Protokoll:
16134

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 16

  • date_rangeSitzungsnummer: 134

  • date_rangeDatum: 14. Dezember 2007

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: None Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 16:58 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 16/134 FDP: Eine Chance für den Wettbewerb – Kein Monopolschutz für die Deutsche Post AG – zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin Andreae, Brigitte Pothmer, Christine Scheel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Post braucht Wettbewerb – Wettbe- werb braucht faire Bedingungen (Drucksachen 16/6432, 16/6631, 16/7510) . . Olaf Scholz, Bundesminister BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle (FDP) . . . . . . . . . . . . Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 31: Zweite und dritte Beratung des von den Abge- ordneten Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, Ulla Lötzer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der erwerbsmäßigen Arbeit- nehmerüberlassung (Arbeitnehmerüberlas- sungsgesetzänderungsgesetz – AÜGÄndG) (Drucksachen 16/4805, 16/7513) . . . . . . . . . . Wolfgang Grotthaus (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Werner Dreibus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 14101 B 14101 D 14104 A 14106 A 14108 B 14122 D 14123 A 14127 A 14128 C 14130 A Deutscher B Stenografisc 134. Si Berlin, Freitag, den I n h a Tagesordnungspunkt 30: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Ar- beitnehmer-Entsendegesetzes (Drucksachen 16/6735, 16/7512) . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Technologie – zu dem Antrag der Abgeordneten Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, Martin Zeil, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der 14101 B Oskar Lafontaine (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle (FDP) . . . . . . . . . . 14109 A 14110 A undestag her Bericht tzung 14. Dezember 2007 l t : Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dirk Niebel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andrea Nahles (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU) . . . . . . Klaus Barthel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14111 D 14112 D 14114 A 14115 B 14116 B 14118 A 14119 B 14120 D 14122 c 14124 D Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 14132 A 14133 A II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg Rohde (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 32: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent- wurfs eines Siebten Gesetzes zur Ände- rung des Dritten Buches Sozialgesetz- buch und anderer Gesetze (Drucksache 16/7460) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Schneider (Saarbrücken), Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Rentenab- schläge für Langzeiterwerbslose verhin- dern (Drucksachen 16/6933, 16/7200) . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 9: Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Schneider (Saarbrücken), Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Ände- rung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (Rentenabschlagsverhinderungsgesetz) (Drucksache 16/7459) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Arbeit statt Frühverrentung fördern (Drucksache 16/7003) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Brandner, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dirk Niebel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 14134 A 14136 A 14137 C 14139 B 14140 C 14142 D 14143 A 14143 A 14143 B 14143 B 14144 D 14146 A 14146 C 14147 A 14148 B Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU) . . . . . Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gregor Amann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) . . . . . Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU) . . . . Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU) . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 33: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur strukturellen Weiterentwick- lung der Pflegeversicherung (Pflege- Weiterentwicklungsgesetz) (Drucksachen 16/7439, 16/7486) . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Nicole Maisch, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Finanzielle Nachhaltigkeit und Stär- kung der Verbraucher – Für eine kon- sequent nutzerorientierte Pflegeversi- cherung (Drucksache 16/7136) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für eine humane und solidari- sche Pflegeabsicherung (Drucksache 16/7472) . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 11: Antrag der Abgeordneten Heinz Lanfermann, Daniel Bahr (Münster), Dr. Konrad Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Für eine zukunftsfest und generatio- nengerecht finanzierte, die Selbstbestim- mung stärkende, transparente und unbü- rokratische Pflege (Drucksache 16/7491) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Schmidt, Bundesministerin BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14149 A 14150 B 14152 A 14153 A 14154 A 14155 B 14156 B 14157 B 14157 C 14157 D 14160 A 14158 A 14158 A 14158 B 14158 B 14158 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 III Heinz Lanfermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Zöller (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Willi Zylajew (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 34: Antrag der Abgeordneten Birgitt Bender, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Harald Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Präventions- gesetz auf den Weg bringen – Primärprä- vention umfassend stärken (Drucksache 16/7284) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, Diana Golze, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion DIE LINKE: Gesund- heitsförderung und Prävention als gesamt- gesellschaftliche Aufgaben stärken – Gesellschaftliche Teilhabe für alle ermögli- chen (Drucksache 16/7471) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermann-Josef Scharf (CDU/CSU) . . . . . . . . Detlef Parr (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Friedrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 35: a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Menschenrechte in der ASEAN- Staatengemeinschaft stärken (Drucksache 16/7490) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Die Menschenrechte der Uiguren schützen (Drucksache 16/7411) . . . . . . . . . . . . . . . . Christel Riemann-Hanewinckel (SPD) . . . . . Florian Toncar (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 14162 A 14163 D 14165 B 14166 C 14167 D 14169 B 14170 B 14170 C 14170 C 14171 D 14173 A 14174 B 14176 B 14177 A 14177 A 14177 B 14178 C 14180 A Michael Leutert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Toncar (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Holger Haibach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 36: Antrag der Abgeordneten Jan Mücke, Jens Ackermann, Joachim Günther (Plauen), wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Gewährleistung der einheitlichen Betreu- ung von Arbeitslosen nach einer Kreisge- bietsreform (Drucksache 16/6642) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 37: Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch, Karin Binder, Dr. Lothar Bisky, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE: An- gleichung des aktuellen Rentenwerts (Ost) an den aktuellen Rentenwert (Drucksache 16/6734) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 38: Große Anfrage der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Irmingard Schewe-Gerigk, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Europäisches Jahr der Chan- cengleichheit für alle (Drucksachen 16/4933, 16/6314) . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Eva Möllring (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Jörg Rohde (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Jörg Rohde (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14181 A 14182 A 14183 C 14184 D 14185 C 14187 B 14187 C 14187 C 14188 D 14189 B 14190 C 14192 C 14192 D 14193 A 14194 A 14195 D 14197 A 14197 B 14197 D 14198 D IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer- Entsendegesetzes (Tagesordnungspunkt 30) Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann, Roland Claus, Jan Korte, Dr. Barbara Höll und Dr. Petra Sitte (alle DIE LINKE) zur namentlichen Abstim- mung über den Entwurf eines Zweiten Geset- zes zur Änderung des Arbeitnehmer-Entsen- degesetzes (Tagesordnungspunkt 30) . . . . . . . 14199 A 14203 B Veronika Bellmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Brähmig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Cornelia Hirsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Katherina Reiche (Potsdam) und Sibylle Pfeiffer (beide CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer- Entsendegesetzes (Tagesordnungspunkt 30) Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Uda Carmen Freia Heller und Kurt Segner (beide CDU/CSU) zur namentlichen Abstim- mung über den Entwurf eines Zweiten Geset- zes zur Änderung des Arbeitnehmer-Entsen- degesetzes (Tagesordnungspunkt 30) . . . . . . . Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Michael Fuchs, Gitta Connemann, Jens Koeppen, Friedrich Merz, Dr. h. c. Hans Michelbach, Andrea Astrid Voßhoff und Klaus-Peter Willsch (alle CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (Tagesord- nungspunkt 30) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14199 D 14200 A 14200 A 14200 B 14200 C 14201 D 14202 A Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Gewährleistung der einheitli- chen Betreuung von Arbeitslosen nach einer Kreisgebietsreform (Tagesordnungspunkt 36) Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . . Jan Mücke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: Angleichung des aktuellen Renten- werts (Ost) an den aktuellen Rentenwert (Ta- gesordnungpunkt 37) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Großen Anfrage: Europäisches Jahr der Chancengleichheit für alle (Tagesordnungs- punkt 38) Renate Gradistanac (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Anlage 10 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14203 D 14204 C 14205 A 14205 D 14206 C 14207 A 14207 D 14209 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14101 (A) (C) (B) (D) 134. Si Berlin, Freitag, den Beginn: 9
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    Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14199 (A) (C) (B) (D) Ziel muss sein, gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Postdienstleister herzustellen.Ortel, Holger SPD 14.12.2007 nur unter der Bedingung zu, dass die bestehenden Privi- legien, wie die Mehrwertsteuerprivilegierung und die Sonderstellung im Hinblick auf die Unfallversicherung, für die Post umgehend aufgehoben werden. Sabine Müller (Gera), Bernward CDU/CSU 14.12.2007 Müntefering, Franz SPD 14.12.2007 Anlage 1 Liste der entschuldi Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Bartels, Hans-Peter SPD 14.12.2007 Bismarck, Carl-Eduard von CDU/CSU 14.12.2007 Brüderle, Rainer FDP 14.12.2007 Bülow, Marco SPD 14.12.2007 Bulling-Schröter, Eva DIE LINKE 14.12.2007 Fischbach, Ingrid CDU/CSU 14.12.2007 Gabriel, Sigmar SPD 14.12.2007 Glos, Michael CDU/CSU 14.12.2007 Göppel, Josef CDU/CSU 14.12.2007 Goldmann, Hans- Michael FDP 14.12.2007 Granold, Ute CDU/CSU 14.12.2007 Großmann, Achim SPD 14.12.2007 Herlitzius, Bettina BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.12.2007 Hintze, Peter CDU/CSU 14.12.2007 Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.12.2007 Höhn, Bärbel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.12.2007 Irber, Brunhilde SPD 14.12.2007 Jung (Konstanz), Andreas CDU/CSU 14.12.2007 Kauch, Michael FDP 14.12.2007 Kramer, Rolf SPD 14.12.2007** Kretschmer, Michael CDU/CSU 14.12.2007 Laurischk, Sibylle FDP 14.12.2007 Leutheusser- Schnarrenberger, FDP 14.12.2007* Anlagen zum Stenografischen Bericht gten Abgeordneten * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung der OSZE Anlage 2 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über den Ent- wurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (Tagesordnungs- punkt 30) Veronika Bellmann (CDU/CSU): Ich stimme der Gesetzesänderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes Otto (Frankfurt), Hans- Joachim FDP 14.12.2007 Dr. Pfeiffer, Joachim CDU/CSU 14.12.2007 Rauen, Peter CDU/CSU 14.12.2007 Rehberg, Eckardt CDU/CSU 14.12.2007 Schaaf, Anton SPD 14.12.2007 Dr. Schick, Gerhard BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.12.2007 Schwabe, Frank SPD 14.12.2007 Seehofer, Horst CDU/CSU 14.12.2007 Ströbele, Hans-Christian BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.12.2007 Strothmann, Lena CDU/CSU 14.12.2007 Veit, Rüdiger SPD 14.12.2007 Wieczorek-Zeul, Heidemarie SPD 14.12.2007 Wolf (Frankfurt), Margareta BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.12.2007 Zimmermann, Sabine DIE LINKE 14.12.2007 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich 14200 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 (A) (C) (B) (D) Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU): Obwohl ich das Gesetz für ordnungspolitisch falsch halte, stimme ich dem Gesetz zu. Einer Ausdehnung auf andere Bereiche würde ich meine Zustimmung versagen. Der Postbereich stellt aufgrund des Postgesetzes einen Sonderfall dar. Klaus Brähmig (CDU/CSU): Der Abstimmung zum Zweiten Gesetz zur Änderung des Arbeitsnehmer-Ent- sendegesetzes werde ich heute zustimmen. Die Zustim- mung ist allein der Fraktionsraison geschuldet. Als Mit- telstandspolitiker sehe ich hier einen Eingriff in die langjährig erprobte Tarifautonomie. Der vereinbarte Mindestlohn fundamentiert das Postmonopol und ver- hindert Wettbewerb. Er stellt einen grundsätzlichen Ta- bubruch dar, und die ersten Stimmen fordern bereits eine Ausweitung auf weitere Branchen. Wir handeln damit gegen den wissenschaftlichen und wahrscheinlich auch rechtlichen Sachverstand. Mehrere wirtschaftswissenschaftliche Studien warnen vor der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, denn er würde voraussichtlich mehrere Hunderttausend Arbeits- plätze im Niedriglohnbereich kosten. Das geht aus einer Studie hervor, die das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) und das Ifo-Institut Dresden im Auftrag der WELT erstellt haben. Darin heißt es wortwörtlich: „Das Instrument des Mindestlohns birgt die Gefahr, dass die Einkommenserhöhung für einige Arbeitnehmer mit Ar- beitsplatzverlusten anderer Geringverdiener teuer er- kauft wird.“ Bei einem Mindestlohn von 6,50 Euro ge- hen demnach rund 465 000 Jobs verloren, bei 7,50 Euro sogar 621 000. Dabei wäre Ostdeutschland sehr viel stär- ker betroffen. Bei 6,50 Euro sind im Osten 4,4 Prozent (West: 2,3 Prozent) aller Beschäftigungsverhältnisse be- droht. Bei 7,50 Euro wären es sogar 6,4 Prozent (West: 3,0 Prozent) aller Stellen. Bei einer zusätzlichen Ausweitung habe ich erhebli- che Bedenken. Cornelia Hirsch (DIE LINKE): Ich befürworte einen flächendeckenden, gesetzlich garantierten Mindestlohn. Leider sind wir davon gegenwärtig noch meilenweit ent- fernt. Ebenso befürworte ich, branchenbezogene Min- destlöhne im Entsendegesetz zu verankern, sofern sie über dem allgemeinen, gesetzlich definierten Niveau lie- gen. Der von der Bundesregierung eingebrachte Gesetz- entwurf lässt jedoch zu viele Hintertüren offen. Lohn- dumping lässt sich in dieser Branche so nicht flächen- deckend verhindern. Die Reaktionen der PIN AG auf den Gesetzentwurf haben diese Befürchtung bereits be- eindruckend bestätigt. Die nachträgliche Änderung des vorliegenden Tarifvertrages ist auf politischen Druck er- folgt und stellt einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die Tarifautonomie dar. Es ist nicht akzeptabel, dass andere Beschäftigte im Postdienstleistungsbereich von der nun vorliegenden Re- gelung ausgenommen sein werden. Lohndumping findet nicht nur bei den Briefzustellerinnen und Briefzustellern statt, sondern ist bedauerlicherweise längst ein übergrei- fendes Problem geworden. Ein gesetzlicher Mindestlohn muss schließlich Schluss machen mit den Lohnunter- schieden zwischen Ost und West. Die Briefzustellerinnen und Briefzusteller in das Ent- sendegesetz aufzunehmen, ist ein erster, wenn auch dürf- tiger Schritt. Dem unter dem Druck insbesondere der Union zustande gekommenen Vorschlag, der neue Schlupflöcher für Lohndumping öffnet, statt sie wirksam zu schließen, kann ich jedoch nicht zustimmen. Ich werde mich daher der Stimme enthalten. Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Katherina Reiche (Potsdam) und Sibylle Pfeiffer (beide CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (Tagesordnungs- punkt 30) Ich stimme dem Gesetzentwurf zu und äußere fol- gende Bedenken am Zustandekommen und der Zielstel- lung des dem Gesetz zugrunde liegenden Tarifvertrages. Erstens: Verlust von Arbeitsplätzen. Ein Mindestlohn muss so gestaltet sein, dass er nicht Arbeitsplätze ver- nichtet und Wettbewerber wirtschaftlich ruiniert. Das ist derzeit jedoch nicht der Fall. Der Tarifvertrag Mindest- lohn von Verdi und dem Arbeitgeberverband Postdienste setzt eine Lohnhöhe fest, die einzig das Ziel hat, Wett- bewerb zu verhindern. Wir benötigen in Deutschland jedoch einen Wettbewerb im Briefdienst, der auch zu Einsparungen bei Unternehmen und öffentlichen Institu- tionen führt. Zweitens: Die verfassungsrechtlichen Bedenken. Der TV Mindestlohn könnte ein Scheintarifvertrag sein, der mit 9,80 Euro/9,00 Euro kein tarifautonom ausgehandel- tes Lohnniveau festlegen soll, sondern beabsichtigt, Wettbewerber der Deutschen Post AG durch Festschrei- bung eines möglichst hoch festgelegten Lohnes ohne Rücksicht auf die dadurch entstehenden Arbeitsplatzver- luste zu schädigen. Der Sachverständigenrat zur Begut- achtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat dazu in seinem Gutachten vom 7. November 2007 in aller Deutlichkeit ausgeführt (Seite 367 zu Ziffer 561): Besonders eklatant sticht die Absicht ins Auge, mit einem Mindestlohn die Deutsche Post AG und ihre Töchter und Ausgründungen von lästigem Konkur- renzdruck zu befreien. Sichtbarer Ausdruck für die- ses Motiv ist das Bedauern des Arbeitgebers (!) Deutsche Post AG über einen aus ihrer Sicht zu niedrigen Tarifvertrag, weil der dort vereinbarte Mindestlohn noch unterhalb des betreffenden Haus- tarifs der Deutschen Post AG liege. Klagen über zu niedrige Tariflohnabschlüsse kamen bisher in der Regel von Seiten der Arbeitnehmer. Letztlich soll damit das Anfang 2008 entfallende Briefmonopol der Deutschen Post AG durch die Hintertür wieder Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14201 (A) (C) (B) (D) eingeführt werden, wozu die nur für dieses Unter- nehmen, nicht aber für ihre Konkurrenten geltende Befreiung von der Umsatzsteuer ebenfalls beiträgt, die als Ausgleich für die flächendeckende Bedie- nung auch schwerer erreichbarer Kunden dienen soll. Wettbewerber der Deutschen Post AG werden massiv bedrängt und verdrängt und neue Konkur- renten abgewehrt. Die Arbeitsplätze bei der Deut- schen Post AG werden geschützt, die bei ihren Konkurrenten gefährdet und das Entstehen neuer erschwert. Im Gegenzug entrichten die Nutzer von Briefdienstleistungen einen erhöhten Preis. Worin vor diesem Hintergrund das gesetzlich vorgeschrie- bene ,,öffentliche Interesse“ einer Allgemeinver- bindlicherklärung der unteren Lohngruppe der Briefdienstleister bestehen soll, hat die Bundes- regierung bisher nicht schlüssig dargelegt, sie kann es auch nicht, weil sie sich in erster Linie vor den Karren von Partikularinteressen spannen lässt. Die Tarifautonomie ist von Art. 9 Abs. 3 GG deshalb geschützt, weil der Prozess der Lohnfindung durch freie Verhandlungen zwischen Auftraggebern und Arbeitneh- mern in sich auch eine Gewähr für die Richtigkeit des er- zielten Verhandlungsergebnisses trägt. Das setzt notwen- dig voraus, dass die Verhandlungspartner von den Verhandlungsergebnissen auch betroffen sind und nicht nur Vereinbarungen „zulasten Dritter“ treffen. Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist auch der Gesetzgeber auf „Gesetz und Recht“ verpflichtet. Der hier vorliegende Tarifvertrag könnte einen Scheintarifvertrag darstellen. Seine Absicht ist es, Wettbewerber der Deutschen Post AG zu schädigen und darüber Wettbewerb zu verhin- dern. Ein „öffentliches Interesse“ an seiner Allgemein- verbindlichkeit kann daher nicht bestehen. Drittens: Keine Beteiligung der Wettbewerber der Deutschen Post AG und des Arbeitgeberverbandes Neue Briefdienstleister e.V. Die Koalitionsfraktionen haben als Voraussetzung zu Recht gefordert, dass ein Mindest- lohn nicht nur zwischen der Deutschen Post AG und Verdi ausgehandelt werden darf, sondern dass auch an- dere Betroffene und der Arbeitgeberverband Neue Brief- und Zustelldienste beteiligt werden müssen. Dies ist bis zum heutigen Tage nicht passiert, obwohl der Arbeitge- berverband Neue Brief- und Zustelldienste auf die zur Verfügung stehenden Gewerkschaften Verdi, Christliche Gewerkschaft Post und Beamtenbund zugegangen ist. Viertens: Die „50-Prozent-Quote“ ist unverändert nicht erreicht. Das 50-Prozent-Quorum ist auch mit der Formulierung „überwiegend“ nach wie vor nicht er- reicht. Aufseiten der Deutschen Post AG sind nur circa 4 500 Beschäftigte vom Tarifvertrag Mindestlohn über- haupt erfasst. Wie der Sachverständige Professor Thüsing in der Sachverständigenanhörung am 5. No- vember 2007 vor dem Bundestag aussagte, dürfen tarif- rechtlich aufseiten der Deutschen Post AG auch nur diese tatsächlich betroffenen 4 500 Beschäftigen berück- sichtigt werden. Es ist tarifrechtlich nicht möglich, auf- seiten der Deutschen Post AG Beschäftigte mitzuzählen, die von diesem Tarifvertrag Mindestlohn nicht betroffen sind, sondern deren Arbeitsverhältnisse vom Firmenta- rifvertrag der Deutschen Post AG geregelt ist. Das Mit- zählen aller Beschäftigen aufseiten der Deutschen Post AG ist ein tarifrechtlich unwirksamer Vorgang, der zur Anfechtbarkeit der Allgemeinverbindlichkeitserklärung führen wird. Fünftens: Mindestlohn zu hoch. Noch im vergange- nen Jahr schlug der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Post AG einen Mindestlohn in Höhe von 7,50 Euro vor. Was nun geschehen soll, ist jedoch nicht die Festlegung von Mindestlöhnen, sondern die Festlegung der Höchst- löhne, die sich an einem Monopolisten orientieren, der nicht im Wettbewerb stand und ein Bündel an Sonder- rechten genießt. Ein solcher ganz speziell auf einen Mo- nopolisten zugeschnittener Tarifvertrag kann nicht im Wege der Allgemeinverbindlichkeitserklärung auf an- dere Unternehmen übertragen werden, die eine ganz an- dere Struktur aufweisen. Ein Spezialtarifvertrag kann nicht für allgemeinverbindlich erklärt werden. Sechstens: Die Liberalisierung der Briefdienstleistun- gen ist in Gefahr. Die Koalition hält an der Liberalisie- rung der Briefdienstleistungen zum l. Januar 2008 fest. Ein Wettbewerb auf diesem Sektor und eine Senkung der Verbraucherpreise können sich nicht entwickeln, wenn zulasten der Wettbewerber der Deutschen Post AG Lohnbedingungen festgeschrieben werden, die nicht er- wirtschaftet werden können, weil diese Unternehmen in der Vergangenheit keine staatlichen Subventionen erhal- ten haben und nicht erhalten werden. Siebtens: Keine generelle Ausweitung auf andere Branchen. Die Einführung des Mindestlohnes in der Briefzustellbranche darf nicht zu einer generellen Aus- weitung auf andere Branchen führen. Nach den Berech- nungen des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung würde die Einführung eines bundesweiten Mindestlohnes in Höhe von 9,80 Euro pro Stunde zu einem Abbau von 1,9 Millionen Arbeitsplätzen in Deutschland führen. Dies hätte zur Folge, dass in den neuen Ländern 23,3 Prozent und in den alten Ländern 25,1 Prozent aller Beschäftigten im Niedriglohnbereich ihren Arbeitsplatz verlieren könnten. Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Uda Carmen Freia Heller und Kurt Segner (beide CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Ar- beitnehmer-Entsendegesetzes (Tagesordnungs- punkt 30) Der heute zur Abstimmung stehende Gesetzentwurf zur Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes wird dazu führen, dass für Briefzusteller ein Mindeststunden- lohn von bis zu 9,80 Euro festgelegt wird. Ich befürchte, dass dieser Mindestlohn negative Auswirkungen haben wird: Wettbewerber der Deutschen Post AG werden vom Markt ferngehalten und der Postmarkt wird abgeschot- tet. Dadurch gehen Arbeitsplätze verloren und die Ent- stehung neuer Arbeitsplätze in der Postbranche wird ver- 14202 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 (A) (C) (B) (D) hindert. Weniger Wettbewerb auf dem Postmarkt führt zu schlechten und überteuerten Post-Dienstleistungen zulasten des Verbrauchers. Keinesfalls darf der Post- Mindestlohn zu einem Vorbild für weitere Mindestlöhne in anderen Branchen werden; dies würde zu viele Ar- beitsplätze für Geringqualifizierte vernichten. In der Koalition wurde vereinbart, die Post-Dienst- leistungen in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufzu- nehmen, wenn die Tarifpartner dies gemeinsam begeh- ren und mindestens 50 Prozent aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Postbranche vom Tarifvertrag er- fasst sind. Dies ist nunmehr der Fall. Die CDU/CSU konnte erfreulicherweise durchsetzen, dass der Gel- tungsbereich des zugrunde liegenden Tarifvertrages er- heblich eingeschränkt wurde. Damit in der Koalition das umgesetzt wird, was ver- einbart wurde, und weil ich die ansonsten sehr erfolgrei- che Arbeit der Bundesregierung unterstütze, habe ich der Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes trotz meiner Bedenken zugestimmt. Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Michael Fuchs, Gitta Connemann, Jens Koeppen, Friedrich Merz, Dr. h. c. Hans Michelbach, Andrea Astrid Voßhoff und Klaus-Peter Willsch (alle CDU/ CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (Tagesord- nungspunkt 30) Ich stimme der Ausweitung des Arbeitnehmer-Ent- sendegesetzes auf die Branche der Briefdienstleistungen in dieser Form nicht zu. Denn auch nach sorgfältiger Ab- wägung des Für und Wider habe ich schwerwiegende Bedenken, und zwar nicht alleine aus politischen Erwä- gungen, sondern auch aus rechtlichen Gründen. Nach meiner Ansicht wird hier ein Gesetz zweckent- fremdet. Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz ist 1996 ge- schaffen worden, um den deutschen Arbeitsmarkt vor Billigkonkurrenz aus dem Ausland zu schützen. Im Ko- alitionsvertrag von CDU, CSU und SPD ist gemeinsam vereinbart worden: „Eine weitere Ausdehnung auf wei- tere Branchen wird die Koalition prüfen, wenn entspre- chende unerwünschte soziale Verwerfungen durch Ent- sendearbeitnehmer nachgewiesen werden und in diesen Branchen Tarifverträge gelten, die zuvor nach den Re- geln des Tarifvertragsgesetzes für allgemeinverbindlich erklärt worden sind.“ (Ziffer 2.7.2). Es muss also eine Entsendeproblematik vorliegen und ein Tarifvertrag in geordneter Weise zustande gekommen sein. Dies war bei dem Gebäudereinigerhandwerk der Fall. Im vorliegenden Fall hingegen sind weder soziale Verwerfungen durch Entsendearbeitnehmer nachgewie- sen noch ist der geschlossene Tarifvertrag in geordneter Weise unter Beteiligung der neuen Marktteilnehmer zu- stande gekommen. Eine Allgemeinverbindlichkeit nach dem Tarifvertragsgesetz liegt nicht vor. Der Tarifaus- schuss wurde bis heute nicht befasst. Hier geht es erkennbar nicht darum, die Beschäftigten der Briefdienstleistungsbranche in Deutschland vor so- zialen Verwerfungen durch ausländische Konkurrenz zu schützen. Vielmehr wird dieses Gesetzgebungsverfahren vom Branchenprimus, den beteiligten Tarifvertragspar- teien und der SPD dazu instrumentalisiert, inländischen Wettbewerb zu verhindern und den Postmarkt weiter ab- zuschotten. Begründet wird dies mit dem Schlagwort des Lohn- dumpings. Aber anders als in anderen Branchen sind so- zial angemessene Löhne im Postsektor bereits gesetzlich vorgeschrieben. Denn nach § 6 Abs. 3 des Postgesetzes muss die Bundesnetzagentur bei jeder Lizenzvergabe prüfen, ob die wesentlichen Arbeitsbedingungen einge- halten werden. Dazu zählt auch die Lohnhöhe. Wird das marktübliche Niveau nicht eingehalten, wird die Lizenz verweigert. Ein sozialer Schutzstandard besteht also be- reits und wird aus Sicht der unabhängigen Bundesnetz- agentur auch von allen lizenzierten Briefzustellern ein- gehalten. Gleiche soziale Standards setzen gleiche Wettbe- werbsbedingungen voraus. Auch an dieser Waffen- gleichheit fehlt es. Denn anders als ihre Wettbewerber zahlt der Branchenprimus bislang weder Umsatzsteuer noch beteiligt er sich am Solidarsystem der gewerbli- chen Wirtschaft in der gesetzlichen Unfallversicherung. Allein damit erlangt er neben seiner Marktmacht einen zusätzlichen Kostenvorteil von mehr als 20 Prozent. Wenn jetzt auch noch der Staat die Lohnhöhe nach dem Wunsch des dominierenden Unternehmens vorschreibt, hat fairer Leistungswettbewerb in diesem Sektor kaum eine Chance. Im Ergebnis wird das zum l. Januar 2008 auslaufende Postmonopol faktisch verlängert. Die Zeche zahlen am Ende die Verbraucher. Denn we- niger Wettbewerb bedeutet schlechtere und teurere Pro- dukte. So warnt die EU-Wettbewerbskommission bereits vor überhöhten Portogebühren in Deutschland. Der Prä- sident des Bundeskartellamtes hat sich für eine Abschaf- fung des Mehrwertsteuerprivilegs ausgesprochen. Auch ist ein schlechteres Versorgungsangebot zu befürchten. Denn schon heute zieht sich der Branchenprimus aus manchen ländlichen Regionen zurück, baut Personal ab, automatisiert Filialen, lagert sie aus oder schließt sie. Den höchsten Preis werden aber nach meiner Be- fürchtung die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei den neuen Wettbewerbern zahlen. Denn staatliche Lohn- diktate vernichten Arbeitsplätze. Deshalb warnt der Sachverständigenrat der Bundesregierung in seinem ak- tuellen Jahresgutachten unter dem Titel „Das Erreichte nicht verspielen“ vor der Einführung von Mindestlöhnen jeder Art. Stattdessen sprechen sich die führenden Wirt- schaftsforschungsinstitute für einen Kombilohn aus. Dieses Instrument und das Verbot sittenwidriger Löhne sind der geeignete Weg, um Beschäftigten im Niedrig- lohnsektor ein Mindesteinkommen zu gewährleisten, von dem sie und ihre Familien leben können. Dafür set- zen sich CDU und CSU ein. Die negativen Auswirkungen für den Arbeitsmarkt zeigen sich im vorliegenden Fall schon jetzt. So haben neue Wettbewerber angekündigt, eine Vielzahl von Be- schäftigten kurzfristig entlassen zu müssen. Weitere Ent- lassungen insbesondere auch bei den klein- und mittel- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14203 (A) (C) (B) (D) ständischen Unternehmen in dieser Branche stehen zu befürchten. Die Ankündigung des Branchenprimus, ei- nige dieser Beschäftigten einstellen zu wollen, ist schamlos und zeigt die Perfidie des Vorgehens. Die neuen Wettbewerber haben in den letzten Jahren große Summen in den Aufbau ihrer Unternehmen inves- tiert und neue Arbeitsplätze geschaffen, vor allem in strukturschwachen Regionen, für Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte. Sie können zu Recht einen Schutz ihres Vertrauens auf faire Wettbewerbsbedingun- gen und die tatsächliche Aufhebung des Postmonopols verlangen. Ich sehe auch die Gefahr einer Verletzung des Grund- rechts dieser Wettbewerber auf negative Koalitionsfrei- heit nach Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz. Denn hier sollen fremdbestimmte Arbeitsbedingungen ohne ausreichen- des öffentliches Interesse durch einen gesetzlich er- streckten Tarifvertrag diktiert werden, der für den Bran- chenprimus selbst fast ohne Belang ist. Denn dieser verfügt bereits über eigene Tarifverträge für den absolut überwiegenden Anteil seiner Beschäftigten. Von funktio- nierender Tarifautonomie kann hier nicht mehr gespro- chen werden. Ich appelliere deshalb auch an die Ge- werkschaften und Arbeitgeberverbände, künftig in ihrer gemeinsamen Verantwortung dafür Sorge zu tragen, dass die Tarifpolitik nicht erneut aus sachfremden Motiven instrumentalisiert wird. Ich anerkenne, dass CDU und CSU in den vorange- gangenen Verhandlungen gegen den erbitterten Wider- stand der SPD durchgesetzt haben, dass unter Verweis auf eine erforderliche mindestens 50-prozentige Tarif- bindung der Geltungsbereich des Arbeitnehmer-Entsen- degesetzes sachgerecht eingeschränkt wird, sodass nicht in bestehende Tarifverträge beispielsweise des Einzel- handels eingegriffen wird. Auch begrüße ich die Ankün- digung der Bundesregierung, eine Lösung für das Mehr- wertsteuerprivileg zu finden. Wer Unternehmen zwingt, einen Lohn zu zahlen, der nicht zu erwirtschaften ist, der sorgt dafür, dass viele Menschen gar keinen Lohn mehr bekommen. Mindest- löhne, die Arbeitsplätze vernichten und Wettbewerb aus- hebeln, sind der falsche Weg. Ich könnte weitere rechtliche und politische Bedenken anführen. Bereits die vorgenannten sind für mich persön- lich jedoch so schwerwiegend, dass ich dem heute zur Ab- stimmung stehenden Gesetz nicht zustimmen zu kann. Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann, Roland Claus, Jan Korte, Dr. Barbara Höll und Dr. Petra Sitte (alle DIE LINKE) zur namentli- chen Abstimmung über den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Arbeitneh- mer-Entsendegesetzes (Tagesordnungspunkt 30) Ich stimme dem von der Bundesregierung einge- brachten Zweiten Gesetz zur Änderung des Arbeitneh- mer-Entsendegesetzes (Mindestlohn) nicht zu. Erstens. 17 Jahre nach der Wiedervereinigung halte ich eine Vereinbarung mit der Festlegung unterschiedli- cher Einkommenshöhen in Ost und West für nicht mehr zeitgemäß. Die Lebenshaltungskosten sind längst ange- glichen und die Produktivität von Briefträgerinnen und Briefträgern in Ost und West differiert ganz sicher nicht in dem Maße, dass unterschiedliche Einkommenshöhen gerechtfertigt wären. Zweitens. Der Gesetzentwurf lässt für die Umsetzung der Mindestlohnregelung zu viele Schlupflöcher zu, mit denen die Zahlung des Mindestlohnes umgangen werden kann. Drittens. Die Beschränkung auf Briefzusteller schließt andere Beschäftigte der Postdienstleistungen aus. Ich befürworte einen flächendeckenden, gesetzlich garantierten Mindestlohn. Von dem sind wir gegenwär- tig noch sehr weit entfernt. Dennoch ist die Aufnahme der Briefzusteller in das Entsendegesetz ein, wenn auch nur kleiner, Schritt in die richtige Richtung. Ich werde mich deshalb der Stimme enthalten. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Gewährleistung der einheitlichen Betreuung von Arbeitslosen nach einer Kreisgebietsreform (Tagesordnungs- punkt 36) Maria Michalk (CDU/CSU): Die Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende erfolgt im gesetzli- chen Regelfall durch die aus dem jeweiligen kommunalen Träger und der örtlichen Agentur für Arbeit gebildeten Arbeitsgemeinschaften. Wir nennen diese im Volksmund ARGEn. Bundesweit wurden jedoch 69 kommunale Trä- ger zugelassen, die diese Grundsicherung für Arbeitslose durchführen. Wir haben als Gesetzgeber ganz bewusst in § 6a SGB II eine Experimentierklausel zugelassen mit dem Ziel, im vergleichenden Wettbewerb festzustellen, ob die Agenturen für Arbeit oder die zugelassenen kom- munalen Träger bei der Eingliederung von Hilfebedürfti- gen erfolgreicher sind. Dieser Wettbewerbsprozess wird wissenschaftlich begleitet. In einem Jahr, genau am 31. Dezember 2008, erwarten wir die Ergebnisse dieses Wettbewerbes. Die FDP fordert in ihrem Antrag, um den es heute geht, die Bundesregierung auf, die Kommunalträger-Zu- lassungsverordnung so zu ändern, dass nach einer Kreis- gebietsreform der neu gebildete Kreis oder die neu gebil- dete kreisfreie Stadt selbst entscheiden kann, ob die Zulassung als kommunaler Träger auf das neu gebildete Gebiet ausgedehnt werden soll. Der Kollege Haustein aus der FDP-Fraktion hat schon im März dieses Jahres eine Initiative angekündigt. Der Grund liegt in Gesetzes- initiativen der Länder, speziell im Freistaat Sachsen und in Sachsen-Anhalt, wo die Kreisgebietsreform vor allem aus demografischen Gesichtspunkten derzeit forciert wird und wo sich in der Tat neue Strukturen ergeben, die 14204 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 (A) (C) (B) (D) den bisherigen Festlegungen des Modellprogramms nicht mehr entsprechen. Der Forderung der FDP nachzugeben bedeutet jedoch im Vergleich nichts anderes, als wenn man während ei- nes Fußballspieles die Spielregeln ändern würde. Kann man dann ein alle Seiten befriedendes Ergebnis erwar- ten? Jeder legt das Ergebnis aus, wie er es braucht. Eine neue Vereinheitlichung des Modellregionen mag zwar hier und da für Vereinfachung oder Verbesserung sorgen, aber ein Vergleich und eine Kontinuität sind nicht mehr gegeben. Die Kommunalträger-Zulassungs- verordnung legt in § 1 Abs. 2 dezidiert den Zulassungs- zeitraum für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis zum 31. Dezember 2008 fest. Und die Anlage nennt dezidiert die betroffenen Landkreise in der derzeitigen Struktur. Nur so ist ein Vergleich möglich. Ich spreche ausdrück- lich die Bedeutung einer ungestörten Erprobung in einem bestimmten Strukturgebiet an. Wenn durch Kreis- gebietsreformen die Strukturen der Erprobungsphase verändert werden sollten – und darauf läuft der FDP-An- trag hinaus –, dann ist ein beträchtlicher Organisations- aufwand erforderlich. Ferner würde das Vertrauensverhältnis der betroffe- nen Bürgerschaft unterbrochen werden, denn diese ken- nen ihre bisherigen Ansprechpartner. Beständigkeit ist Grundlage für ein Vertrauensverhältnis, auf das es bei der Betreuung der Grundsicherungsempfänger beson- ders ankommt. Das allein schon spricht dafür, Struktur- veränderungen durch eine Kreisgebietsreform nicht in den bisherigen Versorgungskreisen abzubilden. Denn die Einzigen, die sich umstellen müssen, sind die Mitarbei- terschaft der Kreisverwaltung und die neuen Kreisräte. Ihnen ist das aber eher zuzumuten als den betroffenen Grundsicherungsempfängern der jeweiligen Regionen. Es gibt also neben der Kontinuität in der Vergleich- barkeit des Modellvorhabens einen zweiten Vorteil, nämlich den der Kontinuität in der Bearbeitungsstruktur. Diese beiden Vorteile rechtfertigen das Nichtbeachten der ansonsten üblichen Einräumigkeit der Verwaltung. Festgestellt werden kann, dass erstens die zugelasse- nen kommunalen Träger in der Kommunalträger-Zulas- sungsverordnung vom 24. September 2004 abschließend bestimmt sind; zweitens bei Kreisgebietsreformen die neuen Kreise nur im Umfang des Gebietes der bisheri- gen zugelassenen Kreise an deren Stelle treten, und zwar für einen begrenzten Zeitraum; drittens eine Ausweitung der Zulassung auf das gesamte neue Kreisgebiet eine Änderung des SGB II erfordert und damit die Vergleich- barkeit in der wissenschaftlichen Begleitung beeinträch- tigt wird. Was die Konkurrenzsituation des Landrates angeht, so widerspreche ich ausdrücklich den Behauptungen im genannten FDP-Antrag. Der Landrat als Verantwortli- cher für die optierende Kommune steht selbst im Wett- bewerb mit der ARGE, die ihre Verantwortlichkeit und Entscheidungsstruktur in der Bundesagentur begründet hat. Wir als Bundesgesetzgeber sollten uns darauf konzen- trieren, eine rasche Auswertung der Evaluierungsergeb- nisse Ende nächsten Jahres zu forcieren, damit es zu abschließenden Festlegungen in Bezug auf die Zustän- digkeit der Grundsicherung kommen kann. Dabei wer- den dann selbstverständlich die neuen Strukturen in den Ländern beachtet. Deshalb ermuntere ich die FDP entge- gen ihrem Antrag zu Kontinuität als einen wichtigen Wettbewerbsfaktor. Sie sollte vom Aktionismus lassen, der vor Ort nur neue Unruhe für die betroffenen Grund- sicherungsempfänger bedeutet, denn die Betroffenen wollen Hilfe und Betreuung, die organisatorischen De- tails sind nicht vermittlungsrelevant. Nur auf die tatsäch- liche Vermittlung, kommt es an. