1) Anlage 10
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16235
(A) (C)
(B) (D)
Rolf Kramer (SPD): Der heute in zweiter und dritter
Lesung zu beratende Gesetzentwurf eines Wehrrechts-
Das bisherige, zeitraubende und kostenintensive Verfah-
ren der Unabkömmlichstellung wird damit aufgegeben.
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung wehr-
rechtlicher und anderer Vorschriften (Wehr-
rechtsänderungsgesetz 2007 – WehrRÄndG
2007)
– Antrag: Wehrpflichtige in Studium und
Ausbildung vollständig vor Einberufung
schützen
(Tagesordnungspunkt 10 a und b)
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Altmaier, Peter CDU/CSU 10.04.2008
Bluhm, Heidrun DIE LINKE 10.04.2008
Bülow, Marco SPD 10.04.2008
Golze, Diana DIE LINKE 10.04.2008
Irber, Brunhilde SPD 10.04.2008
Kramme, Anette SPD 10.04.2008
Laurischk, Sibylle FDP 10.04.2008
Nitzsche, Henry fraktionslos 10.04.2008
Nouripour, Omid BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
10.04.2008
Roth (Heringen),
Michael
SPD 10.04.2008
Schily, Otto SPD 10.04.2008
Schmidt (Eisleben),
Silvia
SPD 10.04.2008
Schultz (Everswinkel),
Reinhard
SPD 10.04.2008
Seehofer, Horst CDU/CSU 10.04.2008
Steinbach, Erika CDU/CSU 10.04.2008
Wellmann, Karl-Georg CDU/CSU 10.04.2008
Anlagen zum Stenografischen Bericht
änderungsgesetzes, hat – das zeigt schon die Jahreszahl
2007 in der Überschrift – eine lange Vorlaufzeit gehabt.
Schon vor der Einbringung des Gesetzentwurfes im
vergangenen Jahr in den Bundesrat gab es intensive
Beratungen zwischen den Vertretern des Bundesvertei-
digungsministeriums und den Berichterstattern der
Koalitionsfraktionen. So konnten vorab einige Unstim-
migkeiten geklärt werden. Weitere Ergänzungen und
Änderungen ergaben sich dann aus den intensiven Bera-
tungen des Gesetzentwurfes im Bundesrat und in den
Ausschüssen des Bundestages. Auf die einzelnen Punkte
werde ich im Verlauf meiner Ausführungen noch einge-
hen.
Mit diesem Entwurf wird das Wehrrecht an die aktuell
den Streitkräften gestellten Anforderungen angeglichen.
So ist vorgesehen, dass Reservisten auf freiwilliger Ba-
sis auch zu vorbereitenden Übungen einberufen und im
Falle einer Katastrophe unverzüglich eingesetzt werden
können sollen. Dies gilt ebenfalls für ihre Heranziehung
zu humanitären Hilfsmaßnahmen der Streitkräfte außer-
halb Deutschlands. Für humanitäre Hilfsmaßnahmen im
Ausland, zum Beispiel bei Flutkatastrophen oder Erdbe-
ben, konnten Angehörige der Reserve bislang nur im
Rahmen einer besonderen Auslandsverwendung oder im
Rahmen einer Wehrübung einberufen werden. Die be-
sondere Auslandsverwendung setzt aber einen vorheri-
gen Beschluss der Bundesregierung voraus. Ist Eile ge-
boten, kann dieser nicht in jedem Fall rechtzeitig erwirkt
werden. Diese Lücke wird nunmehr in Anlehnung an die
Bestimmungen für humanitäre Einsätze im Inland mit
der vorgeschlagenen Regelung geschlossen.
Eine weitere Neuregelung fällt in den Bereich des Bü-
rokratieabbaus. Das bisher zeitaufwendige Verfahren der
Unabkömmlichstellung von Wehrpflichtigen wird in
Friedenszeiten durch einen neuen Zurückstellungstatbe-
stand vereinfacht. Die Anwendung der Unabkömmlich-
stellungsverordnung wird auf den Spannungs- und Ver-
teidigungsfall beschränkt. Die bisherige Rechtslage sieht
zwei Verfahren zur Feststellung vor, ob ein Wehrpflichti-
ger in einem Betrieb oder einer Behörde zum Zeitpunkt
des Wehrdienstes unentbehrlich ist: Handelt es sich um
den eigenen Betrieb des Wehrpflichtigen oder den seiner
Eltern, entscheidet das Kreiswehrersatzamt auf Antrag
des Wehrpflichtigen in Form eines Verwaltungsakts.
Handelt es sich um einen „fremden“ Betrieb oder steht
der Wehrpflichtige in einem öffentlich-rechtlichen Dienst-
verhältnis, entscheidet das Kreiswehrersatzamt auf Vor-
schlag der zuständigen Behörde in einem behördeninter-
nen Verfahren, an dem der Wehrpflichtige nicht beteiligt
ist. Die Entscheidung des Kreiswehrersatzamtes ist nicht
justiziabel. Diese verfahrensrechtliche „Zweigleisigkeit“
ist im Frieden sachlich nicht mehr begründbar. Durch die
Schaffung eines neuen Zurückstellungstatbestandes ent-
scheiden die Wehrersatzbehörden künftig im Frieden in
allen Fällen betrieblicher oder behördlicher Unentbehr-
lichkeit eines Wehrpflichtigen durch Verwaltungsakt
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(A) (C)
(B) (D)
Nur für den Spannungs- und Verteidigungsfall bleibt die
Möglichkeit des bisherigen Verfahrens bestehen. Diese
Neuregelung wird für die Betriebe und Behörden sowie
die Wehrpflichtigen eine erhebliche Vereinfachung mit
sich bringen.
Auch beim Rechtsschutz der Soldatinnen und Soldaten
gibt es weitere Verbesserungen. Er wird verfahrensmäßig
an die allgemein gegebenen Rechtsbehelfsmöglichkeiten
angepasst. So wird zum Beispiel die Frist zur Einlegung
der Beschwerde sowie der weiteren Beschwerde von
zwei Wochen auf einen Monat verlängert. Im Fall der
Verhinderung durch unabwendbare Ereignisse soll die
Einlegung der Beschwerde künftig bis zu zwei Wochen
nach Wegfall des Hindernisses – anstatt bisher innerhalb
von drei Tagen – zulässig sein. Damit trägt die Neurege-
lung auch den besonderen Erfordernissen der Auslands-
einsätze der Bundeswehr Rechnung.
Diese von der Bundesregierung vorgeschlagenen
Neuregelungen und noch einige weitere Detailregelun-
gen waren zwischen dem Verteidigungsministerium und
den Koalitionsfraktionen unstrittig und von den Verteidi-
gungspolitikern auch als notwendig erachtet worden. In-
sofern hätte dieses Gesetz ohne Veränderungen verab-
schiedet werden können. Dass dem nicht so ist, liegt an
den von der Bundesregierung vorgeschlagenen Verände-
rungen bei den Zurückstellungstatbeständen. Hier mel-
deten die Verteidigungs- und Bildungspolitiker beider
Koalitionsfraktionen Änderungsbedarf an. Auch der
Bundesrat mahnte in seiner Stellungnahme vom 11. Mai
letzten Jahres, die auf der Basis eines Antrages aus Bay-
ern beschlossen worden war, Änderungen an.
Der Änderungsbedarf betraf insbesondere die geplante
Neuregelung der Einberufungspraxis für Studierende in
sogenannten dualen Studiengängen. Die von der Bundes-
regierung in der ursprünglichen Gesetzesbegründung an-
geführte Gleichbehandlung mit „normalen“ Studierenden
greift aus unserer Sicht gerade hier nicht. Die enge Ver-
netzung von Studium und Ausbildung rechtfertigt es,
diese Studierenden wie Auszubildende zu behandeln, so-
dass sie ihre Ausbildung insgesamt nicht unterbrechen
müssen. Der Bundesrat hat dies in seiner Stellungnahme
zu diesem Punkt aus unserer Sicht schlüssig begründet.
Insofern war es zu begrüßen, dass die Bundesregierung in
ihrer Gegenäußerung diesen Punkt positiv aufgriff und in
Ihrem Änderungsvorschlag zum Teil umsetzte. Die Ko-
alitionsfraktionen haben diesen Vorschlag in ihrem Ände-
rungsantrag zum dualen Studium aufgegriffen.
Ich möchte hier nicht verhehlen, dass wir Sozialde-
mokraten uns eine weitergehende Regelung hinsichtlich
des dualen Studiums im Sinne der Stellungnahme des
Bundesrates gewünscht hätten. Vor dem Hintergrund des
Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom Oktober
letzten Jahres denke ich jedoch, dass ein umsetzbarer
Kompromiss erreicht worden ist, der den Besonderhei-
ten dieses Studiengangs entgegenkommt.
Positiv ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen,
dass sich die Bundesregierung mit der Zuordnung der
Ausbildung an Berufsakademien zur beruflichen Ausbil-
dung über die gängige Rechtsprechung, die die Berufs-
akademieausbildung nicht als berufliche Ausbildung,
sondern als Studium wertet, hinwegsetzt. Aus Gründen
der Rechtssicherheit wäre es aus Sicht der SPD-Bundes-
tagsfraktion sogar besser gewesen, diese Ausnahmerege-
lung für die Berufsakademien in den Gesetzestext zu
übernehmen und nicht nur in der Begründung zu belas-
sen.
Dies gilt auch für einen weiteren Punkt, die Berück-
sichtigung der neuen Bachelor- und Masterstudiengänge.
Wir begrüßen, dass in der Gesetzesbegründung diese
Studiengänge als zusammenhängender Ausbildungsab-
schnitt behandelt werden. Damit bleibt es bei der Rege-
lung, dass während eines Studiums allgemein nur vor
Beginn des dritten Fachsemester einberufen werden
kann. Eine Übernahme in den Gesetzestext, wie es in der
Stellungnahme des Bundesrates vorgeschlagen wurde,
wäre aus unserer Sicht allerdings der bessere Weg gewe-
sen. Ich hoffe sehr, dass die Bundeswehrverwaltung bei
ihren Entscheidungen nicht nur in den Gesetzestext
schaut, sondern auch die Begründung des Gesetzgebers
zur Hand nimmt.
Ein weiterer Punkt war insbesondere den Bildungs-
politikern der Koalitionsfraktionen wichtig; ihrer Argu-
mentation konnten wir Verteidigungspolitiker uns nicht
entziehen. Durch den von CDU/CSU und SPD einge-
brachten Änderungsantrag wird auch künftig sicherge-
stellt sein, dass junge Männer, die einen Aufstiegsfort-
bildungsgang begonnen haben, ebenfalls nicht mehr
einberufen werden können. Der Regierungsentwurf war
hier mehrdeutig und hätte im Zweifel dazu geführt, dass
junge Männer in Meister-, Techniker- oder Fachwirte-
ausbildungsgängen einberufen worden wären. Mit der
gefundenen Formulierung im Gesetzestext sowie der er-
läuternden Begründung ist hier aus meiner Sicht eine
gute Lösung gefunden worden.
Auch wenn nicht alle Wünsche der Bildungspolitiker
erfüllt werden konnten: Insgesamt ist ein Kompromiss
erzielt worden, der Bildungsinteressen und wehrpoliti-
sche Interessen besser aufeinander abstimmt. Im Zweifel
sollte aus unserer Sicht aber auch in Zukunft gelten, dass
Ausbildungsinteressen Vorrang behalten. In diesem Zu-
sammenhang bedanke ich mich hier ganz herzlich für die
gute Zusammenarbeit zwischen den Arbeitsgruppen bei-
der Fraktionen.
Dieser heute zu verabschiedende Gesetzentwurf ist
ein gutes Beispiel für das Struck’sche Gesetz, dass eben
kein Gesetz unverändert aus den Beratungen des Parla-
mentes herauskommt. Die SPD-Fraktion stimmt der Be-
schlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zu.
Birgit Homburger (FDP): Der vorliegende Entwurf
eines Wehrrechtsänderungsgesetzes zeigt erneut, dass
die Wehrpflicht in ihrer Ausgestaltung problembehaftet
ist. Durch den Gesetzentwurf wird zunächst einmal ein
Großteil der wehrrechtlichen Anpassungen umgesetzt,
die durch den Transformationsprozess der Bundeswehr
notwendig geworden sind; er ist somit logische und
zwingende Folge dieser noch nicht abgeschlossenen
Umstrukturierung. Auch die Änderungen der Zurück-
stellungsregelungen im Wehrpflichtgesetz, speziell für
Studierende dualer Studiengänge sowie für Masterstu-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16237
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(B) (D)
dierende und Absolventen von Meister- bzw. Techniker-
kursen, sind ein Schritt in die richtige Richtung. Hier
werden mit dem Wehrrechtsänderungsgesetz in der jetzt
vorliegenden Form Verbesserungen herbeigeführt.
Allerdings ist das Problem der Zurückstellung von
Studierenden und Auszubildenden auch mit diesen Neu-
regelungen immer noch nicht stringent gelöst. Schon aus
diesem Grunde werden viele jener Probleme weiter be-
stehen bleiben, die regelmäßig von Wehrpflichtigen, die
vor ihrer Einberufung stehen, an mich herangetragen
werden.
Des Weiteren müssen die im Gesetzentwurf enthalte-
nen Änderungen auch vernünftig umgesetzt werden;
denn vielfach ist es die Umsetzung der gesetzlichen Re-
gelungen, die zu Missmut und Frustration bei den Wehr-
pflichtigen führt. Jungen Männern, die bereit sind, ihren
Wehrdienst abzuleisten, dürfen nicht auch noch durch
eine miserable Organisation bei der Einberufungspraxis
Nachteile entstehen. Immer wieder erreichen mich – und
ich denke, das geht vielen von uns Bundestagsabgeord-
neten so – Zuschriften von jungen Männern, die sich an
uns wenden, da sie durch die Einberufung aus einem Ar-
beitsverhältnis gerissen werden oder dieses nicht einge-
hen können. Bedenken Sie nur, dass 60 Prozent aller
tauglichen jungen Männer weder Wehr- noch Ersatz-
dienst leisten. Angesichts der bekanntermaßen ange-
spannten Lage auf dem Arbeitsmarkt ist es bedenklich,
wenn man ausgerechnet denjenigen, die bereits in Lohn
und Brot stehen, ihre Arbeit durch einen Pflichtdienst
nimmt, der sicherheitspolitisch absolut nicht mehr ge-
rechtfertigt ist.
Mir wurde kürzlich ein Fall von einem jungen Mann
geschildert, der drei Tage nach seiner Einberufung zur
Bundeswehr ausgemustert wurde. Sein Arbeitsplatz
wurde vom Betrieb anderweitig besetzt, er ist seither ar-
beitslos. Nun könnte der Verteidigungsminister einwen-
den, dass nach den bestehenden Regelungen im Arbeits-
platzschutzgesetz der Arbeitsplatz bei einer Einberufung
geschützt sei. Doch was bliebe dem Wehrpflichtigen? Er
müsste den Betrieb verklagen, in dem er eigentlich ar-
beiten will. Der Betrieb hingegen ist vielleicht auf jede
Hand angewiesen und kann sich das Freihalten des Ar-
beitsplatzes für neun Monate nicht erlauben.
Sie sehen, in welche Situation junge Männer und ins-
besondere kleine und mittelständische Betriebe durch ei-
nen Pflichtdienst gebracht werden, der absolut nicht
mehr erforderlich ist. Der Bundesminister der Verteidi-
gung muss endlich der Realität ins Auge blicken, auch
wenn das für ihn sicherlich unbequem ist. Die Wehr-
pflicht ist sicherheitspolitisch nicht mehr zu rechtferti-
gen und auch gesellschaftspolitisch überholt, von der
mangelnden Wehrgerechtigkeit ganz zu schweigen. Es
ist daher höchste Zeit, die Wehrpflicht endlich auszuset-
zen. Ein entsprechender Antrag der FDP-Bundestags-
fraktion liegt dem Deutschen Bundestag vor.
Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): Das Wehrrechts-
änderungsgesetz nimmt an nicht weniger als 13 Geset-
zen und Verordnungen Änderungen vor. Sicherlich sind
einige dieser Anpassungen notwendig und wünschens-
wert, und es ist bezeichnend, dass die Bundesregierung
so lange brauchte, offensichtliche Defizite zu korrigie-
ren. Andere Anpassungen atmen den „Geist der Zeit“
und sind geprägt von dem Vorhaben, das Aufgabenspek-
trum der Bundeswehr zu erweitern und die Bundeswehr
weiter zu einer Interventionsarmee umzubauen.
Wie schon die laufenden Auslandseinsätze der Bun-
deswehr zeigen, allen voran in Afghanistan, gibt es ein
Interesse in der Bundeswehr, zunehmend Reservisten für
gewisse Aufgaben im Ausland einzusetzen – zur Entlas-
tung der kämpfenden Einheiten und zur Verbesserung
der CIMIC-Arbeit vor Ort. Was bei Berufssoldaten und
Soldaten auf Zeit weitestgehend problemlos möglich ist,
gilt so nicht für die nur gedienten Wehrpflichtigen. Der
Einsatz dieser Reservisten war bislang nur im Inland
vorgesehen (§ 6 c WpflG). Nun soll mit dem neuen § 6 d
des Wehrpflichtgesetzes auch der Einsatz von Reservis-
ten im Rahmen von humanitären Hilfeleistungen im
Ausland ermöglicht werden. Anders als beim Pendant
§ 6 c, der den Einsatz im Inland regelt, fehlt bei dem
neuen § 6 d ein direkter Bezug auf das Grundgesetz aus
dem einfachen Grund, weil das Grundgesetz keinen sol-
chen Einsatz der Bundeswehr im Ausland vorsieht! Die
Regierung ist bislang jegliche Begründung für diese ziel-
gerichtete Ausweitung des Aufgabenspektrums und da-
mit auch Konkurrenz zu zivilen Behörden, wie dem
THW, in dessen originären Aufgabenbereich zivile Hil-
feleistungen im Ausland fallen, schuldig geblieben.
Insbesondere bei den Änderungen im Wehrpflichtge-
setz zeigt sich erneut, wie stark die Wehrpflichtigen nach
wie vor als simple einfache Verfügungsmasse angesehen
werden. Die Bundeswehr braucht die Wehrpflichtigen
nicht für irgendwelche militärischen Aufgaben mit ei-
nem direkten Bezug zur Landesverteidigung, dazu reicht
die Ausbildungszeit gar nicht. Einfache Dienste wie
Fahrzeugfahren oder die Bedienung in Offiziersheimen
– euphemistisch Stabsdienst genannt – sollen sie leisten.
Diese müssen ja schließlich auch gemacht werden, sagen
die Offiziere. Hierfür werden gerne 14 Prozent der
Dienstposten reserviert.
Die Bundeswehr braucht die Wehrpflichtigen also gar
nicht, will aber um jeden Preis die Möglichkeit behalten,
junge Männer zum Grundwehrdienst zu zwingen. Statt
einen Schlussstrich unter dieses fatale System zu ziehen
und die Wehrpflicht abzuschaffen, findet sich im Wehr-
rechtsänderungsgesetz nur die Fortsetzung des gewohn-
ten Stückwerks, zulasten der Wehrpflichtigen.
Die Wehrpflicht ist ein schwerwiegender Eingriff in
die Lebensplanung der Betroffenen, die Lage auf dem
Arbeitsmarkt ist alles andere als rosig. In Zukunft will
das Verteidigungsministerium selbst die Unabkömmlich-
keitsstellung von Wehrpflichtigen für Kleinst- und Fami-
lienbetriebe nur befristet aussprechen. Auch wer einen
befristeten Arbeitsvertrag hat, hat keinen Anspruch auf
Zurückstellung bis zur Erfüllung der Arbeitsverträge.
Nach wie vor werden die Auszubildenden in dualen Stu-
diengängen gravierend benachteiligt. Ihnen droht trotz
gültiger Ausbildungsverträge eine Einberufung, falls sie
nicht drei Monate nach der Ausbildung ihr Studium be-
ginnen. Und schließlich wurde darauf verzichtet, dem
16238 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008
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Vorschlag des Bundesrats zu folgen und den Studieren-
den in Masterstudiengängen einen eindeutigen Rechts-
anspruch auf Zurückstellung zu geben.
Das vorliegende Sammelsurium markiert erneut eine
verpasste Gelegenheit, die Geschäftsgrundlagen der
Bundeswehr klar und deutlich zu formulieren. Einigen
längst überfälligen relativen Verbesserungen stehen ge-
radezu dogmatische Schwächen gegenüber: Wir brau-
chen nicht mehr Reservisten im Ausland, wir brauchen
nicht mehr die Wehrpflicht.
Aber auch im Kleinen zeigt sich die Inkonsequenz
und Widersprüchlichkeit. Das Wehrrechtsänderungsge-
setz versucht sich an einer Reform der Wehrbeschwerde-
ordnung und der Wehrdisziplinarordnung – zwei Doku-
mente, deren genaues Studium jedem zu empfehlen ist,
der glaubt, in Deutschland gäbe es nur eine grundle-
gende Rechts- und Gesetzesordnung. Nach nur 50 Jah-
ren wird jetzt die bei zivilen Verfahren übliche „auf-
schiebende Wirkung“ von Beschwerden zugelassen und
die entsprechende Frist verlängert. Bezeichnenderweise
gilt dies allerdings nur für Verwaltungsangelegenheiten
und nicht für truppendienstliche Maßnahmen, wie zum
Beispiel Disziplinarstrafen. Nicht geändert wurden die
Bestimmungen zur Verhängung des Disziplinararrests –
einer sogenannten einfachen Maßnahme. Der Diszipli-
narvorgesetzte beantragt den Arrest, der Truppendienst-
richter kann dem ohne Begründung und ohne Verhand-
lung zustimmen. Legt der Betroffene eine Beschwerde
ein, entscheidet das gleiche Truppendienstgericht über
die Zulässigkeit der Beschwerde.
Solche freiheitseinschränkenden oder -entziehenden
Bestrafungen von Soldaten in Form von Ausgangsbe-
schränkungen und Disziplinararrest unterliegen keinem
Verfahren, welches rechtsstaatlichen Ansprüchen ge-
nügt. Wohin das führen kann, zeigte im letzten Jahr der
Fall des Totalverweigerers Moritz Kagelmann, der allein
aufgrund der Entscheidungen des Disziplinarvorgesetz-
ten und dem Truppendienstrichter mehr als 50 Tage in
Einzelhaft gesessen hat, mit willkürlich eingeschränk-
tem Besuchsmöglichkeiten und nur einer Stunde Hof-
gang. Daher muss die gesamte Wehrrechtsordnung einer
kritischen Überprüfung unterzogen werden.
Ohne Zweifel bedürfen viele der Gesetze und Verord-
nungen des Wehrrechts einer Änderung, Ergänzung –
oder im Fall des Wehrpflichtgesetzes der einfachen Ab-
schaffung. Wenn schon, dann hätte die Bundesregierung
tatsächlich Fortschrittlichkeit demonstrieren können,
zum Beispiel indem endlich die Bestimmungen des Fa-
kultativprotokolls zu Kindersoldaten eins zu eins im
Wehrpflichtgesetz und Soldatengesetz verankert wird.
Nach wie vor kann die Bundeswehr Minderjährige ein-
berufen. Und obwohl das Fakultativprotokoll vorsieht,
dass in einem solchen Fall die Einziehung wenigstens
nur freiwillig erfolgen darf und nur mit Zustimmung bei-
der gesetzlicher Vertreter, kann die Musterung als erster
Schritt gegen den Willen des Wehrpflichtigen und auch
ohne Zustimmung der gesetzlichen Vertreter erfolgen.
Es findet keine ausreichende Prüfung der Freiwilligkeit
der Entscheidung des Wehrpflichtigen statt. Außerdem
fehlt bislang eine gesetzliche Garantie, dass Minderjäh-
rige nicht an kämpferischen Auseinandersetzungen be-
teiligt werden.
Der Entwurf des vorliegenden Wehrrechtsänderungs-
gesetzes ist unter dem Strich alles andere als fortschritt-
lich und positiv zu bewerten. Erneut wurde eine Chance
verpasst, Missstände in der Bundeswehr zu korrigieren.
Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das von der Bundesregierung vorgelegte Wehrrechts-
änderungsgesetz soll wehrrechtliche Vorschriften, die
Wehrpflichtigen oder Dritten Einschränkungen oder Er-
schwernisse aufbürden, kritisch hinterfragen und an die
geänderten sicherheitspolitischen Anforderungen oder
Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt anpassen. Dieser
Anspruch ist anerkennenswert.
Einzelne Regelungen im Gesetzesentwurf, wie die
Stärkung des Rechtsschutzes für Bundeswehrsoldaten
oder die Verbesserung der Berufsförderung für Unter-
offiziere des Militärmusikdienstes, sind richtig. Dass die
im ursprünglichen Gesetzesentwurf von der Bundes-
regierung geplanten massiven Verschlechterungen für
Wehrpflichtige, die sich im Studium oder in der Ausbil-
dung befinden, auf Druck aus Verbänden, den Kirchen
und der Wirtschaft, aber auch von uns Grünen nun mit
dem Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen teilweise
zurückgeholt werden sollen, ist dringend notwendig. An-
ders als ursprünglich von der Bundesregierung geplant,
sollen nun doch Wehrpflichtige in Meister-, Fachwirt-
und Technikerausbildungen mit Auszubildenden gleich-
gestellt und vor Einberufung geschützt werden. Auch
der geplanten Einberufung von Wehrpflichtigen wäh-
rend ihres Masterstudiums wurde ein Riegel vorgescho-
ben. Bachelor- und Masterstudiengänge sollen nun doch
als Einheit betrachtet werden.
Diese Änderungen sind aber längst nicht ausreichend.
Vor allem für Absolventen dualer Studiengänge, einer
Kombination von Studium und betrieblicher Ausbil-
dung, soll es bei nicht hinzunehmenden Nachteilen blei-
ben. Wehrpflichtige in dualen Studiengängen sollen nur
dann vor Einberufung geschützt werden, wenn sie ihr
Studium spätestens drei Monate nach Beginn der be-
trieblichen Ausbildung aufgenommen haben. Diese Re-
gelung steht in völligem Gegensatz zu den Anforderun-
gen eines dualen Studiums. Es bleibt ausgeklammert,
dass ein duales Studium auch eine betriebliche Ausbil-
dung einschließt. Zudem werden vor allem diejenigen
dualen Studiengänge benachteiligt, die mit einem länge-
ren Praxisanteil beginnen. Nicht zu vergessen, dass
dadurch Betriebe, die diese anspruchsvollen Ausbil-
dungsmöglichkeiten anbieten, massiv bestraft und abge-
schreckt werden. Angesichts des massiven Fachkräfte-
mangels und den wohlfeilen Reden der Bundesregierung
über bessere Ausbildungs- und Bildungsmöglichkeiten
in Deutschland ist das geradezu ein Offenbarungseid.
Sehr nachvollziehbar kritisieren daher Unternehmen und
Verbände den Gesetzesentwurf der Bundesregierung und
erwarten eine völlige Gleichstellung von Absolventen
dualer Studiengänge mit Auszubildenden. Sie befürchten
zu Recht, dass sie sonst ihre Auszubildenden mit der
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16239
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Einberufung zum Wehrdienst mitten in der Ausbildung
bzw. gleich zu Beginn der Ausbildung verlieren könnten.
Wir Grünen werden deshalb auch dem geänderten
Gesetzesentwurf der Bundesregierung nicht zustimmen.
In unserem Antrag „Wehrpflichtige in Studium und Aus-
bildung vollständig vor Einberufung schützen“ fordern
wir die Bundesregierung auf, künftig alle Studenten und
Auszubildenden uneingeschränkt vor der Einberufung
zum Wehr- oder Zivildienst zu schützen. Wir wollen,
dass der Schutz vor Einberufung von dem Tag an gilt, an
dem ein Wehrpflichtiger sein zulassungsfreies Studium
aufgenommen oder ihm ein zulassungsbeschränkter Stu-
diumsplatz oder ein Ausbildungsplatz verbindlich zuge-
sichert wurde. Ausbildungs- und Bildungsinteressen
dürfen nicht nur Lippenbekenntnisse bleiben, sondern
müssen tatsächlich auch Vorrang haben.
Wir werden dem Gesetzesentwurf der Bundesregie-
rung aber auch aus einem zweiten Grund nicht zustim-
men: Wir halten den Umgang der Großen Koalition mit
der Wehrpflichtfrage weder für die von der Wehrpflicht
betroffenen jungen Männer noch für die Bundeswehr für
politisch verantwortbar. Wenn binnen fünf Jahren die
Untauglichkeitsquote von 17 Prozent auf 45 Prozent
hochschnellt, dann wird die Tauglichkeitsprüfung zu ei-
nem Scheunentor der Manipulation: So wird künstlich
der Anteil der für den Wehrdienst zur Verfügung stehen-
den jungen Männern kleingerechnet, um den Anschein
von Wehrgerechtigkeit zu simulieren. In Wirklichkeit
verstößt die reale Restwehrpflicht massiv gegen die Vor-
gabe des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Wehr-
pflicht eine gleich belastende Pflicht sein muss.
Wo sich die Wehrpflichtrealität auf so dünnem verfas-
sungsrechtlichem Eis bewegt, wo die Wehrpflichtigen
für die Bundeswehr mehr Lasten als Nutzen sind und ihr
Beitrag zur Integration der Streitkräfte in die Gesell-
schaft marginal ist, da ist der Abschied von der Wehr-
pflicht überfällig. Der verantwortliche Ausstieg aus der
Wehrpflicht darf nicht länger auf die lange Bank gescho-
ben werden.
Bereits das Urteil des Verwaltungsgerichtes Köln
vom 21. April 2004 hat bestätigt, dass längst nicht mehr
der überwiegende Teil der Wehrpflichtigen einberufen,
die neue Einberufungspraxis willkürlich und gegen den
verfassungsrechtlichen Grundsatz der Wehrgerechtigkeit
verstoße. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht dieses
Urteil revidiert, aber vom Gesetzgeber gefordert, die
Tauglichkeitskriterien neu zu regeln. Dieser Forderung
ist die damalige rot-grüne Bundesregierung mit der Än-
derung des Zivildienstgesetztes nachgekommen, indem
sie die Tauglichkeitskriterien nach oben geschraubt hat.
Seitdem werden nur noch T1- und T2-Gemusterte einge-
zogen. Quantitativ wurde damit der Grundrechtseingriff
der Wehrpflicht zwar relativiert, gleichzeitig aber dieje-
nigen, die ihren Wehrdienst ableisten müssen, doppelt
bestraft. Mit dieser krassen Wehrungerechtigkeit muss
endlich Schluss sein. Hier helfen auch keine ideologi-
schen Bekenntnisse zur Wehrpflicht. Wehrgerechtigkeit
lässt sich angesichts der neuen Aufgaben der Bundes-
wehr und damit verbunden eines massiv gesunkenen Be-
darfes an Grundwehrdienstleistenden auch in absehbarer
Zukunft nicht herstellen.
Unsinnig und kontraproduktiv sind Überlegungen wie
die von der CSU zu einer Gemeinschaftsdienstpflicht.
Sowohl das Grundgesetz als auch die allgemeine Erklä-
rung der Menschenrechte und der internationale Pakt
über bürgerliche und politische Rechte verbieten eine
allgemeine Dienstpflicht. Es muss endlich Schluss sein
mit jeder Art von Zwangsdiensten. Wer richtigerweise
junge Menschen für die Bundeswehr „gewinnen und
nicht kaufen“ will und an einem möglichst hohen Aus-
tausch zwischen Bundeswehr und Gesellschaft interes-
siert ist, sollte sich endlich auf unseren Vorschlag eines
freiwilligen, flexiblen und attraktiven Kurzdienstes für
Männer und Frauen einlassen. Damit ließe sich der
Übergang von der Wehrpflicht- hin zu einer Freiwilli-
genarmee verantwortlich gestalten – zum Vorteil aller
Beteiligten.
Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister der Verteidi-
gung: Mit dem Ihnen jetzt vorliegenden Entwurf des
Wehrrechtsänderungsgesetzes wird dem Anpassungs-
und Änderungsbedarf bei einer ganzen Reihe wehrrecht-
licher und sachlich verwandter Gesetze entsprochen.
Vorrangig zu nennen sind das Wehrpflichtgesetz, das
Soldatengesetz, die Wehrbeschwerdeordnung, die Wehr-
disziplinarordnung und das Zivildienstgesetz.
Es zeigt sich, dass der eingeleitete und weiter fortzu-
setzende Transformationsprozess der Bundeswehr vor
dem Wehrrecht nicht halt macht. Daher gilt es, auch in
diesem – für rechtsstaatlich eingebundene Streitkräfte
wichtigen – Gebiet, die erforderlichen Anpassungen an
die aktuellen Anforderungen vorzunehmen.
Dem Entwurf kommt aus drei Gründen eine beson-
dere Bedeutung für die Bundeswehr zu. Erstens, Stär-
kung des Rechtsschutzes von Soldatinnen und Soldaten:
Wehrbeschwerdeordnung und Wehrdisziplinarordnung
haben sich im Grundsatz für den Rechtsschutz der Sol-
daten gut bewährt. Sie werden aber verfahrensrechtlich
modernisiert. Beispiele sind die Verlängerung der Be-
schwerdefrist, die Einführung einer Rechtsbeschwerde,
die Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Diszipli-
nargerichtsbescheides und die grundsätzliche Einfüh-
rung der aufschiebenden Wirkung von Verwaltungsbe-
schwerden. Dies hat für unsere Soldaten erhebliche
Bedeutung und wird von ihnen auch als Ausdruck prak-
tischer Fortentwicklung im Bereich der Inneren Führung
wahrgenommen.
Zweitens, Verbesserungen für den Dienst von Reser-
visten: Die Regelungen für die Einsätze von Reservisten
im Inland werden an die neu strukturierte zivil-militäri-
sche Zusammenarbeit angepasst und um die Möglichkeit
vorbereitender Übungen erweitert. Weiterhin sieht der
Entwurf die vereinfachte Heranziehung von Reservisten
für humanitäre Hilfeleistungen im Ausland vor. Hier-
durch wird nicht nur die Flexibilität der Bundeswehr ge-
stärkt, sondern auch die Attraktivität für Reservisten er-
heblich gesteigert.
16240 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008
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Drittens, Entbürokratisierung: Durch die Klarstellung
und Streichung entbehrlich gewordener Vorschriften
trägt der Gesetzentwurf zum allgemeinen Ziel der Ent-
bürokratisierung und besseren Rechtsetzung bei. Damit
wird nicht zuletzt auch die Akzeptanz des Wehrdienstes
und der Wehrpflicht gesteigert, indem Belastungen für
Wehrpflichtige und Arbeitgeber beseitigt werden.
Ich freue mich daher, dass es – zugegebenermaßen
nach relativ langen und nicht immer ganz einfachen poli-
tischen Diskussionen – gelungen ist, einen ausgewoge-
nen und zielführenden Gesetzentwurf zu erarbeiten. Den
Hinweis auf die intensiven Diskussionen will ich dabei
keinesfalls als Kritik verstanden wissen. Wenn Parla-
ment und Regierung es sich bei wehrrechtlichen Gesetz-
gebungsvorhaben nicht leicht machen, ist das vielmehr
ein gutes Zeichen und zeigt den hohen Stellenwert, den
unsere Bundeswehr genießt.
Ich nutze an dieser Stelle erneut die Gelegenheit, klar-
zustellen: Die Bundesregierung bekennt sich vorbehalt-
los zur allgemeinen Wehrpflicht als der für unser Land
richtigen und zukunftsweisenden Wehrform. Es ist daher
gleichermaßen konsequent, auf der einen Seite Verbesse-
rungen bei der rechtlichen Ausgestaltung der Wehr-
pflicht einzuführen, wie es andererseits keine Regelun-
gen geben kann, die die Wehrpflicht selbst infrage
stellen oder gezielt Schlupflöcher für diejenigen eröff-
nen, die sich ihrer verfassungsrechtlichen Pflicht auf be-
queme Art und Weise entziehen wollen.
Vor ziemlich genau vier Wochen haben wir an dieser
Stelle die Erhöhung des Wehrsoldes beschlossen – eine
deutliche Maßnahme zur Steigerung der Attraktivität des
Wehrdienstes. Die wehrpflichtrechtlichen Regelungen
des jetzigen Entwurfs zielen in dieselbe Richtung, auch
wenn sie sich weniger auf den Wehrdienst als solchen,
sondern mehr auf die Rechtsstellung der Wehrpflichti-
gen beziehen.
Grundsätzlich bleibt es dabei, dass der Wehrdienst
vor der Aufnahme eines Studiums abzuleisten ist. Erst
ab dem dritten Semester kann eine Zurückstellung erfol-
gen, die dann aber auch eine Einberufung bis zum
25. Lebensjahr ermöglicht. Für die Umstellung des
Hochschulstudiums auf den Bachelor-/Masterabschluss
haben wir hier eine angemessene und den Wehrpflichti-
gen entgegenkommende Regelung gefunden. Ab dem
dritten Semester wird in der Regel einem Zurückstel-
lungsantrag bis zum Abschluss des Bachelor entspro-
chen. Folgt das Masterstudium unmittelbar dem Bache-
lorabschluss und baut es inhaltlich darauf auf, so kann
eine weitere Zurückstellung bis zu dessen Abschluss be-
antragt werden.
Auch für diejenigen Wehrpflichtigen, die einen soge-
nannten dualen Studiengang aufnehmen, der universitäre
und praktische Ausbildung miteinander verknüpft, ent-
hält der Entwurf erhebliche Verbesserungen. Sie wissen,
dass die höchstrichterliche Rechtsprechung einen dualen
Studiengang wie ein klassisches Hochschulstudium qua-
lifiziert mit der Folge, dass bislang eine Rückstellung
erst ab Erreichen des dritten Semesters beansprucht wer-
den kann. Mit der jetzt vorgesehenen Regelung ist unter
bestimmten Voraussetzungen auch eine Zurückstellung
bereits mit dem Beginn des dualen Ausbildungsganges
möglich. Weitergehende Regelungen sind aber nicht
mehr möglich, da sonst wegen der unbestimmten Dauer
von Studiengängen viele überhaupt nicht mehr zum
Wehrdienst einberufen werden können. Dies liefe auf
eine nicht zu rechtfertigende Privilegierung von Studie-
renden hinaus, was sich schon aus Gründen allgemeiner
Gerechtigkeit verbietet.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist das Ergebnis inten-
siver und umfassender Erörterungen. Mit ihm wird ein
meines Erachtens ausgewogener und begründeter Aus-
gleich zwischen unterschiedlichen Schwerpunktsetzun-
gen und Interessenlagen erreicht. Ich möchte an dieser
Stelle nochmals den Fachleuten der Bundestagsfraktio-
nen für die konstruktive Zusammenarbeit danken. Der
Gesetzentwurf stellt jetzt eine gute Grundlage für eine
breite parlamentarische Zustimmung dar, um die ich Sie
bitte.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Finanzierungsberatung für Studierwillige
und Studierende
– Förderung von Studierenden durch Aufbau
eines nationalen Stipendiensystems
– Studienfinanzierung ausbauen – Soziale Hür-
den abbauen
– Auswirkungen von Studiengebühren eva-
luieren – Monitoringsystem umgehend auf-
bauen
(Tagesordnungspunkt 13 a bis d)
Marion Seib (CDU/CSU): Wir sind uns alle einig,
dass das deutsche Hochschulwesen international wettbe-
werbsfähiger gemacht werden muss. Reformen sind not-
wendig; auch darin sind wir uns einig. Dass dafür auch
finanzielle Mittel bereitgestellt werden müssen, versteht
sich von selbst. Andernfalls wird sich eine Verbesserung
der Situation im Bereich Forschung und Lehre nicht ein-
stellen.
Wir müssen darüber reden, wie wir es schaffen, mög-
lichst noch mehr jungen Menschen aus bürgerlichen,
mittelständischen Familien ein Studium finanziell zu er-
möglichen. In Deutschland werden laut Deutschem Stu-
dentenwerk rund 2 Prozent der Studierenden durch ein
Stipendium gefördert. Berücksichtigt man nun, dass
etwa 3 Prozent der Kinder eines jeden Jahrgangs hoch-
begabt sind, ist die Begabten- und Nachwuchsförderung
in Deutschland noch nicht dort, wo sie sein könnte. Aber
wir arbeiten daran. Immerhin sind wir uns einig, dass der
Anteil der Geförderten auf 10 Prozent erhöht werden
soll.
Die Förderung von Studierenden ist ein wichtiges
Element zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit
Deutschlands. Die durch die Begabtenförderung bereit-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16241
(A) (C)
(B) (D)
gestellten Mittel sind von 80,5 auf 113 Millionen Euro
gestiegen, und sie werden bis zum Ende der Legislatur-
periode kontinuierlich weitersteigen.
Im Rahmen der Qualifizierungsinitiative wird beson-
ders Begabten aus der beruflichen Bildung durch die Ge-
währung von Aufstiegsstipendien ein Hochschulstudium
erleichtert, und natürlich werden mit dem seit 1. Januar
2008 in Kraft getretenen 22. Gesetz zur Änderung des
BAföG ab dem Wintersemester 2008/2009 der Bedarfs-
satz um 10 Prozent, die Freibeträge für das anrechenbare
Einkommen um 8 Prozent angehoben.
Damit wurde der Kreis der Geförderten erheblich er-
weitert. Dies wird voraussichtlich zu einer Steigerung
von 18 Prozent führen.
Außerdem verweise ich auf den Hochschulpakt und
die Exzellenzinitiative, die ebenfalls die strukturellen
und finanziellen Bedingungen für Studierende verbes-
sern sollen.
Das zeigt, dass die Chancengleichheit für Studierende
aus den sozialen Herkunftsgruppen mit mittleren und
niedrigen Einkommen eine gewisse Priorität im Ausbil-
dungsförderungsrecht besitzt.
Den Weg, wie ihn die FDP in ihrem Antrag „Förde-
rung von Studierenden durch Aufbau eines nationalen
Stipendiensystems“ vorschlägt, halte ich allerdings für
nicht ausreichend durchdacht. Grundsätzlich begrüße ich
den Vorschlag aus Nordrhein-Westfalen, die Wirtschaft
zur Unterstützung von Studierenden stärker in die Pflicht
zu nehmen und Anreize zur Vergabe von Stipendien zu
schaffen.
Von den knapp 2 Prozent Stipendieninhabern werden
nur rund 900 durch die Stiftung der Deutschen Wirt-
schaft finanziert. Immerhin sind es ja auch die Unterneh-
men, die den Fachkräftemangel beklagen. Im Bereich
Stipendien kann die deutsche Wirtschaft im internationa-
len Vergleich in der Tat noch aufholen. Zustiftungen an
die Stiftung der Deutschen Wirtschaft oder auch an die
Studienstiftung des deutschen Volkes sind jederzeit
möglich und willkommen. Dies wird sicher auch der
Imagepflege als gesuchter Arbeitgeber dienen. Insofern
stehen einer weiteren Harmonisierung und Erweiterung
des Stipendienwesens die Türen offen.
