesen hat. Die Ge-
waltanwendung schadet aber auch der chinesischen
Seite, die notwendigerweise mit ihren Zusagen konfron-
tiert wird, die sie im Zusammenhang mit der Vergabe der
Olympischen Spiele gemacht hat, und der es nicht gelin-
gen wird, allein mit Repression die tibetischen Probleme
zu lösen, geschweige denn, dass sie auf dieser Basis die
gewünschte positive Präsentation des Landes im Zusam-
menhang mit den Olympischen Spielen erreichen wird.

Deshalb appellieren wir mit allem Nachdruck an
beide Seiten, auf jegliche Gewaltanwendung zu verzich-
ten, sich ernsthaft um eine Deeskalation der Situation
vor Ort zu bemühen und damit dazu beizutragen, den
Weg zu einer zivilisierten und nachhaltigen Lösung des
sichtbar gewordenen politisch-kulturellen Konflikts zu
ebnen.


(Beifall im ganzen Hause)


Es gibt einen zweiten Punkt, der uns Sorgen macht. In
der chinesischen Öffentlichkeit wird jetzt die westliche
Berichterstattung mit harten Worten kritisiert, ja ange-
prangert, als läge hier das Hauptproblem. Einzelne Be-
richterstattungen mit falsch zugeordnetem Berichtsmate-
rial werden als Belege für eine antichinesische
Verschwörung dargeboten.

Ich möchte hier klarstellen: Die Bundesregierung hat
großen Respekt vor den Entwicklungsleistungen, die in
den letzten Jahren in China zu beobachten waren. Sie hat
einen vielleicht noch größeren Respekt vor der immen-
sen Herausforderung, ein Land mit 1,4 Milliarden Men-
schen zusammenzuhalten und zugleich den vielen Er-
wartungen und Notwendigkeiten zur Veränderung und
Reform zu entsprechen.

Niemand von uns will China an den Pranger stellen.
Niemand ist an einer einseitigen oder unfairen Berichter-
stattung interessiert. Der beste Weg, das zu vermeiden,
sind Transparenz, Offenheit und die Chance auf eine
Meinungsbildung auf der Basis selbst gesammelter Fak-
ten. Man kann nicht in einer solchen Krisensituation die
Region abriegeln, alle ausländischen Journalisten aus-
weisen und sich dann darüber beklagen, dass unzutref-
fend berichtet wird.


(Beifall im ganzen Hause)


Wir sehen in den drei organisierten Reisen der letzten
14 Tage – zwei mit Journalisten, eine mit Diplomaten –
ein Bemühen in die richtige Richtung. Aber erst wenn
die gesamte tibetische autonome Region und die Nachbar-
provinzen wieder frei zugänglich sind, entsteht überhaupt
die Chance auf eine auf Eigenrecherchen beruhende, plu-
ralistische und insofern ausgewogene Berichterstattung.

Unser dringlicher Rat an die chinesische Führung ist
deshalb: Beenden Sie die Abriegelung! Machen Sie Ti-
bet für alle Besucher und alle unabhängigen Journalisten
wieder zugänglich!


(Beifall im ganzen Hause)


Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist der
politisch wichtigste. Wann, wenn nicht jetzt, ist der rich-
tige Augenblick für die Wiederaufnahme des sino-tibeti-
schen Dialogs? Ich sage bewusst Wiederaufnahme, da es
solche Dialogphasen in der Vergangenheit durchaus ge-
geben hat, etwa in den 80er-Jahren zur Zeit des KP-Ge-
neralsekretärs Hu Yaobang oder in Ansätzen auch zwi-
schen 2002 und 2007.

Mit wem, wenn nicht mit dem Dalai Lama selbst,
macht es in der jetzigen Situation Sinn, das Gespräch zu
führen? Das ist der Mann, der bei der Vertretung tibeti-
scher Interessen noch immer die höchste Autorität ge-
nießt, der ausdrücklich eine echte kulturelle und reli-
giöse Autonomie und eben nicht die Loslösung Tibets
von China als seine Ziele nennt und der sich glaubwür-
dig und durchaus mit eigenem Risiko von jeder Gewalt-
anwendung, auch wenn sie von seinen eigenen Lands-
leuten kommt, distanziert.

Wir hören von der chinesischen Seite schwere Vor-
würfe gegen das geistliche Oberhaupt der Tibeter: Der
Dalai Lama trage die Verantwortung für die gewaltsa-
men Proteste, vertrete in Wirklichkeit separatistische
Ziele, wofür es Beweise gebe. Solange diese schweren
Vorwürfe aufrechterhalten werden, ohne dass man Be-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. h. c. Staatsminister Gernot Erler
weise vorlegt, handelt es sich objektiv um Unterstellun-
gen, allerdings solche, die in diesem Fall schwerwie-
gende Folgen haben, weil sie eine Lösung des Tibet-
Konflikts auf der Basis eines Dialogs und eines verhan-
delten Interessenausgleichs blockieren.

Dieser Weg ist falsch. Die Bundesregierung ist über-
zeugt, dass es zu einer Deeskalation und zu einer politi-
schen Lösung des Konfliktes über den Dialog keine ver-
nünftige Alternative gibt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Aus unserer Sicht heißt deswegen das Gebot der
Stunde – ich fasse das einmal stichwortartig zusammen –:
Beendigung der Gewaltanwendung auf beiden Seiten,
Verzicht auf einseitige Repressionsmaßnahmen, Aufklä-
rung der tragischen Ereignisse, Aufhebung der Abriege-
lung, stattdessen Öffnung und Transparenz und vor al-
lem Ebnung des Weges für einen neuen Abschnitt des
sino-tibetischen Dialogs unter Einbeziehung des Dalai
Lama. Dafür hat Außenminister Frank-Walter
Steinmeier in mehren Gesprächen mit seinem chinesi-
schen Kollegen geworben. Dafür wird sich die Bundes-
regierung bilateral und international auch in Zukunft
weiter intensiv einsetzen. Für diesen Ansatz und für
diese Botschaft erbitten wir die Zustimmung des Hohen
Hauses.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1615410200

Nächster Redner ist der Kollege Florian Toncar von

der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Florian Toncar (FDP):
Rede ID: ID1615410300

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Als ich Tibet vor knapp sechs Wochen besucht
habe, ahnte ich nicht, dass heute alle Welt dorthin bli-
cken würde. Das ist spät genug, denn die Menschen-
rechte werden dort schon seit Jahren verletzt. Das alles
ist bei vielen angesichts des beeindruckenden wirtschaft-
lichen Fortschritts in dem großen Land China in Verges-
senheit geraten. Das, was jetzt passiert, ist geradezu eine
Ironie der Geschichte. China will die Olympischen
Spiele im August auch mit dem Ziel ausrichten, der Welt
zu zeigen, was für ein fortschrittliches Land es geworden
ist. Gerade dieses Ereignis führt der Welt jetzt jedoch
vor Augen, wo die lange unterdrückten Probleme Chinas
liegen.

Ein Fackellauf gerät zu einem Politikum. Überall auf
der Welt sind die gleichen Bilder zu sehen. Menschen
protestieren aus Solidarität mit den Menschen in Tibet.
Was wir hier erleben, ist auch Globalisierung. Das Ein-
treten für gemeinsame Werte läuft heute zeitgleich und
weltweit ab. Es zeigt auch, was für eine historische
Chance die Globalisierung auch für Werte wie Freiheit
und Demokratie ist.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn die olympische Fackel mittlerweile besser be-
wacht werden muss als die Bank von England, dann darf
man das nicht denen anlasten, die von ihrem Recht auf
friedlichen Protest Gebrauch machen. Verantwortlich
sind diejenigen in China, aber auch bei uns in Europa,
die meinten, dass man die Verbesserung der Menschen-
rechtslage, die bei der Vergabe der Olympischen Spiele
fest zugesagt war, einfach hintanstellen oder tiefer hän-
gen kann. Das rächt sich jetzt, und das muss in den
nächsten Monaten gelöst werden.


(Beifall bei der FDP)


Ein Wort noch zur Pariser Polizei: Wenn man nicht
nur eine Fackel abschirmt – was sicherlich sein muss –,
sondern wenn man Demonstranten auch noch ihre
Transparente und Tibet-Fahnen wegnimmt, dann ist das
nicht akzeptabel. Ich bin sehr verwundert, dass das fran-
zösische Fernsehen die Übertragung der Demonstratio-
nen unterbrochen hat und stellenweise den Eiffelturm
gezeigt hat. Diese Form von Entgegenkommen gegen-
über chinesischen Wünschen steht nicht mit meiner Vor-
stellung von einer offenen Gesellschaft in Einklang.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es geht uns nicht darum, dass die Spiele nicht stattfin-
den. Ein Boykott der Wettkämpfe schadet den Sportlern,
ohne die Menschenrechtslage konkret auch nur um einen
Deut zu verbessern. Wer aber in China ist, der sollte sich
mit der Menschenrechtsproblematik befassen. Politiker
müssen das tun, Sportler dürfen es tun.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)


Natürlich gilt dabei die IOC-Charta, die offene Mei-
nungsäußerungen an den Wettkampfstätten untersagt.
Ich glaube, es tut den Olympischen Spielen sicher auch
gut, wenn im Stadion und an den Wettkampfstätten keine
offene politische Propaganda gemacht wird; denn man
muss sich darüber klar sein: Das, was unsere Sportler ge-
gebenenfalls dürfen, würden Sportler aus allen mögli-
chen anderen Ländern mit anderen Konflikten genauso
wahrnehmen. Das würde dem olympischen Klima insge-
samt nicht guttun.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ich rate dennoch dazu, bei den Spielen auch darauf zu
achten, dass Sportler, die für Grundwerte wie Frieden,
Respekt und Toleranz nicht nur für einen Teil der Welt,
sondern für alle Völker eintreten, dies auch bei den
Olympischen Spielen tun können, ohne Konsequenzen
zu spüren. Dieses Maß an Sensibilität müssen das IOC
und diejenigen, die auf die Regeln achten, aufbringen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ich glaube, man muss der chinesischen Regierung ei-
nes klarmachen: Mit der alten Taktik der Vernebelung
und dem Leugnen von Problemen, das wir heute oft erle-






(A) (C)



(B) (D)


Florian Toncar
ben, und auch mit der Unterdrückung innerer Kritik
schafft sie es nicht, ihr Land zu modernisieren – was sie
ja will –, und auch nicht, ihr Land stabil zu halten. Das
haben wir in den letzten Wochen beobachten können.

Man kann Menschen im 21. Jahrhundert nicht mehr
abschotten, und man kann das Denken nicht staatlich
lenken. Das ist technisch unmöglich. Deshalb ist die Ver-
teufelung des Dalai Lama auch so schädlich. Er ist ein
Gesprächspartner, der erklärt, Autonomie innerhalb der
Volksrepublik China anzustreben, der Gewalt offen ab-
lehnt und der sogar für die Olympischen Spiele ist. In
vielen Ländern der Welt wäre ein solcher Gesprächspart-
ner geradezu ein Segen für die Regierungen. Viele Re-
gierungen würden sich nach solchen Gesprächspartnern
sehnen. Die Chinesen könnten ihn haben. Dass sie da-
rauf nicht eingehen, ist tragisch.

Herr Staatsminister, ich habe mich darüber gefreut,
dass die Bundesregierung auch an dieser Stelle klarge-
macht hat, dass sie die Gespräche mit dem Dalai Lama
mit den Zielen der einvernehmlichen Lösung dieses
Konflikts und der Autonomie Tibets im Rahmen der
Volksrepublik China für nötig hält. Ich finde allerdings
auch, man kann nicht glaubhaft vertreten, dass China mit
dem Dalai Lama sprechen soll, wenn man ihn nicht auch
selbst empfängt. Insofern finde ich, auch deutsche Politi-
ker könnten sich diese Courage leisten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wer es gut meint mit China – ich finde, wir sollten es
gut meinen mit China und das auch zum Ausdruck brin-
gen –, der muss mit chinesischen Vertretern über diese
Fragen sprechen. Wir haben ein Interesse daran, dass
sich China nicht isoliert. Wir wollen nicht, dass jetzt
durch eine zu aggressive antichinesische Rhetorik die
Nationalisten, die es dort zahlreich gibt, die Oberhand
gewinnen. Vielmehr wollen wir die Kräfte stärken, die
für Öffnung plädieren. Wenn wir das nicht schaffen,
können wir über Klimawandel, über Terrorismus und
über viele andere wichtige globale Fragen mit den Chi-
nesen gar nicht mehr reden. Wir müssen es schaffen, mit
ihnen zu sprechen. Wir müssen es schaffen, den Chine-
sen zu vermitteln, dass die Wünsche und die Kritik, die
wir anbringen, konstruktiv und wohlmeinend sind und
nicht dazu dienen, das sich wirtschaftlich entwickelnde
China kleinzuhalten. Das muss der Grundtenor sein.
Ohne diesen wird man, wie ich glaube, nichts erreichen.

Wir müssen uns allerdings auch klarmachen – Frau
Präsidentin, ich komme zum Schluss –, dass Deutsch-
land eine realistischere Perspektive in seiner China-Poli-
tik einnehmen muss, als es zum Teil in der Vergangen-
heit der Fall war. So haben wir vor drei Jahren an dieser
Stelle auf Wunsch der rot-grünen Bundesregierung über
die Aufhebung des Waffenembargos gegen China disku-
tiert. Wir müssen also eine realistischere Perspektive
einnehmen. Neben den Errungenschaften müssen wir
auch die großen Defizite, die es im Menschenrechtsbe-
reich weiterhin gibt, wahrnehmen und uns klarmachen,
dass dieses Land noch einen weiten Weg zu gehen hat.
Vielen, herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1615410400

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege

Eckart von Klaeden.


Eckart von Klaeden (CDU):
Rede ID: ID1615410500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle-

gen! Am 26. Oktober letzten Jahres hat meine Fraktion
eine Asien-Strategie vorgestellt, in der es heißt, dass mit
China „ein undemokratischer, nicht-liberaler Staat in der
weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Hierarchie“
aufsteige, dass das chinesische Modell, wirtschaftlich
betrachtet, zunächst einmal außerordentlich erfolgreich
sei und pragmatische Anpassungen zulasse, dass es aber
moderne autoritäre politische Führung „mit staatlich be-

(Frühben dann Zweifel an der Nachhaltigkeit dieses Entwicklungsmodells geäußert, weil nach unserer Auffassung „nachhaltige Stabilität tatsächlich nur in einem auf Partizipation ausgerichteten System, das Menschenrechte schützt, möglich“ ist. Diese Sätze unserer Asien-Strategie sind bei einigen in der deutschen Politik und in der deutschen Wirtschaft sowie auch bei der KP Chinas auf Kritik gestoßen. Der gleiche Kreis, der diese Sätze kritisiert oder sogar als neokonservativ bezeichnet hat, hat auch den Empfang des Dalai Lama durch die Bundeskanzlerin massiv kritisiert. Wir alle erinnern uns an die Äußerungen des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder, der die Sprachregelung der chinesischen KP in einem Vortrag in Peking unmittelbar übernommen hat. Auch Kurt Beck hat kurz vor Weihnachten geglaubt, seine China-Expertise unter Beweis stellen zu müssen, (Ute Kumpf [SPD]: Das ist doch jetzt wirklich neokonservativ!)


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


und den Empfang des Dalai Lama durch die Bundes-
kanzlerin massiv kritisiert.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist das nicht Ihr Koalitionspartner?)


Die Sponsoren der Olympischen Spiele aus der deut-
schen Wirtschaft haben jetzt, auf ihre Sponsorentätigkeit
angesprochen, darauf hingewiesen, dass die Menschen-
rechte ihnen zwar ein Anliegen seien, aber ein Anliegen,
das doch bitte von der deutschen Politik und von der
deutschen Diplomatie zu vertreten sei.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Empfängt denn Frau Merkel jetzt den Dalai Lama?)


Ich stimme dieser Aufgabenteilung nicht zu, möchte
aber ausdrücklich darauf hinweisen, dass der Druck auf
die deutschen Sponsoren heute wesentlich höher wäre,
wenn die Bundeskanzlerin den Dalai Lama nicht emp-






(A) (C)



(B) (D)


Eckart von Klaeden
fangen hätte und damit dieses für die deutsche Diploma-
tie und Politik klare und unmissverständliche Zeichen
nicht gesetzt hätte.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Warum?)


Alle, die mit politischem Verstand die Vergabe der
Olympischen Spiele an Peking beobachtet und begleitet
haben, wissen, dass die Demonstrationen und die Reak-
tionen auf diese Demonstrationen zwar erschreckend
sind, aber nicht überraschend. Ich will hier ganz deutlich
sagen: Wir lehnen jede Form von Gewalt ab. Sie kann
nicht gerechtfertigt werden. Das gilt für die Gewalt von
tibetischer Seite am 10. März in Lhasa; das gilt auch für
gewalttätige Demonstranten am Rande des Fackellaufs.
Aber bei aller Ablehnung der Gewalt darf man doch Ur-
sache und Wirkung nicht miteinander verwechseln.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Chinesische Reaktionen auf die Proteste sind bestens
geeignet, ihre Kritiker zu bestätigen. Besonders absto-
ßend ist es, wie die chinesische Führung auf den Dalai
Lama reagiert, wie sie immer wieder versucht, ihn für
das verantwortlich zu machen, was geschehen ist, ob-
wohl er sich, wie schon mein Vorredner zutreffend aus-
geführt hat, zur Gewaltfreiheit bekennt und zur Gewalt-
freiheit aufruft, die Ein-China-Politik nicht infrage stellt
und sich auch gegen einen Boykott der Olympischen
Spiele ausspricht.

Wir brauchen gerade jetzt vonseiten der deutschen
Politik dieses klare und unmissverständliche Signal für
die Menschenrechte und die universalen Prinzipien, zu
deren Einhaltung wir uns alle verpflichtet haben. Deswe-
gen hoffe ich auch, dass der Menschenrechtsbeauftragte
der Bundesregierung im Mai, wenn der Dalai Lama nach
Deutschland kommt, dem Beispiel von Joschka Fischer
folgen kann und den Dalai Lama in seinen Diensträumen
im Auswärtigen Amt empfangen darf. Bisher hat er Dis-
sidenten aus China nicht in seinen Amtsräumen empfan-
gen dürfen. Ich finde, diese Praxis muss überdacht wer-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Ein Wort noch zu den Forderungen nach einem Boy-
kott der Olympischen Spiele: Der Deutsche Bundestag
und die Bundesregierung sind weder verantwortlich für
die Vergabe der Olympischen Spiele an Peking, noch
hätten wir sie verhindern können. Ich finde, dass wir ein
deutliches Zeichen setzen müssen, dass wir an der Seite
all derjenigen Athletinnen und Athleten, all derjenigen
Funktionäre stehen, die sich auch in Peking für die uni-
versalen Prinzipien der Menschenrechte, der Rechts-
staatlichkeit, der Demokratie und des Minderheiten-
schutzes einsetzen wollen und werden, die unmittelbar
mit der olympischen Idee verbunden sind. Die olympi-
sche Idee der Friedenspflicht während der Spiele ist eine
eminent politische Idee. Die Friedenspflicht ist uns aus
der Antike überliefert. Um Vergil zu zitieren – denn
Friede bedeutet eben nicht Friedhofsruhe –: Opus iusti-
tiae pax. Der Friede ist das Werk der Gerechtigkeit, der
Gerechtigkeit für alle Menschen, die in China leben, und
damit auch für die nationalen Minderheiten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1615410600

Nächster Redner ist der Kollege Michael Leutert für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Michael Leutert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1615410700

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Wir bedauern zutiefst die Opfer beider Seiten in-
folge der gewalttätigen Auseinandersetzungen in der
autonomen Region Tibet. Die autoritäre, mit polizei-
staatlichen Mitteln geführte Reaktion der chinesischen
Regierung, deren Ursache historisch-politischer und öko-
nomischer Natur ist, lehnen wir klar und deutlich ab.

Moralische Empörung mag zwar den einen oder an-
deren in ein gutes innenpolitisches Licht stellen, hilft
aber bei der Beurteilung einer sehr komplexen Situation
wenig und steht vernünftigen Lösungen im Weg.

Wir brauchen eine objektive Beurteilung der Lage.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ein Schlaumeier!)


Auch wenn meine Fraktion mit der Bundesregierung
sonst nicht immer einer Meinung ist, möchte ich Außen-
minister Steinmeier beipflichten – ich zitiere –:

Die Tibeter wollen ihre Kultur bewahren, China
will politische Stabilität – dafür müssen beide Sei-
ten aufeinander zugehen.

In der Beurteilung der Lage wird Staatsminister Erler
sogar noch deutlicher, wenn er vor dem Auswärtigen
Ausschuss von Pogromen der Tibeter gegenüber den
Chinesen spricht. Genau aus diesem Grund ist es richtig,
Herr Staatsminister, dass der Aufruf zum Gewaltverzicht
an beide Seiten gerichtet ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Insgesamt ist festzustellen, dass derzeit die moderaten
Kräfte in der chinesischen Führung das Heft des Han-
delns in der Hand haben und die Richtung bestimmen.
Wir haben heute nicht den Platz des Himmlischen Frie-
dens vor Augen. Was derzeit fehlt, sind zivilgesellschaft-
liche Lösungsstrategien zur Bewältigung der zweifellos
existierenden Spannungen. Unsere Aufgabe ist es, dies
alles zur Kenntnis zu nehmen und adäquat darauf zu re-
agieren.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat eigentlich Krenz zum TiananmenPlatz gesagt?)


Überlegungen zu einem Boykott der Olympischen
Spiele sind meines Erachtens das genaue Gegenteil. Ein
Boykott ist eine Sanktion und damit auch ein Signal. Ein
Boykott ist ein Signal, dass der Dialog beendet ist. Das
aber hilft einerseits nicht den Menschen in Tibet, und an-
dererseits entledigen wir uns damit unserer Instrumente,






(A) (C)



(B) (D)


Michael Leutert
nämlich der Dialogmöglichkeiten, wie zum Beispiel des
Rechtsstaatsdialoges und des Menschenrechtsdialoges.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir entledigen uns außerdem der vielfältigen kommu-
nikativen Möglichkeiten unserer Institutionen wie zum
Beispiel der politischen Stiftungen oder des Goethe-In-
stitutes. Es ist nicht die Zeit, leichtfertig auf diplomati-
sche Mittel zu verzichten. Jetzt geht es darum – ohne be-
lehren zu wollen –, die Volksrepublik China bei der
Erarbeitung zivilgesellschaftlicher Lösungsstrategien zu
unterstützen.

Der Journalist und ausgewiesene China-Experte
Georg Blume hat in einem taz-Artikel unter der Über-
schrift „Diplomatie statt Drohgebärden“ auf Folgendes
hingewiesen:

… in Peking regiert kein menschenverachtendes
Willkürregime. Sondern eine Regierung, die gegen
die Widersprüche ihres Systems kämpft.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aha! – Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Unglaublich!)


Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eine der wich-
tigsten Voraussetzungen dafür, im Dialog die offenen
Fragen bezüglich der in der chinesischen Verfassung oh-
nehin fixierten Autonomie Tibets und deren Implemen-
tierung in das alltägliche Leben der Menschen zu klären.
Dieser Experte ist im Übrigen von den Grünen zur öf-
fentlichen Anhörung des Sportausschusses geladen wor-
den.


(Beifall bei der LINKEN)


Dieser Dialog muss aber in China stattfinden. Wir
können ihn von hier aus konstruktiv begleiten. Vorausset-
zung für diesen Dialog ist aber, dass die oppositionellen
Tibeter klar und ohne Abstriche die territoriale Integrität
der Volksrepublik China anerkennen und respektieren,
und zwar durch ihre Unterschrift und nicht bloß als Lip-
penbekenntnis.


(Beifall bei der LINKEN – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Sie sind Menschenrechtsbeauftragter?)


Der Empfang des Dalai Lama im Kanzleramt auf der
Ebene eines Staatsbesuches, Herr von Klaeden, hat dazu
nicht gerade beigetragen.


(Beifall bei der LINKEN – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das ist doch kein Staatsbesuch gewesen! So ein Unsinn!)


Dieser Empfang war kontraproduktiv und ein Affront
gegenüber der chinesischen Seite.


(Zuruf von der CDU/CSU: Auf welcher Seite schlägt denn Ihr Herz?)


Die Linke hat die Hoffnung – wir wollen unseren Bei-
trag dazu leisten –, dass die derzeit stattfindende interna-
tionale Menschenrechtsdebatte als Chance verstanden
wird, im 60. Jahr der Allgemeinen Erklärung der Men-
schenrechte der Verwirklichung der Menschenrechte ein
Stück näher zu kommen. Um dieses Ziel zu erreichen,
darf der Dialog mit China


(Eberhard Gienger [CDU/CSU]: Ihre Freunde!?)


nicht abgebrochen werden, vielmehr muss er intensiviert
werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wer will denn mit solchen Leuten in Hessen regieren?)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1615410800

Nächster Redner ist der Kollege Walter Kolbow für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Walter Kolbow (SPD):
Rede ID: ID1615410900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Mit der Entscheidung von 2001, die Olympischen Spiele
2008 nach Peking zu vergeben, hat sich der Sport auf das
politische Regime Chinas von heute eingelassen. Auch
wir haben uns politisch auf dieses China eingelassen,
weil alle Bundesregierungen mit ihren jeweiligen Parla-
mentsmehrheiten eine Ein-China-Politik getragen haben.

Ich bereise China seit 1990 und habe bei diesen Gele-
genheiten viele Gespräche führen können. Ich kann fest-
stellen, dass die vielen Chinesen, die ich getroffen habe
– das war ein repräsentativer Querschnitt; es waren alle
Gruppierungen innerhalb der Kommunistischen Partei
Chinas vertreten –, davon überzeugt sind, dass China
wie eine Großmacht behandelt werden muss. Sie erwar-
ten Respekt von uns. Darin sind sich im Übrigen Nicht-
kommunisten und Kommunisten einig.

Auf die Frage nach Chinas Zukunft antworten sie,
Demokratie sei nicht so wichtig wie eine Renaissance
der konfuzianischen Tradition; ihnen gehe das materielle
Wohlergehen von 1,3 Milliarden Chinesen vor Demo-
kratie. Wir streiten mit ihnen darüber. Wir haben einen
Menschenrechts- und Rechtsstaatsdialog begonnen. Wir
suchen also das Gespräch und die Auseinandersetzung,
um zu überzeugen und um zu gestalten.

Die gewaltsamen Auseinandersetzungen vom 14. März
sind 49 Jahre nach dem tibetanischen Aufstand gegen
den chinesischen Einmarsch passiert. Das hat uns alle
getroffen. Der Herr Staatsminister und die anderen Red-
ner vor mir haben völlig zu Recht darauf hingewiesen,
dass Gewalt – egal von welcher Seite – keine Lösung
sein kann. Hier, im Deutschen Bundestag, stellen wir ge-
meinsam fest: Der Gewalt muss Einhalt geboten werden,
und man muss – das gilt insbesondere für China – zur
Besinnung kommen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Herr Staatsminister, ich unterstreiche ausdrücklich,
was Sie im Namen der Bundesregierung gesagt haben.
Unser Appell an die chinesischen Partner lautet: Keine
Gewalt ausüben, die Lage im Land transparent darstellen






(A) (C)



(B) (D)


Walter Kolbow
und einen Dialog aufnehmen, um zu einer für beide Sei-
ten tragfähigen Lösung zu gelangen.

Frau Ministerin Wieczorek-Zeul hat in Anbetracht der
andauernden gewaltsamen Auseinandersetzungen zu
Recht die für Mai geplanten Regierungsverhandlungen
mit China ausgesetzt. Ich schließe zum gegenwärtigen
Zeitpunkt nicht aus, dass die SPD-Bundestagsfraktion,
falls sich die Lage in China dramatisch zuspitzen sollte,
einen Boykott der Olympischen Spiele fordert. Ich weise
darauf hin, dass das Europäische Parlament im Jahr 2001,
14 Tage vor der Entscheidung, die Olympischen Spiele an
China zu vergeben, angemahnt hat, man solle sich darüber
im Klaren sein, welche Wegstrecke man bis 2008 noch
vor sich habe.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)


Diese Situation ist auf uns zugekommen und verlangt
nun von uns eine Positionierung. Ich sage für mich: Ich
reise im Mai nach China. Ich werde dort Diskussionen
führen. Wir sollten die Debatte nicht auf der Basis eines
falschen Verständnisses der Vergangenheit, sondern auf
der Basis unseres Demokratieverständnisses führen. Das
Parlament kann ein gutes Stück der Arbeit leisten, und
zwar vor der Regierung, die, wie wir wissen, Sach-
zwänge einzuhalten hat. Es ist aber gut, dass sich die
Bundesregierung in diesem Zusammenhang trotzdem
deutlich äußert. Es geht auch um das Selbstverständnis
des Parlaments, gerade an einem Tag, an dem wir den
75. Jahrestag der verweigerten Zustimmung der SPD-
Abgeordneten zum Ermächtigungsgesetz würdig began-
gen haben. Das sind wir uns schuldig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Thema „China und Tibet“ hat immer wieder für
kontroverse Diskussionen gesorgt, sowohl auf internatio-
naler Ebene als auch in Deutschland. Herr Kollege
Klaeden, da Sie in führender Verantwortung stehende
Sozialdemokraten zitiert haben, darf ich in diesem
Hause vortragen, was sich in den 90er-Jahren der dama-
lige Bundeskanzler, Helmut Kohl, an heftiger Kritik
vom Dalai Lama hat gefallen lassen müssen, als er im
Rahmen einer China-Reise einen Abstecher in die tibeta-
nische Hauptstadt Lhasa gemacht hat. Der Dalai Lama
ließ ihn wissen, was er vom Reiseprogramm des deut-
schen Regierungschefs hielt: Der Besuch in Lhasa sei
naiv; er symbolisiere, dass der Bundeskanzler die chine-
sische Besatzung Tibets billige. Dies verdeutlicht den
schmalen Grat, auf dem sich Politiker beim Thema Tibet
bewegen.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Kritisieren Sie jetzt den Dalai Lama oder Helmut Kohl?)


– Ich kritisiere Sie, wenn Sie es genau wissen wollen,
Herr Kollege.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Das erlaube ich mir, weil Ihre Bezüge nicht stimmen.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Bei mir hat alles gestimmt!)


Das erlaube ich mir angesichts Ihrer großkoalitionären
Selbstgefälligkeit immer noch und allemal, Herr Kollege
von Klaeden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Gehen Sie einmal nach Tibet, reden Sie mit den jun-
gen Tibetanern, die sich emanzipieren wollen, die sich
gegen die Han-Chinesen durchsetzen wollen, die aber
quasi durch das Tor der chinesischen Sprache gehen
müssen!


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Da sind Sie ja dagegen!)


– Herr Kollege, kommen Sie einmal zu mir, ich gebe Ih-
nen als älterer Kollege einige Informationen, privatis-
sime, sed gratis. Konzentrieren Sie sich einmal auf die
wahren Sachverhalte!


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1615411000

Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.


Walter Kolbow (SPD):
Rede ID: ID1615411100

Frau Präsidentin, ich weiß, Sie rügen mich, weil ich

mit einem Koalitionsfreund von Ihnen streite.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1615411200

Das war keine Rüge, sondern ich habe auf die Rede-

zeitüberschreitung hingewiesen.


Walter Kolbow (SPD):
Rede ID: ID1615411300

Wir sollten nicht das tun, was wir hier gerade prakti-

ziert haben. Ich nehme mich jetzt auch wieder in die Dis-
ziplin.

Wir sollten dafür sorgen, dass die Probleme in China
gelöst werden und friedliche Spiele in China stattfinden
können. Das ist unser Auftrag, vor allem aber der Auf-
trag der Chinesen und der jungen tibetanischen Genera-
tion. Die Situation in Tibet strahlt auch auf die Exiltibe-
ter aus. Wir müssen auch auf sie einwirken und
versuchen, sie in die Pflicht zu nehmen. Wir brauchen
einen Ausgleich und eine Perspektive für China als Mit-
glied der internationalen Gemeinschaft.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1615411400

Nun hat das Wort der Kollege Volker Beck für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.






(A) (C)



(B) (D)


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615411500

Meine Damen und Herren! Es ist schon ein Trauer-

spiel, das wir bei diesem Thema immer wieder erleben:
Die Große Koalition findet in der Menschenrechts- und
Außenpolitik keinen gemeinsamen Nenner und zerstrei-
tet sich vor der nationalen Öffentlichkeit und vor der
Weltöffentlichkeit. Das mindert sowohl in der Men-
schenrechts- als auch in der Außenpolitik unseren Ein-
fluss, der gegenwärtig dringend notwendig wäre. Das ist
jammerschade.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Hinsichtlich der Menschenrechtslage in China gab es
in den letzten Monaten, eigentlich schon in den letzten
ein bis zwei Jahren durchaus Hoffnungsschimmer: Es
gab ein neues Verfahren im Strafrecht, das die Zahl der
Todesurteile verringert hat. Die Situation der Journalisten,
zumindest der Journalisten aus dem Ausland, hat sich in
den letzten Wochen bis zur Tibetkrise verbessert. – Diese
Fortschritte muss man durchaus benennen. Aber anhand
der Entwicklungen der letzten Wochen sieht man, dass
China die Repressionsschraube nicht nur in Tibet, son-
dern auch landesweit angezogen hat. Dafür steht – Pars
pro Toto – das völlig unverhältnismäßige und rechtswid-
rige Urteil gegen Hu Jia, dem für das Schreiben eines re-
gierungskritischen Blogs dreieinhalb Jahre Haft aufge-
brummt wurden. Das ist unverschämt und ungerecht.
Dieses Urteil müssen die Chinesen aufheben. Dieses Si-
gnal sollten wir hier aus dem Bundestag geben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Wir wissen: Nicht nur in Tibet werden die nationalen,
religiösen und sprachlichen Rechte einer Minderheit un-
terdrückt, sondern auch in der Provinz Xinjiang, wo die
Uiguren, ein muslimisches Turkvolk, leben, wird in der
gleichen Art und Weise versucht, die Bevölkerung zu
chinesifizieren und die dort ansässigen ethnischen Min-
derheiten zu benachteiligen. Die Aufstände, die es jetzt
in Tibet gegeben hat, sind eine Spätfolge der langjähri-
gen religiösen und kulturellen Unterdrückung der Tibe-
ter. Die Benachteiligung in der Bildungspolitik hat dazu
geführt, dass diese Menschen viel schlechter leben als
die Chinesen am gleichen Ort. Sie üben schlechtere Be-
rufe aus, beziehen schlechtere Einkommen und haben ei-
nen schlechteren Zugang zur Bildung. Die derzeitige In-
flation in China führt dazu, dass diese soziale Lage den
Menschen auf der Seele brennt. Deshalb kam es zu die-
sen Aufständen.

Wir müssen sehen, was die chinesische Regierung ge-
genwärtig macht: Sie setzt auf völlige Repression. Wenn
sie den Dalai Lama als Wolf im Schafspelz und die Auf-
ständischen als Dalai-Lama-Clique bezeichnet, dann be-
deutet das, dass sie den potenziellen Gesprächspartner,
der für Gewaltfreiheit und für die Autonomie und eben
nicht für die Unabhängigkeit Tibets steht, denunziert und
alle Wege zu einem Dialog verbaut. Hier ist eine Kehrt-
wende der chinesischen Führung dringend angesagt. Wir
müssen alle Möglichkeiten des Dialogs und des politi-
schen Drucks nutzen, um China dazu zu bewegen, mit
dem Dalai Lama über eine substanzielle Autonomie zu
verhandeln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn das zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht unmit-
telbar von Erfolg gekrönt ist, müssen wir zeigen, dass
wir den Dalai Lama für den geeigneten Gesprächspart-
ner zur Lösung der innerchinesischen Tibetproblematik
halten. Deshalb erwarte ich, dass der Dalai Lama bei sei-
nem Deutschlandbesuch im Mai hier in Berlin empfan-
gen wird. Wenn die Bundesregierung keine Zeit hat,
sollte sich vielleicht dieses Hohe Haus in angemessener
Form die Zeit nehmen, den Dalai Lama entsprechend zu
empfangen. Wir als grüne Fraktion sind dazu bereit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich finde, auch bei der EU-Außenministerkonferenz
sollte die deutsche Bundesregierung entsprechende Ini-
tiativen unterstützen.

Nun zu den Olympischen Spielen. Die Chinesen ha-
ben mit ihrer Bewerbung im Jahr 2001 durchaus Ver-
sprechungen verbunden. Wörtlich sagte der Vizepräsi-
dent des Pekinger Organisationskomitees Wang Wei:

Die Olympischen Spiele werden helfen, soziale,
ökonomische und Menschrechtsbedingungen wei-
ter zu verbessern.

Pekings Vizebürgermeister Liu Jingming kündigte
völlige Freiheit für die Presse an. Nichts davon ist bisher
eingetreten. Die Chinesen haben alle ihre Zusagen, die
sie im Zusammenhang mit der Olympiabewerbung ge-
macht haben, gebrochen. Deshalb ist die vorauseilende
Duckmäuserei des IOC und des Deutschen Olympischen
Sportbundes eine Schande für die olympische Bewe-
gung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Es kann doch nicht sein, dass man den Sportlern, die
als mündige Sportler nach Peking fahren und dort die
Menschenrechtsfrage artikulieren wollen, mit Sanktio-
nen droht, weil sie damit die Olympische Charta verlet-
zen würden, während die Chinesen als Ausrichter die
Olympische Charta bereits verletzt haben. Gegenüber
Letzteren sagt man nichts, bekommt kaum die Zähne
auseinander, und es gibt allenfalls ein leises diplomati-
sches Flüstern in Richtung Peking.

Wenn man die olympische Idee retten und die olympi-
sche Bewegung voranbringen will, dann dürfen Sportler,
die keine politische Propaganda im engeren Sinne betrei-
ben, sondern zum Beispiel solche T-Shirts tragen,


(Der Redner hält ein T-Shirt mit der Aufschrift „Human Rights“ hoch)


mit denen sie für die Menschenrechte in ganz China, ein-
schließlich Tibet, der Hauptstadt Lhasa und der Provinz
Xinjiang eintreten, nicht mit Sanktionen belegt werden.
Wir erwarten vom Internationalen Olympischen Komi-






(A) (C)



(B) (D)


Volker Beck (Köln)

tee sowie von unserem deutschen Nationalen Olympi-
schen Komitee, dass sie solchen Sportlerinnen und
Sportlern den Rücken stärken, statt mit Sanktionen zu
drohen. In diesem Punkt bedarf es einer Korrektur.

Andere Korrekturen ist die olympische Bewegung ja
offensichtlich bereit, vorzunehmen. Heute war in der
Zeitung zu lesen, dass gestern eine Resolution verab-
schiedet wurde, mit der die Chinesen aufgefordert wer-
den, die innerchinesischen Konflikte zu lösen. Man hat
das Wort „Tibet“ aus der Resolution gestrichen, weil
man den Chinesen nicht auf die Füße treten wollte.
Diese Leisetreterei in Sachen Menschenrechte beschä-
digt die Olympischen Spiele in Peking. Wir brauchen
eine offene Auseinandersetzung und mündige Sportle-
rinnen und Sportler, die Rückhalt bei uns haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1615411600

Nächster Redner ist der Kollege Arnold Vaatz für die

CDU/CSU-Fraktion.


Arnold Vaatz (CDU):
Rede ID: ID1615411700

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Es ist schon mehrfach gesagt worden, und ich
glaube, in dieser Grundfrage sind wir uns in diesem
Hause alle einig: Gewalt auf beiden Seiten muss verurteilt
werden, und zwar – ich zitiere Eckart von Klaeden –,
ohne Ursache und Wirkung miteinander zu vertauschen.

Im Hinblick auf den letzten Satz ist Folgendes zu sa-
gen: Wir finden in China eine Situation vor, in der dem
tibetischen Volk seit Generationen grundlegende zivile
Rechte, die in Deutschland und Europa selbstverständ-
lich sind, entzogen sind. Dazu gehören das Recht auf Re-
ligionsfreiheit und das Recht auf kulturelle Autonomie.
Diese sind nicht gewährleistet. Auf der anderen Seite
gibt es eine chinesische Regierung, die bis jetzt jeden
Dialog mit den Tibetern verweigert und dem Tibet-
Problem stattdessen mit einer Politik der Stärke und ei-
ner Politik der Demonstration von Macht durch Aggres-
sivität meint zuleibe rücken zu können. Das verdient
eine eindeutige Zurückweisung durch dieses Haus.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


In dem Zusammenhang spricht es Bände, Herr Kol-
lege Leutert, wenn Sie sagen, in China seien im Augen-
blick die moderaten Kräfte am Werk. Man braucht viel
Fantasie oder – wenn man im Osten groß geworden ist –
vielleicht auch wenig Fantasie, um sich vorstellen zu
können, was Sie unter normalen oder gar nichtmodera-
ten Kräften verstehen.

Es ist eine Entscheidung des Sports, ob man an den
Olympischen Spielen teilnimmt oder nicht. Es ist nicht
die Aufgabe der Politik, an die Stelle des Sports zu treten
und diese Entscheidung an sich zu ziehen. Aber es ver-
wundert mich doch, wie in letzter Zeit über diese Ange-
legenheit diskutiert worden ist. Ich gebe dem Kollegen
Beck ausdrücklich Recht, wenn er die voreiligen Erklä-
rungen des Vertreters des Nationalen Olympischen Ko-
mitees und einiger Sportpolitiker merkwürdig findet, die
eine Nichtteilnahme sowie das Spektrum von Zeichen,
die wir davon abgesehen setzen können, von vornherein
ablehnen.

Auch ich bin nicht dafür, einen Boykott zu fordern.
Mein wichtigstes Argument ist, dass die Tibeter selbst
keinen Boykott fordern. Falls sie später doch wünschen,
dass die Olympischen Spiele nicht in der Form stattfin-
den, in der sie geplant sind, müssten wir noch die Mög-
lichkeit haben, diesen Wunsch ernsthaft in unsere Be-
trachtungen einzubeziehen. Das kann aber nicht
geschehen, wenn wir ihn vorher definitiv ausgeschlossen
haben.

Nun zu den Argumenten, die in dieser Situation oft-
mals angeführt werden. Häufig heißt es, Sport dürfe
nicht als Instrument der Politik missbraucht werden. Ge-
nau dieser Auffassung bin auch ich. Wer so argumen-
tiert, der muss aber mit ins Kalkül ziehen, dass die chi-
nesische Administration den Sport längst als Instrument
der Politik fest einplant,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


und zwar als Demonstration gegenüber dem tibetischen
Volk. Die Botschaft lautet: Die Weltöffentlichkeit geht
zur Tagesordnung über. Sie nimmt euren Protest über-
haupt nicht mehr ernst. Packt eure Tücher ein, geht nach
Hause und ordnet euch unter! An der Verbreitung dieser
Botschaft dürfen wir nicht als nützliche Idioten mitwir-
ken. Ich muss ganz deutlich sagen: Dafür sollten wir uns
zu schade sein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Zu einem weiteren Punkt, der mir sehr wichtig ist. Oft
wird gesagt, eine Nichtteilnahme löse keinerlei Pro-
bleme. Selbstverständlich glaube auch ich, dass durch
eine Nichtteilnahme an den Olympischen Spielen keine
Kehrtwende der chinesischen Politik erreicht wird; das
ist ganz klar. Aber für mich ist es oftmals keine Frage
des politischen Effekts, sondern eine Frage des An-
stands, ob man sich an einen festlich gedeckten Tisch
mit Leuten setzt, die ihre Macht eben noch durch eine
große Gewaltorgie gefestigt haben. Das ist, wie ich
glaube, mit demokratischen Werten nicht unbedingt ver-
einbar.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine letzte Bemerkung. Es wird häufig das Argu-
ment angeführt, die Olympischen Spiele bewirkten, dass
sich China stärker der Weltöffentlichkeit öffnen müsse.
Meine Damen und Herren, diese Erwartung kann man
hegen. Aber nach allem, was wir bisher erlebt haben,
wie Diktaturen mit Olympischen Spielen und ähnlichen
Veranstaltungen umgehen, kann die gegensätzliche Ent-
wicklung genauso wenig ausgeschlossen werden. Das
hätte zur Folge, dass man in China davon ausgeht: Die
Weltöffentlichkeit hat uns bestätigt. Demzufolge können
wir in unseren inneren Angelegenheiten, wie sie das
nennen, vorgehen, wie wir wollen.






(A) (C)



(B) (D)


Arnold Vaatz
Die Möglichkeit, dass die Ausrichtung der Olympiade
als Legitimation für das eigene Vorgehen betrachtet wird
und dadurch die Situation verschärft und die Lage der
Menschenrechte verschlechtert werden, ist also ebenfalls
gegeben. Ich erwarte mit Interesse, welche Erklärungen
diejenigen, die die umgekehrte Entwicklung erwarten,
abgeben, wenn alles andere kommt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1615411800

Nun hat der Kollege Christoph Strässer für die SPD-

Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1615411900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Als aktiver Nichtsportler wollte ich in der heutigen Ak-
tuellen Stunde zur Lage in Tibet eigentlich nicht Stellung
nehmen. Ich denke aber, das lässt sich gar nicht umge-
hen. Lassen Sie mich bitte zwei Dinge sagen, die mir an
dieser Stelle auffallen und die wichtig sind.

In der jetzigen Situation, im Jahre 2008, diskutieren
wir über einen Kotau und über bestimmte Entwicklun-
gen, die uns nicht gefallen. Ich sage Ihnen – ich bin ganz
sicher, dass das richtig ist –: Die entscheidende Frage,
die wir vielleicht falsch beantwortet haben, ist nicht die,
die wir heute stellen – ob die Olympischen Spiele boy-
kottiert werden sollten oder nicht –, sondern war die
Frage, die wir uns im Jahre 2001 gestellt haben. Denn
was für ein System in China im Jahre 2001 geherrscht
hat, das war, wie ich glaube, jedem, der an der Vergabe-
entscheidung mitgewirkt hat, von Anfang an klar.

Für mich ist aus sportlicher Perspektive Folgendes
sehr wichtig: Würden wir die politische Verantwortung
für Demonstrationen und Proteste auf die Sportlerinnen
und Sportler verlagern, die nach Peking fahren, um dort
Sport zu treiben und Medaillen zu gewinnen, dann wäre
das falsch.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Detlef Parr [FDP] – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das, was Sie da sagen, hat doch niemand gefordert!)


Kein einziger aktiver Sportler hat im Jahre 2001 für die
Vergabe der Olympischen Spiele an Peking gestimmt.
Deshalb haben die Verantwortung dafür, dass die Olym-
pischen Spiele dort stattfinden, nach wie vor diejenigen,
die offenbar nichts hinzugelernt haben. Diese Verant-
wortung tragen diejenigen, die nicht nur die Entschei-
dung für Peking getroffen haben, sondern vor kurzem
auch noch die Olympischen Winterspiele an den bekann-
ten Wintersportort Sotschi vergeben haben. Für die Feh-
ler, die gemacht worden sind, sollten wir diejenigen ver-
antwortlich machen, die verantwortlich sind: Das sind
die Funktionäre in den Sportverbänden, die daran ver-
dienen. Wir wissen ja, was für ein Klub das IOC ist. Wir
wissen auch, dass sie sich von VW und Adidas sponsern
lassen. Das sollte an dieser Stelle einmal gesagt werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Was ist uns im sicheren Westen ein Boykott wert? Wir
sollten einmal dahin schauen, wo die Menschen drangsa-
liert werden, wo die Menschen unter dem politischen
System leiden. Ich weiß, dass viele Journalisten, die in
Peking aktiv sind, sich darauf freuen, dass diese Olympi-
schen Spiele in China stattfinden. Gestatten Sie mir, je-
manden zu zitieren, der die Spiele in Peking befürwortet,
aber unverdächtig sein dürfte, weil er nach dem Massa-
ker auf dem Tiananmen-Platz 1989 vier Jahre im Ge-
fängnis saß: Liu Xiaobo hat dem Spiegel auf die Frage,
ob man die Olympischen Spiele in Peking boykottieren
sollte, gesagt:

Das wäre keine gute Methode, China zu bestrafen.

So etwas sagt ein Dissident, einer, der mehrfach inhaf-
tiert worden ist. Er sagt weiter:

Wenn die Spiele misslängen, bekäme das den Men-
schenrechten nicht gut. Dann würde die Regierung
überhaupt nicht mehr aufs Ausland hören. Ich per-
sönlich denke: Wir wollen die Spiele, und wir wol-
len noch mehr die Achtung der Menschenrechte.

Wir sollten bei unseren Debatten immer im Hinter-
kopf behalten, dass sehr viele Menschen in China mit
den Olympischen Spielen Hoffnungen verbinden. Diese
Hoffnungen sollten wir nicht enttäuschen, indem wir an-
dere auffordern, an den Spielen nicht teilzunehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der FDP)


Zur Situation der Menschenrechte in Tibet ist eine
Menge gesagt worden. Die Marginalisierung der Tibeter
hat in den letzten Jahren zugenommen. Auf der anderen
Seite hat sich die ökonomische Situation in Tibet deut-
lich verbessert. Man darf sich allerdings nicht darauf be-
schränken, die Situation der Tibeter – die zugegebener-
maßen schwierig ist – zu kritisieren. Wir müssen den
Einfluss, den wir haben, nutzen und zum Beispiel unsere
Entwicklungszusammenarbeit so definieren und unsere
Investitionsentscheidungen so treffen, dass nicht nur die
Han-Chinesen, sondern auch die Tibeter etwas davon ha-
ben. Das sollte ein Merkmal unserer Politik sein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Abschließend möchte ich ein Zitat bringen, das die
Entwicklung in Tibet in den letzten Wochen auf den
Punkt bringt. Es stammt vom Dalai Lama, der übrigens
auch gesagt hat, dass es falsch wäre, die Olympischen
Spiele in Peking zu boykottieren, einfach deshalb, weil
sich die Menschen in China, wie er sagt, die Spiele ver-
dient haben, es sich verdient haben, in diesem Sinne in
der Öffentlichkeit zu stehen. Man sollte also nicht päpst-
licher sein als der Papst; ich weiß, dass dieser Ausspruch
nicht ganz passt. Nun zum Zitat des Dalai Lama. Er hat
gesagt: Brutale Gewalt, gleichgültig wie intensiv sie an-
gewandt wird, kann niemals das grundlegende Bedürfnis
nach Freiheit und Würde unterdrücken. – Wenn wir das
beherzigen, müssen wir zu dem Ergebnis kommen, dass
die Olympischen Spiele in Peking eine Chance sind. Wir






(A) (C)



(B) (D)


Christoph Strässer
sollten uns mit dem Dalai Lama verbünden, um die
Situation in China zu verbessern.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1615412000

Das Wort hat nun der Kollege Holger Haibach für die

CDU/CSU-Fraktion.


Holger Haibach (CDU):
Rede ID: ID1615412100

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Situation
in Tibet ist schlimm; aber sie hat zumindest ein Gutes:
Die Weltöffentlichkeit schaut auf Tibet, sie schaut da-
rauf, wie in China mit den Menschenrechten umgegan-
gen wird. Seien wir ehrlich: Wie viel Aufmerksamkeit
wäre der Achtung der Menschenrechte zuteil geworden,
wenn das, was in den letzten Wochen und Monaten in
Tibet geschehen ist, nicht geschehen wäre? Hätten wir
genau hingeschaut? Die Olympischen Spiele wären
letztendlich ein tolles Sportfest gewesen, und nur in
Fachkreisen hätten Außen- oder Menschenrechtspoliti-
ker oder Nichtregierungsorganisationen über die Situa-
tion diskutiert. Eine öffentliche Diskussion hätte es nicht
gegeben. Insofern bin ich froh, dass sich der Deutsche
Bundestag in einer Aktuellen Stunde mit diesem wichti-
gen Thema beschäftigt. Ich sage das als Menschen-
rechtspolitiker, aber eben auch als Vorsitzender des in-
terfraktionellen Tibet-Gesprächskreises; denn ich
glaube, eines müssen wir hier ganz klar sehen: Wir wer-
den nur dann einen Einfluss haben – und unser Einfluss
ist in dieser Frage nicht völlig unbegrenzt –, wenn wir
versuchen, gemeinsam zu agieren und aufzutreten.

Gemeinsam auftreten bedeutet, dass die Politik, der
Sport – die Sportverbände – und die Wirtschaft, die als
Sponsor einen wichtigen Anteil an diesen Fragen hat,
gemeinsam vorgehen. Der Vorteil von Deutschland als
Demokratie ist, dass hier unterschiedliche Meinungen
erstens erlaubt und zweitens erwünscht sind. Wenn wir
zitieren, dann sollten wir aber vorsichtig sein. Herr Kol-
lege Kolbow, Sie wissen, dass das Zitat, das Sie dem
Kollegen von Klaeden entgegengehalten haben, aus den
90er-Jahren stammt, als auch der Dalai Lama noch eine
andere Haltung zur Ein-China-Politik hatte.


(Walter Kolbow [SPD]: Ja, das habe ich ja gesagt!)


Deswegen sollten Sie noch einmal darüber nachdenken,
ob es an der Stelle wirklich angebracht gewesen ist, die-
ses Zitat zu bringen.

Lieber Herr Kollege Leutert, auch die Haltung der
Linksfraktion – nicht nur hier im Deutschen Bundestag –
ist nicht hilfreich. Was Ihre Kollegin Schneider in der
Bürgerschaft in Hamburg gesagt hat, sprengt zumindest
mein Verständnis dafür, wie man den Dalai Lama und
die Tibet-Bewegung sehen kann.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dr. Paech hat sie unterstützt!)

Den Dalai Lama in die Nähe von Herrn Chomeini zu
stellen, zeigt nicht nur, dass einige bei Ihnen offensicht-
lich nicht verstanden haben, wie die Wirklichkeit ist,
sondern das zeigt auch ganz deutlich, dass Sie die Ge-
schichte nicht verstanden haben.

Es handelt sich beim Dalai Lama um einen religiösen
Führer. Herr Chomeini hat eindeutig Staatsgewalt an
sich gerissen. Jemanden, der für Demokratie, Menschen-
rechte und kulturelle Autonomie eintritt, in die Nähe ei-
nes Menschen zu rücken, der vor nichts, aber auch gar
nichts zurückgeschreckt hat, halte ich, ehrlich gesagt, für
völlig verfehlt. Das hilft der Sache an keiner Stelle wei-
ter.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir über die Frage reden, wer welche Verant-
wortung hat, dann muss klar sein: Gewalt, egal von wel-
cher Seite, muss immer verurteilt werden. Eines möchte
ich an der Stelle aber auch einmal gesagt haben: Der
Gewalt der Tibeter geht eine jahrzehntelange Unter-
drückung voraus. Wir haben es in Tibet mit der Situation
zu tun, dass Menschen über viele Jahrzehnte minorisiert
worden sind, indem 7,5 Millionen Han-Chinesen nach
Tibet umgesiedelt worden sind. Sie haben erleben müs-
sen, dass ihre eigenen Vorkommen und Bodenschätze
von anderen ausgebeutet worden sind.

Der Kollege Paech hat in einem Interview geäußert,
dass es etwas Besonderes sei, dass in China Hunger und
ähnliche Dinge beseitigt worden sind. Das mag generell
vielleicht stimmen. Gerade für Tibet stimmt das aber
eben nicht. Gerade unter den Tibetern ist die Zahl der
Analphabeten wesentlich höher, nämlich beinahe sechs-
mal so hoch wie in jeder anderen Region. Das durch-
schnittliche Einkommen ist wesentlich niedriger, und der
Zugang zur Bildung ist wesentlich schwieriger. Insofern
stimmt das gerade an dieser Stelle nicht. Solche falschen
Behauptungen helfen in der Debatte nicht weiter.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Ich glaube, dass es richtig ist, dass jeder seine Verant-
wortung trägt. Wir als Politiker sollten klar machen, dass
wir menschenrechtsunwürdiges Vorgehen nicht zu ak-
zeptieren bereit sind. Ich denke, dass es richtig und not-
wendig ist, dass die Sportverbände das, was sie zur
Grundlage der Entscheidung über die Vergabe von
Olympischen Spielen machen, nämlich auch die Einhal-
tung von Menschenrechten, nicht nur zwei Wochen vor
den Olympischen Spielen und auf internationalen Druck
hin überprüfen. Das muss ein regelmäßiger Prozess sein.
Der Ethikteil der Olympischen Charta ist genauso wich-
tig wie jeder andere Teil auch. Auch dieses Signal muss
von diesem Hohen Hause heute ausgehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ich möchte natürlich auch die Position der Wirtschaft
nicht außen vor lassen. Wenn Politiker wie die Bundes-
kanzlerin, der Bundesaußenminister, der polnische Mi-
nisterpräsident, der Bundespräsident und auch Václav






(A) (C)



(B) (D)


Holger Haibach
Klaus beschließen, nicht zu der Eröffnungsfeier zu ge-
hen, dann wäre es nur richtig und konsequent, wenn pro-
minente Wirtschaftsvertreter genau das Gleiche tun wür-
den; denn nur dann bekäme der Protest eine tatsächliche
Wirksamkeit.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, über die
heutige Debatte hinaus würde ich gerne erleben, dass wir
uns auch über innerparteiliche Diskussionen in Deutsch-
land hinaus regelmäßig mit Tibet und China auseinan-
dersetzen, damit der Spruch, den der Dalai Lama einmal
geprägt hat, dass nämlich die Tibeter sozusagen die Pan-
das der Weltgeschichte sind, die alle lieb haben, für die
aber niemand etwas tut, nicht Wirklichkeit wird.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1615412200

Nächster Redner ist der Kollege Swen Schulz für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Swen Schulz (SPD):
Rede ID: ID1615412300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich freue mich, dass ich als Mitglied des Sportausschus-
ses in dieser Debatte reden darf.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dafür gibt es auch gute Gründe. Denn die Tatsache, dass
die Lage in Tibet derzeit im Fokus der Weltöffentlichkeit
steht, ist eng damit verbunden, dass im Sommer die
Olympischen Spiele in Peking stattfinden werden. Das
zeigt auch die Bedeutung und die Kraft der olympischen
Idee, und es zeigt, welche Chancen die Vergabe der
Olympischen Spiele durch das IOC an China mit sich
bringt. Auch die großen Menschenrechtsorganisationen
begrüßen ebenso wie der Dalai Lama – das ist bereits an-
gesprochen worden – die Chancen, die die Olympischen
Spiele in Peking mit sich bringen.