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion lehnt den Antrag der FDP ab. Gabriele Lösekrug-Möller (SPD): Heute ist ein be- merkenswerter Tag – betrachtet man die Redebeiträge der FDP. Zunächst erklärte Herr Westerwelle den Post- mindestlohn als Teufelswerk, dann hörten wir von Herrn Kolb das Hohelied auf die Leiharbeit: Je mehr, desto besser. Und nun sprechen wir über einen Antrag der Liberalen, die die einheitliche Betreuung von Arbeits- losen in Teilen Sachsens in Gefahr sehen. Wer Mindestlöhne ablehnt und Equal Pay bei Leihar- beit als Verhängnis für die Branche ansieht, muss eben eine andere Ebene betreten, auf der selbst Liberale für Einheitlichkeit eintreten können. Aus gegebenem Anlass diskutiert das Land Sachsen über eine Gebietsreform, die die Zusammenlegung von Landkreisen anstrebt. Dass liberale Abgeordnete mit einer Kleinen Anfrage klären wollten, wie eine mögliche Kreisreform die Betreuung von Arbeitslosen berührt, ist löblich. Die Antwort der Bundesregierung auf die ge- stellten zehn Fragen ist umfassend, sachgerecht und lückenlos. Eigentlich wäre damit der Vorgang beendet, wäre da nicht das unstillbare Verlangen, doch noch ein Haar in der Suppe zu finden. Einmal davon abgesehen, dass sich die Politik in Sachsen zurzeit mit vollkommen anderen, tatsächlich dringlichen Fragen beschäftigen muss, und wir alle, wenn wir ehrlich sind, wissen, wie schwierig Gebiets- reformen sind, will ich klarstellen: Niemand, keine Frau, kein Mann, der oder die in Sachsen arbeitssuchend ist bzw. Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitslose be- zieht, muss befürchten, er oder sie würde nicht bzw. schlechter betreut oder gefördert, wenn, wann auch im- mer, eine Kreisreform in Kraft tritt. Also hören Sie auf, mit Ängsten von Menschen zu spielen. Klar ist auch: Die von den kommunalen Gebietskör- perschaften gewollten Strukturen, seien es Arbeitsge- meinschaften, optierende Kommunen oder getrennte Trägerschaften, werden beibehalten. Es war allen Ent- scheidungsträgern klar, dass sie sich verpflichten bis zum 31. Dezember 2010. Diese Regelung ist eindeutig und sachgerecht. Und das ist eigentlich das kuriose an Ihrer Forderung: Sie stellen Einheitlichkeit über Verläss- lichkeit. Sie unterstellen drohende Rechtsunsicherheit, wo Rechtssicherheit besteht. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14205 (A) (C) (B) (D) Bleibt Ihre Sorge um die Landräte und etwaige Inte- ressenskonflikte. Ich halte viel von guten Landräten. Ich lebe in einem Landkreis mit einem guten. Daher weiß ich: Die Landräte, die eine Gebietsreform realisieren, werden eine Vielfalt, die aus maximal drei unterschiedli- chen Strukturen besteht, souverän managen. Fazit: Eine Veränderung der Kommunalträger-Zulas- sungsverordnung lässt sich über eine angestrebte Kreis- reform in Sachsen nicht initiieren. Jan Mücke (FDP): Die FDP-Bundestagsfraktion setzt sich schon seit Jahren dafür ein, dass Arbeitsu- chende durch kommunale Jobcenter betreut und vermit- telt werden. Die Kommunen sind näher beim Betroffe- nen, können wesentlich individueller auf den Einzelnen eingehen und kennen die Arbeitsmarktlage vor Ort bes- ser als die Arbeitsagentur. Der Arbeitsmarkt ändert sich – gerade in vielen Tei- len Ostdeutschlands – sehr schnell und mit ihm die An- forderungen an die Jobvermittler. Flexibilität und Nähe zum Markt sind unabdingbar, will man bei der Vermitt- lung Fortschritte erzielen. Wir sind überzeugt davon, dass die Kommunen, die zurzeit am Optionsmodell teil- nehmen, beweisen, was die gewonnene Flexibilität be- wirken kann. Als die Experimentierklausel beschlossen wurde, blieb der Fall von Gebietsveränderungen unberücksich- tigt. Dieses Versäumnis des Gesetzgebers hat heute ne- gative Auswirkungen, die wir mit Annahme des vorlie- genden Antrags zumindest teilweise verhindern können. Der Antrag stellt Rechtssicherheit her, baut Bürokratie- kosten ab und beseitigt das Chaos bei den Empfängern der Grundsicherung, bei den zuständigen Behörden und den Sozialgerichten. In Sachsen-Anhalt gibt es inzwischen die getrennte Trägerschaft innerhalb eines Kreises, und das Chaos ist dort mit Händen zu greifen. Stellen Sie sich einmal folgenden Fall vor: Sie woh- nen im Gebiet des früheren Saalkreises und sind jetzt nach der Kreisgebietsreform Einwohner des Saalekrei- ses. Der Saalekreis hat nicht nur ein „e“ dazu gewonnen, sondern auch einen anderen Kreis, und zwar den Kreis Merseburg-Querfurt, der optiert hatte. Im neuen Saale- kreis haben wir heute eine getrennte Trägerschaft. Wis- sen Sie, was Ihnen blühen kann, wenn Sie jetzt Hilfe- empfänger werden? Ich will es Ihnen sagen: Wenn Sie Ihre Regelleistungen in der gleichen Art und Weise wie ihre Freunde, die nur ein paar Straßen weiter wohnen, beim Landkreis beantragen wollen, wird man Sie weg- schicken und an die Arbeitsagentur verweisen. Jetzt den- ken Sie, Sie seien schlauer geworden, und wollen die Er- stattung für die Kosten Ihrer Unterkunft bei der Agentur für Arbeit beantragen. Die sagen Ihnen aber, Sie seien nicht zuständig, und verweisen Sie auf den Landkreis. Man könnte darüber lachen und es als typisch deut- sche Bürokratie abtun, beträfe es nicht arbeitslose, hilfe- bedürftige Menschen. Das ist kein Einzelfall, den ich hier beschreibe, das ist gelebte Realität, in Sachsen-An- halt tagtäglich zu beobachten. Durch diese Zuständig- keitsverwirrung nehmen Sie den Arbeitslosen doch den Mut, anstatt sie zielorientiert zu betreuen. Doch damit nicht genug. Die Sozialgerichte in Sach- sen-Anhalt haben mit einer Rechtslage zu tun, die kei- neswegs so klar ist, wie es die Bundesregierung uns weismachen will. Darf und muss der neu gebildete Kreis die Rechte und Pflichten der alten Optionskommune weiter ausüben? Die Rechtsnachfolgerschaft ist keines- wegs eindeutig. Und die Zersplitterung der Strukturen in den neu gebildeten Kreisen steht klar der Forderung ei- ner einheitlichen Verwaltungsstruktur entgegen, die im Übrigen auch im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch ein- deutig formuliert ist. Die Richterinnen und Richter der betroffenen Sozialgerichte erledigen die Flut von Anträ- gen, die sie zu bearbeiten haben, noch immer sehr gut. Wir sollten ihre Arbeit mit einer verworrenen Rechtslage aber nicht unnötig erschweren. Zum Schluss bitte ich Sie, sich einmal zu überlegen, warum es zurzeit in ostdeutschen Bundesländern Kreis- gebietsreformen gibt. Es liegt doch auf der Hand: Wir haben einen enormen Bevölkerungsrückgang zu ver- zeichnen, und die Länder wollen dem mit Gebietsver- größerungen Rechnung tragen, um Verwaltungskosten zu reduzieren. Wenn jetzt der Gesetzgeber den Kommu- nen nicht erlauben sollte, selbstverantwortlich für grö- ßere Verwaltungseinheiten zu stimmen, würde das den Sinn dieser Reformen konterkarieren. In Sachsen wird die Kreisgebietsreform bald vollzo- gen, und ich bitte Sie, es den sächsischen Kommunen zu erlauben, gegen dieses Chaos zu stimmen. Unser Antrag lässt im Sinne der kommunalen Selbstbestimmung be- wusst offen, in welche Richtung die Vereinheitlichung gehen kann. Parteipolitik kann und sollte hier zugunsten pragmatischer Lösungen in den Hintergrund treten. Be- vor Sie der Argumentation der Bundesregierung blind folgen, bitte ich Sie: Sprechen Sie doch einmal mit den Landräten der betroffenen Kreise und kreisfreien Städte! Informieren Sie sich vor Ort bei den Betroffenen und zu- ständigen Behörden. Auf die Stellungnahmen der Koalitionsfraktionen bin ich sehr gespannt. Katrin Kunert (DIE LINKE): Seit Einführung von Hartz IV gibt es drei Strukturen, durch die die Arbeitslo- sen im Land betreut werden. Zum einen sind es die Ar- beitsgemeinschaften (ARGEn), in denen Landkreise/ kreisfreie Städte mit der Bundesagentur unter einem Dach zusammenarbeiten. Dann gibt es die Optionskom- munen, wo der Landkreis oder die kreisfreie Stadt allein die Aufgabe erfüllt. Und dann gibt es die sogenannten kalten Arbeitsgemeinschaften (ARGEn), in denen jede Struktur ihre Aufgabe für sich wahrnimmt. Allein diese Aufzählung macht deutlich, wie ein ohnehin schlechtes Gesetz für die Betroffenen „vielfältig“ umgesetzt wird. Nun gab es in Sachsen und Sachsen-Anhalt Kreisge- bietsreformen und die an Kreis- und Stadtgebieten fest- gemachte Arbeitsstruktur zur Umsetzung von Hartz IV läuft Gefahr, noch konfuser zu werden. Aber woran mes- sen wir die Qualität der Betreuung von Arbeitslosen? 14206 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 (A) (C) (B) (D) Und liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP: Was be- deutet für Sie einheitliche Betreuung von Arbeitslosen? Bedeutet einheitlich bessere Betreuung oder effizientere Betreuung? Ihrem Antrag entnehme ich nicht den Hauch des Versuches, aus der Sicht der Betroffenen Kriterien für eine Betreuung zu benennen. Den Arbeitslosen ist es egal, in welcher Organisa- tionsstruktur sie betreut werden. Für die Betroffenen ist es wichtig, dass sie einen fairen und unkomplizierten Umgang erfahren. Für die Arbeitslosen ist es wichtig, dass sie pünktlich ihr ohnehin knappes Geld überwiesen bekommen, dass sie Fördermöglichkeiten erhalten, um mögliche Vermittlungshemmnisse abzubauen. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ARGEn oder Optionskommunen sind Weiterbildungen, Super- vision und angemessene Arbeitsbedingungen wichtig. Ebenso wichtig ist, dass sie nicht in Endlosschleifen der Befristung beschäftigt werden, dass sie mit einem Be- treuungsschlüssel arbeiten können, bei dem es auch möglich ist, die Arbeitslosen zu betreuen! Zum Softwareprogramm A2 LL verkneife ich mir heute jeglichen Kommentar. In einem Punkt Ihres Antrages gebe ich Ihnen recht: Es muss eine Regelung für die Arbeitsstrukturen nach Kreis- und Stadtgebietsreformen her. Wir alle wissen, dass in der nächsten Woche das Bun- desverfassungsgericht ein Urteil zur Verfassungsbe- schwerde von elf Landkreisen fällen wird. Insofern hät- ten Sie zumindest diese Entscheidung abwarten können, bevor ihr Antrag auf die Tagesordnung gesetzt wird. Die Beschwerdepunkte der Landkreise machen sehr deut- lich, mit welchen Problemen die gesamte Umsetzung von Hartz IV behaftet ist. Erstens haben Bund und Länder mit der komplizierten Aufgabenverteilung bei Hartz IV lediglich versucht, die Kosten auf die Kommunen abzu- wälzen. Zweitens sind die Landkreise per Gesetz dazu gezwungen worden, mit der Bundesagentur für Arbeit zusammenzuarbeiten. Dies hätte den Landkreisen freige- stellt werden müssen. Drittens sieht die Verfassung innerhalb des föderalen Systems eine klare Kompetenz- verteilung vor, das heißt, Aufgaben zwischen Bundes- agentur für Arbeit und Kommunen aufzuteilen geht ver- fassungsrechtlich nicht. Wenn das Bundesverfassungsgericht im Sinne der Landkreise entscheiden wird, ist Hartz IV nicht nur bei den Menschen im Land, sondern auch verfassungsrecht- lich durchgefallen. Die Linke fordert: erstens bundeseinheitliche Quali- tätsstandards für die Betreuung von Arbeitslosen aus Sicht der Betroffenen, zweitens Qualifizierung der Be- schäftigten in den ARGEn und Optionskommunen, drit- tens unbefristete Arbeitsverhältnisse für die Beschäftig- ten in den ARGEn und Optionskommunen, viertens Erhöhung der Kostenübernahme durch den Bund, um die Kommunen zu entlasten. Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, wenn Ih- nen wirklich das Wohl der Arbeitslosen am Herzen liegt, unterstützen sie unsere Anträge zur Erhöhung des Regel- satzes auf 435 Euro, die Einmalzahlung von 40 Euro Weihnachtsbeihilfe für Grundsicherungsbezieherinnen und schließen Sie gemeinsam mit uns aus, dass bei sta- tionären Aufenthalten Regelleistungen gekürzt werden. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Um es gleich vorweg zu sagen: Das Anliegen der FDP ist richtig und wird von uns unterstützt. Das Problem ist schnell erklärt: Im Zuge einer Kreis- gebietsreform kann es vorkommen, dass in der neugebil- deten Struktur beide Trägermodelle der Grundsicherung – die Optionskommune und die Arbeitsgemeinschaft – vertreten sind. Die neugebildeten Kreise müssten dann die Entscheidung treffen können, welches der beiden Modelle sie zukünftig fahren wollen, um wieder zu einer einheitlichen Struktur zu kommen. Diese Möglichkeit haben die Kreise aber bis jetzt nicht, wenn sie sich für das Optionsmodell entscheiden wollen. Das muss sich ändern. Die Bundesregierung hat sich diesem Ansinnen bis- lang verweigert. Sie schlägt schlicht die Weiterführung der bisherigen Trägerstrukturen auch nach einer Kreis- reform vor. Aber das Nebeneinander verschiedener Konzepte und Zuständigkeiten für Langzeitarbeitslose innerhalb einer Verwaltungseinheit ist kein zufrieden- stellender Zustand, weder für die Arbeitssuchenden noch für die politisch Verantwortlichen. Die Bundesregierung begründet ihre Ablehnung mit der geltenden Rechtsgrundlage. Die Kommunalträger- Zulassungsverordnung sehe eine Ausweitung des Zulas- sungsgebietes einer Optionskommune nicht vor. Darüber hinaus fehle eine Ermächtigungsgrundlage im SGB II, um eine entsprechende Änderung der Verordnung vorzu- nehmen. Ich habe es bisher als unseren Job verstanden, Lösungen für Probleme zu finden und für diese Lösun- gen dann die entsprechende Rechtsgrundlage zu schaffen. Und nur weil im Rahmen der ursprünglichen Gesetzes- und Verordnungsgebung Folgen von Kreisge- bietsreformen nicht vorgesehen waren, kann uns das nicht zur Tatenlosigkeit verleiten. Ziel einer Kreisgebietsreform ist unter anderem die Anpassung der Politik- und Verwaltungsstrukturen an die demografische Entwicklung und die daraus erwach- senen neuen Herausforderungen. Effizienz ist ein weite- res Kriterium. Es ist kein Geheimnis, dass sich Kreisge- bietsreformen nicht gerade großer Beliebtheit erfreuen und jede einzelne einen erheblichen Kraftakt darstellt. Wenn aber danach alles sowieso beim Alten bleibt, kann man sich die ganze Sache gleich ganz sparen. Sie wissen, dass wir Grünen die Bündelung der kom- munalen Kompetenzen und der der Bundesagentur für Arbeit in den Arbeitsgemeinschaften für die bessere Lö- sung im Kampf gegen die Langzeitarbeitslosigkeit hal- ten. Entscheidend ist aber für uns auch immer, was hin- ten rauskommt, und nicht, was draufsteht. Und darum sind wir der Meinung, dass die neugebildeten Kreise, die das Optionsmodell für das erfolgversprechendere Kon- zept halten, es auch umsetzen können sollten. Dafür wer- den wir uns auch in den weiteren Beratungen einsetzen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14207 (A) (C) (B) (D) Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: Angleichung des aktuellen Rentenwerts (Ost) an den aktuellen Rentenwert (Tagesordnungspunkt 37) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Mit der Wiedervereini- gung wurde angestrebt, die Wirtschafts- und Sozialsys- teme der alten und neuen Bundesländer mittelfristig an- zugleichen. Im Übergang sollte speziell im Rentenrecht – bis zur Herstellung einheitlicher Einkommensverhält- nisse, wie es in § 254 b SGB VI heißt – mit der Bildung von persönlichen Entgeltpunkten (Ost) und eines aktuel- len Rentenwertes (Ost) den besonderen Verhältnissen im Beitrittsgebiet Rechnung getragen werden. Ein Blick zurück zeigt, dass die (schrittweise) Heran- führung des aktuellen Rentenwertes (Ost) an den aktu- ellen Rentenwert des § 68 SGB VI mit der relativen Verbesserung der Löhne und Gehälter in den neuen Bun- desländern zunächst auch gut vorangekommen ist. Vor 2003 stieg der Rentenwert (Ost) Jahr für Jahr deutlich schneller als der aktuelle Rentenwert, in den neunziger Jahren besonders stark. Dies zeigt, dass die lohn- und ge- haltsbezogene Anpassung in der Vergangenheit sehr gut funktioniert hat. In den folgenden Jahren der wirtschaftlichen Stag- nation bis 2006 gab es dann allerdings keine weiteren Fortschritte mehr, die Lücke zwischen aktuellem Ren- tenwert (Ost) und aktuellem Rentenwert hat sich nicht weiter geschlossen. Aktuell – 17 Jahre nach der deut- schen Einheit – liegt der Rentenwert (Ost) noch um rund 12 Prozent unter dem aktuellen Rentenwert des § 68. Vor diesem Hintergrund erhebt nun die Linke die For- derung, den aktuellen Rentenwert (Ost) auch ohne das Vorliegen einer entsprechenden wirtschaftlichen Ent- wicklung auf den aktuellen Rentenwert anzuheben. Hierzu will ich für meine Fraktion deutlich sagen: Eine isolierte Anhebung des aktuellen Rentenwertes (Ost), die nicht zugleich auch die anderen Rechengrößen der Rentenermittlung anpasst, verbietet sich. Es kann nicht sein, dass Entgeltpunkte in den neuen Bundeslän- dern – wie von der Linken vorgeschlagen – weiterhin unter erleichterten Voraussetzungen erworben werden können, dann aber zu einem gleichen Rentenanspruch führen. Einen Entgeltpunkt (Ost) erwarb man 2007 bei- spielsweise über den Umrechnungsfaktor 1,1622 nach Anlage 10 zum SGB VI bereits mit Beiträgen auf Basis von 2 114 Euro brutto monatlich, während man in den alten Bundesländern Beiträge auf Basis von 2 457 Euro brutto leisten musste, um einen Entgeltpunkt West zu er- halten. Eine solche Regelung, bei der mit unterschiedli- chen Beitragsleistungen erworbene Entgeltpunkte mit dem gleichen Rentenwert bewertet würden, wäre meines Erachtens eine nicht zu rechtfertigende Besserstellung und damit möglicherweise verfassungswidrig. Überdies würde die Anhebung des aktuellen Renten- wertes (Ost) alleine für den Rentenbestand etwa 5 Mil- liarden Euro kosten, ein Betrag, der nach der lapidaren Aussage im Antrag der Linken aus Steuermitteln finan- ziert werden soll, zusätzlich zu den 80 Milliarden Euro, die der Bundeshaushalt bereits heute an die Rentenkasse überweist. Das ist schlicht und einfach nicht seriös, steht aber in einer Reihe mit weiteren Wünsch-dir-was-Anträ- gen, die die Linken in den letzten Monaten hier einge- bracht haben. Der Hinweis auf eine Angleichung der Lebenshal- tungskosten in den neuen Ländern an die Lebenshal- tungskosten in den alten Bundesländern, die eine Anhe- bung des Rentenwertes erforderlich machte, überzeugt in diesem Zusammenhang nicht. Ich verweise auf die Übersicht auf Seite 69 des Rentenversicherungsberichtes 2007. Danach liegen die durchschnittlichen Gesamt- rentenzahlbeträge bei an männliche Bezieher in den neuen Ländern ausgezahlten Renten um mehr als 5 Pro- zent über denen in den westlichen Bundesländern. Bei den Rentnerinnen beträgt der Überhang sogar 30 Pro- zent, Der Überhang wird sowohl bei Männern als auch bei den Frauen in den kommenden Jahren bis 2011 sogar noch leicht ansteigen. Ich will zum Schluss noch darauf hinweisen, dass aber auch eine einheitliche Veränderung der Rechengrö- ßen nicht unproblematisch ist. Denn dann stiege nicht nur der aktuelle Rentenwert (Ost) und der für einen Ent- geltpunkt zu entrichtende Beitrag. Zugleich wäre auch die Beitragsbemessungsgrenze anzuheben. Damit würde es zwar möglich, dass diejenigen Beitragszahler in den neuen Ländern, deren Einkommen bereits heute auf Westniveau liegt, auch ein Mehr an Entgeltpunkten in der Rentenversicherung erwerben könnten. Zugleich würde dies aber auch einen Anstieg der Lohnnebenkos- ten in den neuen Ländern mit sich bringen, da die Ar- beitgeber bis zur neuen Beitragsbemessungsgrenze zu- sätzliche Rentenbeiträge für ihre Mitarbeiter entrichten müssten – mit entsprechenden negativen Effekten für das Beschäftigungsniveau in den neuen Ländern. Damit will ich zusammenfassend festhalten: Der An- trag der Linken ist nicht ausgereift. Er verändert populis- tisch eine Stellschraube in einem komplexen Gesamtsys- tem. Die beste Perspektive für eine Angleichung des Rentenwertes ist und bleibt die Schaffung von Voraus- setzungen für ein überproportionales Wachstum der Löhne und Gehälter in den neuen Bundesländern, dieses aber nicht durch Einmischung der Politik in die Lohnfin- dung wie etwa bei der heute hier schon diskutierten Frage der Einführung von Mindestlöhnen, sondern als Ergebnis einer erfolgreichen wirtschaftlichen Entwick- lung. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Großen Anfrage: Euro- päisches Jahr der Chancengleichheit für alle (Tagesordnungspunkt 38) Renate Gradistanac (SPD): 51 Prozent der Bürge- rinnen und Bürger in der Europäischen Union sind der 14208 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 (A) (C) (B) (D) Meinung, dass in ihrem Land nicht genügend Anstren- gungen unternommen werden, um Diskriminierung zu bekämpfen. Nur 32 Prozent kennen ihre Rechte für den Fall, dass sie Opfer von Diskriminierung werden. Die Umfrage „Europabarometer Spezial“ zur Diskriminie- rung in der Europäischen Union unterstreicht zudem, dass die Kenntnis der Existenz von Antidiskriminie- rungsgesetzen in der Europäischen Union nach wie vor recht gering ist. Das Europäische Jahr der Chancengleichheit wurde ausgerufen, um die Menschen in der Europäischen Union für ihre Rechte auf Gleichbehandlung und Nicht- diskriminierung zu sensibilisieren und die Chan- cengleichheit zu fördern. Chancengleichheit und Nicht- diskriminierung gehören zu den Grundprinzipien, auf denen die Europäische Union aufbaut. Wirkliche Chancengleichheit ist nur ohne Diskrimi- nierung möglich. Darum haben wir mit dem Allgemei- nen Gleichbehandlungsgesetz nicht nur vier EU-Richt- linien in nationales Recht umgesetzt. Wir haben vor allem auch einen wichtigen Schritt getan, um Menschen wirksam vor Diskriminierungen zu schützen. Wer auf- grund des Geschlechts, der ethnischen Herkunft, der Re- ligion oder Weltanschauung, des Alters, aufgrund einer Behinderung oder der sexuellen Identität benachteiligt wird, kann sich seit 2006 besser wehren. Das Bundesgleichstellungsgesetz, das Gewaltschutz- gesetz und das Elterngeld mit seinen Vätermonaten sind weitere wichtige gleichstellungspolitische Wegmarken. Das eigentliche Ziel, die gleichberechtigte Teilhabe von Männern und Frauen an allen Lebensbereichen, haben wir aber immer noch nicht erreicht. Die Studie „Global Gender Gap Report 2007“ des Weltwirtschaftsforums hat die Gleichstellung von Frauen und Männern in 128 Ländern erfasst. Auf den ersten Blick stehen wir mit dem siebten Rang scheinbar gar nicht so schlecht da. In der Kategorie „gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“ befinden wir uns aber nur auf Rang 71. Gleichwertige Arbeit muss endlich gleich entlohnt werden. Existenzsichernde Erwerbsarbeit ist eine wich- tige Voraussetzung zur Armutsbekämpfung. Mit der Ein- führung von Mindestlöhnen schützen wir insbesondere auch Frauen vor Sozialdumping. Wir müssen die Chan- cen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt verbessern. Fami- lienfreundliche Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen sowie der Ausbau und Rechtsanspruch bei Kinderbetreu- ungsplätzen sind wichtige Voraussetzungen für die Ver- einbarkeit von Familie und Beruf und mehr Chancen- gleichheit. Wir wollen die Gleichstellung von Männern und Frauen bei Berufszugang und Aufstieg. Immer mehr Frauen arbeiten in Teilzeit oder sind ge- ringfügig beschäftigt. Dies hat auch der Ausschuss zur Beseitigung jeder Diskriminierung der Frau, kurz CEDAW, bei der Überprüfung des fünften Staatenbe- richts kritisiert. Der Ausschuss hat zudem weitergehende Schritte empfohlen, um Stereotype im Zusammenhang mit den traditionellen Rollenbildern in der Familie, am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft zu bekämpfen. Chancengleichheit für alle beginnt bei der Bildung und Betreuung unserer Kinder. Bildungschancen sind Lebenschancen, die nicht von der Herkunft oder vom El- ternhaus abhängen dürfen. Junge Menschen haben ein Recht auf Bildung, auf ein gesundes Aufwachsen, auf gesellschaftliche Beteiligung und vor allem darauf, dass sie vor physischer und psychischer Gewalt geschützt werden. Diese Ziele wollen wir mit dem nationalen Aktionsplan „Für ein kindergerechtes Deutschland 2005–2010“ erreichen. Mit dem Bundesprogramm „Frühe Hilfen“ wollen wir die Risiken für Kinder möglichst frühzeitig erkennen und die Erziehungskompetenz der Eltern verbessern. Der weitere Ausbau der Kinderbetreuung und die Ein- führung des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz sind wichtige Schritte, um das Ziel der Bildung für alle zu erreichen. Die von uns durchgesetzte Erhöhung und Ausweitung des BAföGs ist ein wichtiges Signal für echte Chancengleichheit in der Bildung. Für die SPD-Fraktion gehören Kinderrechte ins Grundgesetz. Dadurch stärken wir die Rechtsposition der Kinder deutlich und schreiben die staatliche Schutz- pflicht gegenüber Kindern ausdrücklich in der Verfas- sung fest. Angesichts der öffentlichen Diskussion über Kindesvernachlässigung und Kinderarmut bedauere ich es sehr, dass sich unser Koalitionspartner noch immer weigert, Kinderrechte in unser Grundgesetz aufzuneh- men. Ich freue mich, dass wir das Übereinkommen der Ver- einten Nationen über die Rechte behinderter Menschen im Jahr der Chancengleichheit für alle unterzeichnet ha- ben. Dies ist ein weiterer wichtiger Baustein für die gleichberechtigte Teilhabe für Menschen mit Behinde- rungen. Immerhin haben zehn Prozent der EU-Bevölke- rung eine Behinderung. Ich bin sehr froh, dass meine Fraktion bei der Reform der Erbschaftsteuer eine weitestgehende Gleichstellung der Lebenspartnerschaften durchsetzen konnte. Rechtli- cher Schutz und rechtliche Gleichstellung allein reichen aber nicht aus, um Diskriminierung zu verhindern. Dies zeigt sich nachdrücklich beim Diskriminierungsmerkmal sexuelle Identität. Um komplexe und zum Teil tief ver- wurzelte Vorurteile abzubauen, sind intensive Bemühun- gen auf politischer und zivilgesellschaftlicher Ebene not- wendig. Es gilt, die Chancengleichheit für alle aktiv zu fördern und die strukturellen und institutionellen Hinder- nisse abzubauen, die eine gleichberechtigte Teilhabe in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens versper- ren. Das Europäische Jahr hat dazu beigetragen, für Gleichstellung und Vielfalt in Europa zu werben. Einer der Höhepunkte des Jahres war der unter deutscher EU- Präsidentschaft erstmals veranstaltete europäische Gleichstellungsgipfel. Nun gilt es, sich noch stärker da- für einzusetzen, dass Gleichheit in Europa für jeden Ein- zelnen zur Realität wird. Vielfalt ist eine der Stärken von Europa. Deshalb brauchen wir Chancengleichheit für alle. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14209 (A) (C) (B) (D) In der erweiterten Europäischen Union wird die Be- völkerung immer vielfältiger. Durch die Zuwanderung und das Zusammenleben ethnisch-kulturell unterschied- lich geprägter Menschen und die Etablierung unter- schiedlicher Lebensformen nimmt Europas Vielfalt auch in kultureller Hinsicht zu. Um den Vorteil zu würdigen, den wir durch unsere große kulturelle Vielfalt haben, wurde das Jahr 2008 zum Europäischen Jahr des inter- kulturellen Dialogs erklärt. Anlage 10 Amtliche Mitteilungen Der Bundesrat hat in seiner 839. Sitzung am 30. No- vember 2007 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Abs. 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: – Gesetz zur Neuordnung der Ressortforschung im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Er- nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz – Gesetz zur Änderung der gesetzlichen Berichts- pflichten im Zuständigkeitsbereich des Bundes- ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz – Erstes Gesetz zur Änderung des Tierschutzgeset- zes – Erstes Gesetz zur Änderung des Legehennenbe- triebsregistergesetzes – Gesetz zur Förderung der zusätzlichen Altersvor- sorge und zur Änderung des Dritten Buches So- zialgesetzbuch – Gesetz zur Änderung des Bundesversorgungs- gesetzes und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts – Zweites Gesetz zur Änderung des Finanzverwal- tungsgesetzes und anderer Gesetze – Gesetz zur Errichtung eines Sondervermögens „Kinderbetreuungsausbau“ und zur Entfristung des Kinderzuschlags – Gesetz zur Aufhebung der Heimkehrerstiftung und zur Finanzierung der Stiftung für ehemalige politi- sche Häftlinge (Heimkehrerstiftungsaufhebungs- gesetz – HKStAufhG) – … Gesetz zur Änderung des Jugendgerichtsgeset- zes und anderer Gesetze – Erstes Gesetz zur Änderung des Personalanpas- sungsgesetzes – Gesetz zur Regelung der Weiterverwendung nach Einsatzunfällen (Einsatz-Weiterverwendungsge- setz – EinsatzWVG) – Zweites Gesetz zur Änderung des Regionalisie- rungsgesetzes – Gesetz zur Finanzierung der Beendigung des subven- tionierten Steinkohlenbergbaus zum Jahr 2018 (Steinkohlefinanzierungsgesetz) – Erstes Gesetz zur Änderung des Unterhaltsvor- schussgesetzes – Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts – Gesetz zu dem Abkommen vom 9. Februar 2007 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Aus- tralien über die Soziale Sicherheit von vorüberge- hend im Hoheitsgebiet des anderen Staates beschäf- tigten Personen („Ergänzungsabkommen“) – Gesetz zur Neuregelung der Telekommunika- tionsüberwachung und anderer verdeckter Er- mittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG – Gesetz zur Bekämpfung von Preismissbrauch im Bereich der Energieversorgung und des Lebens- mittelhandels – Gesetz über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2008 (ERP- Wirtschaftsplangesetz 2008) – Erstes Gesetz zur Änderung des Gesetzes über Bergmannssiedlungen – Drittes Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetz zur Modernisierung des Rechts der land- wirtschaftlichen Sozialversicherung (LSVMG) Darüber hinaus hat er die nachstehende Entschlie- ßung gefasst: 1. Der Bundesrat bedauert, dass in den parlamentari- schen Beratungen zum LSVMG im Deutschen Bundestag kaum eine der vom Bundesrat in seiner Stellungnahme vom 12. Oktober 2007 (Bundesrats- drucksache 597/07 (Beschluss)) angeregten Verbes- serungen und Veränderungen aufgegriffen wurde. 2. Der Bundesrat stellt fest, dass es mit dem LSVMG zu einer umfassenden Zentralisierung von Aufgaben beim Spitzenverband zu Lasten der Regionalträger kommen wird, ohne dass hierfür ein Wirtschaftlich- keitsnachweis geführt werden soll, sowie zur Schaf- fung neuen Rechtes durch Übertragung von Einzel- regelungen der Rentenversicherung auch auf die Kranken-, Pflege- und Unfallversicherung. 3. Der Bundesrat erwartet im Ergebnis tief greifende Veränderungen und Umwälzungen in der landwirt- schaftlichen Sozialversicherung zu Lasten der Regio- nalträger, deren Folgen für die Versicherten er mit Sorge betrachtet. 4. Der Bundesrat teilt die Sorge des Berufsstandes und der Sachverständigen, dass die mit dem LSVMG vorgesehene besondere Abfindungsaktion nicht die prognostizierte Entlastungswirkung für die landwirt- schaftlichen Berufsgenossenschaften haben wird. Er befürchtet, dass dies im Zusammenwirken mit dem von der Bundesregierung deutlich abgesenkten 14210 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 (A) (C) (B) (D) Bundeszuschuss Beitragserhöhungen der landwirt- schaftlichen Berufsgenossenschaften unumgänglich machen wird. 5. Der Bundesrat bedauert insbesondere auch, dass die Beteiligung der landwirtschaftlichen Krankenkassen an den Bundeszuschüssen zur Finanzierung gesamt- gesellschaftlicher Aufgaben auch ab dem Jahr 2009 durch das LSVMG nicht geregelt wurde. Der Bundesrat fordert deshalb die Bundesregierung auf, die vom Bundesrat vorgeschlagene Regelung ge- mäß Ziffer 30 der Bundesratsdrucksache 597/07 (Be- schluss) baldmöglichst herbeizuführen. Eine Umset- zung erst nach Vorlage des mit Bundestagsbeschluss vom 2. Februar 2007 (Bundestagsdrucksache 16/4220) geforderten Gutachtens, das erst Ende 2008 abge- schlossen sein soll, wäre für ein Funktionieren ab dem 1. Januar 2009 entschieden zu spät. 6. Der Bundesrat stimmt der Einführung eines Lasten- ausgleichs zur Stärkung der landwirtschaftlichen So- lidargemeinschaft grundsätzlich zu. Allerdings wird die mit dem Gesetz zur Modernisierung des Rechts der landwirtschaftlichen Sozialversicherung be- schlossene Lastenverteilung nach Abschluss der Übergangsphase ab dem Jahre 2014 voraussichtlich besonders in Nord- und Ostdeutschland zu erhebli- chen Mehrbelastungen der landwirtschaftlichen Un- ternehmen führen. Der Bundesrat weist darauf hin, dass nach Abschluss der Übergangsregelungen nicht sichergestellt ist, dass die Einsparmaßnahmen des Gesetzes bereits wirksam sind und die Mehrbelastung der landwirt- schaftlichen Betriebe durch steigende Beiträge abge- wendet werden kann. Selbst wenn die an das Gesetz geknüpften Erwartungen erfüllt werden sollten und es gelingen würde, die Aufwendungen für die land- wirtschaftliche Unfallversicherung insgesamt bis 2014 deutlich zu reduzieren, käme diese entlastende Wirkung wegen des Verteilerschlüssels vor allem nicht den nord- und ostdeutschen landwirtschaftli- chen Unternehmen zugute. 7. Der Bundesrat verzichtet allerdings trotz der vorste- henden Bedenken auf die Anrufung des Vermitt- lungsausschusses, um das Inkrafttreten des Gesetzes nicht zu verzögern. – Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozial- gesetzbuch und anderer Gesetze Darüber hinaus hat er die nachstehende Entschlie- ßung gefasst: Der Bundesrat begrüßt die mit dem Gesetz zur Ände- rung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vorgenommenen Anpassungen sozialversiche- rungsrechtlicher Verfahrensvorschriften an die Erforder- nisse der betrieblichen Praxis in den Unternehmen und bei den Sozialversicherungsträgern und die mit der Neu- verteilung der Erstattungslasten zwischen Bund und neuen Ländern erfolgte Umsetzung der zwischen dem Bund und den neuen Ländern getroffenen Vereinbarung vom 29. November 2006. Mit Bedauern nimmt der Bundesrat aber zur Kenntnis, dass seine schon im Februar beim RV-Altersgrenzen- anpassungsgesetz (Bundesratsdrucksache 2/07) erhobene Forderung nach Anhebung der Hinzuverdienstgrenze auf 400 Euro für eine in voller Höhe bezogene Rente nun er- neut unberücksichtigt geblieben ist. Dies gilt umso mehr, als dass auch Rentenkassen und Arbeitgeber seit langem auf diese Änderung drängen, weil die bisherige Rege- lung zu häufig zu Missverständnissen führt. Viele Rent- ner und Arbeitnehmer nehmen an, dass die Mini-Job- Grenze von 400 Euro auch als Hinzuverdienstgrenze für Rentner gilt. Dies führt dann bei Überschreitung zu auf- wendigen und unverhältnismäßigen Rückforderungen und Rentenkürzungen um ein Drittel. Zum Schutze der Betroffenen, aber auch für eine er- hebliche Verwaltungsvereinfachung, bittet der Bundesrat daher um eine schnelle Umsetzung und um das Aufgrei- fen der in den beiden Stellungnahmen vom 16. Februar 2007 (Bundesratsdrucksache 2/07 (Beschluss)) und vom 21. September 2007 (Bundesratsdrucksache 543/07 (Be- schluss)) hierzu gemachten Anregungen. – Jahressteuergesetz 2008 (JStG 2008) Darüber hinaus hat er die nachstehende Entschlie- ßung gefasst: 1. Der Bundesrat spricht sich dafür aus, dass zeitgleich mit der Anhebung des Übungsleiterfreibetrages der neue Betrag in § 3 Nr. 26 Satz 1 des Einkommensteu- ergesetzes auch in § 1 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung über die ehrenamtliche Betätigung von Arbeitslosen und in Abschnitt 13 Abs. 3 der Lohnsteuerrichtlinien (zu § 3 Nr. 12 Satz 2 EStG) eingeführt wird. Begründung: Der steuerfreie Übungsleiterfreibetrag stimmt z. Zt. mit dem steuerfreien Mindestbetrag der Drittelregelung nach § 3 Nr. 12 Satz 2 EStG und dem Grenzbetrag nach § 1 Abs. 2 der Verordnung über die ehrenamtliche Betätigung von Arbeitslo- sen überein. Wenn mit dem Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements (Bundesratsdrucksache 579/07) der Übungsleiter- freibetrag angehoben wird, sollten auch die bei- den anderen Grenzwerte zeitgleich angehoben werden. 2. Der Bundesrat bedauert, dass auch durch das Jahres- steuergesetz 2008 eine angemessene und eindeutige steuerliche Begünstigung ehrenamtlicher rechtlicher Betreuer nicht erfolgt ist. An dieser Zielsetzung ist festzuhalten, denn der ehrenamtlichen Tätigkeit im Betreuungswesen kommt eine überragende Bedeu- tung zu. 68 Prozent aller neu eingerichteten Betreu- ungen werden ehrenamtlich geführt. Angesichts der demografischen und gesellschaftlichen Entwicklung ist damit zu rechnen, dass die Zahl der bundesweit bestehenden 1,2 Mio. Betreuungen weiter ansteigen wird. Der große persönliche Einsatz von ehrenamtlichen Betreuerinnen und Betreuern verdient es, wie ande- res ehrenamtliches Engagement auch steuerlich aner- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14211 (A) (C) (B) (D) kannt zu werden. Das geltende Steuerrecht bietet da- für verschiedene Beispiele. Die Länder sind auf dieses Engagement auch angewiesen, um die Ausga- bensteigerung im Betreuungswesen zu begrenzen. Jede ehrenamtliche Betreuung erspart die Bestellung von Berufsbetreuern. Während die ehrenamtliche Betreuung eines mittellosen Betreuten die Landes- kasse jährlich pauschal 323 Euro kostet, liegen die 2. hat beschlossen dem Gesetz gemäß Artikel 80 Abs. 2 des Grundgesetzes zuzustimmen. Der Vorsitzende des folgenden Ausschusses hat mit- geteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Ausgaben bei einer Berufsbetreuung mit der höchs- ten Vergütungsstufe je nach Unterbringung des Be- treuten im ersten Jahr zwischen 1 848 Euro und 2 970 Euro. Angesichts der bundesweit erheblichen Ausgaben für das Betreuungswesen (Gesamtausga- ben bundesweit 579 Mio. Euro im Jahr 2006 gegen- über 434 Mio. Euro im Jahr 2004) kommt der Förde- rung des Ehrenamtes höchste Priorität zu. – Gesetz zur Änderung des Investmentgesetzes und zur Anpassung anderer Vorschriften (Investmentände- rungsgesetz) Der Bundesrat 1. hat festgestellt, dass das Gesetz seiner Zustimmung bedarf Begründung zu Ziffer 1: Das Gesetz enthält in Artikel 1 Nr. 24 (§ 19f Abs. 3 InvG), 91 (§ 110 Abs. 7 InvG), 92 (§ 110a Abs. 5 InvG) und 95 Buchstabe d (§ 112 Abs. 4 InvG) Er- mächtigungen zum Erlass von Rechtsverordnungen ohne Zustimmung des Bundesrates. Nach Artikel 80 Abs. 2 GG bedürfen Rechtsverordnungen auf Grund von Bundesgesetzen, die von den Ländern im Auf- trag des Bundes oder als eigene Angelegenheiten ausgeführt werden, der Zustimmung des Bundesra- tes. Das Investmentgesetz ist ein Bundesgesetz auf dem Gebiet der Wirtschaft, das gemäß Artikel 83 GG mangels anderer Bestimmung im Grundgesetz von den Ländern als eigene Angelegenheit zu vollziehen ist. Zwar hat das Gesetz den Vollzug der Bundes- anstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht übertragen (vgl. §§ 4 und 5 InvG). Diese auf Grund des Arti- kels 87 Abs. 3 GG zulässige fakultative Bundesver- waltung durch eine bundesunmittelbare Anstalt des öffentlichen Rechts ändert nichts daran, dass das Grundgesetz für die Materie keine obligatorische Bundesverwaltung, sondern die Ausführung durch die Länder als eigene Angelegenheit vorsieht. Ein Gesetz, das die nach Artikel 80 Abs. 2 GG erforderli- che Zustimmung des Bundesrates ausschließt, ist sei- nerseits zustimmungsbedürftig (vgl. BVerfG, Be- schluss vom 24. Februar 1970 – 2 BvL 12/69 –, BVerfGE 28, 66 <76 ff.>). und Haushaltsausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushalts- und Wirtschaftsführung 2007 Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 11 13 Titel 636 85 – Zuschüsse zu den Beiträgen zur Rentenversicherung der in Werkstätten beschäftigten behinderten Men- schen – – Drucksachen 16/6765, 16/7053 Nr. 2 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushalts- und Wirtschaftsführung 2007 Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 11 13 Titel 636 22 – Erstattung von Aufwendungen der Deutschen Ren- tenversicherung Bund aufgrund der Überführung von Zusatzversorgungssystemen in die RV in den neuen Ländern (einschließlich ehemaliges Ost-Berlin) – – Drucksachen 16/6766, 16/7053 Nr. 3 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushalts- und Wirtschaftsführung 2007 Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 11 13 Titel 636 12 – Zuschuss des Bundes an die Künstlersozialkasse – – Drucksachen 16/6767, 16/7053 Nr. 4 – Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU- Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- tung abgesehen hat. Auswärtiger Ausschuss Drucksache 16/3060 Nr. 1.4 Drucksache 16/3382 Nr. 1.4 Drucksache 16/3713 Nr. 1.3 Drucksache 16/3713 Nr. 1.7 Drucksache 16/3713 Nr. 1.8 Drucksache 16/3713 Nr. 1.9 Drucksache 16/3713 Nr. 1.11 Drucksache 16/3713 Nr. 1.27 Drucksache 16/3713 Nr. 1.20 Drucksache 16/3897 Nr. 1.2 Drucksache 16/3897 Nr. 1.7 Drucksache 16/3897 Nr. 1.16 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksache 16/6865 Nr. 1.4 134. Sitzung Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7 Anlage 8 Anlage 9 Anlage 10
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613400000