Die weitaus meisten Jugendlichen in Deutschland – rund
60 Prozent eines Altersjahrgangs – beginnen nach der
Schule eine duale Berufsausbildung in einem staatlich
anerkannten Ausbildungsberuf. Das bedeutet, die Aus-
bildung übernimmt der Betrieb. Das heißt, in der über-
wiegenden Zahl der Fälle gibt es keine staatliche Förde-
rung.
Warum sollte dann nicht auch die Wirtschaft im Be-
reich der akademischen Fachkräfte mitwirken? Stattdes-
sen wurde es bisher vor allem dem Staat bzw. dem Steu-
erzahler überlassen, die Akademiker auszubilden, und
die berufliche Ausbildung wurde vor allem durch die
Wirtschaft getragen. Allerdings ist darauf zu achten,
dass durch die Bezuschussung der Stipendien nicht das
bewährte System der Begabtenförderung ausgehebelt
wird.
Sie weisen in Ihrem Antrag zur Finanzierungsbera-
tung für Studierwillige auf die aus Ihrer Sicht beste-
hende Unübersichtlichkeit der Studienfinanzierungsan-
gebote – BAföG, Studienkredite, Stipendien – hin. Die
Bundesregierung soll deshalb aufgefordert werden, ein
Konzept zur frühzeitigen Finanzierungsberatung für Stu-
dierwillige und Studierende zu erarbeiten; insbesondere
Personen ohne Anspruch auf BAföG-Förderung sollen
„maßgeschneiderte Finanzierungspläne“ angeboten wer-
den.
Ihre plötzliche Freude am Aufbau neuer Bürokratien
überrascht mich!
Als bayerische Abgeordnete möchte ich hier anmer-
ken: Was die Studienfinanzierungsberatung betrifft,
übernehmen in Bayern die Studentenwerke diese Auf-
gabe, die wiederum alle Studierenden durch ihre Bei-
träge mitfinanzieren und die für die Wahrnehmung ihrer
Aufgaben zudem einen staatlichen Zuschuss erhalten.
Insoweit sehe ich keinen Handlungsbedarf, da die Bera-
tung schon besteht und anerkanntermaßen auch recht gut
funktioniert. Im Übrigen kann ich von einem erwachse-
nen Menschen, der nach der erreichten Hochschulzu-
gangsberechtigung ein Studium beginnen möchte, er-
warten, dass er sich in Eigeninitiative anhand der
Vielzahl an Angeboten und Möglichkeiten eine für ihn
passende heraussuchen und nutzen kann. Gerade von
den Liberalen hätte ich mehr Mut zum Vertrauen in die
Kräfte des Marktes und das Funktionieren der Selbstor-
ganisation der Betroffenen erwartet.
Nicht nur über das Vergleichen von Stiftung Waren-
test, sondern auch aus den Internetauftritten der KfW
und privater Geschäftsbanken sowie privater Beratungs-
seiten – „studis online“ – sind vorzügliche Übersichten
über das Marktangebot im Kreditsegment verfügbar.
Das unter anderem von BMBF, KMK, BA und HRK
mitgetragene Netzwerk „Wege ins Studium“ bietet auf
seiner Internetseite unter der Rubrik „Studium – wie fi-
nanzieren?“ eine Übersicht und weiterführende Hin-
weise und Links auch zu anderen Finanzierungsinstru-
menten wie Begabtenstipendien etc. Es kann nicht
Aufgabe des Bundes sein, dem durchaus funktionieren-
den Prozess der themenorientierten Informationsverbrei-
tung via Internet zusätzlich durch den Versuch eines öf-
fentlichen Beratungskonzepts Konkurrenz zu machen.
Die Beratungsaufgabe aufseiten der öffentlichen und öf-
fentlich beliehenen Institutionen ist da bei den Studen-
tenwerken schon richtig und ausreichend verankert.
Bund und Länder haben zudem auf dem gemeinsam
betriebenen Bildungsserver im Internet unter der Rubrik
„Studienfinanzierung/Studienkredite“ einen umfassen-
den Überblick über existierende Finanzierungsangebote
und Hinweise zu Vergleichen und Bewertungen Dritter
zusammengestellt, mit dessen Hilfe sich alle Interessen-
ten unmittelbar weiterinformieren und gezielt um Bera-
tung nachsuchen können.
Neue Beratungsstrukturen halte ich nicht für erforder-
lich, wohl aber die weitere Werbung für die vorhandenen
Informationssysteme.
16242 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008
(A) (C)
(B) (D)
Der Gerichtsentscheid des Bundesverfassungsge-
richts zum 6. Hochschulrahmenänderungsgesetz hat aus-
drücklich festgelegt, dass der Bund die Erhebung von
Studiengebühren nicht verbieten kann. Wenn die linke
Fraktion sich darüber hinwegsetzt und erneut ein Verbot
fordert, dann missachtet sie nicht nur die Entscheidung
eines Verfassungsorgans, sondern sie will auch in Zu-
kunft den nichtakademischen Steuerzahlern zumuten,
über ihre Steuern zu 90 Prozent die Ausbildung der
künftigen Akademiker zu bezahlen. Was an dieser Poli-
tik sozial sein soll, ist gänzlich unverständlich.
Monika Grütters (CDU/CSU): Zum wiederholten
Mal diskutieren wir hier im Deutschen Bundestag nun
Themen, die nur sehr begrenzt in die Zuständigkeit des
Bundes fallen. Das liegt in der Natur der Sache, denn
Hochschulthemen sind in der föderalen Ordnung der
Bundesrepublik nun einmal Ländersache. Und dennoch
versucht die Opposition, dort vor allem die Grünen und
die Linke, uns wiederholt derartige Debatten aufzudrän-
gen, haben sie doch beide in den Bundesländern wenig
Gelegenheit, sich zu profilieren, weil sie eben auch da in
der Opposition sind. Also versuchen wir uns im Bundes-
tag in einer Debatte, die in die Länder gehörte. Sei’s
drum.
Meine Kollegin Seib hat zu den Vorstellungen der
FDP über eine Finanzierungsberatung für Studierende
ausreichend Stellung bezogen, daher geht mein
Kommentar an Sie, die Linke, und auch an die Grünen,
die sich im föderalen Geflecht der Bundesrepublik nur
schlecht zurechtfinden.
Zunächst zu den Linken, die sich einmal mehr in
einem Reflex gegen Studiengebühren gefallen, ohne
auch nur annähernd realistische Vorschläge für eine aus-
kömmliche Hochschulfinanzierung zu machen. Und in
den wenigen Ländern, in denen Sie mitreden können,
wie Berlin zum Beispiel, toppen Sie diese weltfremde
Haltung auch noch durch eine Ablehnung neuer Rechts-
formen oder einer Flexibilisierung der Hochschul-
verfassungen.
Das ist nicht nur unverantwortlich und populistisch,
sondern basiert auch auf falschen Annahmen über die
Wirkung von Studienbeiträgen:
Die Behauptung beispielsweise, durch Studien-
beiträge würden junge Menschen vom Studium abgehal-
ten, ist falsch. Fakt ist dass in den Ländern, in denen Stu-
dienbeiträge erhoben werden, zum Beispiel Niederlande,
Australien, die Studienanfängerzahlen sogar gestiegen
sind. Die Gebühren werden hier für den Ausbau des Sys-
tems verwandt und kommen so den Studierenden selbst
zugute. Und auch bei uns in Deutschland ist es so, dass
private Hochschulen, die Studiengebühren erheben
– und diese übrigens durch entsprechende Stipendien für
Bedürftige oder Begabte kompensieren – sehr attraktiv
sind. Das gilt auch für Studierende mit geringerem
Elterneinkommen, wie das Beispiel Witten-Herdecke
zeigt: Dort ist der Anteil der BAFöG-Empfänger ge-
nauso hoch wie an staatlichen, kostenfreien Hochschu-
len.
Ein Verbot von Studiengebühren, das übrigens das
Bundesverfassungsgericht im Januar 2005 für unzulässig
erklärt hat, würde die Chance leichtsinnig aufs Spiel
setzen, die Hochschulen wenigstens etwas besser zu-
gunsten der Studierenden auszustatten. Studienbeiträge
definieren das Verhältnis zwischen zahlenden Nachfra-
gern und Anbietern der Lehrleistungen auch ganz neu:
Studierende werden nicht länger als Last begriffen, son-
dern die Hochschulen werben neuerdings mit bedarfsge-
rechten und differenzierten Angeboten in einem qualita-
tiven Wettbewerb um Studierende. Ganz entscheidend in
der Debatte aber ist, dass Sie sich endlich von dem Mär-
chen verabschieden, Studienbeiträge verschärften die so-
ziale Ungleichheit!
Wissenschaftliche Gutachten zeigen, dass das bei-
tragsfreie Studium de facto eine Umverteilung von arm
zu reich bedeutet: Die schlechter Verdienenden finanzie-
ren mit ihren Steuern den später besser Verdienenden das
Studium, die Krankenschwester finanziert das Medizin-
studium des Arztsohnes jedenfalls mit.
Auch das Argument, Arbeiterkinder würden durch
Studiengebühren vom Studium und somit vom sozialen
Aufstieg abgehalten, ist falsch. Die soziale Selektion, die
in Deutschland leider immer noch stärker ist als in ande-
ren europäischen Ländern, erfolgt nämlich, wie die
PISA-Studie jüngst wieder bestätigt hat, nicht beim
Übergang zwischen Schule und Universität, sondern
schon viel früher, beim Übergang von der Grund- zur
weiterführenden Schule.
Und zum Schluss erlaube ich mir auch den Hinweis
darauf, dass jüngste repräsentative Umfragen einmal
mehr belegt haben, dass eine deutliche Mehrheit der
Deutschen, 67 Prozent, nicht gegen, sondern für die Ein-
führung von Studienbeiträgen ist.
Hier manifestiert sich das Bewusstsein für den indivi-
duellen Wert eines Hochschulstudiums, das der Staat in
Deutschland deshalb so weitgehend finanziert, weil es
eben auch einen großen gesamtgesellschaftlichen Nut-
zen an unseren Akademikern gibt.
Als hochschulpolitische Sprecherin der CDU in Ber-
lin – und diese Themen sind ja eben Ländersache – bin
ich immer für sozialverträgliche Studienbeiträge einge-
treten, auch für ein entsprechend auszubauendes Stipen-
diensystem, das sich an Bedürftige und vor allem an Be-
gabte richtet.
Wir haben immer schon für die sogenannten nach-
laufenden Gebühren plädiert, wie sie jetzt in Hamburg
eingeführt werden sollen: Hier gibt es tatsächlich keine
abschreckende Wirkung, und im Blick zurück werden
die Absolventen den Wert ihres Studiums noch höher
schätzen.
Dass die Grünen ein Monitoring anmahnen, das diese
und andere Wirkungen neuerer Beitragsvarianten in eini-
gen Bundesländern beschreibt und bewertet, kann ich
verstehen – das ist sicher sinnvoll. Aber wie so vieles
auch ist dieses Ländersache. Daher gibt es ja auch bei
der KMK eine Ministerarbeitsgruppe Hochschulfinan-
zierung, die ein solches Monitoring zu liefern hat. Viel-
leicht mus man ihr Beine machen, aber den Bund damit
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16243
(A) (C)
(B) (D)
zu beauftragen, wäre eines von vielen föderalen Miss-
verständnissen.
Studienbeiträge haben ihren Schrecken verloren, denn
sie entfalten in vielen Ländern mittlerweile eine ver-
nünftige Wirkung. Zu dieser Vernunft sollten wir alle zu-
rückkehren!
Jörg Tauss (SPD): Die Frage einer ausreichenden,
tragfähigen und sozial sensiblen Studienfinanzierung ist
sicher eine zentrale Zukunftsfrage für den Innovations-
standard Deutschland. Wir brauchen über die Notwen-
digkeit der Steigerung der zuletzt wieder fallenden Stu-
dierendenquote – Studiengebühren lassen grüßen – als
Beitrag auch zur mittelfristigen Sicherung unseres Fach-
kräfteangebots an dieser Stelle sicher nicht zu streiten.
Aber die Frage sozial vertretbarer Finanzierungs-
modelle ist noch weit davor eine grundlegende Frage der
echten Chancengleichheit in der Hochschulbildung. Für
die SPD als Bildungspartei ist und bleibt die weiterhin
gültige Diagnose, dass soziale Herkunft und die finan-
ziellen Möglichkeiten der Eltern auch heute noch zu oft
über Bildungschancen entscheiden, eine der unerträgli-
chen Fehlentwicklungen unserer Zeit. Bildungschancen
sind Lebens- und damit Zukunftschancen.
Das ist auch der Grund, weshalb wir als SPD gemein-
sam mit dem Finanzminister Peer Steinbrück die Kraft-
anstrengung im letzten Jahr unternommen haben, das
BAföG deutlich auszuweiten und vor allem um 10 Pro-
zent zu erhöhen. Über 300 Millionen Euro wird allein
der Bund ab dem Wintersemester 2008/2009 jährlich zu-
sätzlich für bedürftige Studierende aufwenden.
Es ist und bleibt unbefriedigend, dass ein Teil dieser
Leistungsverbesserungen in einigen Ländern nicht bei
den Studierenden ankommen wird, sondern über die Stu-
diengebühren wohl letzten Endes die Landeshaushalte
entlasten wird. Wenn sie die Begleichung von Heizkos-
tenrechnungen als Beitrag zur Verbesserung der Studien-
bedingungen sehen wollen, dann wird ein Teil der Ge-
bühren sicher durchaus aufgabenbezogen verwendet.
Abgesehen davon, dass Studiengebühren ein bildungs-
politischer Irrweg sind, haben die Gebührenländer es
bisher auch versäumt, ihre schwarz-gelbe Campusmaut
den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts anzupas-
sen. Weder ist der Verzicht auf Gebühren für BAföG-
Empfänger flächendeckend gelungen, noch sind die An-
forderungen des Bundesverfassungsgerichts in Karls-
ruhe hinsichtlich der sozialverträglichen Ausgestaltung
auch nur im Ansatz berücksichtigt.
Die Koalitionsgespräche von CDU und GAL in Ham-
burg stellen an diesem Punkt zumindest Erleichterungen
für die betroffenen Studierenden in Aussicht, da sie
Karlsruhe ernster nehmen als die Union oder die FDP al-
lein, wenn das Konzept nachlaufender und einkommens-
abhängiger Gebührenerhebung denn dann tatsächlich
zum Tragen kommt.
Aber eine Erkenntnis hat Hamburg bereits jetzt ge-
bracht: Die Grünen wären für die Regierungsbeteiligung
bereit, Studiengebührenpartei zu werden. Bereits beim
ersten Lackmustest sind sie umgefallen, liebe Frau Sager
und liebe Frau Hinz. Es ist zu hoffen, dass die grünen
Kolleginnen und Kollegen in Hessen diese Scharte we-
nigstens zum Teil wieder auswetzen und die desaströse
Bildungspolitik von Roland Koch an dieser Stelle korri-
gieren helfen. Wenn nicht, dann ist die SPD die letzte
ernstzunehmende Partei in Bund und Ländern, die Stu-
diengebühren ablehnt. Wir werden Sie 2009 daran erin-
nern, liebe Freunde von den Grünen.
Die Studienfinanzierung steht heute neben dem El-
ternbeitrag und dem BAföG auf zwei weiteren, wenn
auch weit kleineren Säulen. Erstens bilden die Studien-
kredite der KfW eine sinnvolle Ergänzung des Studien-
finanzierungsangebots. Sie werden weitergeführt, auch
wenn die Resonanz weit hinter den Erwartungen der
KfW oder der Finanzmarktpuristen – wo auch immer sie
sich in diesen Tagen hin verkrochen haben – zurück-
bleibt. Auf keinen Fall wird es aber mit uns für Studien-
kredite eine Ausfallbürgschaft des Bundes geben. Unser
Augenmerk ist und bleibt auf denjenigen, die trotz vor-
handener Fähigkeiten ein Studium nicht finanzieren kön-
nen. Das ist ein Aspekt der Daseinsvorsorge und originär
öffentliche Aufgabe; das ist Bildungspolitik für eine
echte Chancengleichheit für alle, für die die SPD steht.
Eine zweite, in Deutschland viel zu wenig ausge-
prägte Säule stellt die Stipendienfinanzierung dar. Sie
liegt in Deutschland mit knapp 2 Prozent aller Studieren-
den alarmierend niedrig, ebenso wie die durchschnittli-
che Stipendienhöhe von 328 Euro monatlich. Deutsch-
land liegt hier weit zurück im Vergleich etwa zu Ländern
wie die Niederlande oder vor allem Skandinavien, die
laut aktuellen Studien des Hochschul-Informations-Sys-
tems im Vergleich um 20 bis sogar 40 Prozent höhere
Finanzierungsanteile von öffentlichen und privaten Sti-
pendien aufweisen.
Wir als Koalition haben uns daher das Ziel gesetzt,
die Begabtenförderung auszubauen und die Stipendien-
quote deutlich zu erhöhen. Entsprechende Weichenstel-
lungen sind in den Haushalt eingeflossen. So sind etwa
die Mittel für Begabtenförderungswerke für Studierende
um über 40 Prozent auf 113 Millionen Euro in 2008 er-
höht worden. Wir stehen zu dieser Politik, auch weil sie
komplementär zur BAföG-Erhöhung ist und die SPD so
eine vermeintlich „elitenorientierte“ Einseitigkeit der öf-
fentlichen Förderung ausschließen konnte.
Wer aber erneut seinen Beitrag nicht geleistet hat,
sind die Länder und ist die Wirtschaft. Die Realität sieht
verglichen mit den vollmundigen Ankündigungen der
Studiengebührenfreunde im Vorfeld des Gebühren-
urteils, es werde Zehntausende von Stipendien „regnen“,
desaströs aus. Die Wirtschaft hat sich faktisch verwei-
gert; die Länder ringen bis heute um ein abgestimmtes
Stipendienkonzept. Hier will die FDP erneut die öffentli-
che Hand als Inkubator nutzen und die gebrochenen Ver-
sprechungen des Privatsektors mit staatlichen Mitteln
teilweise kurieren. Das ist schon bemerkenswert.
Den Gipfel der Unverfrorenheit stellt sicher der
Pinkwart-Vorschlag dar, indirekt den Bund kräftig mit
zur Kasse zu bitten für eine Aufgabe, die Karlsruhe in
die Hände der Länder gelegt hat. Hinzu kommt die
Sprengkraft dieses FDP-Vorschlags für die Hochschul-
16244 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008
(A) (C)
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landschaft insgesamt, wenn man etwa die unterschiedli-
chen wirtschaftlichen und strukturellen Voraussetzungen
in den verschiedenen Hochschulregionen berücksichtigt.
Von einem „ebenen Spielfeld“ im angedachten Wettbe-
werb um Privatmittel kann hier sicher keine Rede sein.
So erfreulich jedes neue Stipendium für alle Bil-
dungspolitiker ist, so klar ist, dass die SPD-Bundestags-
fraktion dieses FDP-Manöver nicht mitmachen wird.
Oder klarer: Der Bund wird keinen finanziellen Beitrag
zur Finanzierung von Stipendiensystemen der Länder
leisten. Für uns hat die soziale Frage und die Regelung
in klaren Rechtsansprüchen Vorrang, weil nur sie bei der
Chancengleichheit in der Bildung ansetzt und nicht, wie
viele Stipendien, lediglich deren durch soziale Ungleich-
heit geprägtes Ergebnis in die Hochschulen hinein ver-
längert.
Aber die heute eingebrachten Anträge von der FDP
haben neben dieser Kritik auch ihr Gutes. Wir finden die
Idee einer Verbesserung der Finanzierungsberatung für
Studierende interessant und werden uns an der Klärung
der Frage beteiligen, wer das mit welchem Personal zu
welchen Kosten leisten kann – und wer dies finanziert.
Denn dazu sagen Sie nichts, Frau Pieper.
Ebenso ernüchternd wie die Politik der Grünen in
Hamburg stellt sich deren eingebrachter Antrag dar. Im
Grunde fordern Sie mit dem Studiengebühren-Monito-
ring sozusagen eine Beobachtung des Verlaufes eines
Schadens, den Sie selbst in Hamburg mit anrichten. Ich
wiederhole große Worte, wenn ich sage, auf das Handeln
kommt es an.
Die Linke stellt auf den ersten Blick bei einiger in-
haltlicher Übereinstimmung doch wieder einen unfinan-
zierbaren Wunschkatalog an Maßnahmen auf, die zudem
oft nicht einmal in der Zuständigkeit des Bundes liegen.
Leider spricht abschließend kaum ein Antrag die Ur-
sache für die Missstände an den Hochschulen und indi-
rekt auch für die Studiengebührendebatte an, nämlich
deren chronische Unterfinanzierung. Es ist überfällig,
endlich zu einem neuen Finanzierungsmodell zwischen
den Ländern zu kommen, das echte Anreize für Kapazi-
täten und für den Wettbewerb um Studierende setzt. Der
Hochschulpakt II oder auch der Qualifizierungsgipfel im
Herbst bieten Chancen, hier endlich im Sinne eines
„Geld folgt Studierenden“ weiterzukommen und dem
Stückwerk ein Ende zu setzen.
Zurück zu hier und heute: Alle heute eingebrachten
Anträge werden im Ausschuss sicher zu intensiven Dis-
kussionen führen, auf die wir uns bereits heute sehr
freuen. Alle drei Oppositionsfraktionen werden einiges
zu beantworten haben, wenn diese Anträge wirklich die
Grenzen ihrer Vorstellungskraft für die Studienfinanzie-
rung von morgen darstellen. Wenn nicht, sind wir gern
bereit zu hören, was sie eigentlich gemeint haben.
Uwe Barth (FDP): Die Fraktion der FDP legt Ihnen
heute zwei Anträge vor, die sich aus unterschiedlichen
Richtungen mit der Frage beschäftigen, wie junge Men-
schen ihr Studium finanzieren können.
Zum einen ist es unser Anliegen, mithilfe eines auf in-
ternationales Niveau angehobenen Stipendiensystems
die Instrumente, die jungen Menschen zur Finanzierung
ihres Studiums zur Verfügung stehen, um ein wesentli-
ches Element zu erweitern. Das ist vor allem deshalb
wichtig, weil es viele Fälle gibt, in denen Eltern nicht
ausreichend zur Unterstützung des studierwilligen Nach-
wuchses in der Lage sind, obwohl das Familieneinkom-
men so hoch ist, dass ein nennenswerter BAföG-An-
spruch eben nicht gegeben ist. BAföG funktioniert zur
Unterstützung von Studierenden aus einkommensschwa-
chen Elternhäusern. Diese Studenten profitieren darüber
hinaus von der sozialen Abfederung der Studienbeiträge.
In NRW zahlen – aufgrund der Deckelung der Rückzah-
lungshöhe auf 10 000 Euro – zwei Drittel der BAföG-
Empfänger faktisch keine Studienbeiträge. Die Behaup-
tung, dass gerade Kinder aus einkommensschwachen
Milieus zwangsläufig unter Studienbeiträgen zu leiden
hätten, ist also schlicht gelogen!
Doch es gibt tatsächlich ein Problemfeld: Die verges-
sene Mitte. Gerade weil das BAföG nur eine Minderheit
der Studierenden erreicht, ist es dringend notwendig,
dass auch den anderen Studentinnen und Studenten die
Möglichkeit offengehalten wird, unabhängig von einer
häufig unsicheren Unterstützung des Elternhauses und
des Jobbens ihren Lebensunterhalt während des Stu-
diums zu bestreiten. Dazu ist der Ausbau eines – auch
leistungsfördernd wirkenden – Stipendiensystems unver-
zichtbar. Derzeit werden nach Angaben des Deutschen
Studentenwerks lediglich rund 2 Prozent der Studieren-
den durch ein Stipendium gefördert. Es muss dringend
angestrebt werden, den Anteil der Studierenden, die ein
Stipendium erhalten, schrittweise auf mindestens
10 Prozent zu erhöhen. Auch wenn es sicher ein Spezial-
fall ist; gerade für ausländische Studenten ist ein Stipen-
dium mangels BAföG-Anspruch häufig die einzige Fi-
nanzierungsquelle. Privaten Stiftern steht es frei, auch
Ausländer in ihre Stipendienprogramme einzubeziehen;
der Staat sollte hier ein gutes Beispiel geben und Auslän-
der nicht von vornherein von seinen Programmen aus-
schließen. Gerade die Vergabe von Leistungsstipendien
eröffnet hier Möglichkeiten.
Mit unserem zweiten Antrag wollen wir eine indivi-
duelle Finanzierungsberatung etablieren, die jungen
Menschen zeigt, wie sie ihr Studium finanzieren können
und wie auch nach einem Studium anfallende Rückzah-
lungsverpflichtungen – sei es aus BAFöG oder auch Stu-
dienkrediten – bewältigt werden können. Wir wollen
diesen jungen Menschen, die etwas leisten wollen, die
sich Grundlagen für ein selbstbestimmtes Leben schaf-
fen wollen, die lernen wollen und eben das umsetzen,
was wir immer sagen – nämlich den einzigen Rohstoff,
über den unser Land verfügt, zu nutzen, dabei helfen,
dies auch tun zu können, und das ohne Angst, sondern
mit Zuversicht und auch in der Erwartung auf einen ganz
persönlichen Gewinn, denn auch das ist ein legitimer
Antrieb.
Die Erstellung eines maßgeschneiderten Finanzie-
rungsplans – beim Bau eines Hauses ganz selbstver-
ständliche Voraussetzung, selbst beim Kauf eines Autos
mit Überlegungen über Verbrauch, Versicherungsklasse
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16245
(A) (C)
(B) (D)
und Werkstattkosten ein völlig normaler Vorgang – ist
für die Finanzierung eines Studiums alles andere als nor-
mal. Laut aktueller HIS-Studie fühlen sich über 33 Pro-
zent der Studierenden in Finanzierungsfragen schlecht
bis sehr schlecht beraten. Bei Studenten mit „niedriger
sozialer Herkunft“ sind dies sogar 44 Prozent! Wie viele
tatsächlich schlecht beraten sind, bleibt offen. Hinsicht-
lich der Beratungsquellen befragt, gaben nämlich 77 Pro-
zent der Studierenden das „Elternhaus“ oder den „Freun-
deskreis“ an. Auf Informationen aus dem Dunstkreis des
Studentenwerks griffen 20 Prozent der Befragten zurück.
Wer sich ein kleines bisschen mit der Vielfalt studen-
tischer Lebensbedingungen zwischen München, Ilmenau
und Kiel auskennt, wer sich mit den vielfältigen Ange-
boten und Modellen zur Finanzierung des Lebensunter-
halts von Studierenden beschäftigt hat, den müssen diese
Umfrageergebnisse alarmieren. Der mangelhafte Profes-
sionalisierungsgrad bei der Finanzierungsberatung ist er-
schreckend – denn es ist kaum davon auszugehen, dass
die allermeisten Studenten auf ausgewiesene Finanz-
experten im Familienkreis verweisen können. Das Stu-
dentenwerk hat freimütig zugegeben, dass die vorhan-
dene Expertise mit Blick auf die Darlehenssituation auf
dem freien Markt höchst begrenzt ist. In diesem Lichte
ist es eben wichtig, zu unterscheiden, ob „sich gut bera-
ten fühlen“ mit „gut beraten sein“ gleichzusetzen ist.
Zweifel sind hier sicher angebracht. An diesem Umstand
muss sich etwas ändern – gerade aus diesem Grund for-
dern wir Bund, Länder und Hochschulen auf, ein umfas-
sendes Konzept zu entwickeln, um die hilfesuchenden
Studenten und künftigen Studenten besser über das
breite und gute Angebot zu informieren.
Das deutsche Hochschulwesen ist chronisch unter-
finanziert. Das ist kein Geheimnis. Den Hochschulen
fehlt Geld. Ebenso wenig ist neu, dass die öffentliche
Hand nicht die Möglichkeit hat, den Hochschulen die
Mittel zu geben, die notwendig wären, um diese interna-
tional konkurrenzfähig zu halten. Diese Tatsache ist
allen bekannt, die sich auch nur etwas mit der Materie
auseinandergesetzt haben. Doch leider fehlt die Bereit-
schaft, daraus Konsequenzen zu ziehen. Insbesondere
die linke Seite des Hohen Hauses akzeptiert den Sub-
stanzverlust des deutschen Hochschulwesens, ohne mit
der Wimper zu zucken. Hauptsache, die Klientel wird
nicht verschreckt. SPD, Linke und Grüne intonieren
Schauerlieder über die Folgen von Studienbeiträgen und
Darlehen.
In ihrem Antrag macht die Linke sogar die dringend
benötigten Stipendien schlecht. Die Genossen ängstigen
die Betroffenen lieber mit platten Vorurteilen über die
horrenden Darlehnszinsen und Schuldenberge am Ende
des Studiums. „Visionen“ haben sie nur, wenn sie den er-
lahmten AStA-Linken vom Trip an die „Bolivarische
Universität“ des Egomanen Chavez vorschwärmen – wir
erinnern uns an die letzte Plenarwoche!
Dabei sind es gar nicht die vermeintlich Armen, die
mit diesen wirren Ideen angesprochen werden oder sogar
davon profitieren könnten. Interessanterweise war es
Karl Marx, der nicht zu Unrecht angemerkt hat, dass,
„solange nur wenige Studenten Zugang zu höherer Bil-
dung haben, Gebührenfreiheit ein Subventionspro-
gramm für das Bürgertum darstellt.“ Wenn er auch viel
geirrt haben mag – da stimme ich dem Herrn mit dem
Rauschebart zu!
Das tut auch die taz, die nun nicht gerade als Haus-
und Hofblatt der FDP bekannt ist. In der Ausgabe vom
17. März 2008 heißt es:
Gerecht wäre es nicht etwa, Studiengebühren abzu-
schaffen, sondern sie für zehn Jahre in Deutschland
flächendeckend einzuführen.
Und weiter heißt es:
In Hamburg und Hessen kämpfen Studenten darum,
dass die Studiengebühren abgeschafft werden. Un-
terstützt werden sie von der parlamentarischen Lin-
ken, von SPD, Grünen und Linkspartei, die in schö-
ner Eintracht die Campusmaut als einen Verstoß
gegen Chancengleichheit skandalisieren. Das ist
nur auf den ersten Blick eine wunderbare Fusion
von außerparlamentarischer und parlamentarischer
Linker. Es ist eine verkehrte Welt.
Und weiter:
Das Bildungssystem steht Kopf. Kindergärten kos-
ten teilweise bis zu 400 Euro pro Monat und bereits
in der Grundschule werden Schüler mit zehn Jahren
einer harten Auslese unterzogen. Die Studenten
ficht das nicht an. Sie fordern die Abschaffung von
monatlich 83 Euro Studiengebühren und das Verbot
jeglicher Auslese für Elitekurse an Hochschulen.
Verkehrte Bildungswelt. Es wird Zeit, sie auf die
Füße zu stellen.
Ihr Antrag zeugt davon, dass diese verkehrte Welt ge-
nau die Ihre ist: Wer Studienbeiträge nicht per Gesetz
verbietet, soll auch keine Leistungen aus dem Hoch-
schulpakt erhalten. Das könnte man als Erpressungsver-
such bezeichnen; jedenfalls ist es klarer Ausdruck bru-
talstmöglicher Klientel- und Verteilungspolitik. BAföG
soll wieder Vollförderung werden, Kredite gehören ab-
geschafft, die Altersgrenze aufgehoben, Stipendien am
besten verboten und der Leistungsgedanke aus den
Hochschulen verbannt. Wie krank muss ein Hirn sein,
dem solch ein Wust von verqueren Gedanken und Vor-
stellungen entspringt? Kommt alle studieren, von der
Schule bis zur Rente, Vollversorgung ohne Gegenleis-
tung oder gar Rückforderung garantiert! Solch ein Sam-
melsurium von unglaublichem Unfug ist mir lange nicht
mehr untergekommen.
Der Antrag der Grünen liest sich da vergleichsweise
angenehm. Beim unterirdischen Niveau des PDS-Antra-
ges ist dies aber nicht wirklich ein Lob; das hätte der An-
trag denn auch nicht wirklich verdient.
Dem Anliegen, die Auswirkungen von Studiengebüh-
ren im Rahmen der empirischen Bildungsforschung zu
untersuchen, könnte ich ja noch folgen, auch wenn Der-
artiges ausweislich beispielsweise der HIS-Studien be-
reits erfolgt. Auch können wir auf positive Erfahrungs-
werte aus dem Ausland zurückgreifen. So liefert
Österreich geradezu ein Paradebeispiel. Nach einer An-
fangsflaute befinden sich die Studentenzahlen auf einem
16246 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008
(A) (C)
(B) (D)
„Allzeithoch“. Und Gutes lässt sich auch aus Deutsch-
land berichten. Der neue HIS-Bericht belegt, dass sich
die finanzielle Situation von Studierenden aus Gebüh-
renländern fast genauso positiv darstellt – 73 Prozent –
wie anderswo: 75 Prozent. Es gibt also keinen Grund,
das Ruder herumzureißen – eine gute Nachricht!
Einen großen Haken hat der Antrag dann aber doch:
Sie fordern im gleichen Antrag die Abschaffung allge-
meiner Studiengebühren. Dass wir Liberale ihn allein
deshalb nicht unterstützen können, wird niemanden
überraschen. Wie Sie allerdings eine empirische For-
schung an einem Objekt machen wollen, welches es
dann gar nicht mehr gibt, das würde mich schon interes-
sieren. Mit empirischen Daten werden ja gerade theoreti-
sche Annahmen am „lebenden Objekt“ überprüft. Fehlt
das Objekt, geht der Forschung der Gegenstand verloren.
Was soll das?
Zum Schluss möchte ich noch auf die aktuellen Dis-
kussionen in Hessen und Hamburg eingehen: Der Vor-
stoß von SPD, Linken und den Grünen, in Hessen ein
Studiengebührenverbot zu erzwingen, ist eine Katastro-
phe für die betroffenen Bildungseinrichtungen. Die hes-
sischen Hochschulen rechnen mit finanziellen Ausfällen
von 50 bis 100 Millionen Euro.
In Hamburg sind die Grünen dagegen etwas weiter.
Dort sitzen sie ja fröhlich mit am Tisch und haben eine
vermurkste, umständliche Form der Studiengebühren
mit der CDU ausgehandelt. Das dortige Modell der
„nachgelagerten“, also erst nach Abschluss des Studiums
erfolgenden Beitragserhebung halte ich jedoch aus meh-
reren Gründen für ungeeignet: Den Hochschulen wird
Geld vorenthalten, weil diese Zahlungen erst viel später
erfolgen. Es nützt auch den Betroffenen nichts: zum ei-
nen, weil sie selbst nicht in den Genuss ihrer eigenen
Leistung kommen, und zum anderen, weil auch eventu-
ell aufgenommene Kredite – wenn überhaupt – erst nach
Abschluss des Studiums zurückgezahlt werden müssen,
während hier den Hochschulen das Geld aber unmittel-
bar zur Verfügung steht. Dass eine völlig unnütze zusätz-
liche Bürokratie aufgebaut wird, komplettiert die Män-
gelliste des Modells.
Die Pressemitteilung des Kollegen Gehring vom
18. Februar mit dem sperrigen Titel „Keine Studienge-
bühren statt neuer Stipendien“ ist heute, kaum sechs Wo-
chen später, schon wieder Makulatur. In dem Pressepa-
pierchen werden die Studienbeiträge noch als „Ursache
allen Übels“ bezeichnet und im selben Zug den FDP-
Vorstoß für ein nationales Stipendiensystem abgelehnt.
Aber nun ist vielleicht alles anders? Jetzt, wo die Grünen
Sinn, Zweck und Notwendigkeit von Studienbeiträgen
offenbar erkannt haben und ihre Einführung unterstüt-
zen, sind jetzt auch die Vorbehalte gegenüber zusätzli-
chen Stipendien gewichen? Ich bin gespannt!
Lassen Sie uns gemeinsam für ein umfassendes Sti-
pendiensystem eintreten; bringen wir Licht in den Finan-
zierungsdschungel und verbessern wir die Beratungs-
angebote für künftige Studierende! Interessant wäre es
doch, zu erfahren, ob die Regierungsfraktionen außer
dem reflexhaften Hinweis, dies alles sei doch Länder-
sache, auch eine inhaltlich Meinung zu den Themen ha-
ben. Ich freue mich deshalb auf die weiteren Beratungen.
Cornelia Hirsch (DIE LINKE): Die heute von der
FDP vorgelegten Anträge zur Studienfinanzierung haben
beide einen entscheidenden Fehler. Dieser Fehler ist,
dass in beiden davon ausgegangen wird, dass allgemeine
Studiengebühren ein wichtiges politisches Ziel und alter-
nativlos sind. Nie war diese Einschätzung verkehrter als
heute, wo es in Hessen gelingt, was vor einigen Monaten
noch undenkbar schien: Das erste Bundesland, das allge-
meine Studiengebühren eingeführt hat, ist dabei sie
wieder abzuschaffen! Das ist ein Riesenerfolg für all die-
jenigen, die in den letzten Jahren immer wieder uner-
müdlich gegen Studiengebühren auf die Straße gegangen
sind. Die Linke kämpft in und außerhalb des Parlaments
dafür, dass Hessen kein Einzelfall bleibt. Das Studium
muss endlich wieder bundesweit gebührenfrei werden!
Für diese Forderung werden wir uns auch in die Födera-
lismusreform II stark machen. Wir sind und bleiben kon-
sequent gegen Studiengebühren in jeder Form!
Im Gründungsaufruf des Aktionsbündnisses gegen
Studiengebühren, in dem Die Linke Mitglied ist, heißt
es: „Studiengebühren sind aus gesellschafts-, sozial- und
bildungspolitischen Gründen abzulehnen. Sie lösen kein
einziges Problem, sondern verschärfen die Krise des Bil-
dungssystems.“ Dem ist nichts hinzuzufügen! Studien-
gebühren sind unsozial. Sie machen den Zugang zu Bil-
dung vom Geldbeutel der Eltern abhängig. Das Recht
auf freie Bildung für alle wird damit abgeschafft. Bil-
dung zur Ware und zur Privatsache gemacht. Schon jetzt
machen sich erste Auswirkungen von Studiengebühren
hierzulande bemerkbar. So geht die Zahl der Studienan-
fängerinnen und Studienanfänger zurück und mehr und
mehr werden kritische Wissenschaften aus den Vorle-
sungsverzeichnissen gestrichen. Studiengebühren be-
nachteiligen insbesondere Frauen. Eine am Freitag
veröffentlichte Studie des HIS zeigt: 31 Prozent der
weiblichen, aber nur 19 Prozent der männlichen Befrag-
ten, die kein Studium im Jahrgang 2006 aufgenommen
haben, sehen sich nicht in der Lage für anfallende Stu-
diengebühren aufzukommen. Sehr geehrte Damen und
Herren von der Bundesregierung! Deshalb beenden Sie
endlich diese unsoziale Politik und nehmen sie ihre Ver-
antwortung wahr, bundesweit für ein gebührenfreies Stu-
dium einzutreten!
Damit will ich zu den uns heute vorliegenden Anträ-
gen kommen: Die Linke hält weder den Antrag der FDP
mit der Forderung nach einer besseren Finanzierungsbe-
ratung für Studierende, noch den Antrag der Grünen mit
der Forderung nach einem Studiengebührenmonitoring
für ausreichend. Beide Fraktionen haben sich durch ihr
Agieren in den Ländern als Bündnispartner für Studie-
rende disqualifiziert. Insbesondere die Grünen haben in
Hamburg ihr Versprechen, Studiengebühren abzuschaffen
gebrochen! Ich bin deshalb gespannt, was die Grünen
Hochschulgruppen künftig bei Wahlen zu den studenti-
schen Interessenvertretungsgremien an den Hochschulen
plakatieren wollen. Am treffendsten wäre wahrschein-
lich: „Wir sind ein bisschen für und ein bisschen gegen
Studiengebühren – je nachdem wie wir schneller an die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16247
(A) (C)
(B) (D)
Regierung kommen!“ Wir finden es erschreckend, dass
sich ausgerechnet die Grünen zum Wegbereiter und Ret-
ter allgemeiner Studiengebühren machen lassen!
Die Frage der Studienfinanzierung ist aber nicht nur
ein Thema in den Ländern. Wenn die Bundesregierung
ein ernsthaftes Interesse daran hat, den Zugang an die
Hochschulen zu öffnen und soziale Ungleichheiten ab-
zubauen, muss deutlich mehr passieren, als FDP und
Grüne mit ihren Anträgen vorschlagen. Wir stellen in
unserem Antrag deshalb ganz konkrete Forderungen auf:
Erstens geht es uns darum, dass die Bundesregierung
den Ländern für ihren unsozialen Gebührenkurs nicht
mehr länger Rückendeckung gibt. Insbesondere muss
hierzu dem ratifizierten UN-Sozialpakt zur Gültigkeit
verholfen werden, indem die Ablehnung von Studienge-
bühren in den Landeshochschulgesetzen zur Vorausset-
zung an der Beteiligung zum Hochschulpakt gemacht
wird oder im Zuge der geplanten Föderalismusreform II
die Unentgeltlichkeit der Bildung im Grundgesetz veran-
kert wird.
Zweitens muss das BAföG grundlegend ausgebaut
werden. Die Bildungsexpansion wäre ohne eine Vollför-
derung durch das BAföG in den 1960er Jahren undenk-
bar gewesen. Wer mehr Studierende an den Hochschulen
will und vor allem endlich den beschämend niedrigen
Anteil der Studierenden aus nicht akademischen Haus-
halten steigern möchte, muss das BAföG auf eine Voll-
förderung umstellen! Um dem sozialen Knick im Bil-
dungstrichter nach der Sekundarstufe I entgegen zu
wirken, brauchen wir zudem endlich wieder ein umfas-
sendes BAföG für Schülerinnen und Schüler. Außerdem
ist es absurd, dass Studierende, die doch eindeutig voll-
jährig sind, immer noch als Anhängsel ihrer Eltern wahr-
genommen werden. Die Linke will deshalb endlich eine
elternunabhängige Förderung im BAföG erreichen. Auch
muss die diskriminierende Altersgrenze von 30 Jahren
endlich der Vergangenheit angehören. Wir sollten es
vielmehr begrüßen, wenn junge Menschen bereit sind
sich weiter zu qualifzieren! Durch die Umstellung der
Studienstruktur auf Bachelor- und Masterstudiengänge
haben sich viele Finanzierungsprobleme für die Studie-
renden ergeben, bei denen nachgebessert werden muss.
Drittens muss der Antrag der FDP zum Aufbau eines
nationalen Stipendiensystems unmissverständlich zu-
rückgewiesen werden. Das vorgeschlagene Stipendien-
system kann die soziale Auslese beim Hochschulzugang
nicht vermindern. Im Gegenteil: Er wird die Türen der
Hochschulen für Jugendliche aus nichtakademischen
und finanzschwachen Elternhäusern weiter schließen
und er wird die Privatisierung der Hochschulen weiter
beschleunigen. Die Studierenden brauchen eine verläss-
liche Studienfinanzierung. Ein Rechtsanspruch auf Stu-
dienfinanzierung wie ihn das BAföG vorsieht, ist daher
unerlässlich.