Man kann also aus guten Gründen so entscheiden wie
das Internationale Olympische Komitee, das 2001 die
Olympischen Spiele an Peking vergeben hat. Aber man
muss das richtig machen und die Chancen, die sich bie-
ten, tatsächlich nutzen. Dafür sind Vorkehrungen nötig.
Es müssen Garantien gegeben werden, deren Einhaltung
dann auch überprüft werden muss. Es muss Sanktions-
möglichkeiten geben, und vor allen Dingen muss man
den Mund aufmachen, wenn etwas schief läuft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das hat das IOC leider nur sehr spät und meines Erach-
tens ausgesprochen verhalten getan.

Das IOC führt immer wieder das Argument an, dass
die Situation in Tibet und auch die Frage der Menschen-
rechte an anderer Stelle Sache der Politik ist und nichts
mit Sport zu tun hat, weswegen es sich heraushält. Das
ist blanker Unsinn.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Denn zum einen hat auch das IOC selbst 2001, als die
Spiele an Peking vergeben wurden, mit der Chance der
Öffnung Chinas und der Unterstützung der Menschen-
rechte argumentiert.

Zum anderen ist die olympische Idee grundsätzlich
hochpolitisch. Das ist auch in der Olympischen Charta
schriftlich festgehalten, die sozusagen die Verfassung
der olympischen Bewegung ist. Zu den Grundregeln der
olympischen Bewegung gehören die Achtung universell
gültiger ethischer Grundsätze, die Unterstützung und
Schaffung einer friedliebenden Gesellschaft und die
Wahrung der Menschenrechte. Jegliche Form der Diskri-
minierung ist mit der Zugehörigkeit zur olympischen
Bewegung unvereinbar. Das soll nicht politisch sein?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Man kann nicht zuerst solche Grundsätze verfassen,
aber dann, wenn sie massiv verletzt werden, einfach da-
rüber hinweggehen und sie sozusagen als politisches Ta-
gesgeschäft abtun, als ob man über die Änderung der
Straßenverkehrs-Ordnung reden würde. Vielmehr sind
die olympischen Ideen ein Handlungsauftrag für das
IOC.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Olympiade kann nicht alles richten. Damit wäre
der Sport überfordert. Er kann nicht alles hinbekommen,
was die Politik nicht schafft. Aber das IOC ist in der
Verantwortung und muss aktiv seinen Teil beitragen.
Manchmal hat man aber nachgerade den Eindruck, als
ob genau das Gegenteil passiert.

Folgender Vorgang ist aus meiner Sicht der Gipfel:
Da gibt es Sportlerinnen und Sportler, die ankündigen,
dass sie sich – anders als die IOC-Gewaltigen – erheben
und für die Wahrung der Menschenrechte einsetzen wol-
len, aber statt sie zu unterstützen, droht ihnen das IOC,
sie von den Olympischen Spielen auszuschließen. Das
darf nicht wahr sein. Das muss sich ändern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn man hört, was IOC-Mitglieder von sich geben,
bleibt einem manchmal die Spucke weg. Beispielsweise
hat einer – ich glaube, es war der Vertreter aus dem
Tschad – gesagt:

Athleten sollen nicht denken. Sie sollen an den
Spielen teilnehmen.

Ich finde, dass nicht die aufrechten Sportlerinnen und
Sportler aus der olympischen Familie ausgeschlossen
werden sollten, sondern solche Funktionäre, die die
olympische Idee verraten.


(Beifall bei der SPD)


Nach Lage der Dinge hilft ein Boykott weder den
Menschen in Tibet noch anderswo in China. Er muss
aber im Extremfall möglich bleiben. Deswegen war die






(A) (C)



(B) (D)


Swen Schulz (Spandau)

voreilige Entscheidung des DOSB, auf jeden Fall an den
Spielen teilzunehmen, nicht richtig.


(Beifall des Abg. Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich glaube, dass damit der Regierung in Peking ein Frei-
brief erteilt wurde. Ich füge aber hinzu: Wenn ein Boy-
kott notwendig wäre, dann dürfte er nicht nur auf dem
Rücken der Sportlerinnen und Sportler ausgetragen wer-
den, sondern dann sind auch andere Bereiche – zum Bei-
spiel die Wirtschaft – gefragt. Ich glaube, dass es dann
eine Gesamtverantwortung gibt.

Nach Lage der Dinge ist es ratsam, hinzufahren und
Flagge zu zeigen. Das gilt für Politiker, Sportfunktionäre
sowie Sportlerinnen und Sportler. Wir erwarten, dass der
Einsatz für Menschenrechte nicht unterbunden oder mit
Sanktionen belegt wird. Es ist ein Unterschied, ob im
Olympiastadion von Peking für eine Partei oder für eine
Ideologie gestritten wird oder ob sich jemand für die
Wahrung der Menschenrechte einsetzt. Das darf nicht
unter Strafe stehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir erwarten vom Deutschen Olympischen Sport-
bund, dass er sich beim IOC für eine entsprechende
Änderung der Linie einsetzt sowie die Athletinnen und
Athleten, die sich engagieren wollen, berät, ermutigt und
unterstützt. Nur auf diese Art und Weise können die
Chancen der Olympischen Spiele tatsächlich genutzt
werden und kann der notwendige Dialog zwischen der
Regierung der Volksrepublik China und den Tibetern un-
terstützt werden. Wir dürfen die deutsche Mannschaft
nicht als eine Art Staffage für eine gigantische PR-Show
der Kommunistischen Partei Chinas dorthin schicken.
Auch das wäre politisch, aber politisch blind.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE])



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1615412400

Nächster Redner ist der Kollege Eduard Lintner für

die CDU/CSU-Fraktion.


Eduard Lintner (CSU):
Rede ID: ID1615412500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Ich kann jetzt nicht mehr allzu viele neue
Aspekte zu diesem Thema beitragen. Aber lassen Sie
mich noch einmal die Aufmerksamkeit darauf lenken,
dass das, was nun geschieht, eigentlich keine Überra-
schung ist, denn es ist das katastrophale Resultat einer
jahrzehntelang gültigen, sehr prinzipiellen Komponente
der chinesischen Politik, die sehr zielgenau darauf aus-
gerichtet ist, Tibet mit dem chinesischen Kernland
gleichzuschalten und durch massenhaften Zuzug von
Chinesen aus dem Kernland die religiöse und kulturelle
Eigenständigkeit, also die ethnische Identität der Tibeter
bedeutungslos zu machen. Jeder, der Tibet besucht hat,
weiß, dass China als Gegenleistung die Verbesserung der
wirtschaftlichen Situation, die Anhebung des Lebens-
standards und den Ausbau der Infrastruktur immer wie-
der anführt. Das trifft durchaus zu. Aber dieses coole
Kalkül geht nicht auf; denn nun wird weltweit sichtbar,
dass der Wille der Tibeter, ihre Identität zu behaupten,
lebendig ist wie eh und je, ja eher wächst. China sollte
daher einsehen, dass die bisherige Politik im Ergebnis
die Probleme eher verschärft hat und immer unlösbarer
macht, statt sie zu reduzieren oder gar zu lösen.

Da eine vernünftige Lösung mit einem Autono-
miemodell immer schwieriger zu werden droht, weil
aufseiten der Tibeter erst belastbares Vertrauen in die
Absichten Chinas aufgebaut werden muss, muss die chi-
nesische Politik dazu gebracht werden, sich auf eine Au-
tonomieregelung ernsthaft einzulassen. China hat offen-
bar eine gewaltige Angst davor, dass jeder Schritt in
Richtung Autonomie im Verlangen nach Unabhängigkeit
vom chinesischen Staat mündet und dass letztlich die In-
tegrität des Staates gefährdet wird. Aber genau diese
Entwicklung – ich glaube, darin sind wir uns alle einig –
provoziert der von China eingeschlagene Weg. Indem er
jedes Vertrauen zerstört, innerhalb Chinas die wichtigen
ethnischen Besonderheiten – Religion, Kultur und Spra-
che – einigermaßen bewahren zu können, zwingt man
die Tibeter geradezu in die Radikalität. Die chinesische
Führung meint offenbar, ihr gewaltiges Machtpotenzial
und eine erdrückende Mehrheit von Chinesen im Lande
würden mit dem Widerstand der Tibeter schon fertig
werden. Aber diese Rechnung wird sicherlich nicht auf-
gehen. Die FAZ hat in diesem Zusammenhang an das
recht treffende Wort des chinesischen Philosophen
Laotse erinnert: „Gewalt zerbricht an sich selbst.“ – Die-
ses weise Wort aus ihrer eigenen Geschichte sollte der
chinesischen Führung ernsthaft zu denken geben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


So etwas kann insgesamt aber nur mit den Tibetern
und nicht gegen sie oder über sie hinweg erfolgreich
sein. Dazu gehört zwingend – das wurde schon von vie-
len betont – die Einbindung des Dalai Lama und seiner
Anhänger. China sollte froh sein, dass der Dalai Lama
und ein Großteil seiner Anhänger heute noch bereit sind,
diesen Weg mitzugehen. Es wird aber auch berichtet,
dass die Stimmung unter den Tibetern zu kippen droht,
insbesondere bei den Jugendorganisationen. Wenn der
Dalai Lama seine Drohung vom 18. März tatsächlich
wahrmacht und sich zurückzieht, weil er die Gewalt
nicht mehr stoppen kann, dann droht eine unkontrollier-
bare, blutige Auseinandersetzung, die eigentlich nie-
mand, auch nicht die chinesische Seite, wollen kann.
Das Ergebnis einer solchen Entwicklung wäre im Übri-
gen, dass China in seinen Bemühungen um Ansehen und
politisches Gewicht um Jahrzehnte zurückgeworfen
würde. Das bliebe, so fürchte ich, auch nicht ohne Kon-
sequenzen im chinesischen Machtapparat. Es brächte die
Gefahr eines radikalen Wandels hin zu mehr Unter-
drückung und weg von den versprochenen Reformen mit
sich, und auch ein Wechsel im Führungspersonal wäre
dann nicht mehr auszuschließen.






(A) (C)



(B) (D)


Eduard Lintner
Unsere Reaktion sollte solche Gefahren ganz rational
einkalkulieren. Deshalb kann unsere Haltung eigentlich
nur sein, dass wir ganz selbstverständlich auf dem Recht
auf Protest und freie Meinungsäußerung bestehen, nicht
aber mit einem Boykott der Spiele reagieren. Wir sollten
im Gegenteil ganz bewusst die Chancen nutzen, die in
dem vertraglich verbrieften Recht liegen, dass im Rah-
men der Olympischen Spiele fast 30 000 akkreditierte
Journalisten aller denkbaren Medien und aus der ganzen
Welt sich im ganzen Land frei bewegen dürfen und ihre
Berichterstattung auch keinen Beschränkungen unter-
liegt – so jedenfalls die Zusagen des IOC. Ein Boykott
würde das Ende auch dieser recht attraktiven Chance be-
deuten und darf deshalb für uns, finde ich, nicht in Be-
tracht kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1615412600

Als letztem Redner in der Aktuellen Stunde erteile ich

dem Kollegen Gert Weisskirchen von der SPD-Fraktion
das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Gert Weisskirchen (SPD):
Rede ID: ID1615412700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn man sich mit China im Detail befasst, auf die Phi-
losophie – wie zum Beispiel im Tao Te King des Laotse –
und seine Tradition blickt, kann man sehr genau sehen,
dass das, was mit Gewalt zu tun hat – Sie haben es eben
zitiert –, an sich selbst zerbrechen wird. Das ist etwas,
was gegenwärtig im chinesischen Bewusstsein nicht prä-
sent ist. Aber in der chinesischen Politik ist präsent, dass
man das Gesicht wahren muss. Deshalb reagiert man in
bestimmten Situationen so hart, wie man es gegenwärtig
getan hat.

Natürlich ist für uns das Wichtigste – das ist uns ge-
rade an dem heutigen Tag präsent –, dass Menschen ein
Recht auf Rechte haben. Das ist in der Menschenrechts-
deklaration der Vereinten Nationen zusammengefasst.
Darauf können und dürfen wir nicht verzichten. Das gilt
universell, das gilt auch in der Volksrepublik China. Da-
her bin ich sehr dankbar, dass die Bundesregierung in
diesem Punkt so klar und deutlich sagt: Menschenrechte
sind für uns etwas, was in jedem Fall zu gelten hat.
Wenn wir das sagen, wissen wir aber auch, dass es Re-
gionen auf dieser Erde gibt, von denen wir wissen, dass
die Menschenrechte so, wie wir es wünschen, gegenwär-
tig nicht durchgesetzt werden können. Das gilt eben
auch für China.

Was wird Ende August oder im September die Bilanz
der Olympischen Spiele sein? Können die Olympischen
Spiele so etwas werden wie das, was von Beginn an un-
sere Hoffnung war? Können die Olympischen Spiele zu
einem wirklichen Wettbewerb von jungen Menschen
werden? Können die Olympischen Spiele zu einer Be-
gegnung werden, zu einer Begegnung des offenen Den-
kens und des Lernens voneinander? Können die Men-
schen erfahren, dass der eine genauso Recht hat wie der
andere, beide mit einer anderen Meinung in den Wett-
kampf gehen und trotzdem voneinander gelernt werden
kann? Oder müssen wir fürchten, dass nicht das gemein-
same Lernen, sondern die Angst vor dem, was in China
auch möglich ist, diese Olympischen Spiele prägen
wird? Ich wünschte mir, dass genau das, die Angst vor
der staatlichen Gewalt, die Olympischen Spiele nicht
prägen wird. Was wir tun können, müssen wir tun, um
das, was wir nicht wollen, zu verhindern.

Ich hoffe sehr, dass in Peking das, was hier debattiert
worden ist, verstanden wird. Es gibt ein paar Hinweise
darauf, dass es verstanden wird. Internationale Journalis-
ten werden gegenwärtig eingeladen – zu ihnen gehört ein
Journalist der Welt –, damit von den unterschiedlichen
Regionen ungeschminkte Bilder gezeigt werden. Ich
finde, das ist ein ermutigendes Zeichen. Wenn viele Tau-
sende Journalisten mehr in den nächsten Wochen und
Monaten nach China kommen werden, dann ist auch das
ein Zeichen dafür, dass die Entwicklung der Öffnung,
der Begegnung, des Ernstnehmens und Wahrnehmens
der Chancen für die Modernisierung in diesem Lande
– diese Entwicklung gibt es ebenfalls in China – am
Ende das Bild Chinas prägt – das wünschen wir – und
dass auf jeden Fall dafür gesorgt wird, dass die Ängste
vor der staatlichen Gewalt nicht real werden. Ich hoffe,
dass das in China verstanden wird.

Vielleicht kann der Hinweis, der heute vom Dalai
Lama in Tokio gegeben worden ist, auch in China ernst
genommen werden. Der Dalai Lama hat auf die Frage,
ob er an den Olympischen Spielen teilnehmen möchte,
geantwortet, er wünsche, an der Eröffnungszeremonie
teilnehmen zu können und die Olympischen Spiele be-
gleiten zu dürfen. Ich hoffe, dass das in China als ein
Angebot verstanden wird. Was hier gesagt worden ist, ist
richtig: Wenn es den Dalai Lama einmal nicht mehr gibt,
mit wem kann man den Dialog fortsetzen? Diesen Dia-
log hat es bei Deng Xiaoping gegeben. Er hat genau ge-
wusst, wie notwendig es ist, dass ein Dialog zwischen
China und Tibet geführt wird. Diese Chance sollte ge-
nutzt werden. Ich hoffe sehr, dass in Peking das Angebot
vom Dalai Lama ernst genommen wird und dass die
Konflikte und Probleme zwischen Tibet und China, die
deutlich sind – Modernisierung ist immer mit Konflikt
verbunden –, von denen, die jetzt die Chance haben,
China auf einen guten Weg zu bringen, genutzt werden.

Ich hoffe sehr, dass der Dalai Lama vom Auswärtigen
Ausschuss eingeladen wird, wenn er hier im Deutschen
Bundestag ist, damit wir mit ihm darüber debattieren
können, wie die Chance, dass China und Tibet einen ver-
nünftigen Ausgleich finden, genutzt werden kann. Ich
hoffe, dass das in Peking verstanden wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1615412800

Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Änderung des Dritten Buches Sozialgesetz-
buch – Verbesserung der Ausbildungschancen
förderungsbedürftiger junger Menschen

– Drucksache 16/8718 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich erteile als erstem Redner in der jetzt eröffneten
Aussprache das Wort dem Parlamentarischen Staats-
sekretär Klaus Brandner.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


K
Klaus Brandner (SPD):
Rede ID: ID1615412900


Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Wenn es eine gesellschaftspolitische Aufgabe gibt, die
vor allen anderen gelöst werden muss, dann ist es die,
für alle jungen Menschen eine qualifizierte Ausbildung
sicherzustellen. Nur so gewinnen wir die junge Genera-
tion für unsere Gesellschaft, nur so sichern wir den Ju-
gendlichen Teilhabe und die Möglichkeit, ihre Berufs-
und Lebenschancen aktiv wahrzunehmen.

In der vergangenen Woche hat die Bundesregierung
den Berufsbildungsbericht 2008 vorgelegt. Dabei waren
gute Entwicklungen zu vermelden: Der Ausbildungspakt
wirkt; im Jahre 2007 sind rund 625 900 Ausbildungs-
verträge neu abgeschlossen worden. Das ist die zweit-
höchste Zahl, die seit der Wiedervereinigung zu ver-
zeichnen ist; nur 1999 waren wir besser.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das, meine Damen und Herren, ist auch gut so. Gut ist
besonders, dass über 53 000 Betriebe neu als Ausbil-
dungsbetriebe gewonnen werden konnten. Das alles sind
gute Nachrichten, keine Frage; denn das Wichtigste, wo-
mit wir junge Leute ausstatten können, sind Zugänge zu
Bildung und Qualifikation, sind Chancen auf Ausbil-
dung und Arbeit.

Aber diese Erfolge reichen noch nicht aus, denn noch
immer ist es eine traurige Wahrheit, dass ausbildungs-
willigen und -fähigen jungen Leuten der Einstieg in die
duale Ausbildung nicht gelingt. Vor allem für diejenigen,
die schon seit einem oder zwei, manchmal seit drei Jah-
ren einen Ausbildungsplatz im dualen System suchen,
hat sich die Situation weiter zugespitzt,


(Willi Brase [SPD]: Sehr richtig!)


denn die Zahl der sogenannten Altbewerber ist erneut
gestiegen. Erstmals suchen jetzt mehr Alt- als Neube-
werber einen Ausbildungsplatz. Diese Entwicklung dür-
fen wir nicht tatenlos hinnehmen. Dort, wo Menschen
abgedrängt und vergessen werden, müssen wir konkret
handeln.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Jeder von Ihnen kann sich vor Augen führen, wie man
sich fühlt, wenn man über 100 Bewerbungen geschrie-
ben hat und nur Absagen erhält. Aufs Abstellgleis ge-
schoben, nicht gebraucht zu werden, das ist meines Er-
achtens die schlimmste Erfahrung für zu viele junge
Menschen in unserem Land. Wir wollen, dass diese jun-
gen Leute, die schon lange auf einen Ausbildungsplatz
warten, eine neue Chance im dualen System bekommen.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verfolgen wir
deshalb klare und einfache Ziele. Wir wollen denjenigen,
die schon seit mehreren Jahren einen Ausbildungsplatz
im dualen System suchen, neue Perspektiven geben, in-
dem wir ihnen zusätzliche Chancen auf dem Ausbil-
dungsmarkt eröffnen. Deswegen wollen wir, für drei
Jahre befristet, einen Ausbildungsbonus für förderungs-
bedürftige Altbewerber schaffen. Wir wollen Schulab-
gänger, denen der Schritt von der Schule in die Berufs-
ausbildung schwerer fällt, dabei gezielt unterstützen, wir
wollen ihnen gezielt Hilfen zuteil werden lassen. Deswe-
gen wollen wir zunächst befristet und modellhaft den Be-
rufseinstiegsbegleiter einführen. Außerdem wollen wir
da, wo es ausnahmsweise sinnvoll und wirklich wichtig
ist, eine zweite Chance geben und eine zweite Berufsaus-
bildung mit Berufsbeihilfe fördern.

Die Zeit zum Handeln ist dabei gut, denn die Wirt-
schaftsentwicklung in unserem Land ist nach wie vor po-
sitiv. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäf-
tigten steigt, die Zahl der arbeitslosen Menschen in
unserem Land nimmt ab. Diesen Schwung können wir
jetzt aufnehmen, und wir können ihn weiter verstärken.
Dabei wollen wir den Ausbildungsbonus befristen, weil
wir einen Impuls geben und den Jugendlichen jetzt hel-
fen wollen, ohne – das sei ganz deutlich gesagt – die
Wirtschaft grundsätzlich aus ihrer Verantwortung zu ent-
lassen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich erkenne ausdrücklich an, dass viele Unternehmen
und vor allem die mittelständischen Betriebe, besonders
die im Handwerk, große Anstrengungen unternehmen,
um Ausbildungsplätze zu schaffen.


(Beifall bei der SPD)


Aber ich sage auch – dies tue ich gemeinsam mit denje-
nigen Handwerkern und Mittelständlern, die häufig ge-
nug bis an die Grenze dessen gehen, was sie leisten kön-
nen –, dass das alles noch nicht ausreicht; denn wer
heute nicht ausbildet, sägt sich den Ast ab, auf dem er
morgen sitzen will.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Stärke ist es nicht zu
verstehen, dass Zigtausende junger Leute ohne Ausbil-
dungschance bleiben, weil zu viele Betriebe zwar vom
dualen System profitieren, sich aber noch nicht ausrei-






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Klaus Brandner
chend daran beteiligen. Deshalb richtet sich mein Appell
an die, die mehr tun können: Erfüllen Sie Ihre Pflicht,
bilden Sie aus! Sie handeln damit auch in Ihrem ureige-
nen Interesse.

Wir fördern unser bewährtes duales Ausbildungssys-
tem; denn wir wollen die betriebliche Ausbildung aus-
bauen. Deswegen setzen wir mit dem Ausbildungsbonus
ganz praxisnah an und zahlen ihn an Arbeitgeber, die in
ihrem Betrieb Altbewerber zusätzlich einstellen und aus-
bilden.

Arbeitgeber haben dann einen Anspruch auf den Aus-
bildungsbonus, wenn sie einen Altbewerber ausbilden,
der keinen Schulabschluss oder einen Hauptschul- oder
einen Sonderschulabschluss hat, oder wenn sie einen
Altbewerber ausbilden, der über einen mittleren Schul-
abschluss mit einer höchstens ausreichenden Note in
Deutsch oder Mathematik verfügt.


(Patrick Meinhardt [FDP]: Das sind viele!)


Auch für die zusätzliche Ausbildung eines lernbeein-
trächtigen oder sozial benachteiligten jungen Menschen,
der im Vorjahr oder früher die allgemeinbildende Schule
verlassen hat, erhält der Arbeitgeber zukünftig den Aus-
bildungsbonus. Darüber hinaus können Arbeitgeber den
Ausbildungsbonus unter bestimmten Bedingungen als
Ermessensleistung erhalten.

Mit den geplanten Förderkriterien vermeiden wir Mit-
nahmeeffekte, stellen aber gleichzeitig sicher, dass alle,
die eine besondere Förderung brauchen, auf jeden Fall
unterstützt werden. Wir wollen, dass die Förderung pla-
kativ und einfach ist. Deswegen beträgt der Bonus
4 000, 5 000 oder 6 000 Euro, je nach Höhe der für das
erste Ausbildungsjahr tariflich vereinbarten oder ortsüb-
lichen Ausbildungsvergütung. Für die Förderung mit
dem Ausbildungsbonus rechnen wir bis 2012 mit Ausga-
ben von rund 450 Millionen Euro.

Weitere 240 Millionen Euro geben wir bis zum Jahr
2014 dafür aus, junge Menschen durch Berufseinstiegs-
begleitung beim Übergang von der Schule in die Ausbil-
dung individuell zu unterstützen. Vorbilder hierfür sind
die vielen Modelle ehrenamtlicher Ausbildungspaten-
schaften von Verbänden, Vereinen, Gewerkschaften und
anderen Organisationen, die bisher schon sehr wertvolle
Arbeit geleistet haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Unser Ziel ist, mit der Qualifizierungsinitiative der
Bundesregierung bis zum Jahr 2010 100 000 zusätzliche
Ausbildungsplätze zu schaffen. Es geht um Menschen.
Jede bzw. jeder muss die Chance auf einen Einstieg in
das Arbeitsleben haben, die Chance, sich selbst zu be-
weisen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Das
ist ein Anspruch, für den wir uns stark machen.

Unser Ziel ist ehrgeizig – wir wissen es –, aber es ist
möglich, dieses Ziel zu erreichen, wenn alle mit ganzer
Kraft mithelfen. Mit diesem Gesetz kommen wir unse-
rem Ziel einen, wie ich finde, wichtigen Schritt näher.


(Andrea Nahles [SPD]: Jawohl!)

Ich bitte Sie alle um Mithilfe, damit möglichst viele
junge Menschen eine positive Zukunft und einen guten
Einstieg ins Arbeitsleben haben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1615413000

Das Wort hat der Kollege Jörg Rohde von der FDP-

Fraktion.


(Beifall des Abg. Patrick Meinhardt [FDP])



Jörg Rohde (FDP):
Rede ID: ID1615413100

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Herr Staatssekretär, das waren schöne Worte für
schwache Inhalte.


(Beifall des Abg. Patrick Meinhardt [FDP] – Widerspruch bei der SPD)


Die Große Koalition steht in dieser Disziplin der
Schröder-Regierung kaum nach. Der heute zur Debatte
stehende Ausbildungsbonus knüpft nahtlos an diese Tra-
dition an: Die Bundesregierung erkennt ein Problem und
gibt dann eine Antwort, die es nicht lösen wird:


(Patrick Meinhardt [FDP]: So ist es! – Andrea Nahles [SPD]: Es ist bitter, wenn bei der Regierung einmal etwas klappt!)


Ihr Gesetzentwurf beinhaltet erstens eine Definition
der Zielgruppe, nämlich die „förderungsbedürftigen
Auszubildenden“, und zweitens die Zahl der zu fördern-
den Jugendlichen. Schon hier unterläuft Ihnen von Rot-
Schwarz der erste Fehler. Sie fassen die Kriterien für die
Förderungsbedürftigkeit, die Sie eben vorgetragen ha-
ben, so weit, dass mehrere Hunderttausend Jugendliche
potenzielle Kandidaten für nur 100 000 zusätzliche Aus-
bildungsplätze sind.

Anstatt sich auf die wirklich schwierigen Fälle zu
konzentrieren und sich mit ehrgeizigen Zielen von ganz
unten langsam nach oben zu arbeiten, zählen Sie bereits
Schüler mit Realschulabschluss und einer Vier in Mathe-
matik zu den Problemfällen.


(Beifall bei der FDP – Katja Mast [SPD]: Oder in Deutsch! – Andrea Nahles [SPD]: Das ist nun mal die Realität! Beschäftigen Sie sich mal mit der Realität! – Zuruf von der FDP: Vollkommen daneben!)


Natürlich werden diese Jugendlichen schnell einen mit
Ihrem Ausbildungsbonus geförderten Ausbildungsplatz
bekommen.

Der DIHK schätzt, dass allein unter das Kriterium
„Realschulabschluss mit höchstens einer Vier in Deutsch
oder Mathe“ circa 40 000 bis 50 000 Jugendliche fallen.
Auch Jugendliche mit Realschulabschluss, die seit ei-
nem Jahr oder länger einen Ausbildungsplatz suchen,
werden von Ihnen bereits als förderungswürdig einge-
stuft. Darunter fallen derzeit über 300 000 Jugendliche.
Diese Aufzählung ließe sich anhand der anderen Krite-
rien fortsetzen. Die Förderbedürftigkeit ist einfach zu






(A) (C)



(B) (D)


Jörg Rohde
weit gefasst. Wir von der FDP sagen Ihnen: Sie schießen
weit über das Ziel hinaus.


(Beifall bei der FDP)


Im Endeffekt werden sich die Arbeitgeber die besten Ju-
gendlichen heraussuchen. Die Mitnahmeeffekte, die Sie
vermeiden wollen, werden eintreten, Herr Staatssekretär.
Die wirklichen Problemfälle bleiben chancenlos, weil
viel zu viele Ausbildungsplätze für Jugendliche geför-
dert werden, die auch ohne eine finanzielle Förderung in
eine Ausbildung zu vermitteln wären. Mit der jetzigen
Ausgestaltung der Förderkriterien laden Sie die ausbil-
denden Unternehmen geradezu dazu ein, sich unter den
eine Ausbildung suchenden Jugendlichen die Rosinen
herauszupicken. Gleichzeitig diskriminieren Sie Erstbe-
werber mit Hauptschulabschluss; denn ein ausbildender
Unternehmer wird künftig vorrangig einen seit längerem
suchenden Jugendlichen einstellen, weil er für dessen
Ausbildung einen Zuschuss bekommt. Damit erreichen
Sie das Gegenteil von dem Erwünschten.


(Andrea Nahles [SPD]: Was wollen Sie denn machen?)


Sie erschweren einem großen Teil der Haupt- und Real-
schüler den Einstieg in die Berufsausbildung. Frische
Abgänger von Haupt- und Realschulen haben dann einen
Nachteil gegenüber denen, die bereits seit längerer Zeit
nach einem Ausbildungsplatz suchen. Wollen Sie das
wirklich? – Das kann ich mir nicht vorstellen, meine Da-
men und Herren.

Sie machen auch den Fehler, eine Förderung auszu-
schließen, wenn der Auszubildende bereits eine Ein-
stiegsqualifizierung im selben Betrieb absolviert hat.


(Zuruf von der CDU/CSU: Stimmt nicht!)


Durch diese Regelung wird das sinnvolle Instrument der
Einstiegsqualifizierung unnötig geschwächt. Unterlassen
Sie das bitte im Interesse der Altbewerber.

Werte Kolleginnen und Kollegen der Großen Koali-
tion, ein weiteres Erfolgshemmnis in Ihrem Antrag ist
die vorgesehene Regelung, bereits nach der Hälfte der
Ausbildungszeit den gesamten Bonus auszuzahlen. Wir
wissen alle, dass gerade bei besonders förderbedürftigen
Auszubildenden die Abbrecherquote hoch ist. Hier muss
für die ausbildenden Betriebe ein Anreiz gesetzt werden,
die Azubis zum Durchhalten und zu einem Abschluss
der Ausbildung zu motivieren.


(Beifall bei der FDP)


Deshalb ist es ratsam, die letzte Tranche der Förderung
erst nach einer Abschlussprüfung auszuzahlen.

Auch die Finanzierung des Ausbildungsbonus sollte
noch einmal überdacht werden. Die Förderung allein aus
Mitteln der Bundesagentur für Arbeit zu bezahlen, kann
nicht der richtige Weg sein.


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Warum nicht?)


Mittel der Bundesagentur für Arbeit sind Beitragszahler-
mittel. Sie werden von den Erwerbstätigen aufgebracht
und dienen deren Absicherung. Die Unterstützung förde-
rungsbedürftiger Jugendlicher ist jedoch eine gesamtge-
sellschaftliche Aufgabe.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie sollte deshalb solidarisch aus Steuermitteln finan-
ziert werden.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1615413200

Herr Kollege Rohde, erlauben Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Müller?


Jörg Rohde (FDP):
Rede ID: ID1615413300

Sehr gern.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1615413400

Bitte schön, Herr Müller.


Stefan Müller (CSU):
Rede ID: ID1615413500

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Rohde,

würden Sie mir beipflichten, dass es in bestimmten Aus-
nahmefällen durchaus im Interesse des Beitragszahlers
sein kann, wenn man gerade junge Menschen frühzeitig
aus Beitragsmitteln fördert, um langfristig Arbeitslosig-
keit zu verhindern? Würden Sie mir beipflichten, dass
dies auch im Interesse der Beitragszahler wäre?


Jörg Rohde (FDP):
Rede ID: ID1615413600

Herr Müller, ich pflichte Ihnen bei, dass es im Inte-

resse der Beitragszahler sein kann. Wir müssen uns aber
darüber unterhalten, wie die Mittel am sinnvollsten ein-
gesetzt werden können. Es gibt bereits verschiedene ver-
sicherungsfremde Leistungen, die durch die Bundes-
agentur für Arbeit finanziert werden. Wir sollten diesen
nicht noch eine weitere hinzufügen. Wir sollten eher die
Gegenrichtung verfolgen, um eine reine Versicherung zu
bewahren. Darüber können wir aber sicher im Ausschuss
oder in Erlangen weiterdiskutieren.


(Beifall bei der FDP – Uwe Schummer [CDU/ CSU]: Eigentlich hat er Ja gesagt! – Andrea Nahles [SPD]: Das war aber schwach!)


Jede bürokratische Hürde wird zu weniger Akzeptanz
der Förderung und damit zu weniger Ausbildungsplätzen
führen. Daher lautet meine Bitte an die Große Koalition:
Beziehen Sie die IHK und die Arbeitgeber mit in die
Entwicklung der Verwaltungsanordnungen ein. Wir
müssen bürokratische Hürden möglichst vermeiden.


(Beifall bei der FDP)


Als behindertenpolitischer Sprecher der FDP-Bundes-
tagsfraktion möchte ich an dieser Stelle positiv heraus-
heben, dass für schwerbehinderte Jugendliche eine um
30 Prozent erhöhte Förderung vorgesehen ist. Ich be-
grüße ausdrücklich, dass mit dem Gesetzentwurf die be-
sonderen Schwierigkeiten behinderter Jugendlicher bei
der Integration in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt
anerkannt werden.






(A) (C)



(B) (D)


Jörg Rohde

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Andrea Nahles [SPD]: Hört! Hört!)


– Man muss auch einmal ein gutes Haar an einem Ent-
wurf lassen; wenigstens eines.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns ge-
meinsam die Anhörung und Beratung im Bundestags-
ausschuss für Arbeit und Soziales nutzen, um die Fehler
des vorliegenden Gesetzentwurfs zu korrigieren. Dass
der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Bundesverei-
nigung Deutscher Arbeitgeberverbände eine gemein-
same Stellungnahme zu diesem Gesetzentwurf abgege-
ben haben, ist der beste Beweis für die glasklaren
Fehlanreize des vorliegenden Entwurfs.


(Beifall bei der FDP)


Ich möchte zum Schluss nicht unerwähnt lassen, dass
wir mit der heutigen Debatte leider keinen Beitrag dazu
leisten, das eigentliche Problem, die fehlende Ausbil-
dungsreife, zu lösen. Mit dem Bonus sollen ausbildende
Unternehmen ermuntert werden, das nachzuholen, was
in den allermeisten Fällen in der Schule versäumt wurde.


(Katja Mast [SPD]: Richtig!)


Fakt ist: Zehntausende Jugendliche verlassen bei uns die
Schulen, ohne die nötigen Fähigkeiten für ein existenzsi-
cherndes Erwerbsleben erworben zu haben. Hier müssen
wir ansetzen.


(Beifall bei der FDP)


Vom Kleinkindalter an müssen vor allem Kinder mit
Sprach- und Lernschwierigkeiten besser gefördert wer-
den. Kindern und Jugendlichen muss Lust am Lernen
vermittelt werden. Mehr Praxisbezug in der Schule kann
dazu beitragen. Schule muss auch konkreter auf Ausbil-
dung und Beruf vorbereiten.


(Beifall bei der FDP)


Es kann nicht sein, dass Jugendliche am Ende ihrer schu-
lischen Ausbildung völlig orientierungslos im Hinblick
auf ihren beruflichen Werdegang sind. Deshalb muss der
Übergang von der Schule in die Ausbildung und den Be-
ruf besser unterstützt und begleitet werden.

Der heute zur Debatte stehende Ausbildungsbonus
soll vor allem den Jugendlichen helfen, bei denen Schule
und Elternhaus diese Aufgaben nicht zufriedenstellend
bewältigt haben. Das eigentliche Problem schlechter Be-
rufsvorbereitung löst er nicht. Bund, Länder und alle an-
deren Beteiligten, also auch wir hier im Hause, müssen
gemeinsam neue Strategien entwickeln. Dafür setzt sich
die FDP auf allen Ebenen ein.

Meine Damen und Herren, dieses Gesetz verfolgt
wirklich einen guten Zweck. Wir erkennen auch an, dass
etwas für die benachteiligten Jugendlichen getan werden
soll. Aber das muss zielgerichtet geschehen, und die
Maßnahmen müssen diejenigen, für die sie gedacht sind,
auch erreichen. Ich befürchte, dass das mit dem vorlie-
genden Gesetzentwurf nicht passieren wird. Es werden
sich Mitnahmeeffekte einstellen. Deswegen bitte ich ge-
rade Sie, meine Damen und Herren von der roten und
der schwarzen Fraktion: Bessern Sie im Interesse der
Betroffenen nach! Wenn Sie entsprechende Nachbesse-
rungen vorschlagen, können Sie vielleicht auch mit Un-
terstützung aus der FDP-Fraktion rechnen. Im Moment
kann ich das aber noch nicht avisieren.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP – Andrea Nahles [SPD]: Darauf arbeiten wir jahrelang hin, Herr Rohde! Das ist unser einziger Ehrgeiz!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1615413700

Das Wort hat der Kollege Franz Romer von der CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Franz Romer (CDU):
Rede ID: ID1615413800

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Die Lage am Arbeitsmarkt ist so gut
wie lange nicht mehr. Ich brauche die positiven Zahlen
hier nicht erneut zu verlesen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


Wir alle kennen sie und wissen um den Beitrag der Gro-
ßen Koalition.

In den vergangenen Jahren hat sich auch der Ausbil-
dungsmarkt insgesamt positiv entwickelt. Der Ausbil-
dungspakt hat Früchte getragen. Allerdings machen wir
uns um Teilbereiche der Berufsbildung Sorgen. Beson-
ders der Übergang von der Schule zum Beruf gestaltet
sich oft schwierig. Genau diese Probleme gehen wir jetzt
an.


(Andrea Nahles [SPD]: Richtig!)


Wir wissen, dass eine gute Bildung und Ausbildung
grundsätzlich das Risiko, im späteren Leben arbeitslos
zu werden, erheblich senken. Dies gilt sowohl für die
Hochschulbildung als auch für die berufliche Bildung.
Diese Tatsache ist nicht nur für die individuelle Entwick-
lung der jungen Menschen wichtig, sondern auch für die
gesamte Gesellschaft; denn gute Bildung trägt immer
auch zur Vermeidung der hohen Kosten bei, die durch
Arbeitslosigkeit entstehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Gut qualifizierte Menschen in unserem Land steigern die
Produktivität, zahlen Steuern, halten die Sozialsysteme
stabil. Sie haben eine Perspektive, gründen Familien, be-
kommen Kinder und sind für sich selbst verantwortlich.

Die Statistiken zeigen uns, dass beim Übergang von
der Schule in die Berufsausbildung ein erhebliches Defi-
zit besteht. Der Anteil der Jugendlichen, die auf der Su-
che nach einem Ausbildungsplatz sind und ihren Schul-
abschluss im Jahr zuvor oder früher gemacht haben, ist
in den letzten Jahren auf über 52 Prozent der Ausbil-
dungsplatzbewerber angestiegen. Diese Gruppe kennen
wir auch unter dem Begriff „Altbewerber“. Ihr Anteil
umfasst also inzwischen mehr als die Hälfte aller Bewer-
ber.






(A) (C)



(B) (D)


Franz Romer
Bei Gesprächen in meinem Wahlkreis erlebe ich oft,
dass Ausbildungsbetriebe hohe Anforderungen an ihre
Bewerber stellen, während zugleich viele Jugendliche
nur mit mittleren oder unterdurchschnittlichen Ergebnis-
sen die Schule verlassen.

Hier wollen wir nun anpacken, und darum unterstüt-
zen wir den Gesetzentwurf der Bundesregierung. Das
Ziel sind zusätzliche betriebliche Ausbildungsplätze für
Altbewerber. Hier ist ein Ausbildungsbonus in gestaffel-
ter Höhe bis 6 000 Euro der richtige Weg. Auch der An-
reiz zur Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze ist
richtig. Eine erfolgsabhängige Auszahlung der Bonus-
leistung in zwei Stufen halten wir für sinnvoll.

Natürlich kann man über die Bürokratiekosten strei-
ten. Wichtig ist, dass das Instrument wirksam ist und
gleichfalls ein Missbrauch ausgeschlossen ist. Wir ach-
ten darauf, dass durch den Ausbildungsbonus keine re-
gulären Ausbildungsplätze vernichtet werden


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie machen Sie das?)


oder nur noch geförderte Plätze entstehen. Der Gesetz-
entwurf trägt mit seinen Regelungen und Auszahlungs-
modalitäten dieser Problematik ausreichend Rechnung.

Durch den Ausbildungsbonus hat kein Neubewerber
schlechtere Chancen gegenüber Altbewerbern. Wir stel-
len sicher, dass nur für die Schaffung zusätzlicher
Plätze – ich betone: zusätzlicher Plätze – ein Bonus ge-
zahlt wird. Wir haben einen sehr großen Sockel an Alt-
bewerbern, die wir in Ausbildung bringen müssen. Bis
2010 sollen so 100 000 Jugendliche, die bisher weniger
Chancen hatten, einen besseren Zugang zum Ausbil-
dungsmarkt bekommen.

Wir unterstützen ausdrücklich die Initiative zur Be-
rufseinstiegsbegleitung aus dem Konzept „Jugend –
Ausbildung und Arbeit“. Viele Probleme beim Übergang
von der Schule in den Beruf resultieren aus fehlender
Unterstützung zu Beginn des Berufs- und Arbeitslebens.
Die Orientierung des Programms an ehrenamtlichen Pro-
jekten aus Verbänden und Vereinen finde ich sehr gut.
Aus meinem Wahlkreis und der Region Oberschwaben
insgesamt sind mir zahlreiche Projekte zur Berufsorien-
tierung und Berufseinstiegsbegleitung bekannt. So gibt
es in der IHK-Region Ulm allein 37 Modellschulen, die
im Bildungsnetzwerk Schule und Wirtschaft mitarbeiten,
und 21 direkte Partnerschaften von Schulen und Unter-
nehmen. Eine staatliche Unterstützung in diesem Be-
reich ist nötig und sehr zu begrüßen.

In diesem Zusammenhang halte ich die geplante Ver-
gabe des Ausbildungsbonus für Zweitausbildungen als
Ermessensleistung für sehr richtig. Wir können es uns
nicht leisten, dass motivierte Auszubildende wegen des
Abbruchs einer Ausbildung, die ihren Fähigkeiten und
Interessen vielleicht nicht entsprach, ihr Leben lang be-
nachteiligt sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Schaffen sie den Sprung in eine neue Ausbildung nicht,
muss hier im Einzelfall Unterstützung möglich sein.
Ich fasse zusammen: Der Ausbildungsbonus führt zu
besseren Chancen für Altbewerber. Berufswahlförde-
rung und Berufseinstiegsbegleitung schon in den Schu-
len helfen, Perspektiven und Chancen durch die richtige
Berufsausbildung zu finden. Die Unterstützung von
Zweitausbildungen hilft in Zukunft, den Anteil der Alt-
bewerber zusätzlich zu verringern.

Ich bedanke mich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1615413900

Das Wort hat die Kollegin Cornelia Hirsch von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])



Cornelia Hirsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1615414000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Brandner, ich stimme Ihnen zu, wenn Sie sagen:
Ausbildung heißt Zukunft. Aber mit Ihrem Gesetzent-
wurf haben viele junge Menschen auch weiterhin keine
Zukunft.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: So ist es!)


Die Linke hält den Entwurf aus drei Gründen für ein
schlechtes Gesetz: Erstens nehmen Sie darin eine völlig
falsche Einschätzung der Lage auf dem Ausbildungs-
markt vor. Zweitens nehmen Sie eine völlig falsche Ein-
schätzung Ihrer eigenen bisherigen Berufsbildungspoli-
tik vor und drittens – das ist die entscheidende Frage für
die Linke – stellt das Ganze keine Hilfe für die betroffe-
nen Jugendlichen dar.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Ich beginne mit dem ersten Punkt: Einschätzung der
Lage auf dem Ausbildungsmarkt. Da möchte ich gleich
den ersten Satz aus dem Gesetzentwurf zitieren:

Der Ausbildungsmarkt hat sich in den letzten Jah-
ren positiv entwickelt.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Das stimmt doch! – Andrea Nahles [SPD]: Realitätsverweigerung!)


Das ist falsch.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


Richtig müsste es heißen: Die Statistik ist in den letzten
Jahren immer gekonnter schöngerechnet worden, um die
Misere zu verschleiern.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Ihr habt Wahrnehmungsprobleme!)


– Liebe Kollegen, wenn Sie an dieser Stelle protestieren,
dann sollten Sie zur Kenntnis nehmen, dass im Berufs-
bildungsbericht 385 000 Jugendliche als sogenannte Alt-
bewerber ausgewiesen werden.


(Jörg Tauss [SPD]: Deshalb machen wir es ja!)







(A) (C)



(B) (D)


Cornelia Hirsch
Unter Altbewerber versteht man Jugendliche, die schon
mindestens ein Jahr auf der Suche nach einem Ausbil-
dungsplatz sind.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Denen wollen wir helfen!)


Da müssen Sie sich die Frage stellen, warum diese Ju-
gendlichen schon über ein Jahr auf der Suche nach ei-
nem Ausbildungsplatz sind. Diese Jugendlichen waren
zunächst in der Statistik enthalten; sie sind dann in ir-
gendwelche Übergangsmaßnahmen gesteckt worden und
galten als vermittelt. Jetzt aber tauchen sie wieder in der
Statistik auf. Deshalb sagt die Linke: Der erste Schritt zu
einer besseren Berufsbildungspolitik wäre eine realisti-
sche Statistik.


(Beifall bei der LINKEN)


Zweiter Punkt: Einschätzung Ihrer eigenen Politik.
Hier kann ich weiter aus dem Gesetzentwurf zitieren:

Die Bundesregierung hat mit den Partnern im Na-
tionalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenach-
wuchs

– für unsere Zuhörer sage ich: Das ist der Ausbildungs-
pakt –

viel erreicht.

Die Frage ist nur, für wen sie viel erreicht hat. Vermut-
lich hat sie viel erreicht, um ihr eigenes Gewissen zu be-
ruhigen. Ganz sicher hat sie auch viel für die Unterneh-
men erreicht, die sich Jahr für Jahr weiter aus ihrer
Verantwortung für die Bereitstellung von Ausbildungs-
plätzen stehlen.


(Jörg Tauss [SPD]: Was sagen Sie zu denen, die das nicht gemacht haben?)


Was sie aber nicht erreicht hat, ist, dass die Zukunfts-
chancen der Jugendlichen verbessert wurden. Aber ge-
nau das wäre das Entscheidende gewesen.

Versetzen Sie sich doch mal in die Lage der Betroffe-
nen: Erstes Beispiel. Mehmet aus Berlin hat vor zwei
Jahren sogar einen relativ guten Hauptschulabschluss
gemacht. Aber aufgrund des riesigen Bewerberandrangs
auf dem Ausbildungsmarkt hat er keine Ausbildungs-
stelle gefunden. Er hat angefangen zu jobben, aber er ist
nirgendwo richtig untergekommen. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich sage Ihnen: Wenn diesem jungen
Mann nicht geholfen wird, dann bleibt er ohne Berufs-
ausbildung und damit dauerhaft in der Erwerbslosigkeit
oder im Niedriglohnbereich.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ihr habt doch eine PDS-Koalition in Berlin!)


Zweites Beispiel. Katharina aus Düsseldorf hat letztes
Jahr einen guten Realschulabschluss gemacht. Sie hat
sich beworben, aber keine Ausbildungsstelle gefunden.
Der Andrang der Bewerber war zu groß. Sie ist dann
schließlich in eine Einstiegsqualifizierung gesteckt wor-
den, am Ende aber nicht übernommen worden. Da ist für
diese junge Frau eine Welt zusammengebrochen. Sie
weiß jetzt überhaupt nicht, wie sie mit dieser Situation
umgehen soll.
Drittes Beispiel. Kevin aus Dresden hat nur mit Ach
und Krach den Hauptschulabschluss geschafft. Was er
bräuchte, wären ein guter Ausbildungsplatz und zusätz-
lich ausbildungsbegleitende Hilfen.


(Katja Mast [SPD]: Machen wir doch! Steht doch alles im Gesetz!)


Was er gekriegt hat, waren Qualifizierungsmaßnahmen,
in denen er mittlerweile schon zwei Jahre steckt. Es wird
immer offensichtlicher, dass er aus diesen Warteschlei-
fen nicht herauskommt.

Das sind keine fiktiven Beispiele, sondern das ist
Realität.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Da bin ich mir nicht so sicher!)


Mehmet, Katharina und Kevin sind drei Beispiele von
385 000 Jugendlichen. 385 000-mal haben Sie auf diese
Weise Zukunft zerstört. Trotzdem behaupten Sie in dem
Gesetzentwurf, dass Sie viel erreicht haben. Das sollten
Sie den betroffenen Jugendlichen einmal direkt sagen.


(Andrea Nahles [SPD]: Meine Güte!)


Mein dritter Punkt ist die Frage: Hilft dieser Ausbil-
dungsbonus, den Sie mit diesem Gesetzentwurf einfüh-
ren wollen, den Betroffenen? Wenn man sich diesen Ge-
setzentwurf durchliest, dann kann man sagen, dass die
Antwort lautet: Nein, Sie helfen den Betroffenen damit
nicht.

Wir haben bei der Bundesregierung nachgefragt, ob
sichergestellt ist, dass es sich um zusätzliche Ausbil-
dungsplätze handelt, die gefördert werden. Sie musste in
ihrer Antwort zugeben, dass sogar Unternehmen, die in
diesem Jahr weniger ausbilden als im Vorjahr, eine För-
derung erhalten können.


(Andrea Nahles [SPD]: Wenn Sie zitieren, dann bitte korrekt! – Peter Rauen [CDU/ CSU]: Man kann der Rede nicht mehr zuhören!)


Wir haben weiterhin nachgefragt, ob die Zielgruppe
gut eingegrenzt ist. Auch hier wurde offensichtlich, dass
die Förderkriterien viel zu weit gefasst sind. Die
450 Millionen Euro, von denen Sie, Herr Brandner, eben
sprachen, kommen nicht bei den Betroffenen an, sondern
verpuffen weitgehend ohne Wirkung.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Es ist eine Zumutung, Ihnen zuzuhören!)


Wir haben schließlich nachgefragt, ob mit diesem
Ausbildungsbonus nicht eine Schmalspurausbildung ge-
fördert wird,


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Was haben Sie denn für eine Ausbildung?)


weil der Bonus gleich ist, unabhängig davon, ob es sich
um eine zwei- oder dreijährige Ausbildung handelt. Die
Bundesregierung hat deutlich gemacht, dass auch dieser
Effekt nicht ausgeschlossen werden kann.






(A) (C)



(B) (D)


Cornelia Hirsch

(Peter Rauen [CDU/CSU]: Noch nie was geleistet, noch nie jemanden ausgebildet, kennt die Realität nicht und redet solches Zeug!)


Deshalb sagt die Linke: Dieser Ausbildungsbonus ist
keine Antwort auf die Misere auf dem Ausbildungs-
markt. Für uns ist klar, wo der Hauptfehler liegt.


(Peter Rauen [CDU/CSU]: Haben Sie schon einmal jemanden ausgebildet?)


– Herr Kollege, vielleicht sollten Sie erst einmal zuhö-
ren. – Der Hauptfehler ist, dass dieser Ausbildungsbonus
hinkt.


(Zuruf von der SPD: Aber auch was hinkt, kann gehen!)


Er hinkt, weil er nur auf einem Bein der von uns gefor-
derten Umlagefinanzierung steht, nämlich auf dem Bein:
Wer ausbildet, soll unterstützt werden. Das zweite Bein,
das notwendig ist, um wirklich voranzukommen, wurde
aber vergessen. Dieses zweite Bein ist: Wer nicht ausbil-
det, soll zahlen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Der Anspruch der Linken ist ganz klar: Alle müssen
das Recht auf ein auswahlfähiges Angebot an Ausbil-
dungsplätzen haben. Weder der Ausbildungspakt noch
dieser Ausbildungsbonus sind der richtige Weg zu die-
sem Ziel. Die Linke fordert stattdessen eine gesetzliche
Ausbildungsplatzumlage.

Besten Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sie wissen, wo es langgeht! Das glaubt kein Mensch!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1615414100

Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer von

Bündnis 90/Die Grünen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615414200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich

ist es kaum vorstellbar: Trotz positiver konjunktureller
Signale, trotz anwachsenden Fachkräftemangels suchen
immer noch 385 000 junge Menschen länger als ein Jahr
einen Ausbildungsplatz, und das alles – Herr Brandner
hat darauf hingewiesen – mit steigender Tendenz.

Jetzt wird so getan, als handele es sich dabei um Ju-
gendliche, die einen schlechten oder gar keinen Schulab-
schluss haben. Das ist aber ausweislich des Berufsbil-
dungsberichts eindeutig falsch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Katja Mast [SPD]: Wer sagt denn das? – Jörg Tauss [SPD]: Um alle kümmern wir uns!)


Die Bundesregierung hat gesagt, 100 000 dieser Jugend-
lichen mithilfe des Ausbildungsbonus in eine betriebli-
che Ausbildung vermitteln zu wollen. Das Versprechen
ist: zusätzliche Ausbildungsplätze; benachteiligte Ju-
gendliche sollen davon profitieren. Wenn das so wäre,
wären wir dafür; das kann ich Ihnen versichern. Herr
Romer, Sie halten das Versprechen, das Sie gerade noch
einmal gegeben haben, leider nicht.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)


Dabei handelt es sich nicht um meine private Ein-
schätzung, Herr Brauksiepe. Ich befinde mich mit dieser
Auffassung in guter Gesellschaft: Die BDA – eine Orga-
nisation, die Sie gemeinhin anerkennen – weist in ihrer
Stellungnahme auf extreme Fehlanreize und erhebliche
Mitnahmeeffekte hin, und der Deutsche Gewerkschafts-
bund hat in seiner Stellungnahme unter Berufung auf das
Bundesinstitut für Berufsbildung – das ist eigentlich auch
eine angesehene Adresse – darauf hingewiesen, dass die
Kriterien für Zusätzlichkeit, die im Gesetzentwurf vorge-
sehen sind, dafür sorgen würden, dass bis auf den öffent-
lichen Dienst alle, aber auch wirklich alle Wirtschaftsbe-
reiche bei gleicher Zahl von Ausbildungsverträgen wie
2007 von dieser Förderung profitieren würden.

Damit aber noch nicht genug. Es kommt noch schlim-
mer: Nach der Regelung, die Sie in Ihrem Gesetzentwurf
vorsehen, wäre es sogar möglich, dass Unternehmen, die
weniger Ausbildungsverträge als 2007 abschließen, über
diesen Bonus gefördert werden. Ich bitte Sie: Was soll
das? Das ist doch Schmu.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist eine krasse Fehlsubventionierung. Diese Fehlsub-
ventionierung lehnen der DGB und die Wirtschaftsver-
bände ab. Auch die Länder kritisieren im Berufsbildungs-
bericht, dass vom Ausbildungsbonus benachteiligte
Jugendliche und leistungsschwache Bewerberinnen und
Bewerber eben nicht profitieren.


(Andrea Nahles [SPD]: Sie stellen das so dar, als ob das erwiesen ist! Das ist doch eine Frechheit! – Jörg Tauss [SPD]: Haben Sie jemals den Entwurf gelesen, Frau Kollegin?)


– Ich kenne ihn auswendig.

Es gibt gute Gründe für diese breite Ablehnung. Ich
will Ihnen einmal vortragen, was die Bundesregierung
auf unsere Anfrage geantwortet hat: Nach Aussage der
Bundesregierung werden mithilfe dieses Ausbildungsbo-
nus – das ist jetzt vollkommen klar – auch Abiturienten
gefördert.