Die Sitzung ist eröffnet.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich zur voraussichtlich letzten Ple-
narsitzung vor der Weihnachtspause.


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Soll das eine Drohung sein?)


Das wird uns alle in eine hoffentlich noch friedlichere
Stimmung versetzen, als sie diese Veranstaltungen ohne-
hin meist auszeichnet.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 sowie Zusatz-
punkt 8 auf:

30 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer-
Entsendegesetzes

– Drucksache 16/6735 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)


– Drucksache 16/7512 –

Rede
Berichterstattung:
Abgeordneter Paul Lehrieder

ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Rainer Brüderle, Martin Zeil, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Eine Chance für den Wettbewerb – Kein
Monopolschutz für die Deutsche Post AG

– zu dem Antrag der Abgeordne
Andreae, Brigitte Pothmer, Chris
weiterer Abgeordneter und d
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
tzung

14. Dezember 2007

.01 Uhr

Post braucht Wettbewerb – Wettbewerb
braucht faire Bedingungen

– Drucksachen 16/6432, 16/6631, 16/7510 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Barthel

Ich weise darauf hin, dass zur Annahme des Gesetz-
entwurfs zur Änderung des Arbeitnehmer-Entsendege-
setzes, über den wir später namentlich abstimmen wer-
den, nach Art. 87 Abs. 3 des Grundgesetzes die absolute
Mehrheit, also 307 Stimmen des Hauses, erforderlich ist.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das kriegen wir hin!)


– Im Augenblick noch nicht, Herr Kollege Brauksiepe,
wenn ich mir diesen Hinweis erlauben darf.

Außerdem liegen zu diesem Gesetzentwurf je ein Ent-
schließungsantrag der Fraktion der FDP und der Frak-
tion Die Linke vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Olaf Scholz.

text

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Olaf Scholz, Bundesminister für Arbeit und Sozia-
les:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wer-
den heute einen Beschluss fassen, der die Grundlage da-
für schafft, dass der zwischen Tarifvertragsparteien ver-
einbarte Mindestlohn für den Postsektor Wirklichkeit
werden kann. Das ist eine gute Botschaft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


gute Botschaft für diejenigen, die gerade
ihnachtszeit bei schlechtem Wetter die
l in Deutschland zustellen, weil sie nun
ten Kerstin
tine Scheel,
er Fraktion

Es ist eine
jetzt zur We
Briefe überal

wissen, dass sie eine sicherere Zukunft haben, als es

14102 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Olaf Scholz
ohne die Entscheidung, die wir heute treffen, der Fall ge-
wesen wäre. Es ist eine gute Botschaft für viele Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer, die heute Briefdienst-
leistungen erbringen. Sie wissen nämlich, sie werden am
1. Januar nächsten Jahres einen Anspruch auf höhere
Löhne haben.

Es ist auch eine gute Botschaft für diejenigen, die bei
der „alten“ Post arbeiten und sich seit langer Zeit Sorgen
machen, was eigentlich aus ihren Löhnen werden soll,
wenn Wettbewerber der Post dadurch Konkurrenz ma-
chen, dass sie geringere Löhne zahlen, als bei der Post
gezahlt werden.

Deshalb profitieren heute viele Menschen davon, dass
der Deutsche Bundestag ein Gesetz beschließt, das ihr
Leben verbessert.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es wird gesagt, das Gesetz, das wir heute beschließen,
und der Tarifvertrag, den wir nach der Beratung für all-
gemeinverbindlich erklären können, würden Arbeits-
plätze kosten. Ich halte das für professoralen Unsinn.
Aber aus meiner Sicht ist es sehr wohl notwendig, etwas
dazu zu sagen. Stimmt dieses Argument eigentlich? Es
spricht nichts dafür, dass es ein gutes Argument ist.
Denn in Zukunft werden wir im Bereich der Post Wett-
bewerb haben. Der Wettbewerb wird ab dem 1. Januar
des nächsten Jahres sogar zunehmen, weil mehr Wettbe-
werbsmöglichkeiten auf diesem Markt geschaffen wer-
den, als sie bis heute möglich sind.

Aber es findet ein Wettbewerb statt um das beste Ma-
nagement, um die beste Dienstleistungsstruktur und um
die besten Leistungen für die Kunden, die die Dienste
der Unternehmen in Anspruch nehmen. Aber es findet
kein Wettbewerb um die Frage statt, wer den geringsten
Lohn zahlt. Ich glaube, das ist eine gute Botschaft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Umsatzsteuerprivileg!)


Das Argument, dass der Mindestlohn im Postbereich
Arbeitsplätze kostet, ist auch deshalb falsch, weil dabei
von der Vorstellung ausgegangen wird, Briefe würden
nicht befördert werden, weil die Beschäftigten 2 Euro
mehr Stundenlohn bekommen. Diese Vorstellung kann
man in keiner Weise nachvollziehen. Es ist nämlich nicht
so, dass das Postvolumen zu- oder abnimmt, je nachdem,
ob Menschen, die diese Briefe zustellen, nur 7 Euro oder
9,80 Euro pro Stunde verdienen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber genau das ist die Behauptung, die hinter den Ar-
gumenten steckt, die einige uns hier immer wieder vor-
tragen. Gerade in dem Bereich, über den wir heute de-
battieren, kann man sich nicht verschwurbelt auf das
internationale Geschäft und auf die Globalisierung be-
ziehen. Wer seiner Oma einen Brief schreiben will, hat
keinerlei Probleme mit der Globalisierung. Es ist kein
Problem, wenn für Briefzusteller ein Mindestlohn von
9,80 Euro gezahlt werden wird.

(Beifall bei der SPD)


Darum stimmt das Argument nicht; das muss man ganz
eindeutig sagen. Was wir heute beschließen, kostet keine
Arbeitsplätze. Das Gegenteil ist wahrscheinlich richtig.
Es wird Arbeitsplätze schaffen, weil es ein zukunfts-
trächtiger Markt ist, auf den sich Menschen gerne orien-
tieren und auf dem sie aktiv werden wollen.


(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das glauben Sie ja selbst nicht! – Widerspruch des Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP])


– Herr Westerwelle, seien Sie doch nicht so aufgeregt.

Wir haben in der Koalition vereinbart, dass wir in der
nächsten Zeit zwei weitere Gesetze voranbringen wer-
den. Über diese will ich kurz ein paar Worte verlieren.

Es wird eine Weiterentwicklung des Arbeitnehmer-
Entsendegesetzes geben. Sie wissen, dass es mit der Ent-
scheidung von heute bereits drei Branchen gibt, die in
das Entsendegesetz aufgenommen worden sind: die Bau-
branche, die Gebäudereinigung und jetzt die Briefdienst-
leistungen.


(Dirk Niebel [FDP]: Wer ist der Nächste?)


Wir haben uns darauf verständigt, dass sich bis zum März
des nächsten Jahres Branchen melden können, in denen
Arbeitgeber und Gewerkschaften gemeinsam der Über-
zeugung sind, dass es notwendig ist, einen branchenbe-
zogenen Mindestlohn zu vereinbaren. Diese Branchen
werden wir dann in das Entsendegesetz zusätzlich auf-
nehmen.


(Beifall bei der SPD)


Es wird immer wieder gefragt, welche Branchen das
sind. Das können wir im Deutschen Bundestag nicht be-
antworten. Denn wir sind Anhänger der Tarifautonomie


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der FDP)


und werden deshalb beobachten, welche Branchen sich
melden. Ich wundere mich schon, wie schwer Sie sich
von der FDP mit Arbeitgebern tun, die sich zu solchen
Tarifentscheidungen bekennen. Ich glaube, Sie unter-
schätzen die Unterstützung für die Sozialpartnerschaft
und für Tarifverträge in Unternehmerkreisen. Es gibt
viele Unternehmer, die das für eine gute Sache halten
und die gerne einen heftigen Wettbewerb untereinander
führen, aber nicht indem sie ihre Arbeitnehmer schlech-
ter bezahlen als die anderen.


(Beifall bei der SPD)


Wir werden außerdem ein Gesetz aus der Adenauer-
Zeit in Richtung der heutigen Verhältnisse weiterentwi-
ckeln.


(Lachen des Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP])


Das Mindestarbeitsbedingungengesetz, das seit 1952
existiert, soll so modern gemacht werden, dass in Bran-
chen, in denen es keinerlei Schutz der Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer gibt und in denen sehr schlechte

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14103


(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Olaf Scholz
Löhne gezahlt werden, dafür gesorgt werden kann, dass
sich solche Bedingungen nicht weiter ausbreiten können.