Ich hoffe, dass wir in den Ausschussberatungen zu
diesen Forderungen Einigkeit herstellen können.
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn
wir heute über Studienfinanzierung reden, dann müssen
wir auch über aktuelle Entwicklungen in Hessen und
Hamburg reden: In Hessen hat gestern auf Antrag von
Grünen und SPD die vollständige Abschaffung der
schwarzen Studiengebühren die erste parlamentarische
Hürde genommen. Der rot-grüne Gesetzentwurf ist so-
lide gegenfinanziert und verursacht keine Einnahmever-
luste für die Hochschulen. Das zeigt: Wo ein politischer
Wille ist, da gibt es auch einen finanzpolitischen Weg.
In Hamburg ist Schwarz-Grün für Ole von Beust eine
Chance, seine bisher falsche hochschulpolitische Linie
zu korrigieren. Unser Ziel, die Studiengebühren voll-
ständig abzuschaffen, haben wir dabei gegenüber der
Union noch nicht durchsetzen können. Der voraussicht-
liche Koalitionskompromiss bringt aber eine deutliche
Entschärfung. Die neue Lösung entspricht nicht unserem
Ziel; sie ist aber unbestreitbar besser als die bestehende.
Damit ist klar: Wir Grüne kämpfen bundesweit wei-
terhin für einen kostenfreien Hochschulzugang und tra-
gen dazu bei, Studiengebühren für alle ab dem ersten Se-
mester zu überwinden. Unser Ziel ist und bleibt die
Abschaffung der derzeitigen Unimaut in den Ländern.
Mit der Abschaffung in Hessen und der deutlichen Ent-
schärfung in Hamburg haben wir Grüne eine Trend-
wende eingeleitet: Die bisherige Studiengebührenfront
bröckelt! Das ist eine gute Nachricht für alle Studieren-
den.
Die Campusmaut könnte bundesweit zum Auslauf-
modell werden, wenn es nicht in fünf weiteren Bundes-
ländern schwarze oder schwarz-gelbe Mehrheiten gäbe,
die am unsozialen Bezahlstudium festhalten. Solange es
diese Studiengebühren noch gibt, müssen wir damit um-
gehen. Mit unserem heutigen Antrag fordern wir daher
Bund und Länder auf, die Auswirkungen von Studienge-
bühren systematisch und regelmäßig zu evaluieren.
Die Daten, die uns bislang vorliegen, liefern klare
Hinweise darauf, dass Studiengebühren junge Menschen
vom Studium abschrecken, insbesondere Studienberech-
tigte aus einkommensschwachen und hochschulfernen
Familien. Diese ersten Belege reichen noch nicht aus,
vor allem dann nicht, wenn sie von Gebührenbefürwor-
tern á la FDP und CDU partout nicht zur Kenntnis ge-
nommen werden.
Daher brauchen wir endlich ein systematisches, von
Bund und Ländern getragenes Monitoringsystem, das
die Auswirkungen der Unimaut auf Studierende und Stu-
dienberechtigte differenziert untersucht. An einem sol-
chen Instrument müssten übrigens gerade auch die Ge-
bührenbefürworter, die meinen, dass ihre Unimaut
keinen Schaden anrichtet, interessiert sein. Denn wenn
Studiengebühren so harmlos sind, wie Sie behaupten,
dann gibt es auch nichts zu verheimlichen – aber mittels
Monitoring umso mehr zu erforschen.
Doch es geht hier nicht nur um einen gutes politisches
Argument, sondern auch um einen klaren verfassungs-
rechtlichen Auftrag: Das Bundesverfassungsgericht hat
2005 klargestellt, dass ein Eingreifen des Bundes in Sa-
chen Studiengebühren gerechtfertigt ist, wenn diese die
Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im Bundesge-
biet beeinträchtigen. Wie aber soll der Bund jemals in
16248 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008
(A) (C)
(B) (D)
Erfahrung bringen, ob sein Eingreifen erforderlich ist,
wenn er die Folgen der Studiengebühren nicht genau un-
tersucht? Wer sich also heute einem systematischen
Gebührenmonitoring verweigert, zeigt sowohl dem Bun-
desverfassungsgerichts als auch den Sorgen der Studie-
renden die kalte Schulter.
Die FDP hat auch etwas zu der heutigen Debatte bei-
getragen. Immerhin beschäftigen auch Sie sich mit der
Frage der Studienfinanzierung. Und offenbar erkennen
sogar Sie, dass die Finanzierungssituation vieler Studie-
render prekär ist. Die Finanznöte der Studierenden sind
aber nicht allein durch eine bessere Beratung zu behe-
ben. Vielmehr braucht es ein stärkeres BAföG, das Aus
für die Campusmaut und keine Schuldenberge durch
Kredite.
Ein nationales Stipendiensystem á la FDP mag zu-
nächst gut klingen, widerspricht aber ihrem sonstigen
hohen Loblied auf die föderalen Zuständigkeiten. Wa-
rum gerade der Bund nun die Studiengebührensuppe der
Länder auslöffeln sollte, bleibt mehr als schleierhaft.
Wieso startet Minister Pinkwart nicht sein eigenes Lan-
desstipendienprogramm NRW? Wieso gewinnt er nicht
die Wirtschaft in NRW dafür, ein Programm aufzulegen?
Da hat er noch viele Hausaufgaben zu machen.
Wenn es der FDP darum geht, die sozialen Auswir-
kungen der von Ihnen mit eingeführten Unimaut auszu-
bügeln, gebe ich Ihnen einen einfachen Ratschlag:
Setzen auch Sie sich dafür ein, die derzeitigen Studien-
gebühren abzuschaffen und das Bafög weiter zu stärken.
Das hilft den Studierenden deutlich mehr als Ihre An-
träge.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzes
zur Änderung des Strafgesetzbuches (Tages-
ordungspunkt 15)
Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
CSU): Nach der Katastrophe des von Deutschland aus-
gelösten Zweiten Weltkrieges war für die Mütter und
Väter des Grundgesetzes ein Bekenntnis für den neu auf-
zubauenden Staat unumstößlich: „Von deutschem Boden
soll nie wieder Krieg ausgehen.“
Dieses Prinzip des friedlichen Zusammenlebens der
Völker hat in Art. 26 Abs. 1 des Grundgesetzes seinen
konkreten Niederschlag gefunden. Der stellt „insbeson-
dere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten“
unter das Verdikt der Verfassungswidrigkeit und er for-
dert, solche Handlungen unter Strafe zu stellen. Nach
dem ausdrücklichen Wortlaut des Grundgesetzartikels
wird ausschließlich die Vorbereitung als verfassungs-
widrig qualifiziert. Wenn jedoch schon die Vorbereitung
eines Angriffskriegs von Verfassungswegen verboten ist,
dann ist erst recht auch die Führung eines Angriffskrie-
ges verfassungswidrig. So die logische Schlussfolge-
rung, die sowohl von namhaften Kommentatoren als
auch durch eine Entscheidung des Bundesverwaltungs-
gerichts aus dem Jahr 2005 gestützt wird.
Im Verfassungsrecht kann ein solcher Schluss gezo-
gen werden; im Strafrecht verbietet sich dies, weil eine
solche Analogie gegen das Analogieverbot des Art. 103
Abs. 2 Grundgesetz verstoßen würde.
Genau an dieser Stelle setzt nun der von der Fraktion
Die Linke vorgelegte Gesetzentwurf an, der auf eine Än-
derung des § 80 des Strafgesetzbuches abzielt. Die im
Jahr 1968 mit dem 8. Strafrechtsänderungsgesetz einge-
führte Vorschrift bestraft die Vorbereitung eines An-
griffskriegs, an dem die Bundesrepublik Deutschland be-
teiligt sein soll und dadurch die Gefahr eines Krieges für
die Bundesrepublik herbeiführt, mit lebenslanger Frei-
heitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jah-
ren.
Nun wird Herr Kollege Nešković behaupten, § 80
StGB setze den Gesetzgebungsauftrag des Art. 26 Abs. 1
Satz 2 GG nur teilweise um. Denn nicht nur die Vorbe-
reitung eines Angriffskrieges sei unter Strafe zu stellen,
sondern auch die Auslösung oder Durchführung eines
solchen. Das Führen des Angriffskriegs selber sei jedoch
nach der derzeitigen Gesetzeslage nicht strafbar. Zum
Beweis, dass es sich hierbei nicht um eine lediglich theo-
retische Frage handelt, zieht die Linksfraktion eine Ant-
wort des Generalbundesanwalts auf eine Strafanzeige
von Friedensinitiativen gegen Mitglieder der damaligen
rot-grünen Bundesregierung aus dem Jahr 2006 heran.
Darin kam der Generalbundesanwalt zu dem Schluss,
dass nach dem Wortlaut der Vorschrift nur die Vorberei-
tung an einem Angriffskrieg und nicht der Angriffskrieg
selbst strafbar sei, sodass auch die Beteiligung an einem
von anderen vorbereiteten Angriffskrieg nicht strafbar
sei. Solchen Interpretationen des § 80 StGB soll nach
dem Willen der Linksfraktion künftig durch eine Ergän-
zung und Präzisierung des Tatbestands der Boden entzo-
gen werden.
Auf den ersten Blick mag die Argumentation der
Linksfraktion etwas für sich haben. Ein zweiter und tie-
fer gehender Blick in die Materie zeigt jedoch, dass man
es sich so einfach nicht machen kann.
Schon der Gesetzgeber des Jahres 1968 hatte erhebli-
che Schwierigkeiten mit der einfachgesetzlichen Umset-
zung des Verfassungsauftrages. Das Problem lag und
liegt in der Unbestimmtheit des Begriffs „Angriffs-
krieg“; denn eine allgemein akzeptierte völkerrechtliche
Definition dieses Begriffs bestand weder im Jahr 1968
noch gibt es sie heute. Der damalige Gesetzgeber hat je-
doch eine Anknüpfung des Begriffs des Angriffskriegs
an das Völkerrecht gewollt. Dass es im Völkerrecht nach
wie vor an einer verbindlichen Definition des Angriffs-
kriegs fehlt, zeigt sich auch im Römerstatut des Interna-
tionalen Strafgerichtshofs (IStGH-Statut). Nach Art. 5
Abs. 2 IStGH-Statut wird die Gerichtsbarkeit des Inter-
nationalen Strafgerichtshofs in Den Haag über das Ver-
brechen der Aggression so lange nicht ausgeübt, bis auf
internationaler Ebene „eine Bestimmung angenommen
worden ist, die das Verbrechen definiert und die Bedin-
gungen für die Ausübung der Gerichtsbarkeit im Hin-
blick auf dieses Verbrechen festlegt“. Eine solche Ver-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16249
(A) (C)
(B) (D)
ständigung wurde bislang nicht erzielt. Wie zu hören ist,
gestalten sich die entsprechenden Verhandlungen eher
schwierig.
Vor diesem Hintergrund wird das Anliegen der Links-
fraktion in den anstehenden Beratungen im Rechtsaus-
schuss kritisch zu bewerten sein, zumal Straftatbestände
wegen des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebots
restriktiv auszulegen sind. Hierin liegt der wesentliche
Mangel des Gesetzentwurfs. Es begegnet nämlich tief-
greifenden Bedenken, mit einem in der völkerrechtli-
chen Diskussion noch offenen Begriff wie dem des An-
griffskrieges einen Straftatbestand weiter auszubauen
und dies als eine „Präzisierung des Straftatbestandes“
anzupreisen. Aber nicht nur deswegen ist der Gesetzent-
wurf der Linksfraktion kritisch zu beurteilen. So soll
nach deren Willen die einschränkende Bestimmung,
nach der an dem Angriffskrieg die Bundesrepublik
Deutschland beteiligt sein muss, ersatzlos wegfallen.
Der Sinn erschließt sich schnell: Die Linken wollen da-
mit künftig das Verhalten ausländischer Staaten vor
deutsche Strafgerichte bringen, um das Instrument des
Strafprozesses für politische Zwecke zu instrumentali-
sieren. Dazu werden wir ihnen die Hand nicht reichen.
Schon der Gesetzgeber von 1968 hat dieses Problem klar
erkannt und ausgeführt, dass „es nicht Aufgabe deut-
scher Strafgerichte sein kann, eine Art internationale Ge-
richtsbarkeit auszuüben“. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Jörn Thießen (SPD): Die Fraktion der Linken ist von
ihrem auch in diesem Punkte unsinnigen Tun nicht abzu-
bringen. Ihnen geht es in Wahrheit nicht um die Wahrheit –
es geht Ihnen darum, auf einen höchstselbst hingeworfe-
nen Misthaufen zu steigen und von dort herab Ihr Gega-
cker über den eigenen Hühnerhof schallen zu lassen.
2003 wollten Sie Kanzler Schröder verklagen, weil er den
USA Überflugrechte auf dem Weg in den Irak gewährte,
und wegen der deutschen Beteiligung an AWACS-Flü-
gen. Weil der Generalbundesanwalt Nehm Ihnen damals
erklärt hat, dass dies Unfug sei, versuchen Sie es jetzt
über eine Änderung des § 80 StGB, in der Hoffnung, dass
Frau Harms beim nächsten Mal wenigstens einen An-
fangsverdacht annehmen muss.
Die Frage ist doch, ob es bei Ihnen irgendjemanden
gibt, der sich wirklich für die Materie interessiert, oder
ob Sie nur wieder einmal mit Ihrer PR-Arbeit auf die
Sahne hauen wollen. Tatsache ist, dass Sie fünf Jahre
später diese Vorlage aus dem Eimer ziehen und als Ge-
setzentwurf einbringen, dessen Quintessenz darin be-
steht, ex post all jene bestrafen zu wollen, die dafür ge-
sorgt haben, dass Deutschland nicht in einen Krieg im
Irak verwickelt wurde. Das ist doch weder anständig
noch intellektuell redlich.
Sie schreiben:
Die Abweisung der Strafanzeige seitens des Gene-
ralbundesanwalts macht eine Ergänzung und Präzi-
sierung des Straftatbestandes erforderlich.
Nichtjuristen wie mir drängt sich da der Eindruck auf,
dass Sie der interessanten Meinung zu sein scheinen,
man könne Gesetze einfach so lange kneten, bis sie der
eigenen Wunschvorstellung vom strafrechtlich Relevan-
ten entsprechen. Da wünsche ich Ihnen viel Glück bei
dieser anspruchsvollen Aufgabe, gehe aber davon aus,
dass das Rechtsstaatsverständnis am Ende über die poli-
tische Opportunität obsiegen wird.
Während wir uns nun in der kommenden Zeit mit Ih-
rem Gesetzentwurf beschäftigen werden, fordere ich Sie
auf, Ihre dem zugrunde liegenden Gedanken auch ein-
mal in einer Schule, einer Akademie, einer Kaserne zu
vertreten. Ich fordere Sie auf, Ihre Haltung möglichst
klar in ein Programm zu packen und einer breiten Öf-
fentlichkeit zugänglich zu machen.
In meinem Heimatland Schleswig-Holstein findet
dies an keinem einzigen Ort statt. Das ist aber dringend
notwendig, damit sich die Menschen ein Urteil über Sie
bilden können. Wie dieses ausfallen wird, das weiß ich
schon heute. Deshalb danke ich Ihnen für diesen Gesetz-
entwurf, der im kommenden Wahlkampf wunderbare
Argumente gegen Sie liefern wird.
Dr. Matthias Miersch (SPD): Selbstverständlich
werden werden wir den hier gestellten Antrag mit der
notwendigen Sorgfalt in den Ausschüssen beraten. Aller-
dings möchte ich bereits an dieser Stelle einige Punkte
unmissverständlich klarstellen:
Erstens. Wenn der Antrag suggerieren soll, dass im
Falle der hier beantragten Änderung des § 80 StGB Mit-
glieder der rot-grünen-Bundesregierung in der 14. und
15. Legislaturperiode hätten strafrechtlich belangt wer-
den können, so ist dies absurd. Es ist das historische Ver-
dienst der rot-grünen Bundesregierung und namentlich
das Verdienst des damaligen Bundeskanzlers Gerhard
Schröder und des Außenministers Joschka Fischers, dass
sich die Bundesrepublik Deutschland nicht am Irak-
Krieg beteiligt hat. Jeden Tag können wir noch heute se-
hen, dass diese Entscheidung vollständig richtig gewe-
sen ist. Zudem – wenn wir uns an die Stellungnahmen
maßgeblicher Politikerinnen und Politiker in diesem
Haus erinnern, die eine Beteiligung forderten – können
wir feststellen, dass diese Entscheidung zwischen den
Fraktionen hochumstritten gewesen ist, sodass die
Leistung nicht hoch genug gewürdigt werden kann.
Ich finde, es gehört zur Redlichkeit in der Politik
dazu, die Leistung anderer Parteien in einem entspre-
chenden Kontext auch zu würdigen. Deshalb ist die Ver-
bindung des Antrages von der Fraktion Die Linke mit
dem Regierungshandeln in der 14. und 15. Legislaturpe-
riode unangemessen.
Insoweit ist auch zu betonen, dass der Generalbundes-
anwalt in seiner Einstellungsverfügung auf zahlreiche
Aspekte eingeht, die einen Anfangsverdacht nicht be-
gründen und die bereits gegen das Vorhandensein von
Anhaltspunkten für das Vorliegen einer Straftat spra-
chen. Nur ein paar dieser Gründe möchte ich nennen:
Auch der Generalbundesanwalt betont, dass Bundes-
kanzler Schröder bei zahlreichen Gelegenheiten immer
wieder bekundet habe, dass sich Deutschland unter kei-
nen Umständen an einem Krieg gegen den Irak beteili-
gen werde.
16250 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008
(A) (C)
(B) (D)
Der Generalbundesanwalt geht ausführlich auf die
Frage des Merkmals „Angriffskrieg“ im § 80 StGB ein
und weist auf die Tatsache hin, dass kein allgemein aner-
kannter und auch nur einigermaßen ausdifferenzierter
Begriff der völkerrechtswidrigen bewaffneten Aggres-
sion gegeben sei. Gewalt könne im Einzelfall auch völ-
kerrechtlich zulässig sein. Im Rahmen der strafrechtli-
chen Prüfung sei nicht zu entscheiden, ob die Anwendung
von Gewalt durch die Vereinigten Staaten völkerrechtlich
zulässig sei.
All diese Aspekte müssen berücksichtigt werden. Lei-
der geht der Antrag auf diese Umstände in keiner Weise
ein. Da vielmehr unterstellt wird, es bestünden Rechtslü-
cken, komme ich zur nächsten Klarstellung:
Zweitens. Art. 26 des Grundgesetzes regelt eindeutig:
Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht
vorgenommen werden, das friedliche Zusammenle-
ben der Völker zu stören, insbesondere die Führung
eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfas-
sungswidrig.
Die Verfassungslage ist somit klar, sodass auch des-
halb keinesfalls davon gesprochen werden kann und
darf, es bestünden irgendwelche Rechtslücken.
Drittens. Aufgrund der Verfassungslage und auf der
Basis internationaler Grundlagen einschließlich der ent-
sprechenden Gerichtsbarkeiten wäre es insoweit heute
möglich, Aggressoren zu belangen bzw. in entsprechen-
den Fällen auch zu intervenieren. Eine Regelungslücke,
um ein rechtswidriges Verhalten in diesem Feld zu ver-
hindern, erkenne ich insoweit nicht.
Allerdings ist das Strafrecht nach Auffassung des Ge-
neralbundesanwalts enger als die Verfassungsnorm, wes-
halb ich zum vierten und letzten Punkt komme:
Viertens. § 80 StGB belegt die Vorbereitung eines
Angriffskrieges und die dadurch entstehende Gefahr ei-
nes Krieges für die Bundesrepublik Deutschland mit le-
benslanger Freiheitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe nicht
unter zehn Jahren. Die Norm setzt also bereits bei der
Vorbereitung eines entsprechenden Krieges an. Der Ge-
setzgeber hatte klar vor Augen, dass von deutschem Bo-
den niemals mehr ein Krieg ausgelöst werden dürfe. Die
Durchführung setzt eine Vorbereitung voraus, sodass der
Ansatz des Strafrechts in § 80 logisch und konsequent
ist.
Nun werden wir uns mit der Frage beschäftigen, ob
die beantragte Änderung des § 80 StGB notwendig und
zweckmäßig ist. Dabei werden die auch in der Einstel-
lungsverfügung genannten Aspekte eine Rolle spielen
müssen, also zum Beispiel die Tatsache, dass wir mit
dem deutschen Strafrecht keine anderen Staaten für ihr
Verhalten belangen können, dass es somit nicht Aufgabe
deutscher Strafgerichte sein kann, eine Art internationale
Gerichtsbarkeit auszuüben, oder dass es schwer sein
dürfte, Begriffe im deutschen Strafrecht mit internatio-
nalen Vorgängen zu erfassen. Auch diese Argumente
waren es, die im Jahre 1968 zu der Formulierung des
§ 80 StGB führten. Vor dem Hintergrund der klaren Ver-
fassungslage, der internationalen Bestimmungen und der
heutigen Gegebenheiten werden wir deshalb beurteilen
müssen, ob sich heute im Gegensatz zu der Einschätzung
des damaligen Gesetzgebers Veränderungsbedarf ergibt.
Jörg van Essen (FDP): Es ist ärgerlich, dass wir
uns bei einem so wichtigem Thema wie der Bewahrung
des Friedens mit einem Schaufensterantrag beschäftigen
müssen. Es ist bekannt, dass ich grundsätzlich großen
Respekt vor Gesetzentwürfen habe, die von einer Oppo-
sitionsfraktion erarbeitet werden. Wir alle wissen sehr
genau, wie viel Arbeit damit verbunden ist und welchen
Aufwand es darstellt, einen solchen ohne ministerielle
Hilfe vorzulegen. Hier ist eine solche Mühe leider nicht
erkennbar. Die Begründung ist mehr als dünn. Bei dem
heute vorliegenden dreiseitigen Antrag geht es nur um
kurze Effekthascherei: So wie die Fraktion der Linken
generell jedem Einsatz der Bundeswehr ihre Zustim-
mung verweigert, geht es auch bei diesem Antrag nicht
um die Sache.
Nein, man hat vielmehr den Eindruck, dass die Linke,
nachdem sie zuletzt auch mit ihrer Klage gegen den Tor-
nado-Einsatz in Afghanistan in Karlsruhe gescheitert ist,
nun einen neuen Schauplatz zum Vortrag alter Argu-
mente, dieses Mal im Strafrecht, eröffnen will. Ein sol-
ches Vorgehen ist unseriös! An solchen Spielchen wird
sich meine Fraktion nicht beteiligen.
Dabei ist es ja in der Tat richtig, dass man sich darü-
ber unterhalten kann, inwieweit § 80 StGB die Vorgaben
von Art. 26 Grundgesetz tatsächlich umsetzt. Auch in
dem Standardkommentar von Fischer zum StGB heißt
es, dass die Vorschrift den Verfassungsauftrag des
Art. 26 I 2 GG „im Wesentlichen erfüllt“ – man kann
also durchaus über Nuancen streiten. Man mag auch da-
rüber diskutieren können, ob aufgrund der zitierten Be-
wertungen des Generalsbundesanwalts eine Anpassung
des Straftatbestandes angezeigt ist.
Der Gesetzentwurf der Linken sieht allerdings keine
„Präzisierung und Ergänzung“ vor, sondern die vollkom-
mene Neufassung des § 80 StGB. So ist zum Beispiel
auch von dem Tatbestandsmerkmal der Beteiligung der
Bundesrepublik Deutschland nicht mehr die Rede. So
muss es sich ja bisher um einen Krieg handeln, an dem
nach den Vorstellungen des Täters die Bundesrepublik
unter Einsatz ihrer Streitkräfte als kriegführende Macht
beteiligt werden soll. § 80 StGB schützt den Völkerfrie-
den nicht umfassend.
Friedensverrat – und darüber reden wir hier – ist
schon jetzt keine Petitesse. Es ist richtig, hier das scharfe
Schwert des Strafrechts einzusetzen. Auch unsere Ge-
schichte lehrt uns, den Frieden zu bewahren. Aber: Der
vorschnelle Ruf nach dem Staatsanwalt darf nicht dazu
führen, dass das Schwert stumpf wird. Ich erinnere mich
noch gut an eine Strafanzeige der Partei Die Grünen ge-
gen Helmut Schmidt, Hans Dietrich Genscher, Hans
Apel, Helmut Kohl, Herbert Wehner und Wolfgang
Mischnick wegen des Plans, die neuen Pershing-2-Rake-
ten und Cruise Missile der USA entsprechend des
NATO-Beschlusses zu stationieren – die Grünen sahen
damals darin einen Verstoß gegen § 80 StGB.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16251
(A) (C)
(B) (D)
Die Geschichte hat uns damals recht gegeben. Ein
Angriffskrieg wurde damals nicht vorbereitet. Tatsäch-
lich wissen wir heute, dass die damalige Entscheidung
wahrscheinlich ein wesentlicher Mosaikstein hin zu
„Glasnost“ und zum Mauerfall war.
Gleichzeitig – das möchte ich an dieser Stelle auch
sagen – ist das Verhalten der rotgrünen Bundesregierung
im Irak-Krieg auch nach dem Schreiben des Generalbun-
desanwalts nicht ad acta zu legen. Mit dem 1. Unter-
suchungsausschuss stehen uns als Parlamentariern aber
ganz andere Instrumente als das StGB zur Verfügung.
Das Gremium wird sich noch mit der Widersprüchlich-
keit der alten Bundesregierung in Sachen Irak-Krieg zu
beschäftigen haben. Ob und inwieweit damit auch straf-
rechtliche Implikationen verbunden sind, werden wir se-
hen. Eine Lehre aus den Kriegen der Vergangenheit ist
für mich vor allem diese: Bei der Entscheidung zwischen
Krieg und Frieden ist zuallererst ein starkes Parlament
gefordert. Leider verweigern sich die Linken seit jeher
der außenpolitischen Verantwortung aller Parteien. Da-
bei wissen wir alle: Die Justiz alleine wird den Weltfrie-
den nicht bewahren können.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): An-
griffskriege sind Verbrechen gegen die Menschheit und
ein fundamentaler Verstoß gegen die internationale Frie-
denspflicht. Wenn ich als Deutscher in Art. 26 GG lese,
dass alle Handlungen, die geeignet sind, das friedliche
Leben der Menschen zu stören, insbesondere die Vorbe-
reitung von Angriffskriegen, zu verbieten sind, dann
denke ich historisch an den Angriff Deutschlands auf
Polen, die Niederlande und Frankreich, auf Norwegen
und viele andere Staaten und nicht zuletzt auf die Sowjet-
union. Über 50 Millionen Menschen verloren ihr Leben
durch deutsche Angriffskriege. Das menschliche Leid
und die Zerstörung kultureller Schätze sind unermess-
lich. Die Ächtung von Angriffskriegen in unserer Ver-
fassung ist nichts weniger als die Lehre aus dem tiefsten
moralischen Niedergang, den unser Land und wir Deut-
sche verursacht und erlitten haben: Von Deutschland soll
nie wieder Krieg und Vernichtung ausgehen.
Der Verfassungsauftrag des Art. 26 GG, friedensver-
räterische Handlungen unter Strafe zu stellen, blieb
lange unerfüllt. Erst 1968 – nach jahrelangen Diskussio-
nen und mehreren fruchtlosen Anläufen – wurden die
§§ 80 und 80 a ins StGB aufgenommen. Danach stehen
sowohl Vorbereitungen zu Angriffskriegen als auch jeg-
liche sie schürende Propaganda unter Strafe. Warum hat
es so lange gedauert? Die Dokumente der damaligen
Diskussion, insbesondere der Bericht des Sonderaus-
schusses für die Strafrechtsreform – Drucksache V/2860 –
geben Auskunft. In der Völkergemeinschaft bestand
lange Uneinigkeit über den Begriff des Angriffskrieges.
Inzwischen sind die Grenzen – mehr oder weniger klar –
herausgearbeitet, um völkerrechtswidrige Angriffskriege
zu scheiden von Gewalt zur Beendigung von Gewalt,
von Gewalt zur Rettung unschuldiger Menschen vor Ge-
noziden, von Gewalt, um Angriffskriegen zuvorzukom-
men, von Gewalt zur Befreiung von Unterdrückung und
Fremdbeherrschung.
Der jetzige § 80 StGB ist beileibe nicht vollkommen,
und es ist leicht, sich – wie die Linke es heute tut – wich-
tigtuerisch und besserwisserisch in Kritik zu üben. Ver-
gleichen wir aber die bisherigen Versuche zur völkerrecht-
lichen Durchsetzung der internationalen Friedenspflicht
und der Ächtung von Angriffskriegen, die bereits ange-
sprochenen Schwierigkeiten in der Umsetzung des Ver-
fassungsauftrages des Art. 26 GG, die intensiven, kon-
troversen und bis heute andauernden Debatten in der
verfassungs- wie strafrechtlichen Literatur zu diesem
Thema, vergleichen wir also die Tiefe und Intensität die-
ser Diskurse mit dem heutigen – ärmlich schlichten und
in der Begründung dürftigen – Antrag der Linken, dann
müssen wir feststellen: So schludrig, so oberlehrerhaft,
so problemignorant können sich des Themas nur diejeni-
gen annehmen, denen es weniger um die Sache selbst als
vielmehr darum geht, sich im Parlament in Pose zu set-
zen und sich als die angeblich einzige Friedenskraft zu
präsentieren. Die Begründungsarmut des vorliegenden
Antrags dokumentiert das Ausmaß, mit dem sich die
Linke an rechtspolitischen Debatten im Bundestag betei-
ligt: überaus dürftig und wenig ernsthaft!
Unbestritten: Niemand anders als die Generalbundes-
anwaltschaft lieferte den Linken die Vorlage, unter dem
Deckmantel angeblich offener Arbeitsaufträge der Ver-
fassung einen infamen und irrealen politischen Angriff
gegen die Politik der früheren rot-grünen Bundesregie-
rung zu führen. Die Generalbundesanwaltschaft hatte
sinngemäß geäußert: Nach dem eindeutigen Wortlaut der
Vorschrift – § 80 StGB – sei nur die Mitwirkung an der
Vorbereitung eines Angriffskriegs strafbar, nicht jedoch
die Führung des Angriffskriegs selbst, sodass auch die
Beteiligung an einem von anderen vorbereiteten An-
griffskrieg nicht strafbar sei. Diese von den Linken in ih-
rem Antrag leider ohne Fundstelle wiedergegebene Äu-
ßerung ist richtig; aber ist auch die inhaltliche Aussage
richtig?
Könnte nicht vielmehr richtig sein, dass, wenn die
Vorbereitung des Verbrechens „Angriffskrieg“ zur einer
selbstständigen strafrechtlichen Haupttat erhoben ist, für
die lebenslange Freiheitsstrafe droht, das nachfolgende
Führen des vorbereiteten Angriffskriegs gedanklich nach
den Grundsätzen der mitbestraften Nachtat zu beurteilen
ist? Könnte es sein, dass das Unter-Strafe-Stellen der
Teilnahme an einem gegen die Bundesrepublik Deutsch-
land gerichteten Angriffskrieg einen Widerspruch zum
geltenden Art. 82 Abs. 2 der Genfer Kriegsgefangenen-
konvention begründen könnte? Und zusätzlich ist zu be-
denken: Bei deutschen Soldaten würde eine Strafbeweh-
rung nach § 80 StGB aus dem schon heute richtigen wie
wichtigen Recht zur Verweigerung völkerrechtswidriger
Befehle eine strafbewehrte Pflicht machen.
Zu all diesen Fragen und Überlegungen findet sich im
Antrag der Linken keinerlei Erwägung oder ernsthafte
Auseinandersetzung, von Antworten ganz zu schweigen.
Was bleibt, ist der Komplex der Beteiligung an einem
Angriffskrieg, der nicht von Deutschland ausgeht und
sich nicht gegen Deutschland richtet. Es gibt gute
Gründe, diese Frage noch einmal sorgfältig zu prüfen
und zu entscheiden. Ich weise an dieser Stelle jedoch
ausdrücklich die penetrante Unterstellung der Linken zu-
16252 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008
(A) (C)
(B) (D)
rück, diese Frage sei bei den militärischen Einsätzen auf
dem Balkan, dem militärischen Vorgehen von NATO-
Einheiten gegen Serbien oder bei dem Verhalten
Deutschlands bzw. einzelner deutscher Beamter gegen-
über dem Krieg der USA gegen den Irak zu stellen.
Deutschland hat sich zu keinem Zeitpunkt am Irak-Krieg
beteiligt! Auch die Rolle von zwei BND-Agenten, die
im laufenden Untersuchungsausschuss noch aufzuklären
sein wird, kann nicht zum Friedensverrat, zu einer Betei-
ligung am Irak-Krieg umgemünzt werden. Und das mili-
tärische Eingreifen der NATO auf dem Balkan sollte
Blutvergießen, Vertreibung und Massentötungen been-
den. Es ist eine Ungeheuerlichkeit und inzwischen auch
international klar zurückgewiesen, dies zu einem An-
griffskrieg gegen ein friedliches Land umdeuten zu wol-
len.
Genau das steckt jedoch in Wirklichkeit hinter dem
heute vorgeschobenen Gesetzesansinnen der Linken.
Wir nehmen ihnen nicht ab, dass sie nur darauf aus
seien, Lücken im Strafrecht und den Auftrag der Verfas-
sung zum Schutz des Friedens zu erfüllen.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Für eine erfolgreiche
Überprüfungskonferenz des Chemiewaffen-
übereinkommens und eine Stärkung des Ver-
tragsregimes (Tagesordnungspunkt 14)
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/
CSU): Das Übereinkommen über das Verbot chemischer
Waffen, CWÜ, welches am 29. April 1997 in Kraft trat,
kann trotz aller nicht zu leugnenden fortbestehenden
Probleme – beispielsweise hinsichtlich der konkreten
Umsetzung der weitreichenden Bestimmungen des kom-
plexen Regelwerkes – doch zunächst als Erfolg gewertet
werden. Bei allen Schatten, die das Feld der Abrüstungs-
und Rüstungskontrollpolitik uns nach einem zuerst sehr
ambitionierten Aufbruch nach dem Ende des Kalten
Krieges seit einigen Jahren bietet, ist das CWÜ ein hoff-
nungsvoller Lichtstrahl inmitten einer derzeit eher trüb-
seligen abrüstungspolitischen Wetterlage.
Die grundsätzlich konstruktive Zusammenarbeit der
Vereinigten Staaten und Russlands mit den anderen Mit-
gliedern der Völkerfamilie wie auch mit den Vereinten
Nation darf als ermutigend empfunden werden. Die
USA und die Russische Föderation als Besitzer der welt-
weit größten Bestände an Chemiewaffen haben das
Übereinkommen bereits im Jahre 1997 ratifiziert, und
obwohl die Vernichtung der Bestände nicht ohne Hinder-
nisse verläuft, kann doch an der Vertragstreue beider
Seiten nicht gezweifelt werden. Die Tatsache, dass die
Bundesregierung insbesondere Russland bei der Erfül-
lung seiner Vertragspflichten unterstützt, muss lobend
erwähnt werden. Vor diesem Hintergrund darf zaghaft
darauf gehofft werden, dass eine erfolgreiche Gestaltung
des CWÜ eine gewisse Strahlkraft auf andere abrüs-
tungspolitische Themenfelder entfalten kann.
Dies wäre angesichts der insgesamt unbefriedigenden
abrüstungspolitischen Gesamtsituation durchaus wün-
schenswert. Dachte man vor wenigen Jahren, nach dem
Ende des Ost-West-Konfliktes sei entsprechender Raum
gegeben für umfassende und globale abrüstungspoliti-
sche Initiativen, so müssen wir heute feststellen, dass
nicht nur Spuren alter Konfliktmuster wiederbelebt wer-
den, sondern zudem neue Bedrohungen entstanden sind,
denen die Staaten nur allzu oft durch Modernisierung ih-
rer Waffenarsenale begegnen.
Nun finden wir uns also wieder auf dem knarzenden
Boden der Tatsachen. Neue Bedrohungen und ein damit
verbundenes anhaltendes Gefühl von asymmetrischer
Gefahr und Unsicherheit in den internationalen Bezie-
hungen haben unter anderem dazu geführt, dass die Staa-
ten in ihrer Gesamtheit, aber vor allem die alten und
neuen aufstrebenden Großmächte nicht bereit sind, in
dem Sinne auf den Erhalt und Aufbau ihrer Waffenarse-
nale in dem Maße zu verzichten, wie wir es uns in die-
sem Hohen Hause vielleicht wünschten.
Inmitten einer Situation, in welcher wir eine schmerz-
hafte Erosion der meisten abrüstungspolitischen Verein-
barungen wahrnehmen müssen, die nach dem Ende des
Kalten Krieges in Angriff genommen werden konnten,
stellt das Chemiewaffenübereinkommen jedoch ein sta-
biles, dauerhaftes und mittlerweile nahezu universelles
Regelwerk dar. Das ist in der Tat ein großer Erfolg, der
sich auch auf die zähen, jahrelangen und manchmal frus-
trierten Anstrengungen der deutschen und europäischen
Seite gründet. Die bisherigen, durchaus beachtlichen Er-
gebnisse im Bereich der Chemiewaffen mögen hierfür
entschädigen und zur Fortsetzung der Arbeit – auch auf
anderen konfliktiveren abrüstungspolitischen Bereichen –
anhalten.
Ich möchte es vor diesem Hintergrund keinesfalls ver-
säumen, den zuständigen Stellen der Bundesregierung,
des Auswärtigen Amtes und den sachkundigen wie auf-
merksamen Kollegen aller Parteien für ihr großes und
zielgerichtetes Engagement zu danken. Die manchmal
zähen und langwierigen Verhandlungen über inhaltliche
Anpassungen des komplexen Regelwerkes sind sicher-
lich ebenso zehrend und mühsam wie die Umsetzung der
Bestimmungen des Abkommens über die Erfassung und
Vernichtung der noch existierenden Chemiewaffenbe-
stände. Auch die von der Bundesregierung verfolgten
Aktivitäten im Rahmen der G-8-Initiative „Globale Part-
nerschaft“ seien hier anerkennend unterstrichen. All dies
ist wahrlich kein leichtes Brot. Gleichwohl war diese Ar-
beit bisher erfolgreich. Dies verdient an dieser Stelle ein
ausdrückliches Lob.
Als bedeutender Vertragspartner erwächst uns jedoch
aus ebendiesen Erfolgen die fortgesetzte Verpflichtung
zur Wachsamkeit über die Einhaltung der Vertragsbe-
stimmungen, wie auch zur harten Arbeit in der konkre-
ten Umsetzung und Anpassung des Abkommens. Hierzu
gehört es sicherlich, auf eine konsequente Offenlegung
der Chemiewaffenbestände aller Mitgliedstaaten zu
drängen. Offene Fragen gibt es in diesem Zusammen-
hang an Sudan; aber auch die Volksrepublik China ist
gefordert, in diesem Bereich noch überzeugender als bis-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16253
(A) (C)
(B) (D)
her Transparenz zu schaffen und damit Vertrauen in ihre
Rolle als verantwortungsbewusster internationaler Ak-
teur zu schaffen.
Die fortgesetzte Arbeit am Chemiewaffenüberein-
kommen muss umso wichtiger erscheinen, als die Schre-
cken chemischer Massenvernichtungswaffen noch im-
mer als manifeste Bedrohung der globalen Sicherheit
begriffen werden müssen. Diese Gefahren – zumindest
aufseiten staatlicher Akteure – zwar noch nicht vollstän-
dig gebannt, doch deutlich eingeschränkt zu haben, ist
das große Verdienst des Regelwerkes und aller damit be-
fassten Parteien und Personen. Die Gefahr einer Weiter-
verbreitung chemischer Waffen und Agenzien an isla-
mistische und sozialrevolutionäre terroristische Gruppen
darf nicht aus dem Blickfeld geraten. Durch die im
CWÜ-Abkommen angestrebte vollständige Erfassung
und Vernichtung der Chemiewaffenbestände wird letzt-
lich auch entscheidend einer Proliferation an diese nicht-
staatlichen terroristischen Akteure vorgebeugt. Ein Inter-
esse, welches die Weltgemeinschaft nahezu ohne
Ausnahme eint und welches die unvermindert gegebene
Notwendigkeit aufzeigt, mit nicht nachlassender Energie
an einer weiteren Verbesserung des CWÜ zu arbeiten.
Die Überprüfungskonferenzen des Chemiewaffenüber-
einkommens bleiben damit auch ein wesentliches und
unverzichtbares Instrumentarium zur Wahrung und Her-
stellung von Sicherheit gegen terroristische Bedrohun-
gen.
Das Chemiewaffenübereinkommen selbst ist als ein
dynamisches Regelwerk zu begreifen. Die Überprü-
fungskonferenz ist gefordert, auf neue Entwicklungen
zeitnah zu reagieren. Die Erfassung und Kontrolle neuer
handlungsunfähiger Agenzien stellt in diesem Kontext
sicherlich eine der großen Herausforderungen dar. Es be-
steht die dringende Notwendigkeit, auf der anstehenden
Konferenz ein gemeinsames Verständnis der Vertrags-
staaten zu schaffen, unter welchen Umständen der Ein-
satz dieser toxischen Agenzien zulässig ist.
Ein ungemein wichtiges Anliegen muss uns jedoch
die Universalisierung des Abkommens sein. Bisher sind
183 Staaten der Konvention beigetreten, darunter alle
Mitgliedstaaten der NATO und der Europäischen Union.
Insgesamt umfasst das CWÜ mittlerweile etwa 98 Pro-
zent der Weltbevölkerung sowie etwa 98 Prozent der
chemischen Industrie. Bisher erfasste die „Brandung“
damit zwar zahlreiche Steine; entscheidende Felsblöcke
bleiben allerdings außen vor. So sind zwölf Staaten au-
ßerhalb des Abkommens.
Unter den Staaten, die das Abkommen bisher nicht
einmal unterzeichnet haben, befinden sich beispiels-
weise Angola, Somalia, aber auch Ägypten. Deutschland
ist laut BMZ derzeit der viertgrößte Geber des Landes.
Laut BMZ genießt „die kontinuierliche deutsche Unter-
stützung hohes Ansehen“. Diese Vertrauensbasis ermög-
lichte es – laut BMZ – „der deutschen Seite, auch bei po-
litisch sensiblen Themen richtungweisende Anregungen
zu geben“. Dass dies in Fragen des Umweltschutzes und
der Arbeitsmarktpolitik gelingen mag, ist sicherlich er-
freulich. Ob diese Fragen allerdings politisch so sensibel
sind, bleibt vorerst dahingestellt.