Das sage nicht ich, das sagt die Bundesregierung. Ich
habe nichts gegen Abiturienten. An der einen oder ande-
ren Stelle kann es notwendig sein, sie zu unterstützen.
Dass aber ausgerechnet sie zu den Benachteiligten gehö-
ren, das können Sie nun wahrlich niemandem erklären.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1615414300

Frau Kollegin Pothmer, erlauben Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Tauss?


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615414400

Gerne.






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1615414500

Bitte, Herr Tauss.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1615414600

Liebe Frau Kollegin Pothmer, wir haben neulich

schon einmal miteinander diskutiert. Wollen Sie einem
Abiturenten oder einer Abiturientin, einer Realschülerin
oder einem Realschüler, der oder die möglicherweise
nicht das beste Abitur oder den besten Abschluss dieser
Welt abgelegt hat, nicht an die Uni kommt oder möchte
und zwei, drei Jahre vergeblich einen Ausbildungsplatz
sucht, ernsthaft sagen: „Weil ihr nicht Hauptschüler ge-
nug seid, kommt ihr nie in den Genuss entsprechender
Leistungen, die wir für genau diesen Personenkreis vor-
sehen“? Haben Sie zur Kenntnis genommen, dass für ge-
nau diesen Personenkreis in Verantwortung der Bun-
desagentur für Arbeit ein Ermessensspielraum eingefügt
worden ist?


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist hinterher wie beim BQJ! Die werden verdrängt!)


Das heißt, dass man an dieser Stelle definitiv ausschlie-
ßen kann, dass in irgendeiner Form missbräuchlich vom
Bonus Gebrauch gemacht wird. Haben Sie diesen Teil
des Gesetzentwurfes gelesen? Würden Sie ihn zur
Kenntnis nehmen? Was sagen Sie den jungen Menschen,
die davon betroffen sind?


(Beifall bei der SPD)


Ich könnte mich über diesen Zynismus fast aufregen.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Gute Frage!)



Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615414700

Ich kann Ihnen sagen, was aus unserer Sicht und übri-

gens auch aus Sicht der Wirtschaftsverbände, des DGB,
der Länder etc. das Problem ist.


(Jörg Tauss [SPD]: Nicht aller Länder!)


Nach den Kriterien, so wie Sie sie im Gesetzentwurf for-
muliert haben, sind ungefähr mehr als 250 000 junge
Menschen förderungsfähig. Es ist doch klar wie Kloß-
brühe:


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Jetzt kommt sie hier wieder mit den Wikingersprüchen!)


Es gibt nur 100 000 geförderte Plätze, und es wird zu ei-
ner Rosinenpickerei kommen. Das Nachsehen werden
die haben, die wirklich die Benachteiligten sind. Um die
müssen Sie sich kümmern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich danke Ihnen für Ihre Frage. Sie dürfen sich jetzt wie-
der setzen.


(Jörg Tauss [SPD]: Also doch Zynismus!)


Ich will Ihnen, Herr Tauss, sagen: Für eine wirklich
gezielte Förderung von Ausbildungsplätzen brauchen
wir den Ausbildungsplatzbonus gar nicht. Dafür haben
wir im SGB II längst die Möglichkeiten. Ich muss sagen:
Wir hatten unter § 16, sonstige Maßnahmen, die Mög-
lichkeiten. Er war ausdrücklich dafür da, im Einzelfall
gezielte Förderung vorzunehmen. Was machen Sie? Sie
streichen § 16 zusammen. Das Arbeitsministerium hat
dort einen Riegel vorgeschoben, und zwar mit dem Ar-
gument, es könne zu Missbrauch kommen. Da lacht
doch die Koralle! Bei diesem gezielten Instrument kom-
men Sie mit der Möglichkeit des Missbrauchs und kas-
sieren es ein. An dessen Stelle setzen Sie ein breit ange-
legtes Instrument, über das selbst diejenigen, die die
Nutznießer sein sollen, sagen, dass es Fehlanreizen Tür
und Tor öffnet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es ist nicht klug, ein Instrument, das gut, sinnvoll und
zielgerichtet ist, wegzuhauen und stattdessen sozusagen
mit der Gießkanne zu fördern. Ich finde, das ist eine zir-
kusreife Nummer. Damit werden Sie das Ausbildungs-
platzproblem nicht lösen. Den Berg der Altbewerber
werden Sie damit auch nicht abbauen.


(Beifall der Abg. Ute Koczy [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Lassen Sie mich jetzt noch etwas Grundsätzliches sa-
gen, das mir sehr am Herzen liegt. Ich finde, wir müssen
endlich damit aufhören, die Einlösung des Rechts auf
eine Berufsausbildung vom Aufstieg und Fall des Kon-
junkturbarometers abhängig zu machen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Es kann doch nicht richtig sein, dass Jugendliche, die ei-
nem geburtenstarken Jahrgang angehören, in einer kon-
junkturschwachen Phase auf dem Ausbildungsmarkt
Pech haben. Ich sage Ihnen: Mit dem, was wir in der
Vergangenheit, zum Teil auch gemeinsam, gemacht ha-
ben – Appelle an die Wirtschaft, Ausbildungsverbünde
und eine stärkere Subventionierung von Ausbildungs-
plätzen –, haben wir das Problem nicht gelöst. Dadurch
haben wir inzwischen fast 400 000 Jugendliche, die län-
ger als ein Jahr einen Ausbildungsplatz suchen. Wir wer-
den den Betroffenen damit nicht gerecht.


(Andrea Nahles [SPD]: Was wäre denn dann, wenn wir das alles nicht gemacht hätten, Frau Pothmer?)


Aber wir werden damit auch der Gesellschaft nicht ge-
recht, weil diese 400 000 Jugendlichen der Wirtschaft in
den nächsten Jahren als Arbeitskräfte fehlen werden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wie lautet Ihr Vorschlag?)


Lassen Sie uns überall dort, wo es uns nicht gelingt,
genügend betriebliche Ausbildungsplätze zu schaffen,
überbetriebliche Ausbildungsplätze ermöglichen. Wir
wollen das duale System nicht abschaffen, wir wollen es
aber ergänzen. Wir wollen diese 3,5 Milliarden Euro teu-
ren unnützen Warteschleifen in Ausbildungsmodule um-
gestalten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B)


Brigitte Pothmer
Auf diese Weise setzen wir das Geld vernünftig ein
und reden nicht nur über ein Recht auf Ausbildung, son-
dern ermöglichen dieses auch tatsächlich. Ich denke, das
sind wir den Jugendlichen schuldig.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1615414800

Das Wort hat die Kollegin Katja Mast von der SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1615414900

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Bildung, Ausbildung und lebenslanges Lernen sind die
beste Arbeitslosenversicherung.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb brauchen wir eine Arbeitsmarktpolitik mit Per-
spektive. Arbeitsmarktpolitik, die nur reagiert und nicht
vorsorgt, ist schlechte Arbeitsmarktpolitik.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Uwe Schummer [CDU/CSU])


Das Gesetz über den Ausbildungsbonus für Altbewer-
ber, das wir heute einbringen, ist ein Musterbeispiel für
vorsorgende Arbeitsmarktpolitik.


(Beifall bei der SPD)


Das Kernversprechen ist: Aufstieg und Zukunft durch
Bildung auch für die Jugendlichen, die sich schon über
ein Jahr lang erfolglos um einen Ausbildungsplatz be-
müht haben. Aufstieg durch Bildung: Das ist im Übrigen
auch das Kernversprechen sozialdemokratischer Politik.


(Beifall bei der SPD)


Viele meiner Kollegen haben im Hintergrund für die-
ses Gesetz gekämpft. Heute beginnt der parlamentari-
sche Prozess. Der Ausbildungsbonus ist Teil der Qualifi-
zierungsinitiative der Bundesregierung, die von der
Bundesbildungsministerin Annette Schavan im Januar
verkündet wurde. Heute gießt das Haus von Bundesar-
beitsminister Olaf Scholz einen finanziell anspruchsvol-
len Teil dieser Initiative in Gesetzesform.


(Beifall bei der SPD)


Wir sichern 100 000 jugendlichen Altbewerbern mit
Hauptschulabschluss oder schlechtem Realschulab-
schluss zu, sie auf ihrem Weg in den Beruf zu stärken.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir versprechen auch, die Unternehmen zu unterstützen,
die diesen Jugendlichen eine Chance geben, und zwar
mit Geld und – das ist wichtig – sozialpädagogischer Be-
gleitung über die gesamte Ausbildung hinweg.


(Andrea Nahles [SPD]: Das ist ein ganz wichtiger Punkt!)


Wir lassen weder Azubi noch Ausbildungsbetrieb allein.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU])


Wir haben für dieses Gesetz aus Erfahrungen vor Ort
gelernt. Nicht Theorie, sondern Praxis leitet diesen Ge-
setzentwurf – und im Übrigen auch ein Beschluss der
Arbeitnehmer und Arbeitgeber aus dem Verwaltungsrat
der Bundesagentur für Arbeit.

Bei mir zu Hause in Baden-Württemberg – genauer:
in Pforzheim und im Enzkreis – haben wir seit einigen
Jahren einen solchen Ausbildungsbonus für Schüler des
Berufsvorbereitungsjahres. Die junge Aishe ist ein gutes
Beispiel: Sie hat 2004 einen schlechten Hauptschulab-
schluss gemacht und ging dann in ein Berufsvorberei-
tungsjahr, weil sie keinen Ausbildungsplatz gefunden
hat. Nach diesem Jahr hat sie 80 erfolglose Bewerbun-
gen geschrieben. Der Durchbruch kam mit dem Bonus
von 7 500 Euro für drei Ausbildungsjahre und dem Ver-
sprechen, dass sie während der Ausbildung im Betrieb
von einem Jobcoach sozialpädagogisch begleitet wird.
Ein Pforzheimer Einzelhandelsunternehmen stellte sie
ein. Die Ausbildung verlief nicht ganz ohne Probleme,
aber durch Jobcoach und Nachhilfe ging es immer wei-
ter. Im November 2007 hatte sie ihren Abschluss als Ein-
zelhandelskauffrau nach dem zweiten Anlauf in der Ta-
sche. Seither arbeitet sie im Verkauf.


(Beifall bei der SPD)


Mit diesem Gesetz unterstützen wir aber nicht nur,
sondern wir formulieren auch eine klare Erwartungshal-
tung gegenüber der Wirtschaft. Wer den Fachkräfteman-
gel beklagt, der muss dafür sorgen, dass jeder Jugendli-
che in Deutschland ausgebildet wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir vonseiten der Bundespolitik nehmen zur Kennt-
nis, dass es Jugendliche gibt, denen man beim Eintritt
ins Berufsleben helfen muss, und zwar ohne zu fragen,
ob das Elternhaus, die Schule oder wer auch immer ver-
sagt hat. Uns geht es um die Bildungschancen der Ju-
gendlichen. Wir greifen also denjenigen Unternehmen
unter die Arme, die sich ihrer Verantwortung für die
Ausbildung Jugendlicher stellen, die sie ohne unsere
Hilfe aber nicht einstellen würden. Im Gegenzug erwar-
ten wir, dass wirklich jeder Jugendliche ausgebildet
wird. Nur so können wir den Fachkräftebedarf in Zu-
kunft decken.

Für mich als Sozialdemokratin ist der Weg der vorsor-
genden Arbeitsmarktpolitik absolut richtig.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Reden Sie doch auch einmal von der Großen Koalition, Frau Kollegin! Dann können wir auch mitklatschen!)


Damit entwickeln wir unsere zehnjährige sozialdemo-
kratische Regierungspolitik und unser Engagement für
Jugendliche weiter. Das ist ein guter Schritt für unsere
Jugend und unseren vorsorgenden Sozialstaat. Wir müs-
sen in B wie Bildung, in A wie Ausbildung und in LL
wie lebenslanges Lernen investieren. Das ist nicht nur
die beste Arbeitslosenversicherung; BALL ist auch eine

(D)







(A) (C)



(B) (D)


Katja Mast
runde Sache. Mit BALL bleibt unser Versprechen gültig:
Aufstieg und Zukunft durch Bildung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1615415000

Das Wort hat der Kollege Stefan Müller von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Stefan Müller (CSU):
Rede ID: ID1615415100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

sollten diese Debatte zum Anlass nehmen, zunächst ein-
mal unserer Freude darüber Ausdruck zu verleihen, dass
sich die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in
den ersten Monaten des Jahres 2008 fortgesetzt hat. Er-
freulich ist diese Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt
auch deshalb, weil sie auch auf die Zahl der Ausbil-
dungsplätze durchschlägt.


(Andrea Nahles [SPD]: Richtig!)


Wir freuen uns mit jedem jungen Menschen, der im letz-
ten Jahr eine Ausbildungsstelle gefunden oder in diesem
Jahr eine Zusage bekommen hat.

Gleichwohl darf das natürlich nicht darüber hin-
wegtäuschen, dass es in Deutschland immer noch
364 000 junge Menschen unter 25 Jahren gibt, die keine
Ausbildungsstelle bekommen haben und nach wie vor
arbeitslos sind. Es ist zwar ein erfreulicher Rückgang um
73 000 arbeitslose Jugendliche zu verzeichnen. Dennoch
sage ich: 364 000 junge Menschen unter 25 Jahren, die
keine Lehrstelle haben, sind 364 000 zu viel.


(Jörg Rohde [FDP]: Und keiner klatscht! Das ist aber schade! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es sind 385 000!)


Insofern kann uns die derzeitige Situation noch nicht zu-
friedenstellen. Es gibt immer noch junge Menschen, die,
nachdem sie die Schule verlassen haben, keine Lehr-
stelle finden. Es gibt immer noch junge Menschen, die
Hunderte von Bewerbungen schreiben, aber keine Lehr-
stelle finden.

Was es für junge Leute, die am Anfang ihres Berufs-
lebens stehen, bedeutet, das Gefühl zu haben, nicht ge-
braucht zu werden, kann sich, wie ich glaube, jeder von
uns sehr gut vorstellen; wir können uns in diese jungen
Leute hineinversetzen. Die Perspektivlosigkeit, die diese
jungen Menschen beschleicht, ist letztlich auch der
Nährboden für vieles andere. Die Politik muss daher
nicht nur aus arbeitsmarktpolitischen Gründen, sondern
auch aus gesellschaftspolitischen Gründen dazu beitra-
gen, dass junge Menschen eine Lehrstelle finden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Je länger die Lehrstellensuche dauert, umso schwieri-
ger wird es, tatsächlich den Einstieg ins Berufsleben zu
schaffen. Von daher ist der Inhalt dieses Gesetzentwurfes
auch in gesellschaftspolitischem Sinne zu verstehen.
Uns geht es darum, insbesondere denen eine Chance zu
geben, die sich in den vergangenen Jahren vergeblich be-
müht haben, eine Lehrstelle zu finden. Der Berufsausbil-
dungsbericht ist bereits angesprochen worden. Auch im
Jahr 2007 waren nahezu die Hälfte der Bewerber soge-
nannte Altbewerber, also Personen, die sich schon ver-
geblich bemüht hatten, eine Lehrstelle zu finden. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns nichts vorma-
chen: Bei diesen jungen Menschen ist der Aufschwung
noch nicht angekommen. Wir sind gefordert, dafür zu
sorgen, dass auch sie eine Chance auf dem Arbeitsmarkt
bekommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir schlagen vor, einen Ausbildungsbonus einzufüh-
ren. Wir wollen den Unternehmen einen finanziellen An-
reiz geben, damit sie zusätzliche Ausbildungsplätze
schaffen, insbesondere Altbewerber einstellen und vor
allem solchen jungen Menschen eine Chance geben, die
sozial benachteiligt oder als lernschwach einzustufen
sind. Die Betonung liegt auf zusätzlichen Arbeitsplätzen.
Freilich, Herr Kollege Rohde: Wenn für Unternehmen fi-
nanzielle Anreize geschaffen werden, müssen Mitnah-
meeffekte ausgeschlossen werden; das wird niemand
von uns bestreiten. Aber Sie können nicht bestreiten,
dass im Gesetzentwurf entsprechende Vorschläge enthal-
ten sind, um solche Mitnahmeeffekte auszuschließen.
Wir alle haben Briefe bekommen von IHK, DGB und
BDA, in denen Vorschläge geäußert wurden. Es gibt ein
geordnetes Verfahren hier im Parlament, bei dem wir uns
erst am Anfang befinden.


(Jörg Rohde [FDP]: Noch haben wir Hoffnung!)


Wir sollten die Vorschläge in aller Ruhe sorgfältig prü-
fen, wenn wir diesen Gesetzentwurf in den nächsten Wo-
chen im Plenum bzw. in den Ausschüssen beraten.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich werde Sie daran erinnern!)


– Gerne, Frau Pothmer.

Frau Pothmer, Sie haben gesagt, dass es besser wäre,
überbetriebliche Ausbildung zu fördern, anstatt einen
Ausbildungsbonus zu zahlen. Glauben Sie tatsächlich,
dass eine überbetriebliche Ausbildung besser ist als eine
Ausbildung in der Wirtschaft, in den Unternehmen?


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Das ist nicht besser! Aber es ist besser als die Warteschleife!)


Glauben Sie wirklich, dass überbetriebliche Ausbildung
günstiger wäre? Ich jedenfalls bestreite das. Ich glaube,
dass der Ansatz, den wir mit dem vorgeschlagenen Aus-
bildungsbonus verfolgen, vernünftig ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Letztlich geht es darum, jungen Menschen eine
Chance zu geben, am Erwerbsleben, am gesellschaftli-
chen Leben teilzuhaben. Deswegen bitte ich herzlich da-
rum, in den nächsten Wochen nicht in ordnungspoliti-
sche Debatten zu verfallen, sondern mitzuhelfen, dass






(A) (C)



(B) (D)


Stefan Müller (Erlangen)

junge Menschen eine Chance auf dem Arbeitsmarkt,
eine Zukunftsperspektive bekommen.

Die deutsche Volkswirtschaft ist auf gut ausgebildete
Fachkräfte angewiesen. Wir alle hören ständig, wie die
Unternehmen über den Fachkräftemangel klagen. Ich
glaube, dass er nicht so dramatisch ist, wie er manchmal
dargestellt wird. In manchen Bereichen, in der metall-
verarbeitenden Industrie beispielsweise, ist er allerdings
nicht von der Hand zu weisen. Von daher sind wir gefor-
dert, etwas zu tun, um den Fachkräftemangel zu behe-
ben. Dies ist aber nicht nur Aufgabe der Politik; es ist
auch und gerade Aufgabe der Wirtschaft, dafür zu sor-
gen, dass kein Fachkräftemangel entsteht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich habe kein Verständnis dafür, dass es in den vergange-
nen Jahren verhältnismäßig viele Unternehmen gegeben
hat, die nicht ausgebildet haben.


(Cornelia Hirsch [DIE LINKE]: Ja!)


Heute nicht ausbilden und morgen über einen Fachkräf-
temangel klagen, das geht nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Der beste Fachkräftenachwuchs ist immer noch der-
jenige, den man selber ausbildet.

Ich will die Gelegenheit nutzen, allen Unternehmen,
insbesondere allen kleinen und mittelständischen Unter-
nehmen, die in den letzten Jahren ausgebildet haben, zu
danken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Diese Unternehmen sind ihrer sozialen Verantwortung
gerecht geworden. Einzig und allein diese Unternehmen
sollen jetzt in den Genuss finanzieller Unterstützung
kommen, wenn sie bereit sind, zusätzliche Ausbildungs-
plätze zu schaffen.

Es gäbe noch viel zu sagen. Natürlich ist es Aufgabe
der Länder, dafür zu sorgen, dass junge Menschen, die
die Schule verlassen, als ausbildungsfähig gelten. Unser
gemeinsames Ziel muss aber sein, dass jeder, der die
Schule verlässt, ein Angebot bekommt: sei es ein Ar-
beitsplatz, sei es eine Trainingsmaßnahme, sei es eine
gemeinnützige Beschäftigung oder – am besten – einen
Ausbildungsplatz.

Ich glaube, dass wir mit dem, was wir hier vorlegen,
einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, dass junge
Menschen eine Chance auf dem Arbeitsmarkt bekom-
men. Ich bitte Sie, insbesondere die Oppositionsfraktio-
nen, herzlich um konstruktive Mitarbeit – im Interesse
der jungen Menschen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1615415200

Der nächste Redner ist Willi Brase von der SPD-Frak-

tion.

(Beifall bei der SPD – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Endlich mal wieder ein Westfale!)



Willi Brase (SPD):
Rede ID: ID1615415300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Gestatten Sie mir eine
kleine Bemerkung vorweg: Ich bin bei uns in der IHK
seit Jahrzehnten in der beruflichen Bildung aktiv. Nach-
dem ich mir manche Wortbeiträge hier angehört habe,
muss ich sagen, dass es noch einen großen Nachholbe-
darf hinsichtlich der inhaltlichen Klarheit gibt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich will auch deutlich sagen: Mir ist es lieber, dass wir
100 000 jungen Leuten zusätzlich eine Chance geben,
anstatt sie von anderen – auch hier im Parlament – in-
strumentalisieren zu lassen, um gegen unsere Politik zu
polemisieren.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ich halte die Berufseinstiegsbegleitung für einen ganz
wichtigen Schritt


(Andrea Nahles [SPD]: Absolut!)


und kann nur sagen: Es ist richtig, dass man Erkennt-
nisse aus der Praxis, die in vielen Regionen gewonnen
wurden – Stichwort: Ausbildungspate –, aufgenommen
hat. Wir wissen, dass wir einem Teil der jungen Men-
schen möglicherweise jemanden zur Seite stellen müs-
sen, damit der Weg von der Schule über die Ausbildung
weitergeht. Ich halte das für richtig und notwendig, bitte
aber darum, im weiteren Verfahren zu prüfen, ob wir die
Zuständigkeit ausschließlich bei der Bundesagentur für
Arbeit ansiedeln oder ob wir nicht an der einen oder an-
deren Stelle zulassen können, dass diejenigen, die das
schon jahrelang gut gemacht haben, die Chance haben,
dies in der Praxis umzusetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Ich will ein Projekt aus meiner Heimat anführen, das
eine immer größere Verbreitung findet und durch das ein
Weg aufgezeigt wird, wie wir junge Leute viel früher
und viel besser in Ausbildung bekommen. Mit dem Pro-
jekt „Regionales Haus der Berufsvorbereitung“ geben
wir jungen Leuten die Möglichkeit, während des Be-
suchs der zehnten Klasse 580 Stunden im Jahr für Prak-
tika zu nutzen, und zwar freitags nachmittags und sams-
tags morgens sowie in den sechs Wochen Ferien. Im
ersten Durchlauf garantieren wir 70 bis 80 Prozent der-
jenigen, die das durchhalten, dass sie einen Ausbildungs-
vertrag in der Tasche haben werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich freue mich, dass dieses Projekt mittlerweile auch in
Berlin-Neukölln und in anderen Regionen unseres Lan-
des aufgegriffen wird. Wir zeigen hiermit, dass Fördern
und Fordern der richtige Weg ist. Wir sagen den jungen
Leuten, dass wir sie ein Jahr lang fördern und sie, wenn
sie durchhalten, einen Ausbildungsplatz bekommen. Da-






(A) (C)



(B) (D)


Willi Brase
durch werden wir gerade die Chancen von Hauptschü-
lern wesentlich verbessern.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU])


Wir haben dieses Projekt initiiert, weil wir wissen,
dass ein Teil der jungen Leute Schwierigkeiten in der
Schule und manchmal auch im sozialen Umfeld hat. Uns
kommt es darauf an, dass das Zusammenspiel zwischen
Eltern, Lehrern, Schülern und Kammern als Beteiligte
und Weiterbildungsträger funktioniert und dass es hohe
Übergangsquoten gibt. Wir freuen uns, dass es gelingt,
mehr junge Leute und auch andere Regionen für dieses
Projekt zu begeistern. Nebenbei gesagt: Wir haben das
ohne Landes- und Bundesmittel organisiert. Man kann
zusammen mit der Wirtschaft und den Gewerkschaften
schon einiges tun.


(Beifall bei der SPD)


Ich will einen weiteren Punkt erwähnen, der in den
letzten Tagen in der Presse stand. Die IG Metall in Nord-
rhein-Westfalen hat zusammen mit dem Arbeitgeberver-
band Metall NRW einen Tarifvertrag zur Förderung der
Ausbildungsfähigkeit aufgelegt. Dieser hat zum Inhalt,
was wir mit der Einstiegsqualifizierung Jugendlicher vor
Jahren auf den Weg gebracht haben, nämlich dass junge
Leute ein Jahr lang im Betrieb sozusagen als Vorstufe
zur Ausbildung eingesetzt werden, dass sie an den Inhal-
ten teilhaben und dass sie finanziell vernünftig unter-
stützt werden. Der Grundgedanke wurde aufgenommen.
Es geht um die Einbeziehung in die betrieblichen Ar-
beitsprozesse mit sozialpädagogischer Begleitung. Das
ist nichts anderes als eine Unterstützung der Einstiegs-
qualifizierung, die wir hier gemeinsam beschlossen ha-
ben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: In BadenWürttemberg auch!)


Ich will einen weiteren Punkt erwähnen. Dass die Fo-
kussierung auf die betriebliche Struktur beim Übergang
von der Schule in den Betrieb bzw. von der Schule in die
Ausbildung richtig ist, sieht man daran, dass der Haupt-
ausschuss des Bundesinstituts für Berufsbildung im De-
zember beschlossen hat, gerade im Übergangsbereich
den Lernort Betrieb sowohl für die Berufsausbildungs-
vorbereitung als auch für die Berufsausbildung wesent-
lich stärker ins Zentrum der Qualifizierung zu rücken.
Das ist absolut notwendig und richtig.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Genau das tun wir mit dem, was der Bundesarbeits-
minister der schwarz-roten Koalition hier vorgelegt hat.

Lassen Sie mich noch einen Punkt erwähnen, der im-
mer wieder eine Rolle spielt und von dem ich glaube,
dass wir ihn noch stärker berücksichtigen sollten. Die
Vielfalt der Programme im Übergangsbereich – auf Lan-
desebene, teilweise auf Bundesebene und auch auf kom-
munaler Ebene, mit und ohne EU-Finanzierung bzw. mit
und ohne Finanzierung durch die Gebietskörperschaften –
ist immer noch groß. Es wäre sinnvoll, den Übergangs-
bereich neu zu ordnen, die Programmvielfalt nach dem
Grundsatz „Weniger ist mehr“ etwas zurückzufahren
und klarere Perspektiven der betrieblichen Anwendung
zu schaffen. Ich glaube, das wäre ein richtiger Schritt für
die jungen Menschen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Ich komme zum Schluss. Wir als Große Koalition ge-
hen davon aus, dass die Unternehmen ihr Angebot an be-
trieblichen Ausbildungsplätzen weiter erhöhen, wie wir
es 2007 erleben durften. Wir erwarten, dass dies auch
2008 der Fall sein wird. Der Bonus ist dann ein notwen-
diger Zusatz, um den Altbewerbern eine Chance zu ge-
ben. Lassen Sie uns den Gesetzentwurf in diesem Sinne
sachlich und vernünftig weiterberaten!

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1615415400

Das Wort als letzter Redner zu diesem Tagesord-

nungspunkt hat der Kollege Uwe Schummer von der
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1615415500

Meine Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Für einen jungen Menschen, der aus der
Schule entlassen wird, ist es verheerend, wenn die erste
Erfahrung darin besteht, dass er nicht gebraucht wird.
385 000 sogenannte Altbewerber, die vor mehr als zwölf
Monaten aus der Schule entlassen wurden, sind 385 000
zu viel. Deshalb müssen wir gemeinsam vermeiden, dass
Aussteiger produziert werden und Menschen von vorn-
herein keine Chance haben, in die Arbeitswelt hineinzu-
kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Der Arbeitsmarkt ist in den letzten beiden Jahren in
Bewegung geraten. Im Zweijahresvergleich ist die Zahl
der Arbeitslosen um 1,3 Millionen gesunken. Es gibt
40 Millionen Erwerbstätige. Das ist eine Rekordzahl in
der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Wir
haben auch den Ausbildungsbonus zum Thema gemacht.
Die Union hat sich schon 2003 – gemeinsam mit der
SPD – in dem Antrag „Reformen in der beruflichen Bil-
dung vorantreiben – Lehrstellenmangel bekämpfen“
vom 17. März 2003 mit diesem Thema befasst. Das
JUMP-Programm, für das 2003 bei einer Weitervermitt-
lungsquote von 30 Prozent 5,2 Milliarden Euro einge-
setzt wurden, haben wir sehr kritisch gesehen. Wir wol-
len dafür sorgen – das ist nach wie vor unsere klare
Aussage in der Großen Koalition –, dass so viele betrieb-
liche Arbeitsmarktinstrumente wie möglich und so viele
außerbetriebliche wie nötig eingesetzt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir wollen die Arbeitskosten senken. Dies haben wir
erreicht, indem wir den Beitrag zur Arbeitslosenver-






(A) (C)



(B) (D)


Uwe Schummer
sicherung von 6,4 Prozent auf 3,3 Prozent gesenkt ha-
ben. Die Agentur für Arbeit und die Wirtschaftsinstitute
rechnen uns vor, dass 1 Prozent weniger Lohnzusatzkos-
ten etwa 100 000 Beschäftigungsverhältnisse – davon
etwa 10 Prozent Ausbildungsplätze – schaffen.

Im Jahr 2005 gingen täglich 2 000 Arbeitsplätze ver-
loren. Derzeit werden täglich 1 400 zusätzliche Arbeits-
plätze geschaffen. Das ist die zentrale Kehrtwende, die
die Große Koalition gemeinsam bewirkt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Willi Brase [SPD])


Eine Entlastung bei den Arbeitskosten führt zu mehr Be-
schäftigung, und mehr Beschäftigung führt zu mehr
Ausbildung.

Der Berufsbildungsbericht zeigt, dass im letzten Aus-
bildungsjahr etwa 630 000 neue Ausbildungsverträge
geschlossen wurden. Mit einem Plus von mehr als
13 Prozent im Zweijahresvergleich ist das eine Rekord-
zahl seit der deutschen Wiedervereinigung. Wir müssen
uns darum bemühen, dass die Zahl der Schulabgänger
bis 29 Jahre ohne berufliche Qualifizierung, die von
2003 bis 2005 von 1,3 Millionen auf 1,57 Millionen ge-
stiegen ist – das ist die negative Botschaft des Berichts –,
wieder sinkt, um auch diesen jungen Menschen eine Per-
spektive zu bieten. Wir brauchen eine Verbesserung der
beruflichen Orientierung, um die Abbrecherquote zu
senken.

Durch die von uns gemeinsam seit zwei Jahren einge-
setzten Instrumente ist uns eine Verbesserung der Be-
rufsorientierung gelungen, sodass die Abbrecherquote
von knapp 24,7 Prozent im Berufsbildungsbericht 2001
auf 19,8 Prozent im aktuellen Berufsbildungsbericht ge-
senkt worden ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Auch das ist wichtig, damit die Zunahme der Dequalifi-
zierung und Perspektivlosigkeit reduziert wird.

Nur 3 000 der 90 000 Beschäftigten der Bundesagen-
tur für Arbeit sind derzeit in der Berufsberatung tätig.
Deshalb ist es wichtig, dass die Berufsbegleitung unter
anderem im Rahmen des Programms von Frau Schavan
zur Berufsorientierung, das im April startet, weiter aus-
gebaut wird. Ziel ist das, was Barbara Sommer in Nord-
rhein-Westfalen proklamiert hat: In jeder Schule muss
eine Stelle zur Berufsberatung und Berufsorientierung
angesiedelt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir wollen belohnen statt strafen. Es handelt sich da-
her nicht um eine Strafsteuer, sondern um einen Ausbil-
dungsbonus. Einstiegspraktika sind ein Instrument, das
wir im Rahmen des Ausbildungspaktes gemeinsam ver-
bessert haben, mit der Konsequenz, dass die Quote bei
der Weitervermittlung in eine betriebliche Qualifizie-
rung bei 75 Prozent liegt. Bei JUMP sind es 30 Prozent
und bei der Einstiegsqualifizierung Jugendlicher, EQJ,
75 Prozent. Das zeigt: Die betriebliche Qualifizierung ist
besser als die außerbetriebliche, also als die Schaffung
von Parallelstrukturen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es gibt natürlich einen Zielkonflikt. Wir wollen ein
einfaches und unbürokratisches Verfahren, wie es vom
Normenkontrollrat vorgeschlagen wird. Wir wollen aber
Mitnahmeeffekte verhindern. Hier müssen wir einen
Mittelweg finden. Ausschlaggebend ist aber letztendlich
nicht die Schönheit der Ordnungspolitik, die schnell in
der Ideologie endet, sondern, dass wir den Menschen
helfen. Das ist die Konsequenz. Ob es 100 000 oder
10 000 junge Menschen sind: Jeder Einzelne ist der
Mühe wert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1615415600

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/8718 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b sowie
die Zusatzpunkte 6 und 7 auf:

5 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Ers-
ten Gesetzes zur Änderung des Conterganstif-
tungsgesetzes

– Drucksache 16/8743 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Conterganstiftungsgesetzes

– Drucksache 16/8653 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD

Angemessene und zukunftsorientierte finan-
zielle Unterstützung der Contergangeschädig-
ten sicherstellen

– Drucksache 16/8754 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Birgitt Bender, Britta Haßelmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Für einen umfassenden Ansatz beim Umgang
mit den Folgen des Contergan-Medizinskan-
dals

– Drucksache 16/8748 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin der Kollege Ilse Falk von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.


Ilse Falk (CDU):
Rede ID: ID1615415700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

muss gestehen, dass mir die Debatte über den Entwurf
eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Conterganstif-
tungsgesetzes nicht leichtfällt. Dabei gibt es eigentlich
allen Anlass, zuversichtlich zu sein und sich zu freuen,
dass nach unserem Vorstoß, der darauf abzielt, die Ren-
ten für Contergangeschädigte zu verdoppeln und nicht
nur um 5 Prozent zu erhöhen, heute mit der ersten Le-
sung auch der erste Schritt zur Verwirklichung getan ist.
Ich bin dankbar, dass sich in den Koalitionsfraktionen
von Anfang an beide geschäftsführenden Vorstände
ebenso wie die Kolleginnen und Kollegen der Fachar-
beitsgruppen hinter diesen Wunsch gestellt haben. Ich
bin zuversichtlich, dass sich auch die Opposition dem
nicht verschließt.

Meine Nöte resultieren also nicht aus dem Inhalt des
vorgelegten Gesetzentwurfs. Es ist vielmehr die inten-
sive Befassung mit dem Thema Contergan rund um
diese Gesetzesänderung, die Begegnung mit den Betrof-
fenen und das Nachdenken über Schädigung und Verur-
sacher, über Opfer und Schuld, kurz: über die Menschen,
die mit schwersten Behinderungen auf die Welt gekom-
men sind, aber auch über diejenigen, die als Verursacher
gebrandmarkt sind.

Ich glaube, es ist schon unendlich schwer, mit einer
angeborenen Behinderung zu leben, deren Ursache man
nicht kennt. Aber was bedeutet es eigentlich, wenn ei-
nem diese „Gnade“ des Nichtwissens verwehrt bleibt,
wenn man Versäumnisse an konkreten Personen festma-
chen kann? Da ist der Staat mit dem damals unzurei-
chenden Zulassungsverfahren für neue Medikamente
noch relativ anonym. Was ist aber mit dem Unternehmer,
der mit dem Medikament Geld verdient hat und sich da-
mit auseinandersetzen muss, es nicht rechtzeitig vom
Markt genommen zu haben bzw. es überhaupt angeboten
zu haben in dem guten Glauben, dass es hilfreich sei und
Nöte lindere? Was ist mit der Mutter, die ja um die ver-
heerende Wirkung gar nicht wissen konnte und sich ganz
sicher dennoch mit dem Vorwurf „Hätte ich doch nicht …“
quält? Auch uns Politikern stellt sich bei diesem Thema
manche Frage: Wie aufmerksam verfolgen wir neue Ent-
wicklungen? Wie verantwortlich gehen wir mit mögli-
chen Risiken um? Sind wir auf der anderen Seite aber
auch bereit, uns die Grenzen des Machbaren einzugeste-
hen?

Die contergangeschädigten Menschen selbst standen
in den vergangenen Jahrzehnten nicht im Licht der öf-
fentlichen Aufmerksamkeit. Sehr unspektakulär und in
beneidenswerter Weise haben sie sich ihren Platz im Be-
rufs- und Privatleben mit großem eigenem Engagement
und Selbstbewusstsein erkämpft. Die überwiegende
Mehrheit der Geschädigten ist trotz der Behinderung er-
werbstätig. Erst das Erinnern an 50 Jahre Contergan
Ende letzten Jahres mit bewegenden Filmen, Interviews
und Reportagen hat uns vor Augen geführt, wie schwer
ihr tägliches Leben ist und dass es zunehmend schwerer
wird. Trotzdem war nicht Anklage dabei das vorherr-
schende Thema, sondern bewundernswerte Akzeptanz
des persönlichen Schicksals einerseits und selbstbewuss-
tes Einfordern von Dialog und Unterstützung bei der Be-
wältigung des schwerer werdenden Alltags andererseits.
Diese großartige Lebensleistung so vieler starker Frauen
und Männer hat mich tief beeindruckt und verdient ganz
sicher unser aller größte Anerkennung und Respekt.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])


Die Kehrseite des unermüdlichen Einsatzes macht
sich jetzt nach der jahrelangen Fehlbelastung von Wir-
belsäule, Gelenken und Muskulatur bemerkbar.
Schmerzhafte Spät- und Folgeschäden schränken die Le-
bensqualität der Betroffenen zusätzlich erheblich ein.
Auch psychische Folgeschäden wie depressive Erkran-
kungen treten aufgrund der Schmerzzustände und der
jahrelangen körperlichen Beeinträchtigungen verstärkt
zutage. Bei den erwerbstätigen Conterganopfern führt
dies oft zu Frühverrentungen mit erheblichen Einbußen
bei der Altersversorgung und der gesellschaftlichen Teil-
habe. Erschwerend für die persönliche Situation der
Conterganopfer kommt hinzu, dass mit ihnen selbst auch
ihre Familienangehörigen immer älter werden, auf deren
Hilfe und Unterstützung sie tagtäglich dringend ange-
wiesen sind. Mit zunehmendem Alter benötigen sie da-
her immer stärker außerhäusliche, kostenintensive Hilfe.

Es ist daher wichtig, diesen Spätfolgen der Behinde-
rung, die 1971 bei der Festlegung der Höhe der Entschä-
digungszahlungen so nicht vorhersehbar waren, durch
eine Neubewertung der Conterganrenten Rechnung zu
tragen. Die vorgeschlagene Verdoppelung ab 1. Juli be-
deutet für den Einzelnen je nach Grad der Behinderung
zwischen 242 und 1 090 Euro monatlich. So können wir
mit zusätzlichen 15 Millionen Euro jährlich ihre Lebens-
situation wenigstens in finanzieller Hinsicht ein wenig
verbessern und damit der Mitverantwortung des Staates
Rechnung tragen. Damit die auf der Grundlage des Stif-
tungsgesetzes gezahlten Leistungen den Betroffenen in






(A) (C)



(B) (D)


Ilse Falk
vollem Umfang und ungeschmälert zur Verfügung ste-
hen, wollen wir auch die bisher geltende Anrechnungs-
regelung auf die aus der gesetzlichen Rentenversiche-
rung gezahlten Renten aufheben. Bislang gilt für die
Renten die Anrechnungsfreiheit nur in Höhe des Betra-
ges, den der behinderte Mensch als Grundrente erhalten
würde, wenn er nach dem Bundesversorgungsgesetz ver-
sorgungsberechtigt wäre. Diese finanzielle Verbesserung
ist ein erster Schritt. Zu weitergehenden Überlegungen,
die als Antrag vorliegen, wird sich meine Kollege Antje
Blumenthal äußern.

Lassen Sie mich noch ein Wort zur Rolle der Firma
Grünenthal bzw. der Familie Wirtz sagen, die in all den
Jahren unendlich viele Anfeindungen ertragen musste
und noch ertragen muss. Ich kann und will mir nicht an-
maßen, zu bewerten, ob die Kommunikation mit den
Conterganopfern in der Vergangenheit immer klug war.
Ich weiß aber, dass inzwischen große Schritte aufeinan-
der zu getan werden, und freue mich deshalb sehr, dass
die Firmenleitung nunmehr definitiv beschlossen hat,
noch einmal einen – diesmal freiwilligen – Betrag in die
Stiftung einzubringen. Die Gespräche mit den Betroffe-
nen sind auf einem guten Weg, sodass sicher in Kürze
mit Ergebnissen zu rechnen ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


So schließe ich mit einem Dank an alle, die sich hier
engagieren und gute Antworten auf schwierige Fragen
suchen. Uns allen wünsche ich gute weitere Beratungen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1615415800

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ina Lenke von der

FDP-Fraktion.


Ina Lenke (FDP):
Rede ID: ID1615415900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Con-

terganskandal war einer der schwersten Medizin- und
Arzneimittelskandale der alten Bundesrepublik. Es war
der Skandal, der die Menschen kollektiv stark bewegte
und noch immer bewegt. Er bewegt die Menschen aus
Anteilnahme mit den Opfern. Er bewegt die Menschen
aber auch, weil es damals jeden hätte treffen können;
denn Contergan war rezeptfrei. Es wurde ab Ende der
50er-Jahre gezielt als das Beruhigungs- und Schlafmittel
für Schwangere empfohlen. Wie viele Frauen nahmen
ein anderes Schlafmittel, hätten aber jederzeit auch Con-
tergan nehmen können? Genau dies, dass viele Bürger
wissen: „Wir haben Glück gehabt; denn es hätte auch
uns treffen können“, macht den Conterganskandal auch
50 Jahre nach der Markteinführung immer noch zu ei-
nem Thema, das uns Menschen bewegt.

Der bemerkenswerte ZDF-Zweiteiler „Nur eine ein-
zige Tablette“ hat daher – Frau Falk hat es schon
gesagt – ein Millionenpublikum erreicht. Er ist von uns
allen sehr stark diskutiert worden. Es ist keine Übertrei-
bung, wenn ich sage, dass der Film auch die Politik
wachgerüttelt hat, auf diesem Gebiet noch einmal initia-
tiv zu werden.
Nach der Einführung von Contergan im Oktober 1957
kamen weltweit zehntausend Kinder mit zum Teil
schwersten gesundheitlichen Schädigungen zur Welt.
Viele Kinder, die bereits vor der Entbindung oder kurz
danach starben, kommen noch hinzu.

Vier Jahre später musste Contergan vom Markt ge-
nommen werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie
sind sicher mit mir einig: Diese Folgen haben die Repu-
blik verändert. Nicht nur das Schadenersatzrecht und das
Medizinhaftungsrecht, sondern auch die Zulassung von
Arzneimitteln wurden aufgrund dieses Skandals grund-
legend revidiert. Für mich sind die Contergangeschädig-
ten und ihre Eltern die Ersten, die vehement für die
Gleichstellung und die Teilhabe von Menschen mit
Behinderungen eingetreten sind. Der Kampf der Eltern
um ihr Kind und seine Rechte war steinig. Es war der
Kampf gegen ärztlichen Rat, gegen eine behinderten-
feindliche Gesellschaft und gegen die Firma Grünenthal.

Es war ein langer Weg von der gesellschaftlichen
Ausgrenzung hin zu gesellschaftlicher gleichberechtigter
Teilhabe. Gerade diese Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben bedarf auch der finanziellen Unterstützung. Die
Rente aus der Conterganstiftung – auch das hat Frau
Falk schon ausgeführt – wird den heutigen Belastungen
der Betroffenen einfach nicht mehr gerecht, da sie ledig-
lich zwischen 121 und 545 Euro monatlich beträgt.

Die hohe Selbstständigkeit der Conterganopfer, die
sie glücklicherweise erlangten oder für sich selbst auch
durchgesetzt haben, geht einher mit der starken Überlas-
tung des gesamten Körpers. Aufgrund der fortschreiten-
den gesundheitlichen Folgen können viele betroffene
Männer und Frauen heute nicht mehr berufstätig sein.
Die finanziellen Belastungen durch die Contergan-
schädigung steigen natürlich mit zunehmendem Alter, da
die körperlichen Einschränkungen zunehmen.

Die FDP begrüßt, dass die vorgesehene Renten-
steigerung von lediglich 5 Prozent vom Tisch ist und
dass die Conterganrenten jetzt verdoppelt werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dieser Schritt wird den steigenden Belastungen der
Betroffenen aufgrund ihrer Behinderung besser gerecht.

Ich habe den Eindruck, dass dies im Parlament un-
strittig ist. Wünschenswert ist es – das sage ich aus der
Opposition heraus –, die nächsten Schritte parlamenta-
risch gemeinsam zu gehen; denn die Betroffenen haben
nach meiner Überzeugung einen Anspruch darauf, dass
ein breiter politischer Konsens hergestellt wird. Über-
fraktionell sollten wir es schaffen, einen gemeinsamen
Antrag auf der Grundlage der vorgelegten Anträge zu
erarbeiten.

In beiden Anträgen fehlen aber Forderungen, die
nicht direkt mit dem Stiftungsgesetz zusammenhängen,
wohl aber für die Betroffenen von elementarer Bedeu-
tung sind. So schildern mir Betroffene, dass unter ande-
rem die medizinische Rehabilitation durch die Kranken-
kassen nicht ausreichend sei.






(A) (C)



(B) (D)


Ina Lenke
Meine Damen und Herren, liebe Kollegen und Kolle-
ginnen, ich erwarte, dass die parlamentarische
Anhörung, deren Termin schon feststeht, weitere
Gesichtspunkte aufzeigt, die wir würdigen und berück-
sichtigen müssen. Wenn all dies in einen gemeinsamen
Antrag mündete, wäre es ein weiteres gutes Zeichen für
die Betroffenen, die in besonderer Weise unserer mit-
menschlichen Solidarität bedürfen.


(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1615416000

Das Wort hat jetzt die Kollegin Christel Humme von

der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Christel Humme (SPD):
Rede ID: ID1615416100

Herr Präsident! Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen!

Wenn ich Sie gerade richtig verstanden habe, scheint es
heute doch wieder eine Sternstunde des Parlaments zu
werden, da wir uns alle offensichtlich einig darüber sind,
den Contergangeschädigten zu helfen und sie aktiv zu
unterstützen.


(Beifall bei der FDP)


Es wurde bereits gesagt, aber ich wiederhole es gerne:
Es ist immerhin ein halbes Jahrhundert her, dass der
Leidensweg der Frauen und Männer begann, um die es
heute geht. „Eine einzige Tablette“, dieser Titel eines
Films, der im letzten Jahr ausgestrahlt wurde – Frau
Falk, Sie haben ihn auch genannt –, sagt uns gleichzei-
tig, welche Ursache für diesen Leidensweg verantwort-
lich war: Ein Schlafmittel mit dem allen bekannten
Namen Contergan löste diese Katastrophe aus. Es war
ein rezeptfreies Mittel, das den schwangeren Frauen
ruhigen Schlaf in der Nacht versprach, letztlich aber zu
schlaflosen Nächten führte.

Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, dieses Mittel löste
in den 60er-Jahren in der Tat den größten Medizin-
skandal aus. Weltweit kamen 10 000 Kinder fehlgebildet
zur Welt; 2 700 Opfer überlebten. Diese Opfer haben
zusammen mit ihren Familien unter schwierigsten
persönlichen Bedingungen ihren Platz im Leben er-
kämpfen müssen. Dazu gehörten zehn Jahre lang ge-
führte juristische Auseinandersetzungen zwischen der
verantwortlichen Firma Grünenthal, die das Medikament
herstellte und vertrieb, und den betroffenen Familien.

Erst Ende 1972 setzte die SPD-geführte Bundes-
regierung mit der Errichtung der Stiftung „Hilfswerk für
behinderte Kinder“ den juristischen Auseinander-
setzungen ein Ende. Das Stiftungsvermögen wurde
damals aus 100 Millionen DM Bundesmitteln und aus
100 Millionen DM der Firma Grünenthal gespeist. Den
Conterganopfern wurde eine lebenslange Entschädi-
gungsrente gezahlt, deren Höhe sich aus der Schwere der
Behinderung ableitet. Leider wurde damals auch verein-
bart, dass weitere Ansprüche gegen das verantwortliche
Pharmaunternehmen rechtlich ausgeschlossen werden.
„Leider“ sage ich deshalb, weil die 200 Millionen DM
der Gründungsstiftung und weitere Aufstockungen durch
den Bund in das Vermögen um 220 Millionen DM
schnell, nämlich bereits 1997, aufgebraucht waren. Seit-
dem wurden die Renten allein aus dem Bundeshaushalt
gezahlt und in regelmäßigen Abständen erhöht. 2007
standen dafür 15 Millionen Euro zur Verfügung. Die
Renten der Conterganopfer betragen zurzeit bis zu
545 Euro. Für 2008 stand eine 5-prozentige Erhöhung
an, was einem Höchstbetrag von 27 Euro entspräche.

Der Film, den Sie und auch ich anfangs erwähnten,
hat uns alle etwas aufgerüttelt. Er hat meiner Ansicht
nach ein neues Bewusstsein in der Öffentlichkeit ge-
schaffen, denn seit seiner Ausstrahlung haben uns zahl-
reiche Zuschriften erreicht.

Die Vorsitzende der Conterganstiftung, Regina
Schmidt-Zadel, eine ehemalige Bundestagsabgeordnete,
hat uns auch im Ausschuss auf die neuen Problemlagen
der Contergangeschädigten aufmerksam gemacht. Wir
haben uns die Lebenssituation der Betroffenen daraufhin
etwas näher angesehen. Das hätten wir schon früher tun
können; das ist richtig, Frau Falk. Manchmal braucht es
aber kleine Anlässe, um sich zu bewegen.

Die Opfer sind heute um die 50 Jahre alt. Sie haben er-
hebliche körperliche Beeinträchtigungen und Schmerz-
zustände – das haben Sie ebenfalls beschrieben –, weil
sie Wirbelsäule, Gelenke und Muskulatur fehlbelasten
mussten. Oft hat dies erhebliche psychische Belastungen
zur Folge.

Bei Berufstätigen gibt es die Frühverrentung – auch
das haben Sie gesagt, Frau Falk – mit wesentlichen
finanziellen Einbußen und auch geringer gesellschaft-
licher Teilhabe. Conterganopfer sind auf Hilfe angewie-
sen. Diese Hilfe haben sie bisher in ihrer Familie gefun-
den. Da auch diese Familienmitglieder älter werden, sind
die Betroffenen immer mehr von außerhäuslicher Hilfe
abhängig.

Wir wollen gemeinsam das Leben der Contergange-
schädigten erleichtern. Deshalb wollen wir die Renten-
zahlungen ab dem 1. Juli 2008 verdoppeln. Ich danke
allen, die es ermöglicht haben, dass die zusätzlichen
Gelder schnell und unbürokratisch für die Contergan-
opfer zur Verfügung gestellt wurden. Damit können wir
das Leben der Betroffenen im Alltag – darum geht es –
deutlich verbessern.

Wir wollen natürlich noch ein bisschen mehr. Dafür
liegt heute zusätzlich ein Antrag der Koalitionsfraktio-
nen vor. Frau Lenke, ich greife Ihren Vorschlag gerne
auf, zu diesem Thema einen gemeinsamen Antrag mit
gemeinsamen Zielen zu entwickeln, da es ein guter Vor-
schlag ist. Denn das Thema, das wir heute besprechen,
ist nicht dazu geeignet, eine parlamentarische
Auseinandersetzung zu führen. Deshalb hoffe ich, dass
es uns gelingt, an dieser Stelle gemeinsam zu arbeiten.

Wir haben noch viele Probleme zu lösen. Wer ver-
steht, dass Contergangeschädigte zum Beispiel keine
Parkerlaubnis für einen Behindertenparkplatz bekom-
men? Dafür brauchen wir schnell eine Lösung. Es geht
manchmal um ganz kleine Dinge, die wir ganz schnell
gesetzlich lösen können.






(A) (C)



(B) (D)


Christel Humme
Wir wollen aber auch mehr Geld für die Stiftung. Hier
erwarten wir natürlich einen wesentlichen Beitrag auch
der Firma Grünenthal, auch wenn sie, wie ich das vorhin
beschrieben habe, rechtlich nicht dazu verpflichtet ist.
Eine moralische Verpflichtung besteht nach wie vor. Das
ist meine feste Überzeugung.


(Beifall im ganzen Hause)


Es gibt Gespräche mit der Unternehmensleitung, die uns
hoffen lassen, dass wir für alle Beteiligten zu einer guten
Lösung kommen werden.

Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, ich bin stolz da-
rauf, dass es mit dem Koalitionspartner so schnell gelun-
gen ist, eine konstruktive Lösung für die Contergange-
schädigten zu finden. Der anfangs erwähnte Film hat die
öffentliche Solidarität für die Contergangeschädigten zu-
sätzlich gestärkt. Wir im Parlament haben es geschafft,
diese öffentliche Solidarität sichtbar zu machen. Darum
geht es uns bei der Verdopplung der Renten. Ich danke
allen Beteiligten dafür.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1615416200

Das Wort hat der Kollege Ilja Seifert von der Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1615416300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für mich

selbst ist es emotional sehr bewegend, dass wir in dieser
Debatte auf einem guten Weg sind, eine gemeinsame
Entschließung des gesamten Parlaments zustande zu
bringen. Frau Lenke, ich danke Ihnen für den Vorschlag.
Ich denke, dass auch die Kolleginnen und Kollegen der
Großen Koalition mitmachen werden. Wir werden das
auf jeden Fall tun. Wenn Menschen, die seit einem hal-
ben Jahrhundert mit ihren schweren Behinderungen le-
ben, eine Verdopplung des bestehenden Nachteilaus-
gleichs erwarten können: Wer von uns sollte dagegen
sein? Selbstverständlich ist das richtig. Wenn wir uns
dazu aufraffen können, dies als einen ersten Schritt auf
einem längeren Weg zu begreifen, auf dem das Prinzip
des Nachteilausgleichs tatsächlich so ausgebaut wird,
wie es erforderlich ist, dann sind wir auf einem guten
Weg. Dann freue ich mich über die Gemeinsamkeit hier
in diesem Hause, die auch von weiten Teilen der Bevöl-
kerung getragen wird.

Dennoch erlauben Sie mir ein paar Bemerkungen, wie
es weitergehen muss. So sehr ich die Kollegin Schmidt-
Zadel und die Conterganstiftung schätze: Wir müssen
mit den Betroffenen reden.


(Christel Humme [SPD]: Tun wir doch!)


Wir müssen die Betroffenen reden lassen. Sie haben ihre
Selbsthilfeorganisation. Ich weiß auch, dass es da das
eine oder andere Hickhack gibt. Wenn wir aber nicht
auch einmal hier im Parlament jemanden von ihnen re-
den lassen – –


(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Haben wir gemacht, Herr Seifert!)


– Ich sage: von diesem Tisch aus, nicht im Ausschuss. –
Das müssen wir uns einfach einmal antun. Ich finde, das
wäre wichtig, damit auch wir das Signal geben, dass wir
nicht über Leute reden, sondern dass wir mit ihnen reden
und uns ihre Vorschläge anhören. Dann werden wir auch
erfahren, welche Dinge am wichtigsten sind. Ist der
Parkausweis das Wichtigste, oder sind es vielleicht an-
dere Dinge, die wir hier auf den Weg bringen müssen
und die gestaltet werden müssen? Ich erlaube mir, diesen
Vorschlag einzubringen.

Wenn wir tatsächlich das, was bisher alle gesagt ha-
ben, ernst meinen, nämlich dass seinerzeit viele Seiten
versagt haben, dann müssen wir im Verlauf dieser Ver-
handlungen auch eine deutliche Entschuldigung dafür
aussprechen, dass die Politik versagt hat. Die Firma hat
versagt, aber auch die Politik, die viel zu spät eingegrif-
fen hat, hat versagt. Auch die Justiz hat versagt. Sie ha-
ben es gesagt, die Justiz hat seinerzeit alles andere als
eine gute Figur gemacht. Was dann am Ende als Kom-
promiss herauskam, ist alles andere als befriedigend.
Wir müssen jetzt, 50 Jahre später, diesen Fehler auch
eingestehen. Wir können nicht für die Justiz und für die
Firma reden, aber wir können sie auffordern, Ähnliches
zu tun, um auf diesem Weg den weiteren Nachteilaus-
gleich voranzubringen, und zwar mit der klaren Ansage,
dass er nicht mit anderen Leistungen verrechnet wird.

Wie wäre es zum Beispiel mit einer Maßnahme, dass
diejenigen, die aufgrund ihrer jetzt nicht mehr bestehen-
den Arbeitsfähigkeit frühzeitig in Rente gehen müssen,
jetzt eine Rente in der Höhe bekommen, die der ent-
spricht, die sie erhalten hätten, wenn sie bis zum Eintritt
in das Rentenalter weitergearbeitet hätten? Warum wol-
len wir nicht einmal einen solchen Schritt gehen? Hier
geht es um mehr als um 15 Millionen Euro, das ist mir
schon bewusst. Es geht aber um Gerechtigkeit gegen-
über den Menschen, die ihre Situation nicht selbst verän-
dern können. Das ist das wirkliche System des Nachteil-
ausgleichs. Darum muss es wirklich gehen. Es geht nicht
um eine milde Gabe, die wir großzügig austeilen. Ich
finde, das sind Dinge, die wir uns auf die Fahne schrei-
ben müssen.

Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung zu den Men-
schen, die damals in der DDR gelebt haben und die die
Tabletten geschickt bekamen. Drei ehemalige DDR-Bür-
gerinnen und -Bürger sind als Contergan-Opfer aner-
kannt worden und erhalten die entsprechende Rente. Es
leben auf dem Gebiet der ehemaligen DDR aber wesent-
lich mehr Menschen – das sieht man ihnen an –, die
ebenfalls durch Contergan geschädigt sind. Ich denke,
wir sollten auch sie noch einmal auffordern, erneut An-
träge zu stellen, damit sie in diesen Nachteilsausgleich
einbezogen werden können. Ich denke, das ist mehr als
recht und billig.

Ich will Ihnen noch einmal ausdrücklich sagen: Die
Linke ist sehr einverstanden damit, dass jetzt in einem






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Ilja Seifert
ersten Schritt die Renten um 100 Prozent erhöht werden,
statt um diese eher lächerlichen 5 Prozent, die zunächst
vorgeschlagen worden waren. Wir wollen aber, dass dies
nur als ein erster Schritt auf einer größeren Treppe von
Maßnahmen begriffen wird. In Zukunft soll es auch
nicht mehr passieren, dass erst von außen bei uns über
ein Kunstereignis die Betroffenheit geweckt werden
muss, damit wir die entsprechenden Schritte gehen.

Die Betroffenen und ihre Selbsthilfeorganisationen
haben uns ja immerhin seit Jahren gesagt, dass die Mittel
nicht ausreichen. Eine Anfrage der Linken, die ein Jahr
vor Ausstrahlung des Films gestellt wurde, hat auch
nicht bewirkt, dass irgendjemand hier im Hause oder in
der Regierung auf den Gedanken gekommen wäre, wir
müssten etwas tun. Jetzt sind wir endlich aufgerüttelt
worden. Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam gehen.
Wir dürfen uns in dieser Frage nicht gegeneinander aus-
spielen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1615416400

Das Wort hat der Kollege Markus Kurth von

Bündnis 90/Die Grünen.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615416500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Conterganarzneimittelskandal zu Beginn der 60er-Jahre
des vergangenen Jahrhunderts stellt, auch aus heutiger
Sicht, eine historische Zäsur in der Geschichte der Bun-
desrepublik Deutschland dar. Der damals die deutsche
Gesellschaft beherrschende, beinahe kindlich-naive
Fortschrittsglaube wurde massiv erschüttert. Eine ähn-
lich dramatische Infragestellung der unbegrenzten, na-
turwissenschaftlich begründeten Beherrschbarkeit der
Welt sollte sich erst ein Vierteljahrhundert später mit der
Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ereignen.

Das damalige öffentliche Entsetzen war nicht nur we-
gen des epidemieartigen Auftretens von Fehlbildungen
bei Neugeborenen und der neuen Bilder so groß. Auch
wegen des hinhaltenden, die Aufklärung verschleppen-
den Verhaltens der Firma Grünenthal war die emotionale
Anteilnahme vieler Menschen sehr viel stärker als bei
anderen Schadensereignissen. Schließlich trug auch die
vermutete Größenordnung – man befürchtete zunächst
bis zu einer halben Million betroffener Menschen – dazu
bei, dass die politische Aufarbeitung des Contergan-
medizinskandals sogar den Weg in die Regierungserklä-
rung Willy Brandts im Jahr 1969 fand, in der dieser den
Geschädigten neue Chancen versprach und die Unter-
stützung der Bundesregierung in Aussicht stellte.

Angesichts der damaligen öffentlichen Resonanz
muss allerdings verwundern, welch geringe, ja klägliche
Entschädigungsleistung den Opfern des Contergan-
skandals zugesprochen wurde und wird. Ein Blick ins
Ausland und ein Vergleich mit den etwa in Großbritan-
nien gezahlten Entschädigungen zeigt dies überdeutlich
und lässt sogar, auch wenn wir die Initiative der Fraktio-
nen von CDU/CSU und SPD begrüßen – ich erwähne
das nachher noch einmal –, die Verdopplung in einem
anderen Licht erscheinen.

Angesichts der vielfältigen Teilhabeeinschränkungen
und der großen, auch beeindruckenden individuellen
Kompensationsleistungen der Contergangeschädigten ist
bereits die bisher geleistete Rente von monatlich maxi-
mal 545 Euro mehr als bescheiden gewesen. Dies gilt
umso mehr für die Zukunft. Meine Vorredner und Vor-
rednerinnen haben hier ja auch ausgeführt, dass jetzt
nach einer Zeit des beeindruckenden individuellen Aus-
gleichs natürlich von vielen Contergangeschädigten der
Preis für die vielen körperlichen Anstrengungen, die sie
sich selbst auferlegt haben, um ihre Einschränkungen
auszugleichen, zu zahlen ist: Überbeanspruchungen des
Muskel- und Stützapparats, der Gelenke, Sehnen und der
Wirbelsäule fordern ihren Tribut.

Diese Entwicklung und die damit verbundenen He-
rausforderungen waren zu der Zeit, als der zivilrechtli-
che Vergleich zwischen der Firma Grünenthal und den
Geschädigten ausgehandelt wurde, nicht absehbar gewe-
sen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Im Vordergrund stand ja damals angesichts eines sich
hinziehenden Prozesses die Bestrebung, einigermaßen
zeitnah und nicht erst nach Jahren überhaupt eine Ent-
schädigung zu erhalten.

Heute, knapp 40 Jahre nach der Errichtung der Con-
terganstiftung, wissen wir, dass die damalige Regelung
nicht annähernd den heute üblichen Standards von Ent-
schädigungsregelungen entspricht und die Geschädigten
– wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass wir
das vernachlässigt haben – schon bislang übermäßig be-
nachteiligt hat. Insoweit ist die Initiative zur Verdoppe-
lung der Conterganrenten ein erster Schritt, den wir
begrüßen. Ich sage ebenso wie viele Vorredner: Hinzu-
kommen muss eine nennenswerte finanzielle Beteili-
gung der Firma Grünenthal.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Diese ist nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Ich
meine auch, dass man die näheren Umstände des damali-
gen Vergleichs noch einmal genau überprüfen sollte.
Diese historisch einmaligen Umstände müssen auch ju-
ristisch in einem neuen Licht betrachtet werden.

Es ist aber auch der Bund gefordert, der mit dem Con-
terganstiftungsgesetz die Gewährleistung der Haftung
übernommen hat. Eine sachgerechte, den modernen An-
forderungen an eine Entschädigung gerecht werdende
Regelung erfordert eine individuelle Bestandsaufnahme
des Schadens und dann eine Schadensbemessung nach
dem individuellen Nachteil, der erlitten wurde. Das wäre
systematisch und individuell eine sinnvolle Form des
Nachteilsausgleichs. Wenn sich die beiden großen Frak-
tionen hier im Hause dazu entscheiden könnten, diese
Überlegungen in ihren Antrag mit einfließen zu lassen,
dann könnte ein fraktionsübergreifender Antrag im gan-
zen Hause möglich gemacht werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(B) (D)


Markus Kurth
Ich will auf eine Forderung im Antrag von Bünd-
nis 90/Die Grünen hinweisen. Die vorkommenden Fehl-
bildungen der Gliedmaßen sind außerordentlich selten
und häufig mit besonderen medizinischen Komplikatio-
nen verbunden. Die Zahl der Spezialisten unter den Me-
dizinern, die zur Verfügung stehen, wird immer geringer.
Sie sind über die ganze Welt verstreut. Es wäre außer-
ordentlich sinnvoll und vernünftig, wenn ein europäi-
sches Zentrum, das die Kompetenzen bündelt und
Informationen über diese besonderen Formen der Glied-
maßenschädigung sammelt, errichtet würde und die
Bundesrepublik Deutschland auf europäischer Ebene
eine entsprechende Initiative starten würde. Auch da-
rüber sollten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
den Koalitionsfraktionen, nachdenken. Wir sollten den
Contergangeschädigten zumindest für die Zukunft einen
Teil der Bewegungsfreiheit und des Maßes an gesell-
schaftlicher Teilhabe eröffnen, das wir für uns selber
ganz selbstverständlich in Anspruch nehmen dürfen.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1615416600

Das Wort hat die Kollegin Antje Blumenthal von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Antje Blumenthal (CDU):
Rede ID: ID1615416700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich

möchte mit einem Anliegen einer Contergangeschädig-
ten beginnen. Sie hat zu mir gesagt, sie wünsche sich ein
„gelungenes menschliches und schmerzfreies Leben“.
Diese Äußerung drückt meines Erachtens nicht nur ihre
Angst, sondern die Ängste aller Betroffenen aus, die be-
fürchten müssen, ihre Selbstbestimmtheit und vor allem
ihre erkämpfte Lebensqualität zu verlieren.

Trotz schwergradiger Behinderungen haben sich die
Opfer selbstbewusst und unter größten Anstrengungen
ihre Selbstständigkeit und ihren Platz in der Gesellschaft
erkämpft. Sie mussten die individuelle Geschicklichkeit
ihres Körpers herausfinden, und sie mussten erst lernen,
diese entsprechend einzusetzen. Füße wurden dabei zum
Handersatz bei geschädigten Armen.

Ich selbst habe eine bemerkenswerte und bewun-
dernswerte Kollegin gehabt. Bereits vor 25 Jahren hat
sie im Finanzamt die Tastatur mit den Füßen, das heißt
mit den Zehen, bedient. Diese bemerkenswerte Leistung
ist mir wirklich in Erinnerung geblieben. Sie und alle
diejenigen Betroffenen, die heute Mitte 40 bis 50 sind,
vollbringen meines Erachtens eine bewundernswerte
Leistung.


(Beifall im ganzen Hause)


Für diese errungene Selbstständigkeit mussten sie
aber einen sehr hohen Preis zahlen. Aufgrund der extre-
men Belastungen durch die alltäglichen Verrichtungen
und der einseitigen Beanspruchung bzw. Überbeanspru-
chung bestimmter Körperregionen leiden sie jetzt an
Folge- und Spätschäden. Dies sind unter anderem Hal-
tungsschäden, Fehlbelastungen der Muskulatur, Pro-
bleme mit dem Knochengerüst, Veränderungen im Kno-
chenbau und äußerst schmerzhafte Schäden an Becken
und Rückenwirbeln bei denen, die ihre Füße statt der
Hände im Alltag gebrauchen müssen.

All diese körperlichen Schäden und die damit einher-
gehenden Schmerzen bedeuten für die Conterganopfer
eine erhebliche Einschränkung ihrer Lebensqualität. Sie
sind immer häufiger auf fremde Hilfe angewiesen, kön-
nen ihrem Beruf nicht mehr uneingeschränkt nachgehen
und sind zur Arbeitsunfähigkeit verdammt. Eine Früh-
verrentung wiederum führt zu weiteren finanziellen Ein-
bußen. Damit verbunden ist der Verlust der gesellschaft-
lichen Teilhabe. Deshalb ist es unsere Aufgabe – das
wurde hier schon angesprochen –, dafür zu sorgen, dass
die Contergangeschädigten ihr selbstbestimmtes Leben
weiterführen können.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig!)


Wir haben im Koalitionsvertrag beschlossen, die ge-
sellschaftliche Teilhabe behinderter Menschen zu för-
dern bzw. die entsprechende Förderung fortzusetzen. Be-
sonders die berufliche Integration von Menschen mit
Behinderungen ist für uns dabei von großer Bedeutung.
Auch im Contergan-Stiftungsgesetz ist festgelegt, dass
die Eingliederung in die Gesellschaft gefördert werden
soll. Ich glaube, die Integration ist gelungen. Heute ist es
deshalb wichtig, darauf zu achten, dass die aktive Teil-
habe der contergangeschädigten Menschen am gesell-
schaftlichen Leben nicht verloren geht.

Die Entschädigungsleistungen reichen nicht aus für
ein barrierefreies Wohnumfeld, für den Umbau des Fahr-
zeugs und für therapeutische Hilfen. Zudem sind mit zu-
nehmendem Alter die Contergangeschädigten immer
stärker auf kostenpflichtige außerhäusliche Hilfe ange-
wiesen. Ihre inzwischen betagten Eltern sind oft nicht
mehr in der Lage, die alltäglich erforderliche Hilfe zu
leisten. An dieser Stelle sollten wir ganz besonders die
Lebensleistung dieser Eltern herausstellen.


(Beifall im ganzen Hause)


Die Verdopplung der Renten ist ein notwendiger und
wichtiger Schritt. Aber wir müssen uns auch den übrigen
von mir bereits angeschnittenen Problemen stellen. Des-
wegen haben wir hier zusätzlich zum Gesetzentwurf ei-
nen Antrag eingebracht, um den Bedürfnissen der Con-
tergangeschädigten künftig besser gerecht werden zu
können. Die Verdopplung der Renten verbessert die Si-
tuation der Betroffenen in finanzieller Hinsicht. Darüber
hinaus müssen wir aber andere Hilfeleistungen, die die
körperlichen Behinderungen mildern, berücksichtigen,
um die Verbesserung der Lebensqualität zu gewährleis-
ten. Das erfordert zum Beispiel eine Überprüfung der
Strukturen bei der Gewährung von Leistungen in den
Bereichen der Gesundheit, der Pflege und der Mobilität.
Eine optimierte medizinische Versorgung und Betreu-
ung, angepasst an die individuellen Probleme des Ein-
zelnen, erlangen dabei meines Erachtens zunehmende
Bedeutung.






(A) (C)



(B) (D)


Antje Blumenthal
Bisher ist festzustellen, dass die meisten contergange-
schädigten Menschen medizinische Begleitung durch
ihre Hausärzte und Orthopäden erfahren; ein Erfah-
rungsaustausch in großem Umfang erfolgt jedoch leider
nicht überall. Mir stellt sich daher die Frage, wie eine
Vernetzung im medizinischen Bereich erfolgen kann. Ich
denke, der Erfahrungsaustausch unter Medizinern und
eine verbesserte Verknüpfung der Netzwerke müssen
deshalb verstärkt werden, um diesen Mangel zu beseiti-
gen und so den einzelnen Betroffenen schneller helfen,
Erkenntnisse weiterreichen und neue Heilmethoden ent-
wickeln zu können.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Weiterhin halten wir es für erforderlich, Infrastruktu-
ren zu schaffen und die bestehenden zu verbessern. Aber
der Alltag stellt die Betroffenen täglich vor neue Pro-
bleme. Ich nenne hier nur das Stichwort „Barrierefrei-
heit“; es ist wiederholt schon erwähnt worden. Ich darf
darauf hinweisen, dass wir uns – so bitter es klingt – in
diesem Hause mit diesen Problemen schon seit 2005 be-
schäftigen. Es gelang uns bisher nicht, die Länder mit ins
Boot zu nehmen, um zu einer schnellen Regelung zu
kommen. Es gibt immer noch keine einheitliche, länder-
übergreifende Regelung für die Nutzung von Behinder-
tenparkplätzen. Wir stehen weiterhin in der Verantwor-
tung, den Conterganopfern mit dem Abbau von
Barrieren zu helfen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Uns muss auch bewusst sein, dass sich die physische
Situation der Betroffenen in Zukunft verschlechtern
kann und wir darauf reagieren müssen. Deshalb empfeh-
len wir in unserem Antrag einen Forschungsauftrag, mit
dem die Auswirkungen der Folge- und Spätschäden auf
die Lebenssituation der Contergangeschädigten wissen-
schaftlich untersucht werden. Nur so wird es uns mög-
lich sein, entsprechende Hilfen zu entwickeln.

Im Vorfeld haben sich die Fraktionen auf die Durch-
führung einer Anhörung verständigt. Wir haben hier bis-
her vorwiegend über die Anträge gesprochen. Ich
möchte aber auch auf die Anhörung hinweisen. Wir wer-
den uns mit den Betroffenen und Experten unterhalten
und anschließend auf ihre Anliegen und Erfahrungen zu-
rückgreifen können. Ich denke, nach dieser Anhörung
werden wir in der Lage sein, auf Basis der gewonnenen
Erkenntnisse über die vorliegenden Anträge zu entschei-
den.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615416800

Die Kollegin Marlene Rupprecht hat jetzt das Wort

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1615416900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In einer scheinbar perfekten Welt, in der scheinbar per-
fekte Menschen zur Welt kommen, passiert etwas, was
gar nicht in diese Welt passt. Die Menschen sind scho-
ckiert. Nach langem Hin und Her hat man Regelungen
vereinbart.

Über viele Jahre hinweg wurde uns medial vermittelt:
Die contergangeschädigten Menschen schaffen es, das
Leben mit ihrer schweren Behinderung bzw. Beeinträch-
tigung zu meistern. Sie sind tough. Öffentlich gezeigt
werden die Menschen, die versuchen, mit ihrer Behinde-
rung gut umzugehen. Frau Blumenthal hat ihre Kollegin
als Beispiel angeführt. Wenn wir über contergangeschä-
digte Menschen sprechen, fallen uns doch sofort die
Menschen ein, die mit ihren Zehen die Tastatur bedie-
nen. Nicht gezeigt werden die Menschen – das ist der
Großteil der Contergangeschädigten –, die mit ihren Ze-
hen die Tastatur nicht bedienen können, die psychische
Störungen haben, die täglich an der Welt verzweifeln.
Diese Menschen kommen in den Medien nicht vor. Uns
beruhigt die gute Nachricht. Wir glauben, alles erledigt
zu haben. So war es zumindest über viele Jahre hinweg.
Ich nehme mich da nicht aus. Wir haben gesagt: Diese
Menschen haben das toll gemacht.

Dann kam ein Film, der uns wachgerüttelt hat. Fast
wären wir mit der Rentenerhöhung zur Tagesordnung
übergegangen. Wir haben vorher aber das gemacht, was
Herr Dr. Seifert gefordert hat. Wir haben die Betroffenen
eingeladen und angehört. Unsere ehemalige Kollegin
Schmidt-Zadel, die Vorstandsvorsitzende der Contergan-
stiftung ist, kam mit betroffenen Menschen zu uns. Wer
sie als Abgeordnete kennengelernt hat, weiß, dass sie
sehr aufdringlich sein kann, wenn es um Themen geht,
die sie stark beschäftigen. Da wird sie richtig penetrant,
und das ist gut so. Im Ausschuss für Familien, Senioren,
Frauen und Jugend, der zuständig ist, hat sie deutlich ge-
macht, dass es mit einer Rentenerhöhung zum 1. Juli
keinesfalls getan ist, dass von den Betroffenen weitaus
mehr erwartet wird als eine Rentenerhöhung.

Wir haben die Einwände aufgegriffen. Ich denke, das
ist etwas, was das Parlament auszeichnet. Es ist aktiv ge-
worden; aus dem, was uns vorgetragen worden ist, wur-
den Anträge gemacht. Wir wollten beantragen, dass
überprüft wird, ob die gegenwärtige Rentenhöhe noch
angemessen ist. Damit die Renten aber überhaupt erhöht
würden, wollten wir sie um 5 Prozent erhöhen. Ich er-
zähle das, um deutlich zu machen, wie wir uns auf den
Gesetzentwurf der CDU/CSU und der SPD zubewegt
haben.

Dann kam ein Vorschlag vonseiten der Fraktionsspit-
zen. An dieser Stelle danke ich Frau Falk von der CDU/
CSU und Frau Humme von meiner Fraktion ganz aus-
drücklich. Sie haben gesagt: Wir könnten jetzt zwar ei-
nen Forschungsauftrag formulieren. Die Studie würde
aber zwei oder drei Jahre dauern. Im Ergebnis würde
eine Rentenerhöhung um vielleicht 20 oder 30 Prozent
empfohlen werden. Es würden aber keine Summen ge-
nannt werden – das sollten wir ehrlicherweise sagen –,
wie sie in den USA üblich sind, weil wir in Deutschland






(A) (C)



(B) (D)


Marlene Rupprecht (Tuchenbach)

kein entsprechendes Entschädigungsrecht haben. Eine
Änderung der Rentenhöhe wäre zwar sicher empfohlen
worden; die Höhe war aber offen.

An dieser Stelle muss ich ganz ehrlich sagen: Ich
denke an die Menschen. Ab 1. Juli dieses Jahres soll es
doppelt so viel Geld geben. Mir ist diese Verdopplung
lieber als eine Erhöhung um 20 oder 30 Prozent. Wenn
das in den Koalitionsfraktionen so hingebogen wird,
dann bin ich als Berichterstatterin einverstanden. Ich
danke, dass Sie das durchgepusht haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir wollen zu diesem Gesetzentwurf – wir haben vier
Vorlagen –, der parallel zu dem der Bundesregierung
eingeht, keine Anhörung durchführen, damit es zu keiner
zeitlichen Verzögerung kommt und der Termin 1. Juli
eingehalten wird. Wir haben gesagt: Wir lösen auch un-
seren Antrag, der weitergehend ist, davon ab; Frau
Blumenthal hat das gesagt. Das betrifft die Überprüfung
der Lebenssituationen all der Menschen, die betroffen
sind, das heißt, von den äußeren Umständen bis hin zu
den zusätzlichen Hilfen und Rahmenbedingungen.

Wir haben noch eine vierte Vorlage: den Antrag der
Grünen. Ich freue mich, dass die Grünen einen eigenen
Antrag eingebracht haben. Noch mehr freue ich mich,
wenn es uns im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens ge-
lingt, die Vorschläge der Grünen, die noch nicht enthal-
ten sind und die wir als Ausschuss für sinnvoll erachten,
aufzunehmen. Dann haben wir wieder eine Sternstunde
im Parlament und können sagen: Wenn es um lebens-
wichtige Dinge geht, schaffen wir es, gemeinsam Ergeb-
nisse zu erzielen.

Frau Blumenthal hat schon signalisiert: Wir werden
zu dem Antrag, den wir eingebracht haben, und dem An-
trag der Grünen eine Anhörung durchführen. Ich glaube,
da haben wir eine richtige Grundlage. Dabei werden
nochmals alle Gruppierungen, die uns in der Umsetzung
sachverständig unterstützen können, behilflich sein. Ich
glaube, es ist notwendig, dass die Anhörung über die Be-
lange der Betroffenen hinausgeht bis hin zur Klärung der
Folgeschäden durch Sachverständige der Medizin.


(Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])


Das heißt, sie ist ganz umfassend. Ich hoffe, dass wir uns
anschließend im Gesetzgebungsverfahren einigen kön-
nen.

Ein wichtiger Punkt ist sicherlich, die Arbeit und die
Struktur der Stiftung anzusehen, damit sie ganz zielge-
richtet und effizient für die Menschen, die betroffen
sind, eingesetzt werden kann. Aber schon heute über die
Ausgestaltung zu reden, wäre verfrüht. Für mich ist
wichtig, dass wir es auf unserer Agenda haben. Meiner
Ansicht nach wäre es gut, wenn wir in der Schlussbera-
tung hier im Parlament ein einstimmiges Votum im
Sinne der betroffenen Menschen erreichen könnten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Damit aber nicht genug. Wir müssen die Umsetzung
unseres Antrages begleiten und immer wieder nachfra-
gen: Wie ist der Sachstand? Wie sind die Ergebnisse? Ist
es eventuell notwendig, dass wir nachsteuern, was wir
vorher nicht sehen konnten? Das nennen wir lernende
Gesetzgebung. Ich finde den Begriff gar nicht so
schlecht. Wenn man lernt und nicht stur, lernunwillig
und -resistent ist, dann hat es Sinn, wenn wir so vorge-
hen.

Ich glaube, dass wir als Ausschuss, der nicht immer in
allen Punkten einig ist, einen guten Weg beschritten ha-
ben und weiterhin gehen werden. Allen Kolleginnen und
Kollegen herzlichen Dank! Ich hoffe, dass wir in der Be-
ratung so fortfahren können.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615417000

Ich schließe die Aussprache.

Es ist verabredet, die Vorlagen auf den Drucksachen
16/8743, 16/8653, 16/8754 und 16/8748 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b
auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Gisela Piltz, Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP

Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Ra-
tes über die Verwendung von Fluggastdaten-
sätzen zu Strafverfolgungszwecken

– Drucksache 16/8115 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke
Stokar von Neuforn, Volker Beck (Köln), Monika
Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Keine Speicherung von EU-Fluggastdaten

– Drucksache 16/8199 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat-
tieren, wobei die FDP-Fraktion sechs Minuten erhalten
soll. – Dazu höre ich ebenfalls keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne jetzt die Aussprache und erteile dem Kol-
legen Ernst Burgbacher für die FDP-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der FDP)



Ernst Burgbacher (FDP):
Rede ID: ID1615417100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts,
Winfried Hassemer, hat es in aller Klarheit gesagt: Wir
erleben den Niedergang der Privatheit.


(Beifall des Abg. Uwe Barth [FDP])


Der Staat ist zum größten Datensammler der Republik
aufgestiegen und schafft immer neue Möglichkeiten,
persönliche Daten seiner Bürgerinnen und Bürger zu er-
fassen und zu verwenden. Ist es zumutbar, dass für
Millionen Menschen gespeichert wird, wohin sie reisen,
wo sie wohnen, welches Reisebüro sie nutzen, welche
Kreditkarte zur Zahlung eingesetzt wurde, wie die
Kontonummer lautet, ob sie allein fliegen oder ob sie je-
manden mitnehmen und wen, wie und wo sie erreichbar
sind und sogar, welche Essenswünsche sie haben?


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Den 11. September haben Sie schon mitgekriegt?)


Für uns geht es schlicht zu weit, wenn jetzt auf euro-
päischer Ebene Fluggastdaten auch noch zum Zweck der
Strafverfolgung gesammelt und ausgewertet werden
sollen. Damit sind alle Grenzen überschritten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die FDP-Bundestagsfraktion hat bereits das Abkom-
men zwischen der EU und den USA über die Weitergabe
von Flugpassagierdaten als erheblichen Einschnitt in den
Datenschutz kritisiert. Auch der aktuelle Vorschlag für
einen Rahmenbeschluss stellt einen erheblichen Eingriff
in das Grundrecht jedes Einzelnen dar, „grundsätzlich
selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persön-
lichen Daten zu bestimmen“. Das ist eine Formulierung
aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von
1983, in dem es das Grundrecht auf informationelle
Selbstbestimmung konkretisierte. Gerade in seinen
jüngsten Entscheidungen hat das Bundesverfassungs-
gericht den Datenschutz gestärkt und der übermäßigen
Datensammelwut in unserem Land zum Glück erneut
einen Riegel vorgeschoben.


(Beifall bei der FDP)


Auch der Europäische Gerichtshof hat bereits im Jahr
2000 klargestellt, dass außerhalb statistischer Zwecke
ein striktes Verbot der Sammlung personenbezogener
Daten auf Vorrat besteht.

Völlig unverständlich sind für mich in diesem Zusam-
menhang Kommentare von Mitgliedern der Bundes-
regierung zu Urteilen des Bundesverfassungsgerichts,
wonach das Einkassieren von Gesetzen durch das
Gericht nichts Ungewöhnliches sei.


(Uwe Barth [FDP]: Unglaublich!)


Diese Äußerungen zeugen von einem für mich unfass-
baren Selbstverständnis, mit dem die Mitglieder der
Bundesregierung ihre eigene Arbeit beurteilen.


(Uwe Barth [FDP]: Selbstüberschätzung!)


Dies kann und dies darf nicht der Anspruch an die
Gesetzgebung sein.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Die zu beachtende Rechtsprechung des Bundes-
verfassungsgerichts, die Verhältnismäßigkeit der Maß-
nahme, die Rechtsgrundlage für den Rahmenbeschluss
und der Nutzen der vorgeschlagenen Maßnahmen im
Hinblick auf eine Verbesserung der Terrorismus-
bekämpfung bestimmen den Handlungsrahmen. Der
EU-Rahmenbeschluss, um den es heute geht, fällt völlig
aus diesem Handlungsrahmen heraus und ist deshalb
schlichtweg nicht akzeptabel.

EU-Kommissar Frattini hat angekündigt, dass eine
Evaluierung der Abkommen zwischen der EU und den
USA sowie der EU und Kanada im Laufe des Jahres
2008 erfolgen soll. Im Hinblick darauf verstehen wir
überhaupt nicht, warum der EU-Rahmenbeschluss jetzt
erfolgen soll und man diese Evaluierung nicht abwartet.
Wir fordern die Bundesregierung auf, dem EU-Rahmen-
beschluss schlichtweg nicht zuzustimmen, bevor die
Ergebnisse dieser Evaluierung vorhanden sind.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Wir ahnen, dass die Maßnahmen sich als untauglich er-
weisen werden. Wir haben noch kein einziges Mal
belastbare Hinweise dazu bekommen, was die bisherige
Flugpassagierdatenübermittlung und -speicherung für
die Sicherheit eigentlich bringt.

Ich freue mich sehr – das geht an die Adresse des
Bundesjustizministeriums –, dass die Ministerin Frau
Zypries offensichtlich ebenso denkt. Ihre Aussage, dass
die Datenerfassung und -speicherung im Rahmen der
PNR-Datenerfassung – Zitat – „ein zu großer Schritt hin
zu einem Präventionsstaat“ sei, unterstütze ich aus-
drücklich. Es wäre allerdings wünschenswert gewesen,
wenn Frau Zypries diese Bedenken schon zu Zeiten der
rot-grünen Koalition geäußert hätte.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Jan Korte [DIE LINKE])


Aber damals war leider Pause. Es geht doch nicht an,
dass sie jetzt, da der Innenminister einer anderen
Fraktion angehört – auch EU-Kommissar Frattini gehört
ja den Konservativen an –, ihre Bedenken äußert. Das ist
unglaubwürdig.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)







(A) (C)



(B) (D)


Ernst Burgbacher
Erstaunlich ist übrigens auch, dass die Grünen in drei
Jahren eine Wandlung vom Saulus zum Paulus durch-
gemacht haben. Jetzt nehmen sie im Hinblick auf die
Antiterrorgesetze, die von Schröder und Fischer auf
europäischer Ebene vorangetrieben wurden, plötzlich
eine völlig andere Position ein.


(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Unsinn!)


Damals hätten Sie einiges verhindern können. Aber Sie
haben überall gekuscht und nichts verhindert.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch auch mal etwas zu Ihrem Innenminister Wolf aus NRW! Wer hat denn die Grundlagen für die Onlinedurchsuchung in Deutschland geschaffen? Für die Onlinedurchsuchung ist doch die FDP verantwortlich!)


– Die Grundlagen dafür wurden unter Ihrer Regierung
gelegt. Das müssen Sie sich schon sagen lassen.


(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist ja unglaublich, was Sie da sagen! – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das war ein Treffer!)


– Wie ich sehe, sind Sie getroffen,


(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ich bin nicht getroffen! Aber wenn Sie hier einen solchen Unsinn reden!)


und zwar zu Recht; das ist völlig klar.


(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)


Meine Damen und Herren, das Bild vom gläsernen
Bürger wird immer deutlicher. Der europäische Raum
der Freiheit und des Rechts entwickelt sich durch diese
Maßnahmen immer mehr zu einem Raum der
Überwachung. Die FDP-Bundestagsfraktion wird diesen
Weg nicht mitgehen. Der Staat muss die Sicherheit sei-
ner Bürgerinnen und Bürger schützen, erst recht in
Zeiten der Bedrohung durch den internationalen Terro-
rismus. Aber nicht jede Maßnahme ist durch die Über-
schrift „Terrorismusbekämpfung“ zu rechtfertigen.


(Beifall bei der FDP)


Dies gilt national und auf europäischer Ebene. Deshalb
fordere ich Sie auf: Nehmen Sie die Bedenken der Da-
tenschützer ernst! Stimmen Sie unserem Antrag, der sehr
ausgewogen ist, zu! Ich bitte Sie herzlich darum.


(Beifall bei der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615417200

Für die Bundesregierung spricht jetzt der Herr Parla-

mentarische Staatssekretär Dr. Christoph Bergner.


(Beifall bei der CDU/CSU)

D
Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1615417300


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sicher-
heit und Freiheit, Sicherheit und Datenschutz gehören
zusammen. Sie bedingen einander. Jeder Vorschlag ist
daran zu messen, ob er diese beiden für ein demokratisch
und rechtsstaatlich geordnetes Gemeinwesen grund-
legenden Werte richtig ausbalanciert.

Herr Kollege Burgbacher, es ist in der Tat so, dass der
Ministerrat bereits im Jahr 2004 an die Europäische
Kommission herangetreten ist und die Bitte geäußert hat,
sie möge einen Rahmenbeschluss über die Verwendung
von Fluggastdatensätzen, sogenannten PNR-Daten, zu
Strafverfolgungszwecken vorlegen. Das war im
Jahr 2004. Jetzt ist die Kommission dieser Bitte nachge-
kommen.

Wir haben zunächst einmal festzustellen, dass die
Nutzung dieser Daten ein wichtiges Instrument zur
Bekämpfung des internationalen Terrorismus oder
anderer schwerer Straftaten wie organisierter Kriminali-
tät, etwa durch retrograde Verfolgung früheren Täter-
verhaltens, darstellen kann. Eine EU-weite Regelung
würde ermöglichen, dass sich die einzelnen mitglied-
staatlichen Behörden diese Daten einander im Bedarfs-
fall zur Verfügung stellen. Das Bundesministerium des
Innern hat daher schon in der 15. Legislaturperiode
– auch hier muss ich Wert auf den Zeitpunkt legen – die
Schaffung eines gemeinsamen europäischen PNR-Sys-
tems als grundsätzlich erstrebenswert angesehen.


(Ernst Burgbacher [FDP]: Damals hat auch die Ministerin noch zugestimmt!)


Die nähere Ausgestaltung des Rahmenbeschlusses
bedarf aber noch sorgfältiger, auch verfassungs-
rechtlicher Prüfung und fachlicher Erörterung, die
gegenwärtig zwischen den Mitgliedstaaten und inner-
halb der Bundesregierung erfolgen. Am Ende der Ver-
handlungen muss ein Rahmenbeschluss stehen, der den
verfassungsrechtlichen Anforderungen entspricht und
die datenschutzrechtlichen Standards der Europäischen
Union und der Mitgliedstaaten erfüllt – ich denke, daran
dürfte kein Zweifel bestehen –, aber auch die Interessen
betroffener Luftfahrtunternehmen angemessen wahrt.

Die Kommission hat zur Erleichterung einer Prüfung
der Geeignetheit und Erforderlichkeit des Vorschlages
zugesagt, die Erfahrungen, die in den USA und im
Vereinigten Königreich bei der Verwertung von PNR-
Daten gewonnen wurden, im Einzelnen darzulegen und
die Wirkungsweise der im Entwurf vorgesehenen
Risikoanalyse zu erläutern. Auch das steht noch aus.

Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang ein Wort
zu den sogenannten API-Daten und zur Abgrenzung die-
ser Daten von den PNR-Daten, um die es bei dem heute
diskutierten Vorschlag der Kommission geht; die Kolle-
gen von der FDP haben ja in ihrem Antrag auf diese
Frage ausdrücklich Bezug genommen, und auch der
Bundesrat hat sich hierzu geäußert.

API-Daten – API steht für „Advanced Passenger
Information“ – werden seit dem 1. April dieses Jahres






(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner
im Zuge der Umsetzung einer EU-Richtlinie durch das
Bundespolizeigesetz erhoben.

Die Übermittlungspflicht des Luftfahrtunternehmens
besteht nur im Einzelfall auf konkrete Anordnung der
Bundespolizei bei Flügen über die Schengen-Außen-
grenzen in das Bundesgebiet. Die Bundespolizei wird
sich hierbei zunächst auf einige wenige Flugrouten be-
schränken. Bei den API-Daten handelt es sich nicht wie
bei den PNR-Daten um Buchungsdaten, sondern vorwie-
gend um Passdaten, die das Luftfahrtunternehmen aus
den von Fluggästen mitgeführten Dokumenten zu erhe-
ben hat.

Schließlich ist das Ziel der API-Datenerhebung die
Verfolgung grenzpolizeilicher Zwecke; ermöglicht wer-
den soll ein vorgezogener INPOL/SIS-Abgleich zwecks
Fahndung und Prüfung der Einreisevoraussetzungen.
Gespeichert werden die API-Daten lediglich 24 Stunden.
Sie werden erkannt haben, dass hier fein unterschieden
werden muss.

Der Europaabgeordnete Manfred Weber, der bekannt-
lich der EVP-Fraktion angehört, hat kürzlich in einem
Zeitungsinterview die Datensammelwut der EU kritisiert
und sich dabei ausdrücklich auch auf die hier debattierte
Fluggastdatensammlung bezogen.


(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Teil meiner Rede!)


Manche Vorschläge der Kommission auf dem Feld der
Terrorismusbekämpfung griffen, so Weber, zu weitge-
hend in das Grundrecht des Bürgers auf informationelle
Selbstbestimmung ein. Er hat die Bundesregierung auf-
gefordert, für eine verhältnismäßige Ausgestaltung die-
ser Vorschläge zu sorgen.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das macht sie jetzt auch!)


Auch wenn der Bundesrat in seinem Beschluss vom
15. Februar dieses Jahres zum PNR-Vorschlag der Kom-
mission das Fehlen eines Gleichgewichts zwischen der
Wahrung der Freiheitsrechte und dem Schutz der öffent-
lichen Sicherheit bemängelt und vor einem erheblichen
Eingriff in das Recht auf informationelle Selbst-
bestimmung gewarnt hat, hat er zugleich das mit dem
Rahmenbeschluss verfolgte Anliegen geteilt, EU-weite
Maßnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus und
organisierter Kriminalität zu entwickeln. Der Bundesrat
hat besonders die Absicht der Kommission unterstützt,
zu diesem Zweck einheitliche Handlungsvorgaben zu
erarbeiten, die ein hohes Maß an Sicherheit in den
Mitgliedstaaten gewährleisten.

Sie werden mir sicher zustimmen, dass der inter-
nationale Terrorismus, die organisierte Kriminalität und
die illegale Migration zunehmend eine Bedrohung
unserer Sicherheit darstellen. Die Bürgerinnen und
Bürger erwarten gerade in diesen Fragen Antworten von
Europa. Niemand will dauernd in Angst um Leib und
Leben, um Hab und Gut leben müssen. Der Bundes-
innenminister hat daher immer wieder darauf hingewie-
sen, dass bei der Gestaltung und Stärkung des gemeinsa-
men Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
der Bekämpfung von Terrorismus und Kriminalität eine
herausragende Bedeutung zukommt.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in diesem
Zusammenhang ein Wort zu dem Vorschlag sagen, den
die Kommission am 6. November 2007 vorgelegt hat
und der auf die Verhütung und Bekämpfung von terroris-
tischen Straftaten und von Straftaten aus dem Bereich
der organisierten Kriminalität ausgerichtet ist; diese
Themen haben ja auch den Beitrag von Herrn
Burgbacher bestimmt. Die Diskussion über die nähere
Ausgestaltung des Vorschlages – unter Einbeziehung
verfassungsrechtlicher und rechtsstaatlicher Aspekte –
hat gerade erst begonnen. Die Diskussionen in den Brüs-
seler Gremien lassen auch in den anderen Mitgliedstaa-
ten insbesondere zu den Fragen des Datenschutzes einen
großen Diskussionsbedarf erkennen.

Eine Entscheidung auf europäischer Ebene wird zu-
dem frühestens 2009 zustande kommen. Das heißt, nach
dem erwartungsgemäßen Inkrafttreten des EU-Reform-
vertrages wird das Europäische Parlament mitentschei-
dend zu beteiligen sein. Auch dadurch wird gewährleis-
tet, dass der Vorschlag auf eine breite Grundlage gestellt
wird, da er nur auf einer solchen breiten Grundlage reali-
siert werden kann.

Meine Damen und Herren, wie ich eingangs schon
sagte, gehören Sicherheit und Freiheit sowie Sicherheit
und Datenschutz zusammen; sie bedingen einander. Zum
gegenwärtigen Zeitpunkt kann ich Ihnen von dieser
Stelle aus nur versichern, dass wir uns auf europäischer
Ebene mit Nachdruck für einen Rahmenbeschluss ein-
setzen werden, durch den das Gleichgewicht zwischen
Sicherheits- und Datenschutzinteressen gewahrt wird.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615417400

Jan Korte spricht jetzt für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1615417500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich kann, was nicht oft vorkommt, direkt bei Staatsse-
kretär Bergner anfangen und möchte noch einmal kurz
auf das zitierte Interview des EVP-Kollegen Manfred
Weber eingehen. Herr Bergner, um ganz genau zu sein:
Er ist Mitglied der CSU.

Die Süddeutsche Zeitung fragte ihn – ich zitiere –:

Ist Innenminister Wolfgang Schäuble zu willfährig
gegenüber der EU? Im Gegensatz zu seiner Kolle-
gin Brigitte Zypries hat er sich mit keinem Wort ge-
gen die Vorschläge Frattinis gewandt.

Antwort von Manfred Weber, CSU – man kann es nicht
oft genug betonen –:

Schäuble und Zypries sind beide in der Pflicht.
Frattini






(A) (C)



(B) (D)


Jan Korte
– das ist übrigens ein Kumpel von Berlusconi, für den er
gerade Wahlkampf macht; das ist aber ein anderes
Thema –

kann nur vorschlagen, beschließen müssen die In-
nen- und Justizminister der EU-Länder. Auch
Zypries muss sich fragen lassen, warum sie die vie-
len Beschlüsse im Rat zur Datensammlung bisher
mitgetragen hat. Die deutsche Regierung muss sich
gegen die EU-Vorschläge in der jetzigen Form wen-
den. Sie sind unverhältnismäßig.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das sagt Manfred Weber von der CSU.

Als geneigter, konstruktiver Oppositionspolitiker
fragt man sich natürlich, wie schlimm eigentlich die Si-
tuation der Bürgerrechte in Europa und der Bundesrepu-
blik ist, wenn das jetzt schon ein CSU-Europaabgeord-
neter sagt.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ihr seid so schwach! Wir machem die Opposition gleich mit!)


Wir sind schon so weit gekommen, dass wir jetzt mit der
CSU eine Front für die Bürgerrechte aufbauen müssen.
Ich finde, das ist mehr als bedenklich.


(Beifall bei der LINKEN – Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er will auch in Bayern Schwarz-Grün!)


Worum geht es? Es ist ja nicht das erste Mal, dass wir
diese Frage hier diskutieren. Vor kurzem haben wir über
das Abkommen mit den USA hinsichtlich der Fluggast-
datenübermittlung gesprochen. Seit Vereinbarung dieser
Fluggastdatenübermittlungen gab es mehrere wirklich
skandalöse und schlimme Einzelfälle, bei denen völlig
unschuldige Leute aufgrund dieser Fluggastdatenüber-
mittlungen in die Mühlen der US-Geheimdienste geraten
sind. Ich finde, auch das müsste uns zu denken geben.
Mehr Sicherheit vor Anschlägen hat es nicht gegeben.
Das ist zumindest nirgendwo zu lesen – auch nicht auf
Anfragen hin.


(Beifall bei der LINKEN)


Der eigentliche Skandal ist, dass nicht nur die Flug-
gastdaten von irgendwelchen Menschen, die sich ver-
dächtig gemacht haben oder gegen die ermittelt wird, ge-
speichert werden sollen, sondern von allen Bürgerinnen
und Bürgern in der Europäischen Union, und zwar ohne
jeden Tatverdacht. Das ist der Paradigmenwechsel. Das
kann doch nicht sein und ist nicht hinnehmbar.

Ganz praktisch bedeutet das, dass die 19 Datensätze
– darunter E-Mail – Anschrift, Telefonnummer, Kredit-
kartennummer, Hotel- und Mietwagenbuchungen – nicht
nur für ein halbes Jahr – ich weiß nicht, was dort gerade
sonst noch diskutiert wird –, sondern, wie vorgesehen,
für 13 Jahre gespeichert werden. Was bedeutet das ganz
praktisch? Das bedeutet ganz praktisch beispielsweise,
dass die Dienste oder andere Ermittlungsbehörden voll
und lückenlos alles nachvollziehen können: den Gang
ins Reisebüro, wenn ich buche, den Beginn meiner
Reise, wohin in fliege, in welches Hotel ich gehe, ob ich
einen Mietwagen miete usw. Es kann doch wohl nicht im
Sinne einer demokratischen Europäischen Union sein,
dass so etwas lückenlos nachvollzogen werden kann.
Das kann nicht sein, und es geht im Übrigen niemanden
etwas an, wohin ich fahre und wo ich Urlaub mache.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und mit wem auch nicht!)


Verehrte Kollegin Stokar, man muss deutlich sagen:
Das war übrigens auch schon eine Strategie von Innen-
minister Schily.


(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Bin ich Schily?)


Auch bei den Ausweispapieren mit biometrischen Daten
haben diese und auch die letzte Bundesregierung die Eu-
ropäische Union dazu benutzt, massive Einschränkun-
gen von Grund- und Freiheitsrechten auf der europäi-
schen Ebene anzuleiern, weil sie sie im einfachen
Verfahren hier in der Bundesrepublik nicht durchbringen
konnten.


(Beifall bei der LINKEN)


Insofern wird hier über Bande gespielt. Genau das Ge-
genteil von dem, was Sie eben ausgeführt haben, lieber
Staatssekretär Bergner, ist der Fall.

Auch die Linke würde sich freuen, wenn die Bundes-
regierung das Gegenteil tun würde, nämlich auch auf eu-
ropäischer Ebene zu versuchen, einen hohen Daten-
schutzstandard zu erreichen und die Grund- und
Freiheitsrechte zu wahren. Das wünschen wir uns, und
das würden wir auch sofort unterstützen.


(Beifall bei der LINKEN)


Gestatten Sie mir eine letzte Anmerkung. Das ge-
samte Ausmaß auch dieser Maßnahme wird erst dann
deutlich, wenn man die Vorratsdatenspeicherung, die
auch auf europäischer Ebene initiiert wurde, die biome-
trischen Merkmale, den Austausch von Gendateien und
vor allem alle technischen Möglichkeiten, diese Dateien
miteinander zu verbinden, mitberücksichtigt. Das ist ein
wahres Panoptikum hin zu einem autoritären Überwa-
chungsstaat in Europa, den wir nicht wollen.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das haben wir in Deutschland zum Teil auch genug gehabt! Da reden die Experten für den Überwachungsstaat!)


Deshalb werden wir weiter dagegen Krawall schlagen.

Schönen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615417600

Der Kollege Wolfgang Gunkel hat jetzt das Wort für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Gunkel (SPD):
Rede ID: ID1615417700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute erneut
über die PNR-Daten, die sogenannten Fluggastdaten.
Diesmal steht jedoch kein Abkommen zwischen den
Vereinigten Staaten und der Europäischen Union, son-
dern der Vorschlag eines Rahmenbeschlusses des Euro-
päischen Rates zur Diskussion. Dieser sieht vor, die
Fluggastdaten aller Reisenden zwischen Europa und den
Nicht-EU-Staaten auf Vorrat in Datenbänken zu erfas-
sen, sie zur Strafverfolgung von Terrorismus sowie orga-
nisierter Kriminalität auszuwerten und 13 Jahre lang zu
speichern, und zwar ohne dass gegen die Flugreisenden
der Verdacht einer Straftat oder ein Gefahrenverdacht
vorliegen muss.

19 Datensätze wie Name, Anschrift, Kreditkarten-
nummer, Telefonnummer, E-Mail-Anschrift, Beteiligung
an Vielflieger-Bonusprogrammen, Hotel- oder Mietwa-
genbuchungen und vieles mehr sollen erfasst, gespei-
chert und ausgewertet werden. Dies geht weit über das
hinaus, was man für eine ordnungsgemäße Strafverfol-
gung benötigt, weil es sich um Daten handelt, die den
persönlichen Bereich der Betroffenen berühren.

Die heute vorliegenden Anträge der FDP und der
Grünen stützen sich im Wesentlichen auf die Stellung-
nahme des Bundesrates vom 15. Februar 2008, in der ei-
nige Punkte kritisiert werden.

Erstens sieht der Bundesrat das in letzter Zeit viel dis-
kutierte Verhältnis zwischen der Wahrung der Freiheits-
rechte und dem Schutz der öffentlichen Sicherheit nicht
in ausreichendem Gleichgewicht.

Zweitens stellt die Erhebung der PNR-Daten einen
Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestim-
mung dar. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
von 1983 wurde bereits von dem Kollegen Burgbacher
erwähnt.

Drittens wird gegen eines der Grundprinzipien des
Datenschutzes verstoßen: Der Grundsatz der Zweckbin-
dung wird nicht gewahrt. Danach dürfen personenbezo-
gene Daten nur für bereichsspezifisch und präzise fest-
gelegte Zwecke gespeichert und im Rahmen dieser
Zwecke verwendet werden.

Viertens rügt der Bundesrat, dass die Speicherungs-
dauer von 13 Jahren die in Deutschland allgemein übli-
che Regelfrist für polizeiliche Speicherungen weit über-
schreitet. Damit wird sie als unvereinbar mit dem
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angesehen.

Diese vom Bundesrat vorgetragenen Punkte sind von
erheblicher Bedeutung, da die CDU/CSU dort bekannt-
lich mit elf Ministerpräsidenten vertreten ist. Man kann
also nicht davon sprechen, dass dies ausschließlich auf
SPD-Regierungen zurückzuführen ist.

Der Vorschlag für den Rahmenbeschluss enthält au-
ßerdem keine Möglichkeit für die betroffenen Bürger,
Auskunft über zu ihrer Person gespeicherte Daten sowie
zur Berichtigung oder Löschung falscher oder fehlerhaft
übermittelter Daten zu erlangen. Auch das ist ein Manko,
das den Datenschutzbestimmungen kaum entsprechen
dürfte.

Ein weiterer Grund für die Ablehnung des Vorschlags
ist, dass ein Instrument zur Bekämpfung des Terrorismus
für alle in Europa von großer Bedeutung ist, wenn die im
Schengener Abkommen festgesetzten Grenzen wegfal-
len. Herr Staatssekretär Dr. Bergner hat bereits die API-
Dateien erwähnt, die von der Bundespolizei zur Grenzsi-
cherung erhoben werden. Diese API-Dateien sind – auch
darauf hat er hingewiesen – am 1. April dieses Jahres in
Kraft gesetzt worden. Damit ist nach vierjähriger Dauer
die EU-Richtlinie in nationales Recht umgesetzt worden.

In der API-Datei sind folgende Daten enthalten: Fa-
milienname, Vorname, Geburtsdatum, Geschlecht, Staats-
angehörigkeit, Nummer und Art des mitgeführten Reise-
dokuments, Nummer und ausstellender Staat des
erforderlichen Aufenthaltstitels oder Flughafentransitvi-
sums, die für die Einreise in das Bundesgebiet vorgese-
hene Grenzübergangsstelle, die Flugnummer, die plan-
mäßige Abflugs- und Ankunftszeit, der ursprüngliche
Abflugsort sowie die gebuchte Flugroute, soweit sie sich
aus den vorgelegten oder vorhandenen Buchungsunterla-
gen ergibt.

Das ist doch schon allerhand. Anhand dieser erfassten
Daten kann man sehr wohl nachvollziehen, ob sich
Leute in der EU illegal bewegen und ob sie möglicher-
weise etwas Böses im Schilde führen. Die Daten werden
nach 24 Stunden gelöscht. Das entspricht den Vorschrif-
ten, die man üblicherweise zu beachten hat, wenn gegen
die Betreffenden nichts weiter vorliegt.


(Zuruf von der LINKEN: Genau!)


In diesem Zusammenhang bleibt festzuhalten, dass
der sogenannte Frattini-Vorschlag dazu dient, das Ganze
ohne Beteiligung des Europäischen Parlaments zu be-
schleunigen. Die SPD-Bundestagsfraktion hatte schon
beim Abkommen über die PNR-Fluggastdaten mit den
Vereinigten Staaten große Bauchschmerzen. Aber es gab
keinen anderen Weg, wenn man nicht den Verlust des
Datenschutzes riskieren wollte. Das haben wir im Falle
der USA mit Mühe und Not hingenommen, weil es keine
Alternative gab. Hier gibt es aber eine Alternative. Sie
besteht darin, den Frattini-Vorschlag in nächster Zeit au-
ßer Kraft zu setzen, indem man im Rahmen der EU wei-
terverhandelt. Wie ich auf der Arbeitsebene erfahren
habe, will das Bundesministerium des Innern auch so
verfahren. Es gibt also Hoffnung, dass das in dieser
Form nicht verabschiedet wird.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Es wird alles gut!)


Ich sage zu Ihrer Ehrenrettung: Das ist auch korrekt. Das
darf man dabei nicht vergessen. Auf diese Art und Weise
wird es ein wenig Bewegung geben, zumal der Vertrag
von Lissabon am 1. Januar 2009 in Kraft tritt. Dann wird
das Europäische Parlament weitaus mehr Rechte erhal-
ten. Wenn es sich dann mit diesem Thema erneut befasst,
wird es mit Sicherheit einen anderen Rahmenbeschluss
geben.






(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Gunkel
Es bleibt festzuhalten: Herr Frattini, der nach meiner
Meinung mit seinen Maßnahmen sehr weit danebenliegt,
hat nicht nur die Überwachung von Flugpassagieren ge-
fordert, sondern auch die Erfassung der Daten von
Schiffsreisenden und Zugreisenden.


(Zuruf von der SPD: Fahrradfahrer!)


Wenn man das alles erfassen will, hat man einen Daten-
moloch. Ich frage mich, warum wir den Schengen-Raum
überhaupt erweitert haben, wenn wir quasi durch die
Hintertür die Grenzen ziehen wollen, die wir gerade
vorne abgebaut haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Ich kann mich dem Vorschlag des Rates in dieser
Form nicht anschließen. Ich habe Verständnis für die
Kolleginnen und Kollegen von der FDP- und der Grü-
nen-Fraktion, die jeweils Anträge eingebracht haben. Al-
lerdings kommen diese Anträge ein wenig zu früh, da
eine Entscheidung darüber aller Wahrscheinlichkeit nach
in dieser Legislaturperiode nicht mehr fallen wird. Ich
hoffe, dass es spätestens Ende 2009 einen anderen Vor-
schlag gibt.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615417800

Die Kollegin Silke Stokar von Neuforn hat jetzt das

Wort für Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Gunkel, als wir unseren Antrag eingebracht ha-
ben, saß Bundesinnenminister Schäuble neben Herrn
Frattini und hat dessen Vorschläge und den Rahmenbe-
schluss auf dem 11. Europäischen Polizeikongress vehe-
ment begrüßt. Es war interessant, die Mimik der beiden
zu sehen, als dann die Bundesjustizministerin Zypries in
aller Deutlichkeit sagte – ich finde, das war sehr mutig
und richtig –, dass dieser Rahmenbeschluss sowohl ge-
gen nationales als auch gegen europäisches Recht ver-
stößt und dass er nun wahrlich alle Grenzen des Machba-
ren in Europa überschreitet.

Auch heute ist es interessant. Die CDU/CSU-Fraktion
hat Ihrer netten Rede zugehört, brummelt vor sich hin
und verzichtet auf einen Debattenbeitrag. Sie können
aber auch nichts anderes machen, als die Segel zu strei-
chen und zu sagen: Ja, es ist richtig; wir werden es nicht
durchsetzen. Der ursprüngliche Zeitplan sah aber anders
aus.

Es ist im Innenausschuss noch gesagt worden, dass
Bundesinnenminister Schäuble, genau bevor der Vertrag
von Lissabon in Kraft tritt, aus der Macht der Exekutive
heraus unter Umgehung der Parlamente diesen ungehöri-
gen EU-Rahmenbeschluss gemeinsam mit Frattini
durchsetzen wollte. Zum Glück ist er von Kritikern aus
Deutschland, aber auch aus anderen europäischen Län-
dern gestoppt worden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Ich möchte auch etwas zu der 15. Legislaturperiode
sagen. Da besteht doch ein Unterschied. Wir befanden
uns in der Situation – ich habe das sehr bedauert –, dass
wir damals keinen Vertrag von Lissabon hatten. Man
sprach damals noch von der EU-Verfassung.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das hat damit nichts zu tun!)


Ich war doch damals nicht Bundesinnenminister Schily.


(Ernst Burgbacher [FDP]: Das war euer Koalitionspartner! Er hat gemacht, was er wollte! Und ihr habt alles durchgehen lassen!)


Wir Grüne haben doch ständig Kritik am Koalitionspart-
ner geübt, weil in einer demokratiefeindlichen Art und
Weise Beschlüsse gefällt worden sind, und zwar unter
Umgehung nationaler Parlamente und unter Umgehung
des Europäischen Parlaments. Das war kein guter Zu-
stand


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das haben Sie damals nicht so gesagt! – Gegenruf des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber sicher!)


für die Demokratie in Deutschland. Genau das – das
können Sie nachlesen – habe ich auch damals gesagt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Burgbacher, die FDP spielt sich hier als Hort der
Bürgerrechte auf.


(Ernst Burgbacher [FDP]: Wir sind es!)


Ich möchte Sie einfach nur einmal daran erinnern, dass
wir bei der Frage der Onlinedurchsuchung die köstliche
Situation hatten, dass der altgediente Herr Baum von der
FDP, der in Ihrer Partei keine Rolle mehr spielt – Bür-
gerrechte spielen in Ihrer Partei schon lange keine Rolle
mehr, wenn Sie in der Regierung sind –,


(Ernst Burgbacher [FDP]: Frau Stokar, hören Sie doch auf! – Zuruf von der LINKEN: Das ist bei euch aber auch so!)


gegen Innenminister Wolf geklagt hat, der verantwort-
lich für die verfassungswidrige Regelung zur Online-
durchsuchung war.