Ich halte das für notwendig. Ich will aber auch ganz
klar sagen: Es ist unser Wunsch, dass es im Regelfall
überhaupt keine Regelung gibt, weil sich im normalen
Tarifgeschehen alles von selbst regelt.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Unser Wunsch ist, dass wir, wenn das nicht funktioniert,
mithilfe des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes dafür sor-
gen, dass tarifliche Vereinbarungen überall gelten. Wir
brauchen aber zusätzlich die Möglichkeit, um dort, wo
schlimme soziale Missstände herrschen, einzugreifen
und anständige Löhne durchzusetzen. Ich glaube, das ist
unsere Aufgabe.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich glaube im Übrigen, dass wir mit dem, was wir
hier heute tun, einen kleinen Beitrag zur Beantwortung
einer Frage leisten, die uns viele Menschen derzeit stel-
len. Sie sagen: „Es gibt einen Aufschwung; das sieht
man.“ Das kann man zum Beispiel beim Nachbarn se-
hen, der früher arbeitslos war und jetzt einen Job hat.
„Ich persönlich merke von der positiven wirtschaftlichen
Entwicklung aber nichts.“ Weil ein großer Teil der Men-
schen das sagt, müssen wir eine Antwort auf die Frage
geben, was wir dazu beitragen können, damit sich auch
bei ihnen etwas positiv entwickelt. Eine Absicherung der
Löhne nach unten ist natürlich ein guter Beitrag dazu,
dass der Aufschwung auch tatsächlich bei allen Men-
schen in unserem Land ankommen kann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Galileo Galilei hat es schwer gehabt, als er die Auf-
fassung durchsetzen wollte, dass die Erde keine Scheibe
ist.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Zumal ohne Mindestlohn!)


Wir haben es in Deutschland gegenwärtig schwer, die
Behauptung zu verbreiten, dass in fast allen mit uns ver-
gleichbaren Ländern Mindestlöhne Realität sind.


(Dirk Niebel [FDP]: Ohne Kündigungsschutz ist das doch etwas ganz anderes!)


Denen, die skeptisch sind, sage ich: Schauen Sie sich um
in der Welt, und Sie werden feststellen, dass es in fast al-
len Staaten, die mit uns vergleichbar sind, gesetzliche
Mindestlöhne gibt, und sie haben dort weder Auf-
schwung noch Wohlstand noch Vollbeschäftigung behin-
dert. Das ist eine Mär, die uns hier erzählt wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sogar in den Vereinigten Staaten von Amerika gibt es
Mindestlöhne. Amerikaweite Mindestlöhne, die der
Kongress beschließt und die er gerade vor kurzem wie-
der angehoben hat! Das ist ein Beispiel dafür, dass man-
ches von dem, was hier über die Gefahren der Mindest-
löhne erzählt wird, schlichtweg eine Erfindung ist, für
die man in keinem Land der Welt einen Beweis findet.


(Beifall bei der SPD)


Wir haben in Europa ein sehr gutes Beispiel: Groß-
britannien. In Großbritannien wurden Ende der 90er-
Jahre Mindestlöhne eingeführt; übrigens, nachdem dort
Reformen gemacht worden sind, die dem entsprechen,
was wir hier als Arbeitsvermittlungsreformen durchge-
führt haben.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sagen Sie ruhig „Hartz“!)


– „Hartz-Reformen“ sagen einige. Ich habe aber schon
immer „Arbeitsvermittlungsreformen“ gesagt. – Wir ha-
ben also ebenso wie Großbritannien Arbeitsvermitt-
lungsreformen durchgeführt. Nach diesen Reformen
sind dort Mindestlöhne eingeführt worden. All die Fra-
gen, über die wir hier zu diskutieren haben, kann man
mit Blick auf dieses Land beantworten. Das gilt zum
Beispiel für die Frage: Kostet das Arbeitsplätze? In
Großbritannien hat das keine Arbeitsplätze gekostet.
Dort herrscht Vollbeschäftigung. Man braucht sogar eine
Arbeitskräftezuwanderung, um alle im Land existieren-
den Arbeitsplätze besetzen zu können. Manche Leute,
die früher nach Deutschland gekommen sind, um hier
eine Saisonarbeit auszuführen, gehen jetzt übrigens nach
Großbritannien – wegen der Mindestlöhne. Das ist ein
Beleg dafür, dass man Wachstum mit solchen Mitteln so-
gar befördern kann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Den vielen Zwischenrufern, die sagen, dass es da
zwar Mindestlöhne, aber keinen Kündigungsschutz
gibt, will ich noch etwas sagen: Ich bitte Sie, sich auch
diesbezüglich ein bisschen in der Welt umzuschauen.


(Dr. Peter Struck [SPD]: Das kann Herr Niebel nicht! – Andrea Nahles [SPD]: Er braucht eine Brille!)


Man sollte über die Globalisierung nicht nur reden und
sagen: Es soll da draußen eine Welt geben, und die ist
schwierig. – Globalisierung heißt auch, dass man sich in
der Welt umschaut. Wenn man das tut, stellt man fest,
dass die Behauptung, dass es anderswo keine Kündi-
gungsschutzbestimmungen gibt, eines der meistverbrei-
teten Gerüchte in diesem Land ist. Viele Länder in Eu-
ropa, die Kündigungsschutzregelungen haben, die härter
und strikter als in der Bundesrepublik Deutschland sind,
haben zugleich Mindestlohnregelungen. Deshalb ist auch
diese Behauptung kein Beweis, sondern nur ein weiteres
nicht überzeugendes Argument gegen das, was wir hier
heute tun.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Meine Damen und Herren, Politik ist dazu da, dass
sich das Leben der Menschen verbessert. Wir leisten
heute mit diesem Gesetz einen Beitrag dazu, dass das
Leben vieler Menschen ab dem 1. Januar nächsten Jah-

14104 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Bundesminister Olaf Scholz
res besser wird. Ich glaube, darauf können wir gemein-
sam stolz sein.

Schönen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613400100

Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Guido

Westerwelle, FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1613400200

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Herr Minister, Ihnen geht es heute nicht um den
Schutz von Arbeitnehmern.


(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Doch!)


Ihnen geht es heute darum, einen Staatsmonopolisten
mit dem Namen Post zu schützen.


(Widerspruch bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Das ist jetzt aber nicht richtig!)


Das ist das Anliegen, das heute durch den Deutschen
Bundestag gebracht wird.


(Beifall bei der FDP)


Wenn es Ihnen darum gehen würde, Politik für die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu machen, und
wenn es Ihnen darum gehen würde, die Gerechtigkeits-
lücke zu schließen, dann müssten Sie unserem Volk die
Nettofrage beantworten: Was nutzt den Arbeitnehmern
denn ein Bruttomindestlohn, der auf dem Papier steht,
wenn Sie als Regierung ihnen durch Steuer- und Abga-
benerhöhungen immer weniger netto in der Tasche be-
lassen? Das ist die soziale Frage, die beantwortet werden
muss.


(Beifall bei der FDP – Andrea Nahles [SPD]: Haben Sie Ihren Redetext von vor fünf Jahren?)


Diese Bundesregierung beklagt eine Gerechtigkeits-
lücke, die sie selber geschaffen hat.


(Beifall bei der FDP)


Sie haben dafür gesorgt, dass die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer weniger Geld in der Tasche haben als
im vorigen Jahr. Jetzt wundern Sie sich, dass die Mehr-
heit unseres Volkes sagt: Der Aufschwung geht an uns
vorbei.


(Rolf Stöckel [SPD]: Was macht denn die FDP in Nordrhein-Westfalen dagegen?)


Eine durchschnittliche vierköpfige Familie hat auf-
grund Ihrer Steuer- und Abgabenerhöhungspolitik in
diesem Jahr 1 600 Euro weniger zur Verfügung als im
letzten Jahr. Da können Sie doch nicht zulasten der Wirt-
schaft mit Mindestlöhnen kommen! Sie müssen den
Handlungsspielraum des Staates endlich auf seine Kern-
aufgaben begrenzen. Greifen Sie den Bürgern weniger in
die Tasche.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Genau das machen wir!)


Dann haben die Menschen mehr Netto vom Brutto. Das
ist sozial und im Sinne derjenigen, die arbeiten und den
Karren in Deutschland ziehen.


(Beifall bei der FDP – Andrea Nahles [SPD]: Sie lenken ab!)


Herr Minister, weil Sie das Entsendegesetz angeführt
haben, möchte auch ich etwas dazu sagen. Das Entsen-
degesetz ist Mitte der 90er-Jahre verabschiedet worden,


(Klaus Barthel [SPD]: Als Sie noch an der Regierung waren!)


um Deutschland bzw. deutsche Unternehmen in Anbe-
tracht der EU-Osterweiterung vor ausländischer Bil-
ligstkonkurrenz und vor Dumpingangeboten zu schüt-
zen.


(Andrea Nahles [SPD]: Richtig!)


Mit diesem Gesetz verfolgte man also das Ziel, deutsche
Unternehmen zu schützen, und zwar vorzugsweise vor
osteuropäischer Dumpingkonkurrenz. Jetzt verwenden
Sie das Entsendegesetz, um einen deutschen Monopolis-
ten vor deutscher Konkurrenz zu schützen, und das zu-
lasten von Zehntausenden Arbeitsplätzen, die dadurch
über die Wupper gehen.


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!)


Das, was Sie hier beschließen, ist unsozial.


(Beifall bei der FDP)


Meine Damen und Herren, es ist bemerkenswert, dass
ein sozialdemokratischer Arbeitsminister allen Ernstes
amerikanische Verhältnisse fordert, die Sie sonst wie der
Teufel das Weihwasser fürchten. Ich will übrigens, an-
ders als Sie, keine amerikanischen Verhältnisse.


(Andrea Nahles [SPD]: Das ist jetzt aber ganz billig!)


Deswegen möchte ich auch nicht, dass wir in Deutsch-
land ein Entsendegesetz mit Mindestlöhnen à la Amerika
beschließen. Dort gibt es keine Tarifautonomie, dort gibt
es keine gut organisierten Interessenvertretungen auf Ar-
beitnehmer- und Arbeitgeberseite, und dort gibt es kei-
nen Kündigungsschutz, wie wir ihn kennen. Sie sollten
einmal auf einem SPD-Parteitag sagen, dass Sie uns al-
len Ernstes empfehlen, in Deutschland für amerikani-
sche Verhältnisse zu sorgen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Mal sehen, ob Sie dort lebend herauskommen.


(Beifall bei der FDP – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Bestimmt! Auf einem SPD-Parteitag darf man doch alles sagen!)


Im Übrigen möchte ich festhalten, dass es in keinem
Land der Welt einen Mindestlohn in Höhe von 9,80 Euro
gibt. Das, was Sie beschließen, ist der höchste Mindest-
lohn der Welt. Auch das muss, wenn es um die Wettbe-
werbsfähigkeit unseres Landes geht, gesagt werden.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14105


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Guido Westerwelle
Viele Abgeordnete aus den Reihen der Union argu-
mentieren genauso, wie wir es tun; Ihre Begeisterung
steht Ihnen doch ins Gesicht geschrieben. Ich stelle fest,
d
Dagmar G. Wöhrl (CSU):
Rede ID: ID1613400300


Was vereinbart wurde, ist ökonomisch falsch. Der
Mindestlohn führt zu Arbeitsplatzverlusten und
verhindert, dass mehr Geringqualifizierte eine Ar-
beit finden.


(Beifall bei der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Recht hat Frau Wöhrl!)


Sie ist eine kluge Parlamentarische Staatssekretärin.
Aber dass der Bundeswirtschaftsminister in dieser De-
batte zulasten des Mittelstandes hier fehlt, ist nicht ein-
mal durch ein Geburtstagsfest zu erklären.


(Beifall bei der FDP)


Ich möchte zitieren, was der Ministerpräsident des
Landes Thüringen frisch am heutigen Tage dazu veröf-
fentlicht.


(Frank Spieth [DIE LINKE]: Ach Gott, den als Zeugen!)


Er sagt:

Es ist schön, wenn ein Mindestlohn gezahlt wird.
Wenn er aber zum Abbau von Arbeitsplätzen und
zur Stabilisierung eines Monopols führt, dann lehne
ich ihn ab.

Das sagte der Ministerpräsident am heutigen Tage.

Weil in der Debatte noch ein Vertreter der wirtschaft-
lich denkenden Unionsabgeordneten sprechen wird,
nämlich Herr Kollege Meyer, richte ich das Wort an ihn:
Wenn Sie selbst am heutigen Tage sagen, dieses Gesetz
sei – wörtlich – „ein bisschen dazu missbraucht“ wor-
den, „die Wettbewerbssituation für die Zukunft im Inte-
resse der Post zu beeinflussen“, dann können Sie, meine
Damen und Herren von der Union, heute nicht zustim-
men.


(Beifall bei der FDP)


Nun sprechen wir gelegentlich auch über das, was mit
einem angeblichen Niedriglohn und mit Billigstkonkur-
renz gemacht wird. Wir wollen, an die Adresse der So-
zialdemokraten gerichtet, eines festhalten: Sie sagen,
dass die privaten Wettbewerber schäbige Löhne anbie-
ten.


(Andrea Nahles [SPD]: Richtig!)


– „Richtig“ rufen Sie von der SPD. – Ich möchte Ihnen
eines sagen: Sie als SPD sind selber indirekt an der
PIN AG beteiligt.


(Zurufe von der FDP: Pfui!)


Ihnen gehört ein Teil des Unternehmens über ihre Ver-
mögensbeteiligungen. Sie können doch nicht hier im
Deutschen Bundestag die Politik eines Unternehmens als
unsozial kritisieren, das Ihnen selbst zum Teil gehört.
Das, was Sie hier machen, ist eine unglaubwürdige Poli-
tik.

(Beifall bei der FDP)


Kasse machen mit niedrigen Löhnen und hier darüber
klagen – das ist wirklich ein starkes Stück.


(Beifall bei der FDP – Dirk Niebel [FDP]: So was Scheinheiliges!)


Schließlich wollen wir auch einmal darüber reden,
warum denn die Löhne bei den privaten Wettbewerbern
niedriger als die sind, die von dem Staatsmonopolisten
Post gezahlt werden. Das wissen viele unserer Bürgerin-
nen und Bürger nicht. Die Post zahlt keine Mehrwert-
steuer in Höhe von 19 Prozent, während die Privaten die
volle Mehrwertsteuerlast zu tragen haben. Ein solcher
Kostenvorteil ist unfair. Dass Private dann versuchen,
anders zurechtzukommen, ist marktwirtschaftlich nach-
vollziehbar, wenn auch sozial falsch. Deswegen wäre es
Ihre Aufgabe, wenigstens an das Mehrwertsteuerprivileg
heranzugehen. Aber nicht einmal das trauen Sie sich
mittlerweile.


(Beifall bei der FDP)


Sie – als Deutscher Bundestag – beschließen ein Ge-
setz und nutzen die gesetzgeberische Macht des Staates,
damit Anteile des Staates wertvoller werden. Dieser
Staat, der durch die Bundesregierung vertreten wird, hat
durch die Mindestlohnentscheidung allein durch das
Aktienpaket, das Deutschland an der Post hält, einen Ge-
winn von ungefähr 1,5 Milliarden Euro gemacht. Es ist
ein einmaliger Vorgang, dass der Gesetzgeber seine
Macht nutzt, damit der Staat unter Ausschaltung privater
Konkurrenz Kasse machen kann. Normal ist das nicht,
und auch mit Marktwirtschaft hat das nichts zu tun.


(Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Deswegen appelliere ich an Sie: Das ist eine der fol-
genschwersten Entscheidungen gegen die soziale Markt-
wirtschaft,


(Zurufe von der SPD: Oh!)


weil sie nämlich die Tarifautonomie infrage stellt und
diese durch staatliche Lohnfestsetzung ersetzen will.
Dass das von Linken, von Sozialdemokraten und auch
von einem Teil der Grünen gewollt ist, ist nichts Neues.
Dass Sie von der Union das mitmachen, ist enttäuschend
bis empörend.


(Beifall bei der FDP)


Wo sind denn Ihre Mittelständler? Wo sind denn Ihre
Leute, die die soziale Marktwirtschaft und Ludwig
Erhard noch ernst nehmen? Dass Sie, Herr Kollege
Brauksiepe, als Sozialdemokrat damit vielleicht nicht
einverstanden sind,


(Heiterkeit bei der FDP)


kann ich verstehen. Aber wo sind denn die Mittelständ-
ler der Union? Sie müssten jetzt einmal ihre Loyalität
zur Verfassung zeigen. Soziale Marktwirtschaft ist bes-
ser als bürokratische Staatswirtschaft. Diese Festsetzung
staatlicher Löhne ist der Weg in die Planwirtschaft. Dann
können wir auch gleich die Preise festsetzen. Das ist

14106 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Guido Westerwelle
DDR – nur ohne Mauer. Wir Freien Demokraten wollen
etwas anderes.


(Anhaltender Beifall bei der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Das hilft trotzdem nichts!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613400400

Der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe ist der nächste Red-

ner für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1613400500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

haben jetzt weite Ausflüge in viele politische Felder ge-
hört, die zum Teil wenig mit dem zu tun haben, was
heute hier zur Debatte steht.


(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der FDP)


Ich will mit ein paar Hinweisen zu dem beginnen, was
Sie, Herr Kollege Westerwelle, gesagt haben. Sie müss-
ten Ihr Büro einfach bitten, die Redetexte ein bisschen
zu aktualisieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Widerspruch bei der FDP)


Wahr ist, dass Sie vor vier Wochen in diesem Hause
dagegen gestimmt haben, dass der Beitrag zur Arbeits-
losenversicherung erneut – und zwar auf 3,3 Prozent –
gesenkt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Widerspruch bei der FDP)


Wahr ist aber auch, Herr Kollege Westerwelle, dass die-
ses Haus das trotzdem so beschlossen hat. Wir haben Ar-
beitgeber und Arbeitnehmer in dieser Legislaturperiode
allein bei der Arbeitslosenversicherung um 25 Milliar-
den Euro pro Jahr entlastet. Das ist die Tendenz von
Brutto und Netto in Deutschland. Nehmen Sie das bitte
einmal zur Kenntnis, auch wenn Sie es vergeblich be-
kämpft haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Widerspruch bei der FDP)


Es mag ja sein, Herr Kollege Westerwelle, dass Sie
die für die Briefdienstleister vereinbarten Löhne für zu
hoch halten. Wir, die Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, halten uns aus materiellen Fragen der Lohn-
findung heraus.


(Lachen bei der FDP – Dirk Niebel [FDP]: Was?)


Aber auch diesbezüglich sollten Sie die Realität zur
Kenntnis nehmen. Das Briefdienstleistergewerbe ist die
dritte Branche, die in das Entsendegesetz aufgenommen
wird. Sowohl in der Baubranche als auch bei den Gebäu-
dereinigern haben wir in den verschiedenen Entgeltstu-
fen, die es da gibt, in der Spitze Mindestlöhne im zwei-
stelligen Bereich, also von über 10 Euro. Es ist schlicht
die Unwahrheit, wenn man behauptet, für die Briefzu-
steller würden die höchsten Mindestlöhne überhaupt ver-
einbart. Nehmen Sie in diesen Fragen bitte wenigstens
die Realität zur Kenntnis, Herr Kollege Westerwelle.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich komme nun zu dem, was hier heute tatsächlich zur
Abstimmung steht. Die Große Koalition hat sich im letz-
ten Juni darauf verständigt, in diesem Land keinen flä-
chendeckenden, einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn
einzuführen, sondern tariflichen Mindestlohnvereinba-
rungen dort zum Durchbruch zu verhelfen, wo es von
den Tarifpartnern gewünscht wird. Wir haben gesagt,
dass wir die Tarifpartner stärken wollen. Wir wollen sie
nicht ersetzen. Das ist der richtige Weg, der gemäß der
Vereinbarung von Meseberg von der Bundesregierung
für die Briefdienstleistungen eingeschlagen worden ist.

Wir sind inzwischen alle um ein paar Erfahrungen rei-
cher. Wir haben inzwischen zwei neue Arbeitgeberver-
bände. Wir haben eine neue sogenannte Gewerkschaft,
die erste, die für niedrige Löhne kämpft.


(Beifall bei der SPD – Ludwig Stiegler [SPD]: Eine FDP-Gewerkschaft!)


Für uns als CDU/CSU bleibt es dabei: Wer für tarifliche
Mindestlöhne ist, muss ein Interesse daran haben – wir
haben dieses Interesse –, dass möglichst viele Beteiligte
einer Branche in eine freiwillige Verhandlungslösung
einbezogen werden.

Deswegen ist das Kriterium der 50-prozentigen Ta-
rifbindung auch nicht willkürlich. Wir wissen, dass eine
Allgemeinverbindlichkeitserklärung in einer sozialen
Marktwirtschaft ein scharfes Schwert ist. Deswegen ist
es unserer Meinung nach notwendig, dass die Mehrheit
der Beteiligten einer Branche eine Vereinbarung
schließt; diese muss dann zur Not auch für die Minder-
heit gelten. Es darf nicht umgekehrt sein, sodass Minder-
heiten für Mehrheiten verhandeln.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Deswegen haben wir unserem Koalitionspartner
schon in der letzten Sitzung des Koalitionsausschusses
vorgeschlagen, einen Mindestlohn für Briefdienstleister
einzuführen, wenn der entsprechende Betrieb oder die
selbstständige Betriebsabteilung überwiegend gewerbs-
oder geschäftsmäßig Briefsendungen für Dritte beför-
dert. Das war unser Vorschlag: ein Mindestlohn für
Briefdienstleister, für diejenigen, die überwiegend Brief-
dienstleistungen erbringen – für wen auch sonst, liebe
Kolleginnen und Kollegen?

Leider hat sich unser Koalitionspartner noch vor we-
nigen Wochen außerstande gesehen, diesen Weg mitzu-
gehen. Es hat dann Äußerungen von unserem Koali-
tionspartner gegeben, man solle das Thema liegen
lassen.


(Andrea Nahles [SPD]: Geschichtsklitterung! – Ludwig Stiegler [SPD]: Keine Weihnachtsmärchen!)


Wir haben als CDU/CSU immer klar gesagt: Die Tür
steht offen. Denn natürlich sehen wir, dass es in diesem
Sektor ein Problem gibt, das gelöst werden muss. Wir
sind froh, dass die Tarifvertragsparteien uns inzwi-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14107


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Ralf Brauksiepe
schen recht gegeben haben. Wir haben gesagt: Wir wol-
len einen Mindestlohn für diejenigen, die überwiegend
Briefdienstleistungen erbringen. Es ist gut, dass die Ta-
rifvertragsparteien dem nun nachgekommen sind und ei-
nen neuen Tarifvertrag abgeschlossen haben, in dem sie
exakt das vereinbart haben, was wir für sinnvoll halten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Struck’sche Gesetz gilt auch in dieser Frage:
Nicht nur die Tarifvertragsparteien haben sich bewegt,
auch unser Koalitionspartner hat das inzwischen akzep-
tiert. So wird dieses Gesetz heute in geänderter Fassung
beschlossen, nachdem klargemacht wurde: Wir machen
einen Mindestlohn für diejenigen, die überwiegend
Briefdienstleistungen erbringen.

Im Ergebnis können wir feststellen: Wir haben unsere
Forderungen durchgesetzt, wir haben Kurs gehalten, und
wir halten Wort. Deswegen ist es gut, wenn unter den
von uns formulierten vernünftigen Bedingungen der
Mindestlohn für Briefdienstleister jetzt kommt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will noch einmal deutlich sagen: Wir wollen
Wettbewerb in der Briefdienstleistungsbranche, und es
wird diesen Wettbewerb geben. Sie sprachen von
Ludwig Erhard, Herr Kollege Westerwelle. Deshalb will
ich Ihnen sagen: Dieses Land ist nach dem Zweiten
Weltkrieg nicht durch einen Wettbewerb um möglichst
niedrige Löhne wirtschaftlich stark geworden, dieses
Land ist durch Wettbewerb um die besten Ideen, um
Qualität, um Innovation stark geworden. Ludwig Erhard
hat gesagt: Wohlstand für alle! Das haben Sie einmal un-
terstützt. Wohlstand für alle ist etwas anderes als Tarif-
löhne oder Mindestlöhne unter 6 Euro. Wohlstand für
alle ist damit nicht zu machen. Wir stehen für Wohlstand
für alle und nicht für Billiglöhne, liebe Kolleginnen und
Kollegen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Natürlich schmerzen uns Ankündigungen, dass Ar-
beitsplätze verloren zu gehen drohen. Wir wissen aller-
dings, dass die Große Koalition keine Möglichkeit hatte,
solchen Drohungen durch Tun oder Unterlassen zu ent-
gehen; denn die einen haben gedroht, 32 000 Mitarbeiter
zu entlassen, wenn wir nichts machen, und die anderen
haben mit Entlassungen gedroht für den Fall, dass wir
etwas machen. Deshalb sage ich klipp und klar – ich
denke, das kann ich für die ganze Große Koalition sagen –:
Wir lassen uns durch Drohungen nach dem Motto „Wer
droht mit mehr Entlassungen?“ nicht einschüchtern. Wir
haben uns auf Grundsätze verständigt, die vernünftig
sind. Weil diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann es
nun einen tariflichen Mindestlohn für Briefdienstleister
geben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Was lehren uns die letzten Monate? Zunächst einmal:
CDU und CSU halten sich an Vereinbarungen. Das heißt
auch: Es kommt nur das, was die Große Koalition ver-
einbart hat. Für die Zukunft heißt das im Übrigen: Wir,
CDU und CSU, versuchen weder, Branchen zu überre-
den, Anträge zur Aufnahme in das Arbeitnehmer-Ent-
sendegesetz zu stellen, noch, das nicht zu tun. Wir re-
spektieren die Entscheidung der Tarifvertragsparteien,
ob sie wollen, dass ihre Branche in das Arbeitnehmer-
Entsendegesetz aufgenommen wird oder nicht.

Wir haben in der Koalition vereinbart, dass sich die
Branchen bis zum 31. März 2008 melden können. Dann
machen wir ein einziges Gesetz, nicht etwa eines je
Branche. Das heißt allerdings, dass Tricksereien in ein-
zelnen Branchen das ganze Verfahren verzögern können.
Deswegen empfehle ich allen in den Branchen, gerade
den Arbeitgebern: Versuchen Sie nicht, einen Sport da-
raus zu machen, das Kriterium, dass 50 Prozent der in
der Branche Beschäftigten der Tarifbindung unterliegen
müssen, möglichst knapp zu erfüllen! Das kann ein Spiel
mit dem Feuer werden. Es muss darum gehen, möglichst
viele – möglichst alle – in solche Branchenvereinba-
rungen einzuschließen. Das ist das, was die CDU/CSU
in dieser Frage anstrebt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Man mag in diesen Fragen unterschiedlicher Auffas-
sung sein. Deshalb ist es wichtig, sich ein paar Fakten
zum Thema Mindestlohn in Erinnerung zu rufen. Zu die-
sen Fakten gehört: Es gab und gibt in Deutschland aus
guten Gründen keinen flächendeckenden gesetzlichen
Mindestlohn. Das hat keine Partei in der Vergangenheit
getan.

Es gibt das Arbeitnehmer-Entsendegesetz seit 1996,
um tariflichen Mindestlohnvereinbarungen in der
Bauwirtschaft den Weg zu bereiten. Es wurde also unter
einer Koalition von CDU/CSU und FDP eingeführt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das sah aber anders aus!)


In der jetzigen Großen Koalition wurde eine Erweite-
rung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes um die Gebäu-
dereiniger und die Briefdienstleister beschlossen.

Das ist das, was hinsichtlich der gesetzlichen und ta-
riflichen Mindestlöhne in der Geschichte dieses Landes
gemacht worden ist. Das heißt: CDU, CSU, SPD und
FDP sind die Parteien für tarifliche Mindestlöhne in
Deutschland – diese und keine anderen, ob es Ihnen
passt oder nicht.

Wahr ist auch: Die Union war immer dabei. Alle tarif-
lichen Absicherungen von Mindestlöhnen sind unter der
CDU-Kanzlerin und den CDU-Kanzlern eingeführt wor-
den. Wahr ist auch: Sie von den Grünen waren nie dabei.
Sie haben viel geredet, getan haben Sie in diesem Be-
reich nichts. Nicht eine Branche haben Sie in sieben Jah-
ren rot-grüner Regierung in das Arbeitnehmer-Entsende-
gesetz aufgenommen, obwohl es das Gesetz schon gab.
Auf eine späte Erkenntnis können Sie sich also nicht be-
rufen. Sie reden viel, getan haben Sie nichts. Als Sie an
der Regierung waren, ist die Arbeitslosigkeit gestiegen.
Eine Absicherung der Menschen im Lohnbereich nach
unten hat es bei Ihnen nicht gegeben. Das ist die Wahr-
heit.


(Beifall bei der CDU/CSU)


14108 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Ralf Brauksiepe
Die FDP war auch schon einmal besser. Sie waren da-
mals, als der tarifliche Mindestlohn erfunden wurde, da-
bei. Sie waren Miterfinder dieses tariflichen Mindest-
lohns.


(Zuruf von der SPD: So ist das!)


Deswegen sagt Norbert Blüm bis heute zu mir, dass der
Heinrich Kolb damals im Wirtschaftministerium ein gu-
ter Mann war. Er hat mitgeholfen, dem tariflichen Min-
destlohn den Weg zu bahnen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Herr Westerwelle, ich habe auch das noch einmal nach-
gelesen: Sie sind genau rechtzeitig zur Verabschiedung
des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes 1996 in den Bun-
destag nachgerückt. Herzlich Willkommen also im Club
derer, die für tarifliche Mindestlöhne in diesem Land
streiten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Nein, nein!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613400600

Herr Kollege Brauksiepe, darf der Kollege Kolb eine

Zwischenfrage stellen?


Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1613400700

Selbstverständlich.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1613400800

Einspruch, Herr Kollege Brauksiepe! Weil ich genau

wusste, dass das von Ihrer Seite kommen würde, habe
ich mir das noch einmal im Detail angeschaut.


Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1613400900

Sie haben sich der Stimme enthalten; das ist wahr.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1613401000

Wenn Sie sich das auch noch einmal anschauen, dann

werden Sie feststellen, dass das Arbeitnehmer-Entsende-
gesetz von damals mit dem Arbeitnehmer-Entsendege-
setz von heute allenfalls noch die Überschrift gemein
hat.

Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz in seiner ursprüng-
lichen Fassung war auf September 1999 begrenzt. Das
heißt, das, was Liberale immer fordern, nämlich einen
Eingriff zeitlich zu begrenzen, war Gegenstand dieses
Arbeitnehmer-Entsendegesetzes in seiner ursprüngli-
chen Fassung. Es war auf den Baubereich begrenzt und
an die Voraussetzung der Zustimmung des Tarifaus-
schusses geknüpft. All das wurde von Rot-Grün in dem
Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur
Sicherung der Arbeitnehmerrechte im Dezember 1998
beseitigt.


(Zuruf von der SPD: Das war auch gut so!)

Deswegen ist dieses Gesetz heute ein vollkommen ande-
res als das damalige. Deshalb weise ich Ihren Vorwurf
mit Nachdruck zurück.


(Beifall bei der FDP)


Stimmen Sie mir zu?


(Heiterkeit bei der FDP)



Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1613401100

Herr Kollege Kolb, zunächst einmal bitte ich, zur

Kenntnis zu nehmen, dass die Große Koalition unabhän-
gig von dem Wortlaut des aktuell geltenden Arbeitneh-
mer-Entsendegesetzes vereinbart hat, dass nur die Bran-
chen ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen
werden, bei denen es beide Tarifparteien wollen


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


und bei denen es eine Tarifbindung von über 50 Prozent
gibt. Das ist nicht die Formulierung in dem Arbeitneh-
mer-Entsendegesetz in der heutigen Fassung, sondern in
der Großen Koalition politisch vereinbart. Ich bitte, das
einmal zur Kenntnis zu nehmen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was ihr vereinbart, ist uns egal! Der Tarifausschuss ist etwas anderes!)