Jedoch verdient in diesem Zusammenhang die Frage
Beachtung, inwiefern unter anderem das Bundesministe-
rium für wirtschaftliche Zusammenarbeit es bisher ver-
säumt hat, Fortschritte in der Frage einer Unterzeich-
nung des CWÜ einzufordern. Ähnliches gilt es zu Syrien
zu sagen, welches ebenso wenig das CWÜ unterzeichnet
hat. Das Auswärtige Amt als auch das BMZ bekräftigen
bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihr Bekenntnis zu
einem tiefen und kostspieligen Engagement in Syrien
und betonen stets die Notwendigkeit eines intensiven
Dialoges. Allein die mehr als mageren Ergebnisse dieses
Dialoges lassen an dessen Notwendigkeit mitunter doch
berechtigte Zweifel aufkommen. Die beiden angespro-
chenen Häuser bleiben aufgefordert, die abrüstungspoli-
tische Forderung einer CWÜ-Zeichnung durch Kairo,
insbesondere aber durch Damaskus stärker als bisher in
den Vordergrund zu stellen. Dies wäre zudem mehr als
hilfreich, um aufseiten Israels berechtigte Bedrohungs-
wahrnehmungen abzubauen und Tel Aviv dafür zu ge-
winnen, einer bisher erfolgten Zeichnung auch bald eine
Ratifizierung folgen zu lassen.
Eine Universalisierung des Chemiewaffenübereinkom-
mens würde die globale Sicherheit ein wesentliches
Stück voranbringen. Ich bin mir sicher, dass die Bundes-
regierung und ihre Ministerien die hohe Priorität einer
Unterzeichnung und Ratifizierung des CWÜ-Abkom-
mens in die diplomatischen und politischen Konsultatio-
nen mit den besagten Staaten einzubringen wissen wer-
den. Auch die bisherige Weigerung Nordkoreas, das
Abkommen zu zeichnen, muss uns mit großer Sorge er-
füllen. Nordkorea steht im Verdacht, größere Bestände
an waffenfähigen chemischen und toxischen Substanzen
zu besitzen. Nicht nur die an den Sechs-Parteien-Gesprä-
chen mit Pjöngjang beteiligten Nationen sind daher aus-
drücklich aufgefordert, Nordkorea in aller Klarheit zu ei-
ner Unterzeichnung des CWÜ zu drängen.
Das CWÜ kann in vielerlei Hinsicht als beispielge-
bend empfunden werden und sollte als Musterbeispiel für
analoge Problemlösungen auf dem Gebiet der Rüstungs-
kontrolle herangezogen werden. Dies muss insbesondere
für die mit der Thematik eng verzahnten BWÜ-Überprü-
fungskonferenzen für biologische Waffen gelten. Auch
dem BWÜ sind bisher alle Mitgliedstaaten der NATO
beigetreten; die Universalität des Abkommens ist bei ei-
nem derzeitigen Stand von 156 Zeichnern jedoch noch
weit entfernt. Zudem sieht das BWÜ im Gegensatz zum
Chemiewaffenübereinkommen nur sehr unbefriedigende
Verifikationsmaßnahmen vor. Anläßlich der BWÜ-Über-
prüfungskonferenzen von 1986 und 1991 wurden zwar
Vertrauensbildende Maßnahmen im Sinne von Informa-
tionsaustausch über relevante biologische Aktivitäten,
zivile Forschungs- und Produktionseinrichtungen sowie
die nationalen B-Schutzprogramme vereinbart. Es muss
jedoch daran erinnert werden, dass sich weniger als ein
Drittel der Vertragsstaaten hieran beteiligen. Im Jahre
2006 haben neben Deutschland nur weitere 46 Staaten
VBM-Meldungen abgegeben. Auf der letzten im Jahre
2006 stattgefundenen BWÜ-Überprüfungskonferenz gab
es ermutigende Signale, aber letztlich noch zu wenig
greifbare Fortschritte. Das bisherige Engagement der EU
zur Unterstützung des BWÜ im Rahmen der Massenver-
16254 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008
(A) (C)
(B) (D)
nichtungswaffenstrategie der EU ist löblich. Gleichwohl
ist hier weiterer Handlungsbedarf gegeben, den ich im
Namen der Unionsfraktion bei den zuständigen Häusern
der Regierung anregen möchte.
Uta Zapf (SPD): Seit gestern findet in Den Haag die
Überprüfungskonferenz zum Chemiewaffenüberein-
kommen, CWÜ, statt. Das CWÜ ist das erfolgreichste
Abrüstungsabkommen. Eine ganze Kategorie von Waf-
fen wurde geächtet. Es hat ein Verifikationsregime mit
Inspektionen und einer abschließend geregelten Liste der
geächteten Stoffe. Ihm gehören bisher 183 Staaten an.
Ziel auch dieser Überprüfungskonferenz ist die Univer-
salisierung des Abkommens – die Hoffnung, dass alle
195 Staaten beitreten sollen. Dieses ehrgeizige Ziel hat-
ten sich die Mitgliedstaaten für 2007, dem Jahr des zehn-
jährigen Jubiläums, gesetzt. Dieses Ziel ist nicht voll-
ständig erreicht, und so wird der Aktionsplan, der die
fehlenden Länder einbinden soll, verlängert werden
müssen. Ägypten, Angola, Somalia, Syrien und Nordko-
rea fehlen im Kreis der Mitgliedstaaten. Bei Irak und Li-
banon bestehen Chancen, sie einzubinden, Israel hat ge-
zeichnet.
Schon bei der Pariser Konferenz im Jahr 1993 zeich-
neten 130 Staaten. Eine ganze Kategorie von inhumanen
tödlichen Waffen wurde abgeschafft, die Staaten ver-
pflichteten sich zur völligen Vernichtung der tödlichen
Bestände. Die Staaten verpflichteten sich ebenfalls zur
Deklaration ihrer Bestände und zu deren Vernichtung bis
2007. Russland und die USA, Indien, Libyen, Südkorea
und Albanien haben ihre Bestände deklariert, aber keiner
dieser Staaten konnte den Zeithorizont einhalten. Einzig
Albanien hat mittlerweile alle Bestände vernichtet. Die
USA und Russland haben eine Verlängerung der Ver-
nichtungsfrist bis 2012 beantragt und erhalten. Auch die
anderen Länder erhielten verlängerte Fristen. Allerdings
ist absehbar, dass beide großen Staaten möglicherweise
noch längere Fristen brauchen werden.
Die USA haben angegeben, dass die Vernichtung
möglicherweise sogar bis 2023 dauern könnte, obwohl
die Vernichtung auf dem Johnston-Atoll schon im Jahre
1990 begann. Die Vernichtungspläne der USA haben
mehrere Rückschläge erlitten, sodass die Vernichtung
nur in zwei der insgesamt sieben Chemiewaffenlager be-
endet ist. Fehlende Finanzmittel, technische Probleme
wie Umweltverschmutzung und Ausbruch von Feuer ha-
ben den Prozess mehrfach gestoppt. Politische Probleme
wie Sicherheitsbedenken, Angst vor Gesundheitsproble-
men und Umweltgefährdung waren weitere Hindernisse.
Ähnliche Hindernisse tauchten in Russland auf. Bürger-
proteste gegen geplante Vernichtungsanlagen und tech-
nische Schwierigkeiten gab es auch hier.
Schon frühzeitig, 1992, waren sich alle Parteien im
Deutschen Bundestag darin einig, Russland bei der
Vernichtung seiner Chemiewaffen zu helfen. Damals
wurden 10 Millionen DM in den Haushalt als Abrüs-
tungshilfe eingestellt. 1993 unterzeichneten Deutschland
und Russland ein Kooperationsabkommen zur Errich-
tung von Vernichtungsanlagen. Eine Pilotanlage in
Gorny zerstörte seit 2002 1 200 Tonnen Lewisit und
Yperit, die in Kanistern und Fässern gelagert waren.
Eine weitere Vernichtungsanlage in Kambarka arbeitet
seit 2006, und ein weiteres Projekt in Potschep ist in Pla-
nung. Deutschland beteiligt sich mit insgesamt 1,5 Mil-
liarden Dollar an der globalen G-8-Partnerschaft bis
2012, die internationale Abrüstungshilfe für Russland
leistet.
Das Engagement der Bundesregierung und des Bun-
destages ist immer enorm gewesen. Ich habe den gesam-
ten Prozess der Beratungen als Abgeordnete miterlebt
und will hier allen Bundesregierungen, die ich miterlebt
habe, ausdrücklich danken. Ebenso engagiert waren die
Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die bei der
Bereitstellung von Haushaltsgeldern nie knausrig waren.
Es gilt, weiterhin große Anstrengungen zur Universali-
sierung des Vertrages zu unternehmen und die Vernich-
tung der tödlichen Stoffe voranzutreiben. Aber es gibt
auch neue Herausforderungen, die gemeistert werden
müssen.
Ein Problem ist das Missverhältnis zwischen den In-
spektionen der Vernichtungsstätten, die viel Geld und In-
spektionskapazitäten der Organisation für das Verbot
chemischer Waffen, OPCW, in Den Haag verschlingen,
und dem Mangel an Kapazitäten für Industrieinspektio-
nen.
Wir wollen deshalb, dass sich die Bundesregierung
für die Stärkung der Organisation einsetzt. Dies bringt
Probleme mit den Schwellenländern mit sich. Aus der
Sicht der westlichen Staatengruppen sind verstärkte
Inspektionen ein Erfordernis der Umsetzung dieses Ab-
rüstungs- und Nichtverbreitungsvertrages. Die soge-
nannten Non-Aligned-Members sehen in vermehrten In-
dustrieinspektionen eine Bedrohung ihrer wirtschaftlich-
technologischen Entwicklung.
Es muss aber klar sein, dass die Kontrolle der Ver-
tragstreue klar geschieden werden muss von der Frage
der technologischen Zusammenarbeit. Inspektionen
müssen auch als vertrauensbildende Maßnahmen zwi-
schen den Teilnehmerstaaten akzeptiert werden. Die
ständige Verbesserung der Verifikationstechnologien,
die heute der OPCW zur Verfügung stehen, sind auch
eine schiere Notwendigkeit angesichts der Veränderun-
gen und Fortschritte in der chemischen Industrie.
Obwohl es in der Vergangenheit Fälle von Verdacht
auf Vertragsbruch gegen einige Länder gegeben hat, sind
Verdachtsinspektionen bisher noch nie durchgeführt
worden. Das Abkommen sieht solche Verdachtsinspek-
tionen vor, um geheime Einrichtungen und Produktionen
aufzudecken oder undeklarierte Bestände zu finden. Die
USA haben zum Beispiel 1994 Südafrika, Ägypten,
Saudi-Arabien, Iran, Libyen, China, Indien und Pakistan
sowie Nordkorea, Südkorea, Thailand und Indonesien
verdächtigt, chemische Waffen zu besitzen. Im Jahre
2005 standen China, Russland und Sudan unter Ver-
dacht. Niemals jedoch wurden Verdachtsinspektionen
angefordert. Die Gründe dafür mögen vielschichtig sein:
Angst, Geheimdienstinformationen zu enthüllen, diplo-
matische Rücksichten. Wir geben mit dem Verzicht das
Schlüsselelement der Verifikation aus der Hand, das uns
zur Verfügung steht. Aber gerade angesichts des drama-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16255
(A) (C)
(B) (D)
tischen technischen und wissenschaftlichen Fortschritts
der chemischen Industrie ist dieses Instrument unerläss-
lich, um Verstöße aufzudecken oder Zweifel auszuräu-
men.
Das größte ungelöste Problem im Rahmen des CWÜ
sind handlungsunfähig machende Agenzien, vulgo
„nichttödliche Waffen“ genannt. Wir erinnern uns an die
Katastrophe im Moskauer Theater und die dadurch ent-
fachte heftige Diskussion ebenso wie an unsere eigenen
quälenden Diskussionen im Jahre 2004 bei der Ände-
rung des Ausführungsgesetzes zum CWÜ nach den Un-
ruhen im Kosovo. Was sind erlaubte Mittel zur „Unruhe-
bekämpfung“? Hier weist der Vertrag Unschärfen auf,
die durch die stürmischen Entwicklungen der chemi-
schen und biochemischen Wissenschaften erneut in den
Fokus der Diskussion rücken.
Mittel zur Unruhebekämpfung dürfen laut der allge-
meinen Verpflichtungen des Vertrages nicht im Krieg
eingesetzt werden.
Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, Mittel zur Be-
kämpfung von Unruhen nicht als Mittel der Kriegs-
führung einzusetzen.
Toxische Agenzien sind zu Zwecken „der Aufrechterhal-
tung der öffentlichen Ordnung einschließlich der innerstaat-
lichen Bekämpfung von Unruhen“, Art. II, 9 d, erlaubt. Al-
lerdings ist die Interpretation von „Aufrechterhaltung
der öffentlichen Ordnung“ umstritten. „Aufrechterhal-
tung der öffentlichen Ordnung einschließlich der inner-
staatlichen Bekämpfung von Unruhen“ wird unter-
schiedlich interpretiert. Sind Polizeieinsätze im Inneren
die begrenzende Definition oder eine Einsatzmöglichkeit
für chemische Stoffe unter anderen Möglichkeiten? An-
titerroreinsätze, Geiselbefreiung könnten auch Einsatz-
szenarien sein. Chemische Stoffe für „Aufstandsbe-
kämpfung“ müssen der OPCW nicht gemeldet werden.
Tränengas und Pfefferspray sind nicht das Problem. Sie
verursachen nur schnelle, vorübergehende sensorische
Störungen. Aber die Stoffe, die im Moskauer Theater
verwendet wurden, kosteten 130 Menschen das Leben.
Ihre Wirkung ging weit über die im CWÜ erlaubten Wir-
kungen hinaus. Die Versuchung, Stoffe zu entwickeln,
die nichttödlich sind, ist angesichts von Peace-Keeping-
Operationen, Aufständen und Terrorbekämpfung groß.
Die Blix-Kommission warnt vor einer Aushöhlung des
CWÜ angesichts der Tendenz, die strikte Interpretation
der CWÜ-Regeln aufzuweichen, um „handlungsunfähig
machende Agenzien“ auch in anderen Situationen als
Polizeieinsätzen anzuwenden. Die Überprüfungskonfe-
renz muss dieses heiße Eisen endlich anpacken, um zu
definieren, welche Agenzien unter dem CWÜ unter wel-
chen Umständen angewendet werden dürfen.
Elke Hoff (FDP): Als Abrüstungspolitiker geht man
in eine solche Plenumsdebatte zum Chemiewaffenüber-
einkommen, die wir vor dem Hintergrund der in Den
Haag tagenden Überprüfungskonferenz führen, mit ei-
nem weinenden und einem lachenden Auge.
Das Chemiewaffenübereinkommen ist bis heute – glück-
licherweise – nicht von der schweren Krise gezeichnet, in
der sich viele Instrumente der internationalen Rüstungs-
kontrolle befinden. Vor dem Hintergrund des andauern-
den kritischen Zustands der anderen multilateralen Ko-
operationsregime, wachsender Konflikte innerhalb der
CWÜ-Vertragsgemeinschaft und des Problems der kaum
noch einzuhaltenden Vernichtungsfristen für alle Che-
miewaffen im Jahre 2012 stellt sich aber die Frage, wie
lange das CWÜ noch von ersten größeren Krisensym-
ptomen verschont bleibt.
Chemiewaffen sind historisch betrachtet die ersten
der im Begriff „Massenvernichtungswaffen“ zusammen-
gefassten Waffentypen, die in Erscheinung getreten sind
und deren Einsatz international geächtet wurde. Wirklich
umfassend und völkerrechtlich verbindlich wurde das in-
ternationale Verbot von Chemiewaffen aber erst mit dem
Abschluss des Chemiewaffenübereinkommens.
Als das CWÜ am 29. April 1997 in Kraft trat, war es
das erste und bislang einzige Abkommen der internatio-
nalen Rüstungskontrolle, das Erwerb, Entwicklung, Pro-
duktion und Weitergabe einer ganzen Waffenkategorie
untersagt und für dieses Verbot umfangreiche Überprü-
fungsmechanismen vorsieht. Die beinahe erreichte Uni-
versalität des Vertragswerks ist ein beispielhaftes Sym-
bol für den internationalen Konsens zur Ächtung von
Chemiewaffen.
Nichtsdestotrotz sollten Deutschland und die Europäi-
sche Union weiterhin das Ziel einer vollständigen Uni-
versalität im Auge behalten und die Bemühungen ver-
schiedener lateinamerikanischer Staaten unterstützen,
die versuchen, viele kleinere Länder in Ozeanien zum
Beitritt zu bewegen.
Wirklichen Anlass zur Sorge unter den Staaten, die
noch außerhalb des CWÜ-Konsenses stehen, bieten
Nordkorea, Syrien und Ägypten. Alle drei Staaten stehen
im Verdacht, Chemiewaffenprogramme zu entwickeln
oder bereits zu unterhalten. Die internationale Gemein-
schaft muss gegenüber diesen Ländern mit Nachdruck
die Aufgabe ihrer Chemiewaffenpotenziale einfordern
und für einen Beitritt zum CWÜ werben.
Das CWÜ ist wie kein anderes Rüstungskontrollab-
kommen ein Ergebnis und ein Erfolg der Hochphase der
internationalen Kooperationsbereitschaft sowie der Ab-
rüstungseuphorie nach dem Ende des Ost-West-Kon-
flikts. Gerade im Zusammenhang mit den schwierigen
Aufgaben, denen sich die Weltgemeinschaft gegenwärtig
auf dem Feld der Nichtverbreitung von Massenvernich-
tungswaffen gegenübersieht, wäre es wichtig, den Geist
dieser Epoche der Abrüstungsbemühungen wiederzubele-
ben. Denn in einer globalisierten, zusammenwachsenden
Welt sind Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtver-
breitung mehr denn je wesentliche Instrumente kooperati-
ver Sicherheit, deren Erhalt, Förderung und Weiterent-
wicklung wieder oberste Priorität haben muss.
Trotz seiner Stärken und bisherigen Erfolge wird das
Chemiewaffenübereinkommen in Zukunft mit mehreren
Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Ich bin aber opti-
mistisch, dass sie bereits auf dieser Überprüfungskonfe-
renz thematisiert und vielleicht auch schon gelöst wer-
den können.
16256 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008
(A) (C)
(B) (D)
Das CWÜ ist ein sehr komplexer Vertrag. Dies führt
dazu, dass viele – vor allem kleinere – Staaten Schwie-
rigkeiten haben, die Vertragsbestimmungen national zu
implementieren. Die Vertragsgemeinschaft und die Or-
ganisation zum Verbot Chemischer Waffen, OVCW,
müssen dafür Sorge tragen, dass diesen Staaten alle er-
denkliche Hilfe bei der jeweiligen Umsetzung der Ver-
tragsbestimmungen geleistet wird. Denn die jeweilige
nationale Implementierung ist eine wesentliche Voraus-
setzung für eine erfolgreiche Nichtverbreitungspolitik.
Gerade deshalb ist es besonders begrüßenswert, dass die
Europäische Union dies zu einem wesentlichen Aspekt
ihres gemeinsamen Standpunktes zur Chemiewaffen-
überprüfungskonferenz gemacht hat.
Der gemeinsame Standpunkt der EU ist für mich da-
rüber hinaus ein wichtiges Signal der europäischen Ge-
schlossenheit auf dem Feld der Nichtverbreitungspolitik
insgesamt. Ein solches Signal wünsche ich mir auch für
die kommende, weitaus konfliktreichere Überprüfungs-
konferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages.
Eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg von
multilateraler Abrüstung ist Vertrauen. Grundlegende
Elemente einer solchen Vertrauensbildung sind Ver-
tragstreue und die Einhaltung von Vertragsverpflichtun-
gen durch die Mitgliedstaaten. Deshalb ist es von beson-
derer Bedeutung, dass sowohl die USA als auch
Russland – die beiden Staaten mit den größten weltwei-
ten Chemiewaffenpotenzialen – ihre Verpflichtung ein-
halten, ihre chemischen Waffen bis 2012 vollständig zu
beseitigen. Ein Verstreichen dieser Frist würde dem
CWÜ einen erheblichen Glaubwürdigkeitsverlust zufü-
gen und könnte eine nachhaltige Aushöhlung der Ver-
tragsnormen zur Folge haben.
Deshalb begrüßt meine Fraktion ausdrücklich die Be-
mühungen, die Deutschland im Rahmen der Globalen
Partnerschaft unternimmt, um Russland bei der Beseiti-
gung seiner Chemiewaffen zu unterstützen. Die Projekte
in Gorny, Kambarka und bald Potschep sind beispielhaft
für eine erfolgreiche bilaterale Abrüstungskooperation.
Die voranschreitende technische Entwicklung und die
wachsende Akzeptanz von sogenannten incapacitants
– darunter versteht man nichttödliche, handlungsunfähig
machende Stoffe – sind eine weitere Herausforderung
für das CWÜ. Sie bergen die Gefahr, auf Dauer die Ver-
botsnorm über Entwicklung, Weitergabe und Einsatz
von Chemiewaffen aufzuweichen. Denn die Grenze zwi-
schen tödlicher und nichttödlicher Wirkung solcher che-
mischen Stoffe liegt häufig nur in der Dosierung der ein-
gesetzten Menge. Auch ist bislang unklar, welche
chemischen Stoffe zu der Gruppe der nichttödlichen
Waffen gezählt werden können und beispielsweise zur
Bekämpfung von innerstaatlichen Unruhen eingesetzt
werden dürfen. Deshalb hängt ein Aspekt der Zukunfts-
fähigkeit des CWÜ maßgeblich davon ab, ob es der Ver-
tragsgemeinschaft in den kommenden Jahren gelingt, ei-
nen verbindlichen Konsens über die Definition von
nichttödlichen chemischen Stoffen zu erzielen und die
Umstände ihrer Verwendung festzulegen.
Des Weiteren ist bedauerlich, dass bis zum heutigen
Zeitpunkt das wichtige Verifikationsinstrument der Ver-
dachtsinspektion nicht eingesetzt wurde, und dies, ob-
wohl bereits Mitgliedstaaten der Konvention beschuldigt
worden sind, das CWÜ gebrochen zu haben. Meiner
Meinung nach ist es wesentlich, dass in Zukunft das
Auslösen einer Verdachtsinspektion nicht mehr länger
nur von einem einzelnen Mitgliedstaat beantragt werden
muss, sondern auch von der Organisation zum Verbot
von Chemiewaffen ausgelöst werden kann. Solange ein
unausgesprochenes Tabu über dem Instrument der Ver-
dachtsinspektion liegt, bleibt dieses eigentlich effektive
Verifikationsinstrument ein stumpfes Schwert.
In ihrer Gesamtheit ist die Geschichte des Chemie-
waffenübereinkommens eine Erfolgsgeschichte. Lassen
Sie uns gemeinsam mit unseren internationalen Partnern
daran arbeiten, diese Erfolgsgeschichte fortzuschreiben.
Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): Das 1992 ver-
einbarte Chemiewaffenübereinkommen gilt zu Recht als
eines der wichtigsten Rüstungskontroll- und Abrüs-
tungsvereinbarungen. Anders als im Übereinkommen
zum Verbot biologischer Waffen und im Nichtverbrei-
tungsvertrag wurde für die gesamte Kategorie dieser
schrecklichen Massenvernichtungswaffen ein für alle
Staaten gültiges absolutes verbindliches Verbot verein-
bart. Für die Überprüfung der Einhaltung des Überein-
kommens wurde ein spezifischer Verifikationsmechanis-
mus aufgebaut, die Organisation für das Verbot von
chemischen Waffen.
So weit, so gut. Leider zeigt sich in der Realität ein
anderes Bild:
Das ambitionierte Ziel des CWÜ, bis 2007 sämtliche
C-Waffen vernichtet zu haben, wurde nicht erreicht. Die
USA und Russland sind weit hinter ihren Abrüstungs-
verpflichtungen geblieben, und es gilt als ausgemacht,
dass die USA auch die bis 2012 verlängerte Frist nicht
einhalten werden.
Staaten wie Ägypten, Angola oder Syrien sind dem
CWÜ noch nicht beigetreten, Israel oder Birma haben
das CWÜ bislang nicht ratifiziert.
Einige Staaten, allen voran erneut Russland und die
USA, sind bestrebt, das umfassende Verbot für C-Waf-
fen aufzuweichen und die Entwicklung und den Einsatz
von handlungsunfähig machenden Agenzien für die Si-
cherheitskräfte zu erlauben. Damit würden Tür und Tor
geöffnet für die Proliferation chemischer Waffen. Ob
Agenzien töten oder handlungsunfähig machen, ist in
der Regel eine Frage der Dosierung, und in jedem Fall
dienen sie auch der Kriegführung.
Globale Exportkontrollregime sind ein wichtiges und
effektives Instrument zur Unterbindung der Proliferation
von ABC-Waffen. Wesentlich problematischer ist es,
wenn selektive Staatengruppen, wie im Fall von C-Waf-
fen die Australische Gruppe, der im Wesentlichen die In-
dustriestaaten angehören, die Normen alleine festsetzen.
Vor allem bei den Mitgliedstaaten der Gruppe des „Non-
aligned Movement“, NAM, wächst der Unmut über die
Exportkontrollpolitik der sogenannten Australischen
Gruppe. Statt vor allem die wachsende chemische Indus-
trie in den ärmeren Staaten zu kontrollieren und einzu-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16257
(A) (C)
(B) (D)
schränken, fordern die NAM-Vertreter eine Auswertung
der finanziellen und technologischen Unterstützung für
die friedliche Nutzung der Chemie.
Obwohl das CWÜ über einen starken Verifikations-
mechanismus verfügt, werden die Instrumente nicht aus-
reichend genutzt. Gerade das eigentlich äußerst effektive
Instrument der Verdachtsinspektionen chemischer For-
schungs- und Produktionseinrichtungen wird nicht ein-
gesetzt aus Sorge vor einer Gegeninspektion.
Die erfolgreiche Lösung dieser Probleme muss eine
der vordringlichsten Aufgaben auf der CWÜ-Überprü-
fungskonferenz sein. Die Bundesregierung wäre gut be-
raten, sich nicht auf das Anliegen der Regierungsfraktio-
nen einzulassen. Ihr Antrag ist doppelbödig formuliert.
Einerseits wird die allgemeine Ächtung chemischer
Waffen als größte Errungenschaft des CWÜ betont und
festgestellt, dass der Einsatz sogenannter nichttödlicher
Waffen das umfassende Verbot zu unterminieren droht.
Andererseits wird am Ende des Antrages deutlich, wo-
rum es den Regierungsparteien wirklich geht: eine Auf-
weichung des umfassenden Verbots. Sie wollen die Ent-
wicklung nichttödlicher chemischer Waffen und
Wirksubstanzen zulassen. Das erinnert an die fatale Un-
terscheidung zwischen gefährlicher und ungefährlicher
Streumunition, die derzeit eine internationale Ächtung
der Streumunition verhindert. Es gibt keine nachvoll-
ziehbaren Gründe, warum toxische Chemikalien bei der
Kontrolle von Unruhen eingesetzt werden müssen. Das
Prinzip der Abrüstung gilt nun mal auch für den Bereich
der inneren Sicherheit. Es hätte den Regierungsparteien
gut angestanden, ihren Antrag noch einmal in den Fach-
ausschüssen debattieren zu lassen, statt ihn Hals über
Kopf durchzustimmen und der Bundesregierung damit
ein Mandat für Zugeständnisse in diesem Bereich zu ver-
schaffen.
Zugleich ist zu hoffen, dass die Teilnehmerstaaten an
der CWÜ-Überprüfungskonferenz ihren Blick auch auf
die größte zukünftige Herausforderung richten. Der ra-
pide technologisch-wissenschaftliche Fortschritt im Be-
reich der Naturwissenschaften hat dazu geführt, dass von
einer klassischen chemischen Industrie nicht mehr zu re-
den ist und damit ein wachsender Teil der Produktions-
stätte für chemische Substanzen aus dem Verifikations-
raster herausfällt. Noch bedenklicher ist die zunehmende
Verschränkung biologischer und chemischer Agenzien.
Während das Übereinkommen zum Verbot biologischer
Waffen und das CWÜ in Zeitlupe ausgebaut werden, fin-
det der technologisch-wissenschaftliche Fortschritt mit
Lichtgeschwindigkeit statt. Für einen Großteil der in der
Sparte „Life Sciences“ für kosmetische oder medizini-
sche Zwecke entwickelten Substanzen sind auch Ver-
wendungen im militärischen Bereich oder bei der „Auf-
rechterhaltung öffentlicher Sicherheit und Ordnung“,
sprich Polizeieinsätzen, möglich. Für diese neue Dual-
use-Gefahr reicht das jetzige CWÜ nicht aus – erst recht
nicht, wenn das eigentlich absolute Verbot gelockert
wird und ihr Einsatz als nichttödliche Waffe gestattet
wird. Hier müssen beizeiten neue Wege gefunden wer-
den. Eine Möglichkeit wäre zum Beispiel ein Rahmen-
übereinkommen für BWÜ und CWÜ, mit dem Ziel, Lü-
cken in den Grenzbereichen zu vermeiden und bei der
Verifikation Synergieeffekte zu erzielen.
Bislang fehlt es an einer überzeugenden abrüstungs-
politischen Konzeption der Bundesregierung. Das zeigt
sich auch im Bereich der B- und C-Waffen. Auf der ei-
nen Seite schürt die Bundesregierung – und vor allem In-
nenminister Schäuble – gerne die Angst vor terroristi-
schen Anschlägen mit Massenvernichtungswaffen. Auf
der anderen Seite ist nicht erkennbar, was die Bundesre-
gierung selber dagegen zu tun bereit ist und tut, Es geht
bei C-Waffen nicht um die Theorie, sondern um die Pra-
xis. Notwendig wären zum Beispiel Anstrengungen,
dass Produzenten und Händler von C-Waffen und der
entsprechenden Technologie auch international straf-
rechtlich verfolgt werden können. Die Bundesregierung
muss stärksten Druck auf die USA und Russland aus-
üben, ihr Arsenal an C-Waffen so schnell wie möglich zu
vernichten. Die Universalisierung des CWÜ erfordert
auch direktes bilaterales Engagement seitens der Bundes-
regierung, um den Nichtunterzeichnerstaaten unmissver-
ständlich klarzumachen, dass dies kein Kavaliersdelikt ist.
Über allem aber muss sie sich unmissverständlich gegen
eine Ausnahme nichttödlicher chemischer Waffen und
Wirkstoffe vom allgemeinen Verbot aussprechen.
Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Seit Montag findet in Den Haag die zweite Überprüfungs-
konferenz zum Chemiewaffenübereinkommen statt. Wir
hoffen und wünschen, dass die Vertragsstaaten bis zum
18. April ein Schlussdokument vorlegen, das dieses
wichtige Abrüstungsabkommen bekräftigt, stärkt und in
entscheidenden Bereichen weiterentwickelt.
Chemische Waffen gehören zu den scheußlichsten
und grausamsten Waffen der Welt. Sie wurden nicht nur
im Ersten und Zweiten Weltkrieg mit verheerenden Fol-
gen eingesetzt. Chemiewaffen wurden unter anderem
auch im Vietnam-Krieg verwendet und vor kurzem
jährte sich zum zwanzigsten Mal der Giftgaseinsatz ge-
gen die kurdische Bevölkerung im irakischen Halabscha.
Vor diesem Hintergrund ist es eine nicht zu unter-
schätzende Errungenschaft, dass wir vor knapp einem
Jahr das zehnjährige Bestehen der Chemiewaffenkon-
vention feiern konnten. Das 1997 in Kraft getretene Che-
miewaffenabkommen ist in mehrfacher Hinsicht muster-
gültig:
Das Abkommen kann fast weltweite Gültigkeit bean-
spruchen: 183 Staaten sind dem Abkommen beigetreten,
fünf weitere haben es unterzeichnet. Das Abkommen
verbietet Entwicklung, Herstellung, Besitz, Weitergabe
und Einsatz einer ganzen Kategorie von Massenvernich-
tungswaffen. Die Chemiewaffenbestände sind durch die
Vertragsstaaten offenzulegen und binnen 10, spätestens
15 Jahren, unter internationaler Aufsicht zu vernichten.
Das Herzstück des CWÜ ist das „allgemeine Zweckkri-
terium“, wonach alle toxischen Chemikalien und Vor-
produkte verboten und nur für bestimmte Zwecke er-
laubt sind. Es gibt ein permanentes Sekretariat und ein
Verifikationssystem, das die Einhaltung des Abkom-
16258 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008
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mens, dessen Weiterentwicklung und die Vernichtung
der Waffen sicherstellen soll.
Man stelle sich vor: Hätten wir ein solch breit getra-
genes Abkommen für den Bereich der Atomwaffen,
dann wäre die Welt im Jahr 2020 weitgehend atomwaf-
fenfrei!
Obwohl das CWÜ eine wichtige Errungenschaft ist,
gibt es sowohl im Bereich der Implementierung aber vor
allem im Bereich der Weiterentwicklung eine Reihe von
Problemen, die hier nur stichwortartig genannt werden
können.
Der Vertrag ist in vielen Staaten nur unzureichend in
nationales Recht umgesetzt. Wichtige Staaten, die im
Verdacht stehen, C-Waffen zu besitzen, sind dem Ab-
kommen noch nicht beigetreten. Die Bundesregierung
und die EU sollten weiterhin und nachdrücklicher auf
Nordkorea, Somalia, Angola aber auch auf Ägypten, Sy-
rien und Israel einwirken, dem Abkommen beizutreten.
Von den 71 000 Tonnen deklarierter Chemiewaffen sind
bislang lediglich knapp 28 000 Tonnen zerstört. Das
Ziel, bis 2012 alle Waffenbestände vernichtet zu haben,
wird bei dem gegenwärtigen Mitteleinsatz voraussicht-
lich nicht erreicht. Hier müssen die nationalen Bemü-
hungen vor allem der USA und Russlands und die inter-
nationalen Hilfen erhöht werden.
Um Mitgliedstaaten nicht falschen Verdächtigungen
auszusetzen ist das schärfste Verifikationsinstrument
– die „Verdachtsinspektion“ – bislang nur übungsweise,
aber nicht real zur Anwendung gekommen. Die Bundes-
regierung sollte die Mitgliedstaaten des CWÜ ermun-
tern, eine unangemeldete Verdachtsinspektion in
Deutschland durchzuführen.
Die Grenzen zwischen ziviler und militärischer, tödli-
cher und nichttödlicher Wirkung, Schutz- und Militär-
forschung sind fließend. Ein ganz besonderes Problem
stellt die technologische, wissenschaftliche und indus-
trielle Weiterentwicklung in diesem Dual-use-Bereich
dar. Die chemischen Produktionsanlagen werden immer
kleiner. Sie werden bislang nur unzureichend kontrol-
liert. Im Bereich der Biotechnologie und Nanotechnolo-
gie gibt es rasante – auch sicherheitspolitisch relevante –
Entwicklungen. Um eine Aushöhlung des C-Waffenab-
kommens zu verhindern, müssen die Vertragsstaaten auf
diese Entwicklungen bereits heute und nicht erst nach
Abschluss der C-Waffenvernichtung reagieren. Hierzu
liegen Experten-Vorschläge vor.
Dies gilt auch für den heiklen Bereich des Einsatzes
von Reizgasen und sogenannter nichttödlicher Waffen.
Sicherheitskräfte, insbesondere in den USA und Russ-
land, experimentieren seit Jahren mit nichttödlichen
Waffen. Darunter sind auch chemische Mittel, die Men-
schen bewegungsunfähig machen oder beruhigen sollen.
Falsch dosiert oder in bewaffneten Konflikten eingesetzt
können diese tödliche Folgen haben. Im Oktober 2002
setzten russische Spezialkräfte im Moskauer Musical-
Theater ein hochdosiertes Betäubungsmittel zur Geisel-
befreiung ein. Dabei wurden 132 der 830 Menschen ge-
tötet. Kurz zuvor war bekannt geworden, dass auch das
amerikanische Militär ein breites Spektrum an vermeint-
lich nichttödlichen Chemiewaffen für Kriegseinsätze
entwickelt.
Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie sich
auf der Überprüfungskonferenz dafür einsetzt, dass sich
die Vertragsstaaten dieses Problems annehmen. Und wir
erwarten auch, dass die Bundesregierung ihre For-
schungsaktivitäten im Bereich der nichtletalen Waffen
offenlegt.
Die Bundesregierung hat in der Vergangenheit einen
wichtigen Beitrag zur Stärkung des Regimes geleistet. Die
finanziellen, personellen und technischen Beiträge, die
Deutschland zum Beispiel im Rahmen des Globalen Part-
nerschaftsprogramms der G 8 zur Vernichtung der C-Waf-
fen in Russland leistet, sind beispielhaft. Insgesamt hat
die Bundesregierung bis zu 340 Millionen Euro für die
Errichtung von drei Anlagen zur Vernichtung chemi-
scher Waffen in Russland bereitgestellt. Im Gegensatz zu
meinem hoch geschätzten FDP-Kollegen Stinner, halte
ich diese Abrüstungshilfe für eine gute und friedensför-
derliche Investitition. Sie kommt nicht nur deutschen
Unternehmen, sondern auch deutsch-russischer Vertrau-
ensbildung und Abrüstung zugute. Bei Delegationsrei-
sen nach Gorny und Kambarka konnten wir uns vom
Vorbildcharakter dieser deutsch-russischen Abrüstungs-
zusammenarbeit überzeugen.
Wir appellieren an Russland, seine Anstrengungen
zur Beseitigung der Chemiewaffen zu erhöhen. Aber
auch Deutschland, die EU und andere Staaten sollten
künftig ihre Bemühungen intensivieren um andere Staa-
ten bei der Sicherung und Vernichtung von Chemiewaf-
fen tatkräftig zu unterstützen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf einen innen-
politischen Aspekt kommen. Die Bundesregierung ist
der Ansicht, Deutschland habe seine Bestände an vor
1945 produzierten, „alten chemischen Waffen“ vertrags-
konform bis Ende April 2007 komplett vernichtet. Dies
mag für die an Land gelagerten bzw. gefundenen C-Waf-
fen gelten. Es gilt aber nicht für die Munitionsaltlasten,
die heute noch vergraben sind bzw. in der Nord- und
Ostsee lagern. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg
wurden riesige Mengen chemischer Waffen und Kampf-
stoffe im Meer versenkt. In der Lübecker Bucht liegen
vermutlich 15 Flaschen mit hochgefährlichem Giftgas,
die selbst noch 1961 und offenbar unter offizieller Auf-
sicht versenkt worden sein sollen. Erst auf erheblichen
öffentlichem Druck entschied sich die Landesregierung
vor kurzem, die Giftgasflaschen zu bergen. Es gibt Hin-
weise, dass auch in der Flensburger und Kieler Förde,
zwischen Usedom und Bornholm und an diversen ande-
ren Stellen chemische Kampfstoffe liegen.
Dieses Teufelszeug ist damit nicht aus der Welt ge-
schafft und nicht in der Versenkung verschwunden. Es
ist eine ständige Bedrohung. Immer wieder kommt es
vor, dass Fischer oder Strandbesucher von Senfgas, Ta-
bun oder Phosphor verletzt werden. Hier sind nicht nur
die Länder, hier ist auch der Bund in der Pflicht. Es ist
schwer zu erklären, warum die Bundesregierung Russ-
land aber nicht Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-
Holstein oder Niedersachsen bei der Identifizierung, Si-
cherung, Bergung und Vernichtung von Munitionsaltlas-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16259
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ten unter die Arme greift. Es wäre daher sehr zu begrü-
ßen, wenn sich der Bund hier zu seiner Verantwortung
bekennt.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Für eine umfassende Strategie zur demokra-
tieverträglichen und zivilgesellschaftlichen
Stabilisierung Pakistans
– Keine U-Bootlieferung an Pakistan
(Tagesordnungspunkt 17, Zusatztagesordnungs-
punkt 8)
Ruprecht Polenz (CDU/CSU): Es ist gut, dass wir
uns heute auf der Grundlage von zwei Anträgen der Frak-
tion Bündnis/Die Grünen mit Pakistan beschäftigen und
mit der Frage, wie wir diesen für uns strategisch wichti-
gen Schlüsselstaat dauerhaft stabilisieren können. Der
ständige Strom von militanten Aufständischen und wohl
auch von Al-Qaida-Terroristen aus Pakistan nach Afgha-
nistan gehört zu den wichtigsten Sicherheitsproblemen,
vor denen Afghanistan und die 40 000 ISAF-Soldaten
sowie die Tausenden von zivilen Aufbauhelfern aus vie-
len Länder dieser Welt in Afghanistan stehen. Ein strate-
gischer Schlüsselstaat ist Pakistan auch im Hinblick auf
den internationalen Terrorismus geworden, wie die Aus-
bildungslager zeigen, in denen immer häufiger auch
Deutsche gesehen werden. Und nicht zuletzt: Pakistan ist
ein Atomwaffenstaat.
Mit ihrem Antrag „Für eine umfassende Strategie zur
demokratieverträglichen und zivilgesellschaftlichen Stabi-
lisierung Pakistans“ unternimmt die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen eine wie ich finde zutreffende Beschreibung
der Lage. Auch die Einzelmaßnahmen, die die Grünen
von der Bundesregierung einfordern, finden im Großen
und Ganzen meine Zustimmung; schließlich entsprechen
sie weitgehend der bisherigen Politik – die allerdings
weiter verstärkt werden muss – wie auch den Empfeh-
lungen der International Crisis Group.
Andererseits sollten wir uns immer dessen bewusst
bleiben, dass Pakistan von außen nur schwer zu beein-
flussen ist. Hier habe ich eine kritische Anmerkung zu
dem Antrag: Erwartet wird eine nationale, deutsche Pa-
kistan-Strategie, die gleichwohl umfassend genannt
wird. Wirklich „umfassend“ wäre nur eine gemeinsame
EU/NATO-Strategie, die möglichst viele auch der ande-
ren ISAF-Truppenstellerländer „umfassen“ müsste.
Denn nur wenn Pakistan von möglichst vielen von au-
ßerhalb die gleichen Signale empfängt, besteht die Aus-
sicht, dass Einfluss genommen werden kann. Ansätze zu
einem gemeinsamen europäischen Vorgehen sind in der
EU-Entwicklungshilfepolitik gegenüber Pakistan vor-
handen; sie ist erfreulicherweise in den letzten Jahren
verstärkt worden. In jedem Fall brauchen wir für eine
„umfassende“ Pakistan-Strategie eine enge Abstimmung
zwischen der Europäischen Union und den USA.
Einen wichtigen Faktor dürfen wir dabei nicht überse-
hen: die Rolle Chinas. China ist seit jeher ein wichtiger
Verbündeter Pakistans, und wir wissen, dass China in
seiner Außenpolitik durchaus eigene Ziele verfolgt. Lei-
der gehört zu diesen Zielen nicht das, was uns gerade im
Falle Pakistans besonders wichtig ist: Zivilgesellschaft,
Rechtsstaat, Demokratie.
Lassen Sie mich noch einen Hinweis auf Verbindun-
gen geben, die sich für eine Pakistan-Strategie vielleicht
mehr als bisher nutzen lassen: Pakistan unterhält ein aus-
gesprochen enges Verhältnis zu den Vereinigten Arabi-
schen Emiraten. Vor allem sind Pakistan und die Türkei
eng und freundschaftlich miteinander verbunden. Wa-
rum machen wir uns diese Verbindung nicht stärker zu-
nutze als bisher?