(Ernst Burgbacher [FDP]: Waren Sie eigentlich mal in der Regierung?)


Auch in Niedersachsen hat die FDP geschwiegen, als
Bestimmungen über eine verfassungswidrige Telefon-
überwachung das Parlament passierten. Also tun Sie hier
bitte nicht so, als wäre nicht die FDP, wenn sie in Regie-
rungsverantwortung ist, die Partei, die die meisten ver-
fassungswidrigen Gesetze in den Ländern – in NRW, in
Niedersachsen – in den vergangenen Jahren hat durchge-
hen lassen.






(A) (C)



(B) (D)


Silke Stokar von Neuforn

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ernst Burgbacher [FDP]: Jetzt wird es aber satirisch!)


Zu den EU-Fluggastdaten ist hier genügend gesagt
worden. Ich möchte nur, damit sich die Bürger einen Be-
griff davon machen können, worum es geht, erwähnen,
dass geplant ist, für jeden, der in die EU reist und aus der
EU ausreist, eine Risikoanalyse zu machen und ein Rei-
seprofil zu erstellen. In der Konsequenz bedeutet das
– so ist es in den USA schon heute –, dass Menschen auf
No-Flight-Listen gesetzt werden und die Dateien der Si-
cherheitsbehörden und Geheimdienste über die Reise-
freiheit entscheiden. Eine solche Situation möchte ich
hier in Europa wahrlich nicht haben.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615417900

Jetzt spricht der Kollege Gert Winkelmeier.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Die Debatte steuert unwillkürlich dem Höhepunkt entgegen!)



Gert Winkelmeier (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1615418000

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Sag mir, wo du wohnst,


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Bei Ihnen lieber nicht!)


sag mir, wohin du fliegst, sag mir, was du während dei-
nes Fluges isst – Sie wollen genau das –, sagen Sie mir
auch, wer Sie vom Flughafen abholt. Ach ja, meine Kre-
ditkartennummer könnt ihr selbstverständlich auch noch
haben. Wozu denn diese Geheimniskrämerei? Schließ-
lich habe ich mir nichts vorzuwerfen – das sind Ihre Ar-
gumente –, also kann mir auch nichts Schlimmes passie-
ren. Das hat der zuständige EU-Kommissar Franco
Frattini allen Ernstes ausgesprochen. Ich zitiere:

Wer nichts zu verbergen hat, der hat auch nichts zu
befürchten. Mich beunruhigt überhaupt nicht, wenn
meine Daten den Behörden zur Verfügung gestellt
werden.

Das ist zitiert nach faz.net vom 6. Dezember 2007. Ich
frage mich, warum Sie in der ersten Reihe sich so beun-
ruhigen.

Ähnliches haben wir schon von unserem Innenminis-
ter zu hören bekommen. 19 verschiedene Angaben sol-
len laut Herrn Frattinis Entwurf künftig von jedem Flug-
gast gespeichert werden, der die EU-Grenzen verlässt,
und das für eine Dauer von 13 Jahren. Mich beunruhigt
das ganz gewaltig. Zum Glück scheine ich in der Bun-
desjustizministerin eine Verbündete in meiner Beunruhi-
gung gefunden zu haben.

Überhaupt kann ich mich des Eindrucks nicht erweh-
ren, dass es immer mehr Menschen, sogar Politikerinnen
und Politiker dieses Hohen Hauses gibt, die der Daten-
sammelwut deutlich skeptischer gegenüberstehen als
noch vor Jahren; Sie mögen da eine Ausnahme sein.
Diese Skepsis mag auch an dem Ausmaß liegen, das die
Datensammelwut bis jetzt angenommen hat. Selbst aus
den Reihen der Union mehren sich die kritischen Stim-
men; darauf ist hier zweimal hingewiesen worden. Der
CSU-Europaabgeordnete Weber sagte gestern in der taz
– ich zitiere –:

Aber in diesem Fall lautet die Kernfrage, ob es ver-
hältnismäßig ist, eine solche Menge an persön-
lichen Daten über 13 Jahre lang zu speichern.

Zudem zieht er auch in Zweifel, dass diese ausufernde
Datensammlung im Endeffekt wirklich etwas bringt.

Ich sage: Dieser Mann hat recht. Es gibt keine stich-
haltigen Belege dafür, dass die Fluggastdatenspeiche-
rung umfangreiche Erfolge bringt. Deshalb wäre es zu-
mindest angemessen, abzuwarten, ob sich nennenswerte
Ermittlungsergebnisse einstellen. Das bezweifele ich
nämlich sehr.

Es stellt sich hier eher die ganz prinzipielle Frage, ob
es mit der bundesdeutschen Verfassung und der Europäi-
schen Menschenrechtskonvention überhaupt vereinbar
ist, dass derart sensible Daten ohne jeglichen Verdacht
gesammelt werden.

Ich gehe – gerade nach den letzten Entscheidungen
des Bundesverfassungsgerichts zu etwaigen vorgebli-
chen „Sicherheitsgesetzen“ – davon aus, dass das Ansin-
nen der Herren Schäuble und Frattini unvereinbar ist mit
dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Es
kann nicht angehen, dass dieses Land zu einem Präven-
tionsstaat verkommt, der seine Bürgerinnen und Bürger
überwacht, kontrolliert und ihre Daten abspeichert, ohne
dass irgendein Straftatvorwurf gegen sie vorliegt. Was
noch schlimmer ist: Präventiv werden auch Daten von
Dritten gespeichert, die mit der eigentlichen Reisetätig-
keit überhaupt nichts zu tun haben, daran also völlig un-
beteiligt sind.

Der Deutsche Bundestag muss das Ansinnen von
Herrn Frattini, das von Herrn Schäuble unterstützt wird,
klar ablehnen.

Vielen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615418100

Die Vorlagen auf den Drucksachen 16/8115 und 16/8199

sollen an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Beschluss des Rates vom
7. Juni 2007 über das System der Eigenmittel
der Europäischen Gemeinschaften

– Drucksache 16/7686 –






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union (21. Ausschuss)


– Drucksache 16/8533 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Lamp
Hans Eichel
Michael Link (Heilbronn)

Dr. Diether Dehm
Rainder Steenblock

Es ist verabredet, hierzu eine Dreiviertelstunde zu de-
battieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.

Ich eröffne jetzt die Aussprache und erteile das Wort
dem Kollegen Axel Schäfer für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Axel Schäfer (SPD):
Rede ID: ID1615418200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Ratifizierung des EU-Eigenmittelbeschlusses ist An-
gelegenheit unseres nationalen Parlaments, des Deut-
schen Bundestags. An dieser Stelle wird auch deutlich,
dass wir in dieser Europäischen Gemeinschaft in Zu-
kunft eine wichtige Aufgabe wahrzunehmen haben, und
das tun wir heute.

Für uns ist das ein wichtiger Tag. Es ist faktisch der
Abschluss der deutschen Ratspräsidentschaft. In dieser
Präsidentschaft haben wir einen Kompromiss zustande
gebracht, der jetzt umgesetzt wird. Es handelt sich um
einen Kompromiss, der von allen 27 EU-Staaten getra-
gen wird und der Deutschlands Haushalt um 1 Milliarde
Euro entlastet. Das ist ein Erfolg der deutschen Ratsprä-
sidentschaft; das ist auch ein Erfolg dieser Regierungs-
koalition.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir wissen, dass in der Zukunft zugleich darüber dis-
kutiert werden muss, wie es auf der einen Seite mit den
Einnahmen und auf der anderen mit den Ausgaben aus-
sieht. Was die Einnahmeseite angeht, stellt sich die
Frage: Schaffen wir tatsächlich ein hohes Maß an Ge-
rechtigkeit und ein transparenteres System, oder verhar-
ren wir in einer Situation, in der bestenfalls noch Fach-
leute etwas verstehen, etwa weil es um Rabatte oder um
Rabatte von Rabatten geht? Auf der Ausgabenseite, auf
der Europa ganz überwiegend Struktur- und Agrarpolitik
betreibt, werden die Subventionen mit den Aspekten Ge-
rechtigkeit und natürlich auch Nachhaltigkeit verbun-
den.

Was wir jetzt machen, bezieht sich auf die Periode bis
2013. Zu Recht hat die EU-Kommission eine Überprü-
fung angesetzt, wie damit in der nächsten Finanzierungs-
periode 2014 bis 2018 – sie wird nur fünf Jahre lang sein –
umgegangen werden sollte. Die SPD-Bundestagsfrak-
tion hat gestern dazu einen Beschluss gefasst, den ich
den geschätzten Kolleginnen und Kollegen des Hauses
zur Lektüre empfehle, weil er wirklich wegweisend ist.
Wir heben dort nämlich auf drei zentrale Punkte ab: Wir
brauchen eine weitere Reform der gemeinsamen Agrar-
politik – dies wird sicherlich im Mittelpunkt stehen –,
eine Abschaffung des Britenrabattes, also mehr Gerech-
tigkeit und Nachvollziehbarkeit, und letztlich eine Stär-
kung des europäischen Eigenmittelsystems.

Wer mit Blick auf Europa über Zahlen und Preise re-
det, muss sie auch kennen. Der Bundeshaushalt hat ein
Volumen von 283 Milliarden Euro, der europäische
Haushalt nur von 129 Milliarden Euro pro Jahr. Daran
wird die Relation dessen klar, was wir in Europa können
und was wir auf nationaler Ebene tun müssen. Dabei ist
uns folgender Punkt wichtig: Der Parlamentarismus in
Europa steht heute auf der Tagesordnung, nicht zuletzt
wegen der Ratifizierung des Vertrages von Lissabon.
Dazu gehört auch das alte parlamentarische Selbstver-
ständnis, das noch aus der glorreichen amerikanischen
Revolution von 1776 resultiert: „no taxation without
representation“, auf Deutsch: keine Steuererhebung,
wenn nicht zuvor die Volksvertretung damit befasst war.
Nun sind wir in Europa in einer etwas anderen Situation.
Wir haben ein Europäisches Parlament, das zu Recht ar-
gumentiert: „no representation without taxation“, das
also die Frage stellt, wie es mit einer eigenen europäi-
schen Steuer aussieht. Ich sage es hier ganz offen: Nie-
mand, weder die Kommission noch, wie ich vermute,
eine der beteiligten Parteien, hat bisher eine Lösung für
dieses Problem gefunden, die mehr Gerechtigkeit schafft
und zugleich dem heute leider noch üblichen Steuerwett-
bewerb zwischen Nationalstaaten entgegenwirkt, der
dazu führt, dass große Unternehmen versuchen, an der
Schraube so lange zu drehen, bis immer weniger Steuern
fließen, wodurch auch der europäische Wohlfahrtsstaat,
auf den wir alle aufbauen, infrage gestellt wird.

Dieser Aufgabe werden wir uns stellen müssen; die
SPD hat sich in ihrem Grundsatzprogramm gerade dazu
verpflichtet. Dies wird nicht nur von der SPD, sondern
von uns allen geleistet werden müssen; denn, liebe Kol-
leginnen und Kollegen, wir stehen hier vor einer doppel-
ten Aufgabenstellung: Mit der Ratifizierung des Vertra-
ges von Lissabon stärken wir den Deutschen Bundestag
in seinen europäischen Rechten und Pflichten zugleich.
Wir müssen also aus deutscher Sicht auf diese europäi-
sche Finanzfrage eine Antwort geben, weil auch nach
Lissabon diese Dinge noch der Ratifizierung hier bedür-
fen. Entscheidungen über Steuern verbleiben beim Prin-
zip der Einstimmigkeit. Das heißt für uns alle, soweit
wir in Europa gemeinsam Verantwortung tragen wollen,
was wir in der nächsten Woche hier sicherlich auch zei-
gen werden, dass dies in unseren europäischen Parteifa-
milien eine wichtige Aufgabenstellung sein wird. Des-
halb sage ich bei dieser europäischen Finanzdebatte
heute: Machen wir uns an die Arbeit!

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615418300

Der Kollege Michael Link hat jetzt das Wort für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Michael Link (FDP):
Rede ID: ID1615418400

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Heute,

zwei Jahre und zwei Monate nachdem sich die Staats-
und Regierungschefs in Brüssel in nächtlicher Sitzung
auf die Eckpunkte der Finanziellen Vorausschau geeinigt
haben, kommen wir endlich zur Ratifizierung und setzen
das um, was damals beschlossen wurde.

Wenn ich „endlich“ sage, dann nicht, weil ich es nicht
erwarten konnte und es fantastisch fand, sondern weil
ich damit darauf hinweisen will, dass wir ein legitimato-
risches Problem haben. Wir entscheiden über erhebliche
Beträge. Wenn wir den deutschen Beitrag auf sieben
Jahre hochrechnen, dann stellen wir fest, dass es sich um
über 172 Milliarden Euro handelt. Diese Summe ratifi-
zieren wir auf einen Schlag – ex post.

Wir wissen doch alle, dass wir die Entscheidung de
facto nur abnicken können, dass wir heute de jure zu-
stimmen müssen. Damit meine ich nicht etwas Despek-
tierliches, sondern ich frage mich, wie wir etwas im
Nachhinein ändern können, was schon in Kraft ist. For-
mal wird es natürlich rückwirkend in Kraft gesetzt, aber
auf der Ausgabenseite ist es bereits wirksam. Wir dürfen
nicht vergessen, dass sämtliche Förderprogramme auf
der Ausgabenseite bereits laufen; das haben wir als Fi-
nanzielle Vorausschau beschlossen. Wir beschließen
heute im Nachhinein über die Einnahmeseite. Das passt
doch nicht zusammen.

Deshalb hat Kollege Schäfer völlig recht, wenn er
sagt: Wir müssen als Bundestag unsere Rechte ernster
nehmen. Wir können das jetzt, und das sollte unser An-
spruch an uns sein.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Wir können das, weil wir jetzt – im Gegensatz zu früher –
nach Art. 23 Abs. 3 GG tatsächlich Stellungnahmen ab-
geben können, die unsere Minister mandatieren, bevor
haushaltswirksame Entscheidungen in Brüssel getroffen
werden.

Dazu muss es wirklich kommen – das ist die Forde-
rung, die wir als FDP erheben –: Europäische Haushalts-
beschlüsse – bei der Einnahmeseite und indirekt auch bei
der Ausgabenseite sind wir als Bundestag voll im Boot –
müssen wir genauso ernst behandeln, als wenn es sich
um einen Einzelplan im Bundeshaushalt handeln würde.
Das ist der Anspruch, den wir an uns selbst haben müs-
sen. Wenn unser EU-Beitrag ein Einzelplan wäre, wäre
es der fünftgrößte im Bundeshaushalt.

Wir ratifizieren ohne wirkliche, streitige Diskussio-
nen auf einmal im Nachhinein für sieben Jahre. Wir kön-
nen es heute – das stelle ich fest – leider eben nur abni-
cken. Wir sind nicht wirklich dagegen; auch die FDP ist
für eine solide finanzierte Europäische Union und auch
eine gut finanzierte Europäische Union. Wie soll man
aber heute noch Nein sagen und etwas an einem Be-
schluss ändern, den die Exekutive quasi freihändig ver-
handelt hat?

Es gibt Schatten, aber auch Licht, das heißt positive
Aspekte bei diesem Beschluss. Das BMF und auch die
Bundeskanzlerin haben ausgehandelt, dass wir unter
dem Strich durchaus etwas weniger bezahlen. Dies ge-
schieht aber nicht durch Reformen, sondern durch neue
Rabatte, Sonderzahlungen und Tauschgeschäfte hin und
her. Das ist nicht die Art von Transparenz auf der Ein-
nahmeseite, die wir haben wollen.


(Beifall bei der FDP)


Wir wollen nicht Rabatte hin und her, sondern ein trans-
parentes und gerechtes Einnahme- bzw. Finanzierungs-
system der EU, das den einzelnen Mitgliedstaaten die
Möglichkeit gibt, nach ihrer Leistungskraft zu den Ei-
genmitteln der EU beizutragen.

Für uns ist ganz klar: Mit dem Eigenmittelbeschluss,
den wir heute ratifizieren, wird sehr kurz gesprungen. Im
Prinzip werden wieder nur Tausch- und Koppelgeschäfte
gemacht. Die Rabatte sind schon angesprochen worden.
Dass auch Deutschland einen massiven Rabatt erhält
– darüber hinaus die Niederlande, Schweden, Österreich,
also eben nicht nur Großbritannien –, sei hier nur er-
wähnt.

Wir als Deutsche sparen bei den Mehrwertsteuerab-
führungen noch einmal ordentlich. Aber das sind eben-
falls Geschäfte und Gegengeschäfte. Wir brauchen in der
Bundesrepublik, aber auch in den anderen Mitgliedslän-
dern eine Beitragszahlung, die an das Bruttonationalein-
kommen gekoppelt ist. Notwendig ist der Verzicht auf
die Mehrwertsteuerabführungen. Das ließe einen verzer-
rungsfreien Haushalt auf der Einnahmeseite zu. Dafür,
dass es in diese Richtung geht, werden wir uns als Libe-
rale bei der anstehenden Finanzrevision einsetzen.

Wenn ich sage, dass wir uns als Liberale dafür einset-
zen werden, dann meine ich die Liberalen in Berlin und
in Brüssel. Von den Kollegen der SPD und in dem Fall
sogar von der CDU/CSU im Haushaltsausschuss höre
ich, dass man gegen eine EU-Steuer ist. Gleichzeitig
höre ich aus der EVP, auch von deutschen Abgeordne-
ten, Stimmen dafür. Nun ist innerparteilicher Pluralis-
mus sicherlich nichts Schlechtes, aber hier geht es um
eine Position, zu der wir klar sagen müssen, was wir
wollen.

Wir als FDP sagen klar, dass eine EU-Steuer zur Er-
zielung von Einnahmen kein Fortschritt wäre, dass sie
im Hinblick auf die Probleme der Intransparenz und
Kompliziertheit der Verhandlungen nichts brächte; im
Gegenteil. Die Nettozahlerdebatte bekämen wir dadurch
nicht vom Tisch. Die Nettozahlerdebatte bekommen wir
nur vom Tisch, wenn wir beim Subventionsdschungel
aufräumen und nicht weiter einen Großteil des EU-
Haushalts in den Agrar- und Strukturfonds vergraben.

Wir als FDP sind nicht gegen Solidarität. Die ist im
EU-Vertrag enthalten und soll auch dort enthalten blei-
ben. Dazu stehen wir. Wenn aber die Länder oder die
Empfänger von Struktur- und Kohäsionsfonds die Mittel
oft nicht dazu benutzen, sich von den Subventionen un-
abhängig zu machen, dann wird Solidarität pervertiert.
Aus unserer Sicht muss zu einem wirklich guten und
neuen Eigenmittelbeschluss in Zukunft dazugehören,
dass Struktur- und Kohäsionsfonds auf europäischer
Ebene befristet sein müssen und dass Empfänger von
Subventionen auf europäischer Ebene nicht dauerhaft






(A) (C)



(B) (D)


Michael Link (Heilbronn)

gefördert werden können. Das fordern wir. Die Haus-
haltsrevision steht nächstes Jahr mit ersten Entscheidun-
gen an. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Diesen Einstieg
müssen wir machen. Sonst werden wir weiterhin 80 Pro-
zent des EU-Haushalts für Subventionen ausgeben.


(Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da bin ich aber gespannt, wie das im Agrarhaushalt gehen soll!)


– Ja, das ist sicherlich schwierig, Herr Steenblock. Ohne
große und klare Ziele kommen wir hier aber nicht weiter.
Wie aktuell die Gefahr einer bevorstehenden EU-Steuer
im Übrigen ist, weist nicht nur Ihr Parteiprogramm auf.
Ich verstehe durchaus Ihr Anliegen. Ich glaube nur nicht,
dass es ein tauglicher Weg zum Ziel transparenter EU-
Finanzen ist.

Vorgestern hat die französische Ministerin für Wirt-
schaft und Finanzen erklärt, dass ein Hauptziel der fran-
zösischen Präsidentschaft sei, während der französischen
Präsidentschaft nicht nur eine gemeinsame Bemessungs-
grundlage für die Körperschaftsteuer zu erreichen, son-
dern bereits den Einstieg in einen Hebesatz der EU am
nationalen Körperschaftsteuereinkommen, der dann vom
Europäischen Parlament und vom Rat beschlossen wer-
den solle. Das ist der Einstieg in die EU-Steuer. Wenn wir
damit anfangen, dann wünsche ich viel Spaß dabei. Das
führt nicht zu mehr Transparenz. Das führt genau in die
falsche Richtung.

Kolleginnen und Kollegen, die FDP wird sich heute
bei diesem Eigenmittelbeschluss enthalten. Dieser Ei-
genmittelbeschluss birgt sicherlich auch einige Fort-
schritte, aber hinsichtlich des Verfahrens und des Inhalts
können wir so keinen Blankoscheck erteilen. Die Bun-
desregierung wird uns aber immer an ihrer Seite haben,
wenn es darum geht, den Haushalt wirklich konsequent
zu reformieren, und zwar in einer Art und Weise, die den
Steuerzahler nicht belastet, sondern die ihn entlastet.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615418500

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege

Helmut Lamp.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Helmut Lamp (CDU):
Rede ID: ID1615418600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der Kollege von der FDP hat gerade eben gesagt, wir
seien heute nur zum Abnicken eines Gesetzentwurfes
hier. Dazu muss ich sagen: Wir nicken nicht ab, sondern
wir stehen voller Überzeugung und aus ganzem Herzen
zu diesem Gesetzentwurf. Dieser Gesetzentwurf ver-
dient es nicht, dass man ihn marginalisiert. Denn wer
hätte vor wenigen Jahren gedacht, dass wir heute über
einen solchen Gesetzentwurf mit diesen Ergebnissen ab-
stimmen können?


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Sie hören schon, dass die CDU/CSU-Fraktion diesem
Gesetzentwurf aus ganzem Herzen zustimmen wird. Das
heute zu beschließende neue Eigenmittelsystem der EU
ist ein deutlicher Fortschritt gegenüber dem bisherigen
Eigenmittelbeschluss aus dem Jahr 2000. Der heutige
Beschluss hat das Ziel, das Finanzregime der Europäi-
schen Union von 2007 bis 2013 zu reformieren und eine
gerechtere Verteilung der Lasten innerhalb der Europäi-
schen Union zu erreichen. Ich denke, dass die gerechtere
Verteilung der Lasten mit dem Ziel, dass kein Mitglied-
staat – gemessen am relativen Wohlstand – unangemes-
sen hohe Haushaltsbelastungen zu schultern hat, ein gan-
zes Stück vorangekommen ist.

Basis des jetzigen Eigenmittelbeschlusses sind die Er-
gebnisse der sehr erfolgreichen Tagung des Europäi-
schen Rats im Dezember 2005, bei dem die damals ge-
rade frisch ins Amt gewählte Bundeskanzlerin Angela
Merkel ein andauerndes Gefeilsche um die Mittelvertei-
lung durch geschicktes Verhandeln hat beenden können.
Die Kontroversen zwischen den Franzosen und den Bri-
ten über die gemeinsame Agrarpolitik und über den Ra-
batt für Großbritannien wurden durch geschickte Kom-
promissvorschläge der Kanzlerin entschärft. Natürlich
sind wir mit dem Verhandlungsergebnis insofern nicht
zufrieden, als – wie die FDP sagt – alle Rabatte hätten
abgeräumt werden müssen. Das war offensichtlich nicht
zu erreichen. Wir sind aber ein großes Stück weiterge-
kommen. Die sechs großen Nettozahler der Union,
Deutschland, Frankreich, England, die Niederlande,
Schweden und Österreich, erhalten einen Ausgleich bei
der Zahlung der Eigenmittel.

Ganz wichtig ist auch: Wir haben den Finanzrahmen
auf 1 Prozent es Bruttonationaleinkommens begrenzen
können. Das sind gut 864 Milliarden Euro und nicht, wie
ursprünglich von der Kommission geplant, über
1 000 Milliarden Euro, genau 1 025 Milliarden Euro.

Unter dem Strich überweist die Bundesregierung
durchschnittlich 1 Milliarde Euro pro Jahr weniger an
die EU. Das ist ein tolles Ergebnis für uns, insbesondere
auch mit Blick auf unsere Bemühungen um die Konsoli-
dierung des Bundeshaushaltes. Das Ungleichgewicht in
der Belastung bei den Nettozahlern wurde deutlich redu-
ziert. Italien und Frankreich sind nämlich verpflichtet
worden, deutlich mehr zum EU-Haushalt beizusteuern.
Ihr Nettohaushaltsbeitrag wurde erhöht, und der deut-
sche Beitrag ist dementsprechend angepasst worden.

In diesem Kontext – ich habe das schon erwähnt – ist
es unbefriedigend, dass der Beitragsrabatt der Briten,
den Margaret Thatcher 1984 mit der berüchtigten Forde-
rung: „I want my money back!“ durchgedrückt hatte,
nicht noch weiter abgeschmolzen werden konnte. Aber
die Absenkung der Beitragskorrektur für Großbritan-
nien, immerhin bis zu einem Betrag von 10,5 Milliarden
Euro bis 2013, können wir wohl schon als einen Einstieg
in den Ausstieg aus dem Britenrabatt ansehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich sehe den Kompromiss, der hier erreicht wurde
und der so in dieser Form gar nicht erwartet wurde,






(C)



(B) (D)


Helmut Lamp
durchaus als einen Einstieg in eine künftig gerechtere
Beitragsregelung. Hierbei wird es darum gehen – wie
der FDP-Kollege es hier angedeutet hat –, das Beitrags-
system zu verbessern und mehr Licht in das Dunkel ein-
zelner Sondervorteile zu bringen, um sie dann abzu-
schmelzen.

Wie soll es weitergehen? Das derzeitige Finanzsys-
tem der EU steht auf dem Prüfstand. Bis Mitte des Mo-
nats werden dazu erste Vorschläge von den Mitgliedstaa-
ten erwartet. Hierzu möchte ich einige grundsätzliche
Gedanken äußern.

Das neue, erweiterte Vertragswerk, nämlich der Ver-
trag von Lissabon, der ja gestern von Österreich ratifi-
ziert wurde und mit dem wir uns ja auch bald wieder be-
schäftigen werden,


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kriegt die Große Koalition gar nicht hin!)


eröffnet erstmals die Chance, die europäische Teilung zu
überwinden und nunmehr alle 27 Mitgliedstaaten für die
zukünftigen Herausforderungen fit zu machen. In der
künftigen Finanzierungsplanung sollten vorrangig Mittel
für die Bewältigung der künftigen Herausforderungen
und Aufgaben eingestellt werden. Die Gründerväter der
EU


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Und Mütter!)


wussten ja noch nichts von Klimaveränderungen, von
der globalen Vernetzung, von den Gefahren des Terroris-
mus und von den demografischen Problemen. China und
Indien waren zu der Zeit, als sich die EU im Gründungs-
stadium befand, Entwicklungsländer und nicht die Wirt-
schaftsmächte, die sie heute sind.

Die Deutsche Bahn hat mit Blick auf kommende Ent-
wicklungen in diesem Jahr erstmals einen Güterzug von
Peking nach Hamburg fahren lassen und geprüft, wie die
Verbindung nach Peking zu optimieren ist. Hier deuten
sich ganz neue Dimensionen globalen Handels an. Wir
müssen uns den enormen wirtschaftlichen Herausforde-
rungen der Globalisierung, die sich ja weiterhin abzeich-
nen, stellen – das tun wir ja auch schon – und für die
europäische Wirtschaft die erforderlichen Rahmenbedin-
gungen setzen.

Bei der Bewältigung der Herausforderungen und der
Aufgaben der Zukunft dürfen wir nicht die Emotionen
und die Empfindlichkeiten der EU-Bürger außer Acht
lassen. Die Europäer sollten sich künftig stärker mit ih-
rem Haus identifizieren können: mit einem gemeinsa-
men Haus mit 27 unterschiedlichen Zimmern, einem
Haus, in dem das europäische Heimatgefühl noch eher
unterentwickelt ist. Europa ist einmalig und liebenswert
aufgrund seiner regionalen Vielfalt. Die Vielfalt der
ländlichen Kulturen spiegelt sich in den unterschiedli-
chen Sprachen, Dialekten, dem unterschiedlichen
Brauchtum und den in Jahrhunderten gewachsenen Kul-
turlandschaften wider. Diese Vielfalt ist ein Stück Le-
bensqualität, die gefährdet ist, aber die Touristen aus
Amerika und Asien sehr wohl zu schätzen wissen und
mittlerweile bei uns suchen. Diese typisch europäische
kulturelle Vielfalt muss in die Zukunft gerettet werden.
Sie muss in notwendige, die Globalisierung bedenkende
Initiativen eingebettet werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wenn ich von „eingebettet“ spreche, dann bedeutet
das, dass auch für den ländlichen Raum entsprechende
Mittel zur Verfügung gestellt werden. Es ist richtig, dass
wir den Agrarhaushalt dann, wenn es an der Zeit ist, auf
den Prüfstand stellen müssen. Aber die zeitlichen Zusa-
gen, die bestehen, können wir nicht kurzfristig über den
Haufen werfen und damit die Glaubwürdigkeit der Poli-
tik infrage stellen. Während der derzeit stattfindenden
Haushaltsüberprüfung können wir zwar Korrekturen
vornehmen; aber wir sollten in dieser Zeit, wenn wir die
Glaubwürdigkeit der Politik erhalten wollen, die Agrar-
reform in der derzeitigen Form nicht als Ganzes infrage
stellen.

Damit sind wir wieder beim EU-Haushalt. Bis Mitte
April müssen die nationalen Regierungen, wie ich schon
sagte, der Kommission Vorschläge machen, wie die EU-
Ausgaben ab 2014 finanziert werden sollen.

Ich fasse kurz zusammen: Es ist richtig, was schon
gesagt wurde: Beim Beitragsanteil der Mitgliedstaaten
sollte auch in Zukunft 1 Prozent des Nationaleinkom-
mens nicht überschritten werden. Ich teile die Bedenken
gegenüber einer EU-Steuer.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615418700

Herr Kollege, seien Sie so nett und kommen Sie zum

Ende.


Helmut Lamp (CDU):
Rede ID: ID1615418800

Wir sollten die Rabatte abschaffen. Ein solider Haus-

halt schafft Vertrauen.

Ich bitte Sie, dem vorliegenden Gesetzentwurf zuzu-
stimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615418900

Für die Linke spricht der Kollege Dr. Diether Dehm.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1615419000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es gibt zwar punktuelle Übereinstimmungen, aber eine
ganz andere Draufsicht. Der ganze Ratsbeschluss wurde
einseitig unter dem Gesichtspunkt finanzieller Forderun-
gen der einzelnen Mitgliedstaaten und nicht unter dem
einer sinnvollen finanzpolitischen Ausrichtung der EU
getroffen.

Gebraucht werden dagegen der Umbau der Verkehrs-
systeme sowie der Energieversorgung, der Ausbau von
sozialem Wohnraum gegen eine zunehmende Verwahr-
losung ganzer Stadtteile in fast allen Metropolen Euro-
pas, soziale Stadterneuerung und der Ausbau der
Bildungs- und Weiterbildungsinfrastrukturen in den Mit-

(A)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. Diether Dehm
gliedstaaten. Nur das sichert Zukunft, und das alles
schafft neue Arbeitsplätze.

Ein besonderer Schwerpunkt sollte der Kampf gegen
die Armut sein. Laut Bureau of European Policy Advi-
sers sind in der EU über 100 Millionen Menschen – das
ist fast jeder siebte – von Armut betroffen oder bedroht.
25 Prozent aller Kinder in der EU sind arm. Deshalb for-
dert die Linke konkrete europaweite Programme gegen
diesen Skandal.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein Interview von Finanzstaatssekretär Thomas
Mirow am 31. März zeigt deutlich, dass die Bundesre-
gierung in der Frage des Eigenmittelbeschlusses nicht
seriös argumentiert; denn er sagt dort, das Festhalten an
der geltenden 1-Prozent-Regelung führe bis 2020 zu ei-
nem Anstieg des Haushaltsvolumens um 40 Prozent.
Rein technisch stimmt das. Gleichzeitig verschweigt er,
dass das nur funktionieren kann, wenn das Bruttonatio-
nalprodukt der EU bis 2020 auch um 40 Prozent steigen
würde.

Der tatsächliche Haushalt der EU liegt weit unterhalb
einer strukturpolitisch vernünftigen Größe. In der inter-
institutionellen Übereinkunft vom Mai 1999 wurde für
den Zeitraum bis 2006 für die EU-Ausgaben eine Ober-
grenze von 1,27 Prozent des EU-BIP festgelegt. Schon
dies war bei weitem zu niedrig. Mit der jetzigen Festle-
gung der Eigenmittelobergrenze auf 1,24 Prozent des ge-
samten Bruttonationalprodukts wurden die Eigenmittel
für die EU noch einmal eingeschränkt. Wenn sich gleich-
zeitig die Bundeskanzlerin dafür feiern lässt, dass sie die
tatsächliche Eigenmittelfestschreibung des EU-Haus-
halts auf 1 Prozent des Bruttonationalprodukts durchge-
setzt hat, wird diese Fehlhaltung deutlich.


(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Wer hat es denn geschrieben? Ihre Fraktion?)


Wir sind der Überzeugung, dass eine Erhöhung der
Eigenmittel der EU eine Demokratisierung der Struktu-
ren und Verfahren der europäischen Institutionen be-
dingt. Jegliche Ausgaben auf EU-Ebene für die Verteidi-
gungsagentur, für die schrittweise Verbesserung der
militärischen Kapazitäten, wie es in dem unsäglichen
Lissabon-Vertrag heißt, lehnen wir und die Mehrheit der
Deutschen ab. Deswegen fürchten Sie ja auch eine
Volksabstimmung über den Lissabon-Vertrag.


(Beifall bei der LINKEN)


Für uns ist die Aufrechterhaltung des 1985 eingeführ-
ten Haushaltskorrekturmechanismus nicht akzeptabel,
der dem Vereinigten Königreich einen Rabatt auf seine
Beitragszahlungen einräumt und Großbritannien 66 Pro-
zent seines Nettosaldos erstattet. Zwar wird durch die
neue Regelung der Ausgleichsaldo progressiv gemin-
dert, aber das grundsätzliche Problem von Sonderrege-
lungen für einzelne Mitgliedstaaten nicht gelöst. Die
Linke tritt dafür ein, dass alle Ausnahmeregelungen
schnellstmöglich abgeschafft werden. Die EU muss zu
einer verlässlichen, transparenten Finanzierung kommen
und nicht den Eindruck eines Basars erwecken.
Die Finanzierung der EU mit der Festschreibung ei-
nes gleichen Anteils am Bruttonationalprodukt wäre
nichts anderes als gerecht. Gleichzeitig haben wir uns
immer gegen die Vereinfachung gewehrt, lediglich über
Nettozahler und Nettoempfänger zu sprechen. Das hat
zwei Gründe: Zum einen setzt eine solidarische Ent-
wicklung unterschiedlicher regionaler Räume voraus,
dass die stärkeren Bereiche einen Beitrag dazu leisten,
dass sich die schwächeren Regionen entwickeln können.
Aufgrund der Exportstärke Deutschlands fließt massig
Geld aus der EU nach Deutschland zurück – nicht in die
Portemonnaies der Mehrheit der Menschen, aber in die
Konzernkassen. Deswegen ist immer die Frage, Kollege
Link, welche Steuerzahler Sie entlasten wollen. Somit ist
eine Nettozahlerrolle automatisch vorgegeben.

Zum anderen entsteht die Nettozahlerposition
Deutschlands durch die problematische EU-Ausgaben-
struktur. Solange weiterhin etwa 40 Prozent der Gemein-
schaftsausgaben für die Landwirtschaftspolitik verwen-
det werden, ist doch klar, dass ein hoch industrialisiertes
Land wie das unsrige mit einem Anteil der Landwirt-
schaft am Bruttoinlandsprodukt von 1,1 Prozent weniger
von diesem Ausgabenbereich profitieren kann.

Wir halten mehr Entwicklung und Innovation der
ländlichen Räume für zukunftsweisend.

Den vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung lehnen wir aus all diesen genannten Gründen ab.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Wer war der Autor? Wer hat es geschrieben?)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615419100

Jetzt hat Rainder Steenblock das Wort für Bündnis 90/

Die Grünen.


Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615419200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich stimme dem Kollegen Dehm an einer Stelle aus-
drücklich zu: Die Debatte über einen Anteil von 1 Pro-
zent zur Finanzierung ist eigentlich falsch; denn der
Kern einer Debatte über die EU-Finanzen muss immer
die Frage beinhalten: Welche Aufgaben wollen diejeni-
gen, die in Europa zu entscheiden haben – also EP, Mi-
nisterrat und die nationalen Parlamente –, Europa über-
tragen?


(Klaus Hagemann [SPD]: Richtig!)


Das ist die entscheidende Frage. Danach richtet sich die
Finanzierung. Europa so zu stricken, dass alle 1 Prozent
ihres Haushaltsvolumens geben, ist der falsche Ansatz.
Wir müssen vielmehr die übertragenen Aufgaben zum
Ausgangspunkt für unsere Überlegungen machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Ich bin mit all denen völlig einverstanden, die sagen,
dass man darauf achten muss, dass die Finanzierung ge-
recht ist und der Wahrnehmung der festgelegten Aufga-
ben dient. Niemand darf dabei über den Tisch gezogen






(A) (C)



(B) (D)


Rainder Steenblock
werden. Natürlich geht es bei Verhandlungen über Haus-
halte zu wie auf einem Basar. Das ist auch im Haushalts-
ausschuss des Deutschen Bundestages nicht grundsätz-
lich anders. Aber es muss auf der Grundlage von
rationalen Kriterien entschieden werden.

Für mich ist der entscheidende Punkt, dass man die
rationalen Kriterien in dieser Debatte herausarbeitet.
Lieber Herr Kollege Lamp, es geht nicht an, dass man
jubelt, wenn es die Bundesregierung beispielsweise ge-
schafft hat, 1 Milliarde Euro aus dem EU-Haushalt wie-
der in unseren Haushalt zu transferieren. Das ist nicht
das richtige Erfolgskriterium. Was wir brauchen, ist eine
gerechte Finanzierung. Dazu gehört aber Solidarität.
Diether, du weißt auch, wer gesagt hat: „Solidarität ist
die Zärtlichkeit der Völker.“ Das gilt natürlich auch in
Bezug auf die Finanzierung der EU. Wie auf nationaler
Ebene gilt auch hier das Grundprinzip: Starke Schultern
müssen mehr tragen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Es ist falsch, es als Sauerei zu beklagen, wenn wir
x Milliarden Euro geben, aber nur y Milliarden Euro he-
rausbekommen. Wir stehen in der Pflicht, mehr Lasten
zu übernehmen. Es wäre doch absurd, wenn jemand, der
1 Million Euro Steuern in Deutschland zahlt, fragt, was er
vom Staat eigentlich zurückbekomme; wenn jemand sagt,
es sei eine Ungerechtigkeit, dass er nur 10 Euro – oder
was auch immer – aus den Transferkassen der Sozialsys-
teme zurückbekomme. Ich kann doch nicht am Ende des
Jahres schauen, wie viel ich von dem, was ich in die Ge-
sundheitskasse einbezahlt habe, wieder herausbekom-
men habe. Das ist eine absurde Diskussion. Dieser Popu-
lismus erschwert unser Bemühen, dafür zu sorgen, dass
die Menschen Europa als Heimat empfinden. Herr
Lamp, ich stimme Ihnen ja zu: Wir brauchen die Identifi-
zierung der Menschen mit Europa. Wenn wir aber argu-
mentieren, Europa kann nicht mit Geld umgehen, des-
halb müssen wir das machen, dann machen wir genau
das kaputt. Das ist ein Fehler, den wir nicht machen dür-
fen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir Grüne wollen diese Finanzdebatte nutzen, um der
Europäischen Union ein ökologisches und ein solidari-
sches Profil zu geben. Das sind die beiden Herausforde-
rungen. Wir haben heute alle geklatscht, als der ehema-
lige Justizminister hier die Friedensdividende der EU
beschworen hat, was richtig ist. Es gibt aber auch eine
ökologische, eine soziale und eine ökonomische Divi-
dende der europäischen Integration. Wir glauben, dass
wir dies in der Finanzdebatte deutlich machen müssen.

Das heißt für die Einnahmeseite – darin sind wir uns
alle einig –: Ein Anteil des Bruttonationaleinkommens
muss eine stabile Säule der Finanzierung sein, weil das
ökonomisch gerecht ist. Wir wollen aber eine stärkere
Steuerung in Richtung ökologischer und sozialer Ge-
rechtigkeit erwirken. Das heißt zum Beispiel: Wir haben
in der Europäischen Union eine Bemessungsgrundlage
für die Energiesteuer, was die Mineralölsteuer betrifft,
vereinbart und Mindeststeuersätze. Wenn wir einen Teil
davon für den EU-Haushalt abzweigen würden – also
keine neue Steuer erheben würden –, könnten wir da-
durch die ökologische Orientierung und Lenkung deut-
lich machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Zweite ist: Wir brauchen eine soziale Kompo-
nente. Auch das kann man deutlich machen. Es gibt un-
terschiedliche Momente. In der Partei der Grünen sind
wir uns zum Beispiel darüber einig, dass wir eine harmo-
nisierte Unternehmensbesteuerung in Europa brauchen.
Daran arbeiten wir. Das brauchen wir. Über dieses Ziel
sind wir uns, glaube ich, einig. Ein Teil des Unterneh-
mensteueraufkommens könnte an die EU fließen, nach
dem Motto: Die Kraftzentren Europas finanzieren die
EU mit. Ein anderes Beispiel: Die Börsenumsatzsteuer
ist aus meiner Sicht eine sehr vernünftige Sache.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Mit diesem Instrument könnten wir auf der Einnahme-
seite soziale Gerechtigkeit in der Europäischen Union
herstellen.

Es ist klar, dass wir auch eine Debatte über die Aus-
gaben brauchen. Der Agrarhaushalt und die Struktur-
fonds sind angesprochen worden. Das System der Ver-
teilung von Finanzmitteln zwischen den reichen Staaten
über Strukturfonds halte ich für Quatsch. Mithilfe der
Strukturfonds müssen Staaten, die keine ausreichende
Infrastruktur haben – es geht auch um die soziale Infra-
struktur –, konsequent an den EU-Durchschnitt herange-
führt werden. Es ist aber absurd, zwischen den reichen
Staaten Infrastrukturkosten hin- und herzuschieben. Des-
halb brauchen wir an diesen Stellen Reformen; über-
haupt keine Frage.

Wenn es uns aber nicht gelingt, das Profil der Europäi-
schen Union auch im Finanzbereich in Richtung Zu-
kunftsausgaben zu verschieben – Stichworte: Klima,
Ökologie und Solidarität im sozialen Bereich –, dann
werden wir es nicht erreichen können, dass die Men-
schen Europa als Heimat empfinden. Dann werden wir
auch die Solidarität in Europa verspielen. Ich glaube, wir
brauchen auch in der Finanzdebatte diese Kriterien.

Eine letzte Bemerkung: Ich plädiere sehr dafür, dass
wir als Parlamentarier des Deutschen Bundestages unab-
hängig von den Mehrheitsverhältnissen darauf bestehen,
dass das Parlament, die Volksvertretung der deutschen
Bürgerinnen und Bürger, die Richtung der Finanzierung
der EU beschließt. Wir sollten das nicht der Regierung
überlassen. Es ist parlamentarisches Recht des Deut-
schen Bundestages, über diese Finanzen mitzubestim-
men.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615419300

Der Kollege Klaus Hagemann hat jetzt das Wort für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Klaus Hagemann (SPD):
Rede ID: ID1615419400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Heute Vormittag wurde in der Gedenkstunde
deutlich gesagt, dass die europäische Einigung alterna-
tivlos ist und wir uns auf einem guten Weg befinden.
Dazu gehören Herz, Idealismus und Begeisterung. Küh-
ler Verstand, Finanz- und Haushaltspolitik gehören aber
auch dazu.

Wichtige Gedanken sind hier schon vorgetragen wor-
den. Ich möchte ebenso wie der Kollege Lamp davor
warnen, dass das, was im Jahr 2005 erreicht worden ist
und was wir heute ratifizieren, kleingeredet und nicht
genügend gewürdigt wird. Wir haben erreicht, dass
Deutschland 1 Milliarde Euro weniger zahlen wird. Die
Summe entspricht unserem Umwelthaushalt oder 10 bis
11 Prozent des Bildungs- und Forschungshaushalts. Des-
wegen möchte ich davor warnen, die Erfolge kleinzure-
den. Wir sollten würdigen, was erreicht worden ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit dem, was in der Agrarpolitik eingeleitet worden
ist, sind wir meiner Ansicht nach auf dem richtigen Weg.
Den Britenrabatt brauche ich nicht noch einmal zu be-
leuchten; die Diskussion muss weiter geführt werden.
Der eingeschlagene Weg ist jedenfalls richtig.

Viele Ungerechtigkeiten sind abgeschafft worden;
darauf wurde schon hingewiesen. Die EU ist eine Soli-
dargemeinschaft. Betrachten wir einmal Irland: Irland
hat sich mit Mitteln aus dieser Solidargemeinschaft weit
nach vorne gearbeitet und ist heute aber immer noch
Nettoempfänger. Hier müssen und können Ungerechtig-
keiten abgeschafft werden. Es ist auch richtig, dass das
Bruttonationaleinkommen weiterhin Finanzierungs-
grundlage ist. Auch das ist nach unserer Ansicht – ich
spreche hier als Haushälter – der richtige Weg.

Herr Dehm, ich darf Sie noch einmal kurz anspre-
chen. In den letzten Jahren ist gerade auf europäischen
Ebenen durch den Lissabon- und durch den Bologna-
Prozess Erhebliches in die richtigen Bahnen geleitet
worden. Deswegen sollte man das nicht kleinreden, auch
Sie von den Linken nicht.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Aber die Kinderarmut wächst!)


Auch das, was wir im Forschungs- und Bildungsbe-
reich durch das 7. Forschungsrahmenprogramm erreicht
haben, sollten wir nicht kleinreden. All das wird mit die-
sen Mitteln finanziert. Mit den starken Schultern, die wir
als 80-Millionen-Volk nun einmal haben, tragen wir er-
heblich dazu bei. Es ist auch richtig, dass wir Solidarität
üben.

Die Europäische Union investiert in Frieden und Sta-
bilität. Ich nenne die Gemeinsame Außen- und Sicher-
heitspolitik und den Europäischen Entwicklungsfonds.
Wir sollten daran erinnern, dass die Mittel für diejeni-
gen, die unserer Solidarität bedürfen, zur Verfügung ste-
hen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Erwähnt werden muss noch die Innen- und Sicherheits-
politik. Auch hier sind erhebliche Schritte nach vorne
getan worden.

Aber wir wissen auch, dass die Medaille nicht nur die
eine Seite hat, von der ich gesprochen habe, sondern
auch eine andere. Die fehlende Transparenz im Haushalt
ist zu nennen. Es gibt immer noch Schattenhaushalte.
Als Haushälter, die wir uns in einem Unterausschuss re-
gelmäßig damit beschäftigen, Kollegen Barthle und
Schulte-Drüggelte, müssen wir sagen, dass hier mehr
Transparenz gefordert ist. Wir beschäftigen uns in die-
sem Unterausschuss immer wieder mit Haushaltsausga-
benresten, die entstehen und von denen keiner weiß, wie
sie weiter verwandt werden. Auch in diese Angelegen-
heit muss Licht.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Sehr wahr!)


Ein weiteres Thema: fehlende Sparsamkeit und Haus-
haltsdisziplin. Das muss ein Haushälter hier erwähnen.
Wir finanzieren mit unseren Mitteln Doppelstrukturen,
die zusätzliche Bürokratie erzeugen. Auch hier müssen
Veränderungen geschaffen werden. Wir haben gerade
durch den Lissabon-Vertrag die Möglichkeit, Herr
Dehm, als nationales Parlament mitzureden und diese
Strukturen aufzubrechen. Deswegen wäre es sinnvoll,
wenn auch Sie diesem Vertrag zustimmen würden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich diese Doppelstrukturen, die finan-
ziert werden müssen und Mitarbeiter benötigen, bei-
spielhaft an den Agenturen, die jetzt ständig eingerichtet
werden, deutlich machen. Wir haben im EU-Unteraus-
schuss einen von den Grünen gestellten Antrag einstim-
mig beschlossen. Wir als Koalition haben ihn mitgetra-
gen, weil er vernünftig und richtig ist. Die Zahl der
Agenturen ist in den letzten sieben Jahren von zwölf auf
35 gestiegen; das ist fast eine Verdreifachung. Die Zahl
der Planstellen für Beamte und Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter ist von 1 734 auf 4 436 gestiegen. Das müs-
sen wir geißeln; das ist so nicht in Ordnung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


22 Gemeinschaftsagenturen bestehen. – Jetzt muss ich
auf mein Manuskript schauen, damit ich die richtigen
Zahlen nenne.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615419500

Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Dr. Dehm zulassen?


Klaus Hagemann (SPD):
Rede ID: ID1615419600

Gerne.






(A) (C)



(B) (D)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615419700

Bitte.


(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Eine abgelesene oder eine freie?)



Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1615419800

Können Sie sich auch vorstellen, dass wir die Rüs-

tungsagentur streichen?


Klaus Hagemann (SPD):
Rede ID: ID1615419900

Die Notwendigkeit dazu sehe ich nicht.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ach so!)


Ich rede jetzt über Agenturen, sehr geehrter Herr Dehm,
bei denen es Doppelstrukturen gibt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Stehenbleiben! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Aufstehen!)


Ich möchte meine Antwort auf Ihre Frage noch ergän-
zen. Wir haben 22 Gemeinschaftsagenturen, drei Agen-
turen für Außen- und Sicherheitspolitik, drei Agenturen
für polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Straf-
sachen und vier Exekutivagenturen. Da müssen wir an-
setzen. Dass Sie jetzt aber die Gemeinsame Sicherheits-
und Außenpolitik schlecht reden, die Europa auch stark
macht, Herr Dehm, das akzeptiere ich nicht.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ein Sozialdemokrat!)


Wir können hier jetzt keinen Dialog führen. Wir können
uns meinetwegen hinterher noch auf ein Glas Bier zu-
sammensetzen und das noch einmal im Detail diskutie-
ren. Das kann aber nicht hier im Parlament geschehen,
denn die Thematik ist viel zu wichtig.


(Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615420000

Diese Verabredung können Sie vielleicht auch nach-

her konkretisieren, denn sonst kommen womöglich alle
mit.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD)



Klaus Hagemann (SPD):
Rede ID: ID1615420100

Ich möchte noch einmal die Problematik in Bezug auf

die Agenturen darlegen. Sie können sich setzen, Herr
Dehm.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


In manchen Fällen werden die Aufgaben doppelt erle-
digt; da weiß die eine Agentur nicht, was die andere
macht. Es ist zu fragen, wer die Agenturen überhaupt
kontrolliert. In manchen Fällen arbeiten Mitarbeiter der
Kommission an demselben Thema wie eine, zwei oder
drei Agenturen. Es gibt also genügend Stellen, an denen
gehandelt werden muss und an denen Geld eingespart
werden kann.

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: In der Rüstung!)


– Das gilt nicht nur für die Rüstung, sondern auch für die
Verwaltung und Bürokratie. Wir müssen in Bezug auf
Wachstum, Arbeitsplätze, Bildung und Forschung die
Zukunft im Blick haben. Das sind die Arbeitsbereiche,
bei denen die EU auf dem richtigen Weg ist. Aber der
Weg kann in diesem Fall nicht das Ziel sein. Bei diesen
Prioritäten muss weiterhin gehandelt werden.

Europa zu gestalten heißt, nicht nur mit heißem Her-
zen dabei zu sein, sondern auch mit kühlem Verstand. Es
gehört auch dazu, die Themen hart zu verhandeln, näm-
lich so, wie es bei diesem Vertrag geschehen ist. Deshalb
werden wir als SPD-Fraktion diesem Gesetzentwurf
selbstverständlich zustimmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615420200

Jetzt hat der Kollege Norbert Barthle für die CDU/

CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Norbert Barthle (CDU):
Rede ID: ID1615420300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir sind jetzt am
Schluss der Debatte zum Beschluss des Rates vom
7. Juni 2007, in dem es um die Neuausrichtung des Sys-
tems der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaft
geht, angekommen. Nachdem wir dieses Thema auch im
Unterausschuss zu Fragen der Europäischen Union des
Haushaltsausschusses ausführlich beraten haben – die
Kollegen Hagemann, Schulte-Drüggelte und Link waren
mit dabei –, haben wir jetzt den Punkt erreicht, an dem
wir dieser Neuausrichtung des Systems der Eigenmittel
guten Gewissens zustimmen können. Nebenbei bemerkt
ist der Begriff „Eigenmittel“ etwas euphemistisch, denn
es sind ja eigentlich Mittel der Nationen.

Das ist ein guter Tag für Europa und ein guter Tag für
uns. Warum? – Deutschland ist nach wie vor der größte
Zahler in der Europäischen Gemeinschaft. Im Jahr 2007
waren es 23 Milliarden Euro. Wenn man die Rückflüsse
abzieht, bleiben netto immer noch rund 7 Milliarden
Euro übrig. Deshalb haben insbesondere wir Haushälter
ein naheliegendes Interesse daran, dass in diesem Finan-
zierungssystem mehr Gerechtigkeit herrscht.

Es wurde bereits erwähnt, dass es eines der ersten
Meisterstücke von Bundeskanzlerin Angela Merkel war,
diesen Vertrag so auszuhandeln. Der Widerstand war
groß; der Britenrabatt und die französischen Agrarsub-
ventionen wurden erwähnt. Ich will aber noch einmal
betonen, dass das eine hervorragende Leistung von
Angela Merkel war. Denn unter dem Strich kommt dabei
heraus, dass wir von jetzt an bis 2013 Jahr für Jahr eine
Milliarde Euro weniger bezahlen werden. Bis zum Jahr
2013 ergibt das 6 Milliarden Euro, die wir weniger zu
zahlen haben. Diese 6 Milliarden Euro verbleiben im
Bundeshaushalt, reduzieren unsere Schulden und eröff-






(A) (C)



(B) (D)


Norbert Barthle
nen neue Spielräume. Das ist die gute Botschaft dieses
Tages. In letzter Zeit war in den Medien immer wieder
die Rede davon, dass zu viele Ausgaben beschlossen
würden. Jetzt können wir auch einmal die Botschaft ver-
breiten, dass wir weniger Geld ausgeben und deshalb
neue Spielräume zur Verfügung haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Gleichzeitig, so denke ich, sollten wir diesen Tag nut-
zen, um in die Grundsatzdebatte einzusteigen, wie die
Finanzierung ab 2013 ausgestaltet werden soll. Hier be-
nennt die CDU/CSU-Fraktion vier Schwerpunkte:

Erstens. Wir sind der Auffassung, dass die Ausga-
benobergrenze in Höhe von 1 Prozent des EU-Brutto-
nationaleinkommens konsequent beibehalten werden
soll. Diese Grenze sollte nicht überschritten werden. Wa-
rum? Alle Mitgliedstaaten sind derzeit dabei, ihre Haus-
halte zu konsolidieren, zu sparen und ihre Ausgaben, wo
es möglich ist, einzuschränken, weil die finanziellen
Ressourcen überall knapper werden. Das darf durch ei-
nen Ausgabenzuwachs auf europäischer Ebene nicht
konterkariert werden. Daher muss die Ausgabenober-
grenze nach wie vor Bestand haben.

Zweiter Schwerpunkt. Kernpunkte der Neuausrich-
tung müssen sein: Subsidiarität, Effizienz und Sparsam-
keit. Im Hinblick auf die Subsidiarität sollten wir vor al-
lem konsequent darauf achten, dass sich sowohl der
Europäische Rat als auch das Europäische Parlament auf
die Kompetenzen beschränken, die ihnen tatsächlich zu-
geschrieben sind, statt immer wieder neue Kompetenzen
und neue Aufgaben an sich zu ziehen. Denn dadurch
kommt es, wie Kollege Hagemann bereits ausgeführt
hat, zu Doppelstrukturen. Im Haushaltsausschuss erle-
ben wir immer wieder, dass an verschiedenen Stellen
noch erhebliche Sparpotenziale vorhanden sind. Hier
muss konsequent weitergearbeitet werden.

Der dritte Schwerpunkt, den ich anführen möchte,
lautet: mehr Transparenz und mehr Beitragsgerechtig-
keit. Die Menschen fragen uns: Warum sind wir Deut-
schen eigentlich die Zahlmeister in Europa? All diejeni-
gen, die Europa gegenüber ein bisschen skeptisch
eingestellt sind, äußern diesen Vorwurf immer wieder.
Deshalb ist es notwendig, dass wir in diesem Bereich für
mehr Gerechtigkeit sorgen.