Da ich diese Zwischenfrage erwartet habe, kann ich
Ihnen auch bestätigen,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das klingt so, als ob wir das abgesprochen haben!)


dass Sie sich, nachdem Sie mit Norbert Blüm alle Vorar-
beiten getroffen hatten, am Ende als einer von drei Frak-
tionskollegen an dieser Stelle enthalten haben. Das ist
wahr.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Richtig!)


Das sei Ihnen nach den guten Vorarbeiten aber verzie-
hen.

Ich will Sie aber einmal auf die Zielsetzung hinwei-
sen, die damals im Gesetzentwurf der Bundesregierung
genannt worden ist. Es wurde gesagt: Es sollen gespal-
tene Arbeitsmärkte und die aus ihnen resultierenden so-
zialen Spannungen vermieden werden. – Das ist doch
ein gutes Ziel. Darum ging es damals, und darum geht es
beim Arbeitnehmer-Entsendegesetz auch heute.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Darum ist es richtig, dass wir das damals gemacht haben.
Sie waren damals viel besser, als Sie uns heute selbst
suggerieren wollen, lieber Herr Kollege Kolb.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Da sind sich die Sozis einig!)


Am Ende eines langen Prozesses können wir heute
den Mindestlohn für Briefdienstleister auf den Weg brin-
gen. Es ist ein Erfolg der Großen Koalition, dass das un-
ter diesen Bedingungen gelungen ist. Es war ein nicht
ganz einfacher Weg. Völlig klar ist, dass wir die Ent-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14109


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Ralf Brauksiepe
wicklung auf dem Arbeitsmarkt – in allen Branchen im
Übrigen – sorgfältig beobachten werden. Für uns ist völ-
lig klar: Wir gehen zuversichtlich in die weitere Arbeits-
marktpolitik. Wir haben heute 1,3 Millionen Arbeits-
plätze im sozialversicherungspflichtigen Bereich mehr
als zu Beginn der Amtszeit der Regierung Merkel. Wir
sehen der weiteren Entwicklung sehr zuversichtlich ent-
gegen. Deswegen können wir heute dem Mindestlohn
für Briefdienstleister zustimmen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613401200

Oskar Lafontaine ist der nächste Redner für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Oskar Lafontaine (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613401300

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Meine Fraktion stimmt der Vorlage zur Einführung
eines Mindestlohns zu. Wir stimmen auch der eröffnen-
den Bemerkung des Bundesarbeitsministers zu, dass die-
ses Gesetz eine positive Nachricht für viele Menschen
ist, die davon betroffen sind. Insofern werden wir diesem
Gesetzentwurf zustimmen.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Guido Westerwelle [FDP], zur CDU/CSU gewandt: Das ist eure Gesellschaft!)


Wir sind auch der Auffassung, dass die bisher gegen
den Mindestlohn ins Feld geführten Argumente nicht
tragen. Das gilt insbesondere für die Argumente, die
Kollege Westerwelle von der FDP hier vorgetragen hat.
Ich möchte Ihnen, Herr Kollege Westerwelle, vorhalten,
dass Sie ein fundamentales Missverständnis von der
Funktionsweise der sozialen Markwirtschaft haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Dieses fundamentale Missverständnis besteht darin, dass
der Wettbewerb in einer sozialen Markwirtschaft auch
einen Wettbewerb um möglichst niedrige Löhne zulässt.
Genau das haben Sie hier vorgetragen. Dies hat mit der
Idee der sozialen Marktwirtschaft überhaupt nichts zu
tun. Auch insoweit kann ich die Ausführungen des Bun-
desarbeitsministers hier unterstützen.

An die Adresse der CDU/CSU möchte ich sagen, dass
in Ihren Reihen einst ein Bundestagsabgeordneter war,
Franz Böhm, der die Funktionsweise der sozialen Markt-
wirtschaft an dieser Stelle genau erläutert hat. Er wies
darauf hin, dass der Wettbewerb eine staatliche Veran-
staltung ist


(Lachen bei der FDP)


– das ist ein Zitat; wenn Sie über die Aussage eines der
Gründerväter der Freiburger Schule lachen, qualifiziert
Sie das nicht gerade –


(Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Staatlich organisiert!)

und dass diese staatliche Veranstaltung natürlich sicher-
stellen muss, dass es keinen Wettbewerb um niedrige
Löhne geben darf. Ihren Ausführungen liegt eine völlig
abenteuerliche Vorstellung zugrunde.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie haben hier nicht nur ein fundamentales Missver-
ständnis von sozialer Marktwirtschaft offenbart, sondern
Sie liegen auch mit Ihrem Vorwurf völlig falsch, hier
ginge es darum, ein Abdriften in die Staatswirtschaft zu
verhindern. Was der Staat hier macht, ist genau das, was
in einer sozialen Marktwirtschaft seine Aufgabe ist: Er
legt die Rahmenbedingungen fest, zu denen der Wett-
bewerb organisiert werden soll. Er möchte darauf hin-
wirken, dass Wettbewerb um die besseren Produkte, um
die besseren Managementmethoden, um die besseren
Dienstleistungen, um die besseren Verfahren usw. ent-
steht, aber nicht um möglichst niedrige Löhne. Das müs-
sen Sie endlich akzeptieren, sonst können wir in diesem
Hause nicht auf gleicher Grundlage über soziale Markt-
wirtschaft diskutieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn Sie hier ein Abgleiten in die Staatswirtschaft
monieren, dann liegen Sie völlig falsch. Hier setzt der
Staat die notwendigen Rahmenbedingungen. Die Forde-
rung, die Sie hier vortragen, wäre tatsächlich ein Abglei-
ten in die Staatswirtschaft, indem der Private ganz nied-
rige Löhne zahlt und der Staat den Rest drauflegen muss.
Das wäre doch ein Abgleiten in die Staatswirtschaft, die
im Grunde genommen von niemandem gerechtfertigt
werden kann.


(Beifall bei der LINKEN – Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist liberaler Sozialismus!)


Deswegen ist über Mindestlöhne eine ordnungspoliti-
sche Debatte zu führen. Wenn Sie die Freiburger Schule
nicht überzeugt, Herr Kollege Westerwelle, dann habe
ich für Sie ein Buch mitgebracht: Adam Smith, Der
Wohlstand der Nationen. Aus diesem Buch möchte ich
Ihnen einmal vorlesen:

Der Mensch ist darauf angewiesen, von seiner Ar-
beit zu leben, und sein Lohn muß mindestens so
hoch sein, daß er davon existieren kann. Meistens
muß er sogar noch höher sein, da es dem Arbeiter
sonst nicht möglich wäre, eine Familie zu gründen.

Wann endlich begreifen Sie, dass das, was wir hier
machen, im Grunde genommen die Grundlage jeder so-
zialen Marktwirtschaft ist?


(Beifall bei der LINKEN – Abg. Dr. Guido Westerwelle [FDP] meldet sich zu einer Zwischenfrage)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613401400

Es geht jetzt nach der üblichen Ordnung: Zunächst

frage ich den Redner, ob er bereit ist, eine Zwischen-
frage zuzulassen.


Oskar Lafontaine (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613401500

Selbstverständlich.

14110 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


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Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613401600

Er hat das bestätigt. Damit, Herr Kollege Westerwelle,

haben Sie Gelegenheit, eine Zwischenfrage zu stellen.


Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1613401700

Herr Kollege Lafontaine, da Sie die Freiburger Schule

meiner Meinung nach sehr aus dem Zusammenhang ge-
rissen zitiert haben, möchte ich einen anderen Ökono-
men zitieren, der sagte:

Der Ruf nach Gleichheit der Löhne beruht daher
auf einem Irrtum, ist ein unerfüllbarer törichter
Wunsch. Er ist die Frucht jenes falschen und platten
Radikalismus, der die Voraussetzungen annimmt,
die Schlussfolgerungen aber umgehn möchte.

Dieser Ökonom ist Ihnen sicherlich besser bekannt:
Es war Karl Marx.


(Beifall bei der FDP)



Oskar Lafontaine (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613401800

Herr Kollege Westerwelle, Sie haben schon bessere

Bemerkungen gemacht. Karl Marx hat selbstverständ-
lich recht, und niemand hat heute gleiche Löhne für alle
gefordert.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Entschuldigen Sie, aber Sie liegen völlig daneben. Ha-
ben Sie die Logik völlig außer Kraft gesetzt? Es geht
nicht um gleiche Löhne für alle. Was Sie vorgetragen ha-
ben, ist absurd. Es geht nur darum – um mit Adam Smith
zu reden –, dass der Mensch auf einen Lohn angewiesen
ist, von dem er leben kann. Kein anständiger Mensch in
diesem Hause sollte für Löhne plädieren, die darunter
liegen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich wundere mich – an dieser Stelle ist in der Tat ein
Zerwürfnis festzustellen –, dass Sie das offensichtlich
moralisch nicht erreicht. Adam Smith war nicht in erster
Linie Ökonom, sondern Moralphilosoph. Sie sollten
ernsthaft über das nachdenken, was er festgestellt hat.

Soziale Marktwirtschaft heißt nicht, die niedrigsten
Löhne zu bieten, und der Staat zahlt den Rest dazu. Was
Sie vortragen und als liberale Wirtschaftspolitik rekla-
mieren, ist absurd.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte darauf hinweisen, dass sich einige Kolle-
gen meiner Fraktion der Stimme enthalten werden, weil
sie nach wie vor der Auffassung sind – das ist auch die
Auffassung der Gesamtfraktion –, das es heute nicht
mehr zulässig ist, bei solchen Dienstleistungen zwischen
Ost und West zu differenzieren. Das ist ungerecht.


(Beifall bei der LINKEN)


Diese Zurücksetzung der Ostdeutschen ist nicht akzep-
tabel – wer auch immer das anstrebt –;


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Sie hatten immer schon ein Herz für Ostdeutschland!)

denn man kann keinen Produktivitätsrückstand als öko-
nomisch vertretbares Argument für diese Differenzie-
rung anführen. Sie haben kein einziges vernünftiges
ökonomisches Argument dafür.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist zwar richtig, dass im Osten noch niedrigere
Löhne gezahlt werden als im Westen, was die unteren
Tarifbereiche angeht,


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Der Unterschied steht im Tarifvertrag!)


aber ich muss Ihnen an dieser Stelle Heuchelei vorwer-
fen, Herr Kollege Brauksiepe. Sie haben als christlicher
Demokrat – oder Sozialdemokrat oder was immer Sie in-
zwischen sein wollen – an die FDP gewandt ausgeführt,
dass Sie der Auffassung sind, dass man in Deutschland
keinen Lohn unter 6 Euro zulassen sollte. Wenn Sie tat-
sächlich dieser Auffassung sind, dann sollten Sie endlich
aufhören, sich einem flächendeckenden gesetzlichen
Mindestlohn zu verweigern. Andernfalls heucheln Sie in
diesem Zusammenhang.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie stehen auch im Widerspruch zu den Lehren, auf
die Sie sich angeblich immer wieder berufen. Ich halte
Ihnen noch einmal vor, dass die christliche Soziallehre,
die angeblich Fundament Ihrer Politik ist, einen gerech-
ten Lohn fordert. Dass ein gerechter Lohn so definiert
ist, dass man davon leben können muss, dürfte eigentlich
jedem unmittelbar einsichtig sein. Insofern ist die Hal-
tung der CDU/CSU an dieser Stelle nicht nachvollzieh-
bar. Sie steht im Widerspruch zu Ihrem Bekenntnis zum
christlichen Menschenbild. Das ist nicht nachvollzieh-
bar.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Verweis auf die Tarifvertragsparteien ist pure
Heuchelei oder Zynismus. Gerade Sie verweisen an die-
ser Stelle auf die Tarifvertragsparteien, obwohl Sie wis-
sen, dass die Tarifvertragsparteien in vielen Fällen gar
nichts mehr regeln können. Wenn Sie nur ein bisschen
redlich sind, dann müssen Sie auch darauf eine Antwort
haben, was geschieht, wenn die Tarifparteien nichts mehr
regeln können. Sie müssten dann zu dem Ergebnis kom-
men, dass der Staat oder die Gesamtgesellschaft gefordert
ist. Ihre Verweigerung des gesetzlichen Mindestlohns ist
in höchstem Maße unverantwortlich; denn Sie sind für
Ausbeuterlöhne verantwortlich, die in Deutschland im-
mer noch gezahlt werden. Sie sollten sich für die Verwei-
gerung einer solchen zwingenden sozialpolitischen Rege-
lung schämen.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie sollten sich vielleicht einmal die Frage stellen
– das richte ich auch an Sie, Kollege Westerwelle –, wie
die Rente eines Menschen aussehen wird, der mit einem
Stundenlohn von 5 Euro nach Hause geht. Haben Sie
sich das jemals gefragt? Soll auch dann der Staat Geld
drauflegen? Dass man die Mindestlohndebatte von der
Rentenentwicklung abkoppelt, halte ich für einen Skan-
dal. Es kann doch nicht wahr sein, dass Volksvertreterin-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14111


(A) (C)



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Oskar Lafontaine
nen und Volksvertreter diesen Zusammenhang nicht her-
stellen. Es ist unfassbar, was hier vorgetragen wurde.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn wir bei der Lohnentwicklung zulassen, dass
Stundenlöhne von 3, 4 oder 5 Euro gezahlt werden, wie
wollen wir dann jemals sicherstellen, dass die Menschen
im Alter eine armutsfeste Rente beziehen? Insofern ist es
auch wegen der Rentenerwartung in Zukunft – und zwar
in einigen Jahrzehnten – dringend geboten, der schmut-
zigen Lohnkonkurrenz in Deutschland endlich durch ei-
nen flächendeckenden Mindestlohn einen Riegel vorzu-
schieben.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist doch überhaupt kein Wunder, dass im Gegensatz
zu der anmaßenden Haltung vieler in diesem so genann-
ten Hohen Hause


(Zurufe von der FDP)


– schreien Sie ruhig; an dieser Stelle ist es auch die rich-
tige Gruppe, die schreit – 62 Prozent der Bevölkerung
sagen: Es geht in Deutschland nicht mehr gerecht zu.
Wir haben keine soziale Marktwirtschaft mehr. – Diese
fast zwei Drittel der Bevölkerung analysieren die Ver-
hältnisse in unserem Lande völlig richtig. Wenn nur
noch 24 Prozent sagen, wir haben eine soziale Markt-
wirtschaft, dann sollte das doch jedem Anlass zum
Nachdenken geben. Der gesetzliche Mindestlohn wäre
eine Maßnahme, um der Bevölkerung zu signalisieren,
dass wir dafür Sorge tragen wollen, dass es in diesem
Land wieder gerechter zugeht.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie brauchen wir dazu nicht!)


Der gesetzliche Mindestlohn alleine ist es jedoch
nicht. Sie haben, Herr Kollege Kauder, mit anderen zu-
sammen dafür Sorge getragen, dass Deutschland der ein-
zige große Industriestaat ist, in dem seit vielen Jahren
die Reallöhne nicht mehr steigen. Das ist eine politisch
organisierte Veranstaltung. Da ist nicht nur die Verwei-
gerung des flächendeckenden gesetzlichen Mindest-
lohns. Da ist auch Hartz IV mit der Verpflichtung, jeden
Arbeitsplatz unabhängig von der Qualifikation und der
Lohnhöhe anzunehmen. Da ist auch die totale Öffnung
der Leiharbeit, die Sie alle organisiert haben. Damit sind
Sie verantwortlich dafür, dass immer mehr Menschen
zunächst entlassen werden, dann durch die Drehtür wie-
der hereinkommen und nur noch die Hälfte des Lohnes
bekommen. Da ist das grenzenlose Öffnen für befristete
Arbeitsverträge, was natürlich dazu führt, dass diejeni-
gen, die davon betroffen sind, sich nicht mehr in ausrei-
chender Form zur Wehr setzen können. Und da ist das
Ausufern der Tatsache, dass immer mehr Minilöhne und
Minijobs reguläre Arbeitsverhältnisse ersetzen. Eine
faire Lohnfindung ist aufgrund dieses gesetzlichen Rah-
menwerkes in Deutschland seit vielen Jahren nicht mehr
möglich.

Wir sind der einzige Staat, in dem es seit vielen Jah-
ren keine Reallohnzuwächse mehr gibt. Sie können da-
rüber lachen, es ignorieren und die ökonomischen Fol-
gen, die sich im Übrigen bald wieder bemerkbar machen
werden, übersehen. Laut OECD haben wir eine Renten-
formel, die demjenigen, der im Monat 1 000 Euro brutto
bekommt, eine Rentenerwartung von 390 Euro in Aus-
sicht stellt. Diese Entwicklungen sind politisch mitorga-
nisiert worden. Sie zeigen, dass die Politik in den letzten
Jahren auf dem völlig falschen Weg war. Man kann sich
nicht hier immer zu der Formel „Wohlstand für alle“ be-
kennen, die immer zur Grundlage hatte, dass der Pro-
duktivitätszuwachs – so steht es im Buch des Säulen-
heiligen – den Konsumentinnen und Konsumenten voll
zugutekommt. Auch diese Regel ist seit vielen Jahren
verletzt worden. Schon seit vielen Jahren ist der Produk-
tivitätszuwachs nicht mehr der Arbeitnehmerschaft in
Deutschland zugutegekommen.

Wir als Vertretung der Bevölkerung sollten zur
Kenntnis nehmen, dass zwei Drittel der Bevölkerung seit
langem der Auffassung sind, dass es in diesem Land
nicht mehr gerecht zugeht. Wir werden nach wie vor da-
für eintreten, dass eine erste Maßnahme, um Gerechtig-
keit wiederherzustellen, sein wird, in Deutschland einen
gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, unterhalb dessen
niemand beschäftigt werden darf, weil es menschenun-
würdig ist, Leute unter dieser Einkommensgrenze zu be-
schäftigen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613401900

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun

die Kollegin Brigitte Pothmer.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613402000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau

Merkel hat gesagt, dass sie es falsch findet, dass Leute,
die auf der ganzen Linie versagt haben, hinterher mit
Geld überschüttet werden. Das finde ich auch falsch. Ich
halte es aber gleichfalls für falsch, dass Menschen, die
den ganzen Tag arbeiten, von diesem Einkommen nicht
leben können. Vieles deutet darauf hin, dass auch Frau
Merkel dieses inzwischen eingesehen hat. Leider ist
diese Erkenntnis aber bei großen Teilen der CDU/CSU-
Fraktion immer noch nicht angekommen, denn sonst
wäre die Debatte um den Mindestlohn in den letzten Mo-
naten anders verlaufen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte den Uneinsichtigen in der CDU/CSU-
Fraktion und vor allen Dingen den Kolleginnen und Kol-
legen von der FDP sagen: Sie müssen darüber nachden-
ken, ob es nicht Konsequenzen für Ihr politisches Han-
deln haben sollte, wenn nur noch 15 Prozent der
Bevölkerung der Auffassung sind, dass es bei uns sozial
zugeht. Herr Westerwelle, wenn die soziale Marktwirt-
schaft, die Sie hier beschwören, nur noch von einem
kleinen Teil als sozial empfunden wird, dann wird das zu
einem Problem für die Politik, aber auch zu einem Pro-
blem im Hinblick auf die Substanz des demokratischen
Systems. Herr Westerwelle, Sie behaupten, uns gehe es
um gleichen Lohn für alle. Davon sind wir meilenweit
entfernt. Das sollte Ihnen angesichts der Debatte, die wir
in den letzten Wochen geführt haben, eigentlich klar
sein: Traumgehälter auf der einen Seite, Hungerlöhne

14112 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Brigitte Pothmer
auf der anderen Seite. Die Kluft bei der Bezahlung un-
terschiedlicher Arbeit wird zunehmend größer. Sie kön-
nen diese Kluft nicht allen Ernstes mit der Leistung
begründen, die jeweils erbracht wird. Die Einkommens-
unterschiede haben zunehmend weniger mit Leistungs-
gerechtigkeit zu tun, Herr Westerwelle. Nichtsdestotrotz
tun Sie so, als gehe es in der Mindestlohndebatte um
gleiche Löhne für alle. Welch ein Unsinn!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Es gehört leider zur Wahrheit, dass der Konjunktur-
aufschwung nichts zur Lohngerechtigkeit beigetragen
hat. Schlimmer noch: Gerade in den unteren Lohnberei-
chen sind die Einkommen noch weiter gesunken. Die
Zahl derjenigen, die trotz Vollzeitbeschäftigung ALG II
beantragen müssen, ist weiter angewachsen, Herr
Westerwelle. Nur noch 15 Prozent der Deutschen haben
das Gefühl, dass der Aufschwung bei ihnen tatsächlich
ankommt. Das ist ein historischer Tiefstand. Das muss
ein Alarmsignal für uns alle sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Frau Merkel hat uns in Meseberg Wohlstand für alle
versprochen. Wenn diese Zusicherung nur ansatzweise
umgesetzt werden soll, dann ist der Postmindestlohn ein
kleiner Baustein. Deshalb stimmen wir ihm zu. Aber es
muss weitergehen. Die Branchen, die sich auf einen
Mindestlohn verständigen, müssen unterstützt werden.
Ihnen dürfen keine Steine in den Weg gelegt werden,
Herr Brauksiepe. Es ist viel von Tarifautonomie die
Rede. Dazu will ich deutlich sagen: In den Branchen, in
denen Mindestlöhne am dringendsten notwendig sind,
ist die Tarifautonomie leider kein Garant mehr für si-
chere Löhne,


(Beifall des Abg. Oskar Lafontaine [DIE LINKE])


weil die Tarifstrukturen weitestgehend zerstört sind. Für
die dort Beschäftigten müssen wir dringend etwas tun.
Die Einrichtung einer Mindestlohnkommission nach
englischem Vorbild erscheint uns geboten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Sonst wird es niemals Mindestlöhne in der fleischverar-
beitenden Industrie, im Hotel- und Gaststättengewerbe
oder für Friseurinnen geben. Aber dort sind sie am aller-
nötigsten, um Armutslöhne zu verhindern.

Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich bin nicht sehr opti-
mistisch. Herr Brauksiepe, nach Ihrer Rede ist klar, dass
die wichtigste Botschaft, die die CDU/CSU in diesem
Zusammenhang sendet, lautet: Macht euch keine Hoff-
nung; der Postmindestlohn ist in keiner Weise eine Vor-
entscheidung zugunsten von Mindestlöhnen in anderen
Branchen. – Die Union ist in der Mindestlohnfrage tief
gespalten. Frau Merkel hat auf dem Parteitag in Han-
nover sich selbst und ihre Partei zum Mittelpunkt der
Welt erklärt. Aber die Frage, ob eine Mindestlohnpolitik
auch zur Politik gehört, die in der Mitte der Gesellschaft
und Ihrer Partei steht, haben Sie nicht beantwortet. Weil
Sie nichts entschieden haben, geht das Gezerre weiter,
und zwar zulasten derjenigen, die im Niedriglohnbereich
arbeiten und Unterstützung brauchen. Was daran christ-
lich sein soll und was daran sozial sein soll, das müssen
Sie den Menschen einmal erklären.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben hier wieder gebetsmühlenartig – das kann
man wirklich sagen – vorgetragen, dass der Mindestlohn
ein ordnungspolitischer GAU sei, der Wettbewerb ver-
hindere und Arbeitsplätze im großen Stil vernichte.


(Beifall des Abg. Frank Schäffler [FDP])


Herr Westerwelle, sind unsere europäischen Nachbarn
Ihrer Meinung nach eigentlich alle bescheuert? Sie ha-
ben schon vor Jahren Mindestlöhne eingeführt, und
– siehe da – sie sind doch nicht untergegangen. Im Ge-
genteil: Dort hat sich herausgestellt, dass die Einführung
von Mindestlöhnen zur Zunahme von Arbeitsplätzen
führen kann. Herr Lafontaine hat recht – das sage ich
ausdrücklich –: Nicht Mindestlöhne widersprechen der
sozialen Marktwirtschaft – durch sie wird ein Rahmen
geschaffen, in dem Wettbewerb stattfinden kann –, son-
dern Lohndumping und Hungerlöhne widersprechen der
sozialen Marktwirtschaft.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN)


An die Adresse der Regierung will ich hier ausdrück-
lich sagen: Zu einem fairen Wettbewerbsrahmen gehört
natürlich, dass das Umsatzsteuerprivileg der Post fällt.
Ich hätte mir gewünscht, dass Herr Glos aufhört, sich ge-
gen den Mindestlohn zu stemmen, und hier einen Vor-
schlag dazu vorlegt, wie in dem Bereich der Umsatz-
steuer ein fairer Rahmen geschaffen werden kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613402100

Frau Kollegin Pothmer, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Niebel?


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613402200

Ja, bitte.


Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1613402300

Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Kollegin

Pothmer, Sie haben eben dargestellt, dass andere euro-
päische Staaten Lohndumping und Hungerlöhne durch
Mindestlöhne verhindern. In Bulgarien liegt der Min-
destlohn bei 53 Cent pro Stunde.


(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In Lettland liegt der Mindestlohn bei 99 Cent pro
Stunde. Den höchsten europäischen Mindestlohn,
9,08 Euro, hat Luxemburg.


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meine Güte! Wie ist es denn in England, Herr Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14113 Dirk Niebel Kollege? – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist unter Ihrem Niveau!)


(A) (C)


(B) (D)


Sind Sie angesichts dessen tatsächlich der Ansicht, dass
dieses Beispiel ein guter Beleg dafür ist, dass Hunger-
löhne und Lohndumping durch Mindestlöhne verhindert
werden können?


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613402400

Herr Niebel, sind Sie der Auffassung, dass die Volks-

wirtschaften von Bulgarien, Rumänien und Litauen mit
unserer vergleichbar sind? Ist es nicht vielmehr so, dass
zum Beispiel die Volkswirtschaften von Großbritannien,
Schweden, Dänemark, Frankreich und Spanien unserer
Volkswirtschaft ähnlich sind?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Dänemark hat keinen Mindestlohn, Frau Kollegin!)


Bei der Festlegung der Höhe von Mindestlöhnen werden
natürlich die jeweiligen Rahmenbedingungen berück-
sichtigt. – Herr Niebel, das war meine Antwort. Sie dür-
fen sich gerne wieder setzen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Setzen, sechs!)


Ich möchte insbesondere der FDP-Fraktion sagen: Ich
finde, Sie unterliegen einem schwerwiegenden Trug-
schluss. Wettbewerb ist kein Ziel an sich.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ach was!)


Wettbewerb ist ein Instrument zur Erreichung von Zie-
len. Mir wäre es lieb, wenn Sie sich für Ziele einsetzen
würden und nicht immer um das Instrument wie um ein
goldenes Kalb tanzen. Hören Sie auf, das anzubeten!
Kämpfen Sie für die Erreichung von Zielen! Wenn Sie
das tun, dann erreichen wir – vielleicht gemeinsam –
wieder mehr von dem, was die Menschen als Gerechtig-
keit empfinden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn das Postmonopol fällt, dann wird es – ich
glaube, das ist klar – einen harten Verdrängungswettbe-
werb geben, falls es keine Mindestlöhne gibt. Mögli-
cherweise kann – das wird hier immer wieder gesagt –
die Pleite bei der PIN AG abgewendet werden; ich weiß
es nicht. Eines ist jedenfalls klar: Wenn es keine Min-
destlöhne gäbe, wären die Arbeitsplätze bei der Post in
Gefahr. Ist es das, was Sie anstreben?

In der Anhörung ist eines ganz und gar deutlich ge-
worden: dass ein großer Teil der Beschäftigten der neuen
Briefdienstleister so wenig verdient, dass sie ergänzend
Arbeitslosengeld II beantragen müssen. Das heißt letzt-
lich doch nichts anderes, als dass die Allgemeinheit die
Gewinne der neuen Postanbieter subventioniert. Ich
weiß nicht, ob das Ihrer Vorstellung von sozialer Markt-
wirtschaft entspricht. Meiner Ansicht nach hat das damit
nichts, aber auch gar nichts zu tun.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Renate Gradistanac [SPD])


Herr Westerwelle, Sie behaupten: Mindestlöhne, das
ist DDR pur ohne Mauer.


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ja!)


Das ist doch an Peinlichkeit wirklich nicht mehr zu
überbieten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das stimmt!)


DDR pur – das war ein Unrechtsstaat. DDR pur – das
war der 17. Juni. Wollen Sie das wirklich miteinander
vergleichen, Herr Westerwelle?


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: „Nur ohne Mauer“, habe ich gesagt! – Jan Mücke [FDP]: Frau Kollegin, das ist ein falsches Zitat!)


Wenn Sie Aufmerksamkeit erheischen wollen, dann ken-
nen Sie, glaube ich, wirklich gar keine Grenzen. Ich
wäre Ihnen zutiefst dankbar, wenn Sie endlich aufhören
würden, uns und die Öffentlichkeit mit dieser Maßlosig-
keit aus Ihrem neoliberalen Sprüchealmanach zu belästi-
gen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Ganz kurz noch einmal zu dem, was bei Springer pas-
siert. Wenn der Axel-Springer-Verlag als Mehrheitsak-
tionär der PIN Group auf der Grundlage von Hungerlöh-
nen investiert


(Dirk Niebel [FDP]: Unterstützt von der SPD!)


und wenn dieses Engagement mit der Hoffnung, profi-
table Geschäfte zu machen, verbunden wird, dann ist das
falsch.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das stimmt natürlich auch nicht! Unverschämtheit! Hören Sie mit dem Unsinn auf! – Gegenruf des Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stimmt doch!)


Noch viel schlimmer wäre es, wenn diese Hungerlöhne
mit dem ALG II aufgestockt werden würden. Von wem
wird denn diese Aufstockung bezahlt? Sie wird mit den
Steuergeldern derjenigen bezahlt, die zum Beispiel bei
der Post arbeiten. Diese Menschen subventionieren die
Löhne derjenigen, die hinterher ihre Arbeitsplätze in Ge-
fahr bringen. Das ist doch absurd! Das können wir auf
gar keinen Fall zulassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Was Sie sagen, ist absurd!)


Ganz offensichtlich hat der Springer-Verlag versucht,
in einen Markt einzusteigen, von dem er schlicht und er-
greifend nichts versteht. Es ist Klassenkampf von oben,
wenn jetzt versucht wird, die Schuld dafür der Politik in
die Schuhe zu schieben. Da sollten wir den Rücken

14114 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Brigitte Pothmer
gerade machen und sagen: Das ist ein Problem von
Springer. Dafür stehen wir hier nicht gerade. Das kann
man uns nicht in die Schuhe schieben. – Das darf nicht
funktionieren!

Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613402500

Ich erteile das Wort der Kollegin Andrea Nahles,

SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Andrea Nahles (SPD):
Rede ID: ID1613402600

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht,


(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das geht Sie auch nichts an!)


wenn Sie in diesen Tagen Ihre Weihnachtskarten schrei-
ben. Ich muss sagen: Bei mir fließt die Tinte wesentlich
freudiger,


(Zuruf von der SPD: Die gelbe Tinte! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Was die für einen Quatsch erzählt!)


wenn ich weiß, dass ab 1. Januar 2008 alle, die diese
Karten und Briefe austragen, für den harten Job, den sie
bei Wind und Wetter machen, auch einen guten Lohn, ei-
nen anständigen Mindestlohn bekommen.