Pakistan hat 165 Millionen Einwohner. Pakistan ist
damit der sechstgrößte Staat auf dieser Welt. Pakistan ist
seit 60 Jahren unabhängig, gegründet als „Staat für Mus-
lime“. Unter diesen Voraussetzungen wäre Pakistan
heute überall sonst auf der Welt eine bedeutende Regio-
nalmacht, also ein Staat, auf den sich kleinere Nachbarn
in ihrer Politik beziehen und die Pakistan mit seiner
Politik beeinflussen könnte. Aber das „geografische
Schicksal“ hat es so gefügt, dass Pakistan mit Indien und
China zwei Milliardenvölker zu Nachbarn hat und mit
Iran ebenfalls einen Staat mit regionalem Macht-
anspruch. Das Verhältnis zu Afghanistan ist zwiespältig,
belastet durch eine koloniale Grenzziehung, die von bei-
den nicht anerkannt wird. Aus seiner Stellung in der Re-
gion kann Pakistan also Positives für seine Identität zie-
hen.
Aus dem „Staat für Muslime“, als der Pakistan ge-
gründet wurde, ist heute ein Staat geworden, der sich de-
zidiert als islamischer Staat versteht. Weil das in sich ein
Widerspruch ist – der Islam definiert sich gerade nicht in
nationalstaatlichen Grenzen, sondern versteht sich als
Umma, als alle Muslime auf der Welt umfassend –, hat
Pakistan ein gravierendes Identitätsproblem. Es hat sich
hauptsächlich eine Art Antiidentität entwickelt: gegen
Indien, gegen den Westen, insbesondere gegen die USA.
Das Islamverständnis ist, vor allen Dingen auf dem radi-
kalen Flügel der pakistanischen Gesellschaft, immer
mehr vom Dschihad, also von einem kämpferischen Is-
lam geprägt. Die Fixierung auf Indien – man hat mehr-
fach Krieg gegeneinander geführt – hat schließlich zur
nuklearen Aufrüstung beider Seiten geführt und in Pa-
kistan die dominierende Rolle der Armee bis heute im-
mer wieder gefestigt.
Warum erwähne ich das alles? Ich glaube, wenn wir
über eine umfassende Pakistan-Strategie nachdenken,
müssen wir auch überlegen, ob es für Pakistan so etwas
wie eine konstruktive regionale Rolle geben könnte. Es
könnte unter bestimmten Voraussetzungen sinnvoll sein,
die Verbindungen zwischen Pakistan und den zentralasi-
atischen Staaten zu stärken. Auch das Pipelineprojekt
zwischen Iran, Pakistan und Indien gehört in einen sol-
chen Kontext, der allerdings weit in die Zukunft weist.
Lassen sie mich einige Anmerkungen zu dem zweiten
Antrag – „Keine U-Boot-Lieferung an Pakistan – ma-
chen: Im Sinne unserer restriktiven Richtlinien für den
16260 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008
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Export von Rüstungsgütern wird Pakistan als „sonstiges
Land“ außerhalb von EU und NATO sowie diesen
gleichgestellten Ländern bezeichnet. Bei Rüstungsex-
porten in diese Länder ist in besonderer Weise sowohl
die innere Lage, die Menschenrechtssituation, die regio-
nale Stabilität und die Gefahr der Proliferation in die Ab-
wägung einzubeziehen, ob überhaupt Rüstungsgüter ge-
liefert werden können. Was nun die U-Boote anbetrifft,
so gibt es bisher eine positiv entschiedene Voranfrage.
Über einen endgültigen Liefervertrag ist bisher noch
nicht entschieden. Aus der Antwort der Bundesregierung
auf eine Große Anfrage der FDP geht allerdings hervor,
dass es bisher praktisch noch nicht vorgekommen ist,
dass nach einer positiv entschiedenen Voranfrage das
Ausfuhrgeschäft letztlich nicht genehmigt wurde. Im Zu-
sammenhang mit den möglichen U-Boot-Exporten ist
wichtig, dass die Bundesregierung definitiv erklärt hat,
dass sie keine Genehmigung für Waffensysteme erteilt,
die nuklear bewaffnet werden könnten. Trotzdem halte
ich den Export dieser U-Boote für außerordentlich pro-
blematisch. Zur Begründung verweise ich auf das vorher
Gesagte und auf die in den Anträgen wie ich finde weit-
gehend zutreffend beschriebene Analyse der Lage im
Land und in der Region. Nach der Ausrufung des Not-
stands durch Präsident Musharraf hatten wir am 8. No-
vember 2007 im Deutschen Bundestag eine Pakistan-
Debatte, in der ich mich für ein Moratorium für Militär-
hilfe an Pakistan ausgesprochen habe, das so lange ein-
gehalten werden soll, bis man deutlich erkennen kann, in
welche Richtung sich Pakistan entwickelt. Daran möchte
ich auch im Hinblick auf den U-Boot-Export festhalten.
Eine Bemerkung zum Tenor des Antrags kann ich mir
zum Abschluss nicht verkneifen: Wenn man den Antrag
der Grünen liest, könnte man den Eindruck bekommen,
es habe zu Zeiten der rot-grünen Bundesregierung über-
haupt keine Rüstungsexporte an Pakistan gegeben. Denn
viele der Gründe, die jetzt gegen den U-Boot-Export an-
geführt werden, gab es auch schon vor 2005, und sie hät-
ten, nimmt man sie so apodiktisch, wie sie in dem An-
trag formuliert sind, dazu führen müssen, dass jeder
Antrag auf Export von Rüstungsgütern abgelehnt hätte
werden müssen. Aber so war es nicht: 2003 wurden aus
Deutschland Rüstungsgüter im Wert von 900 000 Euro
nach Pakistan ausgeführt, 2004 schon für 32,7 Millionen
Euro, 2005 für knapp 100 Millionen Euro. So viel zur
Übereinstimmung von Rhetorik und tatsächlichem Han-
deln bei unseren grünen Kolleginnen und Kollegen.
Johannes Pflug (SPD): In der Plenardebatte am
8. November 2007 habe ich die Auffassung vertreten,
dass es für Pakistan aus meiner Sicht vier Entwicklungs-
szenarien gibt: der Staat zerfällt und wird unkontrollier-
bar wie Afghanistan; es entsteht ein Islamischer Gottes-
staat; die Militärdiktatur bleibt an der Macht; die
Demokratisierung mit der Gefahr, dass Teile der alten
korrupten Eliten wieder in Führungsämter gelangen.
Am 18. Februar dieses Jahres haben die Menschen in
Pakistan tatsächlich ein neues Parlament gewählt und die
EU-Wahlbeobachtungskommission hat dieser Wahl
grundsätzlich ihren Segen gegeben. Zwar haben die
Wahlbeobachter die Rahmenbedingungen kritisiert, den-
noch habe die Wahl ihren pluralistischen Maßstäben ge-
nügt.
Man darf hoffen, dass die Koalition aus den jahrzehn-
telangen Hauptkonkurrenzparteien PPP und PML-N plus
der säkularen Awami National Party, ANP, und der reli-
giös-konservativen Jamiat Ulema-e-Islam, JUI-F, zur
Stabilisierung des Landes beiträgt.
Dass die Situation sich vom vergangenen Jahr bis
heute etwas stabilisiert hat, wird ja auch deutlich im Un-
terschied der Beurteilungen, die sich im Antrag 16/5594
von Bündnis 90/Die Grünen „Keine U-Bootlieferung an
Pakistan“ vom 13. Juni 2007 und dem Antrag derselben
Fraktion vom heutigen Tage widerspiegelt. Lassen Sie
mich feststellen, dass ich im Wesentlichen Ihre Beurtei-
lung von heute teile. Allerdings glaube ich zum einen,
dass die Bundesregierung sich übernehmen würde, wenn
sie Ihrer Forderung nach Vorlage einer umfassenden Pa-
kistan-Strategie nachkommen sollte.
Zum Zweiten sollte man vorsichtig sein mit der For-
derung nach Freilassung aller noch in Haft befindlichen
politischen Gefangenen. In einem Staat wie Pakistan
sollte man damit behutsam umgehen, weil der Übergang
zwischen Islamisten, Fundamentalisten, Extremisten bis
hin zu Terroristen mitunter kaum identifizierbar ist, und
somit auch nach unserem Verständnis die Abgrenzung
zwischen politischem Extremismus und Kriminalität
nicht ohne Weiteres möglich ist. Dem Rest Ihrer Forde-
rungen stimme ich zu, möchte aber feststellen, dass es
im Moment und in der Zukunft wichtig ist, dass sich die
Lage wieder normalisiert und stabilisiert. Pakistan darf
weder zerfallen noch ein islamischer Gottesstaat werden.
Dies hätte gravierende Auswirkungen auf die ganze Re-
gion Südasien.
Deshalb sollten Deutschland und die Europäische
Union durchaus auch im Sinne Ihres Antrages die pakis-
tanische Regierung und das pakistanische Parlament in
ihren Bemühungen um Demokratisierung und Stabilisie-
rung unterstützen, da dies von höchster Bedeutung für
die Entwicklung in Afghanistan ist. Die jüngsten Ent-
wicklungen in Pakistan sollten uns Deutschen zu einer
stärkeren Zusammenarbeit mit unseren europäischen
Partnern und den USA veranlassen. Zusammen müssen
wir als internationale Gemeinschaft auf eine Rückkehr
zur Normalität drängen, aber auch die notwendige Hilfe
leisten, politisch und finanziell. Abschließend will ich
noch auf den Antrag „Keine U-Bootlieferung an Pakis-
tan“ vom 13. Juni des letzten Jahres eingehen. Zurzeit
befindet sich die Lieferung der U-Boote in einer Stornie-
rungsphase. Wie ich schon eingangs feststellte, hat sich
in den letzten Wochen die Situation in Pakistan etwas
verbessert. Da die Bundesregierung schon bei ihrer ers-
ten Entscheidung im letzten Jahr der Meinung war, dass
die Voraussetzungen des vierten Kriteriums des EU-Ver-
haltenskodexes für Pakistan nicht vorliegen, hat sich ihre
Auffassung mithin in der heutigen Situation wohl kaum
verändert.
Ich will mich darüber nicht weiter auslassen, aber
ausdrücklich festhalten, dass ich über die Lieferung von
U-Booten nach Pakistan nicht glücklich bin, zumal diese
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16261
(A) (C)
(B) (D)
kaum zur Stabilisierung der Situation an der pakistani-
schen Westgrenze beitragen dürften.
Elke Hoff (FDP): Dass sich der Deutsche Bundestag
mit der Stabilisierung Pakistans beschäftigt, ist überfäl-
lig. Die Bundesregierung beschreibt zwar immer wieder
zutreffend die Bedeutung Pakistans als Schlüssel zur Lö-
sung der Probleme in der Region, doch halten sich die
Anstrengungen der Bundesregierung in Grenzen, wenn
es darum geht an der Lösung mitzuwirken. Dabei hofft
man in Pakistan gerade nach der überraschend fair und
demokratisch verlaufenen Parlamentswahl im Februar
auch auf eine deutsche Unterstützung bei der weiteren
Stabilisierung und Demokratisierung des Landes.
Deutschland ist als ehrlicher Makler hoch willkommen.
Es besteht aber auch ein unmittelbares deutsches Inte-
resse daran, die demokratische, zivilgesellschaftliche
und ökonomische Entwicklung in Pakistan zu fördern.
Verlust an regionaler Sicherheit wirkt sich stets auf die
weltweite Sicherheitsbalance aus. Wenn es in Pakistan
aufwärts geht, wird man das zuerst in Afghanistan spü-
ren. Die dortige Verschlechterung der Sicherheitslage
hängt neben einem Verlust von Einfluss der pakistani-
schen Sicherheitskräfte in der pakistanisch-afghanischen
Grenzregion auch mit der miserablen wirtschaftlichen
und infrastrukturellen Situation in der dortigen Region
zusammen. Darüber hinaus hat Deutschland Know-how
und Technologien anzubieten, die helfen können, die Le-
bensbedingungen vieler Menschen und wirtschaftliche
Rahmenbedingungen zu verbessern. Ich denke hier ins-
besondere an Infrastrukturprojekte, Bildungsangebote,
alternative Energien sowie technologische Unterstüt-
zung bei der Grenzsicherung. Uns sollte Mut machen,
dass Pakistan über ein großes Reservoir an gut ausgebil-
deten jungen Menschen verfügt, die Teil einer zukünfti-
gen politischen und wirtschaftlichen Elite sein können.
Mit diesen Hoffnungsträgern muss ein intensiver Dialog
aufgenommen werden.
Ohne Frage ist Pakistan auch nach den Wahlen wei-
terhin von stabilen demokratischen Verhältnissen, wie
wir sie uns vorstellen, entfernt. Daher brauchen wir Ge-
duld und sollten unsere Erwartungen an die Geschwindig-
keit von Modernisierungsprozessen auf ein realistisches
Maß reduzieren. Nur wenn wir die gesellschaftlichen und
kulturellen Besonderheiten Pakistans verstehen, wird ein
Dialog mit Pakistan Erfolg haben können.
Bei aller angebrachten Skepsis teile ich die düstere
Einschätzung in den Anträgen von Bündnis 90/Die Grü-
nen nicht und halte die Zustandsbeschreibung und die
Forderungen auch für keine sinnvolle Grundlage, die
Rolle Deutschlands im Stabilisierungsprozess Pakistans
zu definieren. Pakistan steht nicht an der Grenze zum
Staatszerfall, und die Nuklearwaffen drohen derzeit auch
nicht in die Hände von Extremisten zu fallen. Die Wah-
len haben gezeigt, dass die Masse der pakistanischen Be-
völkerung die Islamisten nicht will und politisch nicht
unterstützt. Sie haben nur einen Sitz im Parlament errun-
gen und haben darüber hinaus in den paschtunischen
Stammesgebieten an der Grenze zu Afghanistan und in der
Nordwestprovinz ihre Regierungsbeteiligung verloren.
Ebenso erfreulich ist, dass die von Präsident Musharraf im
vergangenen November entlassenen und unter Haus-
arrest gestellten Richter endlich wieder freikommen. Die
Bewegung der Rechtsanwälte hat in den letzten Monaten
gezeigt, dass es auch außerhalb der Parteien ein großes
zivilgesellschaftliches Potenzial in Pakistan gibt.
Auch wenn sich die Rolle des Militärs in Pakistan mit
unseren Vorstellungen von Streitkräften innerhalb einer
Demokratie nicht vereinbaren lässt, so muss man aber
konstatieren, dass es auch in den Zeiten größter Instabili-
tät die Kontrolle über die pakistanischen Nuklearwaffen
sichergestellt hat.
Wenn Deutschland einen Beitrag zur Stabilisierung
Pakistans leisten will, muss es auch möglich sein, die pa-
kistanischen Sicherheitskräfte, insbesondere die Grenz-
polizei, sowohl bei deren Ausbildung als auch bei der
Ausstattung zu unterstützen. Daher halte ich nichts von
einer pauschalen Ablehnung dieser an manchen Stellen
notwendigen technologischen Unterstützung, wie sie im
vorliegenden Antrag formuliert wird. Vielmehr sollte
man im Rahmen eines vertrauensvollen Dialogs versu-
chen, Pakistan und auch Indien an die internationalen
Rüstungskontrollregime heranzuführen. Pakistan muss
vor allem auch durch die internationale Unterstützung in
die Lage versetzt werden, gegen die Proliferation von
sensiblem Wissen und Technologien nichtstaatlicher Ak-
teure besser gerüstet zu sein. Hier war Pakistan in der
Vergangenheit zu anfällig, wie der Erfolg des Khan-
Netzwerkes gezeigt hat. Ich möchte die Bundesregie-
rung ermuntern, die neue Situation in Pakistan für einen
Ausbau der bilateralen Beziehungen zu nutzen.
Ich halte die von Bündnis 90/Die Grünen vorgenom-
mene Verknüpfung des Antrags zur Stabilisierung Pa-
kistans mit dem Antrag gegen eine Lieferung deutscher
U-Boote nach Pakistan für falsch. Man kann zur U-Boot-
Lieferung ja durchaus unterschiedlicher Auffassung sein,
dieser Antrag hätte jedoch in die Debatte zum Jahresrüs-
tungsbericht oder zum Rüstungskontrollbericht gehört.
Das Wahlergebnis hat sowohl der PPP als auch der
Muslimliga breiten Rückhalt eingeräumt. Wie stark die
Parlamentsfraktionen gegenüber Präsident Musharraf
agieren können, hängt sicher auch von der Unterstützung
ab, die das pakistanische Parlament aus dem Ausland er-
fährt. Daher wünsche ich mir einen intensiveren inner-
parlamentarischen Austausch zwischen dem pakistani-
schen Parlament und dem Deutschen Bundestag. Unsere
pakistanischen Kollegen suchen aktiv nach politischen
Kontakten in Deutschland. Ein solcher Austausch kann
und soll auf beiden Seiten Türen öffnen, sodass er sich
auch mittelfristig im Bereich der Universitäten, der Wirt-
schaft und beim Aufbau der zivilen Organisationen nie-
derschlagen kann.
Dr. Norman Paech (DIE LINKE): Nach den Wahlen
am 18. Februar diesen Jahres sieht es so aus, als stabili-
siere sich das Land: Musharraf wurde abgewählt, radi-
kale religiöse Parteien konnten sich nicht behaupten, die
zwei Wahlsieger haben eine Regierung gebildet.
16262 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008
(A) (C)
(B) (D)
Dies kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen,
dass Pakistan nach wie vor einer der gefährlichsten Staa-
ten auf der Welt ist. Politische Stabilität und demokrati-
sche Entwicklung sind auch nach den Wahlen nicht
gegeben: Es gibt einen weiterhin mächtigen und unkon-
trolliert agierenden Geheimdienst, das Land verfügt über
Atomwaffen, und das Militär dominiert Politik und Wirt-
schaft sowie die sozialen Beziehungen. Kurz: Pakistan
ist ein destabilisiertes Land.
Pakistan ist auch deshalb so instabil, weil die interna-
tionale Gemeinschaft der Militärdiktatur Musharraf als
Partner im Anti-Terrorkampf jahrelang einen Blanko-
scheck erteilt hat. Die USA haben in den letzten Jahren
10 Milliarden US-Dollar in das Land gepumpt und die-
ses damit massiv aufgerüstet. Auch Deutschland liefert
fleißig Rüstungsgüter und unterstützt damit das Wettrüs-
ten der Region.
Heute sehen wir das Ergebnis dieser Politik. Die Be-
drohungen sind größer geworden, für Pakistan und seine
Menschen, aber auch für die internationale Gemein-
schaft. Einer demokratischen und friedlichen Entwick-
lung stehen Gefahren entgegen, die aus der bisherigen
Entwicklung Pakistans erwachsen.
So werden die Militärs nicht bereit sein, ihre umfas-
sende Kontrolle des politischen und ökonomischen
Lebens einfach so abzugeben und einem Demokratisie-
rungsprozess unterzuordnen. Allerdings wird die inter-
nationale Gemeinschaft gleichzeitig dagegen sein, dass
die Kontrolle des atomaren Waffenarsenals aus den Hän-
den der Militärs genommen wird, die zurzeit noch für
die Sicherheit der Atomwaffen stehen. Dieses Dilemma
wird sich in absehbarer Zukunft nicht einfach so auflö-
sen. Zu befürchten ist, dass die internationale Gemein-
schaft weiterhin auf das Militär setzt, und damit feuda-
listische und nicht demokratische Strukturen gestärkt
werden.
Weiterhin besteht die Gefahr eines Staatszerfalls. Die
krassen ökonomischen und sozialen Unterschiede kön-
nen zu einer Radikalisierung von Teilen der Bevölke-
rung führen, die bestehenden ethnischen Spaltungen der
Gesellschaft lassen sich leicht instrumentalisieren. Über
manche Provinzen des Landes, über Warizistan und Be-
lutschistan, hatte bereits die alte Regierung keine Kon-
trolle mehr.
Und nicht zuletzt steht zu befürchten, dass Pakistan
wegen seiner geopolitischen zentralen Lage sowie seiner
immensen Öl- und Gasvorkommen auch in Zukunft im
Machtpoker anderer Mächte eine zentrale Rolle spielen
wird. Das bedeutet, dass Demokratisierung und der
Schutz der Menschenrechte weiterhin die Nebenrollen
einnehmen werden.
Das sind düstere Aussichten für die Menschen in Pa-
kistan.
Die derzeitige katastrophale Situation in Pakistan ist
auch ein Ergebnis des gescheiterten „Kampfes gegen
den Terror“. Die „Koalition der Willigen“ hat in der Ver-
gangenheit allein auf Militär und Krieg gesetzt. Hinter-
lassen wurde ein hochgerüstetes Pakistan, über das man
die Kontrolle vollständig verloren hat. Nicht zuletzt die
Bundesregierung hat mit ihrer Rüstungsexportpolitik
diesen Zustand mit herbeigeführt. Die deutsche Bundes-
wehr führt Krieg in Afghanistan. Und solange dieser
Krieg andauert, solange wird auch Pakistan weiter desta-
bilisiert. Da helfen auch keine Entwicklungs- und Stabi-
lisierungsprogramme, wie der vorliegende Antrag der
Grünen fordert. Denn dieser zeigt, dass die Grünen das
eigentliche Problem verkennen.
Vordringlich notwendig ist die Entmilitarisierung der
ganzen Region, das heißt die Beendigung des Krieges in
Afghanistan. Notwendig ist der Stopp der Aufrüstung
Pakistans sowie eine internationale Kontrolle ihres
Atomwaffenpotenzials, die darauf abzielt, es vollständig
zu beseitigen. Zudem müssen die territorialen Konflikte
mit dem Nachbarn Indien gelöst werden. Dann können
auch Entwicklungsprogramme eine nachhaltige Wirkung
erzielen.
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In
den letzten Jahren haben wir die Entwicklungen in Pa-
kistan mit Sorge zur Kenntnis genommen. Seit der
Machtübernahme von Präsident Musharraf 1999 betrifft
das nicht nur das innere Demokratiedefizit und eine mi-
serable Menschenrechtsbilanz. Pakistan drohte sich in
Richtung eines Failed State und zunehmenden Aktions-
felds für islamistische Extremisten zu entwickeln.
Lange Zeit hielten vor allem die USA an Musharraf
als Hauptverbündetem im „Krieg gegen den Terroris-
mus“ fest. Die Erfolgsbilanz ist ernüchternd: Die Struk-
turen der Taliban in den Grenzgebieten zu Afghanistan
wurden nicht entscheidend geschwächt; die Lebensbe-
dingungen der dortigen Bevölkerung bleiben katastro-
phal; aufseiten der pakistanischen Geheimdienste und
Armee gibt es wenig Begeisterung für den US-erklärten
Antiterrorkrieg und teils offene Sympathie und Verbin-
dungen zu den jahrelang instrumentalisierten Taliban-
kämpfern.
Gerade aus diesem Grund ist die jahrelange Versor-
gung Musharrafs als vermeintlich bestem Garanten von
Stabilität mit Finanzmitteln und Rüstungsgütern kritisch
zu hinterfragen. Denn die letzten Monate haben nicht
nur gezeigt, wie schwach seine Legitimation im eigenen
Land war; letztlich eskalierte unter seiner Alleinherr-
schaft die extremistische Bedrohung in Pakistan infolge
der Kämpfe um die „Rote Moschee“ in Islamabad wei-
ter.
Es fällt auf, dass unsere – damit meine ich deutsche
und europäische – Politik kein umfassendes Konzept
zum Umgang mit diesem Land und seiner instabilen
Lage entwickelt hat. Zwar gibt es multilaterale Konsul-
tationen vor allem in Bezug auf den Wiederaufbau in Af-
ghanistan sowie begrenzte Aktivitäten im Bereich der
Entwicklungszusammenarbeit. Eine echte Pakistan-Stra-
tegie fehlt aber. Deshalb hat meine Fraktion bereits zwei
Anträge vorgelegt, die einerseits eine solche Strategie
auf die Tagesordnung setzen, andererseits auf die Unver-
antwortlichkeit und großen Gefahren deutscher Rüs-
tungslieferungen an Pakistan hinweisen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16263
(A) (C)
(B) (D)
Die jüngsten Entwicklungen in Pakistan waren be-
sorgniserregend; mit den jüngsten Wahlen gab es aber
auch positive Zeichen. Die Alleinherrschaft Musharrafs
wurde im letzten Jahr in Pakistan zunehmend unpopulä-
rer. Der Versuch, per Notstand und Einschränkung der
Zivilgesellschaft eine wachsende Protestbewegung zu
stoppen, scheiterte. Erst sicherte sich Musharraf eine
Wiederwahl, die nur durch eine verfassungswidrige Ab-
setzung der obersten Richter möglich wurde. Danach
legte Musharraf zwar seinen Posten als Armeekomman-
deur nieder und hob den Notstand auf; die Kritik an sei-
ner demokratisch nicht legitimierten Amtsführung hielt
aber an.
Bei den jüngsten Parlamentswahlen am 18. Februar
dieses Jahres erlitt Präsident Musharraf mit seiner Partei
eine deutliche Wahlniederlage. Die Wahlsieger von der
Pakistan Peoples Party, PPP, der am 27. Dezember 2007
ermordeten Benazir Bhutto und die Pakistan Muslim
League-N, PML-N, unter Nawaz Sharif haben eine ge-
meinsame Regierung gebildet und Yousaf Raza Gillani
zum Premierminister gewählt. Das Personal dieser Par-
teien bietet zwar nur eingeschränkt die Aussicht auf dy-
namische Veränderung in Richtung von Rechtsstaatlich-
keit und Demokratie in Pakistan. Dennoch: Erstmals seit
langem existiert eine demokratisch zweifelsfrei legiti-
mierte Regierung. Immerhin wurden auch die von
Musharraf unter Hausarrest gestellten Richter und
Rechtsanwälte von der neuen Regierung freigelassen.
Für eine Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung ist
notwendig, dass sie ihre Ämter wieder aufnehmen kön-
nen. Die internationale Gemeinschaft und insbesondere
deutsche und europäische Politik muss jetzt diese Rück-
kehr zur verfassungsmäßigen Ordnung unterstützen und
gemeinsam mit der neuen Regierung den neugewonne-
nen Spielraum nutzen.
Pakistan ist ein weitaus pluralistischeres Land, als wir
es oftmals wahrnehmen. Es existiert eine ausgeprägte
und vielfältige Presselandschaft; die Zivilgesellschaft ist
ebenfalls aktiv. Ihr kraftvollstes Element war die Bewe-
gung der Richter und Rechtsanwälte unter Führung des
ehemaligen Obersten Richters Iftikhar Chaudhry, die
über Monate offen ihre Kritik an Musharrafs Willkür-
herrschaft übte. Mit diesen Kräften, welche die neue Re-
gierung einbeziehen muss, existieren viele Ansprech-
partner, mit denen wir den Dialog suchen müssen.
Insbesondere entwicklungspolitische Instrumente müs-
sen wir nutzen, um rechtsstaatliche Strukturen und Insti-
tutionen, um die Zivilgesellschaft zu stärken.
In Pakistan ist die Rolle der Armee so stark, dass oft-
mals von einer „Armee, die einen Staat hat“ anstelle ei-
nes „Staates mit einer Armee“ gesprochen wird. Pakis-
tan wird nur dann dauerhaft stabil werden können, wenn
die zentrale Rolle der Armee im staatlichen Gefüge um-
sichtig abgebaut wird und zivile Strukturen an ihre Stelle
treten. Der Stabilitätsgarant einer starken Armee ist trü-
gerisch; denn Konfliktpotenziale in der Region wie der
Kaschmir-Konflikt mit Indien bestehen weiterhin und
werden sich nicht durch weiteres Aufrüsten entschärfen
lassen. Der Glaube, dass nur mit der Militärherrschaft
Musharrafs Stabilität in Pakistan zu gewährleisten sei,
war ein Missverständnis. Die Hoffnung insbesondere der
USA, einen zuverlässigen Partner im „Krieg gegen den
Terrorismus“ zu haben, war und ist trügerisch.
Musharrafs Doppelspiel aus Appeasement und harter
militärischer Linie gegenüber radikalen islamistischen
Gruppen hat die Probleme in den schwierigen Gebieten,
insbesondere in Wasiristan und Belutschistan, nicht lö-
sen können. Wie groß das Störungspotenzial radikaler
Organisationen ist, zeigen dagegen die anhaltenden, teils
schweren Selbstmordattentate und Anschläge in Pakis-
tan. Islamistische Parteien in Pakistan erlitten in den
jüngsten Wahlen dagegen eine herbe Niederlage.
Die Lage im Land ist und bleibt instabil, die weitere
Entwicklung unvorhersehbar. Auch deshalb ist die Bot-
schaft unseres Antrages zu den Rüstungslieferungen an
Pakistan eindeutig: Die Ausfuhr von Kriegswaffen oder
sonstigen Rüstungsgütern ist unter keinen Umständen zu
rechtfertigen und wäre eine endgültige Abkehr vom
Grundsatz restriktiver Rüstungsexportpolitik. Der Bun-
dessicherheitsrat hat dennoch eine Voranfrage Pakistans
über die Lieferung zweier U-Boote positiv beschieden
und Hermeskredite über 1,2 Milliarden Euro in Aussicht
gestellt. Der Bundestag wurde im Vorfeld dieser Ent-
scheidung weder unterrichtet noch konsultiert. Es bleibt
ein großer Missstand deutscher Rüstungsexportkon-
trolle, dass hier hinter verschlossenen Türen entschieden
und dem Parlament jegliche Kontrollfunktion verwehrt
wird.
In der Antwort auf eine Große Anfrage unserer Frak-
tion hat die Bundesregierung erklärt, dass sie die innere
Lage in Pakistan bei ihrer Abwägung einbezieht. Wenn
dem so ist, müsste es ein Leichtes sein, ein deutliches
Nein für die in Aussicht gestellte U-Boot-Lieferung zu
formulieren – ebenso wie für weitere Lieferungen in die
angespannte Region. Rüstungslieferungen an Pakistan
sind in keiner Weise geeignet, zur Stabilität beizutragen,
sondern drohen den Rüstungswettlauf in der Region an-
zuheizen. Die ungeklärte innere Lage und Instabilität
verbieten die Lieferungen ebenso wie die bisherige of-
fensichtliche Rolle Pakistans bei der Weiterverbreitung
und der direkten und indirekten Unterstützung für extre-
mistische Organisationen, insbesondere mit Blick auf
Afghanistan. Pakistan ist Nuklearstaat, und wie bei
kaum einem anderen Land besteht die Sorge, Massen-
vernichtungswaffen könnten angesichts der instabilen
inneren Lage und des anhaltenden Dauerkonflikts mit
Indien außer Kontrolle geraten oder in die falschen
Hände gelangen. Auch Politikerinnen und Politiker der
Koalitionsfraktionen haben bereits ihre Bedenken ge-
genüber Rüstungsexporten nach Pakistan eingeräumt,
die gegen alle Grundsätze deutscher und europäischer
Rüstungsexportrichtlinien verstoßen.
Ein klares Nein der Bundesregierung ist gefordert. Sie
muss darüber hinaus darauf hinwirken, dass Pakistan
nicht weiterhin zu einer Quelle der Weiterverbreitung
von Massenvernichtungswaffen und deren Trägerwaf-
fen wird, sondern sich den internationalen Rüstungskon-
trollregimen anschließt. Außerdem müssen wir dringend
darüber diskutieren, wie der Deutsche Bundestag end-
lich an einer wirksamen Kontrolle der Rüstungsexporte
beteiligt werden kann.
16264 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008
(A) (C)
(B) (D)
Es gibt jetzt eine Chance, Pakistan langfristig zu sta-
bilisieren, was auch eine wichtige Voraussetzung für den
Aufbau in Afghanistan ist. Das geht nicht mit Rüstungs-
lieferungen! Es muss jetzt darum gehen, eine möglichst
umfassende Strategie zu entwickeln, wie in Pakistan um-
fassende Verbesserungen in zentralen staatlichen Berei-
chen wie Justiz, Verwaltung, Parlament und Rechtsstaat-
lichkeit sowie bei den Menschenrechten und aufseiten
der Zivilgesellschaft erreicht werden können. Einen wei-
teren gescheiterten Staat in der Region können wir uns
nicht leisten.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Neuausrichtung der Europäischen
Stiftung für Berufsbildung (Tagesordnungs-
punkt 16)
Uwe Schummer (CDU/CSU): Ein europäischer Bil-
dungsraum wird immer wichtiger. Hierbei gilt es, die
kulturellen Eigenheiten im Blick zu behalten. So sollen
mit dem Europäischen Qualifikationsrahmen alle erwor-
benen Kompetenzen zwischen Portugal und Malta ver-
gleichbar werden. Hierzu wird derzeit eine engagierte
Debatte geführt. Die duale Berufsausbildung ist als Mar-
kenkern Deutschlands neben dem Europäischen Qualifi-
kationsrahmen auch bei der Neuordnung der Europäi-
schen Stiftung für Berufsbildung angemessen zu
berücksichtigen. Sie ist bei der weiteren Gestaltung des
Europäischen Bildungsraumes ein zentraler Punkt.
Die Europäische Stiftung für Berufsbildung leistet
seit 1990 eine gute und wichtige Arbeit in Europa und
darüber hinaus. Der Vorschlag der Europäischen Kom-
mission für eine Änderung der Verordnung zur Errich-
tung der Europäischen Stiftung für Berufsbildung geht
jedoch über das Ziel hinaus. Neben einer sinnvollen und
notwendigen Anpassung des geografischen Wirkungsbe-
reiches der Stiftung möchte die Kommission das Aufga-
bengebiet verwässern. Um die Tragweite zu verdeutli-
chen, zitiere ich aus dem Vorschlag der Kommission:
„Das thematische Arbeitsgebiet der ETF sollte auf die
gesamte Humanressourcenentwicklung, insbesondere
die allgemeine und berufliche Bildung unter dem Ge-
sichtspunkt des lebenslangen Lernens, sowie auf damit
verbundene Arbeitsmarktfragen ausgeweitet werden.“
Damit würde sie ihren Markenkern – die berufliche Bil-
dung – aufweichen.
Die vorgeschlagene Kompetenzerweiterung ist zu all-
gemein gefasst. In unserem Koalitionsantrag benennen
wir von daher drei klare Punkte:
Als Erstes soll der Aufgabenbereich der Stiftung nicht
unklar und zu weitgehend ausgeweitet werden. Bei der
Neuanpassung der Aufgaben müssen die Kompetenzre-
gelungen des EG-Vertrages eingehalten werden. Das
Subsidiaritätsprinzip ist zu beachten. Die Bundesregie-
rung ist gefordert, dies mit auf den Weg zu nehmen und
umzusetzen.
Als Zweites ist wichtig, dass unser deutsches duales
Ausbildungssystem angemessen berücksichtigt und ge-
würdigt wird. Deshalb sollten die Mitgliedstaaten in den
Gremien der Stiftung weiterhin mit mehr Stimmen als
die Europäische Kommission vertreten sein. Damit wird
gewährleistet, dass die Regierungen ihre nationalen Be-
lange auch in Zukunft angemessen einbringen können.
Durch eine klare Aufgabenerweiterung und eine Mehr-
heit der Mitgliedstaaten in den Gremien der Stiftung
wird es keine zentralen Entscheidungen der Kommission
geben. Vielmehr stehen die Mitgliedstaaten und deren
Berufsbildungssysteme im Mittelpunkt.
Als Drittes möchten wir, dass sich die Stiftung in der
Entwicklungszusammenarbeit mit den zuständigen Insti-
tutionen und Gebern stärker abstimmt.
Bildung schafft Beteiligungschancen. Als Vorausset-
zung für lebenslanges Lernen wird die berufliche Bil-
dung immer wichtiger. Das deutsche duale System ist
auch ein Exportschlager und ein gutes Modell für andere
Länder. Mit unserem Antrag zur Neuausrichtung der Eu-
ropäischen Stiftung für Berufsbildung wollen wir einen
Beitrag leisten, damit dies zukünftig weiter verbessert
werden kann.
Willi Brase (SPD): Die Europäische Stiftung für Be-
rufsbildung hat als eine Einrichtung der Europäischen
Union seit ihrer Gründung 1990 in Turin wertvolle Ar-
beit hinsichtlich der Entwicklung der Berufsbildungssys-
teme in Drittstaaten sowie bei der Heranführung neuer
Mitgliedstaaten geleistet. Im Netzwerk internationaler
Berufsbildungsinstitutionen und Spezialisten arbeitet un-
ter anderem auch das Bundesinstitut für Berufsbildung
eng mit dem ETF zusammen. Im Zeitalter der offenen
Grenzen in der Europäischen Union und der Entwick-
lung eines gemeinsamen starken Wirtschaftsraumes hat
die berufliche Bildung einen sehr hohen Stellenwert.
Umso wichtiger ist ein reger gedanklicher Austausch
zwischen den entsprechenden Mitgliedsländern und EU-
Institutionen. Dass die Europäische Stiftung für Berufs-
bildung diesbezüglich gut gearbeitet hat, zeigt die im
Rahmen der Evaluation durchgeführte Aufgabenüber-
prüfung. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Arbeit der
Stiftung wurde als gut eingestuft.
Auf Grundlage der Bewertung hat die Kommission
einen Legislativvorschlag veröffentlicht. Das themati-
sche Arbeitsgebiet der ETF soll – ich zitiere aus dem
Antrag – „auf die gesamte Humanressourcenentwick-
lung, insbesondere die allgemeine und berufliche Bil-
dung unter dem Gesichtpunkt des lebenslangen Lernens,
sowie auf damit verbundenen Arbeitsmarktsfragen aus-
geweitet werden“. Unter diesem Gesichtpunkt ist es mei-
ner Meinung nach sehr wichtig, dass die Aufgabenaus-
weitung im Rahmen des EG-Vertrages vollzogen wird.
Danach liegt die Verantwortung für Inhalt und Gestal-
tung der beruflichen Bildung in der Verantwortung der
Mitgliedstaaten.
Die berufliche Bildung in Deutschland – und hier
möchte ich besonders die duale Berufsausbildung her-
vorheben – genießt international einen sehr guten Ruf.
Um diesen weiter zu verbessern, hat die SPD gemeinsam
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16265
(A) (C)
(B) (D)
mit dem Koalitionspartner bereits vor zwei Jahren einen
Antrag zur „Weiterentwicklung der europäischen Be-
rufsbildungspolitik“ verabschiedet.
Europa soll zu einer Wissensgesellschaft entwickelt
werden. Schon alleine daraus begründet sich der hohe
Stellenwert von Bildung, Wissen und Fähigkeiten. Zur-
zeit leben in der EU rund 80 Millionen Bürgerinnen und
Bürger, die zu der Gruppe der gering Qualifizierten zäh-
len. Ihre Qualifikationsniveaus müssen weiter verbessert
werden. Hier gilt es, innerhalb der Mitgliedstaaten pass-
genaue Instrumente zu entwickeln. Von der Begabtenför-
derung über eine breite Bildungsvermittlung, dem
lebenslangen Lernen als eigenständige Säule der Bil-
dungssystems bis hin zur Benachteiligtenförderung müs-
sen Ausbildung und Qualifikation allen europäischen
Bürgerinnen und Bürger zur Verfügung stehen. Vor die-
sem Hintergrund wird deutlich, wie wichtig eine gut ar-
beitende Institution wie die Europäische Stiftung für Be-
rufsbildung ist.
Ein weiterer Schritt auf das Zusammenwachsen der
Mitgliedstaaten im Hinblick auf die berufliche Bildung
kann auch die Gestaltung europäischer Kernberufe sein.
Da die Arbeits- und Geschäftsprozesse in Europa weit-
gehend einheitlich sind, können auch die beruflichen
Standards gemeinsam auf europäischer Ebene formuliert
werden. Im Dialog der Sozialpartner können unter Betei-
ligung der Europäischen Kommission die beruflichen
Qualifikationen gemeinsam definiert werden, die junge
Menschen erlernen sollen. Den Staaten bleibt es dann
überlassen, an welchen Lernorten die Inhalte vermittelt
werden. Um die Transparenz von Qualifikationen und
grenzüberschreitende Mobilität zu erleichtern, sollte der
in der EU eingeführte Europass umfassend genutzt wer-
den. Von einem abgestimmten Konzept würden sowohl
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Mitglied-
staaten als auch die Wirtschaft profitieren.
Auch vor diesem Ausblick ist es wünschenswert, dass
in der ETF an verantwortlicher Stelle Fachleute tätig
sind, die über spezifische Kenntnisse des dualen Ausbil-
dungssystems verfügen und dafür Sorge tragen, dass die
Vorzüge des Ausbildungssystems hinreichend bei der
Arbeit der Stiftung Berücksichtigung finden. Die duale
Berufsausbildung in Deutschland verfolgt einen ganz-
heitlichen Ansatz des Lernens in Schule und Betrieb. Bei
ihrem Berufseinstieg nach der Lehre sind die jungen
Menschen voll berufsfähig, weisen eine hohe soziale
Kompetenz auf und tragen in einem hohen Maße dazu
bei, den Fachkräftebedarf der Wirtschaft zu decken.
Uns ist es sehr wichtig, dass die Arbeit der ETF pro-
fessionell weitergeführt wird. Klar muss aber auch sein,
dass die Bildungskompetenz in der EU bei den Mitglied-
staaten liegt und dort auch bleiben muss. In diesem
Sinne freuen wir uns auf eine gute Arbeit der Europäi-
schen Stiftung für Berufsbildung.
Patrick Meinhardt (FDP): Die Europäische Stiftung
für Berufsbildung, ETF, soll ihr Gesicht verändern.
18 Jahre nach ihrer Gründung – sozusagen im Alter der
Volljährigkeit – ist es auch mehr als sinnvoll, Ausrich-
tung und Inhalte mit den Anforderungen und dem Er-
reichten abzugleichen.
Die Entscheidung zur Umstrukturierung und Neuaus-
richtung gründet auf einer Expertise aus dem Jahr 2005,
als die Tätigkeit der Stiftung umfassend und kritisch un-
ter die Lupe genommen wurde. Im Jahr 2006 lag der
Kommission für diese so wichtige Stiftung der Empfeh-
lungskatalog vor. Und Empfehlung heißt: Handeln. Über
drei Jahre nach der Vorlage der Expertise werden jetzt
die nationalen Parlamente damit beschäftigt. Selbst für
die EU ist es unglaublich, dass die Mühlen der Bildungs-
bürokratie 36 Monate gemahlen haben. Die Änderungs-
anmerkungen sind sinnvoll, sie sind nachvollziehbar, sie
sind konsequent. Schließlich ist der Bildungsbereich ei-
ner stetigen Dynamik und dem Wandel unterworfen. Da-
her muss jetzt auch über notwendige Anpassungen de-
battiert und entschieden werden. Natürlich muss auch
die Europäische Stiftung für Berufsbildung den Wand-
lungsprozess berücksichtigen und nachvollziehen, den
die Staaten der Europäischen Union bereits beschritten
haben. Denn im Moment hinkt sie der bildungspoliti-
schen Debatte hinterher, statt sich an die Spitze zu stel-
len. Gerade neue Strategien und Ansätze im Bereich der
beruflichen Bildung müssen sich in den Strukturen der
Stiftung für Berufsbildung wiederfinden – und für uns
Liberale zählt: Die duale Ausbildung muss ein Referenz-
projekt für berufliche Bildung in Europa werden.