Führt man unsere relative Finanzkraft bzw. unsere
Wirtschaftskraft ins Feld, stellt man fest, dass Deutsch-
land im Mittelfeld der 27 Mitgliedsländer der EU liegt.
Betrachtet man aber unsere Nettozahlerposition, wird
deutlich, dass wir an der Spitze aller Mitgliedstaaten lie-
gen. An dieser Stelle muss mehr Gerechtigkeit herge-
stellt werden, auch um bei den Menschen noch mehr Ak-
zeptanz für Europa zu schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Unsere Forderungen lauten: Alle Sonderregelungen
und Rabatte müssen weg, und wir sollten uns konse-
quent am Bruttonationaleinkommen orientieren. Wenn
wir es schaffen würden, die Finanzierung auf dieser
Säule aufzubauen, dann würde sich ganz von allein mehr
Gerechtigkeit ergeben. Dann wäre Europa auch ein
Stück weit unabhängiger von den jeweiligen nationalen
Mehrheiten, Herr Kollege von den Grünen. Ihr Vor-
schlag hingegen würde an dieser Stelle eine Gefahr dar-
stellen. Dieses Risiko wollen wir nicht eingehen.

Viertens. Wir treffen die klare Aussage: Wir wollen
keine eigene EU-Steuer. Denn eine eigene EU-Steuer
würde dazu führen, dass die Haushaltsdisziplin auf euro-
päischer Ebene nachlässt. Bislang kann Europa keine
Schulden machen. Das hat sich bewährt. Wir sollten an
diesem Prinzip nicht ohne Not rütteln.

Wenn es eine eigene EU-Steuer gäbe, würde sich ein
Problem ergeben: Da Steuern schwer abwägbar sind,
käme es zu Schwankungen. Um diese Schwankungen
auszugleichen, müsste man Schulden aufnehmen. Das
wäre der Weg in einen Verschuldungsprozess in Europa.
Das wollen wir nicht. Deshalb lehnen wir dieses System
ab. Wir sind dafür, das bisherige Stabilität garantierende
System zu verändern, indem wir es noch mehr als bisher
auf das Bruttonationaleinkommen ausrichten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Lassen Sie uns diesen Diskussionsprozess jetzt ent-
schieden anstoßen und diesen Vorschlag als die Position
Deutschlands in die Diskussion auf europäischer Ebene
einbringen. Wir hoffen, dass die Finanzierungsvoraus-
setzungen ab dem Jahr 2013 noch besser sein werden,
als sie es heute sind. Das wäre nicht nur im Sinne
Deutschlands, sondern vor allem auch im Sinne von uns
Haushältern.

Ich danke.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615420400

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu
dem Beschluss des Rates vom 7. Juni 2007 über das Sys-
tem der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften.
Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-
schen Union empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/8533, den Gesetzentwurf der Bun-
desregierung auf Drucksache 16/7686 anzunehmen. Ich
bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist angenommen mit den
Stimmen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grü-
nen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und bei
Enthaltung der FDP-Fraktion.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Dr. Lothar Bisky, Dr. Gregor Gysi, Oskar
Lafontaine und der Fraktion DIE LINKE

Einkommensteuertarif gerecht gestalten –
Steuerentlastung für geringe und mittlere Ein-
kommen umsetzen

– Drucksachen 16/5277, 16/6799 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Olav Gutting
Dr. Axel Troost

Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie-
ren. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Gabriele Frechen für die SPD-Fraktion das Wort.


Gabriele Frechen (SPD):
Rede ID: ID1615420500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Mit dem vorliegenden Antrag erheben die
Linken vier Forderungen, wie Menschen mit wenig Ein-
kommen entlastet werden sollen: Erstens soll der Grund-
freibetrag um 28 Euro monatlich erhöht werden. Damit
die Dimension klar wird: Es geht um die Erhöhung des
Freibetrags um 28 Euro, es geht nicht um 28 Euro weni-
ger Steuern.

Der Familienvater mit zwei Kindern und einem Brut-
toeinkommen von 20 000 Euro, den Sie auf Seite 1 Ihres
Antrags als Beispiel anführen, hätte davon eine Entlas-
tung von 0 Euro, in Worten: nichts. Das Gleiche gilt für
den Familienvater oder das Rentnerehepaar mit einem
Einkommen von 35 000 Euro; auch sie würden keine
Entlastung erfahren. Liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Linken, Sie schreiben in schönen Überschriften,
dass Sie Menschen, die wenig Einkommen haben, ent-
lasten wollen – wir handeln.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Lachen des Abg. Dr. Volker Wissing [FDP])


Mit dem Kinderzuschlag


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Sie vergleichen Äpfel mit Birnen! Darum geht es in einem anderen Antrag von uns!)


in Höhe von 140 Euro monatlich helfen wir Eltern, die
zwar ihren Lebensunterhalt, nicht aber den ihrer Kinder
bestreiten können. Ab 2009 werden 250 000 Kinder An-
spruch auf den Kinderzuschlag haben. Das, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, hilft den Familien direkt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Darüber hinaus erhöhen wir das Wohngeld, im Schnitt
um 50 Euro pro Monat; auch diese Verbesserung kommt
direkt bei den Menschen an, besonders bei kinderreichen
Familien. Über 800 000 Haushalte werden von dieser
Maßnahme profitieren, davon 300 000 Rentnerhaus-
halte.
Zweitens fordern Sie einen Eingangssteuersatz von
15 Prozent – den haben wir bereits; ich erwähne das nur
der Vollständigkeit halber.

Drittens fordern Sie, dass der Spitzensteuersatz bei ei-
nem zu versteuernden Einkommen von 60 000 Euro ein-
setzen soll und auf 50 Prozent angehoben werden soll.
Hinzu kommen Forderungen nach einer Wiedereinfüh-
rung der Vermögensteuer und nach einer deutlichen An-
hebung der Erbschaftsteuer.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Hierzu erlaube ich mir nur einen kurzen Hinweis auf den
Halbteilungsgrundsatz, den das Bundesverfassungsge-
richt 1995 bekräftigt hat, auch wenn er in der Zwischen-
zeit relativiert wurde.

Der amerikanische Schriftsteller Austin O’Malley hat
einmal gesagt:

Beim Steuereintreiben wie beim Schafscheren soll
man aufhören, wenn die Haut kommt.


(Heiterkeit des Abg. Dr. Volker Wissing [FDP])


Ich meine, da ist was dran, auch wenn ich zugeben muss,
dass der Spitzensteuersatz von 42 Prozent, der seinerzeit
bei den Verhandlungen herauskam, nicht mein Wunsch-
ergebnis war. Zum Teil haben wir das korrigiert durch
die 3-prozentige – –


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Mehrwertsteuererhöhung!)


– durch den 3-prozentigen Zuschlag auf die Einkom-
mensteuer bei höheren Einkommen, auch Reichensteuer
genannt.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Der falsche Begriff!)


– Dieser Begriff ist in der Tat falsch.


(Zuruf des Abg. Dr. Volker Wissing [FDP])


Durch diesen Zuschlag, so rechnen wir, kommt es zu
Mehreinnahmen in Höhe von 1 Milliarde Euro. Wer das
für Symbolik hält, für den sind die 12 Milliarden Euro,
die es kosten würde, wenn umgesetzt würde, was in die-
sem Antrag gefordert wird, ebenfalls Peanuts.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir leben Gott sei
Dank nicht in einer Republik, um die Mauern und Sta-
cheldraht gezogen sind, Sie von den Linken auch nicht
mehr, auch wenn man das Gefühl hat, dass sich einige
von Ihnen – ich erinnere nur an Ihre Kollegin im Nieder-
sächsischen Landtag – das zurückwünschen.

Die Umsetzung Ihrer Forderungen würde in der rea-
len Welt nicht ohne Auswirkungen bleiben. Oder gehen
Sie wirklich von der naiven Vorstellung aus, dass Aus-
weichreaktionen vermieden werden könnten? Ich halte
es da mit unserem Finanzminister Peer Steinbrück: Lie-
ber 45 Prozent von X als 50 Prozent von nix.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Richtig!)


Ich stehe dazu, dass starke Schultern mehr zu tragen
haben, viel wichtiger als die Steuersatzerhöhung ist aber,






(A) (C)



(B) (D)


Gabriele Frechen
dass die 42 oder 45 Prozent auch wirklich bezahlt wer-
den.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie der Abg. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Durch die Streichung von Ausnahmen, die Eindämmung
von Steuerumgehungen und die Abschaffung von Steu-
erspar- und -stundungsmodellen sind wir hier auf einem
guten Weg.

Das Finanzamt Bad Homburg, das immer wieder
gerne als Beispiel genommen wird und überdurch-
schnittlich viele gut verdienende Menschen betreut,
musste 1997, als der Steuersatz noch bei 53 Prozent lag,
3,1 Millionen Euro mehr auszahlen, als es an Einkom-
mensteuer eingenommen hatte. In der FAS vom
11. September 2005 war dazu zu lesen:

Die Steuereinnahmen im Finanzamt Bad Homburg
sind in den letzten Jahren von minus zwei Millio-
nen Euro

– sie hat als Beispiel die Zahlen des Jahres 1998 genom-
men –

auf aktuell plus 105 Millionen Euro gestiegen.

Ich möchte nur einmal erwähnen: Das ist bei einem Fi-
nanzamt ein Spread von 107 Millionen Euro.

Zwischenzeitlich betrugen die Einnahmen schon
182 Millionen Euro. Der Anstieg ist sowohl auf das
Auslaufen spezieller steuerlicher Förderungen der
Kohl-Regierung … als auch auf das Schließen von
Steuerschlupflöchern durch die Regierung von Rot/
Grün … zurückzuführen.


(Beifall bei der SPD)


Das ist der richtige Weg. Auf dem bewegen wir uns ge-
meinsam mit unseren Kollegen in der Großen Koalition.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Allerdings!)


Die Bekämpfung von Steuerhinterziehung und die
Verbesserung des Vollzugs in den Ländern gehören na-
türlich dazu. Ich nenne nur das Reizwort Bundessteuer-
verwaltung. Einen Wettbewerb unter den Bundeslän-
dern, wer bei hohen Einkommen oder bei Unternehmen
weniger genau hinschaut, wird es mit uns nicht geben.
Wenn ich mich an die Debatten erinnere, bei denen es
um die Umgehung und um einen besseren Steuervollzug
ging, dann weiß ich, dass wir uns relativ einig und auf
einem guten Weg waren – selbst mit den Kolleginnen
und Kollegen der Linken.

Für mich ist es eine Frage der Gerechtigkeit, dass je-
der nach seiner persönlichen Leistungsfähigkeit besteu-
ert wird. Die Menschen haben ein Recht darauf, dass es
so ist, und sie vertrauen darauf, dass wir das umsetzen.
Das ist keine Frage des Steuersatzes, sondern eine Frage
der Steuerehrlichkeit. Zum Fair Play gehören aber im-
mer zwei. Ansonsten hat der Faire schon verloren.

Viertens fordern Sie die Einführung eines neuen Ta-
rifs. Die Grenzsteuerbelastung läge dann bereits ab ei-
nem zu versteuernden Einkommen von 39 600 Euro hö-
her als nach geltendem Recht. Ihr Modell würde also
nicht wirklich die Reichen treffen, sondern die gut ver-
dienenden Facharbeiter, den Mittelstand und die Mittel-
schicht. Wollen Sie diese Menschen wirklich treffen?


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie sind von der Großen Koalition schon genug gestraft! – Heiterkeit bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


– Sie alle machen drei Kreuze, dass die FDP nichts zu
sagen hat, Herr Kollege Dr. Wissing.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Volker Wissing [FDP]: Das glauben sie Ihnen jetzt nicht!)


Dabei soll es auch noch einige Jahre bleiben.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ausnahmsweise einmal recht gehabt!)


– Ja.

Ein Wort zum Stil des Antrags muss ich doch noch
verlieren. Sie schreiben wörtlich:

Dies führt in der Konsequenz dazu, dass auf
12 700 Euro bereits 23,5 Prozent Steuern bezahlt
werden müssen.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Lesen Sie einmal den Antrag!)


– Das steht wörtlich im Antrag. Ich habe extra noch ein-
mal nachgeguckt. Lesen Sie unten auf der ersten Seite
den letzten Satz. – Warum schreiben Sie so etwas? Diese
Frage drängt sich doch geradezu auf. Sie müssen doch
genauso gut wie ich wissen, dass das grober Unfug ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Der Steuersatz liegt bei 7,7 Prozent.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Zu versteuerndes Einkommen!)


– Das haben Sie aber nicht geschrieben. Entweder jong-
lieren Sie mit Begriffen oder Sie kennen die Unter-
schiede nicht. Beides steht einer Finanzpolitikerin nicht
wirklich gut an, Frau Dr. Höll.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Sie wollten die Horrorzahlen irgendwo in Ihren An-
trag einfließen lassen, um den Menschen Angst einzuja-
gen und um den Antrag ein bisschen aufzumotzen und
aufzupeppen, weil er sonst nichts hergibt. Beides hat mit
verantwortungsvoller Politik nichts zu tun.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Richtig! – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das war jetzt wirklich unter Ihrem Niveau!)


Wir werden Ihren Antrag ablehnen. Er geht nämlich
ziemlich weit am Ziel vorbei.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/ CSU – Widerspruch bei der LINKEN)







(A) (C)



(B) (D)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615420600

Der Kollege Dr. Volker Wissing hat das Wort für die

FDP-Fraktion.


Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1615420700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Im Jahr 2000 hat die rot-grüne Bundesregierung eine
mehr als missglückte Einkommensteuerreform auf den
Weg gebracht. Es hat acht Jahre gedauert, bis die Linken
gemerkt haben, dass dieses Steuersystem ungerecht ist.
Herzlichen Glückwunsch!

Man sagt immer „Gut Ding will Weile haben“, aber
nach so langer Zeit hätten Sie uns schon etwas Besseres
vorlegen müssen. Den vorliegenden Antrag kann man
nicht als „gut Ding“ bezeichnen.

Sie wollen das Steuersystem verbessern und fordern
einen Eingangssteuersatz von 15 Prozent. Liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von der Linken, den gibt es schon.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und zwar schon eine ganze Weile! Seit der rot-grünen Regierungszeit!)


Sie fordern einen linear progressiven Tarifverlauf. Auch
den gibt es bereits jetzt. Außerdem fordern Sie ein steu-
erfreies Existenzminimum in Höhe von 8 000 Euro, da-
bei liegt es bereits bei 7 664 Euro.

Ich frage mich, warum Sie acht Jahre gebraucht ha-
ben, um uns diesen Antrag vorzulegen.


(Gabriele Frechen [SPD]: An dieser Stelle könnte sogar ich klatschen! – Heiterkeit bei der FDP)


– Klatschen Sie ruhig, Frau Frechen. Das ist in Ordnung.

Dort, wo Sie regieren – zum Beispiel in Berlin –,
bringen Sie keine gescheiten Reformen zustande. Sie
könnten aber zumindest in der Opposition im Bundestag
etwas mutiger sein, statt nur vorzuschlagen, den Status
quo eines ungerechten und schlechten Einkommensteu-
ersystems zu erhalten. Das kann ich nicht nachvollzie-
hen.


(Beifall bei der FDP – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das ist doch Blödsinn, was Sie sagen!)


Es wäre interessant, den Blick auf das zu richten, wo-
rauf Ihr Antrag nicht eingeht, nämlich auf die wirklichen
Ungerechtigkeiten im System. Nehmen Sie zum Beispiel
die kalte Progression. Darauf gehen Sie nicht ein.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Dazu haben wir noch einen weiteren Antrag! Wir wollten Sie nicht überfordern!)


– Sie legen einen Antrag vor, mit dem Sie das Einkom-
mensteuersystem gerechter gestalten wollen, und lassen
die kalte Progression völlig außen vor. Man kann mit un-
terschiedlichen Anträgen Flickwerk fabrizieren, aber so
bringen Sie keine Steuerreform auf den Weg.
Der Finanzminister macht es sich leicht, wenn er sagt,
dass bei den Tarifverhandlungen alle einen kräftigen
Schluck aus der Pulle nehmen sollen.


(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich glaube, er hat es zurzeit nicht mehr leicht!)


Für ihn wäre das von großem Vorteil, weil die kalte Pro-
gression dazu führt, dass jede Lohnerhöhung zu einer
kräftigen Steuererhöhung führt. Man hat es leicht, wenn
man von der Regierungsbank aus fordert, dass die Unter-
nehmen mehr zahlen sollen. Dann kann der Finanzmi-
nister kräftig abkassieren. Dank der linear progressiven
Besteuerung führt jeder Euro mehr Lohn zu einer stärke-
ren Steuerbelastung. Die kräftigen Schlucke aus der
Pulle versickern in den Kassen des Bundesfinanzminis-
ters.

Wenn Sie von Gerechtigkeit sprechen und ausgerech-
net die kalte Progression völlig außen vor lassen, dann
sind Ihre Vorstellungen von einem neuen Steuersystem
nicht viel wert. Es bleibt genauso unflexibel und statisch
wie das bisherige.

Ich finde es in hohem Maße unfair, wenn die Lohn-
steigerungen hinter der Inflation zurückbleiben.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615420800

Herr Wissing, möchten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Höll zulassen?


Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1615420900

Ja.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615421000

Bitte schön.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1615421100

Herr Wissing, wir wollten weder Sie noch die anderen

Mitglieder des Hohen Hauses überfordern. Könnten Sie
bitte zur Kenntnis nehmen, dass wir deshalb die kalte
Progression in einem zweiten Antrag behandeln, der
ebenfalls schon seinen parlamentarischen Gang geht, so-
dass Sie Ihre Aufregung ein kleines bisschen dämpfen
könnten?


Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1615421200

Liebe Frau Kollegin Höll, wenn Sie in Ihrem vorlie-

genden Antrag an der linear progressiven Besteuerung
festhalten und gleichzeitig feststellen, dass Sie ein Pro-
blem mit der kalten Progression haben, dann ist das ein
gewisser Widerspruch. Es wäre deshalb sinnvoll, Ihre
widersprüchlichen Anträge gleichzeitig vorzulegen.
Dann könnte man auf diese Widersprüche eingehen. Aus
dem, was Sie uns vorgelegt haben – das gilt sicherlich
auch für das, was Sie uns in Zukunft vorlegen werden –,
wird jedenfalls keine Steuerreform.

Insofern können Sie das Ziel, den Menschen etwas
Gutes zu tun, die von der Großen Koalition über Gebühr
abkassiert worden sind, nicht erreichen. Das schaffen Sie
weder mit diesem noch mit dem anderen Antrag, vor al-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Volker Wissing
lem dann nicht, wenn er dem vorliegenden Antrag wi-
derspricht.

Was Ihre Realitätsnähe angeht, will ich Ihnen, meine
Damen und Herren von der Linken, einen weiteren Wi-
derspruch in Ihrem Antrag aufzeigen. Die Realität der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wahrzunehmen,
scheint für Sie zunehmend schwierig zu werden. Sie
schreiben in Ihrem Antrag, die Beschäftigten hätten in
den letzten Jahren ein Einkommensplus von 4 Prozent
gehabt. Ich weiß nicht, wie Sie auf diese Zahl kommen.
Aber diejenigen, mit denen ich spreche, haben kein Ein-
kommensplus von 4 Prozent zu verzeichnen. Die Bun-
desregierung und die Große Koalition reden alles immer
schön. Die Kanzlerin sagt: „Der Aufschwung kommt bei
den Menschen an“, und draußen merkt es niemand. Aber
selbst diese Bundesregierung erklärt, dass die Beschäf-
tigten jährlich ein Einkommensminus von 1 Prozent zu
verkraften haben. Wie Sie auf ein Plus von 4 Prozent
kommen, möchte ich gerne einmal wissen. Ihr Antrag
entbehrt sowohl in den tatsächlichen Feststellungen als
auch in der Begründung jeglicher Realität. Sie nehmen
die Wahrheit und die Wirklichkeit der Beschäftigten in
Deutschland offensichtlich nicht mehr wahr. Deswegen
können Sie auch keine vernünftige Steuerreform vor-
schlagen. So ist das, liebe Kollegin Höll.


(Beifall bei der FDP)


Die Bundesregierung redet die Dinge schön. Tatsäch-
lich sind die Einkommen gesunken. Frau Frechen, Sie
haben gesagt, das liege daran, dass es dem Mittelstand
zunehmend schlechter gehe, und die Linken planten
noch weitere Anschläge auf den Mittelstand. Die Haupt-
anschläge auf die Mitte in Deutschland haben Sie von
der Großen Koalition mit Ihrer Steuererhöhungsorgie
verübt.


(Beifall bei der FDP – Gabriele Frechen [SPD]: Das können Sie besser als wir!)


Frau Frechen, Erhöhung der Mehrwertsteuer und der
Versicherungsteuer sowie Kürzung der Pendlerpauschale


(Gabriele Frechen [SPD]: Steuersatzsenkung!)


und des Sparerfreibetrages, das alles sind Anschläge auf
den deutschen Mittelstand. Die Mitte in Deutschland
schrumpft. 14 Prozent der Mitte sind in sozial schwache
Schichten abgesunken und sind aufgrund Ihrer Politik in
soziale Not geraten. Sie haben mit Ihrer unverantwortli-
chen Steuererhöhungspolitik den größten Anschlag auf
die Mitte in Deutschland verübt, den es jemals in dieser
Republik gab.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Liebe Kollegin Höll, ich will Ihnen sagen, wie man
eine vernünftige Steuerreform macht. Für eine vernünf-
tige Steuerreform bedarf es niedriger, einfacher und ge-
rechter Tarife sowie einer Struktur, eines Systems, das
die Menschen verstehen und das es ihnen wieder ermög-
licht, am Aufschwung in Deutschland teilzuhaben. Sie,
meine Damen und Herren von der Großen Koalition, ha-
ben dafür gesorgt, dass der Aufschwung ausschließlich
in den Kassen des Bundesfinanzministers angekommen
ist. Die Menschen spüren das. Sie können hundertmal
dagegen reden, die Menschen, die zuhören, wissen ganz
genau, wer sie in Deutschland abkassiert hat


(Gabriele Frechen [SPD]: Nachweislich die FDP!)


und wer dafür verantwortlich ist, dass der Aufschwung
an ihnen vorbeigegangen ist und ausschließlich in den
Kassen des Staates angekommen ist. Sie haben vor der
Wahl gesagt, dass Sie keine Steuererhöhungen vorneh-
men werden. Aber nach der Wahl haben Sie die Mehr-
wertsteuer um drei Prozentpunkte erhöht.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Können Sie die anderen Elemente auch noch nennen? Nur der Korrektheit halber!)


Die Menschen wissen das. Herr Kollege Binding, Ihre
Glaubwürdigkeit in dieser Frage ist längst zerstört. Sie
werden die Quittung dafür erhalten.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1615421300

Ich erteile das Wort Kollegen Olav Gutting, CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Olav Gutting (CDU):
Rede ID: ID1615421400

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die CDU/CSU-Fraktion erkennt bei der Ein-
kommensteuer dringenden Handlungsbedarf. Dabei geht
es uns aber in erster Linie um ein einfacheres und schon
deswegen gerechteres System.


(Florian Toncar [FDP]: Hört! Hört!)


Der Antrag der Fraktion Die Linke ist hierzu leider nicht
geeignet. Bei aller Kritik an der jetzigen Form der Ein-
kommensteuer und am komplizierten deutschen Steuer-
recht ist die Einkommensteuer eine Steuer, die neben der
objektiven die subjektive Leistungsfähigkeit des einzel-
nen Steuerpflichtigen berücksichtigt.

Die Fraktion Die Linke ist bekannt dafür, dass sie ver-
sucht, mit populistischen Forderungen auf sich aufmerk-
sam zu machen. Ein gerechtes Einkommensteuersystem
klingt gut. Wer möchte sich einer solchen Forderung
ernsthaft verweigern? Doch wenn man den Antrag der
Linken genau prüft, dann stellt man fest, dass er sich als
eine Forderung nach einer weiteren Umverteilung ent-
puppt und den Bürgerinnen und Bürgern mit niedrigen
Einkommen nicht einen Cent mehr im Portemonnaie
bringt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ihr Antrag ist wie so oft eine Mogelpackung. Ich darf
mich bei der Kollegin Frechen bedanken. Es ist genauso,
wie Sie es sagen. Die Linken erwecken mit ihrem Antrag
den Eindruck, dass auf ein Einkommen in Höhe von
12 700 Euro jährlich bereits 23,5 Prozent Steuern ge-
zahlt werden müssen. Das, was Sie in Ihrem Antrag auf
der ersten Seite unten als Gesamtsteuerabgabe etikettie-
ren, ist nichts anderes als die Grenzsteuerbelastung.






(A) (C)



(B) (D)


Olav Gutting
Liebe Kollegin, Sie sagen, das sei nicht so. Wir haben
schon einmal über diesen Antrag debattiert. Wir haben
Sie schon einmal darauf hingewiesen.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das haben wir schon einmal im Finanzausschuss klargestellt!)


Wenn es Ihnen darum ginge, das wirklich klarzustellen,
dann frage ich Sie, warum Sie das nicht umformulieren.
Fakt ist: Der Durchschnittssteuersatz bei einem Einkom-
men von 12 700 Euro beträgt bei einem Single lediglich
7,7 Prozent.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!)


Aber viel wichtiger ist doch, wirklich etwas für die
Bürger mit niedrigem Einkommen zu tun. Wir in der
Großen Koalition haben es vorgemacht. Wir haben die
Lohnnebenkosten gesenkt.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das wirkt direkt!)


Diese Senkung der Lohnnebenkosten macht sich direkt
im Portemonnaie der Arbeitnehmer bemerkbar.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Gabriele Frechen [SPD])


Allein durch die Senkung des Arbeitslosenversiche-
rungsbeitrags werden so über 20 Milliarden Euro an die
Beitragszahler zurückgegeben.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Die Hälfte an Unternehmen!)


Ein Arbeitnehmer mit einem Durchschnittseinkommen
von 2 800 Euro monatlich erhält allein durch diese Bei-
tragssenkung der Regierung jährlich 500 Euro netto
mehr. Das ist eine spürbare Entlastung. Die Linke hat
leider dagegen gestimmt.


(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ CSU] und der Abg. Gabriele Frechen [SPD] – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Zu Recht!)


Ihrem Ansinnen, eine Steuerentlastung für Bezieher
geringer Einkommen zu erreichen, wird dieser Antrag
nicht gerecht. Schließlich kann nur derjenige von einer
Änderung der Einkommensteuertarife profitieren, der
auch Einkommensteuer zahlt. Die niedrigen Einkommen
– das wissen auch Sie – sind nicht oder wenn, dann nur
in geringer Weise von der Einkommensteuer betroffen.
Kollegin Frechen hat das vorhin schon gesagt. Eine vier-
köpfige Familie zahlt unter Berücksichtigung der Sonder-
ausgaben und der Kinderfreibeträge bis zu einem Betrag
von über 30 000 Euro keinen Cent Einkommensteuer.
Daran sieht man, dass Ihr Antrag lediglich dazu dient,
eine Neidkampagne zu entfachen. Man kann es auf den
Punkt bringen: Die Leistungsträger unserer Gesellschaft,
die arbeitende Bevölkerung mit den mittleren und höhe-
ren Einkommen, sollen noch mehr Einkommensteuer
bezahlen. Sie wollen 50 Prozent plus Soli plus Kirchen-
steuer bei einem Einkommen ab 60 000 Euro.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Von Kirchensteuer halten die nichts!)

Ich kann Ihnen nur sagen: Sie vergessen dabei offenbar
völlig, dass bereits heute die oberen 10 Prozent der Steu-
erpflichtigen mehr als 50 Prozent des Gesamteinkom-
mensteueraufkommens tragen. Es kann deshalb nicht
unser Ziel sein, einzelne Bevölkerungsschichten wie bei-
spielsweise die Facharbeiter im Schichtdienst übermäßig
zu belasten. Wer diesen Leistungsträgern noch mehr auf-
bürden will, der zerstört unseres Erachtens die Grundlage
des Wohlstands in diesem Land. Nehmen Sie diesen Leis-
tungsträgern die Motivation, sich anzustrengen – das tun
Sie mit diesen Steuersätzen –, dann haben Sie bald gar
nichts mehr zum Umverteilen.

Leider bleibt Ihr Antrag auch Antworten zur Finan-
zierbarkeit schuldig. Ihr Antrag – das hat das Finanzmi-
nisterium berechnet – würde zu Steuermindereinnahmen
von 13 Milliarden Euro führen. Wer soll das bezahlen?


(Widerspruch bei der LINKEN)


Für uns in der Union hat der eingeschlagene Haushalts-
konsolidierungskurs absoluten Vorrang vor irgendwel-
chen populistischen Schnellschüssen. Es heißt immer:
Die Schulden von heute sind die Steuern von morgen.
– Leider sind wir zwischenzeitlich im Morgen angekom-
men. Fakt ist, und so müsste es eigentlich richtig lauten:
Die Schulden von gestern sind die Steuern von heute. –
Vor einer Einkommensteuerreform, die diesen Namen
auch wirklich verdient und die eine runde Sache ist,
müssen deshalb die Staatsfinanzen saniert werden. Da
sind wir in der Großen Koalition auf einem guten Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Mit steuerpolitischen Mätzchen und mit Herumge-
schraube am bestehenden System ist den Bürgerinnen
und Bürgern in diesem Land jedenfalls nicht geholfen.
Wir werden deshalb in der Großen Koalition weiterhin
daran arbeiten, die Staatsfinanzen zu sanieren und das
Wirtschaftswachstum anzukurbeln.

Dass die Arbeit der Großen Koalition Früchte trägt,
zeigt das Wirtschaftswachstum, das wir auch in einer in-
ternational schwierigen Lage und in schwierigen Zeiten
haben. Dass dieses auch beim Bürger ankommt, zeigen
die Arbeitsmarktdaten.


(Dr. Werner Hoyer [FDP]: Übertreibt es mal nicht!)


Das zeigen auch die aktuellen Tarifabschlüsse.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die von der Koalition angegangenen Reformen zei-
gen Wirkung, und sie machen sich auch in der Geldbörse
der Bürger positiv bemerkbar.


(Markus Löning [FDP]: Weil immer weniger drin ist!)


Wenn wir die unteren Einkommen beim Aufschwung
noch stärker mitnehmen wollen – wie auch Sie es wollen –,
dann funktioniert das am besten durch eine weitere Sen-
kung der Lohnnebenkosten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1615421500

Das Wort hat nun Kollegin Barbara Höll, Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1615421600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich möchte, dass die Grundfreibeträge angehoben
werden und die steuerliche Progression gerade für
untere Einkommen abgeflacht wird. Die Arbeitneh-
mer brauchen mehr Geld in der Tasche, also mehr
Netto vom Brutto.

Das ist kein Zitat von mir, auch nicht von Oskar
Lafontaine, sondern von Erwin Huber. Er sagte es am
22. März dieses Jahres. Ich freue mich, dass unsere dies-
bezüglichen Vorschläge auch von der Regierungskoali-
tion aufgenommen werden, auch wenn sie hier mächtig
herumeiert. Wir haben eine entsprechende Vorlage be-
reits vor einem Jahr eingebracht. Ich möchte aber nicht
nur Herrn Huber zitieren. Der stellvertretende Vorsit-
zende der SPD-Fraktion Fritz Rudolf Körper sagte in
den Stuttgarter Nachrichten und in der Kölnischen
Rundschau am 17. März dieses Jahres Ähnliches.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ähnliches ist nicht das Gleiche!)


Herr Bernhardt, Sie haben eine Reform der Einkom-
mensteuer vorgeschlagen, die mit der Anwendung des
Spitzensteuersatzes für Ledige ab einem zu versteuern-
den Einkommen von 60 000 Euro, der Anhebung des
Grundfreibetrags auf 8 000 Euro und der Glättung des
Steuertarifs im mittleren Einkommensbereich unserem
Vorschlag nahekommt. Herr Gutting hat genau das – Ihre
Vorschläge! – eben als „Mätzchen“ kritisiert. In der ers-
ten Lesung hat er gesagt: Das ist die Fortsetzung des so-
zialistischen Klassenkampfes. Sie sollten innerhalb der
CDU vielleicht einmal ein bisschen überlegen, was es
denn nun ist. Ich finde mich da noch nicht ganz zurecht.
Ich kann nur sagen: Ich begrüße, dass Herr Bernhardt
diese Erkenntnisse ebenfalls hat, auch wenn er ein paar
Probleme mit der Gegenfinanzierung hat.

Herr Gutting, ganz verstanden habe ich es nicht:
Während eines Großteils Ihrer Rede haben Sie gesagt,
durch die Umsetzung unserer Vorschläge würden alle
mehr belastet, es komme zu einer großartigen Mehrbe-
lastung der unteren und mittleren Einkommen, und da-
durch komme es zu Steuermindereinnahmen von
13 Milliarden Euro. Wir entlasten eben wirklich, und wir
zeigen auch auf, dass es sehr wohl Möglichkeiten der
Gegenfinanzierung gibt. Eine dieser Möglichkeiten, die
wir vorschlagen, ist die Anhebung des Spitzensteuersat-
zes.


(Beifall bei der LINKEN)


Laut Untersuchung des DIW haben die reichsten
10 Prozent der Bevölkerung in der Bundesrepublik ihr
reales Nettoeinkommen von 1992 bis 2006 um 31 Pro-
zent steigern können. Das Einkommen der ärmsten
10 Prozent ist dagegen um 13 Prozent gesunken.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Die 10 Prozent zahlen aber 70 Prozent des Aufkommens!)


Wir sollten wirklich weitergehen und hier über Mindest-
lohn und anderes reden.

Realität ist, dass die sogenannte Mittelschicht in
Deutschland in den vergangenen Jahren geschrumpft ist.
Das ist ein Ergebnis Ihrer Politik.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Volker Wissing [FDP] – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wie viel Steuern zahlen die ärmsten 10 Prozent?)


Laut Untersuchung des DIW ging der Anteil der Bezie-
herinnen und Bezieher mittlerer Einkommen an der Ge-
samtbevölkerung in Deutschland von 62 Prozent – das
waren etwas mehr als 49 Millionen Personen – im
Jahr 2000 auf 54 Prozent im Jahr 2006 zurück. Das ist
ein Ergebnis rot-grüner, aber auch rot-schwarzer Politik.


(Beifall bei der LINKEN)


Also haben mindestens 5 Millionen Menschen eine ab-
solute Verschlechterung ihres sozialen Status erlitten.
Zudem gibt es einen deutlichen Zuwachs an Menschen
mit niedrigstem Einkommen. Diese Menschen machten
2006 über ein Viertel der gesamten Bevölkerung aus. Ihr
Anteil ist um 7 Prozent gestiegen.

Ein Ergebnis Ihrer Politik sind die unterschiedlichen
Belastungen, die hier in Deutschland zu verzeichnen
sind. Es ist an der Zeit, eine Änderung in Angriff zu neh-
men. Wir brauchen dazu natürlich eine Änderung im
Einkommensteuerrecht. Wir brauchen eine weiter ge-
hende Anhebung des steuerfreien Grundbetrags. Seien
Sie gewiss: Sie werden auch hierzu noch einen Antrag
von uns bekommen.


(Beifall des Abg. Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE])


Aber wir wollten Ihnen auch die Chance geben, das
hier Schritt für Schritt in Angriff zu nehmen. Wir haben
hier einen Antrag vorgelegt, in dem es um die Gestal-
tung eines linear-progressiven Tarifs und die Anhebung
des Spitzensteuersatzes geht. Außerdem haben wir in
das parlamentarische Verfahren einen Antrag einge-
bracht, in dem dargestellt wird – darüber kann man mit-
einander reden –, wie man die „kalte Progression“ auf
unterschiedliche Weise aufheben kann. Hier liegt ein
Strauß von Vorschlägen für mehr Steuergerechtigkeit
vor. Das ist ein Beitrag für mehr soziale Gerechtigkeit.

Das Niveau dieser Debatte – das muss ich Ihnen hier
auch einmal sagen – ist wirklich unterirdisch. Sie drehen
und wenden sich. Ich erwähne als Beispiel das Zitat aus
dem Antrag: Stellen Sie alle miteinander doch bitte nicht
Ihr Licht unter den Scheffel! Die Formulierung ist ein-
deutig.


(Gabriele Frechen [SPD]: Nein!)


– Natürlich ist sie eindeutig,






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Barbara Höll

(Zurufe der Abg. Otto Bernhardt [CDU/CSU], Leo Dautzenberg [CDU/CSU] und Olav Gutting [CDU/CSU]: Ja, eindeutig falsch!)


wenn man den Satz davor und den Satz dahinter liest. So
weit sollte unser parlamentarisches Verständnis reichen.

Wir sind für diesen Antrag als Beitrag für mehr so-
ziale Gerechtigkeit. Angesichts der vorhandenen Anzei-
chen – die Zitate habe ich vorgetragen, und unser Aus-
schussvorsitzender hat das Zeichen gesetzt, dass auch
der Koalitionsausschuss darüber weiterdiskutiert – hoffe
ich, dass wir in einigen Wochen hier im Hause erneut
über dieses Thema sprechen werden.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1615421700

Das Wort hat nun Kollegin Christine Scheel, Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615421800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Barbara Höll hat gerade das Niveau der Debatte ange-
sprochen. Sie hat allerdings, was ihren eigenen Beitrag
anbelangt, Dinge gesagt, die einfach nicht richtig sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich belege dies an dem Beispiel, wer wie viel zahlt. Wir
alle wissen, dass diejenigen, die gut verdienen, die obe-
ren 10 Prozent der Bevölkerung, die steuerpflichtig und
einkommensteuerzahlend sind, etwa 70 Prozent des ge-
samten Einkommensteueraufkommens leisten.


(Zuruf der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE])


Dann ist vonseiten der Linken gesagt worden, sie
wolle jetzt die Bezieher der ganz kleinen Einkommen
entlasten, weil dies ja diejenigen seien, die belastet sind.
Dazu muss man sagen, dass die untersten 10 Prozent der
Einkommensbezieher in der Bundesrepublik Deutsch-
land keine Einkommensteuer zahlen. Das gehört auch
zur Wahrheit dazu.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD – Olav Gutting [CDU/CSU]: Die untere Hälfte sogar!)


Es gibt in dieser Diskussion auch Überlegungen – die
CSU hat dies jetzt durch Minister Huber und auch an-
dere angekündigt; ich nehme an, dass Günther Beckstein
auch dieser Auffassung ist, das ist ja ein Duo, das neuer-
dings zusammenhält, wie wir gelernt haben –,


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Neuerdings passt kein Blatt Papier dazwischen!)


hinsichtlich der kalten Progression sowie der Belastung
im unteren Bereich einen Vorschlag vorzulegen. Dies
halte ich für richtig; in dieser Richtung sind auch die
Grünen aufgestellt. Im Zusammenhang damit brauchen
wir eine Diskussion darüber, wie hoch das steuerfreie
Existenzminimum in Zukunft sein soll.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Richtig, der Bericht kommt!)


Diese wichtige und notwendige Debatte muss natürlich
auch geführt werden.

Des Weiteren brauchen wir eine Diskussion darüber,
dass die Inflation die Steuerentlastungen der letzten
Jahre und übrigens auch die Entlastungen auffrisst, die
Rot-Grün beschlossen hatte. Dies geschieht, weil unser
Steuertarif nicht an die Inflation gekoppelt ist, wie zum
Beispiel in anderen Ländern. Wenn man sich die Zeit der
Großen Koalition von 2005 bis 2008 anschaut, dann er-
kennt man, dass allein durch diesen Effekt der kalten
Progression – dies besagen nachvollziehbare Berechnun-
gen von Wirtschaftsinstituten – den Menschen etwa
20 Milliarden Euro abgenommen wurden. Die Progres-
sionswirkung insgesamt ist noch wesentlich höher; sie
liegt bei ungefähr 35 Milliarden Euro.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wie hoch war das denn von 1998 bis 2005?)


Deswegen müssen wir uns natürlich überlegen, wie man
den Steuertarif für die Zukunft ausgestaltet.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Das hätten Sie doch 2000 machen können, als Sie in der Regierungsverantwortung waren! Warum haben Sie es denn nicht gemacht?)


Aber es geht nicht an, Frau Höll, dass die Linke vor-
schlägt, den Spitzensteuersatz auf 50 Prozent plus Soli
anzuheben und – heute Morgen hatten wir die Rentende-
batte – die Sozialversicherungsbeiträge so nach oben
schnellen zu lassen, dass sie in der Perspektive – wir re-
den hier beispielsweise auch über den Zeitraum bis 2030 –
in der Größenordnung von über 60 Prozent liegen. Hinzu
käme ein Steuersatz von über 50 Prozent, sodass, ausge-
löst durch die Vorschläge der Linken, Gesamtbelastun-
gen der Leistungsträger und Leistungsträgerinnen in die-
ser Gesellschaft von über 110 Prozent vorhanden wären.
Das ist verrückt. So kann man keine vernünftige Wirt-
schaftspolitik machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das hat nichts mehr mit Gerechtigkeit zu tun, sondern
das wäre der blanke Wahnsinn.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1615421900

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz-
ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit
dem Titel „Einkommensteuertarif gerecht gestalten –
Steuerentlastung für geringe und mittlere Einkommen
umsetzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/6799, den Antrag






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5277 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hau-
ses angenommen.

Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Jugendschutzgesetzes

– Drucksache 16/8546 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin Ursula von der Leyen.

Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ju-
gendschutz ist manchmal wie ein Wettlauf. Die Medien,
zum Beispiel Handys und das, was man mit ihnen ma-
chen kann, sowie Computerspiele, ändern sich rasant.
Einerseits bieten sich faszinierende Möglichkeiten, sich
zu informieren, mit anderen ins Gespräch zu kommen
oder einfach nur in der Freizeit Spaß zu haben – das ist
alles gut –, andererseits müssen wir aber immer aufpas-
sen, dass wir neue Gefährdungen, die sich daraus für
Kinder und Jugendliche ergeben, rechtzeitig erfassen
und darauf reagieren.

Der Staat muss also immer wieder überprüfen und die
Voraussetzungen dafür schaffen, dass Kinder oder Ju-
gendliche keinen Zugang zu schädlichen Medieninhalten
haben. Wir haben deshalb gemeinsam mit den Ländern
im Mai 2006 beschlossen, sämtliche Vorschriften zum
Jugendmedienschutz bis zum Herbst 2007 extern über-
prüfen zu lassen.

Beim Bereich der Computerspiele – dieser Teil war
als Erstes fertig – haben wir gesehen, dass wir nicht so
lange warten wollen und können, bis alle anderen Pro-
zesse abgeschlossen sind. Deshalb habe ich vor einem
Jahr gemeinsam mit dem nordrhein-westfälischen Fami-
lienminister Armin Laschet – das ist das federführende
Land in der USK – ein Sofortprogramm gestartet, um
Kinder und Jugendliche wirksamer vor extrem ge-
walthaltigen Computerspielen zu schützen.

Die Änderungsvorschläge zum Jugendschutzgesetz
sind eine von vier Säulen dieses Sofortprogramms. Au-
ßerdem wollen wir den Gesetzesvollzug verbessern –
dazu muss es eine ganz enge Zusammenarbeit mit den
Kommunen geben. Wir wollen die Qualität und die
Transparenz von Jugendschutzentscheidungen erhöhen,
also deutlich machen, warum was indiziert worden ist
oder nicht, und den Jugendmedienschutz besser kommu-
nizieren, damit klar ist, wie die Regeln sind.

Natürlich gibt es keinen Automatismus. Nicht jeder,
der gewalttätige Spiele spielt, wird selbst gewalttätig.
Aber wir alle wissen: Es bleibt nicht ohne Auswirkung
auf Kinder und Jugendliche, wenn Gewalt in den Me-
dien, die sie täglich bedienen, zum normalen Begleiter
im Alltag wird. Wenn andere Probleme dazukommen,
zum Beispiel in der Familie oder in der Schule, ist die
Folge die Identifikation mit den Gewaltszenarien, und
dann wird es gefährlich.

Nun kann man natürlich fragen: Was heißt denn „Ge-
walt“? Genau das ist der Punkt, bei dem wir ansetzen.
Wir wollen künftig auch solche Spiele und Filme von
vornherein indizieren, bei denen besonders realistische,
grausame und reißerische Darstellungen von Gewalt
Selbstzweck sind und das Geschehen beherrschen. Das
heißt, die Definition von Gewalt allgemein wird ver-
schärft und fokussiert, damit härter durchgegriffen wer-
den kann.

Zu nennen sind zum Beispiel Filme und Spiele, bei
denen Folter, Vergewaltigung und Verstümmelung aus-
führlich gezeigt werden, aber auch Spiele – das ist wich-
tig –, bei denen die Spieler für Folter und Gewalt, die sie
selbst ausüben, eigens belohnt werden, also einen Bonus
erhalten, zum Beispiel in den nächsten Level gehen kön-
nen.

Außerdem wollen wir die Alterskennzeichnung sicht-
barer machen. Wenn man sich die Produkte heute an-
schaut, dann sieht man: Die Kennzeichnung ist auch mit
der Lupe kaum zu erkennen. Ich würde ohne Lesebrille
schon nicht mehr identifizieren können, für welches Al-
ter ein Produkt zugelassen oder ausgeschlossen ist. Das
bringt dann in der Praxis rein gar nichts. Es muss auf den
ersten Blick erkennbar und auch für die Umgebung deut-
lich sichtbar sein, ob ein Spiel für Kinder und Jugendli-
che freigegeben ist oder nicht. Das Alterskennzeichen
soll – ähnlich wie auf den Zigarettenpackungen – auch
auf Video- und Computerspielen nicht mehr zu überse-
hen sein. Hier hat sich einiges getan.

Natürlich werden wir an diesem Punkt nicht stehen-
bleiben. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf machen
wir etwas, was jeder, der mit Computern arbeitet, kennt.
Ich darf das einmal so ausdrücken: Wir machen eine
Zwischenspeicherung, wenn ein wichtiger Schritt er-
reicht ist. Von diesem Punkt aus können wir die nächste
Aufgabe in Angriff nehmen. Übersetzt heißt dies: Die
Ergebnisse der Gesamtevaluation – insbesondere im On-
linebereich der Jugendschutzvorschriften – liegen uns
seit Ende Oktober 2007 vor. Derzeit beraten wir mit den
Ländern darüber, wie wir das Jugendschutzgesetz und
vor allem den Jugendmedienschutzstaatsvertrag, der ein
wichtiges Feld ist und in dem besonders die Länder eine
Rolle spielen, weiter verbessern können und müssen.
Das ist gerade im Bereich der Onlinethematik entschei-
dend. Soweit zur Hardware, nämlich dem Gesetz.

Gesetzlicher Jugendschutz allein reicht aber nicht aus.
Wenn ich in dem Bild bleiben darf, dann ist die dazuge-
hörige Software die Medienkompetenz. Diese ist insbe-






(A) (C)



(B) (D)


Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
sondere für die Politik viel schwerer zu fassen. Sie ist
aber eigentlich viel wichtiger und wirksamer. Sie um-
fasst den verantwortlichen, selbstbestimmten und infor-
mierten Umgang mit Medien. Für Kinder und Jugendli-
che ist Medienkompetenz heute – auch was den Schutz
angeht – eine der Schlüsselfragen schlechthin. Natürlich
müssen auch Eltern in der Lage sein, ihren Kindern diese
Kompetenz zu vermitteln, obwohl wir alle wissen, dass
es gerade auf diesem Gebiet das eigenwillige Phänomen
gibt, dass die Kinder fast immer schlauer und versierter
sind als die Eltern.


(Zuruf von der FDP: Das ist wohl wahr!)


Wir haben deshalb mit Partnern aus den Medien
– zum Beispiel mit den großen Fernsehanstalten – die
Kampagne „Schau hin! Was Deine Kinder machen.“ ge-
startet. Wir wollen über Medien und Mediennutzung in-
formieren. Auch wenn es für Eltern nicht einfach ist in
Zeiten, in denen Dinge wie Web 2.0 oder LAN-Partys
für Kinder eine Selbstverständlichkeit, für viele von uns
hier im Raum jedoch schwer nachzuvollziehen sind,
auch wenn jede neue Entwicklung unendlich schnell auf
dem Markt, jedoch schwer zu verfolgen ist: Wir sind ge-
fordert, uns mit der Mediennutzung unserer Kinder aus-
einanderzusetzen und immer wieder neue Instrumente zu
entwickeln, um gemeinsam mit den Eltern, den Schulen
und den Kindergärten diese Medienkompetenz und ins-
besondere die kritische Auseinandersetzung der Kinder
mit Medien schärfen zu können.

Wir sind sicherlich auch gefordert, uns mit unserer ei-
genen Mediennutzung auseinanderzusetzen. Es braucht
eine kritische Distanz zu problematischen Inhalten, klare
Spielregeln innerhalb einer Familie, die auch von allen
eingehalten werden, und nicht zuletzt unsere Souveräni-
tät, auszuschalten.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1615422000

Das Wort hat nun Christoph Waitz, FDP-Fraktion.


Christoph Waitz (FDP):
Rede ID: ID1615422100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Einfache Funktelefone haben sich zu massen-
haft verfügbaren Geräten entwickelt, mit denen Filme
und Bilder verbreitet werden können. Wir alle haben
vergleichbare Handys und PDAs in unseren Taschen.
Wissen wir aber, dass über 70 Prozent aller Kinder im
Alter von 12 bis 13 Jahren auch schon ein solches Handy
haben? Die Kinder haben also ein Handy, mit dem sie
Bilder und Filme produzieren und auch zugesandt be-
kommen. Wissen wir, dass über 9 Prozent der Kinder im
Alter von 6 bis 13 Jahren schon einmal – so nennt es der
Hans-Bredow-Bericht – seltsame oder unangenehme Sa-
chen auf ihr Handy geschickt bekommen haben? Das
waren nicht nur Werbesendungen für Gummibärchen,
sondern das waren konkrete sexuelle Angebote, Bilder
und Videos.
Nicht neu, aber problematisch ist der steigende Um-
fang der Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen.
Frau von der Leyen hat darauf hingewiesen. Wir haben
uns an die intensive und selbstverständliche Nutzung des
Fernsehers gewöhnt. Heute steht der Fernseher aber
nicht nur in der Küche und im Wohnzimmer. Jedes
zweite Kind im Grundschulalter verfügt über einen eige-
nen Fernseher, und es schaut 90 Minuten lang fern.
Hinzu kommt die Nutzung des Computers für Compu-
terspiele. Jedes fünfte Kind zwischen 6 und 12 Jahren
spielt täglich allein oder gemeinsam mit anderen Kin-
dern. Als man Schüler der siebten und achten Klasse ei-
nes Berliner Gymnasiums in Neukölln gefragt hat: „Wie
lange spielst du jeden Tag Computerspiele?“, da ergab
sich aus den Antworten, dass der Durchschnitt bei über
drei Stunden lag.

Es ist der Umfang der Mediennutzung, der für unsere
Kinder und Jugendlichen zu einem besonderen Problem
zu werden beginnt. Bei der Anhörung im Ausschuss für
Kultur und Medien zum Thema Onlinesucht haben uns
die Sachverständigen gestern gesagt, dass es von ent-
scheidender Bedeutung ist, präventiv tätig zu werden.

Erstens müssen Eltern in den entscheidenden Ent-
wicklungs- und Reifungsphasen einen regulierenden
Einfluss auf den Medienkonsum der Kinder und Jugend-
lichen nehmen. Wir Eltern tragen nämlich die besondere
Verantwortung dafür, mit welchen Inhalten sich unsere
Kinder auseinandersetzen, und müssen begrenzend ein-
greifen.

Zweitens müssen wir die Schulen und Lehrer als Mul-
tiplikatoren der Medienerziehung nutzen. Über Lehrer
lassen sich diese Informationen an die Eltern vermitteln.
Bei auffälligen Kindern können so frühzeitiger Gegen-
maßnahmen ergriffen und Hilfsangebote unterbreitet
werden. Dazu ist es aber nötig und notwendig, dass mög-
lichst viele Lehrer an Fortbildungsveranstaltungen zum
Thema Medienpädagogik teilnehmen. Die Teilnahme an
solchen Fortbildungsveranstaltungen muss in unseren
Augen zur Pflicht gemacht werden.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Frau Ministerin von der Leyen, das ist natürlich kein
Thema, das wir mit Änderungen im Jugendschutzge-
setz lösen können. Aber es ist wichtig – ich würde mich
freuen, wenn Sie sich da entsprechend einsetzen könn-
ten –, gemeinsam mit den Kultusministern der Länder
die Möglichkeiten zu einer verbesserten Prävention aus-
zuloten und entsprechende Maßnahmen umzusetzen.

Mit Ihrer vorgeschlagenen Gesetzesänderung soll die
Alterskennzeichnung auf den Trägermedien deutlicher
und größer werden. Das ist sicherlich eine vernünftige
Maßnahme; denn die derzeitige Alterskennzeichnung
war so klein und unauffällig, dass man genau wissen
musste, wo man hinschauen muss, um sie zu entdecken.
Es ist aber wichtig, dass diese gesonderte Kennzeich-
nung so auf den Verpackungen platziert ist, dass sie ein
Kunde im Laden als Erstes mit wahrnimmt.

Wir haben uns heute den Spaß gemacht, im Internet
nach Tauschbörsen für Computerspiele zu suchen. Es hat
keine drei Minuten gedauert, bis wir eine Seite mit einer






(A) (C)



(B) (D)


Christoph Waitz
Vielzahl von indizierten Computerspielen wie „Resident
Evil 2“ oder „Postal 2“ gefunden hatten.


(Caren Marks [SPD]: Der kennt sich aus!)


– Ich habe es noch nie gespielt, Frau Kollegin. – Auf
dieser Internetseite spielten sich zu diesem Zeitpunkt nur
im Bereich der indizierten Spiele mehrere Tausend
Downloadvorgänge ab. Sie wissen wie ich, dass das ein
illegaler, aber anscheinend weitverbreiteter Weg unter
Jugendlichen ist, um an Computerspiele der besonderen
Art zu gelangen.

Frau von der Leyen, auf diese Herausforderung müs-
sen wir eine Antwort finden. Es nutzt nichts, ein gutes
oder vielleicht sogar sehr gutes Jugendschutzgesetz zu
haben, wenn die Wirklichkeit an ihm vorbeigeht. Der
von Ihnen vorgelegte Gesetzentwurf hat einen entschei-
denden Mangel: Er vermittelt nur den Anschein, dass der
Jugendschutz verbessert würde, aber er löst nicht die ei-
gentlichen Probleme. Diese eigentlichen Probleme lie-
gen im Internet. Deswegen möchte ich hier von einem
Gesetzesplacebo sprechen.

Eine problematische Rolle spielen aber auch Eltern
und Großeltern bei der Verbreitung von nicht altersge-
rechten Spielen. Ich darf hier zitieren, was ein 13-jähri-
ger Junge im Internet schrieb, als er sich nach einem
Computerspiel erkundigte, das ab 16 Jahren freigegeben
ist: „Ich bin 13 und will das Spiel gerne spielen. Ist es
schlimm? Wie könnte ich meine Eltern überreden? Bitte
helft mir!“ Ihm wurde dann beispielsweise geantwortet:
„Ich bin 12, und meine Eltern haben nichts dagegen, nur
die USK; richtig tolles Spiel, Blut (nicht besonders viel),
keine Wunden!“ Das Ganze endet mit: „Vielen Dank
euch allen. Ich darf das Spiel jetzt kaufen.“ – Dieses Bei-
spiel macht deutlich, wo die eigentlichen Probleme lie-
gen und dass wir insbesondere bei den Eltern ansetzen
müssen, damit diese einsehen und verstehen, warum ein
bestimmtes Spiel nicht für eine ganz spezielle Alters-
gruppe geeignet ist. Daran fehlt es noch. In den Nieder-
landen, aber auch in den Vereinigten Staaten wird uns
vorgemacht, dass man solche Informationsvermittlung
leisten kann.

Ein letztes Wort: Das Evaluierungsgutachten des
Hans-Bredow-Instituts hat eine Vielzahl von Verbesse-
rungsvorschlägen erbracht, mit denen der Jugendschutz
effizienter und die Kommunikation zwischen den ver-
schiedenen Akteuren vereinfacht werden könnte. Leider
finden sich diese Vorschläge nicht im Entwurf der Bun-
desregierung. Wir wollen in den Ausschussberatungen
über diese konkreten Verbesserungsvorschläge diskutie-
ren und die eigentlichen Probleme angehen. Das sind wir
den Kindern und Jugendlichen schuldig.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1615422200

Das Wort hat nun Jürgen Kucharczyk, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)


Jürgen Kucharczyk (SPD):
Rede ID: ID1615422300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Deutschlands Jugendschutz-
system kommt eine Vorreiterrolle in Europa zu. Unser
Jugendschutz ist wirkungsvoll, und seine verschiedenen
Instrumente wie die Freiwillige Selbstkontrolle oder die
Indizierung haben sich grundsätzlich bewährt. Wir brau-
chen deshalb das Rad nicht neu zu erfinden, sondern
müssen unser Jugendschutzgesetz in Detailfragen einem
kontinuierlichen Verbesserungsprozess unterziehen.


(Beifall bei der SPD)


Zu diesem Ergebnis sind übrigens auch die von der
Bund-Länder-Kommission in Auftrag gegebenen Stu-
dien und Berichte des Hans-Bredow-Instituts gekom-
men. Im Ergebnis der Untersuchung des Hans-Bredow-
Instituts steht: Um das Niveau des Jugendschutzes hoch-
zuhalten und damit den Schutz von Kindern und Jugend-
lichen vor sie gefährdenden Inhalten zu verbessern, müs-
sen wir nachjustieren. – Das wollen wir unterstützen.
Nur so gelingt es uns, auf der Höhe der gesellschaftli-
chen, aber auch der technischen Entwicklung zu bleiben.