(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Mannomann! So einen Unsinn zu erzählen! – Dirk Niebel [FDP]: Warten Sie mit den Weihnachtskarten doch bis Januar!)


Ich muss an diesem Morgen der Wahrheit die Ehre
geben. Die Wahrheit ist, dass es den Mindestlohn in der
Postdienstleistungsbranche in Deutschland nicht geben
würde, wenn die SPD in den letzten Wochen in der Gro-
ßen Koalition nicht so beharrlich darum gerungen hätte.


(Beifall bei der SPD – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Schön wäre es ja!)


Ich möchte mit einigen Legenden aufräumen, die
heute Morgen wieder verbreitet wurden. Erstens. Wir
seien hier Wettbewerbsbehinderer, habe ich gehört. Ich
muss sagen: Da war die FDP 1995 schon mal weiter,
Herr Westerwelle. Damals wurde die Post-Privatisierung
auch mit Ihrer Zustimmung betrieben, und es wurde eine
Sozialklausel eingeführt, die bei der Lizenzvergabe an
private Postdienstleister einen höheren Stunden- und
Mindestlohn vorgesehen hat als den, den wir heute hier
verabschieden werden. Das ist eben der Unterschied
zwischen Marktwirtschaft und sozialer Marktwirtschaft.
Ihre Vorgänger haben diesbezüglich noch eine Orientie-
rung gehabt. Bedauerlicherweise ist diese bei der FDP
auf der Strecke geblieben.


(Beifall bei der SPD)

Insoweit bitte ich Sie sehr darum, hier keine Legen-
den zu verbreiten. Der Wettbewerb wird ab 1. Januar
auch für Briefe unter 50 Gramm gelten und damit für die
gesamte Palette dessen, was an Postdienstleistungen an-
geboten wird. Es gibt mehr und nicht weniger Wettbe-
werb – das ist auch richtig und gut –; aber wir wollen
nicht, dass dieser Wettbewerb auf dem Rücken der Leute
ausgetragen wird. Das ist der Unterschied zwischen Ih-
nen und uns.


(Beifall bei der SPD)


Zum Zweiten müssen wir Folgendes klarmachen: Um
was geht es denn, wenn bei PIN AG und TNT
60 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gering-
fügig beschäftigt sind, bei der Post aber nur 4 Prozent?
Da das so ist, ist doch das Reden von der Arbeitslosig-
keit, die durch die Einführung eines Mindestlohns
entstehen soll, in Wirklichkeit folgendermaßen zu ver-
stehen: Diejenigen, die jetzt ordentlich bezahlte sozial-
versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse ha-
ben, werden morgen durch Billigkonkurrenz, durch
Menschen mit geringfügigen Beschäftigungsverhältnis-
sen, ersetzt, und wir, der Staat, sollen dann das, was den
Betroffenen zum Leben fehlt, obendrauf packen. Das ist
nicht akzeptabel und ordnungspolitisch falsch. Deswe-
gen müssen wir da einen Riegel vorschieben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich will ganz ehrlich sagen: Wettbewerb ist zwar
große Klasse; aber hier findet Wettbewerb in einem Be-
reich statt, in dem wir über ein öffentliches Gut verhan-
deln. Ich möchte, dass es auch in Zukunft eine hohe
Qualität der Briefzustellung in der Eifel, woher ich
komme, in Berlin, aber auch auf Usedom gibt. Dies ist
für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ne-
ben dem reinen marktwirtschaftlichen Prinzip, das ei-
nige feiern, ein Wettbewerbskriterium. Insofern vertre-
ten wir die Position: Wir wollen, dass es in jedem Dorf –
von oben herab hieße das so typisch „im letzten Kaff“;
auch ich komme aus einem Dorf – eine hohe Qualität bei
den Postdienstleistern gibt und dass diejenigen Men-
schen, die diese Arbeit machen, einen guten Lohn dafür
bekommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will darüber hinaus sagen, dass jetzt nicht Schluss
ist. Wer das vielleicht hofft, muss sich mit uns auseinan-
dersetzen. Es gibt in diesem Lande weitere Branchen,
die bereits an uns herangetreten sind und gesagt haben:
Wir brauchen einen Mindestlohn. – Es sind interessan-
terweise die Arbeitgeber, die das sagen, heute wieder
Arbeitgeber der Entsorgungsbetriebe und des Wach- und
Sicherheitsgewerbes, aber auch aus dem Bereich der
Zeitarbeit. Das sind die nächsten Bereiche, um die wir
uns kümmern wollen.

Ich sage klipp und klar: Die Arbeitgeber haben es
vielfach verstanden, was einige von den Liberalen noch
nicht begriffen haben. Die Arbeitgeber haben nämlich
verstanden, dass dann, wenn man um Hungerlöhne kon-
kurriert, am Ende niemand mehr wirklich Gewinn

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14115


(A) (C)



(B) (D)


Andrea Nahles
macht. Die Arbeitgeber haben auch begriffen, dass das
Entsendegesetz sie in den nächsten Jahren vor zusätzli-
cher Konkurrenz aus europäischen Nachbarländern
schützt. Ein guter Mittelständler, der das nicht begreift,
schadet sich und seinen Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmern. Gott sei Dank gibt es aber viele, die dies längst
verstanden haben.


(Beifall bei der SPD)


Lassen Sie mich hinzufügen: Ich komme aus Rhein-
land-Pfalz. In Rheinland-Pfalz gibt es seit 2000 – es geht
hier nicht um Ostdeutschland – keinen Tarifvertrag mehr
im Friseurhandwerk. Deswegen reicht es nicht, nur bran-
chenbezogene Mindestlöhne zu vereinbaren. Wir brau-
chen auch da gesetzliche Regelungen.


(Dirk Niebel [FDP]: Wer regiert denn in Rheinland-Pfalz?)


Das werden wir mithilfe des Mindestarbeitsbedingun-
gengesetzes durchsetzen. Dort, wo es keine Tarifverträge
mehr gibt, brauchen wir gesetzliche Mindestlöhne. Das
ist unsere Position, und die werden wir auch so vertreten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


In diesem Sinne wird die Frage des Mindestlohns
auch nach Weihnachten im Deutschen Bundestag wieder
auf der Tagesordnung sein. Die SPD wird auch da an der
Seite derjenigen sein, die eine gute Arbeit machen und
einen guten Lohn dafür verdienen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613402700

Nächster Redner ist der Kollege Heinrich Kolb für die

FDP-Fraktion,


(Beifall bei der FDP)


der, wie er hoffentlich weiß, allerdings nur eine von ei-
ner Kurzintervention unwesentlich unterscheidbare Re-
dezeit zur Verfügung hat.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1613402800

Herr Präsident, drei Minuten sind eine lange Zeit; ich

will mir Mühe geben.

Eine Bemerkung vorab, Frau Kollegin Nahles. Sie
weisen hier mit Krokodilstränen darauf hin, dass das
Schreiben von Weihnachtskarten dieses Jahr großen
Spaß macht angesichts dessen, dass die Briefträger
nächstes Jahr einen anständigen Lohn erhalten. Ich
würde Ihnen empfehlen: Lassen Sie die Karten bis nach
dem 1. Januar liegen. Dann haben die Briefträger viel
mehr davon, als wenn sie jetzt vor Weihnachten noch
zum alten Lohn tätig werden müssen.


(Beifall bei der FDP)


Eine zweite Bemerkung. Herr Minister Scholz, Sie
haben gesagt, die Einführung eines Mindestlohns auf
dem Postsektor sei eine gute Botschaft. Das mag so bei
den Mitarbeitern der Deutschen Post ankommen; aber
ich frage mich, wie das zum Beispiel für die Mitarbeiter
der PIN klingen muss, die sich in diesen Tagen ernsthaft
Sorgen um ihren Arbeitsplatz machen.


(Beifall bei der FDP)


Für die ist es alles andere als ein frohes Weihnachtsfest,
das sie erleben werden. Es klingt in meinen und auch in
deren Ohren – da bin ich mir ziemlich sicher – zynisch,
was Sie hier gesagt haben.


(Beifall bei der FDP)


Sie sagen, ein Mindestlohn koste nicht nur keine Ar-
beitsplätze, sondern schaffe sogar Arbeitsplätze. Wenn
Sie das zu Ende denken, Herr Minister Scholz, wenn
also höhere Löhne mehr Arbeitsplätze schaffen, dann
müssten ja noch höhere Löhne noch mehr Arbeitsplätze
schaffen. Das sind doch Auffassungen einer wirtschaftli-
chen Klippschule, die Sie hier vortragen. Es ist wirklich
erschreckend, dass ein Minister, der in dieser Bundesre-
gierung Verantwortung trägt, hier so etwas sagt.


(Beifall bei der FDP – Zuruf von der LINKEN: Sie machen hier Klippschule!)


Entscheidend ist – darauf hat Guido Westerwelle hin-
gewiesen –, was für die Arbeitnehmer am Ende dabei
herauskommt. Dem Kollegen Brauksiepe, der hier treu-
herzig davon sprach, man habe durch die Senkung der
Beiträge zur Arbeitslosenversicherung eine Entlastung
um 25 Milliarden Euro vorgenommen, entgegne ich: Al-
leine die Mehrwertsteuererhöhung hat die Menschen in
diesem Land mit 25 Milliarden Euro belastet.


(Klaus Barthel [SPD]: Sie wollen die Mehrwertsteuer auf Briefe!)


Dazu kommt die Erhöhung der Beiträge zur Rentenver-
sicherung, zur Krankenversicherung und zur Pflegever-
sicherung, um nur einmal diese drei Dinge zu nennen.
Im Endeffekt ergibt sich ein Negativimpuls für unsere
Volkswirtschaft von mehr als 10 Milliarden Euro. Das ist
die Wahrheit.


(Beifall bei der FDP)


Frau Nahles, Herr Brauksiepe, ich muss Ihr Weltbild
etwas zurechtrücken: Ein Unternehmer, der Mindest-
löhne fordert, tut dies in der Regel nicht aus altruisti-
schen Motiven, also um anderen etwas Gutes zu tun,
sondern er fordert diese, weil er sich davon einen Vorteil
erhofft. Hier geht es konkret darum, dass diejenigen Un-
ternehmer, die Mindestlöhne fordern, damit einen
Schutzzaun um ihre Branche herum ziehen wollen. Das
kann man doch nicht ernsthaft zulassen. Wie attackiert
man einen Monopolisten, wenn man einen Markt aufbre-
chen will? Sie organisieren den Wettbewerb getreu dem
Motto: Alle sollen 100 Meter laufen, aber einigen binden
wir eine Metallkugel ans Bein. Bei solch einer Vorgabe
kann doch am Ende kein fairer Wettbewerb entstehen.


(Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der SPD)


14116 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Heinrich L. Kolb
Die Realität ist doch: 19 Prozent Mehrwertsteuervor-
teil, 3 Prozent Vorteil bei der Unfallversicherung und
dann noch Mindestlöhne. Sie wollen hier wahrlich ein
Wettbewerbsparadies für den Monopolisten aufrechter-
halten. Wir tragen das nicht mit.


(Beifall bei der FDP)


In den wenigen Sekunden, die mir verbleiben, möchte
ich kurz darauf eingehen, wie es weitergeht. Es besteht
wirklich Anlass zur Sorge, dass auch in den Branchen, in
denen Müllmänner und Zeitarbeiter tätig sind, Mindest-
löhne festgesetzt werden und 9,80 Euro dabei nicht das
Ende der Fahnenstange sind, sondern ein Überbietungs-
wettbewerb nach oben stattfinden wird. Ich wünschte
mir wirklich, Angela Merkel könnte nach Ludwig
Erhard rufen, wie es einst der Zauberlehrling in Goethes
gleichnamigem Gedicht getan hat:

Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister,
werd’ ich nun nicht los.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sie sind von allen guten Geistern verlassen!)


Genauso wird es Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Union, in den nächsten Monaten nachhängen,
dass Sie jetzt einmal umgefallen sind und nun Zug um
Zug bei weiteren Branchen über den Tisch gezogen wer-
den.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Geistreich war die Rede auch nicht!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613402900

Das Wort erhält nun der Kollege Paul Lehrieder für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1613403000

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Lieber Bundesarbeitsminister
Scholz, auch ich werde in den nächsten Tagen beobach-
ten, ob bei uns der Briefträger freudestrahlend und pfei-
fend durch die Gegend läuft.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: An Ihnen kann es dann nicht liegen!)


Möglicherweise ist es wirklich so. Vielleicht liegt das
aber an dem bevorstehenden Weihnachtsfest.

Ich bin überzeugt davon, dass der liebevolle Enkel,
den Sie, Herr Scholz, ins Spiel gebracht haben, den Brief
an die Oma nicht nur mit 45 oder 55 Cent, sondern,
wenn er sie ganz arg liebt, auch mit 1,50 Euro frankieren
würde, nur damit er seine Grüße übermitteln kann.

Meine Damen und Herren, wir haben es auf dem Ar-
beitsmarkt – das zeigt die heutige Diskussion – mit ei-
nem handfesten und tiefgreifenden Strukturwandel zu
tun, dem nicht mit nebenwirkungsfreien Wundermitteln
beizukommen ist. Was würde uns das deutlicher zeigen
als der schwierige Weg zur Aufnahme der Briefdienst-
leistungen in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz? Anlass
der Regelung war – darauf möchte ich noch einmal hin-
weisen –, dass das Briefmonopol in Deutschland für
Briefe bis zu 50 Gramm am 1. Januar 2008 ausläuft. In
den anderen europäischen Ländern wird das aber erst
sehr viel später der Fall sein. Das bedeutet, dass Firmen
aus Ländern, die ihr Briefmonopol erst später aufgeben,
auf unserem Markt agieren könnten, Firmen von uns
aber nicht auf deren Markt. Das wollen wir so nicht. Wir
wollen unsere Arbeitnehmer vor Billiglohnkonkurrenz
aus dem Ausland schützen. Wir wollen – das werden wir
auch mit der Aufnahme in das Arbeitnehmer-Entsende-
gesetz erreichen – mehr Wettbewerb, der jedoch nicht
zulasten der Löhne gehen soll.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Für diesen Fall und ähnliche Fälle haben wir als
Große Koalition den Branchen, die über mindestens
50 Prozent Tarifbindung verfügen, angeboten, in das Ar-
beitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen zu werden.
Dazu müssen die Tarifpartner uns eine entsprechende Ei-
nigung vorlegen. Wenn sich eine Mehrheit auf eine be-
stimmte Regelung einigt, dann sind wir unter Abwägung
aller Gesichtspunkte bereit, sie für allgemeinverbindlich
zu erklären. Sie gilt dann auch für die Minderheit, die
dem Abschluss der entsprechenden Vereinbarung nicht
zugestimmt hat oder an ihr nicht beteiligt gewesen war.

Im Vorfeld der Aufnahme der Briefdienstleistungen in
das Entsendegesetz, die wir heute beschließen, ist man-
ches nicht ganz so gelaufen, wie wir uns das gewünscht
hätten. Wir schulden es aber der Tarifautonomie, dass
wir auf der Basis dessen, was uns vorgelegt wurde, ent-
scheiden. Wir müssen prüfen, ob die Bedingungen für
betriebliche Mindestlöhne auch tatsächlich erfüllt sind.
Dazu gehört zunächst das Kriterium, nach dem mindes-
tens 50 Prozent der Beschäftigten von der Tarifregelung
abgedeckt sein müssen. Ich lege ausdrücklich Wert auf
die Feststellung, dass es hier um tariflich vereinbarte
Löhne und nicht um einen vom Bundesgesetzgeber fest-
gelegten flächendeckenden Lohn geht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben dazu in der letzten Zeit die unterschied-
lichsten Zahlen von den unterschiedlichsten Interessen-
verbänden gehört. Unbeantwortet blieb zunächst die
Frage, wer überhaupt als Briefdienstleister infrage
kommt. Sind es nur die direkt Bediensteten der Post oder
auch die Beschäftigten in den Postagenturen, die viel-
leicht drei oder vier Briefe am Tag entgegennehmen?
Wie sieht es mit den Taxifahrern und den Kurierdiensten
aus? Wir von der Union haben beständig darauf gedrun-
gen, diesen Sachverhalt eindeutig klarzustellen und erst
dann unsere Zustimmung zu geben. Das war der Grund
für die harten Verhandlungen mit unserem Koalitions-
partner. Es ging uns nicht um Schnelligkeit, sondern vor
allem um Gründlichkeit.

Die Frage, wer letztendlich unter die Ausweitung des
Entsendegesetzes fallen wird, konnten wir nun zusam-
men mit unserem Koalitionspartner klären. Das Arbeit-
nehmer-Entsendegesetz gilt ab dem 1. Januar 2008 für

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14117


(A) (C)



(B) (D)


Paul Lehrieder
Betriebe und selbstständige Betriebsabteilungen, die
überwiegend gewerbsmäßig und geschäftsmäßig Brief-
sendungen für Dritte befördern. So weit, so klar.

Kompliziert war der Weg zur Aufnahme der Brief-
dienstleister in das Entsendegesetz. Viel ist in den ver-
gangenen Wochen darüber gestritten worden, ob hier
durch die Deutsche Post AG mithilfe des betrieblichen
Mindestlohns ein Verdrängungswettbewerb geführt
wird. Wir sollten es uns mit der Meinungsbildung jedoch
nicht zu einfach machen. Deshalb ist es nötig, hier noch
einige Aspekte zu betrachten.

Jeder will seine Post pünktlich, regelmäßig, vertrau-
lich und – Frau Nahles, Sie haben es ausgeführt – flä-
chendeckend zugestellt bekommen. Das gilt überall: von
der Eifel über Berlin und Usedom bis hin zum Landkreis
Würzburg.


(Andrea Nahles [SPD]: Das kann gern noch dazu, kein Problem!)


– Danke schön. – Deshalb ist es wichtig, Wettbewerb in
diesen Bereichen über Kundenorientierung, Innovation,
Service und Qualität anzustreben. Wir erwarten auch in
Zukunft Versorgungssicherheit von der Post, die letzt-
endlich mit Dumpinglöhnen nicht gewährleistet werden
kann. Das geht nur mit auskömmlichen Löhnen. Auch
das muss ausdrücklich hier klargestellt werden. Es muss
ein echter Wettbewerb sein, kein Verdrängungs-, aber
auch kein Unterbietungswettbewerb bei den Arbeitsbe-
dingungen.

Wir müssen im Blick behalten, dass das Instrument
Arbeitnehmer-Entsendegesetz, das der sozialen Absiche-
rung von Arbeitnehmern dienen soll, nicht von den Ar-
beitgebern missbraucht wird, um mittelständische und
kleine Konkurrenten auszuschalten. Das gilt insbeson-
dere für Unternehmen, die in ihrem Bereich eine Mono-
polstellung haben.

Tatsache ist aber auch, dass sich bei den Wettbewer-
bern der Deutschen Post AG wie TNT und PIN die Ten-
denz in einigen Bereichen abzeichnet, zu einem hohen
Anteil geringfügige Beschäftigungsverhältnisse zu
schaffen. Deren Anteil liegt dort über 60 Prozent. Viel-
fach sind die Arbeitnehmer der neuen Briefdienstleister
auf ergänzende Sozialtransfers angewiesen, um ihren
Lebensunterhalt bestreiten zu können. Der vormalige
Arbeitsminister Müntefering hat ausgeführt: Es kann
nicht sein, dass ein Arbeitgeber aufgrund eines Unterbie-
tungswettbewerbs niedrige Löhne zahlt und die Arbeit-
nehmer darauf verweist: Den Rest könnt ihr euch beim
Arbeitsminister, sei es Müntefering oder Scholz, holen. –
Das kann nicht der richtige Weg sein.

Der betriebliche Mindestlohn erhöht sicher teilweise
die Kosten einiger Konkurrenten des Noch-Monopolis-
ten Deutsche Post. Allerdings haben diese auch keinen
Anspruch auf indirekte Subventionen. Um nichts ande-
res handelt es sich aber, wenn einige Briefträger neben
ihrem Lohn noch staatliche Unterstützung in Anspruch
nehmen müssen, um über die Runden zu kommen. Ein
Geschäftsmodell auf solchen Löhnen aufzubauen, ist ge-
wagt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wer die Situation auf dem Postmarkt richtig bewerten
will, muss sich klarmachen, dass dort die Liberalisierung
ganz anders wirkt als auf dem Markt für Telekommuni-
kation. Liebe Freunde von der FDP, lieber Herr Kolb,
Sie haben in dieser Woche im Ausschuss gesagt, wir
würden heute noch mit grauen Apparaten mit Wähl-
scheiben telefonieren, wenn wir damals bei der Tele-
kommunikation über die gleichen Instrumente wie bei
der Post diskutiert hätten. Diese Bereiche kann man aber
nur schlecht bzw. überhaupt nicht miteinander verglei-
chen.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Denn nach der Liberalisierung auf dem Telekommunika-
tionsmarkt gab es viele technische Innovationen, niedri-
gere Preise und ein steigendes Angebot. Dagegen ist der
Postmarkt, jedenfalls beim Briefgeschäft mit Privatkun-
den, ein schrumpfender Markt. Immer mehr Menschen
schreiben E-Mails statt Briefe. In der Vorweihnachtszeit
gibt es eine Ausnahmesituation. In dieser Zeit nehmen
mehr Menschen den Stift in die Hand, und die Tinte
fließt flüssiger, wie Frau Nahles vorhin gesagt hat. Aber
über das Jahr gesehen ist es sicherlich so, d ass mehr
E-Mails geschrieben werden, als Briefe versandt wer-
den. Das haben Sie selber gesagt, Frau Nahles.

Fällt das letzte Teilmonopol, nämlich das für Briefe
bis 50 Gramm, im Januar, wetteifern mehr Anbieter um
eine schrumpfende Nachfrage. Sollte sich das Geschäft
aus all diesen Gründen für die Springer AG nicht rech-
nen, so muss der Konzern diese Sparte in Gottes Namen
schließen. Niemand sollte das Unternehmen deshalb an-
greifen. Hier geht es allein um wirtschaftliches Risiko.
In diesem Fall den Schwarzen Peter an die Politik wei-
terzureichen, ist bequem, aber unangebracht. Nicht wir
haben das Problem geschaffen, sondern es ergibt sich
aus dem Tarifvertrag.

Die Politik wird sich mit dem vorliegenden Fall auch
nach Verabschiedung des Gesetzes eingehend auseinan-
dersetzen müssen. Weitere Aufnahmen in das Arbeitneh-
mer-Entsendegesetz müssen sehr detailliert, genau und
gründlich geprüft werden.

Der flächendeckende Mindestlohn ist ein zweischnei-
diges Schwert. Liegt er über dem bisherigen Lohn, gibt
es für die Betroffenen nur zwei Möglichkeiten: Entwe-
der sie werden mehr verdienen, oder sie werden ihren
Arbeitsplatz verlieren. Dieses Risiko müssen wir uns be-
wusst machen. Wir müssen daher eine Lösung finden,
die Unternehmen den höchsten Anreiz bietet, auch für
Geringqualifizierte Jobs anzubieten, die aber auch den
Arbeitslosen Anreize bietet, solche Jobs anzunehmen,
und die Mitnahmeeffekte minimiert.

Nach Abwägung des Für und Wider aller Argumente
hat sich eine Mehrheit in unserer Fraktion für die Auf-
nahme der Postdienstleister in das Arbeitnehmer-Entsen-
degesetz ausgesprochen. Ich bitte Sie, heute diesem Ge-
setz zuzustimmen.

14118 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Paul Lehrieder
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen eine
frohe Weihnachtszeit. Schreiben Sie viele Briefe. Schi-
cken Sie sie meinetwegen schon im Dezember ab.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Und zwar mit der Post und nicht mit PIN!)


Das Porto in Höhe von 55 Cent kann sich sicher jeder
Abgeordnete leisten. Den Kollegen von der Linkspartei
wünsche ich eine schöne Jahresendfeier.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613403100

Das Wort hat nun die Kollegin Anette Kramme, SPD-

Fraktion.


Anette Kramme (SPD):
Rede ID: ID1613403200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Herr Westerwelle, Sie haben vorhin das ach so
schwere Los der neuen Postkonkurrenz beklagt.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Gelb ist das!)


Schauen wir uns doch einmal genau an, was passiert ist.
Ich sage: Es ist eine falsche Strategie gefahren worden.
Man hat Verhandlungen erst arrogant abgelehnt; dann,
nachdem der Mindestlohntarifvertrag verabschiedet
worden ist, hat man gesagt: Na ja, dann machen wir halt
einen eigenen Arbeitgeberverband auf. – Man dachte,
dass Verdi ganz locker mal eben zustimmen würde.
Nachdem auch das nicht funktioniert hat, hat man ver-
sucht, eine eigene Gewerkschaft zu gründen. Professor
Thüsing musste in der Sachverständigenanhörung zuge-
stehen, dass es nur 19 Gewerkschaftsmitglieder gibt.
Das Ganze kann man auch verspekuliert nennen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die PIN AG und der Springer-Verlag müssten uns ei-
gentlich äußerst dankbar dafür sein, dass wir nun den
Mindestlohn für die Briefdienstleister verabschieden.
Wir liefern ihnen den scheinbar perfekten Vorwand für
den Stellenabbau. Schaut man sich den Sachverhalt nä-
her an, wird man feststellen, dass bei der PIN AG bis
Ende September ein Minus von 47,8 Millionen Euro ge-
macht worden ist, und das ohne Mindestlohn. Am Jah-
resende werden die Verluste dort 55 Millionen Euro be-
tragen, und auch das wieder ohne Mindestlohn.


(Andrea Nahles [SPD]: Genau!)


Der Mindestlohn wird hergenommen als Sündenbock für
eigene Fehler.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Man kann zu folgender Wertung kommen: Missmanage-
ment, Geldvernichtung und Inkompetenz der Führungs-
spitze.

Ich sage ganz klar: Wir akzeptieren keine Geschäfts-
konzepte, die darauf hinauslaufen, dass mit den Beschäf-
tigten Sozialdumping betrieben wird. Ich sage auch
ganz klar: Wir akzeptieren keine Geschäftskonzepte, die
vorsehen, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
auf Dauer ergänzend Arbeitslosengeld II gezahlt werden
muss. Es ist doch pervers, wenn gefordert wird, dass der
Staat solch einen Wettbewerb auch noch subventioniert.


(Beifall bei der SPD)


In Richtung der Union sage ich ganz klar: Es ist nicht
Aufgabe des Staates, Tarifverträge abzuändern und Ta-
rifpartner zu erpressen.

Wir wissen, dass der Brief, der durch die schwarzen
Schafe der Branche nun nicht mehr zugestellt wird,
durch Unternehmen zugestellt wird, die den Mindest-
lohn zahlen. Das ist eine beruhigende Entwicklung.

Am 1. Januar 2008 wird das Postmonopol in Deutsch-
land auslaufen. An sich war geplant, dass das Postmono-
pol zum 1. Januar 2009 auch in den anderen europäi-
schen Ländern endet. Die anderen europäischen Länder
haben sich entschieden, das hinauszuzögern. Ich sage:
Wettbewerb ist gut. Er darf aber nicht auf dem Rücken
der Arbeitnehmer ausgetragen werden.

Es ist richtig, dass wir die Post- bzw. Briefdienstleis-
ter in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufnehmen. Wir
wissen, dass in dieser Branche die Löhne in West-
deutschland momentan um 40 Prozent und in Ost-
deutschland um 50 Prozent unterhalb der Einstiegsge-
hälter bei der Deutschen Post liegen.


(Andrea Nahles [SPD]: Jawohl!)


Wir wissen, dass dort in skandalöser Weise Minijobver-
hältnisse ausgenutzt werden.


(Andrea Nahles [SPD]: Ja, genau!)


Es ist unvorstellbar, wenn man sich die Zahlen vor Au-
gen hält: 62,3 Prozent aller Jobs sind Minijobs, Teilzeit-
beschäftigung ist nur begrenzt vorhanden, und eine nor-
male Vollzeittätigkeit ist fast die Ausnahme.

Dank der Tarifvertragsparteien haben wir hinsichtlich
des Geltungsbereichs des Gesetzes eine Klarstellung er-
zielt. Das mussten wir zugunsten unseres Koalitionspart-
ners machen, dessen Gesicht ein ganz klein wenig ge-
wahrt werden musste.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Na, na! Das war ein vernünftiges Hinzulernen, Frau Kollegin! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist dummes Zeug, was da erzählt wird! Nur dummes Zeug!)


Wie lautete die alte Formulierung? Ursprünglich war
verabredet, dass der Postmindestlohn für alle Unterneh-
men in dieser Branche gelten soll. Jetzt haben wir ver-
einbart: Er soll nur für die Betriebe und selbstständigen
Betriebsabteilungen gelten, die ganz überwiegend Brief-
dienstleistungen erbringen.

Das ist keine erhebliche Veränderung. Man muss sich
einmal vor Augen halten, was das bedeutet: Letztlich
kann kein Betrieb, der über eine vernünftige Arbeitsor-
ganisation und über eine vernünftige Kostenkontrolle
verfügt, davon Abstand nehmen, eine betriebsorganisa-
torisch eigenständige Einheit zu gründen. Es ist aller-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14119


(A) (C)



(B) (D)


Anette Kramme
dings so, dass Taxifahrer und Zeitungszusteller nicht er-
fasst sein werden; hier war Verdi wirklich sehr ehrgeizig.

Lassen Sie mich zum Schluss Peter Bofinger zitieren:


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt bin ich gespannt!)


Deutschland braucht auf keinen Fall mehr Nied-
riglöhne, es ist im westeuropäischen Vergleich be-
reits ein ausgeprägtes Niedriglohnland.

In diesem Sinne wird die SPD handeln.


(Beifall der Abg. Andrea Nahles [SPD])


Zum Schluss wünsche ich Ihnen frohe Weihnachten
– hier hat der berühmte Abgeordnete Gerold Reichenbach
zur Feder gegriffen –


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: War das nicht der Abgeordnete Mierscheid?)


und sage: Mindestlohn für alle Postdienstleister!

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613403300

Und das alles ohne Briefmarke.

Nun kommt der Kollege Laurenz Meyer für die CDU/
CSU-Fraktion zu Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Laurenz Meyer (CDU):
Rede ID: ID1613403400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist schon eine aufregende Debatte, die wir heute Morgen
erleben;


(Andrea Nahles [SPD]: Jetzt wird sie noch aufregender!)


denn ausgerechnet Herr Lafontaine trat hier als Adam-
Smith-Ikone auf.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Oh ja! Bücher sind manchmal sehr gefährlich!)


Herr Westerwelle, bei Ihnen muss ich leider Gottes be-
klagen, dass Sie mit Ihrer Darstellung immer hem-
mungslos übertreiben. Sie würden viel glaubwürdiger
wirken, wenn Sie das nicht tun würden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wenn man vom Untergang der sozialen Marktwirt-
schaft spricht, sich aber schon vom nächsten Redner vor-
halten lassen muss, dass man das, was jetzt im Hinblick
auf die Post vereinbart ist, beim Bau mit beschlossen
hat, dann wird einem sofort der Boden unter den Füßen
weggezogen.


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ja, ja! Das sagen Sie! Das stimmt so aber nicht!)

Das Postgesetz, das die Grundlage der heutigen Be-
schlussfassung ist, ist mit Ihrer Zustimmung verabschie-
det worden.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr wahr!)