Berufliche Bildung ist auch schon lange kein zeitlich ab-
gegrenzter Lebensbereich mehr. Ständige Wissenserwei-
terung, ein Ausbau von Lernmodulen weit über den
schulischen Bereich hinaus und eine steigende Anzahl
von Seminarangeboten machen deutlich: Lebenslanges
Lernen wird die persönliche Herausforderung für die Zu-
kunft.
Deswegen muss auch der Inhalt der Stiftung zügig
den aktuellen Entwicklungen angepasst werden. Der Be-
reich der beruflichen Bildung kann, sollte und darf nicht
mehr von anderen Teilen des gesamten Bildungssystems
losgelöst betrachtet werden. Diese Stiftung muss sich zu
einer Stiftung des lebenslangen Lernens fortentwickeln.
Aber auch die Veränderungen aus der Neuordnung
der Außenbeziehungen der EU müssen sich bindend in
der Ausrichtung der Europäischen Stiftung für Berufs-
bildung niederschlagen. Der geographische Wirkungsbe-
reich der ETF muss mit den Aufgaben und Beziehungen
der EU wachsen.
Aber: Dies gilt nicht als Automatismus. Es gibt nicht
automatisch mehr Geld, es gibt nicht automatisch mehr
Kooperationen, es gibt nicht automatisch eine größere
Bürokratie. Wir entscheiden heute über eine Aktualisie-
rung der Aufgaben – und über nichts anderes. Hier er-
warten wir Liberale, dass die Bundesregierung diesen
Prozess aufmerksam und kritisch begleitet.
Das Maßnahmenpaket der Kommission besteht im
Wesentlichen aus folgenden drei Kernforderungen:
Erstens. Das thematische Arbeitsgebiet der ETF soll
auf die gesamte Humanressourcenentwicklung ausge-
weitet werden.
16266 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008
(A) (C)
(B) (D)
Zweitens. Der Wirkungsbereich der ETF im Bereich
der Außenbeziehungen soll aktualisiert werden.
Drittens. Schließlich sollen – dem aktualisierten Auf-
gabenfeld der ETF geschuldet – die Lenkungsstrukturen
der Stiftung gemäß der Vorgaben der interinstitutionellen
Vereinbarung über Regulierungsagenturen modernisiert
werden, um eine wirksame Entscheidungsfindung zu er-
reichen. Allerdings nach dem Prinzip: „Weniger regulie-
ren, sondern mehr fördernd beraten“.
Der Antrag von CDU/CSU und SPD bezieht sich nun
auf dieses Maßnahmenbündel und greift auch berechtige
Sorgen auf. Die Neuausrichtung der ETF ist überfällig –
unter ständiger Beteiligung der Länder. Der Antrag for-
dert die Bundesregierung dazu auf, die Zuständigkeit der
Länder bei der Ausgestaltung der Bildungsgänge zu be-
tonen, die Sicherung der deutschen Interessen mit Blick
auf das System der dualen Ausbildungsgänge zu ge-
währleisten und ein sparsames Arbeiten der ETF sicher-
zustellen. Ohne diese Grundprinzipien wäre ein Be-
schluss nicht herbeizuführen! Und nur mit diesem kann
und wird die FDP zustimmen.
Cornelia Hirsch (DIE LINKE): Wir sollen heute ei-
nen Antrag der Koalitionsfraktionen mit dem Titel
„Neuausrichtung der Europäischen Stiftung für Berufs-
bildung“ verabschieden. Vom Titel her klingt das ja sehr
gut, „Neuausrichtung“ hört sich nach Veränderung an.
„Europäische Stiftung“ hört sich international und ge-
meinnützig an. Und dass Bildung und insbesondere Be-
rufsausbildung sehr wichtige Themen sind, hat ja nun
auch die Koalition erkannt, auch wenn sie bisher wenig
Hilfreiches hervorgebracht hat.
Wir begrüßen, dass die Koalition ebenfalls die vorge-
schlagene Verlagerung der Entscheidungskompetenz auf
die Kommission ablehnt. Allerdings entspräche eine Stär-
kung des Europäischen Parlaments viel eher unseren Vor-
stellungen von demokratischer Mitbestimmung. Der An-
trag der Koalition fordert jedoch die Verlagerung in die
Entscheidungskompetenz der Bundesregierung. Wir be-
dauern, dass die Koalition die Möglichkeit zu mehr De-
mokratie in Europa verpasst hat. Die von der Kommis-
sion vorgeschlagene Abschaffung des Beratergremiums
will die Koalition nicht grundsätzlich rückgängig ma-
chen. Sie will künftig „auch wieder mehr Fachleute“ an
verantwortlicher Stelle in der ETF beschäftigt sehen. Hier
wäre ein klares Signal nötig gewesen, statt ihrer halbher-
zigen „Auch-wieder-mehr“-Forderung. Die ehemals in
diesem Gremium einbezogenen Sachverständigen, inter-
nationalen Organisationen, Vertreter der Partnerländer
sowie der Sozialpartner verlieren so ihre Stimme. Ver-
stärkt wird diese Schwächung der zivilgesellschaftlichen
Kräfte durch die Forderung, dass die ETF zukünftig auf
die vereinbarten Ziele der „Pariser Erklärung“ achtet.
Diese sieht eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit
den Regierungen der Partnerländer vor. Viele Nichtregie-
rungsorganisationen sehen hierin eine Schwächung der
Zivilgesellschaft.
Geradezu typisch für Ihre Politik ist ihre Formulie-
rung, dass „durch die neue Aufgabenbeschreibung des
ETF kein Mittelmehrbedarf begründet wird.“ Sie erklä-
ren ständig, was Sie wieder neues in Angriff nehmen
wollen, Geld jedoch stellen Sie dafür nicht gerne bereit.
Dieses Spardogma zieht sich durch ihre Politik wie ein
roter, man möchte eher sagen schwarzer Faden. Dabei
fordern seit Jahren alle national und international aner-
kannten Organisationen der Entwicklungsarbeit, dass die
Bundesregierung endlich einmal mehr Geld für diese so
wichtige Aufgabe in die Hand nehmen muss.
Unsere eigentliche Kritik jedoch bezieht sich auf die
neue Strategieausrichtung der ETF. Die stärkere Einbin-
dung in die berufsbildungspolitische Strategie der EU,
dass heißt eine stärkere Ausrichtung an den Wettbewerbs-
zielen der Lissabon-Strategie, lehnen wir grundsätzlich
ab. Als Beitrag zur Lissabon-Strategie vereinbarten die
europäischen Bildungsministerinnen und Bildungsminis-
ter das Arbeitsprogramm „Allgemeine und berufliche Bil-
dung 2010“. Die Fokussierung auf die Wettbewerbsfähig-
keit widerspricht jedoch einer auf eine Angleichung der
Teilhabe an Bildung und den Lebensverhältnissen ausge-
richteten EU-Außenhilfe. Diese Neuausrichtung wird
durch die Erweiterung des thematischen Arbeitsgebiets
der ETF sichtbar. Dieses soll insofern erweitert werden,
als Berufsbildung künftig als Teil eines „umfassenden
Konzepts der Humanressourcenentwicklung“ aufgefasst
und daher stärker im Rahmen der gesamten Bildungssys-
teme, aber auch im Zusammenhang mit Arbeitsmarktfra-
gen betrachtet werden soll. Die Bildung verkommt hier
zu einer ökonomisch ausschlachtbaren Ressource und die
Zusammenarbeit dazu, sich die Arbeitskräfte der zukünf-
tigen Beitrittsländer verfügbar zu machen.
Diese strategische Ausrichtung allein auf die Verwert-
barkeit des Menschen im ökonomischen Prozess, die Re-
duktion auf die Wettbewerbsfähigkeit, stellt die Koali-
tion mit ihrem Antrag leider nicht in Frage. Wir
bedauern dies sehr. Die Fraktion Die Linke kann daher
dem Antrag der Koalition keinesfalls zustimmen. In ei-
nigen wenigen Punkten stellt der Antrag die Fehlent-
wicklung fest, greift in seinen Lösungsansätzen jedoch
zu kurz.
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Die Europäische Stiftung Berufsbildung (ETF) ist
eine dezentrale Einrichtung der EU mit dem Ziel, in
Partnerländern außerhalb der EU einen Beitrag zur Ent-
wicklung der Berufsbildungssysteme zu leisten. Die
ETF wurde ursprünglich gegründet, um im Rahmen des
Gemeinschaftshilfeprogramms PHARE in den Ländern
Mittel- und Osteuropas die Berufsbildung zu unterstüt-
zen. Inzwischen hat sich der geografische Wirkungsbe-
reich auch auf Zielländer anderer Programme – TACIS,
CARDS und MEDA – ausgedehnt.
Eine 2002 bis 2005 vorgenommene Evaluierung be-
scheinigte der ETF ein gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis
bei ihrer Arbeit. Auch die Fachkompetenz wurde positiv
beurteilt. Die EU strebt nun einige Anpassungen bei der
ETF an. Die Koalition nimmt dies zum Anlass, einen
Antrag vorzulegen, der von einem unterschwelligen
Misstrauen gegenüber der EU gekennzeichnet ist. Das
verwundert uns schon ein bisschen, und das können wir
so nicht teilen. Wir sehen zum Beispiel keine Gefahr,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16267
(A) (C)
(B) (D)
dass die Änderungen bei der ETF zu Kompetenzüber-
schreitungen der EU im Bildungsbereich führen könn-
ten.
Ein paar Worte zu den geplanten Veränderungen: Ers-
tens soll der geografische Wirkungsbereich der Stiftung
vergrößert werden, vor allem in Richtung Zentralasien.
Außerdem will die EU das thematische Arbeitsgebiet der
ETF auf die gesamte Humanressourcenentwicklung
– Stichwort lebenslanges Lernen – ausweiten. Das sehen
wir im Grunde sehr positiv, weil es der Entwicklung hin
zur Wissensgesellschaft entspricht. Allerdings fragen
wir uns, welche Auswirkungen dies auf die finanzielle
Ausstattung der Stiftung hätte. Pauschal zu beschließen,
dass man hier nicht mehr Geld geben will, wie die Koali-
tion es in ihrem Antrag tut, ist nicht zielführend.
Zudem sollen mit der Reform auch die Lenkungs-
strukturen der ETF moderner werden. Der Vorstand
würde auf 15 Personen reduziert, das heißt je sechs Ver-
treter aus den Mitgliedstaaten und der Kommission so-
wie drei nicht stimmberechtigte Vertreter der Partnerlän-
der. Die Amtszeit des Vorstands würde von drei auf fünf
Jahre verlängert. Auch hier hat die Koalition wieder
Angst, dass die EU-Kommission zu stark werden
könnte. Sie will daher festlegen, dass mehr Vertreter der
Mitgliedstaaten als der Kommission vertreten sind. Das
halten wir für verzichtbar.
Insgesamt können wir die mantra-artig wiederholte
Befürchtung strukturkonservativer Berufsbildungspoliti-
ker aller Couleur, die Vorzüge des deutschen dualen
Ausbildungssystems würden in der EU nicht ausrei-
chend gewürdigt, nicht mehr hören. Auch das ist ein
Grund, den Antrag abzulehnen. Wenn das duale Ausbil-
dungssystem alle Probleme lösen würde, dann hätten wir
doch nicht die Ausweitung des Übergangssystems, in
dem sich inzwischen mehr als die Hälfte der Jugendli-
chen in Deutschland befinden, und die Ausweitung der
vollschulischen Ausbildung. Wenn man – wie es die Ko-
alition ja immer vorgibt – wirklich an die Umsetzung des
Europäischen Qualifikationsrahmens glaubt, sollte man
sich nicht immer ausschließlich auf den Lernort Betrieb
fixieren. Stattdessen sollte die Große Koalition ihre
Kraft darauf lenken, bei der Entwicklung des Deutschen
Qualifikationsrahmens tatsächlich die Orientierung an
Kompetenzen durchzusetzen und nicht – wie unlängst
berichtet – schon jetzt bestimmte Abschlüsse bestimm-
ten Niveaustufen zuordnen.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Steuerverlagerung ins
Ausland verhindern (Tagesordnungspunkt 21)
Manfred Kolbe (CDU/CSU): Der vorliegende An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beschäftigt
sich mit der Frage: Welche Maßnahmen müssen wir un-
ternehmen, um Steuerverlagerungen ins Ausland zu ver-
hindern? Die Frage ist richtig gestellt, und seitens der
Union sind auch wir schon immer um wirkungsvolle Lö-
sungen bemüht. Die Fraktion der Grünen beantwortet
die Frage allerdings sehr einseitig mit ihrem Antrag. Nur
durch einen Wechsel von der Freistellungs- zur Anrech-
nungsmethode in den Doppelbesteuerungsabkommen
kann Steuerflucht ins Ausland nicht effektiv und wir-
kungsvoll bekämpft werden.
Lassen sie mich beide Methoden für im Ausland woh-
nende bzw. arbeitende Deutsche kurz erläutern.
Erzielt zum Beispiel ein in Deutschland Wohnender
in Frankreich Einkünfte, so sind diese französischen
Einkünfte einer Doppelbesteuerung ausgesetzt. Sie wer-
den in Deutschland besteuert, weil für einen hier Woh-
nenden das Welteinkommensprinzip gilt. In Frankreich
werden sie auch besteuert, weil sie dort erzielt worden
sind. Diese Doppelbesteuerung ist nur durch freiwillige
Koordination der beteiligten Staaten im Rahmen eines
Doppelbesteuerungsabkommens zu lösen. Im Prinzip
gibt es hier zwei Lösungen – die Freistellungs- und die
Anrechnungsmethode: Freistellungsmethode würde in
dem Beispiel bedeuten, dass Frankreich – zugunsten von
Deutschland – die in Frankreich erzielten Einkünfte von
der Besteuerung freistellt, so dass sie nur einmal, näm-
lich von deutscher Seite, besteuert werden können. An-
rechnungsmethode würde bedeuten, dass Deutschland
– zugunsten von Frankreich – die in Frankreich auf
Grund der beschränkten Steuerpflicht bezahlten Steuern
auf die deutsche Steuerschuld anrechnet, so dass eine
Doppelbesteuerung im Ergebnis vermieden wird.
Nun ist es sicherlich legitim, einmal über Vor- und
Nachteile beider Methoden nachzudenken, um die Kon-
sequenzen für das Steueraufkommen für die Bundes-
republik Deutschland zu untersuchen. Wir werden dies
in den weiteren Beratungen des Finanzausschusses
gründlich tun. Allerdings sei schon hier auf einige
grundlegende Einwände gegen eine vollständige Um-
stellung von der Freistellungs- auf die Anrechnungsme-
thode hingewiesen:
Mehr als 100 Doppelbesteuerungsabkommen gehen
bisher von der Freistellungsmethode aus und müssten
bei einer Umstellung auf die Anrechnungsmethode
grundlegend neue verhandelt werden. Dies wäre ein
langwieriger Prozess über sicherlich ein, zwei oder drei
Jahrzehnte.
Auch der bürokratische Aufwand einer Umstellung
für unsere Steuerverwaltung wäre gigantisch, da
Deutschland dann ja auch die Gegenseitigkeit gewähren
müsste und von Ausländern in Deutschland gezahlte
Einkommensteuer auf deren inländische Steuern ange-
rechnet werden müsste. Die deutsche Finanzverwaltung
müsste viele Millionen von Bescheinigungen erstellen,
da allein bei uns 3,8 Millionen Ausländer aus EU-Staa-
ten und weitere rund 3 Millionen Nicht-EU-Ausländer
leben.
Der fiskalische Ertrag wäre demgegenüber wohl eher
bescheiden, da nur rund 1,5 Millionen Deutsche im Aus-
land leben. Die meisten dürften in europäischen Nach-
barländern mit einem mehr oder weniger gleich hohen
Steuerniveau wie in der Bundesrepublik Deutschland
leben, so dass der Ertrag gering wäre. Schnellschüsse
16268 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008
(A) (C)
(B) (D)
helfen also nicht weiter, und gerade eine solche grundle-
gende Umstellung muss vorher gründlich beraten wer-
den. Einig sind wir uns aber in dem Ziel, Steuerverlage-
rungen ins Ausland härter entgegenzutreten als bisher,
um das deutsche Steueraufkommen zu sichern und auch
für mehr Gerechtigkeit zu sorgen.
Aus diesem Grunde befürworten wir von der Union
Folgendes:
Erstens. Steuerharmonisierung in Europa: Mit der
Europäischen Zins-Richtlinie soll eine Mindestbesteue-
rung von Kapitaleinkünften in Europa erreicht werden.
Eine europäische konsolidierte Bemessungsgrundlage
für die Körperschaftsteuer soll geschaffen werden.
Zweitens. Gegen Steueroasen vorgehen: Für ein be-
sonderes Ärgernis halte ich es, dass es mitten in Europa
Steueroasen, wie die britischen Kanalinseln und einige
Schweizer Kantone, gibt, die praktisch keine Steuern er-
heben. Aber auch Kernländer der EU, wie Luxemburg
oder die Niederlande, treiben bisweilen einen unfairen
Steuerwettbewerb.
Drittens. Wettbewerbsfähige Steuersätze in Deutsch-
land: Mit der Unternehmensteuerreform haben wir die no-
minale Körperschaftsteuerbelastung von Kapitalgesell-
schaften von 38,65 Prozent auf 29,83 Prozent ermäßigt
und damit das fiskalische Interesse der Unternehmen an
einer Verlagerung der in Deutschland erwirtschafteten
Erträge ins Ausland deutlich gemindert. Die Einführung
einer 25-prozentigen Abgeltungsteuer auf Kapitalein-
künfte mindert das Interesse privater Anleger, Kapital al-
lein aus steuerlichen Gründen ins Ausland zu verlagern,
deutlich.
Die Unionsfraktion wird daher den Antrag an den
Finanzausschuss überweisen. Hier werden wir dann den
Antrag ausführlicher beraten.
Antje Tillmann (CDU/CSU): „Steuerverlagerung ins
Ausland verhindern“, das ist ein Anliegen, mit dem wir
uns beschäftigen – mindestens seitdem ich Mitglied des
Deutschen Bundestages bin. Wir haben in vielen Geset-
zen diesem Anliegen Rechnung getragen, zuletzt im Un-
ternehmensteuerreformgesetz 2008.
Heute schlagen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, vor, von der bishe-
rigen Freistellungsmethode für im Ausland erzielte Ein-
künfte deutscher Steuerpflichtiger auf die Anrechnungs-
methode überzugehen. Der Gedanke, der auch seit
einiger Zeit im Finanzausschuss Thema ist, ist nicht neu.
Die Bundesregierung hat dem Finanzausschuss zuletzt
am 18. März 2008 einen Bericht, in dem sie auf Chancen
und Probleme der Methodenwahl eingeht und diese ge-
genüberstellt, zugesandt. Sie stellt klar, dass ein bloßer
Methodenwechsel nicht die Ideallösung zur Vermeidung
von Steuerverlagerungen ins Ausland ist. Die Ausfüh-
rungen in diesem Bericht sind so präzise, dass ich im
Weiteren diese Darstellungen zugrunde lege.
Doppelbesteuerungsabkommen können Lenkwirkun-
gen auf grenzüberschreitende Investitionen entfalten und
so neben dem Steueraufkommen unter anderem Wachs-
tum und Beschäftigung im Inland sowie Konzernstruktu-
ren beeinflussen. Über die DBA-Politik können neben
der Erzielung stabiler Steuereinnahmen weitere politi-
sche Ziele wie zum Beispiel die Förderung von Investi-
tionen im Ausland und im Inland verfolgt werden. Vor
diesem Hintergrund stellt sich die Frage der Methoden-
wahl für die deutsche DBA als sehr komplex dar.
Beide Methoden haben bezüglich ihrer ökonomischen
und fiskalischen Auswirkungen Vor- und Nachteile.
Ökonomische Auswirkung der Anrechnungsmethode:
Die Anrechnungsmethode im Doppelbesteuerungsrecht
entspricht dem Prinzip der Kapitalexport-Neutralität.
Dies bedeutet Herstellung derselben Wettbewerbslage
für alle inländischen Anleger durch identische Besteue-
rung – unabhängig davon, ob sie im Ausland oder im In-
land investieren. Auslandsinvestitionen werden durch
die Anrechnungsmethode im Prinzip weder steuerlich
begünstigt noch zusätzlich belastet oder sonst behindert.
Eine Verzerrung von Standortentscheidungen kann sich
häufig jedoch aufgrund von sogenannten „Anrechnungs-
überhängen“ ergeben, da die Anrechnung ausländischer
Steuern auf das inländische Steuerniveau der Körper-
schaft- oder Einkommensteuer begrenzt ist. Die Anrech-
nungsmethode erstreckt sich nicht auf die Gewerbe-
steuer, da diese nur auf inländische Einkünfte erhoben
wird. Darüber hinaus macht die Anrechnungsmethode
ein Sitzland mit höherem Steuerniveau für multinatio-
nale Unternehmen weniger attraktiv und trägt so zu einer
Verzerrung von multinationalen Eigentumsstrukturen
bei. Dadurch könnte Deutschland Konzernspitzen verlie-
ren bzw. keine neuen anziehen. Erschwert werden
könnte zudem die Nutzung von Größenvorteilen sowie
der Zugang zu Lieferanten und Vertriebswegen. Diese
Folgen wären negativ für den Wirtschaftsstandort
Deutschland.
Ökonomische Auswirkung der Freistellungsme-
thode: Die Freistellungsmethode wiederum entspricht
dem Prinzip der Kapitalimport-Neutralität. Dies bedeu-
tet Herstellung derselben Wettbewerbslage für alle In-
vestoren im Anlagestaat – unabhängig davon, ob sie ihre
Investitionen aus dem Ausland oder aus dem Inland vor-
nehmen. Besteuert wird der Kapitalexport günstiger als
die inländische Anlage, sofern der ausländische Staat ein
niedrigeres Steuerniveau als das Inland hat. Eine Anla-
geentscheidung ist neben wirtschaftlichen auch durch
steuerliche Faktoren am Anlageort motiviert, das heißt
gegebenenfalls durch Steuergefälle und Steuerwettbe-
werb verzerrt und ökonomisch weniger effizient. Im Ge-
winnfall profitiert das Unternehmen von einer niedrigen
Steuerbelastung im Ausland, was Standortentscheidun-
gen erheblich verzerren kann. Im Bereich der Einkom-
mensteuer wird diese Wirkung gemindert. Dieser wird in
deutschen DBA regelmäßig in Verbindung mit der Frei-
stellung vereinbart.
Der ökonomische Effekt der Methodenwahl hängt
stark vom Steuergefälle zwischen den beiden DBA-Staa-
ten ab. Je niedriger der Unterschied zwischen den Steu-
ersätzen ist, desto weniger fallen Vor- und Nachteile der
Methoden zur Vermeidung der Doppelbesteuerung ins
Gewicht: Bei Freistellung ist eine Verlagerung allein aus
steuerlichen Gründen unattraktiv, und umgekehrt
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16269
(A) (C)
(B) (D)
beschwert die Anrechnungsmethode die heimische Wirt-
schaft weniger durch den höheren inländischen Steuer-
satz auf alle Gewinne. Die Unternehmensteuerreform
mit der Absenkung des Körperschaftsteuersatzes auf
15 Prozent hat daher die Bedeutung der Methodenwahl
reduziert; dies gilt aber nur, solange andere Staaten ihre
Steuern nicht weiter senken. Die Europäische Union ist
daher aufgefordert, eine gleichmäßige Besteuerung si-
cherzustellen.
Fiskalische Auswirkungen der Anrechnungsme-
thode: Hervorheben möchte ich auch die Anfälligkeit der
Anrechnungsmethode für Steuergestaltungen, die zum
Beispiel zunächst den Abzug ausländischer Verluste zur
Senkung der inländischen Steuerbelastung ausnutzen
und ausländische Gewinne der inländischen Besteuerung
entziehen, indem sie zum Beispiel durch einen vom in-
ländischen Steuerpflichtigen verschiedenen ausländi-
schen Rechtsträger erzielt werden. So sehen sich auch
Staaten, die traditionell die Anrechnungsmethode ver-
wenden, in massivem Umfang mit steuerminimierenden
Gestaltungen konfrontiert. In den USA gibt es bereits
Vorschläge, partiell von der Anrechnungsmethode zur
Freistellungsmethode überzugehen.
Fiskalische Auswirkungen der Freistellungsmethode:
Die Freistellungsmethode erlaubt dem Steuerpflichtigen,
von niedrigen ausländischen Steuersätzen zu profitieren.
Damit wird sie anfällig für den internationalen Steuer-
wettbewerb und bietet Anreize zur künstlichen Verlage-
rung inländischer positiver Einkünfte in niedriger be-
steuernde DBA-Staaten. Für die Freistellungsmethode
spricht, dass nach derzeitiger deutscher Rechtsauffas-
sung Finanzierungskosten und Verluste im Zusammen-
hang mit einer ausländischen Betriebsstätte nicht
abzugsfähig sind. Beachtet werden muss aber, dass die
erforderliche Aufwandsaufteilung gestaltungsanfällig
ist. Außerdem wird die Nichtberücksichtigung von Auf-
wand erst durch grundsätzlichen Verzicht auch auf die
Besteuerung von Gewinnen erreicht. Zudem wird dies
EG-rechtlich angegriffen. Nach dem EuGH-Urteil vom
31. Dezember 2005 müssen auch Verluste ausländischer
Tochtergesellschaften grenzüberschreitend im Sitzstaat
der Muttergesellschaft berücksichtigt werden, obwohl
die Gewinne der ausländischen Tochtergesellschaft dort
– mangels unbeschränkter Steuerpflicht – nicht besteuert
werden können. Die Frage der Übertragbarkeit dieser
Rechtsprechung auf Deutschland, wo eine solche Verlust-
berücksichtigung nicht generell zulässig ist, und auf Ver-
luste ausländischer Betriebsstätten trotz Anwendung der
Freistellungsmethode aufgrund eines DBA ist Gegenstand
eines weiteren EuGH-Verfahrens, RS C-414/06-„Lidl“.
Sollte der EuGH entscheiden, dass ausländische Be-
triebsstättenverluste trotz Geltung der Freistellungsme-
thode nach einem DBA im Inland zu berücksichtigen
sind, wäre die symmetrische Freistellung von Gewinnen
und Verlusten nicht mehr möglich. In diesem Fall käme
es zu einer Kombination der fiskalischen Nachteile der
Freistellungsmethode – Nichtbesteuerung ausländischer
Betriebsstättengewinne – mit den Nachteilen der An-
rechnungsmethode – Berücksichtigung ausländischer
Betriebsstättenverluste.
Fazit: Beim aktuellen Stand der Steuergestaltungs-
techniken sind daher beide Methoden in hohem Maß ge-
staltungs- und missbrauchsanfällig und erfordern jeweils
eine Abwehrgesetzgebung. Zum gegenwärtigen Zeit-
punkt lässt sich nicht beurteilen, wie die Unternehmen
auf die Unternehmensteuerreform 2008 reagieren wer-
den. Die finanziellen Folgen aus einer eventuell breite-
ren Anwendung der Anrechnungsmethode sind daher
nicht abschätzbar. Auch das Urteil des EuGH sollte bei
einer Entscheidung berücksichtigt werden. Wir plädieren
daher dafür, den Antrag an den Finanzausschuss zu über-
weisen und alle Aspekte beider Methoden intensiv zu
diskutieren. Ein solcher Methodenwechsel ist so auf-
wändig und riskant, dass wir sicher sein sollten, alle As-
pekte bedacht zu haben.
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Die mit dem
Antrag verfolgte Idee ist ein verständlicher Reflex auf
die Ermittlungen der Steuerfahnder der Staatsanwalt-
schaft Bochum gegen zahlreiche Personen wegen des
Verdachts der Steuerhinterziehung. Enorme Vermögens-
werte sollen nach Liechtenstein verschoben worden sein,
um die daraus zufließenden Einkünfte dem Zugriff des
deutschen Fiskus zu entziehen. Ich gehe davon aus, dass
die bisherigen Erkenntnisse lediglich die Spitze des Eis-
bergs sind.
Dieser Skandal ist nur Teil eines umfassenderen Phä-
nomens, das wir seit einiger Zeit beobachten und ener-
gisch bekämpfen. Denn nicht nur vermögende Privatper-
sonen, sondern auch international operierende Konzerne
betreiben eine massive Steuerverlagerung ins Ausland –
zum Schaden des ehrlichen Steuerzahlers und auf Kos-
ten der Handlungsfähigkeit des Staats. Deshalb brauchen
wir einen umfassenderen Ansatz in der Steuerpolitik,
wahrscheinlich weniger auf der Seite der Gesetzgebung,
der Legislative, als vielmehr im Bereich des Vollzugs,
der Exekutive.
Die unterschiedlichen Formen der Steuerhinterzie-
hung und -gestaltung gedeihen prächtig auf einem Nähr-
boden, der offensichtlich auch von zu vielen Steuerbe-
trügern und ihren Helfershelfern in ausgewählten
Banken und Regierungen von Steueroasen zum eigenen
Vorteil bestellt wird. Begünstigt werden diese gesetzes-
widrigen Tricksereien und die unseriösen Geschäfts-
praktiken durch Mängel in der Finanzmarktkontrolle so-
wie im Gesetzesvollzug.
Diese Lücken wollen wir schließen, denn Steuerkri-
minalität verbaut den Weg zu unserem Ziel einer solida-
rischen Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft
und unterspült deren finanzielles Fundament. Wir streben
an, dass das Risiko, entdeckt zu werden, für Steuerbetrü-
ger deutlich steigt. Denn ein System, das steuerehrliche
Personen oder Unternehmen nicht vor Wettbewerbs-
nachteilen schützen kann und betrügerischen Gestaltun-
gen keinen Einhalt gebietet, hat schwerwiegende Ge-
rechtigkeitsdefizite, Akzeptanzprobleme übrigens auch.
Steuergerechtigkeit erfordert auch die Gleichbehand-
lung aller Steuerpflichtigen und die gleichmäßige und
angemessene Verteilung ihrer Finanzierungslasten. Steu-
ergerechtigkeit und Steuerehrlichkeit sind zwei Seiten
16270 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008
(A) (C)
(B) (D)
einer Medaille und spiegeln wichtige Aspekte des mora-
lischen Grundkonsenses unserer Gesellschaft wider.
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen will
mit seinem Vorschlag der Umstellung von der Freistel-
lungs- auf die Anrechnungsmethode bei Doppelbesteue-
rungsabkommen nichts Falsches. Allerdings zielt der
Vorschlag auf einen viel zu kleinen Anwendungsbereich
und droht schon dadurch, sein Ziel zu verfehlen. Deshalb
werden wir diesem Antrag nicht zustimmen. Zu viele
zentrale Sachverhalte sind nicht berücksichtigt.
Bleiben wir einen Augenblick bei dieser Spezialbe-
trachtung: Doppelbesteuerungsabkommen. Ich plädiere
bei der Ausgestaltung der DBAs für einen Ansatz, der
die sehr unterschiedliche Qualität der bilateralen Bezie-
hungen berücksichtigt. Damit können wir den Unter-
schieden in Art und Umfang der Wirtschaftsbeziehungen
ebenso wie unseren eigenen Besteuerungsinteressen an-
gemessen Rechnung tragen.
Zudem ist auch die Anrechnungsmethode für Steuer-
gestaltungen anfällig. Deshalb haben auch Länder mit
Anrechnungsverfahren wie etwa die USA eine umfang-
reiche Kontroll- und Abwehrgesetzgebung installiert,
um dieses Problems Herr zu werden. Der Preis dafür ist
allerdings hoch, denn damit werden die Verfahren unnö-
tigerweise kompliziert. So kann das Anrechnungsverfah-
ren etwa bei Dividendeneinkünften, die in tief geschach-
telten Konzernstrukturen anfallen, zu sehr komplizierten
und aufwendigen Besteuerungsverfahren führen.
Unser Grundsatz lautet in Anlehnung an eine ironi-
sche Bemerkung von Albert Einstein dagegen: Gesetze
müssen so einfach sein wie möglich – aber nicht einfa-
cher. In der SPD-Fraktion bzw. der SPD-Arbeitsgruppe
Finanzen entwickeln wir deshalb einen Antrag zur Be-
kämpfung von Steuerhinterziehung und Gewinnverlage-
rung ins Ausland. Damit setzen wir unsere Strategie der
Bekämpfung der Erosion unserer Steuerbasis fort.
Das Vorgehen gegen Steuerbetrug bedarf starker Ver-
bündeter auf nationalstaatlicher, auf europäischer und
auf globaler Ebene. In den vergangenen Jahren haben
wir daher gemeinsam mit den Bundesländern und im
Austausch mit den anderen Mitgliedstaaten der EU wirk-
same Instrumente der Strafverfolgung und Ahndung von
Steuervergehen entwickelt, die den Missbrauch steuer-
rechtlicher Regelungen bekämpfen. Ich sage wirksam.
Allerdings gibt es hier im Vollzug doch einige Schwä-
chen, die von Steuersündern radikal ausgenutzt werden.
Deshalb möchte ich zunächst kurz darstellen, welche In-
strumente wir in den vergangenen Jahren entwickelt und
gesetzlich geregelt haben und anschließend weitere
Maßnahmen vorstellen, um die Wirksamkeit und Dichte
der Gesetze zu erhöhen.
Mit dem Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen
zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur
Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften
(SESTEG) und der Unternehmensteuerreform 2008 sind
wir Steuergestaltungen, insbesondere der Gewinnverla-
gerung ins Ausland, begegnet und haben zahlreiche
Steuerschlupflöcher geschlossen. Ich denke etwa an die
Sofortversteuerung an der Grenze oder die starke Ein-
schränkung der grenzüberschreitenden Verlustverrech-
nung. Das Wirkungsspektrum dieser erst kürzlich einge-
führten Maßnahmen kann sich naturgemäß erst langsam
entfalten. Die Weiterentwicklung unserer Strategie der
Bekämpfung von Steuerbetrug bedarf einer sorgfältigen
Evaluierung der vorhandenen Kapazitäten und Kompe-
tenzen.
Die Abgabenordnung sieht in § 370 zur Ahndung von
Steuerhinterziehung Freiheitsstrafen vor, in besonders
schweren Fällen sogar ein Höchststrafmaß von zehn Jah-
ren. Gegen Zahlung einer Geldbuße kann zur Beschleu-
nigung des Verfahrens die Einstellung der Ermittlungen
erfolgen. Bei Verdacht auf schwere Fälle des Umsatz-
steuerbetrugs besteht die Möglichkeit der Telefonüber-
wachung. Steuerrechtlich relevante Informationen, die
im Rahmen einer Betriebsprüfung erhoben werden, kön-
nen nach § 193 der Abgabenordnung vom Prüfer im
Wege der Kontrollmitteilung an das zuständige Finanz-
amt übermittelt werden, wenn Anzeichen für Steuerbe-
trug vorliegen.
Mit dem Kontenabrufverfahren verfügen Finanzbe-
hörden über ein Kontrollverfahren, das über den Zugriff
auf Kontostammdaten die Aufdeckung unvollständiger
oder nicht wahrheitsgemäßer Angaben von Steuerpflich-
tigen und die Bekämpfung von Sozialleistungsmiss-
brauch ermöglicht.
Die Europäische Richtlinie zur Zinsbesteuerung re-
gelt innerhalb der Europäischen Union sowie in der
Schweiz, in Liechtenstein, San Marino, Monaco und An-
dorra die einheitliche und gleichmäßige Besteuerung der
Zinseinnahmen aller EU-Bürger mit EU-Wohnsitz, un-
abhängig davon, wo sie dieses Zinseinkommen erwirt-
schaften.
Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung OECD hat Informationspflichten für
Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem
geregelten Markt zugelassen sind, erarbeitet. Die Umset-
zung dieses Regelwerkes für die europäischen Wertpa-
piermärkte ist allerdings nicht von allen Mitgliedstaaten
lückenlos und einheitlich geleistet worden. Hier gibt es
noch großen (Ver)Handlungsbedarf. Das Steuerverkür-
zungsbekämpfungsgesetz trat Anfang 2001 in Kraft und
verbesserte die Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten
der Finanzbehörden beim Umsatzsteuerbetrug. Neuge-
gründete Unternehmen sind verpflichtet, ihre Umsatz-
steuervoranmeldung monatlich abzugeben, um kurz-
lebige Firmen zu identifizieren, die nur zum Zweck des
Umsatzsteuerbetrugs gegründet wurden. Finanzbehör-
den können unangemeldet eine Umsatzsteuernachschau
durchführen, um sich einen objektiven Eindruck eines
Unternehmens zu verschaffen.
Auch im Steueränderungsgesetz 2003 und im Haus-
haltsbegleitgesetz 2004 wurden die Kompetenzen der Fi-
nanzverwaltung zur Umsatzsteuerbekämpfung gestärkt
und Maßnahmen zur Vermeidung von Steuerausfällen
ergriffen. Die beim Bundeszentralamt für Steuern einge-
richtete Zentrale Datenbank zur Speicherung und Aus-
wertung von Umsatzsteuerbetrugsfällen und Entwick-
lung von Risikoprofilen erfasst bundesweite Betrugsfälle
und ermöglicht den schnellen Informationsaustausch,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16271
(A) (C)
(B) (D)
was Finanzbehörden die frühzeitige Aufdeckung von
Scheinunternehmen ermöglicht. Die Zentrale Koordinie-
rungsstelle beim Bundeszentralamt für Steuern arbeitet
mit den zuständigen Stellen der EU-Mitgliedstaaten und
den Bundesländern zusammen und koordiniert die staa-
ten- und länderübergreifenden Umsatzsteuersonderprü-
fungen und Steuerfahndungsprüfungen.
Das Verfahren zur länderumfassenden Namensabfrage
ermöglicht den Online-Zugriff auf Daten des Grundinfor-
mationsdienstes, die bei Vergabe einer Umsatzsteueriden-
tifikationsnummer erhoben werden. Dieses Verfahren
wird erweitert, indem Zugriffsmöglichkeiten ausgebaut
und eine Vernetzung mit der Informationsdatenbank
ZAUBER geschaffen werden.
Auch im Bereich der Überprüfung von Umsatzsteuer-
voranmeldungen wurden mittlerweile gute Instrumente
entwickelt: Fast alle Bundesländer setzen ein sogenann-
tes regelbasiertes Entscheidungssystem ein, mit dem alle
eingehenden Umsatzsteuervoranmeldungen bezüglich
ihres typischen Risikos hinsichtlich eines Umsatzsteuer-
betrugsversuches oder einer ungerechtfertigten Erstat-
tung bewertet werden.
Sie sehen, dass schon sehr viel in den vergangenen
Jahren geschehen ist. Zur Vermeidung und zur Bekämp-
fung von Steuerbetrug muss dieser rechtliche Rahmen
aber auch auf der Basis einer hinreichenden Personalaus-
stattung ausgeschöpft werden. Leider haben einige Län-
der, zum Beispiel Hamburg und Bayern, in den hier
angesprochenen Zuständigkeitsbereichen Personal abge-
baut. Die Zahl der Steuerfahnder und die personelle
Ausstattung der Länderfinanzverwaltungen reichen oft
nicht aus, um den effizienten Vollzug einer ordnungsge-
mäßen Besteuerung zu sichern und Steuerhinterziehung
aufzudecken. Das ist ein Standortwettbewerb zum Scha-
den des Ganzen und falsch verstandener Föderalismus.
Abschließend will ich die gegenwärtig reflektierten
Eckpunkte unseres Antrags zur Bekämpfung des Steuer-
betrugs skizzieren. Wir vertrauen dabei weiterhin auf die
enge Zusammenarbeit mit unseren Partnern in der Euro-
päischen Union und im Europäischen Wirtschaftsraum
sowie in den Steuerverwaltungsbehörden der Bundeslän-
der.
Wir denken unter anderem an Folgendes: klare EU-
weite Koordinierung der Bekämpfung von Steuerhinter-
ziehung und der Austrocknung von Steueroasen, um de-
ren Attraktivität für Steuerbetrüger zu verringern; wir
wissen alle, dass „Austrocknung“ eine komplizierte bis
fast unmögliche Angelegenheit werden kann, aber Sie
wissen ja: Sisyphos war ein glücklicher Mensch; ent-
schlossene Ausnutzung der Kompetenzen der Ermitt-
lungs- und Strafverfolgungsbehörden, die etwa in § 370
AO angelegt sind; Verschärfung und Erweiterung der
EU-Zinsrichtlinie zur Erfassung von Kapitaleinkünften;
aktive Unterstützung der Arbeit der OECD gegen schäd-
lichen Steuerwettbewerb; personelle Verstärkung bei
Steuerfahndern, Betriebsprüfern und Staatsanwaltschaf-
ten; Einrichtung einer Bundessteuerverwaltung, die ein-
heitlich im ganzen Bundesgebiet und auch grenzüber-
schreitend agieren kann.
Unser Antrag bündelt also Maßnahmen aus vielen
Bereichen, um mit einer guten Kombination aus gesetz-
lichen Regelungen und effizienten Vollzugsmaßnahmen
die berechtigten Interessen des Staates und aller ehrli-
chen Steuerzahler – Bürgerinnen und Bürger ebenso wie
Unternehmen – zu schützen. Dies ist ein ehrgeiziges
Vorhaben, aber bedauerlicherweise notwendig. Denn
Steuerehrlichkeit ist eine moralische Tugend, die leider
nicht voller Vertrauen den guten Willen aller vorausge-
setzt, sondern – wie wir gelernt haben – nur in einem sta-
bilen gesetzlichen Rahmen garantiert werden kann.
Dafür hoffen wir auf Ihre konstruktive Mitarbeit und
Unterstützung.
Carl-Ludwig Thiele (FDP): Mit dem heute von den
Grünen in erster Lesung eingebrachten Antrag unter der
Überschrift „Steuerverlagerung ins Ausland verhindern“
erwecken die Grünen den Eindruck, dass es eine zuneh-
mende Steuerverlagerung ins Ausland gebe und diese
verhindert werden müsse. In ihrem Antrag schlagen die
Grünen vor, ein bislang an konkreten Einzelfällen
diskutiertes Verfahren abzuschaffen und eine grund-
sätzliche Änderung der Doppelbesteuerungsabkommen
vorzunehmen. Zunächst ist dabei zu fragen, inwieweit es
tatsächlich zutrifft, dass zunehmend eine „Steuer-
verlagerung“ in das Ausland erfolgt. Im Zuge der Globa-
lisierung sind viele Firmen darauf angewiesen, Teile
ihrer Produktion nicht nur in Deutschland zu halten,
sondern diese auch ins Ausland zu verlagern. Dieses
dient gerade auch der Sicherung einheimischer Arbeits-
plätze. Anders als durch einen offenen Wettbewerb,
durch offene Märkte und durch die entsprechende Aus-
landstätigkeit deutscher Unternehmen wäre die Wettbe-
werbsfähigkeit Deutschlands im Export überhaupt nicht
zu halten. Die FDP ist stolz darauf, dass Deutschland der
Exportweltmeister ist.