(Beifall bei der SPD)


Die Erkenntnisse aus der Mediengewaltforschung
machen deutlich, dass die Vereinfachung der Indizierung
sogenannter Killerspiele und Gewaltvideos dringend ge-
fordert ist. Medien dieser Art gehören nur noch in Er-
wachsenenvideotheken und haben auf der Ladentheke
oder im Regal nichts mehr zu suchen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung wird die
Verbesserung des effektiven Jugendschutzsystems beab-
sichtigt. Der Verbotskatalog für schwer jugendgefähr-
dende Trägermedien, die kraft Gesetzes indiziert sind,
wird im Hinblick auf Gewaltdarstellungen erweitert.
Über die im Gesetz aufgeführten Inhalte hinaus werden
Trägermedien, die besonders realistische, grausame und
reißerische Darstellungen selbstzweckhafter Gewalt be-
inhalten, auch ohne Indizierung durch die Bundesprüf-
stelle für jugendgefährdende Medien mit weitreichenden
Abgabe-, Vertriebs- und Werbeverboten belegt. Für
diese Medien, zu denen Killerspiele und Horrorfilme
zählen, gelten dann auch ohne ein spezielles Indizie-
rungsverfahren gesetzliche Vertriebsbeschränkungen.
Insbesondere dies ist ein Erfolg, da das Medium bislang
bis zum Abschluss des herkömmlichen Indizierungspro-
zesses einige Monate vertrieben und beworben werden
konnte.

Die im Gesetz genannten Indizierungskriterien in Be-
zug auf mediale Gewaltdarstellungen werden erweitert
und präzisiert. Die Aufzählung ist richtungweisend für
die Bundesprüfstelle und ergänzt den Verbotskatalog,
der vorsieht, Medien mit diesen Inhalten zu indizieren.
§ 18 des Jugendschutzgesetzes wird um Kriterien er-
gänzt, die darauf abstellen, dass entweder Gewalthand-
lungen wie Mord- und Metzelszenen selbstzweckhaft
und detailliert dargestellt werden oder Selbstjustiz als
einzig bewährtes Mittel zur Durchsetzung der vermeint-
lichen Gerechtigkeit nahegelegt wird.






(A) (C)



(B) (D)


Jürgen Kucharczyk
Die Mindestgröße und die Sichtbarkeit der Alters-
kennzeichnung der FSK und USK werden gesetzlich
festgeschrieben. Es ist wichtig, dass die Kennzeichnung
künftig eine einheitliche Größe hat und sichtbar platziert
ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Eltern, Großeltern sowie dem Verkaufspersonal muss die
Altersklassifizierung ins Auge springen. Diese Regelung
soll dem Problem entgegenwirken, dass viel zu häufig
Spiele und DVDs verkauft werden, die dem Altersbedarf
nicht angemessen sind. Klare, einfache Botschaften
müssen durch Größe, Form und Alterszahl ersichtlich
sein – und dies nicht versteckt auf der Rückseite, son-
dern vorne auf den Produkten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt zurzeit keine
wissenschaftlichen Beweise, dass der Konsum von Kil-
lerspielen zur Auslebung von Gewalt in der Realität
führt. Es stimmt mich allerdings nachdenklich, dass die
Empathie beim Spielen völlig auf der Strecke bleibt. Das
Leiden von Opfern bleibt ausgespart, und es wird stark
vereinfacht und die Welt in Gut und Böse aufgeteilt. Da-
neben drohen den Kindern und Jugendlichen, die für ihre
Altersgruppe ungeeignete Gewaltspiele konsumieren,
ein erhöhtes Aggressionspotenzial und eine niedrige
Konzentrationsfähigkeit.

Eine reine Verbotspolitik ist meines Erachtens aller-
dings Ausdruck einer hysterisch geführten Debatte.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein Totalverbot von Killerspielen bringt uns auch vor
dem Hintergrund der Onlineproblematik von jugendge-
fährdenden Spielen nicht weiter. Vielmehr spiegelt ein
Verbot auf populistische Art und Weise eine falsche Si-
cherheit vor. Denn eines ist vollkommen klar: Kein ge-
nerelles Verbot von Gewaltspielen könnte real vorkom-
mende Gewalt verhindern. Zensur ist daher für uns keine
Lösung.

Wichtig ist, dass wir in Zukunft darauf achten, mit
welchen Medien unsere Kinder und Enkel ihre Freizeit
verbringen. Sie müssen lernen, kritisch und verantwor-
tungsvoll mit Medien aller Art umzugehen. Dazu sind
wir alle aufgefordert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1615422400

Das Wort hat nun Kollege Jörn Wunderlich, Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1615422500

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Jugendschutz: „Schutz von Kindern und Jugendli-
chen vor medialen Gewaltdarstellungen, insbesondere
gewaltbeherrschten Computerspielen.“ So steht es unter
der Überschrift „Problem und Ziel“ im Gesetzentwurf.
Reicht eine Katalogerweiterung? Reicht eine vorge-
schriebene Mindestgröße der Alterskennzeichnung?
Wird damit der gewünschte Schutz erreicht? Es gibt eine
Farbkennzeichnung: weiß, gelb, grün, blau und rot.
Diese markanten Kennzeichen sind schon jedem von uns
an der Verkaufstheke begegnet.

Schon am 26. April 2007, also vor fast einem Jahr,
wurde im Expertengespräch „Jugendmedienschutz und
gewalthaltige Computerspiele“ im Unterausschuss Neue
Medien festgestellt, dass Verbotsforderungen und Ver-
schärfungen bestehender Gesetze nicht zielführend sind.
Was brauchen unsere Kinder und Jugendlichen wirklich?
Brauchen wir deutlich sichtbare Aufkleber „FSK 16“,
damit man gleich sieht, wo die interessanten Spiele ste-
hen? Man sollte sich da nichts vormachen: Im Zuge des
globalen Wettbewerbs werden Spiele teilweise künstlich
altersmäßig hochgesetzt, um sie interessanter zu ma-
chen. Jeder, der Kinder hat, weiß ganz genau, dass
Spiele mit den grünen „FSK 12“-Schildern nicht so inte-
ressant sind wie die mit den blauen „FSK 16“-Schildern.
Das weiß man doch. Wer will schon diesen Kinderkram?
So hört man oftmals.

Unser Nachwuchs – das ist das Problem – braucht
Medienkompetenz und elterliche Kontrolle in dieser im-
mer komplexer werdenden Medienwelt. Frau von der
Leyen, Sie haben es schon angesprochen. Die Kampag-
nen „Schau hin! Was deine Kinder machen.“ und die In-
ternetseite www.klicksafe.de sind wirklich gute Ansatz-
punkte. In der Studie des Hans-Bredow-Instituts wurde
festgestellt – das wurde hier ebenfalls schon angespro-
chen –, dass ein Handeln anstelle der Eltern, wo diese ih-
ren Einfluss verlieren, an Bedeutung zunehme.

Aber hier darf die Realität nicht ausgeblendet werden.
Die Verbreitung solcher Spiele – auch das wurde hier
schon angesprochen – erfolgt doch nicht nur über die La-
dentheke, sondern oftmals über Tauschbörsen, durch den
Kauf in Nachbarländern oder durch Downloads aus dem
Internet. An dieser Stelle muss man hellhörig werden.
Wenn ich etwas verbiete, muss ich es auch kontrollieren.
Konsequenterweise wird von den Verfechtern solcher
Verbote immer auch die Ausweitung der Überwachung
des Internets gefordert. Das kann aber nicht die Lösung
sein.

Kinder und Jugendliche müssen lernen, mit virtuellen
Welten umzugehen und Risiken abzuschätzen. Moderne
Medienpädagogik ist gefragt. Orte des Lernens wie Fa-
milie, Schule, Hort und Kindergarten sind dabei ent-
scheidend. Bestehende Beratungsangebote für Eltern
müssen gefördert und weitere Aufklärung muss betrie-
ben werden. Ich denke, das ist der effektivste Schutz vor
Gewaltdarstellung.

Mit Verboten allein kommen wir nicht unbedingt wei-
ter. Nach dem Motto „Nutzt’s nix, dann schadt’s nix!“ zu
handeln, dürfte möglicherweise verfehlt sein, da viel-
leicht auch die Stimmen nach mehr Kontrolle – Stich-
wort: Cyber-Police à la Beckstein – laut werden könn-
ten. Es geht nicht darum, nichts zu sehen, sondern
darum, mögliche negative Folgen für unsere Kinder – ob
nun wissenschaftlich evaluiert oder nicht – zu minimie-






(A) (C)



(B) (D)


Jörn Wunderlich
ren. Statt Verbote und Sanktionen muss die Regierung
Angebote zur Medienpädagogik und zur Medienkompe-
tenz flächendeckend und altersgerecht machen. Ange-
bote statt Verbote: Das fordert die Linke.

Frau von der Leyen, Sie haben gesagt, Sie seien im
Gespräch mit den Ländern. Wir sind daher gespannt,
was für Angebote seitens der Regierung gemacht wer-
den.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1615422600

Das Wort hat nun Kollege Kai Gehring, Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615422700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein

starker Jugendschutz ist eine wichtige gesellschaftliche
und politische Aufgabe. Er muss daher kontinuierlich an
neue Herausforderungen angepasst werden.

Eltern beklagen Alkohol- und Drogenmissbrauch,
Gewalt, Rassismus und Pornografie im Internet und in
Computerspielen. Daher ist es wichtig, Eltern in ihrer
Erziehungs- und Medienkompetenz zu stärken und zu
unterstützen. Jugendliche wiederum müssen befähigt
werden, mit solchen Herausforderungen und mit neuen
medialen Einflüssen verantwortlich umzugehen.

Was ist dabei die Rolle der Politik? Die Politik muss
für klare Jugendschutzregeln und deren effektive Umset-
zung sorgen.

Frau von der Leyen, mit der vorliegenden Novelle
lässt sich kein zeitgemäßer Jugendschutz erreichen. Ih-
ren ursprünglichen Gesetzentwurf mussten Sie zurück-
ziehen, weil Sie Kinder als Testkäufer einsetzen wollten.
Im zweiten Anlauf lassen Sie die Frage der Testkäufer
nun völlig ungeregelt. Warum schließen Sie Kinder, also
unter 14-Jährige, als Testkäufer im Jugendschutzgesetz
nicht definitiv aus? Es muss verhindert werden, dass
9- und 10-Jährige von Behörden zum Kauf von Tequila
geschickt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Das war nie Thema!)


Keine Regelung heißt, dass der verantwortungslose
Wildwuchs vor Ort und in den Bundesländern weiterge-
hen kann.

Was wird überhaupt neu in diesem Gesetz verankert?
Die Altershinweise auf Videos, DVDs und Computer-
spielen werden zwar größer, aber nicht verständlicher.
Mit unklaren Gewaltbegriffen schaffen Sie zusätzliche
Rechtsunsicherheit. Formulierungen wie „gewaltbe-
herrschte Computerspiele“ und „selbstzweckhafte Ge-
walt“ drohen zu einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme
für Juristen und Gerichte zu werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wo bleiben denn die wirklich durchgreifenden und
wirksamen Maßnahmen? Wann wird zum Beispiel end-
lich der Bußgeldkatalog verschärft, wie wir es am run-
den Tisch auf grüne Initiative hin gemeinsam verabredet
haben? Wir brauchen ein einheitliches und abschrecken-
des Mindestbußgeld für Verstöße gegen den Jugend-
schutz; denn wenn das durchschnittliche Bußgeld, wie in
Nordrhein-Westfalen der Fall, weit unter 100 Euro liegt,
dann bleibt es ein zahnloser Tiger und wirkt nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Kerstin Griese [SPD]: Daran ist aber Nordrhein-Westfalen schuld!)


Wann wird endlich der Vollzug verbessert? Das ist
eine Schlüsselfrage. Um Jugendliche nachhaltiger zu
schützen, brauchen wir regelmäßige Schwerpunktkon-
trollen vor Ort. Nur so lässt sich das Risiko erhöhen, bei
Verstößen gegen das Jugendschutzgesetz erwischt zu
werden.

Die Politik der Jugendministerin in Fragen des Ju-
gendschutzes ist ziemlich sprunghaft. Vor Monaten ha-
ben Sie ein allgemeines Alkoholverbot für unter 18-Jäh-
rige gefordert. Da niemand diese überzogene und
unwirksame Forderung aufgegriffen hat, blieben Sie hin-
sichtlich der Frage, wie man exzessiven Alkoholkonsum
und Flatrate-Partys verhindern kann, nahezu untätig.
Auch hier gilt: Große Worte, aber wenig Taten.

Dagegen hat die rot-grüne Reform des Jugendme-
dienschutzes Wirkung gezeigt. Das Prinzip der regulier-
ten Selbstkontrolle hat sich bewährt. Das zeigt die seit
einem Jahr vorliegende Evaluation des Hans-Bredow-In-
stituts. Das Gutachten enthält in der Tat gute Vorschläge
zur Effektivierung des Jugendmedienschutzes.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Diese werden von der Koalition leider völlig ignoriert.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wir machen doch schon den ersten Teil!)


Zwei Beispiele dafür. Auf neue technische Entwick-
lungen geht Ihr Gesetzentwurf an keiner Stelle ein. Wir
sagen: Es darf nicht sein, dass Onlinespiele weiterhin
überhaupt nicht geprüft werden. Systematische Koope-
rationsregeln zwischen der Bundesprüfstelle für jugend-
gefährdende Medien und der Selbstkontrolle fehlen
auch. Wir sagen: Jedes Computerspiel, das von der USK
als indizierungswürdig eingestuft wird und deshalb
keine Kennzeichnung erhält, muss automatisch von der
Bundesprüfstelle geprüft werden, damit man nicht zwi-
schenzeitlich Geld damit verdienen kann.

Zu einem modernen Jugendmedienschutz gehört übri-
gens auch, dass das Suchtpotenzial von Computerspielen
bei der Altersfreigabe berücksichtigt wird. Wenn die
Koalition die Vorschläge des Hans-Bredow-Instituts
nicht in dieser Novelle aufgreift, wird ihre Umsetzung
letztlich auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben.
Dann bekommen Sie das in dieser Legislaturperiode
wahrscheinlich nicht mehr hin.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Doch! Wir schaffen das!)







(A) (C)



(B) (D)


Kai Gehring
Fazit. Wir brauchen gerade im Jugendschutz keine
Symbolpolitik, sondern praktikable Maßnahmen und
konsistente gesetzliche Regelungen. Wir brauchen keine
populistischen Verschärfungen und Verbotsforderungen,
sondern eine wirksame Weiterentwicklung und einen
besseren Gesetzesvollzug. Der vorliegende Gesetzent-
wurf leistet das nicht. Deshalb können wir ihn nicht un-
terstützen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sehr schade!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1615422800

Das Wort hat nun Caren Marks, SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Caren Marks (SPD):
Rede ID: ID1615422900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Jeder und jede von uns
kennt die Presseberichte: Gewaltverherrlichende Com-
puterspiele fördern die Aggressivität von Jugendlichen.
Jugendliche trinken zu viel Alkohol und landen mit Al-
koholvergiftung im Krankenhaus.

Die dargestellten Fälle müssen uns zu Recht nach-
denklich stimmen. Häufig wird der Ruf nach schärferen
Gesetzen laut. Wir müssen uns aber fragen, ob die kom-
plexen Probleme tatsächlich mit schärferen Gesetzen zu
lösen sind. Wir dürfen auch heute, in dieser jugendpoliti-
schen Debatte, nicht vergessen, dass die meisten Jugend-
lichen verantwortungsvoll und engagiert sind.


(Beifall der Abg. Kerstin Griese [SPD])


Sie gestalten aktiv ihre Freizeit. Das Gros der Jugend
geht sehr verantwortungsvoll mit Alkohol- oder auch
Medienkonsum um.

Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Natürlich
dürfen wir die Augen vor den Problemen nicht verschlie-
ßen. Sogenannte Flatrate-Partys, auf denen man für we-
nig Geld unbegrenzt viel Alkohol trinken kann, sind lei-
der keine Randerscheinung. Kinder und Jugendliche
brauchen Schutz und Regeln.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir haben in Deutschland in erster Linie kein Pro-
blem mit der Gesetzeslage, sondern Defizite bei der Prä-
vention vor Ort und im Gesetzesvollzug.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Jugendschutzgesetz, das die rot-grüne Bundesregie-
rung 2002 auf den Weg gebracht hat, enthält sehr wir-
kungsvolle Regelungen und hat sich bewährt. Es schützt
unsere Jugend, es gibt ihr Regeln und setzt Grenzen. Das
bestätigt auch die aktuelle Studie des Hans-Bredow-In-
stituts.

Ich möchte dieser eindeutigen Rechtslage Beispiele
aus dem täglichen Leben gegenüberstellen. Das Jugend-
schutzgesetz verbietet den Verkauf von Alkohol an Kin-
der und Jugendliche, doch der Verkauf von Schnaps an
Minderjährige am Kiosk, an der Tankstelle oder in der
Kneipe kommt häufig vor. Sogenannte Flatrate-Partys
finden statt, obwohl sie bereits nach geltender Rechts-
lage untersagt werden können; einige Kommunen ma-
chen das auch vorbildlich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Gesetze zum Schutz von Kindern und Jugendlichen
stoßen an ihre Grenzen, wenn Erwachsene sie nicht ein-
halten, wenn ein Kiosk- oder Tankstellenbesitzer oder
eine -besitzerin dem 15-Jährigen die Flasche Wodka ver-
kauft, obwohl dies verboten ist; wenn Behörden vor Ort
die Einhaltung der Gesetze nicht oder nur unzureichend
kontrollieren. Wir müssen die geltenden Gesetze konse-
quent anwenden; sonst ist unser gutes Jugendschutzge-
setz ein zahnloser Papiertiger.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die Bundesdrogenbeauftragte, Sabine Bätzing, macht
immer wieder eindrucksvoll deutlich: Wir alle sind ge-
fragt, wenn es um Prävention und um wirksame Alko-
holprävention geht. Seien wir doch ehrlich: Viele sind
der Überzeugung, dass zu einer guten Party oder zu einer
guten Stimmung im Festzelt auch viel Alkohol gehört.
Wir alle wissen, dass Alkohol in unserer Gesellschaft
verankert ist. Umso mehr zählt neben der Prävention ein
maßvoller Umgang, zum Beispiel mit Alkohol, den wir
als Erwachsene den Kindern und Jugendlichen vorleben
müssen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Der Ruf nach schärferen Gesetzen verkennt die gel-
tende Rechtslage. Er ist durchaus verlockend, aber auch
verantwortungslos. Wenn wir es mit dem Schutz unserer
Kinder und Jugendlichen ernst meinen, dann müssen wir
den Ursachen auf den Grund gehen und unsere eigenen
Verhaltensmuster kritisch hinterfragen. Das Jugend-
schutzgesetz, das wir jetzt punktuell weiterentwickeln,
ist ein hervorragendes jugendpolitisches Instrument. Es
liegt an uns, dieses Instrument sinnvoll einzusetzen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1615423000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/8546 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, wei-






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Von der Abfallpolitik zur Ressourcenpolitik –
Von der Verpackungsverordnung zur Wert-
stoffverordnung
– Drucksache 16/8537 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Sylvia Kotting-Uhl, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen,
das Wort.


Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615423100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wertstofftonne heißt das Konzept, zu dem kluge Kom-
munen oder Kreise wie zum Beispiel der Rhein-Neckar-
Kreis, in dem ich lange gelebt habe, die gelbe Tonne
weiterentwickelt haben. Mit der 5. Novelle der Verpa-
ckungsverordnung wird es jetzt jeder Kommune ganz of-
fiziell anheimgestellt, Wertstoffe jenseits der Verpackun-
gen in der gelben Tonne einzusammeln. Warum? Weil es
sich herumgesprochen hat, dass es sinnvoller ist, Wert-
stoffe einzusammeln, als sie wegzuschmeißen. Das
heißt, die Praxis ist diesbezüglich weiter als das dahin-
terstehende politische Regelwerk. Denn wir haben keine
Wertstoffverordnung in der Abfallpolitik, wir haben eine
Verpackungsverordnung.

Wir haben eine Verpackungsverordnung, die jetzt er-
laubt, stoffgleiche Nichtverpackungen mit einzusam-
meln, das aber weder vorschreibt noch eine Lizenzge-
bühr von den Herstellern dafür verlangt. Das ist
sozusagen eine offiziell verfügte Form der Trittbrettfah-
rerei in derselben Novelle, die die unerwünschte Form
der Trittbrettfahrerei mit viel Aufwand zu beenden ver-
sucht. Dabei entfällt aber völlig, was die Lizenzgebühren
auf Verpackungen ohnehin nur unbefriedigend leisten:
Lenkungswirkung und Produktverantwortung.

In welcher Situation sind wir denn heute? Was sind
die Schlagworte in jeder Umweltdebatte? Es sind CO2-
Reduktion, Energieeffizienz, Ressourcenschonung und
Ressourcenverknappung. 10 Prozent des Erdöls, das in
Deutschland verbraucht wird, fließen in die Herstellung
immer neuer Kunststoffprodukte. Von einer echten
Kreislaufwirtschaft sind wir genauso weit entfernt wie
von einer ressourceneffizienten Wirtschaftsweise.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Gleichzeitig ziehen die Preise für Sekundärrohstoffe
an, weil Primärrohstoffe auf dem Weltmarkt knapp wer-
den. Uns allen geläufige Beispiele dafür sind Metalle
und Papier. Wir können davon ausgehen, dass wir in ab-
sehbarer Zeit eine lange Reihe von Beispielen aufzuzäh-
len haben werden. Der Markt reagiert hier nicht vorsor-
gend. Das ist Aufgabe der Politik.

In der Abfallpolitik sind wir in Deutschland besser als
viele andere Länder. Das heißt aber nicht, dass wir gut
wären oder die Aufgaben der Zukunft bereits im Blick
hätten. Wir brauchen eine echte Kreislaufwirtschaft und
eine echte Produktverantwortung. Sich mit circa 1,6 Mil-
liarden Euro im Jahr und einem System sich selbst gene-
rierender Novellierungen um Verpackungen zu küm-
mern, ist nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Wir schlagen
Ihnen den Abschied von der ökologisch nicht optimier-
baren, ökonomisch viel zu teuren und sich im Übrigen
bei allen Bemühungen dem Wettbewerb hartnäckig wi-
dersetzenden Verpackungsverordnung vor.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Klima- und Ressourcenschutz verlangen, dass wir uns
um die Wertstoffe kümmern. Also brauchen wir eine
Wertstoffverordnung. Klima- und Ressourcenschutz ver-
langen eine energie- und ressourcensparende Produk-
tionsweise. Also brauchen wir ein Lenkungsinstrument,
das Herstellern ökonomische Vorteile für die Produktion
langlebiger und kreislauffähiger Produkte verschafft.

Unser Konzept sieht folgendermaßen aus: Kern ist
eine Ressourcenabgabe mit Lenkungswirkung auf per-
spektivisch alle Produkte anstelle von Lizenzgebühren
auf Verpackungen, die inzwischen einem Ablasshandel
ähneln. Berechnet und erhoben wird die Ressourcenab-
gabe von einer öffentlich-rechtlichen und damit unab-
hängigen Ressourcenagentur, die das inzwischen zu
Recht umstrittene DSD ablöst. Bezahlt wird sie von Pro-
duzenten sowie von Importeuren, um Wettbewerbsnach-
teile auszuschließen.

Das Entscheidende sind die Kriterien, nach denen
sich die Höhe der Ressourcenabgabe richtet. Dabei geht
es um das Vorkommen im Abfall, also die Lang- oder
Kurzlebigkeit des Produktes, um seine Kreislauffähig-
keit, also ob es leicht auseinanderzunehmen und wieder-
zuverwerten ist, oder darum, ob das Produkt vielleicht
sogar schon aus einem Sekundärrohstoff hergestellt
wurde. Nach diesen Kriterien gestaffelt bekommt die
Ressourcenabgabe eine ökologische Lenkungsfunktion
und definiert Produktverantwortung im eigentlichen
Sinn.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auf kurzlebigen Billigplunder wird eine hohe Res-
sourcenabgabe erhoben, während sie bei einem langlebi-
gen, kreislauffähigen Produkt gegen null gehen kann.
Eine Frage, die Sie sicher aufwerfen werden und die
auch wir uns natürlich gestellt haben, ist die nach dem
bürokratischen Aufwand. Nein, wir Grünen sind keine
Freunde von Bürokratie. Aber wir wissen auch, dass be-
rechtigte Schutzinteressen nicht immer mit wenigen Fe-
derstrichen zu regeln sind.

Im Hinblick auf die Materialzusammensetzung von
Produkten trifft die Produzenten eine zusätzliche Be-
richtspflicht. Aber sie hält sich in zumutbaren Grenzen.
Jeder Produzent von bearbeiteten Nahrungsmitteln ist
verpflichtet, die Inhaltsstoffe seines Produktes aufzulis-






(A) (C)



(B) (D)


Sylvia Kotting-Uhl
ten; das geht also. Bedenken Sie bitte zudem, dass auch
die heutige Verpackungsverordnung durchaus nicht ohne
Bürokratie auskommt. Neuerdings kommt noch die ab-
zugebende Vollständigkeitserklärung hinzu.

Tatsächlich vereinfacht die Wertstoffverordnung vie-
les. Das System ist transparent, verständlich und in sich
logisch; all das hat die Verpackungsverordnung längst
hinter sich gelassen. Vor allem aber ist es zukunftsfähig.
Eine Wertstoffverordnung kann entscheidend dazu bei-
tragen, dass Produkte anders designt werden, entlang der
Maßstäbe, die für die Zukunft entscheidend sind: CO2-
Einsparung, Energieeffizienz und Ressourcenschonung.
Vorausschauende Abfallpolitik muss schon heute Res-
sourcensicherung sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1615423200

Das Wort hat nun Michael Brand, CDU/CSU-Frak-

tion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Michael Brand (CDU):
Rede ID: ID1615423300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nach der Novelle ist vor der Novelle, das haben wir be-
reits bei der Verabschiedung der 5. Novelle zur Verpa-
ckungsverordnung vor ein paar Wochen im Plenum fest-
gestellt. Die Novelle ist erst vor wenigen Tagen im
Bundesgesetzblatt veröffentlicht worden und wird zum
1. Januar 2009 in Kraft treten. Dass es auch nach der
5. Novelle zum Teil konträre Positionen geben würde,
war allen Beteiligten schon während des Verfahrens klar.
Dennoch gibt es in diesem Hause mit Blick auf die lang-
fristige Ausrichtung der Abfallwirtschaft eine Reihe
wichtiger Gemeinsamkeiten. Das ist ein Beleg dafür,
dass in dieser Frage ein verantwortliches Klima herrscht.

Wir, die CDU/CSU, sind für eine Produktverantwor-
tung, die ernst genommen wird. Wir haben die individu-
elle, an die Unternehmen gerichtete Produktverantwor-
tung nicht nur als eine für Verpackungen verstanden. Wir
haben sie immer so verstanden, dass es Anreize geben
muss, um die Produzenten bzw. Hersteller zu veranlas-
sen, schon zu Beginn des Kreislaufs, also bei der Her-
stellung eines Produkts, an die Verwertung zu denken
und eine möglichst ressourcenschonende Produktions-
weise zu verfolgen. Auf diesem Feld hat es bei der öko-
nomischen Erschließung von ökologischen Potenzialen
große Fortschritte gegeben.

Heute liegt uns ein Antrag vor, der einige Positionen
beinhaltet, die mit denen der CDU/CSU grundsätzlich
identisch sind. Die schwarz-grünen Übereinstimmungen
haben sich auch gestern im Hessischen Landtag gezeigt,


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nicht übertreiben! – Oh!)


als mein Ministerpräsident Roland Koch angekündigt
hat – das habe ich mit sehr großer Freude zur Kenntnis ge-
nommen –, Hessen zum Musterland erneuerbarer Ener-
gien machen zu wollen.


(Josef Göppel [CDU/CSU]: Ein sehr gutes Beispiel! – Dr. Werner Hoyer [FDP]: Passt bloß auf, dass ihr auf eurer Schleimspur nicht ausrutscht!)


– Roland Koch ist dafür bekannt, dass er das, was er an-
kündigt, auch tut, lieber Herr Kollege Hoyer.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Letztlich sollte man jeden an seinen Taten messen und
nicht an seinen Zwischenrufen.

Lassen Sie mich auf den Antrag zurückkommen. Zu
den Gemeinsamkeiten von Schwarz und Grün zählt auch
das Thema Ressourcenschonung. Die Union tritt an die-
ser Stelle für die Bewahrung der Schöpfung ein. Das ist
es, was uns in diesem Punkt mit den Grünen verbindet.
Auch bei globalen Steuerungs- und Lenkungsmechanis-
men wie der Abgabe war und bleibt die Union prinzipiell
offen für durchdachte und belastbare Konzepte. Auch
hier gilt, wie im Übrigen bei der geltenden Systematik
der Verpackungsverordnung: Man achte auf die Neben-
wirkungen und erkenne frühzeitig den Teufel im Detail.
Liebe Frau Kollegin Kotting-Uhl, Sie selbst haben deut-
lich gemacht, wo der Teufel im Detail steckt.

Was bei der Lektüre Ihres Konzepts allerdings über-
rascht, ist der überbürokratisierte Ansatz, den die Grü-
nen für die Umsetzung gewählt haben. Da ist von einer
Agentur die Rede, die in bürokratischer Machtfülle alle
Produkte listet und einstuft, ihnen eine Abgabenhöhe zu-
weist und auch noch die Ausschreibung und Sammlung
durchführt bzw. überwacht.


(Josef Göppel [CDU/CSU]: So geht es nicht!)


Da ist mehr als Skepsis angebracht; denn schon heute
müssen wir mit sehr umstrittenen Schätzungen leben,
wenn es um die Berechnung von Recyclingquoten für
wenige Stoffgruppen geht.

Mit dem Ansatz, den Sie vorschlagen, würden wir die
individuelle Produktverantwortung indirekt aushebeln –
zugunsten eines kollektiven Systems.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn zum Beispiel die Quote eines Produkts im Abfall
über dessen Abgabehöhe entscheidet, dann wird der um-
weltbewusste Produzent mit abgestraft für diejenigen,
die nicht ressourcenschonend produzieren und ihre we-
niger ökologisch erstellten Produkte in den Abfall kip-
pen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das würde in der Konsequenz den Anteil dieser Pro-
dukte am Abfall erhöhen. Nach dem Konzept der Grü-
nen würden so auch die Kosten für umweltbewusste Pro-
duzenten in die Höhe getrieben. Das kann nicht der
richtige Weg sein.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben es nicht verstanden!)







(A) (C)



(B) (D)


Michael Brand
Dermaßen überbürokratisierte Ansätze führen be-
kanntlich häufig zu Monopolisierungstendenzen. Wenn
ich Ihr Konzept richtig gelesen habe, wollen Sie aber ge-
rade, dass das Beispiel „Monopol und DSD“ nicht fort-
gesetzt wird. Auch was die Verpackungsverordnung und
die Verhinderung von Monopolen angeht, gibt es also
große Gemeinsamkeit zwischen Grün und Schwarz; das
will ich sehr wohl anerkennen.

Dass Sie den Kommunen über Ihre Abgabe die Müll-
gebühren und damit natürlich auch die dezentrale kom-
munale Abfallwirtschaft aus der Hand nehmen wollen,
findet – da bin ich mir mit dem Kollegen Bollmann von
der SPD wahrscheinlich einig – vielleicht den Beifall der
großen Entsorgungskonzerne. Doch für die Kommunen
und für die Arbeitsplätze beim regional verankerten Mit-
telstand ist das nicht das richtige Signal.


(Beifall der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE])


Insgesamt findet sich in der aktuellen Fassung der
Wertstoffstrategie der Grünen ohnehin zu wenig Subsi-
diarität, und das, wo Subsidiarität den Grünen doch sonst
so wichtig ist. Daraus spricht erstaunlich wenig Zutrauen
in fairen Wettbewerb. Dabei haben wir funktionierende
Märkte, die eine Vielzahl vor allem mittelständischer
Spezialisten und fairen Wettbewerb aufweisen. Das gilt
nicht nur für das aktuell heiß begehrte Altpapier; das gilt
auch für Glas, für Stahlschrott, eine Reihe von Kunststof-
fen und Elektroaltgeräte. Insofern ist es keine parteipoliti-
sche Taktik, wenn wir den Kollegen von den Grünen ans
Herz legen, die Prinzipien der Ressourcenschonung wei-
ter zu verfolgen, die konkreten Ableitungen aber noch-
mals auf ihre Nebenwirkungen zu überprüfen. Wir als
CDU/CSU empfehlen Ihnen mehr Vertrauen in fairen
Wettbewerb und weniger Bürokratie.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Eine Debatte zum Thema Verpackungen können wir
nicht führen, ohne die akute Krise des ökologisch vor-
teilhaften Mehrwegsystems zu besprechen, die der Bun-
desumweltminister trotz Mahnung – das will ich hier
sehr deutlich sagen – mit der letzten Novelle nicht lösen
wollte. Beim Mehrweg kämpfen wir heute mit den fata-
len Nebenwirkungen früherer Entscheidungen. Als wir,
die Union, für die Abgabe eingetreten sind, hat die da-
malige rot-grüne Bundesregierung mit dem Pfand auf
Einweg die Grenze zum ökologisch wertvolleren Mehr-
weg in den Augen der Verbraucher verwischt und das
Tor zum Einweg weit aufgerissen. Die Verbraucher sind
von Mehrweg zu Einweg abgewandert, ohne es zu wis-
sen; denn Einweg und Mehrweg sind am Pfand kaum
mehr zu unterscheiden. Die Krise treibt die vor allem
mittelständischen Mineralbrunnen in existenzielle
Schwierigkeiten. Die CDU/CSU hat den Bundesumwelt-
minister ein ums andere Mal gedrängt, die Mehrweg-
quote in der Verpackungsverordnung zu retten. Heute ist
festzuhalten: Wenn der Bundesumweltminister nicht
sehr zeitnah entsprechende Maßnahmen auf den Weg
bringt, dann droht vielen Betrieben mitsamt ihren oft-
mals in ländlichen Regionen befindlichen Tausenden
von Arbeitsplätzen das Aus.

(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Macht doch was!)


– Deswegen spreche ich das kritisch an. Es gibt durchaus
Nuancen in der Politik der Großen Koalition. Wenn das
irgendwo der Fall ist, dann hier.


(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ CSU])


Diese Betriebe sind bei der Befüllung und Rückho-
lung ihrer Flaschen auf das Mehrwegsystem angewie-
sen. Sie können nicht mal eben zweistellige Millionen-
beträge investieren wie die Lieferanten von Aldi und
Co., um ihre Produktion umzubauen. Das ist einer der
schweren Nachteile, mit denen die mittelständischen
Unternehmen zu kämpfen haben. Der Bundesumweltmi-
nister kann angesichts dieser Dramatik nicht, wie er es
angekündigt hat, bis 2010 warten; dann könnte er nur
noch den Tod des Mehrwegsystems feststellen. Herr
Bundesminister Gabriel, wir bitten Sie: Reagieren Sie
hier bitte nicht schwerfällig! Bewegen Sie sich, helfen
Sie dem Mehrwegsystem!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Für heute also gilt: Die CDU/CSU drängt auf die Ret-
tung des Mehrwegsystems. Wir lehnen den Grünen-An-
trag zur Wertstoffverordnung ab. Bei allem eigenen En-
gagement für Umwelt und Bewahrung der Schöpfung
sehen wir als Union noch einigen Prüfungsbedarf. Es
gibt in dem Antrag der Grünen Irrwege; auf die sollten
wir als Parlament die Bundesregierung nicht schicken.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1615423400

Das Wort hat nun Horst Meierhofer, FDP-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)



Horst Meierhofer (FDP):
Rede ID: ID1615423500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

haben erst vor kurzer Zeit über die 5. Novelle zur Verpa-
ckungsverordnung gesprochen. Es war zu erwarten, dass
das weitergeht; doch dass dies so schnell der Fall sein
würde, konnte man nicht ahnen. Wir haben bei der Dis-
kussion über die 5. Novelle unsere Ideen eingebracht,
wie eine sachgerecht novellierte Verpackungsverord-
nung aussehen könnte. Sie sind leider nicht berücksich-
tigt worden, trotz aller möglichen Irritationen, die es
aufseiten der Umweltpolitiker vor allem der Union gab.
Bei der Verpackungsverordnung fängt die eigentliche
Arbeit, nämlich die grundsätzliche Modernisierung des
derzeitigen Systems, erst an.

Ich kann feststellen, dass in der FDP genauso wie bei
den Grünen große Übereinstimmung besteht, wenn es
darum geht, die Probleme zu benennen. Ich habe manch-
mal das Gefühl, dass auch Teile der Koalition, zum Bei-
spiel die CSU oder das Wirtschaftsministerium, erkannt
haben, dass hier mit wenig wirtschaftlicher Vernunft ein
sehr teures System unterhalten wird. Das hat man aber
nicht gemerkt, als es um die 5. Novelle zur Verpa-
ckungsverordnung ging; das ist schade. Im Antrag der






(A) (C)



(B) (D)


Horst Meierhofer
Grünen werden in der Analyse einige richtige Punkte
dargestellt.

Wir sind ebenfalls grundsätzlich davon überzeugt,
dass die Verpackungsverordnung in der momentanen
Fassung konzeptionell überholt, unflexibel, extrem kost-
spielig und zumindest ökologisch widersinnig ist.


(Beifall bei der FDP)


Wir sind uns auch darin einig, dass es in Zeiten knap-
per Ressourcen keinen Sinn macht, danach zu differen-
zieren, welche Form ein bestimmtes Plastikteilchen hat.
Wir haben in unserem Antrag als Beispiele die Sham-
pooflasche und die Quietscheentchen genannt. Frau
Kotting-Uhl hat geschrieben:

Doch auch die Kunststoffsammlung folgt nicht dem
„gesunden Menschenverstand“.

Das ist sicherlich richtig. – Wir sind uns auch einig, dass
es ein erster Schritt sein könnte, der aber bei weitem
nicht ausreicht und im Endeffekt nur ein Tropfen auf
dem heißen Stein ist, dass die Kommunen nun die Mög-
lichkeit haben, auch andere Materialien, nämlich stoff-
gleiche Nichtverpackungen, in der Gelben Tonne zu
sammeln. Das reicht aber bei weitem nicht, um die He-
rausforderungen unserer Zeit zu bewältigen.


(Beifall des Abg. Michael Kauch [FDP])


Man kann sagen, dass eine grundlegende Neuausrich-
tung der Ressourcen- und Abfallpolitik von uns als FDP
insgesamt befürwortet wird – das scheint auch bei den
Grünen so zu sein – und dies durch das derzeitige Sys-
tem der Verpackungsverordnung nicht geleistet werden
kann. Wir würden uns freuen, wenn die Große Koalition
in der Lage wäre, das anzuerkennen. Herr Brand hat ja
darauf hingewiesen.

Vor kurzer Zeit gab es jedoch noch eine Übereinstim-
mung zwischen der SPD und der CDU/CSU hinsichtlich
der 5. Novelle, mit der genau das Gegenteil erreicht
wurde, nämlich die Manifestierung des alten Zustandes.
Deswegen fehlt mir ein bisschen der Glaube, dass hier
tatsächlich der Wille vorhanden ist. Es kann aber im
Windschatten von Roland Koch als Umweltpolitiker
noch einiges passieren. Die Hoffnung stirbt ja bekannt-
lich zuletzt.


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP)


Ich habe jetzt dargestellt, wo wir mit den Grünen
übereinstimmen. Bevor meine Fraktion Probleme be-
kommt, muss ich auch noch darstellen, an welchen Stel-
len es Unterschiede gibt.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das klingt schon fast bedrohlich!)


Die Unterschiede zwischen uns liegen in den Lösungs-
ansätzen.

Wenn man ein modernes und zeitgemäßes Verfahren
will, dann ist weniger Staat nötig. Genau das Gegenteil
scheint bei Ihrem Verfahren der Fall zu sein. Ich glaube,
durch die Verwirklichung Ihrer Vorschläge würden wir
mehr Staat erreichen; es gäbe mehr Bürokratie.

Eine Ressourcenabgabe wird natürlich auch erst ein-
mal zu einer Mehrbelastung führen, was ebenfalls nicht
unbedingt zu den gewünschten Effekten führt. Ich
glaube, wenn der Staat festlegt, welche Abgaben an wel-
cher Stelle bezahlt werden müssen, dann wird es eher
undurchsichtig, kompliziert und vermutlich auch sehr
viel teurer.


(Beifall bei der FDP)


Wir als FDP haben im Herbst letzten Jahres eine Ant-
wort vorgeschlagen und gesagt, dass wir es uns gut vor-
stellen können, ein Mengensteuerungsmodell einzufüh-
ren und mit Quoten zu arbeiten.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ganz unbürokratisch!)


Wir glauben, dass der Umweltschutz damit flexibler und
marktorientierter gestaltet werden könnte. Ich kenne den
Vorwurf, dass mehr Markt zwangsläufig zu weniger
Umweltschutz führen würde. Das ist natürlich Unsinn,
weil wir die Quoten festlegen würden. So könnte man
mindestens genauso gute Ergebnisse erzielen wie mit ei-
ner Ressourcenabgabe, wenn nicht sogar noch bessere.
Insgesamt soll es ein vernünftiges Konzept sein, das für
alle Bereiche gilt.

Es stellt sich die Frage, wie sinnvoll es ist, an der ei-
nen Stelle eine Abgabe zu schaffen und an der anderen
Stelle – wie beim EEG – eine Zertifizierung einzufüh-
ren. Das sind unterschiedliche Systeme, die überhaupt
nicht zusammenpassen. Deswegen entfalten sie auch
nicht die Wirkung, die sie entfalten könnten, wenn man
einheitlich vorginge. Ich glaube, hier fehlt es auch ein
bisschen am grundsätzlichen Verständnis.


(Beifall bei der FDP)


Unsere Idee ist sehr grundsätzlicher Natur. Deshalb
ist es auch nicht möglich, sie sofort umzusetzen, weswe-
gen wir eine Übergangsfrist wollen. Das fehlt mir bei Ih-
rem Antrag, Frau Kotting-Uhl. Wir wissen natürlich,
dass es sehr viele Mittelständler gibt, die sich auf die jet-
zige Situation eingestellt und ihre Geschäftsmodelle in
der Entsorgungsbranche auf das Duale System abge-
stimmt haben. Man kann sie natürlich nicht von heute
auf morgen einer vollkommen neuen Situation ausset-
zen. Deswegen glaube ich, dass es vernünftig wäre,
mehr Öffnungsmöglichkeiten im bestehenden System
zuzulassen, zum Beispiel die Möglichkeit zu eröffnen, in
verschiedenen Kommunen von diesem System abzuwei-
chen, und in den Kommunen, in denen das jetzige Sys-
tem gut funktioniert, es weiterhin bestehen zu lassen.
Das könnte einen langsamen, sanften und sowohl ökolo-
gisch als auch ökonomisch vertretbaren Übergang er-
möglichen. Dafür wollen wir uns einsetzen.


(Beifall bei der FDP)


Ich glaube schon, dass es möglich ist, zu gemeinsa-
men Lösungen zu kommen, weil wir alle gemeinsam das
Problem sehen. Wenn wir die Scheuklappen ablegen, ha-
ben wir die Möglichkeit, einen wirklich großen Wurf zu
machen, und zwar nicht einen in den Gelben Sack, son-
dern einen, der uns alle sehr viel weiterbringt. Ich freue
mich auf die Beratungen.

Danke.


(Beifall bei der FDP)







(A) (C)



(B) (D)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1615423600

Das Wort hat nun Gerd Bollmann, SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gerd Bollmann (SPD):
Rede ID: ID1615423700

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Um vorweg eines deutlich zu machen: Deutschland
nimmt im europäischen und internationalen Vergleich
bei der Verpackungsverwertung eine Spitzenstellung ein.
Daran waren im Laufe der Jahre alle – Christdemokra-
ten, Grüne und Sozialdemokraten – beteiligt. Das sollten
wir der gesamten Diskussion vorwegschicken.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Ressourcenschonung und Materialeinsparung durch
eine weiterentwickelte Kreislaufwirtschaft sind auch das
Ziel der SPD. Abfallwirtschaft bedeutet nicht mehr die
möglichst hygienische und umweltfreundliche Beseiti-
gung von Müll, und auch Vermeidung ist nicht mehr das
alleinige Kriterium.

Eine moderne Abfallwirtschaft beginnt bei der Pro-
duktion. Das Produktdesign sollte so gestaltet sein, dass
zum Ende des Lebenszyklus eine technisch einfache und
fast vollständige Wiederverwertung möglich ist. Gleich-
zeitig sollte der Einsatz von Rohstoffen und Energie so
gering wie möglich sein. Dies ist nicht nur im Sinne der
Umwelt, sondern angesichts hoher Energie- und Roh-
stoffpreise auch ökonomisch sinnvoll. Das Ziel dieses
Antrags, die Ressourcenschonung zu verbessern, ist da-
her völlig richtig. Viele Aspekte, die angesprochen wer-
den – zum Beispiel mehr Recycling und Herstellerver-
antwortung –, sind lobenswert.

Den vorgeschlagenen Weg, diese Ziele zu erreichen,
halten wir aber in der beschriebenen Form für falsch.
Mit einer Ressourcenabgabe soll ein ökologisch nachtei-
liges Produkt von kurzer Haltbarkeit gegenüber einem
aus gut recyclebarem Material hergestellten Produkt
deutlich verteuert werden. Die Abgabenhöhe soll nach
mehreren Kriterien festgelegt werden. Höheres Vorkom-
men im Abfall und Verwendung von Primärrohstoffen
sollen die Abgabe erhöhen. Ebenso soll schlechte Recy-
clingfähigkeit zu einer höheren Abgabe führen. Gleich-
zeitig sollen der Marktwert von den aus Produkten ge-
wonnenen Sekundärrohstoffen und der Einsatz von
Sekundärrohstoffen bei der Produktion die Abgaben-
höhe verringern.

Allein diese Aufzählung zeigt die Problematik. Ich
frage mich, wie so etwas funktionieren soll. Es gibt Mil-
lionen von Produkten. Soll an jedem Produktionsstand-
ort ein Kontrolleur stehen, um festzustellen, ob und in
welcher Menge Primär- oder Sekundärrohstoffe einge-
setzt werden? Oder sollen alle Produkte und die Produk-
tionsart zertifiziert werden? Wer soll das entscheiden?
Wie soll das kontrolliert werden?

So ehrenwert das Ziel einer ressourcensparenden Re-
cyclingwirtschaft ist – der vorgeschlagene Weg ist nicht
praktikabel. Alleine um die Durchführung zu organisie-
ren, müsste eine riesige Bürokratie aufgebaut werden.
Dabei ist ein Missbrauch nicht auszuschließen. Wer soll
überprüfen, ob Sekundärrohstoffe verarbeitet wurden?
Oder andersherum: Man muss sich auf die Angaben der
Hersteller verlassen. Damit ist dem Betrug Tür und Tor
geöffnet.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie funktioniert das bei REACH?)


Die gerade geschilderten Probleme betreffen nur die
Produktion in Deutschland. Wie soll das erst bei Impor-
ten funktionieren? Wer will kontrollieren, ob Spielzeug
aus China aus Kunststoffrecyclaten oder Primärstoffen
hergestellt wurde?

Was ist im Übrigen, wenn eine Produktion aus Sekun-
därrohstoffen wesentlich energieintensiver ist als eine
aus Primärrohstoffen? Was ist, wenn durch die Verwen-
dung von Primärrohstoffen die Produktion in großem
Maße energieeffizienter ist? Was zählt dann mehr: die
Energieeinsparung oder die Verwendung von Sekundär-
rohstoffen? Was ist mit unserer Wettbewerbsfähigkeit,
wenn wir unsere Produkte verteuern?

Wie wird Recycling in der Recyclingwirtschaft be-
wertet? Ich lese in Ihrem Antrag wieder das ominöse
Wort Downcycling. Ist Recycling wirklich nur dann gut,
wenn zum Beispiel aus Flaschen wieder Flaschen und
aus Spielzeug wieder Spielzeug wird? Ist es schlecht,
wenn aus Kunststoffrecyclaten zum Beispiel Kleidung
oder andere Gebrauchsgüter hergestellt werden, um da-
mit Rohöl zu sparen? Soll bei Downcycling etwa die
Ressourcenabgabe höher sein?

Wir müssen zwar die Kreislaufwirtschaft stärken,
aber der vorgeschlagene Weg ist unrealistisch.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es gibt viele, zu viele offene Fragen. Durchführung und
Kontrolle sind in der Praxis nicht möglich. Für eine Ver-
besserung der Ressourcenschonung sind vielmehr viele
einzelne Schritte notwendig: einzelne Auflagen, Aufklä-
rung, eine bessere Sammlung, Forschungsförderung und
vieles mehr. Es gilt – darauf wurde bereits hingewiesen –,
die Gelbe Tonne zur Wertstofftonne weiterzuentwickeln,
wie es in der 5. Novelle zur Verpackungsverordnung
vorgesehen ist. Dazu kann eine Kennzeichnung als öko-
logisch vorteilhaftes Produkt gehören. Dazu gehört der
Zwang zur weitestgehenden stofflichen Wiederverwer-
tung des Abfalls. Dazu gehören auch Überlegungen
– darauf hat Herr Brand gerade hingewiesen –, insbeson-
dere im Hinblick auf die wegbrechenden Quoten bei den
Mehrwegverpackungen auf ökologisch nicht vorteilhafte
Einwegverpackungen eine Abgabe zu erheben. Im Übri-
gen werden wir uns um die Erfindung des Pfandes nicht
streiten. Es gibt sicherlich andere, die darauf ein Anrecht
haben. Vor langer Zeit ist die SPD für eine Abgabe ein-
getreten. Dann kamen verschiedenste Pfandregelungen,
die schließlich von Rot-Grün konsequent umgesetzt
wurden. Das ist die richtige Reihenfolge.


(Beifall bei der SPD – Michael Brand [CDU/ CSU]: Entscheidend ist, dass Herr Gabriel endlich handelt!)







(A) (C)



(B) (D)


Gerd Bollmann
Ich weiß, dass ein solcher Weg mühsam ist. Aber er
ist der einzig mögliche Weg. Wir müssen nämlich Wirt-
schaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit beachten.
Ebenso müssen wir den technologischen und wissen-
schaftlichen Fortschritt berücksichtigen. Was heute öko-
logisch gut ist, kann morgen überholt sein. Wichtig sind
aber vor allem Durchführbarkeit und Durchsetzbarkeit.
Wir tun dem ökologischen Gedanken der Recyclingwirt-
schaft keinen Gefallen, wenn wir Gesetze verabschie-
den, deren Durchsetzung wir nicht garantieren können.
Wir wollen die Abfallwirtschaft zu einer nachhaltigen,
ressourcenschonenden Stoffwirtschaft weiterentwi-
ckeln. Die Verpackungsverordnung – mit deren Evaluie-
rung und Weiterentwicklung noch in diesem Jahr mit ei-
nem Forschungsvorhaben begonnen werden – wird ein
Element dieser Politik sein.

Wir laden die Antragsteller ein, sich an der Fortset-
zung des Dialogs über die Weiterentwicklung der Ab-
fallwirtschaft zu einer Stoffwirtschaft zu beteiligen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1615423800

Nun hat Kollegin Bulling-Schröter, Fraktion Die

Linke, das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1615423900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

5. Novelle zur Verpackungsverordnung hatte kaum öko-
logische Komponenten. Es ging nur darum, Verzerrun-
gen im Wettbewerb und Missbrauchsmöglichkeiten aus-
zuräumen. Die Linke hatte die Novelle deshalb
abgelehnt. Schließlich wurde unserer Meinung nach die
Chance vertan, die Verordnung umweltpolitisch weiter-
zuentwickeln, und zwar erstens um der dramatisch sin-
kenden Mehrwegquote bei Getränkeverpackungen ent-
gegenzuwirken – dieses Thema wurde schon
angesprochen – und zweitens um aus der Verpackungs-
verordnung eine Wertstoffverordnung zu machen. Aus
diesem Grunde unterstützen wir den Antrag der Grünen
grundsätzlich.

Aus Sicht der Verbraucherinnen und Verbraucher ist
es tatsächlich wenig logisch, dass Spülflaschen in die
Gelbe Tonne gehören, nicht aber Gießkannen, Kinderba-
dewannen und kleine Entchen aus ähnlichem Material.
Es macht auch ökologisch keinen Sinn, wenn stoffglei-
che Nichtverpackungen in die Graue Tonne des Restab-
falls zu werfen sind. Damit befinden sie sich nämlich in
einem Stoffstrom, der primär nicht dafür gedacht ist, ef-
fizient Wertstoffe zu erfassen und zu recyceln. Die Be-
treiber von biologisch-mechanischen Anlagen zum Bei-
spiel könnten auf die anfallende heizwertreiche Fraktion
solcher nichtorganischer Stoffe verzichten. Zudem ist
das DSD – weil hier Wertstoffe eben nicht von vornher-
ein möglichst sortenrein getrennt werden – im Wesentli-
chen auf Downrecycling – es gibt noch andere Möglich-
keiten – oder auf Verbrennung angelegt. Mit
Ressourcenwirtschaft hat das unserer Meinung nach sehr
wenig zu tun.

Schließlich macht die Unterscheidung nach Herkunft
statt nach Stoff auch ökonomisch wenig Sinn. Ich
glaube, die wenigsten wissen genau, was laut Gesetz in
die Tonnen des DSD und was in die Tonnen der kommu-
nalen Reststoffentsorgung gehört. Die Fehlwürfe bei
Verpackungen bürden den Bürgern jedoch über die Ab-
fallgebühren noch einmal Kosten auf, die sie über den
Grünen Punkt, das Interseroh oder über andere DSD-
Systeme längst bezahlt haben.

Aus all diesen Gründen sind wir sehr dafür, aus der
Verpackungsverordnung eine ökologische Wertstoffver-
ordnung zu machen, die schrittweise die Produktverant-
wortung der Hersteller auf alle Produkte ausweitet.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich möchte abschließend die Gelegenheit nutzen, um
auf zwei aktuelle Entwicklungen im Abfallbereich auf-
merksam zu machen, die einer Ressourcenwirtschaft
Hohn sprechen. Zunächst ist da der Boom bei der Pla-
nung und beim Bau sogenannter Ersatzbrennstoffkraft-
werke. Industrieunternehmen wie Holzverarbeitungs-
und Papierverarbeitungsbetriebe bauen Heizkraftwerke,
die mit eigenen Produktionsabfällen beschickt werden
sollen. So weit, so gut. Leider sind die Rahmenbedin-
gungen derart, dass die Anlagen aus Sicht einer nachhal-
tigen Abfallwirtschaft vollkommen überdimensioniert
sind. Sie werden nicht im Entferntesten mit eigenen Ab-
fällen gefüttert werden können. In Brandenburg etwa
sind Anlagen in Betrieb, in Bau oder in Planung mit ei-
ner Gesamtkapazität von 3 Millionen Jahrestonnen. Das
ist das Sechsfache dessen, was an Ersatzbrennstoffen im
Land anfällt. Hier steht ein gigantischer Mülltourismus
bevor, nicht nur in Brandenburg. Wir wissen um den
Mülltourismus; dafür gibt es viele Beispiele.

Zudem scheint Ostdeutschland zur Müllkippe der Na-
tion zu werden. Weil laut Einigungsvertrag im Osten
– und nur im Osten – Kies- und Tongruben dem Berg-
recht unterliegen, ist hier offensichtlich die Abfallabla-
gerungsverordnung ausgehebelt. Die unabgedichteten
Gruben werden mit gemischten Siedlungsabfällen bis
hin zum Giftmüll aus ganz Deutschland verfüllt; Sie ha-
ben sicherlich den Bericht im Fernsehen darüber gese-
hen. Das halte ich für einen Skandal. Wir sollten uns
schnellstmöglich damit beschäftigen und das abstellen,
und zwar gemeinsam. Ich denke, das ist dringend not-
wendig.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1615424000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8537 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 10 a
und 10 b:

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung wehrrechtlicher und anderer

(Wehrrechtsänderungsgesetz 2007 – WehrRÄndG 2007)


– Drucksache 16/7955 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidi-
gungsausschusses (12. Ausschuss)


– Drucksache 16/8640 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Robert Hochbaum
Rolf Kramer
Birgit Homburger
Dr. Hakki Keskin
Winfried Nachtwei

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(12. Ausschuss)

Gehring, Winfried Nachtwei, Grietje Bettin, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Wehrpflichtige in Studium und Ausbildung
vollständig vor Einberufung schützen

– Drucksachen 16/8044, 16/8640 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Robert Hochbaum
Rolf Kramer
Birgit Homburger
Dr. Hakki Keskin
Winfried Nachtwei

Es ist vereinbart, dass die Reden der folgenden Kolle-
ginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden: Rolf
Kramer für die SPD, Birgit Homburger für die FDP, Paul
Schäfer für die Fraktion Die Linke, Winfried Nachtwei
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Bundesminis-
ter Franz Josef Jung für die Bundesregierung.1)

Wir kommen damit zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ge-
setzes zur Änderung wehrrechtlicher und anderer Vor-
schriften. Der Verteidigungsausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8640,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck-
sache 16/7955 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Frak-
tion Die Linke und der Grünen bei Stimmenthaltung der
FDP angenommen.