Die FDP ist schon lange der Auffassung, dass es im
Zuge des internationalen Wettbewerbs – den es auch im
Steuerrecht gibt – dringend notwendig ist, das deutsche
Steuerrecht grundlegend zu vereinfachen und wettbe-
werbsfähiger zu gestalten. Wir brauchen eine grundsätz-
liche Steuerreform, die unser Steuerrecht einfacher und
gerechter gestaltet und für niedrige Steuersätze sorgt. An
dieser Stelle unterscheidet sich die FDP ganz fundamen-
tal von allen anderen Fraktionen im Deutschen Bundes-
tag. Die FDP will die dringend notwendige völlige Neu-
ordnung und Neujustierung des Steuersystems in
Deutschland angehen. Die anderen Parteien dagegen
möchten gerne das derzeitige System beibehalten und
fortentwickeln. Dies ist jedoch der falsche Ansatz. Wer
sich vor Augen führt, wie komplex und kompliziert un-
ser Steuerrecht durch den Gesetzgeber durch jährliche
Veränderungen des Steuerrechtes in enormer Größenord-
nung geworden ist, der muss feststellen, dass in Deutsch-
land inzwischen ein schier undurchdringliches Dickicht
an Rechtsvorschriften entstanden ist. Dieses wird nur
noch übertroffen durch die Arbeit des Verordnungsge-
bers, der stets noch zusätzlich auf die Auswüchse des
Gesetzgebers draufsattelt. Es reicht daher nicht aus, die-
ses Dickicht an der einen oder anderen Stelle mit der
Nagelschere zu beschneiden, um so einen Weg für ein
16272 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008
(A) (C)
(B) (D)
einfacheres Steuerrecht freizumachen. Man muss viel-
mehr mit der Machete ansetzen, um wirklich in der Lage
zu sein, neue Wege aus dem Dickicht hinaus zu finden.
Dem Finanzausschuss des Deutschen Bundestages
liegt ein aktueller Bericht des Bundesministeriums der
Finanzen von Mitte März vor, in dem die aktuellen
Aspekte der deutschen Politik im Bereich der Abkom-
men zur Vermeidung der Doppelbesteuerung ausgeführt
sind. Diese Unterrichtung enthält neben der Darstellung
aktueller Herausforderungen an die deutsche Doppel-
besteuerungspolitik detaillierte Ausführungen bezüglich
der Wahl der Methode zur Vermeidung der Doppel-
besteuerung. Dieser Bericht sollte zunächst im Finanz-
ausschuss diskutiert werden bevor in abschließender
Lesung der Antrag der Grünen beraten wird.
Es ist hier darauf hinzuweisen, dass die Parteitags-
beschlüsse der Grünen darauf angelegt sind, Mehr-
einnahmen in der Höhe von 60 Milliarden Euro pro Jahr
vorzusehen. Deshalb ist die komplette Steuerpolitik der
Grünen darauf angelegt, zu Mehreinnahmen in zigfacher
Milliardenhöhe zulasten der Steuerzahler kommen zu
müssen. Anders lässt sich dieses Ausgabenprogramm
der Grünen überhaupt nicht finanzieren. Insofern drängt
sich bei diesem Antrag der Verdacht auf, dass die
Grünen auch mit diesem Antrag die Steuern erhöhen
wollen, um ihre Forderungen überhaupt finanzieren zu
können. Sämtliche Steuerpflichtige sollen vor diesem
Hintergrund mit sämtlichen Steuereinkünften bei deut-
lich höheren Steuersätzen in Deutschland einer höheren
steuerlichen Belastung ausgesetzt sein, unabhängig da-
von, wo diese Einkünfte erzielt werden. Das ist der tra-
gende Teil des Antrages der Grünen.
Dieses ist der Grunddissens, der seitens der FDP mit
den Grünen besteht. Die FDP möchte einen leistungsfä-
higen Staat, der sich auf die Kernaufgaben beschränkt.
Deshalb schlagen wir in jeder Haushaltsdebatte entspre-
chende Einsparungsvorschläge im Bundeshaushalt vor.
Die Grünen haben diesen Sparvorschlägen der FDP noch
nie zugestimmt. Sie benötigen mehr Staatseinnahmen,
um viele zusätzliche Ausgabenwünsche zu erfüllen.
Auch auf Basis dieser unterschiedlichen konzeptionellen
Ansätze würde die FDP es begrüßen, wenn auch die an-
deren Fraktionen endlich die Vereinfachung des deut-
schen Steuerrechtes mit breiter Bemessungsgrundlage
und niedrigeren Steuersätzen beschließen könnten. So-
lange dies aber nicht der Fall ist, ist die FDP der Auffas-
sung, dass der Antrag der Grünen viel zu pauschal und
zu wenig differenziert ist. Die FDP-Bundestagsfrak-
tion lehnt den vorgelegten Antrag daher ab.
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Der Vorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Verhinderung der
Steuerverlagerung ins Ausland ist im Prinzip sinnvoll.
Die Fraktion Die Linke hatte bereits im Mai des vergan-
genen Jahres die Forderung nach der Umstellung auf das
Anrechnungsverfahren im Rahmen des Antrags „Unter-
nehmen leistungsgerecht besteuern – Einnahmen der öf-
fentlichen Hand stärken“ – Drucksache 16/5249 – erho-
ben.
Laut Bundesfinanzministerium wendet Deutschland
nach wie vor grundsätzlich bei Doppelbesteuerungsab-
kommen die Freistellungsmethode mit Progressionsvor-
behalt an. Nur bei Zinsen von ausländischen Schuldne-
rinnen und Schuldnern, Lizenzgebühren ausländischer
Lizenznehmerinnen und -nehmer und Dividenden aus-
ländischer Kapitalgesellschaften findet im Regelfall die
Anrechnung der ausländischen Steuer auf die deutsche
Steuer statt. Ein aktuelles Beispiel für eine solche Aus-
gestaltung ist das zum 1. Januar 2008 in Kraft getretene
Doppelbesteuerungsabkommen zwischen der Bundesre-
publik Deutschland und Georgien.
Die Freistellungsmethode schafft Anreize zur Steuer-
vermeidung durch die Verschiebung von Gewinnen und
Vermögen in Länder mit niedrigerer Besteuerung. Denn
bei deren Anwendung wird häufig das Besteuerungs-
recht dem ausländischen Staat überlassen: So finden sich
beispielsweise im Abkommen mit der Volksrepublik
China entsprechende Überlassungsregelungen. Dabei
verzichtet der hiesige Fiskus, zur Vermeidung der Dop-
pelbesteuerung bei im Ausland erzielten Einkünften von
in Deutschland Ansässigen auf eine adäquate Erfassung
der steuerlichen Bemessungsgrundlage. Der Progres-
sionsvorbehalt, also die Berücksichtigung der ausländi-
schen Einkünfte bei der Bestimmung des Steuersatzes,
kann diese faktischen Steuerbefreiungen nicht kompen-
sieren: Würden ausländische wie inländische Einkünfte
gleich behandelt, ergäbe sich derselbe durchschnittliche
Steuersatz auf ein durch die Auslandseinkünfte erhöhtes
zu versteuerndes Einkommen.
Gerade Besserverdienende und Vermögende haben
und nutzen diese Möglichkeiten zur Vermeidung von
Steuern. Die konsequente Anwendung der Anrechnungs-
methode könnte dagegen garantieren, dass Einkünfte
von Inländerinnen und Inländern steuerlich gleich be-
handelt werden, unabhängig vom Ort der Entstehung
dieser Einkünfte. So müsste beispielsweise bei einer Ka-
pitalanlage in einem Land mit niedrigerer Besteuerung
der Kapitalerträge als in Deutschland, der sich ergebende
Differenzbetrag hierzulande nachgezahlt werden. Die
Umstellung in der Ausgestaltung der Doppelbesteue-
rungsabkommen auf die Anrechnungsmethode bietet so-
mit eine Chance auf mehr Steuergerechtigkeit.
Für eine wirksame Verhinderung von legaler, aber
auch von illegaler internationaler Steuerverlagerung
greift der Vorschlag der Grünen zu kurz. Insbesondere
fehlt jeglicher Hinweis darauf, dass für eine wirksame
Besteuerung auf im Ausland erzielte Einkünfte das ent-
sprechende Wissen über diese bei den Finanzämtern vor-
liegen muss. Wie der aktuelle Steuerhinterziehungsskan-
dal um Herrn Zumwinkel und Konsorten zeigt, ist der
internationale Informationsaustausch über Kapitalein-
künfte äußerst lückenhaft. Für einen besseren internatio-
nalen Informationsaustausch wären flankierende Maß-
nahmen notwendig, wie beispielsweise die Ergreifung
von Maßnahmen gegenüber Staaten, die bezüglich des
Informationsaustausches über die Kapitalerträge von
Steuerpflichtigen nicht kooperieren, die Stärkung der
Durchsetzungsfähigkeit der Finanzbehörden, insbe-
sondere deren personelle Aufstockung und Neuverhand-
lungen innerhalb der EU, mit der Zielsetzung einer
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16273
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Ausweitung der EU-Zinsrichtlinie auf weitere Kapital-
ertragsarten, wie beispielsweise Dividenden.
Insgesamt kann die Umstellung der Doppelbesteue-
rungsabkommen von der Freistellungsmethode auf die
Anrechnungsmethode nur ein Baustein im Rahmen eines
Maßnahmenbündels zur Bekämpfung der Steuerverlage-
rung darstellen. Ohne ergänzende Maßnahmen würde
die Einführung dieser Methode lediglich zu einer Ver-
schiebung von legaler zu illegaler Steuerverlagerung
führen.
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Kaum ein anderes Thema hat die Menschen in den ver-
gangenen Wochen so bewegt wie der Skandal um die
nach Liechtenstein verschobenen Millionen von
Zumwinkel & Co. Die Aufregung war deswegen so groß,
weil es hier um die Frage geht, wie sich gutverdienende
Menschen an der Finanzierung des Gemeinwohls beteili-
gen und mit welcher Kaltschnäuzigkeit sie dies immer
wieder verweigern. Keine Gestaltung scheint zu kompli-
ziert, wenn es darum geht, dem Fiskus ein Schnippchen
zu schlagen und ihre Einkommensmillionen von der
Steuer unbehelligt in ausländische Stiftungen einzubrin-
gen. Die Erträge daraus müssten im Wohnsitzland ver-
steuert werden, was aber häufig nicht passiert.
Staaten regeln normalerweise den steuerlichen Um-
gang mit Einkommen, die ihre Bürger und Bürgerinnen
in einem anderen Land erzielen, mit sogenannten Dop-
pelbesteuerungsabkommen, DBA. Sinn und Zweck die-
ser Vereinbarungen: Die Leute sollen nicht zweimal
Steuern auf das gleiche Einkommen zahlen. Mit einer
Vielzahl von Staaten weltweit unterhält die Bundesrepu-
blik solche Abkommen, nicht aber mit Steuer- und Re-
gulierungsoasen wie Liechtenstein und anderen. Noch
nicht einmal an diesem Mindestmaß an internationaler
Kooperation beteiligt sich das alpenländische Fürsten-
tum.
Schief an der Debatte um die Steuerhinterziehung per
liechtensteinischer Stiftung ist: Die Bundesregierung
könnte selbst viel mehr gegen Steuerverlagerung ins
Ausland tun, als das gegenwärtig der Fall ist. Finanz-
minister Steinbrück und andere sind schnell dabei, wenn
es darum geht, auf die Hinterziehungspraxis zu schimp-
fen und an die Steuermoral zu appellieren. Sie vergessen
dabei, dass die Bundesregierung es an verschiedenen
Stellen selbst in der Hand hat, für mehr Steuergerechtig-
keit zu sorgen. Eine zentrale Stellschraube dabei sind die
Doppelbesteuerungsabkommen. Sie folgen üblicher-
weise dem Musterabkommen der OECD. Darin festge-
schrieben sind im Grundsatz zwei zentrale Verfahren:
Die Anrechnungs- und die Freistellungsmethode. Letz-
tere öffnet einer faktischen Nullbesteuerung Tür und Tor.
Denn diese Methode besagt, dass im Ausland bereits
versteuertes Einkommen in Deutschland nicht erneut be-
steuert werden darf. Als „versteuert“ gilt dabei aber auch
Einkommen, das im Ausland einem Nullsatz unterliegt.
Bestes Beispiel dafür: Das Doppelbesteuerungsabkom-
men mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, VAE, das
im Sommer 2006 von der Bundesregierung entgegen an-
derslautender Versprechungen um zwei Jahre verlängert
wurde. Der Wüstenstaat erhebt auf viele Einkommens-
arten gar keine Steuer; dennoch gilt das Einkommen in
Deutschland dann als versteuert. Weil die Freistellungs-
methode angewendet wird, geht der deutsche Fiskus leer
aus. Wir sind gespannt, was die Bundesregierung von
der Neuverhandlung mit den VAE berichtet und ob sie
die Anrechnungsmethode in das neue DBA festschrei-
ben konnte.
Wir sind dafür, dass sich Deutschland an die Muster-
abkommen der OECD hält, weil wir eine möglichst ein-
heitliche Abkommensstruktur wollen. Wir fordern aber,
dass die Bundesregierung in allen Abkommen zur An-
rechnungsmethode wechselt und, wenn notwenig, beste-
hende Abkommen neu verhandelt. Nur dann sind nach
dem Welteinkommensprinzip alle im Ausland erzielten
Einkommen auch in Deutschland voll steuerpflichtig.
Eine eventuell im Ausland bereits gezahlte Steuer wird
bei dieser Methode angerechnet, eine Doppelbesteue-
rung also vermieden. Dieses Verfahren soll nicht nur für
Einkommen, sondern auch für Schenkungen und Erb-
schaften gelten. Besteht bereits in einem DBA die
Option zum Wechsel von der Freistellungs- zur Anrech-
nungsmethode, dann soll diese Möglichkeit auch umge-
hend genutzt werden. Die bisherige Präferenz Deutsch-
lands für die Freistellungsmethode stammt aus einer
Zeit, als es Ziel deutscher Politik war, den deutschen Un-
ternehmen den Weg ins Ausland zu ebnen und den ärme-
ren Ländern das Instrument der steuerlichen Förderung
ausländischer Investitionen zu ermöglichen. Heute, vor
dem Hintergrund vor allem zahlreicher Steueroasen, die
dieses Instrument massiv zur Förderung von Steuer-
flucht missbrauchen, muss die bisherige Sichtweise kor-
rigiert werden. Wir sind neugierig, ob SPD und Union in
den parlamentarischen Verhandlungen ihren Worten Ta-
ten folgen lassen und mit uns gemeinsam für mehr Steu-
ergerechtigkeit in Deutschland sorgen wollen. Unser An-
trag bietet die Gelegenheit dazu.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu den Anträgen:
– Breitbandversorgung in ländlichen Räumen
schnell verbessern
– Datenbasis für flächendeckende Versorgung
mit breitbandigem Internetzugang schaffen
– Schnelles Internet für alle – Unternehmen
zum Breitbandanschluss gesetzlich ver-
pflichten
– Den Ausbau der Breitbandinfrastruktur flä-
chendeckend voranbringen
(Tagesordnungspunkt 18)
Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU): Schnelle Zu-
gangsmöglichkeiten zum Internet sind für die wirtschaft-
liche und gesellschaftliche Entwicklung unseres Landes
von grundlegender Bedeutung. Eine leistungsfähige
16274 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008
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(B) (D)
Breitbandinfrastruktur ist eine wesentliche Vorausset-
zung für Wachstum, Innovation und Arbeitsplätze. Im-
mer mehr Geschäftsmodelle, Dienste und Anwendungen
können nur mit einem schnellen Zugang zum Netz ge-
nutzt werden. Wertschöpfungs- und Kommunikations-
prozesse in Unternehmen, Verwaltungen und im gesell-
schaftlichen Leben werden immer stärker über schnelle
Datenleitungen abgewickelt.
Zentrales Ziel ist es deshalb, möglichst schnell flä-
chendeckenden Breitbandzugang in Deutschland zu er-
reichen. Diese Zielsetzung ist nicht nur für die Stärkung
des Wirtschaftsstandortes Deutschland von entscheiden-
der Bedeutung. Sie ist auch eine zwingende Vorausset-
zung dafür, die Chancengleichheit der Bürgerinnen und
Bürger zu wahren. Alle Bürgerinnen und Bürger müssen
in Deutschland an den Chancen der Informationsgesell-
schaft teilhaben können.
Der Breitbandmarkt in Deutschland ist in den vergan-
genen zwei Jahren sehr stark gewachsen. Wir haben in
Deutschland derzeit circa 20 Millionen Breitbandan-
schlüsse. Allerdings gibt es erhebliche Versorgungsun-
terschiede zwischen Ballungszentren und ländlichen
Räumen. Viele Kommunen in der Fläche sind von den
Möglichkeiten der Breitbandnutzung immer noch ausge-
schlossen. Sie gehören zu den sogenannten weißen Fle-
cken, in denen – sieht man einmal von Satellitenverbin-
dungen ab – nach wie vor kein Zugang zum Breitband
möglich ist. Dies ist auch deshalb paradox, weil breit-
bandiges Internet besonders geeignet ist, gerade ländli-
chen Räumen einen erheblichen Wachstumsimpuls zu
vermitteln. Nach wie vor sind rund 2 000 Kommunen in
Deutschland schlecht oder unzureichend mit Breitband
versorgt.
Die Gründe für den fehlenden Breitbandanschluss
sind vielfältig. In vielen Kommunen im ländlichen
Raum ist die Entfernung zum nächsten bestehenden
DSL-Hauptverteiler zu groß. Aufgrund geringer Bevöl-
kerungsdichte ist meist aus Sicht der Telekommunika-
tionsunternehmen die Zahl potenzieller Nachfrager zu
gering, als dass sich die notwendigen Investitionen für
die Breitbanderschließung für drahtgebundene Übertra-
gungswege – DSL, Kabel – derzeit betriebswirtschaft-
lich lohnen würden.
Deshalb müssen wir auch bereit sein, die bisherigen
Maßnahmen zu verstärken und auch neue Wege zu be-
schreiten, um möglichst schnell flächendeckendes Breit-
band zu ermöglichen. Aus unserer Sicht hängen weitere
Fortschritte bei der Flächenabdeckung vor allem von ei-
ner Steigerung des intermodalen Wettbewerbs in
Deutschland ab. Eine Stärkung des Wettbewerbs bleibt
unser Leitprinzip. Es gibt aber Kommunen, in denen un-
ter anderem aufgrund dünner Besiedlung eine Breit-
bandanbindung im wettbewerblichen Umfeld auch auf
absehbare Zeit nicht möglich ist. In diesen Fällen muss
zusätzlich die Verwendung staatlicher Fördermittel in
Betracht gezogen werden.
Der klare Vorrang für wettbewerbliche Lösungen
muss ergänzt werden durch eine flexible und effiziente
Frequenzpolitik. Frequenzen sind eine der wichtigsten
Ressourcen in der Informationsgesellschaft. Eine ineffi-
ziente Nutzung von Frequenzen muss unbedingt vermie-
den werden, da diese Frequenzen sonst nicht für neue
Funktechnologien und innovative Anwendungen genutzt
werden können. Eine effiziente Nutzung der Frequenzen
birgt dagegen große Chancen, auch dünn besiedelte
ländliche Regionen ohne aufwendige Leitungsverlegung
über Funk an Breitbandinternet anzuschließen.
Wichtig ist uns zudem eine verbesserte Markttranspa-
renz und Information. Telekommunikationsmärkte sind
gekennzeichnet durch schnelle Innovationszyklen und
rasche technologische Weiterentwicklungen. Umso
wichtiger sind eine zeitnahe Information und Markt-
transparenz für Anbieter und Nutzer gleichermaßen.
Hier besteht Handlungsbedarf. Bürgermeister und Ge-
meinderäte können auch vor dem Hintergrund der sich
schnell weiterentwickelnden Technologien oftmals nicht
beurteilen, welche Technologien für eine Breitbandan-
bindung ihrer Gemeinde speziell für ihre lokalen Bedürf-
nisse geeignet und sinnvoll sind. Darüber hinaus fehlen
ihnen oftmals notwendige Planungsparameter, um mit
potenziellen Anbietern über geeignete Realisierungs-
möglichkeiten zu verhandeln. Zudem wird DSL in
Deutschland immer noch zu häufig als Synonym für
Breitband gesehen. Dies verstellt den Blick auf die
Chancen anderer Zugangstechnologien insbesondere in
der Fläche. Hier bedarf es einer umfassenden Informa-
tionskampagne in Deutschland. Die für die Versorgung
der Gemeinden notwendige Technologie- und Imple-
mentierungsberatung müssen zentral organisiert sein.
Was die Markttransparenz anbetrifft, so ist der Breit-
bandatlas der Bundesregierung ein richtiges Instrument.
Er kann jedoch nur zu größerer Markttransparenz beitra-
gen, wenn er geografisch in höherer Präzision dargestellt
wird.
Konkret fordern wir die Bundesregierung auf, für die
notwendige Erschließung der „Weißen Flecken“ in
Deutschland im Bundesministerium für Wirtschaft und
Technologie eine „Task Force“ einzurichten, die schnellst-
möglich für jede der rund 700 bislang vollkommen
unerschlossenen Gemeinden sowie die 1 400 schlecht an-
gebundenen Gemeinden in Deutschland aktive Hilfestel-
lung bei der Informationsbeschaffung und -aufbereitung,
der Bewertung ökonomischer Alternativen und bei der
Auswahl der geeigneten Technologie bieten kann; eine
Internetplattform einzurichten, auf der Beispiele erfolg-
reicher Kommunen gebündelt dargestellt werden, um
den Erfahrungsaustausch über unterschiedliche Lö-
sungsmodelle zu erleichtern und transparenter zu ma-
chen und das Bewusstsein für lokale Lösungsmöglich-
keiten bzw. gegebenenfalls für einen Technologiemix zu
steigern; die Markttransparenz für Anbieter und Nutzer
zu erhöhen und den Breitbandatlas geografisch in höhe-
rer Präzision darzustellen; dabei vorrangig für die nicht
vollständig angeschlossenen Gemeinden eine detaillierte
Darstellung der tatsächlichen Versorgung und Versor-
gungsmöglichkeiten zu erarbeiten; stärker als bisher auf
die schnelle Vergabe und effiziente Nutzung von Funk-
frequenzen hinzuwirken und hierbei dem Aspekt der
Flächenabdeckung in Form von Versorgungsauflagen für
die Fläche seitens der Frequenzinhaber so weit wie mög-
lich Rechnung zu tragen; den Gemeinden, in denen dau-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16275
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erhaft nicht mit einer Breitbandversorgung im wettbe-
werblichen Umfeld zu rechnen ist, Unterstützung bei der
Inanspruchnahme öffentlicher Fördermittel – EU-Struk-
tur-/Regionalfonds, Beihilfen – in Form von Informatio-
nen und Hilfestellungen anzubieten.
Wir sind überzeugt, dass mit der Umsetzung dieser
Forderungen den heutigen „Weißen Flecken“ schnell ge-
holfen werden kann – für flächendeckendes Breitband in
Deutschland.
Dr. Hans-Heinrich Jordan (CDU/CSU): Unbestrit-
ten ist der ländliche Raum ein Herzstück unseres wirt-
schaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Lebens.
Ungefähr 65 Prozent unserer Bevölkerung leben außer-
halb von Ballungsräumen. Mehr als 75 Prozent aller Ge-
meinden in Deutschland haben weniger als 5 000 Ein-
wohner. Von 3,5 Millionen Wirtschaftsbetrieben, davon
circa 400 000 landwirtschaftliche Betriebe, befindet sich
die Mehrzahl in kleinen Gemeinden und Mittelstädten.
Trotz der besonderen Bedeutung besteht jedoch eine
Vielzahl von Nachteilen, deren Auswirkungen auf die-
sen Raum es zu kompensieren gilt. Die Stärkung der
Zukunftschancen auch in ländlichen Räumen bedingt zu-
allererst auch den Aus- und Aufbau moderner Infrastruk-
turen. Ein bedeutender Teil davon stellt die Schaffung
moderner Kommunikationstechnologien dar. Die Wei-
chen müssen heute gestellt werden. Ich bin froh, dass
alle Fraktionen dem Grunde nach dies genauso sehen.
Die Breitbandversorgung als ein Schlüssel für die Zu-
kunft ist in den ländlichen Regionen bisher noch völlig
unzureichend entwickelt. Die Ursachen dafür sind struk-
tureller Art. Deshalb besteht die Verpflichtung, zur Wah-
rung der Wettbewerbschancen finanzielle Ausgleichs-
leistungen zu erbringen. Der vorliegende Antrag der
Regierungskoalition eröffnet Hilfeleistungen und unter-
stützt den Wettbewerb zwischen verschiedenen Anbie-
tern und Technologien. Internationale Studien belegen:
Diejenigen Länder, in denen ein Wettbewerb zwischen
verschiedenen Breitbandzugangstechnologien besteht,
sind gleichzeitig am erfolgreichsten bei der Flächenab-
deckung. Die unterschiedlichen Technologien sind dabei
nicht als alternativ, sondern als zueinander gleichwertig
zu betrachten. Angesichts der rasanten technologischen
Entwicklung in der Vergangenheit wäre es fatal, hier nur
eine Breitbandtechnologie zu favorisieren. Ob DSL, Ka-
bel, SAT, UMTS, EDGE, WiMAX, HSDPA, LTE oder
Funk-DSL – die Verfügbarkeit und die Bandbreiten die-
ser Technologien sind in den letzten Jahren enorm ge-
stiegen bzw. werden steigen. Soll der Markt entscheiden,
welche der Technologien sich etablieren und durchset-
zen werden.
Ein großes Anliegen dieses Antrages ist es, die Ge-
meinden im ländlichen Raum in die Lage zu versetzen,
sich eine eigene Breitbandlösung zu schaffen. Die sich
daraus ergebenden Aufgaben müssen von allen Akteuren
schnell, unbürokratisch und lebensnah angepackt wer-
den.
In meinem Wahlkreis gibt es bereits einige Gemein-
den, die sich für eine Funk-DSL-Lösung entschieden ha-
ben. Ähnliche solcher Projekte wurden jetzt durch das
Bundesministerium für Wirtschaft in einem Beispiel-Ka-
talog zusammengefasst. Das sind alles Projekte, die Mut
machen und eine zukunftsfeste Lösung darstellen. So ein
Projekt kann in wenigen Wochen umgesetzt werden –
wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen. Hierbei
entstehen im Übrigen auch völlig neue Chancen für den
Mittelstand, denn diese Art der Breitbandversorgung
kann auch von lokalen mittelständischen Unternehmen
vorgenommen werden. Die Union ist deshalb entschie-
den gegen eine voreilige Aufnahme von Breitband in die
Universaldienste. Es sollte vielmehr ein Leistungsange-
bot eines Anbieters sein. Aufgabe der Bundespolitik ist
es, die dazu nötigen Rahmenbedingungen für Wahlmög-
lichkeiten und Wettbewerb zu setzen. Besonders dankbar
bin ich, dass erstmals im Haushalt 2008 des Bundes-
ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
braucherschutz (BMELV) Fördermittel bereitstehen.
Das BMELV hat mit der Aufnahme der Breitbandför-
derung in die Gemeinschaftsaufgabe zur „Verbesserung
der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ wichtige Im-
pulse zur schnellen Verbesserung der Breitbandsituation
in strukturschwachen und ländlichen Regionen gesetzt.
Das schnelle Internet ist eine Voraussetzung für eine
wettbewerbsfähige Wirtschaft und zum anderen ein viel-
versprechendes Angebot, um der weiteren Abwanderung
junger Menschen aus dem ländlichen Raum entgegenzu-
wirken. Breitbandangebote als Standortfaktor erhöhen
die Attraktivität des ländlichen Raums und stärken des-
sen Zukunftsfähigkeit.
Martin Dörmann (SPD): In Deutschland können wir
uns über einen besonders dynamischen Breitbandmarkt
freuen. Gerade im letzten Jahr sind 5 Millionen neue
Breitbandanschlüsse hinzugekommen, insgesamt sind es
nun fast 20 Millionen. Damit liegen wir an der Spitze
Europas. Ein funktionierender Wettbewerb hat zu äu-
ßerst verbraucherfreundlichen Preisen geführt. Und auch
die Qualität der Anschlüsse ist im europäischen Ver-
gleich hervorragend.
Diese überaus positive Bilanz wird jedoch dadurch
getrübt, dass noch nicht alle Regionen über ein adäqua-
tes Angebot für breitbandige Internetanschlüsse verfü-
gen. Einige Gemeinden in eher ländlichen Räumen dro-
hen abgekoppelt zu werden, sodass viele von einer
„Digitalen Kluft“ sprechen. Etwa 2 000 Gemeinden sind
davon betroffen. Dabei nimmt die Bedeutung des Inter-
nets täglich zu. Gesellschaftliche Teilhabe der Menschen
und die wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten ei-
ner Kommune sind zunehmend abhängig von der Fähig-
keit, ein breitbandiges Internetangebot zu nutzen.
Ziel der Großen Koalition ist es, zu einer flächende-
ckenden Breitbandversorgung in Deutschland zu kom-
men und die weißen Flecken möglichst schnell zu schlie-
ßen. Mit dem vorliegenden Antrag legen wir ein
Maßnahmenbündel vor, das die Rahmenbedingungen
hierfür entscheidend verbessert.
Vorrangig setzen wir auf den dynamischen Wett-
bewerb und die Kreativität von Unternehmen und unter-
versorgten Gemeinden, passgenaue Lösungen für jede
betroffene Region zu finden. Dies wollen wir durch die
16276 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008
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(B) (D)
Verbesserung der Informationsgrundlagen sowie unter-
stützende und koordinierende Angebote für die betroffe-
nen Kommunen fördern.
Der seit 2005 bestehende Breitbandatlas der Bundes-
regierung soll präzisiert werden. Es soll eine Task-force
gebildet werden, die weiße Flecken genau lokalisiert und
konkrete Lösungsmöglichkeiten aufzeigt. Beispiele er-
folgreicher Kommunen sollen gebündelt über eine Inter-
netplattform dargestellt werden, um Anregungen zu ge-
ben, passgenaue Lösungsmodelle zu erleichtern und das
Zusammenwirken von Gemeinden und Unternehmen zu
intensivieren.
In den meisten Fällen hängt es entscheidend von der
Initiative der Gemeindeverwaltung ab, die den eigenen
Bedarf vor Ort abklären und Unternehmen aktiv anspre-
chen sollte. Mit entsprechendem Engagement sind
bereits heute in den allermeisten Fällen relativ schnell
kreative Lösungen zu finden, wenn auch möglicherweise
mit unterschiedlichen Bandbreiten. Dies belegen die bis-
herigen Erfahrungen. Einige von ihnen hat die Bundes-
regierung auf ihrer Homepage www.zukunft-breitband.de
als „Best-Practice-Beispiele“ eingestellt.
Es ist stärker als bisher ins Bewusstsein zu rücken,
dass es inzwischen zahlreiche Alternativen zum DSL
gibt, auch wenn diese Technik heute noch 95 Prozent der
Anschlüsse in Deutschland abdeckt. Da DSL jedoch lei-
tungsgebunden ist, rentiert sich für die Unternehmen ein
Ausbau in dünn besiedelten Regionen oft nicht. Hier rü-
cken insbesondere die modernen Funktechnologien in
den Vordergrund, da über diese Breitbandanschlüsse
kostengünstiger umzusetzen sind, insbesondere WLAN,
WiMAX oder der UMTS-Standard HSDPA. Hinzu kom-
men die Angebote der Kabelnetzbetreiber. Im Prinzip
überall verfügbar ist heute bereits die Satellitentechno-
logie, allerdings immer noch mit etwas höheren Kosten
sowie Bandbreitennachteilen, insbesondere bei der
Rückkanalfähigkeit. In vielen Fällen wird ein Mix unter-
schiedlicher Technologien in Betracht kommen.
Die Möglichkeiten, über Funktechnologie Breitband-
anschlüsse anzubieten, soll nach Auffassung der Großen
Koalition durch eine möglichst effiziente Frequenzpoli-
tik unterstützt werden. Dies bedeutet beispielsweise, bei
der Vergabe von neuen Frequenzen, dort wo es sinnvoll
ist, Ausbauverpflichtungen hinsichtlich der nicht voll-
ständig angeschlossenen Gemeinden im Vergabeverfah-
ren vorzusehen. Hier hinein spielt auch die Frage, wie
wir die „Digitale Dividende“ nutzen, die durch die Um-
stellung des Rundfunks von der analogen auf die digitale
Technik entstanden ist. Insofern müssen zunächst der
Bestand und die Entwicklungsmöglichkeiten des Rund-
funks gesichert sein. Soweit hierfür Frequenzbereiche
nicht mehr gebraucht werden, sollten wir zügig und
gründlich prüfen, inwieweit diese für den weiteren Breit-
bandausbau genutzt werden können. Denn die betroffe-
nen Frequenzen liegen in einem niedrigen Frequenz-
bereich, der besonders kostengünstige Lösungen
ermöglicht.
Nach Vorstellung der Großen Koalition sollen staatli-
che Fördermittel ergänzend eingesetzt werden, wo sich
der Ausbau ansonsten nicht rechnen würde. Neben
EU-Fördermitteln stehen hierfür bereits Mittel im Bun-
deshaushalt zur Verfügung, die durch Ländermittel er-
gänzt werden. So stellt die Bundesregierung seit 2008
jährlich 10 Millionen Euro im Rahmen der Gemein-
schaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz“,
GAK, bereit; zusätzlich ist auch eine Förderung aus den
Mitteln der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der re-
gionalen Wirtschaftsstruktur“, GA, möglich.
Wir sind zuversichtlich, dass mit den zuvor genannten
Maßnahmen und technischen Entwicklungsmöglichkei-
ten die weißen Flecken in absehbarer Zeit beseitigt wer-
den können. Voraussetzung ist, dass alle Akteure ihre
Hausaufgaben machen und zusammenwirken, von den
Gemeinden über die Länder und den Bund bis hin zu den
Unternehmen. Vorsorglich setzen wir uns für den Fall,
dass dies wider Erwarten nicht erreicht werden sollte,
dafür ein, dass der EU-Rechtsrahmen dahin gehend ab-
geändert wird, dass die Aufnahme von Breitband-
internetanschlüssen als Universaldienst durch die Mit-
gliedsländer grundsätzlich ermöglicht werden sollte,
sofern die EU-Kommission entsprechende Vorschläge
entwickelt.
Angesichts der bestehenden technischen Möglichkei-
ten und der Dynamik des Wettbewerbs wäre es jedoch
verfrüht und unangemessen, bereits heute alleine die
Einführung des Universaldienstes als Lösungsmodell an-
zubieten, zumal die Umsetzung aus vielerlei Gründen
kurzfristig kaum zu realisieren wäre. Von daher greift
der Antrag der Fraktion Die Linke, der sich alleine hie-
rauf bezieht, viel zu kurz und wäre sogar kontraproduk-
tiv, weil er die schnelle Umsetzung alternativer Lösun-
gen zunächst einmal behindern würde. Auch der Antrag
der FDP-Fraktion ist völlig einseitig, da er lediglich auf
die Verbesserung der Informationen über die weißen Fle-
cken setzt. Diese ist zwar eine Voraussetzung und wird
deshalb gerade auch im Antrag der Großen Koalition
nachhaltig verfolgt, ist aber für sich genommen noch
nicht die vollständige Lösung des Problems. Hingegen
habe ich am Antrag der Grünen inhaltlich wenig auszu-
setzen, da er bis auf wenige Nuancen weitgehend auf
den Antragsentwurf der Großen Koalition zurückgreift,
der ihnen frühzeitig vorlag.
Zusammenfassend lässt sich deshalb feststellen: Mit
ihrem Antrag legt die Große Koalition ein umfassendes
und realistisches Maßnahmenpaket vor, um möglichst
schnell zu einer flächendeckenden Breitbandabdeckung
in Deutschland zu gelangen. Wir wollen die „Digitale
Kluft“ überwinden und in allen Regionen die gesell-
schaftliche Teilhabe der Menschen ermöglichen sowie
die wirtschaftlichen Entwicklungspotenziale durch das
Internet nutzen. Lassen Sie uns in einer gemeinsamen
Kraftanstrengung sicherstellen, dass wir die sozialen,
kulturellen und ökonomischen Chancen nachhaltig nut-
zen. Deutschland soll nicht nur hinsichtlich der Quantität
und Qualität von Breitbandanschlüssen, sondern auch
bei der Flächenabdeckung an der Spitze Europas stehen.
Manfred Zöllmer (SPD): Das Internet müssen wir
als Infrastruktur unseres Landes betrachten wie unsere
Straßen, die Energienetze oder Bahntrassen. Genau wie
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16277
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diese Infrastruktur Anbindung ländlicher Regionen oder
Metropolen bedeutet, so bedeutet der Internetzugang,
genauer gesagt der breitbandige schnelle Zugang, Teil-
habe für Privatpersonen oder Unternehmen. Er ist damit
zentraler Standortfaktor.
Der aktuelle Jahresbericht der Bundesnetzagentur für
2007 weist aus, dass die hohe Nachfrage nach Breit-
bandanschlüssen weiter anhält. Die Gesamtzahl der
breitbandigen Anschlüsse lag bei nahezu 20 Millionen.
Allein im Jahre 2007 wurden fast 5 Millionen neue
Breitbandanschlüsse geschaltet.
Die Verbraucherinnen und Verbraucher benutzen das
Internet mit großer Selbstverständlichkeit als Informa-
tionsportal, zum Downloaden von Fotos, Filmen und
Musik. Sie buchen ihre Reise darüber, ersteigern und
kaufen Waren. Aber auch für die Unternehmen ist das
Internet unverzichtbar geworden. In unserer auf Export
ausgerichteten Wirtschaft erleichtert das Internet in nie
da gewesener Weise Zugang zu Märkten und Abneh-
mern.
Trotz der weiten Verbreitung von Breitbandanschlüs-
sen müssen wir aber feststellen, dass in Deutschland eine
„digitale Kluft“ besteht. In Großstädten und Ballungs-
zentren haben wir eine überwiegend gute Versorgung,
hingegen sind ländliche Regionen vielfach von der Ent-
wicklung abgekoppelt. Die Bundesregierung ließ einen
Breitbandatlas erstellen, der ausweist, dass für etwa
97 Prozent der Haushalte die Möglichkeit besteht, einen
Breitbandanschluss zu erhalten, aber vielen Regionen
diese Option verwehrt ist. Wir können dabei von etwa
2 000 Gemeinden ausgehen. Dies ist eine viel zu hohe
Zahl.
Diese digitale Spaltung können und wollen wir nicht
hinnehmen, da Chancenunterschiede beim Zugang zum
Internet und anderen digitalen Informations- und Kom-
munikationstechniken für die betroffenen ländlichen
Räume vielfältige negative gesellschaftliche und wirt-
schaftliche Auswirkungen haben.
Wir haben daher im vorliegenden Antrag formuliert,
welche Anstrengungen wir unternehmen müssen, um bei
der Flächenabdeckung der Breitbandversorgung schnel-
ler Fortschritte zu erzielen und die Breitbandinfrastruk-
tur nachhaltig zu verbessern.
Hierbei gibt es nicht den einen richtigen Weg oder
den einen richtigen Dienst. Es ist nicht nur DSL, das uns
zur Verfügung steht. Als Technikalternativen bieten sich
beispielsweise Richtfunk, WiMAX, kommerzielle oder
selbst verwaltete WLAN-Netzwerke, Satellit, UMTS so-
wie TV-Kabelinternet an. Erwähnt sei, was unter dem
Stichwort „Digitale Dividende“ zu verstehen ist: Dies ist
der Gewinn an Übertragungskapazität durch den Um-
stieg auf die Digitaltechnik. Diese Rundfunkfrequenzen
eignen sich besonders für Funktechnologien. Sie können
vergleichsweise kostengünstig für die Breitbandversor-
gung ausgebaut werden.
Wir glauben, dass nur eine Zusammenarbeit aller Ak-
teure, also von Bund, Ländern und Kommunen, aber
auch mit den Anbietern und Nutzern, eine sinnvolle Lö-
sung darstellt, um die weißen Flecken der Versorgung zu
füllen. Hier hat es in der Vergangenheit erhebliche Defi-
zite gegeben. Alle Beteiligten müssen an einen Tisch.
Nur wenn zusammengearbeitet wird, kann es entspre-
chende Ergebnisse geben.
Das Bundeswirtschaftsministerium wird eine Task-
force einrichten, die für jede der bislang vollkommen un-
erschlossenen Gemeinden und der schlecht angebunde-
nen Gemeinden eine aktive Hilfestellung bei der Infor-
mationsbeschaffung und -aufbereitung, der Bewertung
ökonomischer Alternativen und bei der Auswahl der ge-
eigneten Technologie bieten soll.
Darüber hinaus wird eine Internetplattform eingerich-
tet, auf der Beispiele erfolgreicher Kommunen darge-
stellt werden, um den Erfahrungsaustausch zu erleich-
tern.
Insgesamt sind die Maßnahmen vielfältig, individuell
ausgerichtet und geeignet, eine bestehende Kluft im Zu-
gang zum Internet zu beseitigen. Nur eine Infrastruktur,
die auch die ländlichen Räume abdeckt, ist eine gute In-
frastruktur. Dies gilt bei Bahn, Energie und Straßen wie
beim Internetzugang.
Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Zuletzt ha-
ben wir vor einigen Wochen an dieser Stelle über die
massiven Nachteile, die eine unzureichende Versorgung
bestimmter Gebiete in Deutschland mit breitbandigem
Internetzugang hervorrufen, gesprochen. Kein Zweifel:
Das Problembewusstsein ist bei den meisten inzwischen
vorhanden, Unterschiede gibt es zwischen den Fraktio-
nen vor allem über die Prioritäten bei der Lösung des
Problems.
Ich bedauere, dass sich die Koalitionsfraktionen nicht
zu einer Unterstützung der Initiative der FDP haben
durchringen können. Wir haben uns frühzeitig detailliert
mit dem Thema „Weiße Flecken“ auseinandergesetzt
und in unserem Antrag den einschlägig als höchste Prio-
rität anerkannten Handlungsbedarf aufgezeigt. Denn die
FDP-Bundestagsfraktion hatte im Dezember eine Exper-
tenanhörung durchgeführt, bei der führende Vertreter aus
Wissenschaft, Industrie und staatlicher Regulierung an-
wesend waren. Sämtliche – ich wiederhole: sämtliche! –
Experten waren der Auffassung, dass die Hauptursache
der weißen Flecken das Fehlen einer detaillierten und
belastbaren Datenbasis ist. Und eine solche Datenbasis
liefert der Breitbandatlas der Bundesregierung aus dem
Hause des Bundeswirtschaftsministers zweifellos nicht.
Dieser ist lediglich eine mehr oder weniger interessante
Übersicht über die bestehenden Infrastrukturen. Insofern
kann ich auch das Lob der Koalitionsfraktionen über die-
sen Atlas nicht uneingeschränkt teilen. Sie sagen es ja im
Prinzip selbst: Er ist nicht präzise genug. Er schafft so-
mit eben keine ausreichende Grundlage für Investitio-
nen.