1) Anlage 2
Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in der
zweiten Beratung angenommen.

Tagesordnungspunkt 10 b: Beschlussempfehlung des
Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Wehrpflichtige
in Studium und Ausbildung vollständig vor Einberufung
schützen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8640, den An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/8044 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Frak-
tionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenom-
men.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 d auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Barth, Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Finanzierungsberatung für Studierwillige und
Studierende

– Drucksache 16/8196 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Barth, Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Förderung von Studierenden durch Aufbau ei-
nes nationalen Stipendiensystems

– Drucksache 16/8407 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Hirsch, Dr. Petra Sitte, Dr. Lukrezia Jochimsen,
Volker Schneider (Saarbrücken) und der Fraktion
DIE LINKE

Studienfinanzierung ausbauen – Soziale Hürden
abbauen

– Drucksache 16/8741 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Priska Hinz (Herborn), Krista Sager,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Auswirkungen von Studiengebühren evaluie-
ren – Monitoringsystem umgehend aufbauen

– Drucksache 16/8749 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Es ist vereinbart, dass die Reden der folgenden Kolle-
ginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden:
Marion Seib und Monika Grütters für die CDU/CSU,
Jörg Tauss für die SPD, Uwe Barth für die FDP, Cornelia
Hirsch für die Linke und Kai Gehring für Bündnis 90/
Die Grünen.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 16/8196, 16/8407, 16/8741 und 16/8749 zur
federführenden Beratung an den Ausschuss für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung sowie zur
Mitberatung an den Ausschuss für Wirtschaft und Tech-
nologie, den Ausschuss für Arbeit und Soziales sowie an
den Ausschuss für Familien, Senioren, Frauen und Ju-
gend vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Anette
Hübinger, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Sascha
Raabe, Gabriele Groneberg, Stephan Hilsberg,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD

Entwicklungsorientierte Wirtschaftspartner-
schaften zwischen der EU und den AKP-
Staaten – Chance für politische, wirtschaftli-
che und soziale Stabilität

– zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel,
Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

EU-AKP-Abkommen: Faire Handelspolitik
statt Freihandelsdiktat

– zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Ute Koczy, Marieluise Beck (Bremen), weiterer

1) Anlage 3
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Wirtschaftspartnerschaftsabkommen und In-
terimsabkommen zwischen EU und AKP-
Staaten entwicklungsfreundlich gestalten

– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung

Vorschlag für eine Verordnung des Rates
mit Durchführungsbestimmungen zu den
Regelungen der Wirtschaftspartnerschafts-
abkommen oder der zu Wirtschaftspartner-
schaftsabkommen führenden Abkommen
für Waren mit Ursprung in bestimmten
Staaten, die zur Gruppe der Staaten Afrikas,
des karibischen Raums und des Pazifischen
Ozeans (AKP) gehören
KOM (2007) 717 endg.; Ratsdok. 14968/07

– Drucksachen 16/7487, 16/7473, 16/7469,
16/7575 Nr. 1.45, 16/8244 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Dr. Sascha Raabe
Hellmut Königshaus
Heike Hänsel

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Ute Koczy, Renate Künast, Fritz Kuhn und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für ein Entwicklungspartnerschaftsabkommen
der Europäischen Union (EU) mit den Staaten
der Afrika-, Karibik-, Pazifikgruppe (AKP)


– Drucksachen 16/4055, 16/4839 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Dr. Sascha Raabe
Hellmut Königshaus
Heike Hänsel
Thilo Hoppe

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Debatte eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Sascha Raabe, SPD-Fraktion, das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Sascha Raabe (SPD):
Rede ID: ID1615424100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Vor gar nicht allzu langer Zeit haben wir – damit
meine ich zumindest die Entwicklungspolitiker, aber
auch die Mitglieder des Ausschusses für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz – uns hier im Ple-
num über die Neufassung der Nahrungsmittelhilfekon-
vention unterhalten. Wenn Menschen in einer Hungers-
not sind, dann ist es wichtig – darin waren wir uns sehr






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Sascha Raabe
einig –, ihnen über das World Food Programme und über
andere humanitäre Soforthilfen erst einmal das Nötigste
zu geben, was sie brauchen, um das Überleben zu si-
chern.

Wir haben in der damaligen Debatte zu Recht festge-
stellt, dass es nicht damit getan ist, Menschen nur dann
Nahrungsmittel – ich möchte es mit dem Wort „Almo-
sen“ bezeichnen – zu geben, wenn sie sich gerade in ei-
ner akuten Hungersnot befinden. Es sollte also nicht al-
lein darum gehen, diesen Menschen etwas zu geben,
damit sie sich den Magen füllen können. Viel wichtiger
ist es, dass Menschen in die Lage versetzt werden, Nah-
rungsmittel selbst zu produzieren und sich – wie es bei
uns in Deutschland und in Europa der Fall ist – in einer
Wirtschaftsstruktur auf eigenen Füßen zu bewähren und
ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Darum geht es
heute in der Debatte über die Economic Partnership
Agreements zwischen der Europäischen Union und den
Staaten, die zur Gruppe der Staaten Afrikas, des karibi-
schen Raums und des Pazifischen Ozeans gehören.

Mit diesen Übereinkünften werden die Bedingungen
dafür geschaffen, dass es Menschen besser geht, die in
Ländern leben, die sich aus vielerlei historischen, aber
zum Teil auch aus klimatischen Gründen in einer
schwierigen Situation befinden. Hinzu kommt, dass sich
unsere Welt auch durch den Klimawandel verändert. Wir
sehen im Fernsehen immer wieder Bilder mit verhun-
gernden Kindern aus diesen Ländern. Wir reden hier
über eine von Hunger und Armut geprägte Region, in
der täglich fast 25 000 Menschen, vor allem Kinder, ster-
ben.

Die Frage ist: Wie können wir dafür sorgen, dass die
Menschen in diesen Ländern an der Globalisierung parti-
zipieren können? Wie können wir dafür sorgen, dass
nicht nur die Eliten, die Oberschicht, die Unternehmen
dort gewinnen, sondern auch die Ärmsten der Armen?

Unsere Koalitionsfraktion hat zu diesen Verhandlun-
gen ganz bewusst einen Antrag erstellt, in dem entwick-
lungsorientierte Wirtschaftspartnerschaften und keine
reinen Freihandelsabkommen gefordert werden, die
meistens nur dem stärkeren Partner dienen. Wir wollen
Partnerschaftsabkommen, die eine nachhaltige Entwick-
lung ermöglichen und die auch den ärmsten Ländern
zum Beispiel die Chance eröffnen, ihre Märkte in den
für die Armen in der Bevölkerung sensiblen Bereichen
zu schützen, etwa im Bereich der Grundnahrungsmittel
oder auch im Bereich der im Aufbau befindlichen
Dienstleistungsbetriebe.

Ende des letzten Jahres lief die Frist aus, innerhalb
der diese Partnerschaftsabkommen hätten abgeschlossen
werden sollen. Aber ich halte es für richtig, dass wir
diese Frist seitens der Europäischen Union und aufgrund
der Bemühungen der Bundesregierung, allen voran un-
serer für die Bundesregierung federführenden Ministerin
Heidemarie Wieczorek-Zeul, verlängert haben. Zum ei-
nen ging uns Qualität vor Schnelligkeit, und zum ande-
ren wollten wir auch die Bedenken der ärmsten Länder
ernst nehmen und ein Abkommen abzuschließen versu-
chen, in denen vor allem die Wörter „Entwicklung“ und
„Partnerschaft“ gar nicht fett genug unterstrichen wer-
den konnten.

Es ist im Dezember gelungen, mit der Karibikregion
ein umfassendes Wirtschaftspartnerschaftsabkommen
abzuschließen. Mit den anderen Regionen haben wir erst
sogenannte Interimsabkommen abschließen können, die
sicherstellen sollen, dass dort durch das Auslaufen des
Cotonou-Abkommens zum 1. Januar dieses Jahres keine
gravierenden Nachteile eintreten. Mit diesen Staaten ha-
ben wir vereinbart, dass der Güterverkehr so weiterlau-
fen kann, wie es das Cotonou-Präferenzabkommen vor-
sah, und wir über die entwicklungsrelevanten Punkte
anschließend verhandeln werden.

Dazu gehören auch Bereiche, die bei manchen Part-
nern umstritten sind, etwa Transparenz im öffentlichen
Beschaffungswesen oder Investitionsregeln. Allerdings
sollte niemand Scheu vor diesen Themen haben, wenn
man sie richtig ausgestaltet. Sie sollen nicht so ausge-
staltet werden, wie es damals bei der WTO mit den soge-
nannten Singapur-Themen geschah, bei denen man
Angst haben musste, dass interessierte Gruppen der In-
dustrieländer Bedingungen schaffen wollten, um weite-
ren Marktzugang zulasten auch der ärmeren Bevölke-
rungsschichten zu erlangen. Aber niemand kann sich
dagegen wehren, dass Transparenz im Beschaffungswe-
sen gerade für die armen Menschen in den Entwick-
lungsländern von Vorteil ist. Daher kann man nicht von
vornherein so tun, als sei es eine Erfindung der bösen
Europäischen Union und der Industrienationen, dies auf
die Tagesordnung zu setzen. Dies kann durchaus ein ent-
wicklungsförderndes Thema sein, wenn man es richtig
ausgestaltet.

Ganz wichtig ist aber für uns – das ist ein Kernbe-
standteil unseres Antrags –, dass die ärmsten Länder ei-
nen Marktzugang bei uns bekommen, der wesentlich
weiter als das geht, was bisher der Fall war. Erinnern wir
uns: Bei dem Präferenzsystem hatten die sogenannten
Least Developed Countries, also die am wenigsten ent-
wickelten Länder, auch schon einen quoten- und zoll-
freien Marktzugang in die Europäische Union. Aber was
hat denn dieser Marktzugang den 49 ärmsten Ländern
der Erde gebracht? Sie haben gar keine Kapazitäten ge-
habt, um ihn zu nutzen, und haben zusammen noch nicht
einmal das Handelsvolumen von Südkorea erreicht. Des-
wegen ist es ganz wichtig, dass wir mit dem Baustein
„Aid for Trade“, der auch bei der WTO vereinbart war
und für den sich die Bundesregierung beim G-8-Gipfel
eingesetzt hat, hier zusätzliche Mittel zur Verfügung
stellen, mit denen Menschen zum Beispiel in die Lage
versetzt werden, nicht nur landwirtschaftliche Produkte
anzubauen, sondern sie auch weiterzuverarbeiten, sodass
die Wertschöpfung in den Ländern bleibt. Außerdem sol-
len diese Produkte mittels einer guten Infrastruktur wie
Verkehrswege, Häfen und Flughäfen zu uns gelangen
können.

Jetzt wird viel davon geredet, dass die Nahrungsmit-
telpreise stiegen. Das ist ein großes Problem für die
ärmsten Menschen in vielen Entwicklungsländern. Wir
sehen doch die Bilder von hungernden und verzweifelten
Menschen, die demonstrieren, woraus wiederum Unru-






(A) (C)



(B) (D)


Dr. Sascha Raabe
hen entstehen. Dies müssen wir ernst nehmen und auf-
greifen. Aber langfristig müssen wir vor allem die
Chance nutzen, die darin liegt, dass auch afrikanische
Kleinbauern wieder gute Preise für ihre Agrarprodukte
erzielen; denn dann können sie sie wieder auf ihren loka-
len Märkten verkaufen, ohne von den Dumpingpreisen
der Europäischen Union und der US-Amerikaner behin-
dert zu werden. Das geht natürlich nur dann, wenn wir
sie in die Lage versetzen, solche Produkte anzubauen,
wenn wir ihnen also das entsprechende Know-how ver-
mitteln. Dies tut unsere deutsche Entwicklungszusam-
menarbeit sehr vorbildlich. Deswegen ist es wichtig,
dass wir nicht nur heute mit dem Antrag bessere Han-
delsregeln schaffen, sondern wir nicht nur werden, um
die Millenniumsentwicklungsziele zu erreichen, auch
dafür sorgen müssen, dass diesen Menschen mit techni-
scher und finanzieller Zusammenarbeit geholfen wird.

Deswegen bekennen wir uns als SPD-Fraktion ganz
klar zum ODA-Stufenplan und werden die Mittel für
Entwicklungszusammenarbeit entsprechend weiter erhö-
hen. Das ist sehr notwendig.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Jörg van Essen [FDP]: Weiß das Herr Steinbrück?)


Wir werden im Rahmen der Haushaltsberatungen harte
Verhandlungen führen müssen – die Interessenlagen sind
natürlich unterschiedlich –, aber wir haben uns interna-
tional verpflichtet und werden an dem Ziel festhalten.


(Jörg van Essen [FDP]: Hört sich nicht so zuversichtlich an!)


Bei allen Problemen, die wir in Deutschland haben –
im Zusammenhang mit der Rentenerhöhung reden wir
darüber, wie problematisch es ist, dass die Beitragszah-
ler belastet werden; zu nennen ist auch das höhere Ren-
teneintrittsalter von 67 Jahren –, sollten wir nicht verges-
sen: In den Ländern, über die wir reden, in den
afrikanischen Ländern etwa, beträgt die Lebenserwar-
tung oft nur 37 oder 38 Jahre. Angesichts dessen sollten
wir wirklich nicht so schäbig sein, über jeden Cent zu re-
den, den wir für Entwicklungszusammenarbeit ausge-
ben. Das ist eine Verpflichtung, die wir der Menschheit
gegenüber haben, eine Verpflichtung, der wir einfach
nachkommen müssen.

Ich sage klar: Dieses Geld muss herangeschafft wer-
den, damit wir den Menschen dort endlich ein men-
schenwürdiges Leben ermöglichen können, damit sie
sich selbst helfen können, damit sie in Wohlstand und
Würde leben können, wie auch wir uns das wünschen.

In diesem Sinne bitte ich Sie: Stimmen Sie dem An-
trag zu! Ich wünsche mir, dass wir in der Debatte sach-
lich bleiben und dieses Ziel gemeinsam weiter verfol-
gen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1615424200

Als Nächster hat Kollege Hellmut Königshaus, FDP-

Fraktion, das Wort.


(Beifall bei der FDP)


Hellmut Königshaus (FDP):
Rede ID: ID1615424300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Be-

wertung der drei Anträge kann man eigentlich ganz kurz
zusammenfassen. Die einen – Grüne und Linke – wollen
es nicht besser, und die anderen – die Große Koalition –
können es nicht besser. Sie halten es wahrscheinlich mit
Karl Valentin: Mögen täten wir ja gerne, aber dürfen ha-
ben wir uns nicht getraut.


(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Hätten wir uns nicht getraut“, heißt das!)


Die Linken und die Grünen beschwören die angebli-
chen Gefahren der Marktöffnung und ignorieren die of-
fenkundigen Chancen, die gerade für die Entwicklungs-
länder in den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen
liegen. Sie biedern sich mit Ihren Anträgen bei der globa-
lisierungskritischen Szene an und machen in Wirklich-
keit Wahlkampf anstatt Entwicklungszusammenarbeit.


(Beifall bei der FDP – Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Im Gegensatz zu Ihnen machen wir Entwicklungszusammenarbeit!)


Die Große Koalition ist da schon etwas besser – et-
was. Das kann man zumindest sagen, wenn man nur den
Antrag betrachtet. Er lobt die Chancen des Handels für
die Entwicklungsländer und preist die Wichtigkeit der
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen. So weit, so gut,
kann man sagen. In Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und
Kollegen der Koalition, findet sich aber kein Wort dazu,
dass es die von Ihnen getragene Bundesregierung ist, die
in dieser Frage wirklich auf der ganzen Linie gescheitert
ist.

Vor genau einem Jahr hatte die Bundesregierung im
Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft die Chance, die
Verhandlungen zwischen der EU und den AKP-Staaten
zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen. Diese
Chance hat sie wirklich komplett vertan. Stattdessen hat
sie Zeit verplempert und unausgegorene EU-Verhaltens-
regeln in der Entwicklungszusammenarbeit durchge-
drückt. Sie hat die Last der Verhandlungen über die Wirt-
schaftspartnerschaftsabkommen auf – ausgerechnet – die
Portugiesen abgewälzt. Das haben übrigens auch sie
selbst so gesehen.

Sie ist vor den selbsternannten Weltverbesserern ein-
geknickt, die mit ihren Antiglobalisierungsdemos auch
in den Entwicklungsländern gegen den Handel mit der
EU Stimmung gemacht haben. Da hat die Ministerin ge-
sagt: Hannemann, geh du voran! Liebe Portugiesen,
macht ihr doch die Drecksarbeit! Nehmt doch ihr die
Schwierigkeiten mit den Verhandlungen auf euch! – Die
feine Art ist das nicht. Die Ergebnisse sind entsprechend.
Daran ändern auch die Anträge nichts.


(Beifall bei der FDP)


Die Bundesregierung trägt also Mitverantwortung da-
für, dass bis heute kein einziges Wirtschaftspartner-
schaftsabkommen unterzeichnet ist, und dafür, dass der
Handel mit den AKP-Staaten auf rechtlich unsicherer
Basis abläuft, da er den Handelsregeln der WTO wider-
spricht.






(A) (C)



(B) (D)


Hellmut Königshaus
Es gab vorher schon hinreichend Anhaltspunkte da-
für, dass die Grünen und die Linke diesem Zeitgeist hin-
terherrennen würden; das war zu erwarten. Dass aber
auch die Bundesregierung während ihrer EU-Ratspräsi-
dentschaft nicht die Kraft hatte, sich gegen diese Lobby
durchzusetzen, war und ist für die Entwicklungschancen
der AKP-Staaten fatal.

Besonders dramatisch ist in diesem Zusammenhang
auch, dass die Doha-Runde der Welthandelsorganisation,
der WTO, auf Eis liegt, die ja als Entwicklungsrunde be-
sonders den Interessen der ärmsten Länder entgegen-
kommen sollte. Wenn der internationale Handel frei
und nach transparenten Regeln gestaltet wird, können
insbesondere für die am wenigsten entwickelten Län-
der gewaltige Entwicklungsmöglichkeiten entstehen,
Entwicklungsmöglichkeiten, die die Ergebnisse unserer
Entwicklungszusammenarbeit – übrigens unabhängig da-
von, ob es ihnen gelingt, Herrn Steinbrück noch zu
überzeugen oder nicht – um ein Vielfaches übertreffen
würden. Das zeigt alle Empirie, das zeigen alle Erfah-
rungen.

Offene Märkte verbessern die Entwicklungschancen
gerade der ärmsten Länder der Welt. Alle Untersuchun-
gen belegen dies. Die Öffnung der Märkte führt zu mehr
Wohlstand, zu mehr Bildung, zu Gesundheit und zu
Rechtssicherheit, und zwar unabhängig davon, welche
Politik andere Staaten betreiben.

Meine Damen und Herren, ich möchte noch einmal
die Fakten in Erinnerung rufen. Bisher ist kein einziges
Abkommen verabschiedet worden. Die schwierigen Ver-
handlungen über die Investitionen, über die Transparenz,
über das öffentliche Beschaffungswesen usw. wurden
noch nicht einmal begonnen. Sie wurden nicht einmal in
der Zeit unserer EU-Ratspräsidentschaft begonnen. Wir
haben nach wie vor die Situation, dass wir gegen die
Handelsrichtlinien verstoßen und dass wir hier mit kon-
kreten und schmerzhaften Gegenmaßnahmen der WTO
rechnen müssen. Die Bundesregierung ist noch nicht
einmal in der Lage, uns zu sagen, welche Konsequenzen
sie in diesem Zusammenhang erwartet.


(Beifall bei der FDP)


Das sind die Probleme. Diese lösen Ihre Anträge hier
nicht. Wir haben genug schöne Worte gehört, wir wollen
Taten sehen. Bei den Linken und bei den Grünen kommt
das nicht zum Ausdruck. Deshalb lehnen wir die An-
träge von Ihnen ab. Das wird Sie nicht überraschen.


(Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Das ist doch zu erwarten, Herr Königshaus!)


Ich sagte es, der Koalitionsantrag enthält nichts Fal-
sches. Er enthält aber auch zu wenig Richtiges. Deshalb
werden wir uns hier enthalten.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1615424400

Das Wort hat nun Anette Hübinger, CDU/CSU-Frak-

tion.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Anette Hübinger (CDU):
Rede ID: ID1615424500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! In allen heute behandelten
Anträgen der verschiedenen Fraktionen geht es um die
Frage: Können Handel und Entwicklung sich gegensei-
tig begünstigen? Wir sagen Ja. In einer immer stärker
globalisierten Weltordnung gewinnen gute und stabile
Handelsbeziehungen für jedes Land immer mehr an Be-
deutung. Für die am wenigsten entwickelten und ärms-
ten Länder stellt die Teilhabe am Welthandel eine beson-
ders große Herausforderung, aber auch eine große
Chance dar. Hierfür brauchen diese Länder unsere Un-
terstützung und finanzielle Hilfen.

Für die CDU/CSU-Fraktion war deshalb der Kern-
punkt von neuen Wirtschaftspartnerschaftsabkommen
zwischen der EU und den AKP-Staaten ihre entwick-
lungsförderliche Ausgestaltung über den Charakter blo-
ßer Freihandelsabkommen hinaus. Reine Wirtschafts-
chancen führen keineswegs automatisch zu besseren
Entwicklungschancen für die betroffenen Menschen.
Handelspolitische Vereinbarungen müssen mit entwick-
lungspolitischen Instrumenten verbunden werden, um
eine abgefederte, schrittweise Integration in den Welt-
handel zu ermöglichen. Nur so wird es den Ländern ge-
lingen, neue Entwicklungspotenziale für eine nachhal-
tige wirtschaftliche Entwicklung nutzen zu können. Mit
diesem Anspruch haben die EPA-Verhandlungen zwi-
schen den AKP-Staaten und der EU begonnen, und wir
als CDU/CSU-Fraktion werden diesen Prozess weiterhin
kritisch begleiten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, mit der Karibikregion – Herr
Raabe hat es schon erwähnt – hat es erfreulicherweise
bereits im Dezember 2007 eine Einigung über ein voll-
ständiges Wirtschaftspartnerschaftsabkommen gegeben.
Dieses enthält neben dem Güterhandel und den Berei-
chen Dienstleistungen und Umwelt auch ein Entwick-
lungshilfekapitel zu sozialen Auswirkungen und die
Schaffung eines interparlamentarischen Ausschusses.
Das ist ein Erfolg und sollte für die anderen Verhandlun-
gen als Modell dienen. Die Interimsabkommen mit den
anderen Regionen entsprechen nun WTO-konformen
Vorschriften, Herr Königshaus. Es ist gelungen, im
Sinne der AKP-Staaten einen präferenziellen Marktzu-
gang weiterhin zu gewährleisten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


So werden im Durchschnitt 80 Prozent des Güterhandels
über einen Zeitraum von 15 Jahren liberalisiert werden.
In Ausnahmefällen wurden Übergangsfristen von bis zu
25 Jahren vereinbart. Dieses Entgegenkommen der EU
begrüße ich aus entwicklungspolitischer Sicht ausdrück-
lich.

Die WTO-Konformität der Verträge, die von vielen
als ein an den Haaren herbeigezogenes Argument ver-
schrien wurde, hat meines Erachtens eine politische Di-
mension, die nicht genug herausgestellt wurde. Die
größtenteils bilateral ausgestaltete Entwicklungspolitik
muss endlich in einen global gültigen Zusammenhang
gestellt werden; denn gerade für die Entwicklungsländer






(A) (C)



(B) (D)


Anette Hübinger
sind weltweit geltende handels- und finanzpolitische Re-
gelwerke wichtig, um sie vor der Willkür von machtpoli-
tischen Einzelinteressen zu schützen. Gerade bei The-
men wie Biodiversität und Ressourcenschutz, mit denen
sich meine Fraktion auf ihrem entwicklungspolitischen
Kongress gestern auseinandergesetzt hat, wird es für un-
sere Zukunft entscheidend sein, ob wir es schaffen, inter-
national verbindliche Abkommen zu vereinbaren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Den Bedeutungszuwachs von entwicklungspoliti-
schen Ansätzen haben wir auch dem Engagement unse-
rer Kanzlerin zu verdanken, die immer wieder mit klaren
Worten für eine viel stärkere Verzahnung von Entwick-
lungspolitik mit anderen Politikfeldern plädiert. So hat
sie sich während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft
maßgeblich für eine klare entwicklungspolitische Aus-
gestaltung der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen aus-
gesprochen.

Auf Initiative der deutschen Präsidentschaft hat die
EU im vergangenen Jahr ein großzügiges wie weltweit
einmaliges Marktzugangsangebot an die AKP-Staaten
beschlossen. Seit 2008 haben alle AKP-Staaten einen
zoll- und quotenfreien Zugang zu den europäischen
Märkten. Lediglich bei Reis und Zucker gibt es noch bis
2015 eine Übergangsregelung. Das war ein Meilenstein.
Die AKP-Staaten dagegen müssen ihre eigenen Märkte
nicht im gleichen Umfang öffnen. Sie können sensible
Produkte zur Ernährungssicherheit oder zum Schutz
noch nicht wettbewerbsfähiger Wirtschaftszweige von
der Liberalisierung ausnehmen oder lange Übergangs-
fristen wählen. Mit diesen Vereinbarungen wird das von
meiner Fraktion befürwortete Konzept einer asymmetri-
schen, flexiblen und entwicklungunterstützenden Markt-
öffnung mit politischem Inhalt gefüllt.

In den kommenden Monaten wird es nun die Aufgabe
weiterer Verhandlungen sein, die Interimsabkommen in
umfassende Wirtschaftspartnerschaftsabkommen umzu-
wandeln sowie parallel dazu die Umsetzung der Abkom-
men zu beginnen. Hierbei wird die Finanzierung der
EPA-bezogenen Anpassungsmaßnahmen an Bedeutung
gewinnen. Mit Mitteln des zehnten EEF sollen schwer-
punktmäßig die regionale Integration und der Handels-
bereich unterstützt werden. Darüber hinaus werden im
Rahmen von „Aid for Trade“ ab 2010 jährlich 2 Milliar-
den Euro für handelsbezogene Entwicklungszusammen-
arbeit von der EU und den Mitgliedstaaten aufgebracht.
In den nächsten Monaten muss es nun darum gehen,
diese finanzielle Unterstützung weiter zu konkretisieren.

Weitere offene Fragen sind noch zu klären, bei-
spielsweise wie die am wenigsten entwickelten Länder
motiviert werden können, trotz des für sie bereits gülti-
gen zoll- und quotenfreien Marktzugangs aufgrund der
„Everything but Arms“-Initiative der EU den regionalen
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen beizutreten, oder
wie ein begleitendes Monitoringsystem eingeführt wer-
den kann.
Doch schon heute können wir feststellen: Die Wirt-
schaftspartnerschaftsabkommen werden den Ländern ei-
nen erheblichen Vorteil bringen.


(Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Oh ja!)


So wurden neben dem zoll- und quotenfreien Marktzu-
gang für die AKP-Länder die Ursprungsregeln im Ver-
gleich zu den Regeln des Cotonou-Abkommens verbes-
sert.

Auch die regionale Integration der AKP-Länder wird
durch die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen unter-
stützt: Der Abbau regionaler Handelsschranken und die
Einrichtung von Zollunionen werden dem wirtschaftli-
chen Wachstum innerhalb der jeweiligen Regionen die-
nen. Sie sind damit zugleich ein wesentlicher Faktor zur
Stabilisierung und Intensivierung der Beziehungen un-
tereinander.

In diesem Zusammenhang ist auch die Zusage der
EU, bis 2013 alle Formen von Agrarsubventionen aus-
laufen zu lassen, ein wichtiger Schritt, um die
Marktchancen von Produkten aus den AKP-Staaten zu
erhöhen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Zum anderen ist es ein Erfolg auf dem Weg zu einer
verbesserten Politikkohärenz. Dieser Erfolg sollte uns
alle ermutigen, uns weiterhin und stärker für mehr Kohä-
renz zwischen den einzelnen Politikfeldern einzusetzen.


(Hellmut Königshaus [FDP]: Das ist eine gute Idee!)


Entwicklung ohne regionale Integration und Teilhabe
am Handel ist in unserer Welt nicht möglich. Hier setzen
die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen an, nicht als
bloße Freihandelsabkommen, sondern durch die Verzah-
nung von handels- und entwicklungspolitischen Instru-
menten. Die CDU/CSU-Fraktion wird sich auch weiterhin
für ihre klare Ausgestaltung als Entwicklungsinstru-
mente eines völlig neuen Typus einsetzen, zum Nutzen
der Entwicklung in unseren Partnerländern. Diese Ziel-
richtung verfolgt unser heutiger Antrag. Ich bitte um
Ihre Zustimmung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1615424600

Das Wort hat nun Heike Hänsel, Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1615424700

Herr Präsident! Lieber Herr Königshaus, Sie können

ja gerne unsere Anträge kritisieren, aber wer hier gar
keinen Antrag vorlegt, braucht den Mund nicht so weit
aufzureißen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Wirtschaftspart-
nerschaftsabkommen, über die wir heute sprechen, sind
eben keine Entwicklungsabkommen, wie dies auch Frau
Wiezcorek-Zeul ständig wiederholt, sondern Freihan-
delsabkommen. Die Hungeraufstände der letzten Tage in






(A) (C)



(B) (D)


Heike Hänsel
Ägypten, Kamerun, Burkina Faso und Haiti aufgrund
der gestiegenen Lebensmittelpreise zeigen eines sehr
deutlich, Herr Kollege Raabe: Die Freihandelspolitik der
letzten Jahrzehnte ist gescheitert. Sie bekämpft nämlich
keine Armut, sondern ist die Ursache für Hunger und
Armut.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Freihandel hat der Mehrheit der Menschen in den
Ländern des Südens keinen Zugang zu ausreichend
günstiger Nahrung gebracht; er hat ihnen im Gegenteil
die Ernährungssouveränität genommen. Der jetzige
Preisanstieg, der natürlich durch die Agrotreibstoffe aus
Weizen, Soja, Mais und Reis angeheizt wird, zeigt ganz
klar, wie schwierig es ist, wenn die Menschen bei der Si-
cherstellung ihrer Ernährung auf den Weltmarkt ange-
wiesen sind: Die Verteuerung von Nahrungsmitteln auf
dem Weltmarkt trifft genau die Länder am stärksten, die
durch die Freihandelspolitik in die Abhängigkeit von
Nahrungsmittelimporten oder Nahrungsmittelhilfen ge-
trieben wurden.

In Haiti gibt es ganz aktuell enorme Aufstände. Dort
wurden bereits 1986 die Zölle für die Einfuhr von Nah-
rungsmitteln massiv gesenkt. Was ist passiert? Die hei-
mische Produktion ist um mehr als zwei Drittel zurück-
gegangen, und zwar durch Billigimporte aus den USA.


(Hellmut Königshaus [FDP]: Das ist noch teurer!)


Das ist ein Riesenproblem, denn jetzt sind sie abhängig
von Nahrungsmittelimporten, und sie treffen ganz direkt
die Preissteigerungen auf dem Weltmarkt.


(Beifall bei der LINKEN – Abg. Sascha Raabe meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Umgekehrt – Herr Raabe, Sie können das dann nach-
her kommentieren – findet leider auch die heimische
Nahrungsmittelproduktion in den Entwicklungsländern
zunehmend nur noch für den Export statt. Diese Tendenz
wird auch von der deutschen Entwicklungszusammenar-
beit gefördert.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1615424800

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Raabe?


Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1615424900

Ja.


Dr. Sascha Raabe (SPD):
Rede ID: ID1615425000

Die Zeit ist zwar schon fortgeschritten, Frau Kollegin,


(Hellmut Königshaus [FDP]: Guter Hinweis!)


aber wenn Sie sagen, dass sämtliche Probleme des Hun-
gers darin begründet sind, dass der Freihandel die Men-
schen in Armut getrieben hätte, dann können Sie mir
vielleicht noch Folgendes beantworten: Warum sind
denn gerade die 49 ärmsten Länder, die sowohl einen
quoten- und zollfreien Marktzugang als auch das Recht
hatten, sich durch ihre Zölle zu schützen, in den letzten
Jahrzehnten nicht vorangekommen, genau die Länder,
von denen Sie jetzt sagen, dass dort Hunger herrscht?
Warum haben die Länder, die sich wie die südasiatischen
Länder graduell geöffnet haben, gute Fortschritte bei der
Armutsbekämpfung zu verzeichnen? Warum sind die,
bei denen Sie so tun, als wäre es der Freihandel gewesen,
eigentlich die Ärmsten der Armen?

Ich glaube, wir sollten mit der Wahrheit in der Mitte
bleiben: Weder der Freihandel noch die Abschottung
vom Weltmarkt ist eine Lösung, so wie Sie es sich vor-
stellen. Wir werden nicht 9 Milliarden Menschen auf ei-
ner kleinen Scholle als Kleinbauern ernähren können,
sondern nur dann, wenn sie auch eine Chance haben, von
der Globalisierung zu profitieren.


Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1615425100

Herr Raabe, wenn Sie noch kurz stehen bleiben, kom-

mentiere ich es noch gern.


(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Es ist schon so spät!)


Ich habe ganz konkret von den Nahrungsmitteln ge-
sprochen, nicht aber von allen Produkten, die auf dem
Weltmarkt gehandelt werden. In meinen Augen bedeutet
es ein großes Problem, die Grundnahrungsmittel auf
dem Weltmarkt zu handeln. Dies ist für den Großteil der
Länder ein riesengroßer Nachteil, weil sie einerseits ex-
portorientiert sein sollen und daher viel produzieren,
aber gar nicht für die heimische Bevölkerung, sondern
auf dem Weltmarkt mit diesen wenig verarbeiteten Pro-
dukten konkurrieren sollen, bei denen sie geringe Ge-
winnspannen haben; andererseits müssen sie dann aber
viele andere billige Nahrungsmittel in das Land hinein-
lassen.

Es geht also vor allem um Nahrungsmittel – ich habe
nicht von allen Produkten auf dem Weltmarkt gespro-
chen –, die für die Länder des Südens ein ganz wichtiger
Faktor sind. Ich bin dafür, dass Ernährungssouveränität
im Mittelpunkt stehen und Vorrang vor Weltmarktstruk-
turen und vor Weltmarktkonkurrenz haben muss.


(Beifall bei der LINKEN – Jörg van Essen [FDP]: Selten eine so schwache Antwort gehört!)


Zurück zum Thema. In meinen Augen verstößt dieses
Welthandelssystem tagtäglich gegen das Menschenrecht
auf Nahrung. Das Ergebnis können wir sehen:
80 Prozent der Hungernden weltweit sind Kleinbauern
und Kleinbäuerinnen, Landarbeiter und Landarbeiterin-
nen, Fischer und Nomaden. Sie leiden unter der Kom-
merzialisierung der Landwirtschaft. Darunter fallen
Saatgut – zunehmend gentechnisch verändertes Saatgut –,
die Privatisierung von Wasservorkommen und die Im-
portfluten, die ich bereits genannt habe.

Schon jetzt gibt es das große Problem, dass die EU in
die AKP-Staaten massiv landwirtschaftliche Produkte
exportiert. Diese Entwicklung wird durch die Wirt-
schaftspartnerschaftsabkommen nicht gestoppt, sondern
eher noch verschärft werden. Deswegen finde ich es ab-
surd, dass wir einerseits Anträge zur Stärkung der sozia-
len Sicherungssysteme in den Entwicklungsländern ver-






(A) (C)



(B) (D)


Heike Hänsel
abschieden, wir uns andererseits für Zollsenkungen
einsetzen, die bewirken, dass Mittel zur Finanzierung
dieser sozialen Sicherungssysteme fehlen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein anderer Schwerpunkt ist die Frauenförderung in
der Entwicklungszusammenarbeit. Gerade Frauen arbei-
ten mehrheitlich in der Landwirtschaft. Daher sind ge-
rade sie durch diese Abkommen massiv in ihrer Existenz
gefährdet.

In meinen Augen ist es deswegen ein Glück, dass es
die globalisierungskritische Bewegung gibt, Herr
Königshaus. Denn sie mobilisiert mittlerweise gemein-
sam mit den Regierungen in den afrikanischen Ländern
gegen die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen. Herr
Raabe, es war nicht Zeitdruck, der dazu geführt hat, dass
die EU jetzt Zugeständnisse gemacht hat, sondern es war
der massive Widerstand von Regierungen und Bevölke-
rungen der AKP-Staaten gegen diese Wirtschaftspartner-
schaftsabkommen. Erst durch diesen Widerstand kam es
zu Interimsabkommen.

Die Finanz- und Handelsminister der Afrikanischen
Union fordern schon jetzt Neuverhandlungen dieser In-
terimsabkommen, weil sie mit dem Ergebnis der bisheri-
gen Verhandlungen völlig unzufrieden sind. Auch wir
schließen uns diesen Forderungen an. Wir sagen vor al-
lem: faire Verhandlungen, kein Druck auf die Verhand-
lungspartner. Es braucht mehr Zeit und eine wirkungs-
volle Einbeziehung der Zivilgesellschaft.


(Beifall bei der LINKEN)


Das African Trade Network hat sich im Februar in
Kapstadt getroffen. In einer dort verabschiedeten Dekla-
ration heißt es:

Heute ist mehr als je zuvor offensichtlich, dass die
EPAs die Mittel der EU sind, die grundsätzlich un-
gerechten Beziehungen zwischen Afrika und Eu-
ropa zu zementieren. Aus afrikanischer Sicht ist das
nichts anderes als eine Rekolonialisierung. Es ist
dringender denn je, dass die afrikanischen Bürge-
rinnen und Bürger und ihre Fürsprecher sich zu-
sammenschließen, um diese Agenda zu stoppen.

Dem schließt sich die Linksfraktion an.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1615425200

Das Wort hat nun Thilo Hoppe, Fraktion Bündnis 90/

Die Grünen.


Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1615425300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

einfachen Antworten sind meistens nicht die richtigen.
Pauschal zu sagen, Freihandel sei an allem schuld und
sei die einzige Ursache für den Hunger in der Welt, ist zu
einfach. Aber das, was bei der FDP durchschimmerte,
nämlich dass Freihandel die beste Entwicklungspolitik
sei, ist eine Vereinfachung in die andere Richtung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kommen wir nun zu den Wirtschaftspartnerschaftsab-
kommen. Alle vorgelegten Anträge sind Ende des letz-
ten Jahres eingereicht worden und eigentlich nicht mehr
aktuell. Inzwischen haben sich die Horrorszenarien nicht
bestätigt. In letzter Sekunde konnten viele Interimsab-
kommen abgeschlossen werden, auch einige endgültige
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen. Aber es gibt über-
haupt keinen Grund zur Selbstzufriedenheit aufseiten der
Europäischen Union. Denn in dem Verhandlungsprozess
ist sehr viel Porzellan im Verhältnis zwischen der Euro-
päischen Union und den AKP-Staaten zerschlagen wor-
den.

Wenn es stimmt, dass diese Wirtschaftspartner-
schaftsabkommen, wie von Herrn Dr. Raabe und
Frau Hübinger bezeichnet, so entwicklungsfreundlich
sind und gut auf die Bedürfnisse der Entwicklungsländer
zugeschnitten sind, stellt sich mir die Frage: Warum gibt
es dann diese großen Protestbewegungen, die wahrlich
nicht nur von linksradikalen, globalisierungskritischen
Bewegungen aus dem Westen initiiert werden?

Auch der Allafrikanische Christenrat, in dem alle gro-
ßen Kirchen Afrikas versammelt sind, hat vor den Risi-
ken dieser Abkommen deutlich gewarnt. Allerdings ha-
ben sie die Abkommen nicht von vornherein vom Tisch
gewischt und verteufelt. Wenn die Abkommen so kata-
strophal und entwicklungsschädlich wären, wie von den
Gegnern der Abkommen behauptet wird, warum haben
dann fast alle afrikanischen Staaten solche Interimsab-
kommen unterzeichnet? Die Wahrheit wird wohl ir-
gendwo in der Mitte liegen.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Weil sie erpresst wurden!)


Die Europäische Union hatte ein großes Kohärenz-
problem. Das stellt man fest, wenn man mit den Akteu-
ren redet, zum Beispiel mit Herrn Michel. Man spricht
zwar von Entwicklungspartnerschaften, die Gespräche
wurden aber von der Generaldirektion Trade, von
Mr. Mandelson, geführt. Die Generaldirektion Trade ist
ganz anders zur Sache gegangen. Sie hat sich nicht auf
die Gesprächspartner aus Burkina Faso oder Mali einge-
stellt, sondern mit sehr viel Druck gearbeitet.

Auf der Parlamentarierkonferenz im Vorfeld des EU-
Afrika-Gipfels haben mehrere Kollegen aus Afrika
– nicht nur Abgeordnete kleiner Parteien, sondern auch
einige Minister – das Wort „Erpressung“ nicht nur in den
Mund genommen, sondern sogar offen ausgesprochen.
Wenn Sie sich mit den Kollegen im Entwicklungsaus-
schuss des Europaparlaments rückkoppeln würden,
wüssten Sie, dass sowohl die Sozialdemokraten, zum
Beispiel Frau Kinnock von der Labour Party, als auch
die Konservativen auf dieser Parlamentarierkonferenz
scharfe Kritik an der Verhandlungsführung der Europäi-
schen Kommission geübt haben.

Wenn man die Interimsabkommen bewerten möchte,
steht man vor einem großen Problem: Sie sind gar nicht
öffentlich zugänglich. Wir haben es versucht, aber auf
dem offiziellen Weg konnten wir nicht Einsicht nehmen.
Wir mussten den Umweg über ein niederländisches In-
stitut nehmen. Wenn man die Abkommen einsieht, stellt






(A) (C)



(B) (D)


Thilo Hoppe
man fest, dass es gute Beispiele für einigermaßen harm-
lose, positive Abkommen, die Schutzklauseln enthalten,
gibt. Genauso findet man aber auch negative Beispiele.
Die Elfenbeinküste, ein schwacher Verhandlungspartner,
hat sich beispielsweise verpflichtet, bis 2012 den Handel
mit 60 Prozent aller Güter zu liberalisieren. Kenia, das
möglicherweise ein besserer Verhandlungspartner ist,
muss erst 2015 die ersten Liberalisierungsschritte vor-
nehmen.

Man merkt: Das ist ein großer Flickenteppich mit sehr
unterschiedlichen Abkommen, die darüber hinaus große
Probleme schaffen. Viele Abkommen sind nämlich bila-
teral abgeschlossen, obwohl man eigentlich die regio-
nale Integration fördern will. Deshalb müssen viele die-
ser Abkommen, die mit heißer Nadel gestrickt wurden,
zugunsten regionaler Abkommen wieder aufgeknüpft
werden.

Das bietet aber auch eine große Chance hinsichtlich
der Achtung der Schutzbedürfnisse der Entwicklungs-
länder. Hinsichtlich der Ernährungssouveränität brau-
chen die Entwicklungsländer sehr viel mehr Schutzmög-
lichkeiten. Wir haben mit Kleinbauern aus Sambia und
Ghana viele Gespräche geführt. Sie werden mit Billig-
importen aus der Europäischen Union überflutet, vor de-
nen sie sich nicht ausreichend schützen können. Diese
Schutzklauseln gelten eingeschränkt oder enthalten
Übergangsfristen.

Die Abkommen müssen noch kräftig nachgebessert
werden, damit sie dem Etikett „Entwicklungspartner-
schaft“ gerecht werden. Per se sind sie es bisher nicht.
Ein Nacharbeiten ist dringend notwendig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dafür plädieren wir mit unserem Antrag, der differen-
ziert ist. Das ist keine Pauschalverurteilung, aber auch
kein Abfeiern sehr zweifelhafter Ergebnisse. Ich bitte
um Unterstützung für diesen Antrag.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1615425400

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung auf Drucksache 16/8244.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/7487
mit dem Titel „Entwicklungsorientierte Wirtschaftspart-
nerschaft zwischen der EU und den AKP-Staaten
– Chance für politische, wirtschaftliche und soziale Sta-
bilität“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und
SPD gegen die Stimmen der Linken und der Grünen bei
Stimmenthaltung der FDP angenommen.

Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7473 mit dem
Titel „EU-AKP-Abkommen: Faire Handelspolitik statt
Freihandelsdiktat“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke
mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen.

Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
16/7469 mit dem Titel „Wirtschaftspartnerschaftsab-
kommen und Interimsabkommen zwischen EU und
AKP-Staaten entwicklungsfreundlich gestalten“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP
gegen die Stimmen der Grünen bei Stimmenthaltung der
Linksfraktion angenommen.

Unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/8244 empfiehlt der Ausschuss, die Un-
terrichtung durch die Bundesregierung über eine Verord-
nung des Rates mit Durchführungsbestimmungen zu den
Regelungen der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen
oder der zu Wirtschaftspartnerschaftsabkommen führen-
den Abkommen für Waren mit Ursprung in bestimmten
Staaten, die zur Gruppe der AKP-Staaten gehören, zur
Kenntnis zu nehmen.


(Hellmut Königshaus [FDP]: Was für ein Titel!)


Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –


(Hellmut Königshaus [FDP]: Trotz des Titels!)


Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist – trotz des Titels – einstimmig angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 12 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit dem Titel „Für ein Entwicklungspartner-
schaftsabkommen der Europäischen Union (EU) mit den
Staaten der Afrika-, Karibik-, Pazifikgruppe (AKP)“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/4839, den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4055 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie
zuvor angenommen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Erste Beratung des von der Fraktion DIE LINKE
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Strafgesetzbuches

– Drucksache 16/6379 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ich erteile Kollegin Inge Höger, Fraktion Die Linke,
das Wort.

Alle anderen Redner haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben.


(Beifall bei der LINKEN)



Inge Höger-Neuling (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1615425500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nie

wieder Krieg – diese Forderung war eine Konsequenz
aus zwei Weltkriegen, die durch deutsche Großmachtpo-
litik und für deutsche Interessen entfesselt wurden. „Nie
wieder Krieg“ wurde 1949 Verfassungsrealität. 1949 trat
das Grundgesetz in Kraft, und die Bundesrepublik
Deutschland wurde zu einem militärfreien Land. Damals
wurde in Art. 26 des Grundgesetzes ausdrücklich die
Vorbereitung eines Angriffskrieges untersagt. In Art. 26
Abs. 1 finden wir noch heute die Regelung:

Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht
vorgenommen werden, das friedliche Zusammenle-
ben der Völker zu stören, insbesondere die Führung
eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfas-
sungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.

Die Absicht ist klar und muss in vollem Umfang un-
terstützt werden. Um zukünftige Angriffskriege im Keim
ersticken zu können, soll bereits die Vorbereitung straf-
bar sein.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der SPD: Ist sie doch auch!)


Leider wurde das Grundgesetz schon 1956 geändert.
Die Wehrpflicht wurde eingeführt und die Bundeswehr
geschaffen. Doch für die Mehrheit der Menschen in
Deutschland stand immer noch fest: Nie wieder Krieg.
In detaillierten Regelungen wurde den bitteren Erfahrun-
gen von Militarismus und Krieg Rechnung getragen. Um
Entwicklungen zu bremsen, die aus der Bundeswehr ein
beliebig einsetzbares Instrument der Politik machen
würden, setzte und setzt das Grundgesetz einen engen
Rahmen. In Art. 87 a steht: „Der Bund stellt Streitkräfte
zur Verteidigung auf“, also definitiv nicht für Angriffs-
kriege.

Nie wieder Krieg von deutschem Boden – das wurde
anlässlich der deutschen Wiedervereinigung noch ein-
mal ausdrücklich im Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990
festgelegt. Trotzdem wurde die Bundeswehr seit den
90er-Jahren des letzten Jahrhunderts immer mehr zu ei-
ner Einsatzarmee umgebaut und damit für Angriffs-
kriege fähig. So nahm die Bundeswehr am völkerrechts-
widrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien teil und
unterstützte die Vorbereitung und Durchführung des
Irak-Krieges. Dies waren eindeutige Verstöße gegen das
Grundgesetz und wurde deswegen von Friedensgruppen
und Einzelpersonen bei der Generalbundesanwaltschaft
angezeigt.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Generalbundesanwalt sah das weniger problema-
tisch und teilte der Friedenskooperative am 6. Januar
2006 mit:
Nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift ist
nur die Vorbereitung an einem Angriffskrieg und
nicht der Angriffskrieg selbst strafbar, so dass auch
die Beteiligung an einem von anderen vorbereiteten
Angriffskrieg nicht strafbar ist.

Eine solche Rechtsauffassung ist für die Linken nicht
nur völlig unverständlich, sondern auch nicht akzepta-
bel.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Lesart des Generalbundesanwalts widerspricht
auch der Einschätzung des zweiten Wehrdienstsenats des
Bundesverfassungsgerichts.


(Jörg van Essen [FDP]: Des Bundesverwaltungsgerichts!)


Dieser kam am 21. Juni 2005 zu folgendem Schluss:

Wenn ein Angriffskrieg jedoch von Verfassungs
wegen bereits nicht „vorbereitet“ werden darf, so
darf er nach dem offenkundigen Sinn und Zweck
der Regelung erst recht nicht geführt oder unter-
stützt werden.

Die Absicht der Väter und Mütter des Grundgesetzes
zur Friedenssicherung war und ist eindeutig. Alle Handlun-
gen, die den Frieden stören könnten, müssen als verfas-
sungswidrige Handlungen unter Strafe gestellt werden.
Wenn jedoch die bisherigen Regelungen sinnverkehrend
ausgelegt werden können, ist es eine dringende Aufgabe
des Gesetzgebers, diese Strafbarkeitslücke zu schließen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir, die Angehörigen des Parlaments, müssen den
Gesetzgebungsauftrag aus dem Grundgesetz in vollem
Umfang erfüllen. Der von der Fraktion Die Linke vorge-
legte Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafge-
setzbuches schließt diese Lücke


(Jörg van Essen [FDP]: Nein, er ist völlig untauglich!)


und stellt sowohl die Vorbereitung als auch die Auslö-
sung und Durchführung von Angriffskriegen sowie die
Beteiligung an diesen unter Strafe. Es ist eine politische
Aufgabe, eindeutig und verbindlich aufzuzeigen, welche
Grenzen nicht überschritten werden dürfen. Wir müssen
uns wieder zurückbesinnen auf die Friedensstaatlichkeit
des Grundgesetzes.


(Beifall bei der LINKEN)


Nie wieder Krieg von deutschem Boden!


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1615425600

Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden folgende

Kollegen: Siegfried Kauder, CDU/CSU, Jörn Thießen
und Matthias Miersch, SPD, Jörg van Essen, FDP, und
Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen.1)

Damit ist die Aussprache geschlossen.

1) Anlage 4






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/6379 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD

Für eine erfolgreiche Überprüfungskonferenz
des Chemiewaffenübereinkommens und eine
Stärkung des Vertragsregimes

– Drucksache 16/8755 –

Es ist vereinbart, dass die Reden der folgenden Kolle-
ginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden:
Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Uta Zapf, Elke
Hoff, Paul Schäfer und Winfried Nachtwei.1)

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/8755.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Frak-
tion Die Linke bei Enthaltung der Grünen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 sowie den
Zusatzpunkt 8 auf:

17 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Kerstin Müller (Köln), Ute Koczy, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine umfassende Strategie zur demokra-
tieverträglichen und zivilgesellschaftlichen
Stabilisierung Pakistans

– Drucksache 16/8752 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Alexander
Bonde, Winfried Nachtwei, Jürgen Trittin, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Keine U-Bootlieferung an Pakistan

– Drucksache 16/5594 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Auswärtiger Ausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
Federführung strittig

Es sind die Reden folgender Kolleginnen und Kolle-
gen zu Protokoll gegeben worden: für die CDU/CSU

1) Anlage 5
Ruprecht Polenz, für die SPD Johannes Pflug, für die
FDP Elke Hoff, für die Linke Norman Paech und für
Bündnis 90/Die Grünen Jürgen Trittin.2)

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf Drucksachen 16/8752 und 16/5594 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fe-
derführung bei der Vorlage auf Drucksache 16/5594,
Zusatzpunkt 8, ist jedoch strittig. Die Fraktionen der
CDU/CSU und SPD wünschen die Federführung beim
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen wünscht die Federführung beim
Auswärtigen Ausschuss.

Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion der Grünen, also die Federführung beim Aus-
wärtigen Ausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stim-
men der Fraktionen der Grünen und der Linken abge-
lehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen von CDU/CSU und SPD abstimmen, also
über die Federführung beim Wirtschaftsausschuss. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer
stimmt dagegen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit
den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie der vorherige
angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Schummer,
Ilse Aigner, Michael Kretschmer, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten Willi Brase, Jörg Tauss, Ulla
Burchardt, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Neuausrichtung der Europäischen Stiftung für
Berufsbildung

– Drucksachen 16/8382, 16/8738 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Uwe Schummer
Willi Brase
Patrick Meinhardt
Cornelia Hirsch
Priska Hinz (Herborn)


Es ist vereinbart, dass die Reden der folgenden Kolle-
ginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden: Uwe
Schummer, Willi Brase, Patrick Meinhardt, Cornelia
Hirsch und Priska Hinz.3)

Wir kommen gleich zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 16/8738, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU

2) Anlage 6
3) Anlage 7






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
und der SPD auf Drucksache 16/8382 anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP ge-
gen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung der Linken
angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerhard
Schick, Christine Scheel, Britta Haßelmann, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Steuerverlagerung ins Ausland verhindern

– Drucksache 16/6451 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Es ist vereinbart, die Reden folgender Kolleginnen
und Kollegen zu Protokoll zu geben: Manfred Kolbe,
Antje Tillmann, Lothar Binding, Carl-Ludwig Thiele,
Barbara Höll und Gerhard Schick.1)

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/6451 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Krogmann, Laurenz Meyer (Hamm), Veronika
Bellmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Martin Dörmann, Dr. Rainer Wend, Doris
Barnett, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Breitbandversorgung in ländlichen Räumen
schnell verbessern

– zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-
Joachim Otto (Frankfurt), Gudrun Kopp,
Martin Zeil, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP

Datenbasis für flächendeckende Versorgung
mit breitbandigem Internetzugang schaffen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Dr. Lothar Bisky, Katrin Kunert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Schnelles Internet für alle – Unternehmen
zum Breitbandanschluss gesetzlich ver-
pflichten

1) Anlage 8
– zu dem Antrag der Abgeordneten Grietje Bettin,
Kerstin Andreae, Cornelia Behm, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Den Ausbau der Breitbandinfrastruktur flä-
chendeckend voranbringen

– Drucksachen 16/8381, 16/7862, 16/8195,
16/8372, 16/8781 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Gudrun Kopp

Es ist vereinbart, die Reden der folgenden Kollegin-
nen und Kollegen zu Protokoll zu geben: Martina
Krogmann, Hans-Heinrich Jordan, Martin Dörmann,
Manfred Zöllmer, Hans-Joachim Otto, Sabine Zimmermann
und Grietje Staffelt.2)

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie auf Drucksache 16/8781.

Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss-
empfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/8381 mit
dem Titel „Breitbandversorgung in ländlichen Räumen
schnell verbessern“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositions-
fraktionen angenommen.

Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/7862 mit
dem Titel „Datenbasis für flächendeckende Versorgung
mit breitbandigem Internetzugang schaffen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist gegen die Stimmen der Fraktion der FDP mit den
Stimmen des übrigen Hauses angenommen.

Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/8195 mit dem Ti-
tel „Schnelles Internet für alle – Unternehmen zum
Breitbandanschluss gesetzlich verpflichten“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen?
– Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen
des übrigen Hauses angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8781 die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 16/8372 mit dem Titel „Den
Ausbau der Breitbandinfrastruktur flächendeckend vo-
ranbringen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist gegen die Stimmen der Fraktion
der Grünen mit den Stimmen des übrigen Hauses ange-
nommen.

2) Anlage 9






(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse

Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann sehen,
dass zu demselben Thema Anträge mit ganz unterschied-
lichen Titeln formuliert werden.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 22. No-
vember 2004 über das Europäische Korps und
die Rechtsstellung seines Hauptquartiers zwi-
schen der Französischen Republik, der Bundes-
republik Deutschland, dem Königreich Belgien,
dem Königreich Spanien und dem Großher-
zogtum Luxemburg (Straßburger Vertrag)


– Drucksache 16/8250 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidi-
gungsausschusses (12. Ausschuss)


– Drucksache 16/8780 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen)

Gerd Höfer
Dr. Rainer Stinner
Inge Höger
Winfried Nachtwei

Es ist vereinbart, die Reden der folgenden Kollegin-
nen und Kollegen zu Protokoll zu geben: Ernst-Reinhard
Beck, Gerd Höfer, Rainer Stinner, Inge Höger und Omid
Nouripour.1)

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum
Straßburger Vertrag. Der Verteidigungsausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8780,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck-
sache 16/8250 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss der heutigen Tagesordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, 11. April 2008, 9 Uhr, ein.

Ich wünsche Ihnen einen freundlichen Heimweg und
eine gute Nacht. Die Sitzung ist geschlossen.