Weder der Antrag der Koalitionsfraktionen noch der
der Grünen geht auf diese zentrale Investitionsvorausset-
zung explizit ein. Ihre altbekannten Forderungen heißen
stattdessen: ein paar Fördersubventionen hier, ein paar
Frequenzen dort, garniert mit der obrigkeitsstaatlichen
Keule der „Universaldienstverpflichtung“. Natürlich
16278 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008
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sprechen Sie auch richtige Punkte an. Das Thema „Fle-
xibilisierung des Frequenzmanagements“ bzw. „Digi-
tale Dividende“ haben Sie richtigerweise auf dem
Schirm, und ich bin froh, dass nicht – wie sonst üblich –
reflexartig sofort Besitzstandsdebatten um den öffent-
lich-rechtlichen Rundfunk aufkommen. Das wird ange-
sichts der Sitzung des Beirates der Bundesnetzagentur
am vergangenen Montag noch wichtiger, in der von den
entsprechenden Anbietern eingeräumt wurde, dass sta-
tionäre Funklösungen wie WiMAX letztendlich ökono-
misch wohl nicht kostendeckend seien. Da Sie also ver-
kehrte Prioritäten setzen und noch immer die Keule einer
gesetzlichen Regelung schwingen, von der wir alle wis-
sen, dass sie nicht zum erwünschten Ziel fuhren wird,
kann die FDP Ihren Anträgen nicht zustimmen.
Was wir brauchen, ist ein Produktmix, der sich an den
topografischen, demografischen, ökologischen und öko-
nomischen Besonderheiten der jeweiligen Regionen
orientiert. Während in einem Bereich vielleicht mit dem
Kabel ein Breitbandzugang geschaffen werden kann,
brauchen wir in einem anderen intelligente, mobile
Funklösungen. Es verbleiben unter Umständen auch ei-
nige wenige Gebiete, wo nur der Satellit einen wirt-
schaftlich tragfähigen Breitbandzugang schaffen kann.
Welche Lösung ganz konkret wo die sinnvollste ist,
diese Antwort kann nur die von uns als vordringlich er-
kannte präzise Datenerhebung liefern. Deshalb appel-
liere ich an Sie nochmals: Unterstützen Sie unseren An-
trag und damit die Aufstellung einer belastbaren
Datenbasis. Unterstützen Sie den Appell der kommuna-
len Verbände mit dem VATM. Die dabei gegebenenfalls
zusätzlich notwendigen Mittel sind in den zahlreichen
Fördertöpfen bereits enthalten. Sie müssen nur effektiv
und an den richtigen Stellen eingesetzt werden. Von
technologiefixierten Förderungen und der Keule des Ge-
setzgebers sollten Sie dagegen Abstand nehmen.
Sabine Zimmermann (DIE LINKE): Der Markt ver-
sagt dabei, jedem Dorf und jedem Stadtteil einen Zugang
zum schnellen Internet zu verschaffen – diese Meinung
hat lange Zeit nur die Linke vertreten. Jetzt hat ein Um-
denken eingesetzt, was wir als Linke begrüßen. Auch die
Grünen und weite Teile von Union und SPD zweifeln in-
zwischen daran, ob der Markt für das Problem fehlender
Internetanschlüsse die richtige Lösung ist.
In dem Antrag der Koalition heißt es: Auf dem Land
ist „meist aus Sicht der Telekommunikationsunterneh-
men die Zahl potentieller Nachfrager zu gering, als dass
sich die notwendigen Investitionen“ lohnen würden.
Und die Grünen stellen völlig richtig fest: „Entgegen der
ursprünglichen Hoffnung regelt der Markt die flächende-
ckende Versorgung mit Breitbandverbindungen nicht
von selbst.“ Nur die FDP ist hier unbelehrbar.
In der Tat haben wir ein großes Problem: Unterneh-
men meiden den Netzausbau im ländlichen Raum, weil
sie sich hier keinen oder zu wenig Gewinn versprechen.
Dieses rein betriebswirtschaftliche Verhalten einzelner
Unternehmen führt dazu, dass gegenwärtig 5 bis
6 Millionen Menschen keinen Zugang zum schnellen In-
ternet haben. Was dies im Einzelfall für den Betroffenen
oder die Betroffene bedeutet, habe ich in meiner letzten
Rede an einem Beispiel dargelegt. Mit dem Ausbau der
neuen Hochgeschwindigkeitsnetze in den großen Städ-
ten wächst die digitale Kluft weiter.
Ich begrüße, dass Sie erkannt haben, dass der Markt
das Problem fehlender Zugänge zum schnellen Internet
nicht allein regelt. Leider haben Sie bisher aus der richti-
gen Erkenntnis völlig unzureichende Schlussfolgerun-
gen gezogen. Die Bundesregierung sucht jetzt die Zu-
sammenarbeit mit den Kommunen, sammelt Daten über
die Unterversorgung einzelner Gemeinden. All das ist
nicht falsch, eher selbstverständlich. Gesichert ist damit
jedoch nicht, dass im nächsten Jahr tatsächlich die über-
wältigende Zahl der Gemeinden, die heute keinen
schnellen Zugang zum Internet haben, diesen wirklich
bekommen.
Das allein kann nur der Universaldienst leisten. Er
schreibt vor, dass jedem Haushalt ein schneller Internet-
anschluss angeboten werden muss. Er verpflichtet
größere Unternehmen in ländlichen Regionen, das Tele-
kommunikationsnetz auszubauen, auch wenn sie aus
dem Geschäft dort nicht hohe Renditen erwarten.
Jahrelang ist das Problem fehlender schneller Internet-
anschlüsse bekannt. Jahrelang hat die Bundesregierung
auf den Markt gesetzt und Gesprächsrunden mit der
Wirtschaft geführt. All das hat zu nichts geführt. Auch
die Fördermittel, die die Bundesregierung jetzt zur Ver-
fügung stellt, werden das Problem nicht umfassend lö-
sen. Wollen wir weiter auf den Markt vertrauen und ab-
warten? Nein! Es ist jetzt schnelles und entschiedenes
Handeln gefragt. Der Gesetzgeber muss jetzt und sofort
einen schnellen Internetanschluss für jedermann gesetz-
lich festschreiben. Nur so können wir ausschließen, dass
wir in einem Jahr wieder über das Problem reden und die
digitale Kluft in Deutschland weiter zunimmt.
Und der Universaldienst hat einen weiteren Vorteil:
Mit ihm können auch größere Unternehmen über ein
Umlageverfahren dazu verpflichtet werden, Gelder für
den Netzausbau im ländlichen Raum zur Verfügung zu
stellen. Damit würde verhindert, dass, wie gegenwärtig,
der Staat mit Millionenbeträgen die Tilgung der „weißen
Flecken“ auf dem Land subventioniert, den Unterneh-
men aber die Ballungszentren und großen Städte über-
lässt, um dort ordentliche Gewinne zu machen.
Meine Damen und Herren von der Großen Koalition,
Sie haben die Wahl: Entweder Sie vertrauen weiter auf
den Markt und lassen damit Millionen Menschen ohne
schnellen Internetanschluss. Oder Sie nehmen den
schnellen Internetanschluss in die staatlich garantierte
Grundversorgung auf und sorgen damit für gleiche Le-
bensbedingungen in Deutschland.
Grietje Staffelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
Deutsche Bundestag hat sich früher häufiger mit Südko-
rea befasst, vornehmlich im Außenausschuss. Südkorea
sollte uns inzwischen aber auch im Medienausschuss be-
schäftigen. Denn in diesem Land haben ungefähr dop-
pelt so viele Menschen wie in Deutschland einen Breit-
bandanschluss zur Verfügung. Das ist erstaunlich.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16279
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Glauben wir Deutschen doch gerne, wir hätten technisch
die Nasenspitze ganz vorn. Dass dem nicht so ist, zeigen
die nackten Zahlen. Rund 4 Millionen Haushalte und
Unternehmen haben hierzulande keinen Anschluss an
das schnelle Internet. Das sind 4 Millionen Haushalte
ohne die Chance auf ein Fernstudium per Internet, ohne
die Möglichkeit zur elektronischen Steuererklärung und
ohne die Aussicht auf „Nachrichten-online“. Das ist
nicht nur ungerecht, das ist unhaltbar.
Was die Breitbandversorgung betrifft, sollte Südkorea
Vorbild für uns sein. Wir müssen dringend tätig werden,
um ein solches Netz auch in Deutschland zu schaffen.
Meine Fraktion bietet dazu ein ausgefeiltes Konzept.
Wir fordern im Kern drei Dinge: erstens mehr Transpa-
renz, zweitens sinnvolle Transfers und drittens weniger
„Telekom-Beschützerdenken“.
Transparenz brauchen wir vor allem, damit sich in-
vestitionswillige Unternehmen schneller und besser in-
formieren können. Dazu ist eine Datenbasis nötig, die
nicht nur aufnimmt, wo Breitbandanschlüsse bereits be-
stehen, sondern auch, wo wer noch welche will. Ein sol-
cher Breitbandbedarfsatlas beschleunigt den Ausbau,
weil private Telekommunikationsanbieter schneller ein-
schätzen können, ob sich die Investitionen lohnen.
Das hat auch die FDP erkannt. Allerdings hat sie in
der ersten Lesung hier im Parlament im Eifer des Ge-
fechts übersehen, dass sowohl wir als auch die Regie-
rung genauso weit gedacht haben. Allerdings auch noch
weiter, liebe Kolleginnen und Kollegen der Freien De-
mokraten. Denn es ist klar, dass private Telekommunika-
tionsunternehmen eindeutige Interessen haben. Diese
lauten: Gewinne erwirtschaften. Das ist nicht verwerf-
lich, aber wie bitte soll in einem kleinen Dorf wie
Wustrow in Brandenburg ein entsprechender Gewinn er-
wirtschaftet werden? In dieser Milchmädchenrechnung
scheinen Sie dann doch ein paar Variablen vergessen zu
haben. Wir jedenfalls ziehen den Schluss: Der Markt re-
gelt das Problem nicht alleine. Sonst ständen wir auch
nicht vor der Situation, in der wir uns seit mehr als zehn
Jahren befinden: Die Städter sind schnell und schneller
im Internet unterwegs. Die Menschen auf dem Land
schauen buchstäblich in die leere Röhre.
Transparenz brauchen wir aber auch, damit sich Bür-
gerinnen und Bürger besser über die Möglichkeiten der
Eigeninitiative informieren können. Es gibt bereits För-
derungen, es gibt Beispiele, bei denen Dörfer zur Schau-
fel gegriffen haben. Schade nur, wenn das Rad immer
wieder neu erfunden werden muss oder Gelder unge-
nutzt in Fördertöpfen liegen. Wir fordern deshalb eine
Informationsplattform, die für Interessierte ohne schnel-
les Internet zugänglich ist.
Transfer dagegen brauchen wir bei der Verwendung
von Geldern. Herr Tiefensee hat in seinem Ministerium
13 Milliarden Euro für Infrastrukturmaßnahmen zu Ver-
fügung. Diese Mittel müssen umgeschichtet werden. Wir
fordern eine Umverteilung von der Straße auf die
schnelle Datenautobahn. Dann endlich kommen die Da-
ten zu den Menschen und nicht andersrum!
Jetzt komme ich zu unserem dritten Punkt. Das Tele-
kom-Beschützerdenken der Großen Koalition: Sie ma-
chen in Ihrem Antrag Vorschläge für eine gesetzliche
Verpflichtung zum Ausbau von Breitband, soweit die
EU das empfiehlt. Bei der Universaldienstrichtlinie an-
zusetzen, ist ja zunächst richtig, aber Sie machen einen
Denkfehler. Denn wenn die geltende Universaldienstver-
pflichtung einfach vom Anspruch einer Telefonleitung
auf den eines schnellen Internetanschlusses ausgedehnt
wird, dann geht diese Verpflichtung an die Telekom, die
dafür die Kosten vom Staat erstattet bekommen würde.
Das kann teuer werden! Wir Grüne dagegen setzen auf
das Prinzip Wettbewerb, auch im Rahmen der Universal-
dienstrichtlinie: Für unterversorgte Regionen fordern wir
ein wettbewerbliches Ausschreibungsverfahren. Das
Unternehmen mit dem besten Angebot bekommt den
Zuschlag. So garantieren wir nicht nur niedrige Kosten,
sondern auch die sinnvollste Technik für jede Region.
Ausschreibungsverfahren setzen wir doch sonst in der
Verwaltung für jeden Papierkorb ein, der neu angeschafft
werden muss.
Offensichtlich wollen Sie – liebe Kolleginnen und
Kollegen der Großen Koalition – wieder einmal die Mo-
nopolstrukturen im Telekommunikationsmarkt stärken.
Das kennen wir ja bereits vom VDSL-Ausbau der Tele-
kom. Jedenfalls treibt ein solches Vorgehen die Kosten
unnötig in die Höhe, und die Zeche zahlen am Ende die
Verbraucherinnen und Verbraucher. Deshalb können wir
dem auch nicht zustimmen. Da liefern wir einfach bes-
sere Vorschläge.
Die Linke dagegen setzt weder auf Transparenz noch
auf Transfer, sondern glänzt mit Totalverweigerung der
Realität. Erstens wissen Sie selbst, dass eine Universal-
dienstverpflichtung zum jetzigen Zeitpunkt nicht mög-
lich ist, ohne sich Unternehmensklagen auf EU-Ebene
einzuhandeln. Zweitens wissen wir alle, dass solche Kla-
gen in erster Linie Zeitverzögerung bedeuten. Drittens
würde die von Ihnen vorgeschlagene Verpflichtung eine
bestimmte Technik vorschreiben. Dadurch wird Geld
zum Fenster rausgeschmissen, weil nicht garantiert ist,
dass für die jeweiligen Regionen die beste technische
Lösung gewählt wird. Diese Lehre sollten wir aber
schon gezogen haben. Ganze Landstriche Ostdeutsch-
lands wurden vor 15 Jahren mit ISDN-Leitungen verka-
belt, mit denen wir heute nicht viel anfangen können.
Für Breitband sind sie unbrauchbar. Aus diesen Fehlern
sollten wir aber lernen und sie nicht wiederholen.
Unsere Debatte hat verdeutlicht, dass wir uns im Ziel
eigentlich einig sind. Wenn Sie dem grünen Konzept fol-
gen, könnten wir die weißen Flecken wirklich zügig be-
seitigen und dadurch die digitale Spaltung in Deutsch-
land endlich stoppen. Um noch mal auf Südkorea
zurückzukommen: Das Land weist nicht nur bei den In-
ternetanschlüssen eine gute Bilanz auf, sondern hat auch
bei PISA hervorragend abgeschnitten. Das gibt zu den-
ken. Über einen Zusammenhang können wir nur speku-
lieren. Wir können aber festhalten, dass unsere Regie-
rung sich stärker dafür engagieren muss, unsere
Bürgerinnen und Bürger mit der nötigen Basis für die
Wissens- und Informationsgesellschaft auszustatten. Die
entsprechenden Strukturen lassen noch zu wünschen üb-
rig.
16280 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008
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Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Vertrag vom 22. November 2004 über das
Europäische Korps und die Rechtsstellung sei-
nes Hauptquartiers zwischen der Französischen
Republik, der Bundesrepublik Deutschland,
dem Königreich Belgien, dem Königreich Spa-
nien und dem Großherzogtum Luxemburg
(Straßburger Vertrag) (Tagesordnungspunkt 20)
Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU):
Die Ratifizierung des Straßburger Vertrags ist ein weite-
rer, wichtiger Meilenstein auf dem Weg der europäi-
schen Integration: Der Vertrag vom 22. November 2004
über das Europäische Korps und die Rechtsstellung sei-
nes Hauptquartiers zwischen der Französischen Repu-
blik, der Bundesrepublik Deutschland, dem Königreich
Belgien, dem Königreich Spanien und dem Großherzog-
tum Luxemburg besitzt vor dem Hintergrund der europäi-
schen Kriege des 19. und 20. Jahrhunderts eine histori-
sche Dimension.
Die Aufstellung des Eurokorps kann als das Ergebnis
des am 22. Januar 1963 vom französischen Staatspräsi-
denten General de Gaulle und dem deutschen Bundes-
kanzler Konrad Adenauer unterzeichneten Élysée-Ver-
trages betrachtet werden. In diesem Vertrag, der auf die
Vertiefung der deutsch-französischen Beziehungen ab-
zielte, verpflichteten sich beide Länder zur Zusammen-
arbeit im Bereich der Verteidigung. Abgesehen von
engeren politischen Beziehungen planten die beiden
Länder ein Personalaustauschprogramm zwischen ihren
Armeen und die Zusammenarbeit im Bereich der Rüs-
tungsindustrie.
Die Gründerväter im konkreten Sinne waren dann
freilich der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl und
der französische Präsident François Mitterrand am
22. Mai 1992 beim Gipfel in La Rochelle, als beide offi-
ziell die Aufstellung des Eurokorps beschlossen. Bereits
am 1. Juli, nur wenige Wochen später, richtete sich ein
Aufstellungsstab in Straßburg ein, dessen Ziel die Auf-
stellung des Eurokorps war. Diese Initiative weckte
schnell das Interesse weiterer europäischer Partnerlän-
der. Bereits ein Jahr später traten Belgien, 1994 Spanien
und 1996 Luxemburg dem Eurokorps bei.
Als Aufgaben benennt der Art. 3 des Vertrags neben
Einsätzen im Rahmen der Vereinten Nationen, der West-
europäischen Union, der NATO und im Rahmen der
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Euro-
päischen Union auch Einsätze, die von den fünf Ver-
tragspartnern beschlossen werden können. Dabei geht es
auch um „Aufgaben im Rahmen der Teilnahme an der
gemeinsamen Verteidigung, humanitäre Aufgaben und
Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie
Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich
friedensschaffender Maßnahmen.“
Der erste reale Einsatz des Eurokorps begann 1998:
Rund 470 Angehörige des Eurokorps-Hauptquartiers
verließen in vier aufeinanderfolgenden Kontingenten
Straßburg in Richtung Bosnien-Herzegowina, als Ver-
stärkung für das Hauptquartier der SFOR. Die Euro-
korpssoldaten machten über ein Drittel der Kräfte des
Hauptquartiers aus.
Am 28. Januar 2000, weniger als zwei Jahre später,
beschloss der NATO-Rat, dass das Hauptquartier des
Eurokorps den Kern des Hauptquartiers der KFOR-
Truppen im Kosovo stellen solle. Von März bis Oktober
2000 bildeten die rund 350 Soldaten des Eurokorps den
Kern der Hauptquartiere in Priština und Skopje. Vor eine
besondere Herausforderung wurde das Eurokorps Mitte
des Jahres 2004 gestellt, als die Soldatinnen und Solda-
ten die Führung der ISAF in Afghanistan übernahmen.
In ihre Einsatzzeit fiel die Abhaltung der reibungslosen
Wahlen im Oktober und die Einrichtung zusätzlicher
Provincial Reconstruction Teams sowie die Ausweitung
des Verantwortungsbereichs über Kabul hinaus.
Im Jahr 2002 evaluierte die NATO die allgemeinen
und die operativen Fähigkeiten des Straßburger Haupt-
quartiers in mehreren Schritten. Die Übung „Common
Effort“ war ein wichtiger Teil dieses Prozesses, bei des-
sen Abschluss das Hauptquartier die Zertifizierung als
Krisenreaktionskorps erhielt. Das Korps war mehrfach
turnusgemäß mit Aufgaben der NATO Response Force
betraut.
Kommandierender General, stellvertretender Kom-
mandierender General, Chef des Stabes und stellvertre-
tender Chef des Stabes wechseln rotierend zwischen den
Mitgliedstaaten. Seine Weisungen erhält der Komman-
dierende General des Eurokorps vom Gemeinsamen Ko-
mitee, dem die Generalstabschefs und die politischen
Direktoren der Außenministerien jeder Vertragspartei
angehören. Dieses Gemeinsame Komitee ist das wich-
tigste Koordinierungsinstrument zwischen politischem
und militärischem Bereich.
Der Vertrag regelt in 46 Artikeln sehr präzise und de-
tailliert eine Fülle von Fragen bis hin zu Schadens-,
Steuer-, Zoll-, Haushalts- und Finanzbestimmungen. Da-
mit erklärt sich möglicherweise die lange Verhandlungs-
dauer bis zum Vertragsschluss. Schwerer zu verstehen ist
allerdings, dass es von der Vertragsunterzeichnung am
22. November 2004 bis zur Ratifizierung heute noch ein-
mal dreieinhalb Jahre dauerte.
Wir haben im Eurokorps seit 15 Jahren ein Stück ge-
lebte europäische Solidarität und Kooperation. Dafür
sollten wir dankbar sein. Das Eurokorps hat seine Auf-
gaben bisher hervorragend erfüllt. Bedauerlicherweise
ist dieses wichtige Instrument der europäischen Integra-
tion im Bewusstsein der Öffentlichkeit noch zu wenig
verankert. Dies zu ändern, haben wir Parlamentarier mit-
tels Besuchen selbst in der Hand.
Den Soldatinnen und Soldaten des Eurokorps spreche
ich unseren Dank und unsere Anerkennung aus und
wünsche ihnen allzeit Soldatenglück!
Die CDU/CSU-Fraktion stimmt dem Gesetz zu.
Gerd Höfer (SPD): Heute ratifiziert der Deutsche
Bundestag endlich den sogenannten Straßburger Vertrag
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16281
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zur Rechtsstellung des Eurokorps mit Sitz seines Stabes
in Straßburg – endlich deshalb, weil die Aufstellung die-
ses Korps schon am 22. Mai 1992 vom Deutsch-Franzö-
sischen Verteidigungs- und Sicherheitsrat in die Wege
geleitet wurde – Bericht von La Rochelle – und die bel-
gische Regierung am 25. Juni 1993, die spanische am
1. Juli 1994 und die luxemburgische am 7. Mai 1996
beigetreten sind. Erst am 22. November 2004 kam es zur
Formulierung eines Vertrages über die Rechtsstellung
der Soldatinnen und Soldaten des Eurokorps und dessen
Institutionen. Dieser Vertrag soll nun heute mit der Vor-
lage eines Gesetzentwurfes der Bundesregierung völker-
rechtlich ratifiziert werden. Das ist löblich und dem ist
zuzustimmen, worum ich im Namen der SPD-Fraktion
bitte; der Bundesrat hat am 15. Februar 2008 bereits be-
schlossen, gegen den Gesetzentwurf keine Einwendun-
gen zu erheben, hat also zugestimmt. Warum dauert das
eigentlich so lange und ist unendlich kompliziert? Allein
die interministerielle Abstimmung in Deutschland, aber
auch bei den Vertragspartnern hat gedauert. Jede betei-
ligte Nation hatte und hat das Bestreben, so viel wie
möglich an nationalen Rechten für ihre „Staatsbürger in
Uniform“ zu bewahren und keine eigenstaatliche Souve-
ränitätsrechte und -ansprüche preiszugeben. Es ist ein
heikler Balanceakt, Regelungen zu finden, die sich mit
Rechten und Pflichten der multinationalen Truppe ausei-
nandersetzen und statusrechtliche Verfahren regeln.
Ob es um die Befehls- und Kommandogewalt des
Kommandierenden Generals geht, wie Dienstpflichtver-
letzungen disziplinarisch und von wem geahndet wer-
den, welche Steuer- und Zollbestimmungen angewendet
werden können, welchen Rechtsstatus die Angehörigen
des Korps und seiner Untergliederungen haben, all dies
ist Paragraf für Paragraf geregelt. Wenn dann alle betei-
ligten Nationen diesen Straßburger Vertrag ratifiziert ha-
ben, soll er eine Dauer von zehn Jahren haben. Man
könnte sich beinahe wünschen, dass ein Vertragspartner
sich noch etwas Zeit nimmt, dann ist die Laufzeit länger.
Schließlich soll das Korps im Auftrag der Vereinten
Nationen, der Westeuropäischen Union, WEU, der
NATO, der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik
der EU, aber auch durch einen gemeinsamen Beschluss
der Vertragsparteien eingesetzt werden und dabei Aufga-
ben der gemeinsamen Verteidigung, humanitäre und
Rettungseinsätze und friedenserhaltende Aktivitäten ent-
falten, aber auch Kampfeinsätze bei Krisenbewältigung
oder friedensschaffende Maßnahmen bewältigen; siehe
Art. 3 des Vertrages.
Fakt zurzeit ist, dass das Eurokorps nachgewiesen
hat, zu allen diesen Aufträgen fähig zu sein; es ist auch
zertifiziert, aber bisher nie geschlossen eingesetzt wor-
den. Seine nationalen Teile waren mit unterschiedlicher
Dauer und Häufigkeit in den Einsatzgebieten dieser
Welt, nie gemeinsam. Ausgenommen davon ist der Stab,
der bisher einmal das Einsatzhauptquartier gestellt und
eine Mission geführt hat. Das widerspricht eigentlich
dem Gründungszweck, zeigt, wie kompliziert gemeinsa-
mes Handeln im Rahmen internationaler Engagements
ist. Für die Soldatinnen und Soldaten allerdings ist es
Frust. Wozu übt man jahrelang gemeinsames Handeln
im Rahmen von Truppenübungsplatzaufenthalten, be-
kommt höchste militärische Anerkennung und die Bestä-
tigung, einsatzbereit und -fähig zu sein, wenn man dann
aber nicht darf?
Hier zeigt sich der gute Wille, im europäischen Geist
gemeinsam zu agieren, ohne allerdings verbindliche
Normen europäisch zu entwickeln, die in allen Mitglied-
staaten Geltung haben. Der Straßburger Vertrag zeigt,
wie steinig und beschwerlich der Weg zu einer vertiefen-
den Integration in Europa ist, und das nicht nur auf dem
Sektor der GASP und der ESVP.
Dennoch ist dies kein Grund, heute nicht zuzustim-
men. Deshalb bitte ich das Haus, dem Vertrag mit großer
Mehrheit beizutreten und mitzuarbeiten, beharrlich die
europäische Integration zu fordern und zu fördern.
Dr. Rainer Stinner (FDP): Im Jahr 1987 beschlos-
sen Bundeskanzler Kohl und Staatspräsident Mitterrand
eine Intensivierung der deutsch-französischen Koopera-
tion im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungs-
politik. Dem folgte die Aufstellung der deutsch-französi-
schen Brigade und die Gründung des Eurokorps im Jahr
1992. Heute beteiligen sich Deutschland, Frankreich,
Belgien, Spanien und Luxemburg am Eurokorps.
Dies ist ein großer Erfolg der Aussöhnung in Europa
nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Gegner in zwei
Weltkriegen arbeiten nun eng und vertrauensvoll zusam-
men. Auch der Stationierungsort des Eurokorps,
Straßburg, ist bewusst gewählt. Die Region Elsass-Loth-
ringen verdeutlicht die wechselvolle und viel zu oft krie-
gerische Vergangenheit von Deutschland und Frank-
reich. Das Eurokorps ist eine beeindruckende Leistung
auf dem Weg der Versöhnung in Europa. Zudem ist es
ein ermutigendes Zeichen für die wachsende Zusam-
menarbeit im Bereich der Europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik.
Durch diese strukturierte Zusammenarbeit mit euro-
päischen Partnern wird das gegenseitige Verständnis für
die jeweiligen militärischen Führungskulturen, Konzep-
tionen, Einsatzgrundsätze und die Materialplanung ge-
fördert. Dies ist ein erster Schritt zur Harmonisierung
der jeweiligen Grundlagen und zur Erarbeitung von eu-
ropäischen Standards. Das vorliegende Vertragswerk ist
umfassend und von hohem Detaillierungsgrad. Dies er-
scheint jedoch notwendig, um die unterschiedlichen
militärischen Kulturen und Verwaltungsbestimmungen
– soweit möglich – zusammenzuführen. Es ist besser,
dies jetzt umfassend zu regeln, anstatt im Nachhinein zu
streiten.
Wir brauchen jedoch eine realistische Einschätzung
der Möglichkeiten und Grenzen einer verstärkten Euro-
päisierung von Streitkräften – oder gar einer europäi-
schen Armee. Um schon vor der Aufstellung supranatio-
naler Streitkräfte Fortschritte erzielen zu können, wird in
den letzten Jahren verstärkt über ein Pooling von natio-
nalen Fähigkeiten und Finanzmitteln und über eine Spe-
zialisierung der Streitkräfte im Sinne einer Arbeitstei-
lung nachgedacht. Durch ein solches Pooling von
16282 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008
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Fähigkeiten sollen bestehende Doppelstrukturen obsolet
werden. Somit sollen die für Verteidigungszwecke aus-
gegebenen Steuergelder weitaus effizienter eingesetzt
werden.
Ein Beispiel für das Pooling von Fähigkeiten ist das
geplante europäische Lufttransportkommando. Beim
Pooling von Finanzmitteln für die Forschung und Be-
schaffung von Wehrmaterial ist mit der 2004 gegründe-
ten Europäischen Verteidigungsagentur, EDA, ein
– wenn auch bescheidener – erster Schritt gemacht. Es
bestehen hier aus politischen und militärischen Gründen
auch mittelfristig enge Grenzen. In einem weitergehen-
den Schritt wird eine Spezialisierung nationaler Streit-
kräfte vorgeschlagen. Durch eine solche Arbeitsteilung
sollen die hohen Entwicklungs-, Beschaffungs- und Be-
triebskosten minimiert werden und die Typenvielfalt der
Waffensysteme stark reduziert werden.
Aus rein ökonomischer Perspektive wäre eine europäi-
sche Armee die Ideallösung. In einer solchen europäi-
schen Armee könnte aufgrund der zu erwartenden Ska-
leneffekte ein weitaus effizienterer Mitteleinsatz
möglich sein. Eine solche – stark ökonomisch geprägte –
Betrachtungsweise stößt jedoch sehr schnell an politi-
sche und militärische Grenzen. Ein Pooling, also ein
Verzicht von Fähigkeiten oder auch Teilfähigkeiten auf
nationaler Ebene, führt unweigerlich zu einem Souverä-
nitätsverlust. Auch nach der Verabschiedung der europäi-
schen Sicherheitsstrategie bestehen in Europa jedoch er-
hebliche Differenzen bezüglich des Zwecks, der Ziele
und der Mittel der Sicherheitspolitik.
Hinzu kommt, dass die meisten Mitgliedstaaten über
den europäischen Rahmen hinausgehende, historisch be-
dingte, nationale Interessen verfolgen. Insbesondere
Staaten mit einer ausgeprägt kolonialen Vergangenheit
haben nationale Interessen, die nicht immer mit den eu-
ropäischen Interessen kongruent sind. Diese Interessen
können jedoch nur dann gewahrt werden, wenn diese
Staaten Streitkräfte zur Verfügung haben, die weitge-
hend autonom, also ohne Beiträge europäischer Partner,
als geschlossenes Gesamtsystem handlungsfähig sind.
Deutschland strebt eine solche Autonomie nur bei der
Rettung und Evakuierung von Staatsbürgern an. In allen
anderen Fällen wird von einem multinationalen Kräf-
teansatz ausgegangen. Da die meisten Partner diese
Grundannahme nicht teilen, kommt es nur sehr zögerlich
zum Pooling von Fähigkeiten oder gar der Spezialisie-
rung von Streitkräften. Nur wenn sich Verbündete auf
die Verlässlichkeit aller Kooperationsteilnehmer unein-
geschränkt verlassen könnten, wäre ein solcher Souverä-
nitätstransfer möglich. Bis dahin ist es jedoch noch ein
weiter Weg. Eine europäische Armee ist daher – wenn
überhaupt – nur langfristig, also in mehr als 30 Jahren,
realisierbar.
Aber auch wenn diese politischen Probleme der euro-
päischen Integration überwunden wären, ist eine Euro-
päisierung auf unteren Ebenen aus militärischen Grün-
den nicht sinnvoll. Die Erfahrungen der deutsch-
französischen Brigade zeigen, dass eine Internationali-
sierung unterhalb der Brigadeebene bereits aus Sprach-
gründen, aber auch aufgrund unterschiedlicher Füh-
rungsphilosophien unzweckmäßig ist. Der Inspekteur
des Heeres, Generalleutnant Budde, hat dies sehr tref-
fend beschrieben: „Ein Kampftruppenbataillon ist kein
Sprachlabor.“ Daher gilt es auch zukünftig, mit Reali-
tätssinn und Augenmaß die Integration der Streitkräfte
voranzutreiben. Im Mittelpunkt dürfen nicht idealpoliti-
sche Wunschvorstellungen, sondern die Einsatzbereit-
schaft unserer Streitkräfte stehen.
Inge Höger (DIE LINKE): Fünf europäische Staaten,
Frankreich, Deutschland, Spanien, Belgien und Luxem-
burg kooperieren im Rahmen des 1996 aufgestellten
Eurokorps miteinander. Es ist ein Fortschritt, dass Län-
der wie Deutschland und Frankreich heute eng zusam-
menarbeiten und die erbitterte Feindschaft und die
Kriege zwischen ihnen der Vergangenheit angehören.
Aber es ist ein Fehler, die militärische Kooperation von
ehemaligen Feinden mit Friedenspolitik zu verwechseln.
Der hier zur Abstimmung stehende Vertrag ermög-
licht es, das bisherige militärische Agieren des Euro-
korps rechtlich abzusichern. Durch die von der Bundes-
regierung gewünschte Ratifizierung des Straßburger
Vertrags wird das Eurokorps „die notwendige finanzielle
Autonomie haben, um in einem multinationalen Rahmen
schnell Maßnahmen ergreifen zu können.“ Der Vertrag
schafft darüber hinaus neue Einsatzoptionen. Insgesamt
ist das Eurokorps fest in die Militärpolitik der NATO
und der Europäischen Union integriert. Um es klar zu sa-
gen: Das Eurokorps ist fähig und in der Lage, überall auf
dieser Welt Kriege und Angriffe durchzuführen. Es ist
eindeutig kein Friedensprojekt. Der Stab des Eurokorps
bildete bereits den Kern des KFOR-Hauptquartiers im
Kosovo und hatte das ISAF-Kommando in Afghanistan
inne. Soldaten des Eurokorps sind an den Kampftruppen
der NATO, der sogenannten Nato Response Force,
ebenso beteiligt wie an den Schlachttruppen der Euro-
päischen Union. Der offensive Charakter des Eurokorps
zeigt sich in seiner gesamten Struktur. So soll sich die
deutsch-französische Brigade, ein zentraler Teil des
Eurokorps, „zum Kernelement der schnellen Eingreiffä-
higkeit der Europäischen Union, zu ihrer am ehesten
verfügbaren und universell einsetzbaren ,Speerspitze‘
weiterentwickeln.“
Der Straßburger Vertrag ermöglicht im Art. 3 Ein-
sätze des Eurokorps im Rahmen der Vereinten Nationen,
der NATO, der WEU und der EU. Dies entspricht der
bisherigen deutschen Rechtslage, die Einsätze im Rah-
men eines kollektiven Sicherheitssystems ermöglicht,
zumindest wenn der Begriff „Verteidigung“ so über-
dehnt wird, wie es zurzeit bei der Bundesregierung und
ihren Verbündeten üblich ist.
Neu ist jedoch, dass der Vertrag auch den Einsatz des
Eurokorps auf Grundlage eines Beschlusses der Ver-
tragsparteien vorsieht – auch ohne einen Beschluss von
NATO oder EU. Ein solcher Einsatz im Rahmen einer
Koalition der Willigen widerspricht der deutschen
Rechtslage. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundesta-
ges teilte auf Anfrage mit: „Ein gemeinsamer Beschluss
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008 16283
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der Vertragsparteien … bietet verfassungsrechtlich keine
ausreichende Grundlage für einen Auslandseinsatz der
Bundeswehr.“
Es geht bei der Formulierung im Straßburger Vertrag
also darum, Vorsorge zu treffen für eine zukünftige Auf-
weichung der grundgesetzlichen Regelungen für den
Bundeswehreinsatz. Der Wissenschaftliche Dienst
spricht von „einer Öffnungsklausel für zukünftige Kon-
stellationen“. Um welche Konstellationen es sich dabei
handeln könnte, bleibt offen.
In der Denkschrift zum Straßburger Vertrag ist zwar
davon die Rede, dass das Eurokorps nur „gemäß den
verfassungsrechtlichen Voraussetzungen der fünf Ver-
tragsstaaten“ eingesetzt werden darf. Die Denkschrift ist
jedoch rechtlich nicht verbindlich – im Gegensatz zum
Straßburger Vertrag.
Es ist für die Fraktion Die Linke nicht akzeptabel,
dass hier ein Vertrag unterzeichnet werden soll, der Ein-
sätze ermöglicht, die im Widerspruch zum Grundgesetz
stehen. Wir lehnen den Vertrag deswegen entschieden
ab.
Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
63 Jahre, das ist keine lange Zeit, wenn man zurück-
blickt in die Geschichte. Vor 63 Jahren endete der
Zweite Weltkrieg. Damals endete eines der dunkelsten
Kapitel der deutschen Geschichte, und es endete eine der
leidvollsten Phasen für die Menschen in Europa. Seit-
dem hat Europa viel gelernt und sich enorm verändert.
Schlüssel dafür war und ist die Erkenntnis, dass Europa
zusammenwachsen muss. Dies gilt auch für den Bereich
der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik.
Vor den Erfahrungen der Geschichte war dieser Pro-
zess nicht immer einfach. Der Versuch der Benelux-
Staaten und Frankreichs, wenige Jahre nach dem Ende
des Zweiten Weltkrieges mit Italien und Deutschland
eine integrierte europäische Armee aufzubauen, war
denn auch zum Scheitern verurteilt. Die französische
Nationalversammlung lehnte 1954 die Ratifizierung des
Vertrags über eine Europäische Verteidigungsgemein-
schaft ab. Es sollte viele Jahre und Jahrzehnte dauern,
bis eine deutsch-französische Brigade, ein Eurokorps
oder eine Europäische Sicherheits- und Verteidigungspo-
litik möglich werden sollten. Ich erinnere daran, welche
Diskussionen die Einrichtung des ersten Deutsch-Nie-
derländischen Korps Anfang der 90er-Jahre gerade in
den Niederlanden auslöste. Die Entscheidung, dass
große Teile des niederländischen Heeres künftig zeit-
weise unter dem Kommando deutscher Offiziere stehen
sollten, weckte angesichts der Geschichte anfangs erheb-
liche Emotionen. Doch das Korps besteht seit nunmehr
13 Jahren, und es ist damit letztlich auch ein gutes Bei-
spiel für das Zusammenwachsen Europas.
Heute beraten wir hier das Ratifizierungsgesetz zum
Straßburger Vertrag. 1993 aufgestellt, ist dieser multina-
tionale militärische Verband, dem inzwischen Soldaten
aus Deutschland, Frankreich, Belgien, Spanien und Lu-
xemburg angehören, seit 1996 einsatzbereit. Es hat ein
wenig gedauert, bis wir nun den Straßburger Vertrag, der
rechtliche Grundlagen für diesen Verband schaffen wird,
ratifizieren können. In den Ausschussberatungen wurde
vonseiten der Linksfraktion darauf hingewiesen, dass
dieser Vertrag verfassungswidrig sei. Die Linke sieht den
Parlamentsvorbehalt gefährdet. Ich halte diese Befürch-
tung substanziell für unbegründet. Ein Blick in den Ver-
tragstext hätte genügt, um dies einzusehen: In der Denk-
schrift zum Art. 3, in dem „ein gemeinsamer Beschluss
der Vertragsparteien“ als Tatbestandsvoraussetzung an-
geführt wird, ist völlig unmissverständlich klargestellt,
dass „die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen der
fünf Vertragsstaaten“ bindend sind. Das heißt; der Ver-
fassungs- und der Parlamentsvorbehalt des Grundgeset-
zes sind somit nicht nur nicht in Gefahr, sondern im
Straßburger Vertrag explizit geschützt.
Auch finde ich es deutlich überzogen, wenn die
Linksfraktion keine Gelegenheit auslässt, um vor einer
angeblichen fortschreitenden Militarisierung der Euro-
päischen Union zu warnen. Dies ist hier völlig fehl am
Platze. Das Eurokorps ist kein stehendes Korps, sondern
ein Korps, das bei Bedarf aus Truppen der Mitgliedstaa-
ten zusammengestellt wird. Das trägt zur Vertrauensbil-
dung und Vertiefung der europäischen Integration bei.
Eine sich vertiefende EU wirkt friedensstiftend in Eu-
ropa. Die weitere Stärkung der gemeinsamen Außen-,
Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist ein wichtiges
Element dieser weiteren Vertiefung der Europäischen
Union. Sie sollten diesen friedenschaffenden Charakter
der EU besser würdigen, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen der Linksfraktion.
Selbstverständlich muss die Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik von einem Sicherheitsverständnis aus-
gehen, das mehr ist als klassische Verteidigungspolitik.
Im Mittelpunkt muss eine zivile Außenpolitik stehen, die
sich an den Zielen Frieden, Demokratie und Menschen-
rechte ausrichtet. Frieden braucht Expertise. Deshalb
werden Expertinnen und Experten gebraucht, die bei Be-
darf gut ausgebildet und gut ausgestattet für internatio-
nale Friedenseinsätze zur Verfügung stehen. Deshalb
werden wir uns weiterhin dafür einsetzen, dass sich die
Staaten der EU auch für den Aufbau eines europäischen
zivilen Friedenskorps einsetzen. Die Zeit hierfür ist reif.
Die Kooperation europäischer Sicherheitskräfte im
Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik – wie im Falle des Eurokorps – ist wichtig
und richtig. Die Europäische Sicherheits- und Verteidi-
gungspolitik muss aber gleichzeitig das Primat des Zivi-
len garantieren und umfassenden parlamentarischen
Kontrollrechten des Europaparlaments und der nationa-
len Parlamente unterliegen. Hier muss auf europäischer
Ebene noch nachgebessert werden.
Die Bemühungen um eine gemeinsame Europäische
Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind die Lehre aus
unserer deutschen Geschichte und der europäischen Ge-
schichte. Vor diesem Hintergrund verstehe ich den au-
ßen- und sicherheitspolitischen Kurs der Kolleginnen
und Kollegen von der Linksfraktion nicht. Die Ratifizie-
16284 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 154. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008
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rung des Straßburger Vertrages, die Debatte um das Eu-
rokorps, dies ist der falsche Ort für Ihre polemische
Ohne-uns-Rhetorik! Der Partei mit der höchsten Offi-
ziersdichte in Deutschland nimmt man die Wandlung
vom Saulus zum Paulus nicht ab. Machen Sie lieber kon-
struktive Vorschläge dazu, wie das zivile Element in der
Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ge-
stärkt werden kann, anstatt hier Schaufensterdebatten zu
führen.
Ich fasse zusammen: Meine Fraktion begrüßt grund-
sätzlich die Kooperation europäischer Sicherheitskräfte
im Rahmen der ESVP. Wir haben klare Anforderung be-
züglich des Primats des Zivilen und der parlamentari-
schen Kontrolle der ESVP. Hier werden wir nacharbeiten
müssen. Wir sehen jedoch keinen Anlass zu verfassungs-
rechtlichen Bedenken angesichts des vorliegenden Straß-
burger Vertrages. Daher werden wir dem Ratifizierungs-
gesetz zustimmen.
154. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 10. April 2008
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10