Auf diese Problemlage will ich aber nicht weiter einge-
hen. Damit müssen Sie selber fertig werden.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Der Unterschied zwischen SPD und CDU/CSU, den
ich in dieser Diskussion feststelle, besteht darin, dass die
SPD – Frau Kramme hat das gerade in bemerkenswerter
Deutlichkeit gezeigt –


(Ludwig Stiegler [SPD]: Sie ist immer sehr klar!)


tendenziell immer über die vorhandenen Arbeitsplätze
spricht – Sie beschäftigen sich selbst im Hinblick auf die
Monopolunternehmen immer mit der bestehenden Situa-
tion –, während wir stärker über die Schaffung neuer Ar-
beitsplätze und zukünftiger Beschäftigungsmöglichkei-
ten im Interesse der heute Arbeitslosen nachdenken.
Dieser Unterschied, den man sehen muss, ist allerdings
gewaltig.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Frau Kramme, nachdem ich gehört habe, was Sie
eben gesagt haben – leider Gottes klang das vorher
schon einmal an –, weise ich Sie darauf hin – denn auch
ich komme beruflich aus einer Branche, in der damals
eine Monopolsituation bestand –: Es ist nun einmal so,
dass in Bereichen, in denen es ein Monopol gibt, Zu-
stände herrschen, die auf Kosten der Verbraucher und
der Steuerzahler gehen und die man, wenn man im
Wettbewerb steht, nicht dauerhaft beibehalten kann.
Das muss man wissen, und das haben alle, die für Wett-
bewerb im Postbereich waren, gewollt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Lassen Sie mich sagen: Sie orientieren sich, was die be-
stehenden Arbeitsverhältnisse betrifft, zu stark an den
Gewerkschaftsstrukturen. Hier sind Sie strukturkonser-
vativ. Das beklage ich zutiefst.

Herr Scholz, Ihnen will ich sagen: Sie haben nahtlos
den Übergang zu zukünftigen Diskussionen geschaffen.
Ich sage hier für unsere Fraktion klipp und klar: Es gibt
einen wesentlichen Unterschied zwischen dem heutigen
und möglichen zukünftigen Verfahren. Alle weiteren
Vorgänge werden geordnet nach dem Tarifvertragsgesetz
ablaufen oder gar nicht. Das ist ein gewaltiger Unter-
schied zu dem jetzigen Verfahren. Das ist überhaupt
keine Frage. Der Ausgangspunkt war, dass die Tarifpart-
ner Deutsche Post AG und Verdi – das wurde jetzt ver-
hindert; deswegen haben wir heute eine ganz andere Si-
tuation als noch vor wenigen Wochen – in einer
Monopolsituation einen Tarifvertrag abgeschlossen ha-
ben, der alle Zeitungszusteller und alle Paketboten, die
einmal einen Brief austragen, die Mitarbeiter im Einzel-
handel in den Poststellen, Taxifahrer usw. umfasste.

14120 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Laurenz Meyer (Hamm)

Die Gestaltungsmöglichkeiten, die dieser Gesetzent-
wurf bietet, sind für Unternehmen, die im Wettbewerb
stehen und in der Anfangsphase eine geringere Produk-
tivität haben, wesentlich andere als die, die aufgrund der
Regelungen bestanden, die wir zunächst auf dem Tisch
hatten. Es ist doch klar, dass jemand, der neu in den
Wettbewerb eintritt, eine wesentlich geringere Produk-
tivität hat als die Post, deren Briefzusteller alle 30, 40
oder 50 Meter einen Brief abgeben, während die Zustel-
ler der neuen Wettbewerber wegen des geringeren
Briefaufkommens möglicherweise 300 oder 400 Meter
laufen müssen, um einen Brief abzugeben. Paketdienst-
leister, die in ländlichen Regionen auch Briefe zustellen,
sind von diesem Tarifvertrag künftig nicht erfasst. Wenn
Zeitungszusteller Briefe mitnehmen, aber überwiegend
Zeitungen verteilen, sind auch diese nicht erfasst. Das-
selbe gilt für Taxifahrer und Einzelhandelskräfte. Es
kommt darauf an, welche Tätigkeit überwiegt. Genau
darum ging es uns.

Es bleiben zwei ganz wesentliche Punkte, die zu re-
geln sind. Zum einen handelt es sich um die Mehrwert-
steuer, die hier mehrfach angesprochen worden ist. Es
kann nicht sein, dass ein Unternehmen das Mehrwert-
steuerprivileg hat, während die anderen in die Röhre
schauen. Wir werden dieses Problem gemeinsam zu re-
geln haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist die Voraussetzung, unter der unsere Fraktion die-
sem Gesetzentwurf zustimmt. Zum anderen handelt es
sich – darauf bin ich selbst, offen gesagt, erst durch die
Diskussion gekommen – um die Unfallversicherung und
die Privilegien, die die Post gegenüber den Wettbewer-
bern hat. Wir werden regeln müssen, wie wir diesen
Kostenvorteil in Höhe von 3 Prozent korrigieren.

Ich habe mich – das gilt auch für verschiedene Kolle-
gen meiner Fraktion und anderer Fraktionen – gefragt,
was man tun kann, um eine soziale Mindestabsicherung,
wie im Postgesetz vorgesehen, herzustellen und gleich-
zeitig die negativen Auswirkungen für die Verbraucher
und den Wettbewerb in Grenzen zu halten. Die Lösung
mag unvollkommen gelungen sein, aber ich glaube, dass
wir hier eine Ausgangssituation haben, die den Wettbe-
werbern einen Einstieg ermöglicht, wenn er auch mögli-
cherweise zusätzliche Kreativität der Wettbewerber
erfordert. Die Diskussionen, die stattfinden, sind deswe-
gen durchaus verständlich. Es bleiben sicher bei dem ei-
nen oder anderen Restbedenken. Ich glaube, wir werden
letztlich auf der Basis des Postgesetzes und der Diskus-
sionen, die wir geführt haben, zustimmen können.

Herr Arbeitsminister, ich sage Ihnen für die Zukunft
klipp und klar: Sie müssen davon ausgehen, dass die
Diskussion mit unserer Fraktion über die Post wegen der
besonderen Voraussetzungen eine andere Diskussion
war als die, die wir über andere Branchen führen wer-
den. Ich habe eben der SPD gesagt, dass wir aufpassen
müssen, dass wir nicht zu nahe an den bestehenden
Strukturen sind. Wir müssen auch gemeinsam aufpassen,
dass wir nicht in die Falle laufen, die ich zurzeit sehe.
Die Entsorgung und andere Bereiche sind angesprochen
worden. Wir müssen uns als Politiker gemeinsam dage-
gen wehren, dass große Arbeitgeber in den verschiede-
nen Branchen – meistens gegen kleinere und mittlere Ar-
beitgeber – das Entsendegesetz und die Möglichkeit,
Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären, was
der sozialen Absicherung von Arbeitnehmern dient, in-
strumentalisieren und nach dem Motto missbrauchen:
Wettbewerb ist gut, aber um Gottes willen nicht in mei-
ner eigenen Branche. –


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dagegen muss die Politik sich wehren.


(Ludwig Stiegler [SPD]: Es gibt keinen Lohndumpingwettbewerb!)


Denn unsere Grundphilosophie, dass Tarifverträge die
entscheidende Größe bei der Lohnfindung sind, wird
ausgehebelt, wenn Arbeitgeber- und Arbeitnehmerver-
treter auf gesetzlichem Wege die Möglichkeit erhalten,
Verträge zulasten Dritter zu schließen, sei es zulasten
kleiner und mittlerer Betriebe, sei es zulasten der Ver-
braucher.

Diesen Abwägungsprozess werden wir in den kom-
menden Verfahren in jedem einzelnen Fall vorzunehmen
haben. Wir werden beurteilen müssen, was bei dieser
Zielsetzung überwiegt. Geht es darum, soziale Absiche-
rung für Arbeitnehmer und ihre Familien zu gewährleis-
ten, oder geht es den Beteiligten darum, Verträge zulas-
ten Dritter zu schließen? Den Weg, Verträge zulasten
Dritter zu schließen, wird die CDU/CSU-Fraktion nicht
mitgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn wir diese Philosophie beachten, werden wir et-
was dazu beitragen können, dass sich die Menschen in
diesem Land sozial sicherer fühlen, und trotzdem die
Voraussetzung dafür schaffen, dass in Zukunft neue Ar-
beitsplätze in diesem Land entstehen können. Dafür tre-
ten wir ein.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613403500

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen noch

nicht zur Abstimmung. Wir haben noch einen Redner,
und ich bitte Sie, ihm in Ruhe zuzuhören. Ich bitte auch
diejenigen weiter hinten, sich auf den hinreichend vor-
handenen Plätzen niederzulassen.

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt er-
hält der Kollege Klaus Barthel von der SPD das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Klaus Barthel (SPD):
Rede ID: ID1613403600

Vielen Dank, Herr Präsident! Ich werde versuchen,

die Zeit bis zur Abstimmung sinnvoll zu nutzen.

Ich glaube, heute ist nicht nur ein guter Tag für die
Briefträger und die Postbranche, sondern auch für die
Demokratie. Denn wir werden sehen, dass die Entschei-
dung, die wir heute treffen, nicht davon geprägt ist, wer

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14121


(A) (C)



(B) (D)


Klaus Barthel
die größeren Anzeigen schalten kann, wer wen auf die-
sem Wege erpressen kann und wer in seinen Zeitungen
die größeren Buchstaben hat. Wir als Parlament ent-
scheiden heute nach wirtschaftlicher Vernunft und im
Sinne der Interessen der Bevölkerung. Ich bin sehr froh,
dass auch unser Koalitionspartner diesem Druck wider-
standen hat.


(Beifall bei der SPD)


An dieser Stelle muss man einmal daran erinnern, was
uns außerhalb dieses Hauses seit Tagen beschäftigt. Ich
möchte zum Beispiel an den Pressekodex des Deutschen
Presserats erinnern, in dem es heißt, dass Verleger, He-
rausgeber und Journalisten eine besondere Verantwor-
tung haben. Ich zitiere aus dem Kodex

Sie nehmen ihre publizistische Aufgabe fair, nach
bestem Wissen und Gewissen, unbeeinflusst von
persönlichen Interessen und sachfremden Beweg-
gründen wahr.

In den Leitlinien eines großen Verlages heißt es:

Die Journalisten bei Axel Springer … nutzen ihre
Berichterstattung nicht, um sich oder anderen Vor-
teile zu verschaffen.

Die Ankündigungen von Entlassungen und die Kam-
pagne gegen den Mindestlohn spielen auf übelste Weise
mit den Ängsten der Bevölkerung und mit den Schicksa-
len der Menschen, die in den Betrieben davon betroffen
sein werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Antimindestlohnkampagne und die Drohung mit
Entlassungen sind ein Verstoß gegen die Grundsätze des
Presserechts und gegen die eigenen Grundsätze von be-
stimmten Verlagen.

Die Ankündigungen von Entlassungen – das ist schon
gesagt worden – sind das Ergebnis eigenen Scheiterns,
weil manche den Postmarkt falsch eingeschätzt haben:
Sie glaubten dem Gerede über den Niedriglohnsektor
und einfache Tätigkeiten. Sie meinten, man könne ein-
fach daherkommen, eine halbe Milliarde Euro auf den
Tisch legen, ein paar Niedriglohnbeschäftigte einstellen,
leichten Markteintritt erhalten und leichten Gewinn ma-
chen. Dann glaubte man auch noch, das Risiko auf die
Beschäftigten verlagern zu können, indem man behaup-
tet, ein Arbeitnehmer sei weniger produktiv, wenn er
weiter laufen muss, um einen Brief zuzustellen. Was ist
das denn für ein Argument? Er muss mehr arbeiten, um
einen Brief zuzustellen – und dafür bekommt er weniger
Lohn, weil ihm vorgehalten wird, er sei weniger produk-
tiv? Was für eine Vorstellung von moderner Volkswirt-
schaft liegt dem zugrunde?


(Beifall bei der SPD)


Es ist DDR-Philosophie, zu sagen: Die wenige Arbeit,
die wir haben, verteilen wir, und dann bekommen alle
weniger.

Das Interessante dabei ist doch, dass trotz des Lohn-
dumpings, das wir haben – 5 bis 6 Euro werden im
Durchschnitt gezahlt –, diese Verluste aufgelaufen sind
und dass man sich hoffnungslos in Widersprüche verwi-
ckelt hat. Ich darf zitieren:

Der Mindestlohn sei zwar ordnungspolitisch be-
denklich und für die kleinen Wettbewerber durch-
aus gefährlich, weil sie keine Chance mehr haben.
Aber für die großen wie PIN und TNT könne eine
Beschränkung des Wettbewerbs trotz des Lohnkos-
tennachteils Vorteile haben und die Marktchancen
verbessern. Deswegen würden bei PIN auch bei der
Einführung eines Mindestlohns keine Abschreibun-
gen nötig.

So hieß es noch vor einem Monat aus dem Hause Sprin-
ger.

Jetzt haben wir eine andere Situation, jetzt werden die
verpassten Chancen diskutiert. Da heißt es: Ach hätten
wir doch einen allgemeinen Mindestlohn von 7,50 Euro
beschlossen; das wäre billiger gewesen! Herr
Austermann sagt: Ach hätten wir doch das Briefmonopol
verlängert! Der PIN-Chef sagt: Ach hätten wir doch ei-
nen Stufenplan mit den Gewerkschaften vereinbart! – Ja:
Hätten wir, hätten wir! Dann wäre es vielleicht billiger
geworden. Aber das ist nicht getan worden.

Stattdessen haben die Wettbewerber der Post gegen
das Lizenzrecht verstoßen. Selbst die Bundeskanzlerin
hat ihnen vorgestern vorgehalten – ich zitiere –: Ohne
die Einführung einer Sozialklausel für die Beschäftigten
wäre das frühere Staatsunternehmen nicht privatisiert
worden. Der Mindestlohn sei eine Folge dieser Verein-
barung, sagte Merkel laut Welt vom 12. Dezember. –
Wie wahr, wie wahr! Keine Lizenz ohne branchenübli-
che Arbeitsbedingungen, Klammer auf: Postgesetz;
Klammer zu.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Es hat etwas Makaberes, wenn manche Wettbewerber
jetzt lautstark versuchen, dem Mindestlohn den Geruch
der Rechtswidrigkeit anzuheften. Da ist die Rede von
Schadenersatz, da ist die Rede vom Bundeskartellamt,
von der EU-Kommission, vom Bundesverfassungsge-
richt; das Einzige, was noch fehlt, ist die UN-Menschen-
rechtskonvention. Mit einem Rechtsstaat habe ein Min-
destlohn nichts zu tun, wird gesagt.

Wir müssen feststellen, dass ein großer Teil der Wett-
bewerber, die jetzt schreien, gegen Recht und Gesetz
verstoßen hat,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


und zwar indem sie Arbeitsbedingungen geboten haben,
die weit unter dem Branchenüblichen liegen. Wer das
nicht getan hat, braucht auch keine Angst vor dem Min-
destlohn zu haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Noch etwas zum Thema Mehrwertsteuer. Wir haben
doch, wie wir jetzt wieder sehen, folgende Lage: Der
Wettbewerb in Europa ist unfair. Die Niederlande – die
selber einen Mindestlohn haben – haben jetzt angekün-
digt, wegen unseres Mindestlohns die Liberalisierung ih-
res Postsektors womöglich hinauszuschieben. Für die
Deutsche Post gilt die Universaldienstpflicht. Kein ande-
rer Wettbewerber muss sich diesen Auflagen stellen.

14122 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Klaus Barthel
Deswegen haben wir in Meseberg vereinbart, dass das
Mehrwertsteuerprivileg für Universaldienstleister bleibt.
Das ist natürlich eine Besserstellung im Wettbewerb.
Doch dafür können die Wettbewerber bei ihren Löhnen
mit dem Mindestlohn um etwa ein Drittel unter dem
bleiben, was bei der Deutschen Post AG üblich ist.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613403700

Herr Kollege Barthel, Sie achten bitte auf die Rede-

zeit.


Klaus Barthel (SPD):
Rede ID: ID1613403800

Sie haben die Chance, sich die Geschäftsfelder auszu-

suchen, ohne Universaldienstpflicht.

Ich muss mich deswegen schon sehr wundern, wie
hier über Wettbewerb diskutiert wird. Manche haben of-
fensichtlich die Vorstellung, dass Wettbewerb nur durch
Lohn- und Sozialdumping geht. Das ist nicht unser Wett-
bewerbsverständnis; das müssen wir am Beispiel des
Postbereichs deutlich machen. Wir werden das auch in
anderen Bereichen, in denen es ähnliche Zustände gibt,
in denen ähnlicher Handlungsbedarf besteht, deutlich
machen.

In diesem Sinne bitte ich Sie um Zustimmung zu die-
sem Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des
Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und um Ablehnung der
Anträge, insbesondere des Entschließungsantrags der
FDP, in dem gefordert wird, die Mehrwertsteuer auf alle
Postdienstleistungen auszudehnen. Das müssten letzten
Endes – dank FDP als Steuererhöhungspartei – die klei-
nen Einzelverbraucher bezahlen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613403900

Das haben wir jetzt, glaube ich, alle verstanden, Herr

Kollege. Da Ihre Redezeit reichlich überschritten ist, ist
sie hiermit nun zu Ende.


Klaus Barthel (SPD):
Rede ID: ID1613404000

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1613404100

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Zweiten Ge-
setzes zur Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegeset-
zes. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7512,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck-
sache 16/6735 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung ange-
nommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich weise darauf hin, dass mir
hierzu eine Reihe von Erklärungen zur Abstimmung
nach § 31 unserer Geschäftsordnung vorliegt – sowohl
von Kolleginnen und Kollegen der Fraktion der CDU/
CSU als auch aus der Fraktion Die Linke.1)

Nach Art. 87 Abs. 3 des Grundgesetzes ist für die An-
nahme des Gesetzentwurfs die absolute Mehrheit – das
sind 307 Stimmen – erforderlich. Hierzu ist namentliche
Abstimmung verlangt worden. Ich bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzu-
nehmen. – Das scheint überall der Fall zu sein. Dann er-
öffne ich hiermit die Abstimmung.

Hat irgendjemand seine Stimmkarte noch nicht abge-
geben? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstim-
mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
mit der Auszählung zu beginnen. Das Abstimmungser-
gebnis werden wir, wie meistens, später vortragen.

Ich möchte die Abstimmungen fortsetzen und komme
zu den Entschließungsanträgen.

Wer stimmt für den Entschließungsantrag der FDP-
Fraktion auf Drucksache 16/7555? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist
mit der Mehrheit der Stimmen der anderen Fraktionen
abgelehnt.

Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 16/7556? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Mit der Mehrheit aller
anderen Fraktionen abgelehnt.

Zusatzpunkt 8. Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie
auf Drucksache 16/7510. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/6432
mit dem Titel „Eine Chance für den Wettbewerb – Kein
Monopolschutz für die Deutsche Post AG“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Damit ist die Beschlussempfehlung
mit den Stimmen der Koalition angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 16/6631 mit dem Titel „Post braucht
Wettbewerb – Wettbewerb braucht faire Bedingungen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses mit großer Mehr-
heit angenommen.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 31:

Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, Ulla
Lötzer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Änderung des Gesetzes zur Regelung
der erwerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlas-

(Arbeitnehmerüberlassungsgesetzänderungsgesetz – AÜGÄndG)


– Drucksache 16/4805 –

1) Anlagen 2 bis 6

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14123


(A) (C)



(B) (D)


Präsident Dr. Norbert Lammert
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)


– Drucksache 16/7513 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Kramme

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. –
Dazu besteht offenkundig Einvernehmen. Dann ist das
so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Wolfgang Grotthaus für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Wolfgang Grotthaus (SPD):
Rede ID: ID1613404200

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Nach dem Mindestlohn steht nunmehr das Arbeit-
nehmerüberlassungsgesetz auf der Tagesordnung. Beide
Themen haben aus unserer Sicht eines gemeinsam: Den
Auswüchsen am Arbeitsmarkt soll entgegengewirkt
werden. Dazu sind von den Fraktionen der Linken und
der Grünen Anträge formuliert worden, über die hier und
heute diskutiert wird. Lassen Sie mich zu diesen beiden
Anträgen eingangs eines sagen: Die Zielrichtung ist aus
meiner Sicht richtig,


(Beifall des Abg. Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE])


aber, Kollege Schneider, der Ansatz ist zu kurz gesprun-
gen und aus meiner Sicht mit der heißen Nadel gestrickt.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Ich nehme den Beifall mit dem Ausdruck des Bedauerns zurück!)


Ich sage dazu: Schade, denn dieses Thema verdient mehr
Aufmerksamkeit. Regelungsbedarf ist vorhanden, aber
nicht in der Weise, wie Sie, meine Damen und Herren
von der Opposition, es hier vorschlagen. Das bloße
Streichen von Ausnahmeregelungen im Arbeitnehmer-
überlassungsgesetz führt nicht zwingend zur konkreten
Umsetzung des Gleichbehandlungsansatzes, den wir als
Sozialdemokraten immer im Auge haben.

Um die Aufgeregtheit aus diesem Thema zu nehmen,
will ich Schritt für Schritt vorgehen. Es ist ja nicht so, als
erkenne die SPD die Probleme nicht. Zum Beispiel
kommt es vor, dass ganze Abteilungen eines Konzerns
outgesourct werden, diese Abteilungen sich dann außer-
halb des Konzerns in Gänze ansiedeln, und dieselben
Menschen, die in diesen Abteilungen beschäftigt waren,
vom Konzern ausgeliehen werden und für die gleiche
Arbeit auf einmal nach einem anderen Tarifvertrag,
nämlich einem, der ein niedrigeres Gehalt vorsieht, be-
zahlt werden.


(Andrea Nahles [SPD]: Das ist wohl wahr!)


Das war wahrlich nicht der Sinn des Arbeitnehmerüber-
lassungsgesetzes. Deswegen sagen wir: Wenn das Ar-
beitnehmerüberlassungsgesetz zum Zwecke von Lohn-
dumping benutzt wird, dann haben wir darauf zu
reagieren.


(Beifall bei der SPD)


Wie dem gegenzusteuern sein wird, muss mit der nö-
tigen Sorgfalt geprüft werden. Dazu haben wir am
Montag dieser Woche eine Expertenanhörung im
Fachausschuss durchgeführt. Es gab ein Spektrum an
Vorschlägen für Verbesserungen, gerade auch von jenen
Experten, die aus der Praxis kommen; das war nicht er-
staunlich. Die Vorschläge sind nunmehr von allen Fach-
politikern genau auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen.
Die Einschätzungen, ob dieses Gegensteuern über Tarif-
verträge oder über eine gesetzliche Regelung zu errei-
chen ist, gingen dabei durchaus weit auseinander.

Deswegen mein Hinweis an die beiden Antragsteller:
Ziehen Sie Ihre Anträge hier und heute zurück. Überprü-
fen Sie die Aussagen der Fachexperten.


(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Suchen Sie den ganzheitlichen Ansatz, und lassen Sie
uns dann gemeinsam einen Antrag formulieren, der den
Menschen in diesem Metier im Rahmen des Arbeitneh-
merüberlassungsgesetzes insgesamt entgegenkommt.
Wir werden uns – dies sei an dieser Stelle schon gesagt –
von Ihren Anträgen nicht treiben lassen. Dazu ist uns die
Angelegenheit zu wichtig.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Ich komme zurück auf die Intention, die wir mit dem
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verfolgt haben. Wir
wollten mehr Beschäftigte in sozialversicherungspflich-
tige Arbeitsverhältnisse bringen. Dazu wollten wir eine
größere Flexibilität erreichen. Gewünscht war dabei,
Zeitarbeitnehmerinnen und Zeitarbeitnehmer über den
sogenannten Klebeeffekt in dauerhafte Arbeitsverhält-
nisse in den Betrieben zu bringen.

Dass sich nun herausstellt, dass dies nicht in dem er-
hofften Maße erfolgt, veranlasst uns jedoch nicht, das
Konzept der Arbeitnehmerüberlassung infrage zu stel-
len. Denn eines ist Fakt: Zeitarbeit hat durchaus Erfolge
vorzuweisen. Davor sollte man nicht die Augen ver-
schließen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Es darf aber auch nicht unerwähnt bleiben, dass es da-
bei zu Auswüchsen wie Lohndumping, Vernichtung von
regulären Arbeitsplätzen durch Umwandlung in Zeitar-
beitsplätze und Aufteilung der Belegschaft durch unter-
schiedliche Bezahlung bei gleicher Arbeit kommt. Das
ist ebenfalls Fakt.

Aus diesem Grund steht auch unsererseits nicht die
Zeitarbeit als solche infrage; es geht nur darum, wie die
Auswüchse, die zulasten von Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern gehen, korrigiert werden können.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann korrigiert doch mal!)


14124 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Grotthaus

Ansatz ist zwar richtig, aber es ist nur ein Punkt in dem berücksichtigen haben. Dabei werden wir – das steht

sehen.


(Beifall bei der SPD)


Zeitarbeitskräfte werden in allen Wirtschaftszweigen
eingesetzt. Auffällig ist aber, dass dies besonders häufig
dort der Fall ist, wo die Löhne der Zeitarbeitsbranche
niedriger sind als die Tariflöhne in der Branche, in der
Zeitarbeitnehmer eingesetzt werden. Hier muss tatsäch-
lich der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Ar-
beit“ gelten. Dabei ist aber die Umsetzung von gravie-
render Bedeutung.


(Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])


Ich frage mich, nach welchem Tariflohn ein Zeitar-
beitnehmer bezahlt wird, der eine Woche nach dem IG-
Metall-Tarifvertrag arbeitet, dann zwei Wochen nach
dem Verdi-Vertrag und dann wieder eine Woche nach
NGG-Vertrag.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deswegen sagen wir: nach drei Monaten!)


Wir müssen uns damit beschäftigen, ob man ein arithme-
tisches Mittel zugrunde legen sollte, ob man den Zeitar-
beitnehmertarifvertrag wählt und mit welchen finanziel-
len Belastungen der bürokratische Aufwand verbunden
ist, wenn tatsächlich jeder Tarifvertrag sinngemäß ange-
wendet wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Eine weitere Frage ist, wie etwa ein Lkw-Fahrer zu
behandeln ist – das Beispiel wurde schon genannt –, der
in einem Betrieb anfängt und von seinem Arbeitgeber,
nämlich dem Entleiher, eine Probezeit vorgeschrieben
bekommt. Ein Lkw-Fahrer verlernt natürlich nicht von
heute auf morgen das Lkw-Fahren. Insofern stellt sich
die Frage, ob eine Probezeit notwendig ist. Ich verneine
diese Frage zunächst einmal. Es stellt sich aber auch die
Frage, wie damit umzugehen ist, wenn Probezeiten not-
wendig sind. Es ist unstrittig, dass dies in manchen Be-
trieben der Fall ist.

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 552;
davon

ja: 466
nein: 70
enthalten: 16

Ja

CDU/CSU

Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Betrieben, die Leiharbeitnehmer aufnehmen, aber auch
die Arbeitgeber mit ins Boot holen müssen.

Unterm Strich bleibt festzuhalten, dass noch ein gro-
ßer Regulierungsbedarf besteht. Wenn eine solche Vor-
gehensweise, wie ich sie gerade am Beispiel des Lkw-
Fahrers geschildert habe, nur dazu dient, Menschen nicht
qualifikationsgerecht einzustellen und ihnen entspre-
chende Löhne vorzuenthalten, dann sind wir als Gesetz-
geber gefordert.

An diesem Beispiel sehen Sie schon, dass die Thema-
tik komplexer ist, als es Ihre Anträge vermitteln. Aus
diesem Grund werden wir heute Ihre Anträge ablehnen.
Wir kündigen aber an,


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Im Ankündigen sind Sie immer gut!)


dass wir zu gegebener Zeit im Plenum mit eigenen Über-
legungen auf das Thema zurückkommen werden.


(Zuruf von der LINKEN: Was heißt „zu gegebener Zeit“?)


Dann wird sich ein Teil Ihrer Überlegungen natürlich in
unseren Anträgen wiederfinden, weil die Thematik zwi-
schen uns allen unstrittig ist. Aber wir werden das natür-
lich weiter aufsplitten, wie ich es gerade dargestellt
habe.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1613404300

Ich gebe Ihnen das Ergebnis der namentlichen Ab-

stimmung über den Entwurf eines zweiten Gesetzes zur
Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, Druck-
sachen 16/6735 und 16/7512, bekannt. Abgegebene
Stimmen: 552. Mit Ja haben 466, mit Nein 70 gestimmt.
Stimmenthaltungen: 16. Zur Annahme des Gesetzent-
wurfes ist gemäß Art. 87 Abs. 3 des Grundgesetzes die
absolute Mehrheit – das sind 307 Ja-Stimmen – erforder-
lich. Der Gesetzentwurf hat die erforderliche Mehrheit
erreicht.

Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)


Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Wust vieler Notwendigkeiten, die wir in diesem Bereich fest – die Tarifvertragsparteien, die Betriebsräte aus den
– Wir sind auf dem Weg, Kol


(Brigitte Pothmer [BÜN NEN]: Der Weg ist lan genruf von der CDU/C Ziel!)


aber das, was Sie machen, is
legin Pothmer,

DNIS 90/DIE GRÜ-
g und mühsam! – Ge-
SU: Der Weg ist das

t zu kurz gesprungen. Der
Wie kann man das unter
kann nicht dem Arbeitgeber
die Probezeiten zu definieren
sodass ein Arbeitgeber drei
sechs verlangt. Hier sind die
Betrieben gefordert. Einige
vorgemacht. Sie haben ihre
vorbildlich abgeschlossen. D
Kontrolle bekommen? Es
alleine überlassen werden,
und eine Frist festzulegen,
Monate und ein anderer
Tarifvertragsparteien in den
Betriebe haben das schon
betrieblichen Tarifverträge

iesen Aspekt werden wir zu

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14125


(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Leo Dautzenberg
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer (Lübeck)

Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Ralf Göbel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu

Guttenberg
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Bernd Heynemann
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Dr. Franz Josef Jung
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Kristina Köhler (Wiesbaden)

Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer (Altötting)

Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Laurenz Meyer (Hamm)

Maria Michalk
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Carsten Müller


(Braunschweig)

Stefan Müller (Erlangen)

Bernward Müller (Gera)

Bernd Neumann (Bremen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche (Potsdam)

Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Anita Schäfer (Saalstadt)

Hermann-Josef Scharf
Hartmut Schauerte
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt (Fürth)

Andreas Schmidt (Mülheim)

Ingo Schmitt (Berlin)

Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Marion Seib
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Thomas Strobl (Heilbronn)

Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß (Emmendingen)

Gerald Weiß (Groß-Gerau)

Annette Widmann-Mauz
Willy Wimmer (Neuss)

Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

SPD

Dr. Lale Akgün
Gregor Amann
Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr (Neuruppin)

Doris Barnett
Klaus Barthel
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding (Heidelberg)

Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann


(Hildesheim)

Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Renate Gradistanac
Angelika Graf (Rosenheim)

Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Nina Hauer
Hubertus Heil
Dr. Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Petra Hinz (Essen)

Gerd Höfer
Iris Hoffmann (Wismar)

Frank Hofmann (Volkach)

Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Johannes Jung (Karlsruhe)

Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Karin Kortmann
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning

14126 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner

Dr. Hans-Ulrich Krüger
Angelika Krüger-Leißner
Jürgen Kucharczyk
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel (Berlin)

Ulrike Merten
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller (Chemnitz)

Michael Müller (Düsseldorf)

Gesine Multhaupt
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Heinz Paula
Johannes Pflug
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Steffen Reiche (Cottbus)

Maik Reichel
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel Riemann-

Hanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Michael Roth (Heringen)

Ortwin Runde
Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Marianne Schieder
Otto Schily
Dr. Frank Schmidt
Ulla Schmidt (Aachen)

Silvia Schmidt (Eisleben)

Renate Schmidt (Nürnberg)

Heinz Schmitt (Landau)

Carsten Schneider (Erfurt)

Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
Reinhard Schultz


(Everswinkel)

Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Dieter Steinecke
Andreas Steppuhn
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen


(Wiesloch)

Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

DIE LINKE

Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Dr. Lothar Bisky
Heidrun Bluhm
Dr. Martina Bunge
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Lutz Heilmann
Hans-Kurt Hill
Inge Höger
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Oskar Lafontaine
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Petra Pau
Bodo Ramelow
Paul Schäfer (Köln)

Volker Schneider


(Saarbrücken)

Dr. Ilja Seifert
Frank Spieth
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Jörn Wunderlich

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Birgitt Bender
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Priska Hinz (Herborn)

Dr. Anton Hofreiter
Thilo Hoppe
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Fritz Kuhn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Winfried Nachtwei
Brigitte Pothmer
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler

Fraktionslose Abgeordnete

Henry Nitzsche
Gert Winkelmeier

Nein

CDU/CSU

Norbert Barthle
Gitta Connemann
Hubert Deittert
Marie-Luise Dött
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Eberhard Gienger
Jürgen Herrmann
Jens Koeppen
Johann-Henrich

Krummacher
Dr. Klaus W. Lippold
Friedrich Merz
Dr. h. c. Hans Michelbach
Franz Obermeier
Albert Rupprecht (Weiden)

Peter Rzepka
Jens Spahn
Andrea Astrid Voßhoff
Klaus-Peter Willsch

FDP

Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Christian Ahrendt
Daniel Bahr (Münster)

Uwe Barth
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich (Bayreuth)

Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14127


(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
rade einmal noch 25 Prozent.
hier schon die Rede war, hat d
vormals Leiharbeiter gewesen
lung beim entleihenden Unt
Das heißt, die Brücke in
wirkt. Wir sollten sie nicht un


(Beifall bei der FDP sow der CDU Ende 2007 sind etwa 680 werblichen Zeitarbeit beschäf Zunahme gegenüber der jüng für mich keine Schreckens-, Der Klebeeffekt, von dem azu geführt, dass viele, die sind, jetzt eine Festanstel ernehmer gefunden haben. den ersten Arbeitsmarkt passierbar machen. ie bei Abgeordneten /CSU)


000 Mitarbeiter in der ge-
tigt. Dies ist eine deutliche
eren Vergangenheit. Das ist
sondern eine Erfolgsmel-
Arbeitslose ohne Zeitarbeit
keine Chance mehr auf einen
die des Marktforschungsins
zwei Drittel der Zeitarbeitne
keit. Nach Angaben der B
– Frank Weise im Ausschuss
jede vierte Vermittlung eines
nehmerüberlassung. Das mac
bot der Arbeitnehmerüberlas
gering qualifizierte Arbeitslo
chen. Das wollen wir nicht.


(Beifall bei der FDP – LINK wahrscheinlich überhaupt Job hätten. Nach einer Stutitutes Lünendonk kamen hmer aus der Arbeitslosig undesagentur für Arbeit in dieser Woche – erfolgt Arbeitslosen in die Arbeitht doch deutlich: Ein Ver sung würde sich gerade für se negativ bemerkbar ma Widerspruch bei der EN)

Jetzt, in der reiferen Phase des Aufschwungs, sind es ge- kommt zu dem Ergebnis, dass viele gering qualifizierte
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel

Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg Rohde
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Florian Toncar
Christoph Waitz

Der nächste Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Heinrich Kolb, FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1613404400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich fürchte, es ist kein Zufall, dass nach der Mindest-
lohndebatte heute Morgen jetzt die Zeitarbeit in den Fo-
kus unserer Beratungen kommt. Denn es gibt einige in
diesem Hause, die sehr wohl ideologisch an das Thema
Zeitarbeit herangehen und diese in den Betrieben wei-
testgehend unmöglich machen möchten.


(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE])


– Nein, Herr Kollege Schneider. – Auch Zeitarbeit, also
Arbeit, die im Rahmen des Arbeitnehmerüberlassungs-
gesetzes geleistet wird, ist gute Arbeit. Für das entlei-
hende Unternehmen ist diese Art der Beschäftigung in
der Regel auch nicht billiger, wenn man die Gesamtkos-
ten betrachtet, sondern – verglichen mit den Kosten ei-
gener Mitarbeiter – oft sogar teurer. Aber Zeitarbeit
schafft Flexibilität, die es zum Beispiel braucht, um
Auftragsspitzen zu bewältigen, Flexibilität, mit der Un-
ternehmen auf einen beginnenden Aufschwung reagie-
ren können, von dem sie noch nicht wissen, ob er dauer-
haft tragfähig sein wird. Das hat man doch gerade im
aktuellen Konjunkturzyklus sehr schön beobachten
können. Zu Beginn des Aufschwungs waren 75 Prozent
der neu geschaffenen Stellen im Bereich der Zeitarbeit.
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

Martin Zeil

Enthaltung

CDU/CSU

Michael Grosse-Brömer
Ernst Hinsken
Susanne Jaffke
Andreas G. Lämmel

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann

DIE LINKE

Roland Claus
Dr. Dagmar Enkelmann
Diana Golze
Cornelia Hirsch
Dr. Barbara Höll
Jan Korte
Katrin Kunert
Elke Reinke
Dr. Petra Sitte
Dr. Kirsten Tackmann

dung. Ich finde die zunehmende Polemisierung in der
Debatte über die Zeitarbeit überhaupt nicht angebracht,


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


und zwar auch deswegen, weil sich viele Argumente, die
gegen die Leiharbeit vorgebracht werden, bei näherer
Betrachtung oft recht schnell widerlegen lassen.

Eines der Vorurteile lautet, dass dadurch reguläre Ar-
beitsplätze im Betrieb verdrängt würden. Dieses Argu-
ment hat gerade auch Kollege Grotthaus aufgegriffen.
Herr Kollege Grotthaus, das ist falsch. Eine IAB-Studie
– die FDP ist nicht immer unkritisch, wenn es um IAB-
Studien geht – vom Herbst letzten Jahres hat belegt, dass
Leiharbeitsjobs in der Regel nur kurze Phasen im Er-
werbsleben eines Arbeitnehmers darstellen. Das wider-
spricht klar der immer wieder vorgetragenen Befürch-
tung, dass Leiharbeiter reguläres Personal verdrängen.


(Beifall bei der FDP)


Nach der IAB-Studie waren gerade einmal 13 Prozent
der Leiharbeiter ein Jahr oder länger ununterbrochen
beim gleichen Entleiher tätig. Das, Herr Kollege
Dreibus, spricht doch für sich.


(Werner Dreibus [DIE LINKE]: Sie vergleichen Äpfel mit Birnen!)


Des Weiteren haben Untersuchungen gezeigt, dass
durch die Arbeitnehmerüberlassung nicht wenige Ar-
beitnehmer einen Arbeitsplatz erreichen konnten, den sie
unter anderen Umständen nicht bekommen hätten. Eine
aktuelle Studie des IWG vom November dieses Jahres

14128 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Heinrich L. Kolb
Ein „equal pay – equal treatment“, Herr Kollege
Dreibus, ist aus unserer Sicht wegen der Fülle unter-
schiedlicher Tarifverträge nicht handhabbar.


(Werner Dreibus [DIE LINKE]: Gilt das für ganz Europa?)


Mehr als 64 000 existieren davon in Deutschland.


(Zuruf von Der Linken)


Nun sind aber, wie der Sachverständige Mumme in der
Anhörung am letzten Montag ausführte, von den
760 000 Erlaubnisinhabern, die überwiegend Zeitarbeit
betreiben, 63 Prozent Betriebe mit weniger als
50 Mitarbeitern. Daher stellt sich für mich die Frage, wie
gerade diese mittelständischen Verleiher bei
64 000 Tarifverträgen mit einem obligatorischen „equal
pay – equal treatment“ und dem damit verbundenen bü-
rokratischen und administrativen Aufwand klarkommen
sollen.


(Werner Dreibus [DIE LINKE]: Genau wie in Frankreich!)


Herr Kollege Dreibus, Sie sind doch manchmal durchaus
vernünftig, aber hat jemand bei Ihnen einmal darüber
nachgedacht, was „equal pay – equal treatment“ für
diese kleinen Betriebe bedeutet? Nichts anderes als das
Aus! Auch das wollen wir nicht.


(Beifall bei der FDP – Werner Dreibus [DIE LINKE]: Gehen Sie einmal nach Frankreich, Herr Kolb! Ein Blick über die Grenze ist oft hilfreich!)


In Ihrem Gesetzentwurf heißt es:

Praktische Erfahrungen in Unternehmen verschie-
dener Branchen … belegen, dass der Tarifvorbehalt
von den Arbeitgebern zum Lohndumping miss-
braucht wird.

Herr Dreibus, hier werden alle Arbeitgeber unter Gene-
ralverdacht gestellt. Das ist nicht akzeptabel.


(Beifall bei der FDP)


Niemand wird leugnen können, dass es auch in dieser
Branche schwarze Schafe gibt. Aber diese generelle Vor-
verurteilung zeigt, durch welche ideologische Brille der
Autor bei der Formulierung dieses Gesetzentwurfs ge-
blickt hat.

Zum Schluss ein Zitat aus dem Jahresgutachten des
Sachverständigenrates:

Bedenklich wäre es ferner, wenn Forderungen Ge-
hör fänden, die Flexibilisierung bei der Leiharbeit
wieder auf breiter Front zurückzudrehen. Denn
diese Form der dauerhaften sozialversicherungs-
pflichtigen Beschäftigung eröffnet in Ermangelung
namentlich einer Lockerung beim Kündigungs-
schutz wichtige Flexibilitätsspielräume und ver-
zeichnete daher insbesondere in der Anfangsphase
des Aufschwungs deutliche Zuwächse.

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1613404500

Nächste Rednerin ist die Kollegin Gitta Connemann,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1613404600

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Meine Damen und Herren von der Linken, Ihre
Vorlagen sind immer für eine Überraschung gut bzw.
schlecht. Heute sehen Sie mich nicht nur verblüfft, son-
dern auch einigermaßen ratlos; denn Sie legen den Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Re-
gelung der erwerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung
vor. Ich bin selbst Arbeitsrechtlerin, aber dieses Gesetz
kenne ich nicht. Auch ein Blick in die offizielle Samm-
lung der Arbeitsgesetze machte mich nicht schlauer.
Dort findet sich aber – das war wohl von Ihnen ge-
meint – das Gesetz zur Regelung der gewerbsmäßigen
Arbeitnehmerüberlassung abgedruckt. Ein einfacher
Schreibfehler? Nein, denn die falsche Formulierung
zieht sich konsequent durch einen immerhin vierseitigen
Gesetzentwurf. Ich glaube, dass diese Nachlässigkeit
einmal mehr die mangelnde Ernsthaftigkeit Ihrer Arbeit
zeigt. Schnelligkeit statt Gründlichkeit, das hat schon
Methode; denn Sie produzieren wirklich Vorlagen im
Stundentakt. Damit vergeuden Sie Ressourcen. Damit
meine ich nicht die Zeit der Kolleginnen und Kollegen in
diesem Haus. Vielmehr denke ich mit Schrecken an die
Bäume, die für Ihre Papierflut abgeholzt werden muss-
ten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren von der Linken, Sie fügen
dem deutschen Wald mehr Schaden zu, als es der saure
Regen jemals vermochte.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das Schlimmste ist aber: Diese Nachlässigkeit zeigt
einmal mehr, dass es Ihnen an Respekt vor denjenigen
mangelt, zu deren Anwälten Sie sich stets ausrufen,
nämlich den Arbeitnehmern und Arbeitslosen. Diese
Bürgerinnen und Bürger können von uns allen Sorgfalt
und Sachlichkeit verlangen. Mit Ihrem Gesetzentwurf
werden Sie beidem nicht gerecht, insbesondere der
Sachlichkeit nicht. Ideologie pur: die Welt als Schwarz-
Weiß-Gemälde, Arbeitgeber als Ausbeuter.

Jetzt nehmen Sie die Zeitarbeitsbranche ins Visier.
Nach Ihrem Gesetzentwurf sollen die Ausnahmen, die
das Gesetz zum sogenannten Gleichbehandlungs-
grundsatz enthält, gestrichen werden. Sie haben dafür
zwei Begründungen. Als erste Begründung führen Sie
an, dass die gültige gesetzliche Regelung Lohndumping
begünstige. Einen Nachweis für diese Behauptung lie-
fern Sie wie immer nicht. Vielmehr beziehen Sie sich auf
Berichte von DGB-Gewerkschaften und Betriebsräten,
die Sie aber nicht vorlegen. Auch in der Anhörung am
Montag wurden laut Protokoll keine konkreten Zahlen

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14129


(A) (C)



(B) (D)


Gitta Connemann
genannt. Das wäre auch schwierig; denn zum Beispiel
haben die DGB-Gewerkschaften, auf die Sie sich bezie-
hen, für den Bereich der Zeitarbeit Tarifverträge abge-
schlossen, die vom Grundsatz „equal pay – equal treat-
ment“ abweichen und Mindestentgelte von 7,15 Euro im
Westen und 6,22 Euro im Osten festlegen. Auch das ge-
hört zur Wahrheit.

Das Bundesarbeitsgericht hat bereits jetzt einen
Schutz vor Lohndumping geschaffen, auch im Hinblick
auf Tarifverträge: Nach der ständigen Rechtsprechung
des BAG sind tarifvertragliche Lohnvereinbarungen sit-
tenwidrig, wenn der Tariflohn unter Berücksichtigung
aller Umstände des räumlichen, fachlichen und persönli-
chen Geltungsbereichs des Tarifvertrages sowie der im
Geltungsbereich des Tarifvertrages verrichteten Tätig-
keiten einen Hungerlohn darstellt. Tarifverträge, die ei-
nen Hungerlohn regeln, sind also unwirksam. Auch das
ist schon heute Rechtswirklichkeit. Zur Vermeidung von
Lohndumping ist also die von Ihnen beantragte Strei-
chung der Ausnahmetatbestände im Arbeitnehmerüber-
lassungsgesetz nicht notwendig.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie begründen Ihren Antrag weiter damit, dass
Stammbeschäftigte in den Entleihfirmen durch Leihar-
beitnehmer verdrängt werden. Das ist ein sehr gängiges
Argument. Auch für diese Behauptung fehlt einmal
mehr jeder Nachweis. Der ist auch nicht möglich; denn
die Statistik besagt etwas anderes – der Kollege Kolb hat
bereits darauf hingewiesen –: Die Verweildauer eines
Leiharbeitnehmers in einem Kundenunternehmen ist nur
kurz und liegt bei durchschnittlich zwei bis drei Mona-
ten. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
der Bundesagentur, auf das Sie, meine Kolleginnen und
Kollegen von der Linken, sich beziehen – nur eben nicht
vollständig; die unangenehmen Wahrheiten lassen Sie
aus – kommt deshalb zu dem Ergebnis – ich zitiere –:

Für die häufig formulierte Begründung, dass Entlei-
her systematisch reguläre Arbeitskräfte durch Leih-
arbeiter ersetzen, liefern die Auswertungen keine
empirische Evidenz. Die Zeitarbeitsbranche ist viel-
mehr durch einen hohen Turnover geprägt. Lang-
fristige Einsätze – und nur sie sind geeignet, regulä-
res Personal zu ersetzen – gibt es nur selten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nehmen Sie dies bitte zur Kenntnis!

Ich bin mit dem Kollegen Grotthaus einig, dass es un-
ter den Zeitarbeitsfirmen sicherlich auch schwarze
Schafe gibt. Unbestritten: Wir sehen gewisse Verwerfun-
gen – unter anderem im Verlagsbereich –, über die wir
werden reden müssen. Aber es gibt auch schlechte und
gute Abgeordnete, auch in diesem Haus.

Die Initiative, die Sie gegen die Zeitarbeitsbranche in
Gänze starten, hat keinen einzigen sachlichen Grund.
Das gilt auf jeden Fall für die beiden von Ihnen ange-
führten Begründungen; denn es lässt sich ohne Weiteres
erkennen, dass sie falsch sind. So stellt übrigens auch die
Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zum Grünbuch
Arbeitsrecht fest – ich zitiere –,

dass ein angemessener Schutz der Beschäftigten im
Leiharbeitsverhältnis gewährleistet ist und dass so-
mit derzeit ein Regelungsbedarf hinsichtlich des so-
zialen Schutzes von Leiharbeitnehmern weder auf
europäischer noch auf nationaler Ebene besteht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es geht Ihnen, meine Damen und Herren von der Lin-
ken, also einmal mehr nicht um den Schutz von Arbeits-
losen und Arbeitnehmern. Sie spielen einmal mehr nur
mit Worten. Auf den ersten Blick suggeriert die Forde-
rung nach Gleichbehandlung von Zeitarbeitnehmern
bessere Bezahlung und mehr Gerechtigkeit. Aber gesetzt
den Fall, Ihre Forderungen würden tatsächlich umge-
setzt, würden sie genau das Gegenteil bewirken. Zeitar-
beitnehmer sind in allen Wirtschaftszweigen tätig. In ei-
nigen dieser Wirtschaftszweige sind aber Entlohnungen
vorgesehen, die deutlich geringer sind, als in den Tarif-
verträgen für Zeitarbeitnehmer vereinbart ist. Mehr als
90 Prozent der Zeitarbeitnehmer sind tarifvertraglich be-
schäftigt. Ein Beispiel dafür ist das Hotel- und Gaststät-
tengewerbe in Mecklenburg-Vorpommern. Hier sieht die
Entlohnung 5,13 Euro vor. Das ist weniger, als die für
die Zeitarbeitnehmer vereinbarten Tarife festlegen.
Würde hier der Gleichbehandlungsgrundsatz umgesetzt,
müssten die Zeitarbeitskräfte erhebliche Einkommens-
verluste hinnehmen.

Ein weiteres Problem ergäbe sich dadurch: Derzeit ist
sichergestellt, dass Zeitarbeitnehmer in den verleihfreien
Zeiten dieselben Löhne und Entgelte erhalten wie in den
Einsatzzeiten. Würde diese Tariföffnungsklausel gestri-
chen, fiele diese Regelung ersatzlos weg. Arbeitgeber
und Arbeitnehmer müssten dann individuelle Regelun-
gen schaffen. Ob die Arbeitnehmer dadurch immer bes-
sergestellt würden, sei dahingestellt. Ich halte eine tarif-
vertragliche Regelung hier für weitaus sinnvoller.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Eines bitte ich im Übrigen zu bedenken: Die Zeitar-
beitsbranche ist mittelständisch geprägt. Dem bürokrati-
schen Aufwand, der mit dem Gleichbehandlungsgrund-
satz verbunden wäre, wäre keines dieser Unternehmen
gewachsen. Es müsste schließlich für jeden Mitarbeiter
vor jedem Einsatz im Einzelnen geklärt werden, wie die
jeweiligen Arbeitsbedingungen sind. Das betrifft nicht
nur die Lohnhöhe, sondern auch Urlaubstage, Urlaubs-
und Weihnachtsgeld,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Unvorstellbarer Aufwand!)


Sozialleistungen, Anspruch auf Fort- und Weiterbil-
dungsmaßnahmen usw.

Kleine und mittelständische Unternehmen wären
durch einen solchen Personalaufwand immens belastet.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist wahr!)


Es gäbe eine Marktbereinigung, und zwar zulasten des
Arbeitsmarktes,


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


14130 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Gitta Connemann
zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, zu-
gunsten der Arbeitslosigkeit.

Das heißt, Ihre Initiative gegen Zeitarbeit in dieser
pauschalen und wieder einmal ideologischen Form ist
nichts anderes als eine Initiative gegen Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer und für Arbeitslosigkeit.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: So ein Quatsch! Unsinn!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1613404700

Nächster Redner ist der Kollege Werner Dreibus,

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])



Werner Dreibus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613404800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich will nur eine Bemer-
kung zu Frau Connemann machen:

Es ist – zumindest für mich – relativ schwer nachvoll-
ziehbar, wie man, gerade als Frau und als Mitglied einer
sich auf christliche Fundamente gründenden Partei, ei-
nen Grundsatz aus Prinzip und aus sogenannten bürokra-
tischen Gründen infrage stellen kann, einen Grundsatz,
der am Ende des 19. Jahrhunderts aus der christlichen
Soziallehre entstanden ist, einen Grundsatz, der sich im
20. Jahrhundert nicht nur in Deutschland, sondern auch
in Europa weitgehend durchgesetzt hat, nämlich den
Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, der
übrigens auch ein Ergebnis der Frauenbewegung ist. Wie
man ihn infrage stellen kann, ist mir wirklich unerklär-
lich.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Wie bei den Themen „Mindestlohn“ und „Manager-
gehälter“ geht es auch beim Thema der Leiharbeit im
Kern immer um die Frage: Wie gerecht soll unsere Ge-
sellschaft sein?


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben ja gar nicht zugehört!)


Wie beim Mindestlohn und bei den Managergehältern
müssen wir auch beim Thema Leiharbeit eine Gerech-
tigkeitslücke konstatieren.

Es ist eben so – das kann man auch mit noch so be-
schwörerischen Reden nicht aus der Welt schaffen –:
Viele – nicht alle – Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter
erhalten für die gleiche Arbeit bis zu 50 Prozent weniger
als die Kollegin oder der Kollege, die oder der nebenan
die gleiche Arbeit macht. Wer sich ab und zu einmal in
einem Betrieb Arbeitsplätze ansieht und mit den Men-
schen redet, der findet für diese These von mir vielfäl-
tige Belege.

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Legen Sie endlich mal Ihre Belege vor!)


Ich bitte Sie, zumindest ab und zu in die Praxis zu
schauen.

„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ ist heute, im
21. Jahrhundert, für Hunderttausende nur noch ein
Wunsch. Wir wollen, dass die Verwirklichung des So-
zialstaatsgebots auch in diesem Bereich von uns Politi-
kern wieder ernst genommen wird.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Wir von der Linken haben im Oktober unter dem Titel
„Gute Arbeit – Gutes Leben“ ein Manifest vorgelegt.
Wir haben eine Rahmeninitiative dazu in den Bundestag
eingebracht. Uns geht es nicht nur darum, generell mehr
Arbeitsplätze zu schaffen – das wollen wir alle –, son-
dern auch darum, die Qualität von Arbeit in den Mittel-
punkt unserer Tätigkeit zu rücken.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Wir haben im Bereich der Leiharbeit vor allen Dingen
ein Problem bei der Qualität von Arbeit. Millionen Men-
schen jobben in zwei oder drei Jobs, weil, vor allem in
der Zeitarbeit, ein Verdienst allein nicht ausreicht, um
davon zu leben.

Neueinstellungen werden häufig nur noch über Leih-
arbeit vorgenommen. Beispiel: Im BMW-Werk in
Leipzig sind, wie wir alle wissen, mehr als ein Drittel
der Beschäftigen Leiharbeitskräfte. Die decken keine
Auftragsspitzen ab – das ist überhaupt kein Thema
mehr –; die erledigen die ganz normal anfallende, die re-
guläre Arbeit bei BMW in Leipzig. Man kann sogar sa-
gen: Das Geschäftsmodell von BMW in Leipzig basiert
darauf, dass es dauerhaft Leiharbeitsplätze und eben
keine Stammarbeitsplätze gibt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist die Ausnahme, Herr Dreibus!)


Das ist nur ein Beispiel von vielen.

Immer mehr Unternehmen verlagern Beschäftigte in
eigene Verleihfirmen und verleihen diese Beschäftigten
anschließend an sich selbst zurück. Das ist eine brutale
Ausnutzung einer Gesetzeslücke. Die müssen wir schlie-
ßen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


So geschieht es in der kommunalen Seniorenbetreu-
ung in Mülheim in Nordrhein-Westfalen. So geschieht es
bei der Nordwest-Zeitung in Oldenburg, der Region, aus
der Frau Connemann kommt. Da wurden Redakteurin-
nen und Redakteure entlassen, und anschließend wurden
dieselben Redakteurinnen und Redakteure als Leihar-
beitskräfte am gleichen Arbeitsplatz weiterbeschäftigt,
nur zu 30 Prozent weniger Entgelt. Das ist Missbrauch.
Diesem Missbrauch müssen wir einen Riegel vorschie-
ben.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14131


(A) (C)



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Werner Dreibus

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Neben den Leiharbeiterinnen und Leiharbeitern leidet
auch die Qualität der übrigen Arbeitsplätze. Tarifstan-
dards geraten unter Druck, Beschäftigte trauen sich im-
mer weniger, ihre Rechte einzufordern, usw. Es ist uner-
lässlich, die Leiharbeit wieder auf ihre Funktion als
zeitlich begrenzte zusätzliche Beschäftigungsform zu-
rückzuführen, mit der Arbeitsspitzen und Personalaus-
fälle kompensiert werden können. Unternehmen, die das
wollen, werden auch den gleichen Lohn für gleiche Ar-
beit zahlen.

Wir können nicht hinnehmen, dass die Tariföffnungs-
klausel all diese Umgehungs- und Dumpingmöglich-
keiten schafft. Wir können auch nicht hinnehmen, dass
dubiose Organisationen, die sich sinnvollerweise auch
noch „christliche Gewerkschaften“ nennen – ich sage be-
wusst: dubiose Organisationen –, im Bereich der Leihar-
beit Tarifverträge abschließen, die einen Stundenlohn
von 4 bis 5 Euro vorsehen. Damit wurde und wird der
Gleichbehandlungsgrundsatz sozusagen prinzipiell aus-
gehebelt. Wir fordern deshalb die Streichung dieser Öff-
nungsklausel, um damit dem Prinzip „Gleicher Lohn für
gleiche Arbeit“ wieder Geltung zu verschaffen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Ich möchte ein paar Missverständnisse, ein paar soge-
nannte Scheinargumente, die auch die Vorredner ange-
führt haben, kurz benennen:

Erstens zur Behauptung, Leiharbeit stelle vor allem
eine Chance für Geringqualifizierte dar und höhere
Löhne würden diese Chancen zunichtemachen.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Gehen Sie doch mal auf Ihre eigenen Argumente ein! Nicht ablenken!)


Untersuchungen des Instituts der Bundesagentur für Ar-
beit zeigen, dass geringqualifizierte Arbeitslose mittels
Leiharbeit nicht leichter dauerhaft – die Betonung liegt
auf „dauerhaft“ – in Arbeit kommen; entsprechende
Zahlen sind schon genannt worden. Das IAB selbst
spricht von einem Anteil von etwa 15 Prozent, der dau-
erhaft in Arbeit kommt. Vielleicht sind es auch 20 Pro-
zent. Das bedeutet, von fünf Menschen sind nach Been-
digung der Leiharbeit vier wieder arbeitslos. Es ist also
überhaupt kein Argument, dass daraus dauerhaft Ar-
beitsplätze entstehen.

Zweitens wird gerne von den Befürwortern der Leih-
arbeit auf den hohen Anteil an neu geschaffenen Be-
schäftigungsverhältnissen hingewiesen. Jeder, der schon
einmal ein Unternehmen von innen gesehen hat, weiß,
dass es eine ziemlich naive Vorstellung ist, dass Arbeits-
plätze sozusagen von sich aus entstehen. Sie entstehen
natürlich nur, wenn die Auftragslage besser geworden ist
und mehr Arbeit benötigt wird. Wenn statt regulären Ar-
beitsplätzen aber nur Leiharbeit angeboten wird, dann ist
dies den schlechten Löhnen für Leiharbeit geschuldet.
Wenn es die Möglichkeit der Zahlung solcher schlechten
Löhne nicht gäbe, sondern die Tariflöhne für alle Gültig-
keit hätten, würden Unternehmen selbstverständlich wie
sonst auch wieder mehr reguläre, unbefristete Arbeits-
plätze schaffen. Wir alle hätten ein Problem weniger.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was nicht so ohne Weiteres funktioniert! Ich muss Ihnen widersprechen!)


Drittens wird die ungleiche Bezahlung von Leihar-
beitskräften und regulär Beschäftigten gerne mit der an-
geblich geringeren Produktivität von Leihbeschäftigten
gerechtfertigt – auch das ist hier gesagt worden –, weil
sie nur für kurze Zeit im Entleihbetrieb tätig seien und
nicht wie Festangestellten über das notwendige betriebli-
che Wissen verfügten. Tatsache ist: Leiharbeitskräfte
werden überwiegend für einfache Tätigkeiten herange-
zogen, die keine besondere Einarbeitungszeit erfordern.
Der Lkw-Fahrer oder die Frau, die im Supermarkt Re-
gale einräumt, arbeiten nach ein paar Stunden genauso
gut wie ihre festangestellten Kolleginnen und Kollegen.

Viertens zur Behauptung, wenn man Leiharbeitskräfte
schon gleich bezahle, so reiche es aus, dies beispielsweise
erst nach sechs Wochen oder nach drei bzw. sechs Mona-
ten ihres Einsatzes zu tun: Hierzu muss man wissen
– auch laut IAB –: Rund 60 Prozent der Leiharbeiterin-
nen und Leiharbeiter sind kürzer als drei Monate in einem
Entleihunternehmen eingesetzt. Bei 15 Prozent – diese
Zahl wurde schon genannt – dauert der Einsatz sogar we-
niger als eine Woche. Das bedeutet, jede Regelung, die
eine längere Wartefrist – Wochen, Monate – bis zu einer
gleichen Bezahlung vorsieht, würde vollkommen ins
Leere laufen und für die überwiegende Zahl der Leihar-
beitskräfte überhaupt keine Wirkung entfalten. Bereits
heute werden übrigens in Tarifverträgen Einarbeitungs-
fristen geregelt. Man braucht also nur in den Tarifvertrag
der jeweiligen Branche zu schauen, und schon findet man
für dieses Problem schon heute Lösungen. Wir brauchen
da keine neuen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Bundesregierung selbst hat bereits in verschiede-
nen Berichten die miserable Qualität der Bedingungen
der Leiharbeit dokumentiert. Nur, es liegt uns kein Vor-
schlag vor – auch nicht von der SPD –,


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber von den Grünen!)


wie wir diesem erkannten Problem nun endlich entge-
gentreten können. Im Gegenteil: Der neue SPD-Arbeits-
minister hat noch vor zwei Wochen auf EU-Ebene die
Verabschiedung einer Richtlinie zur Leiharbeit blo-
ckiert. Darin sollte als ein erster Schritt zumindest eine
Frist von sechs Wochen vorgesehen werden, bis ein glei-
cher Lohn gezahlt wird. Das ist blockiert worden. Das
heißt, es tut sich nichts, auch wenn gestern der Parteivor-
sitzende der SPD darüber redete, dass man nun eine EU-
Regelung für eine gleiche Bezahlung bei Leiharbeit
braucht. Sie müssen sich schon entscheiden, ob Sie das
eine oder das andere wollen.


(Beifall bei der LINKEN)


14132 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Werner Dreibus
Es ist gut, wenn jetzt auch die Fraktionen der SPD
und der Grünen die Ausbreitung schlechter Arbeit bekla-
gen. Besser wäre es allerdings, wenn Sie auch den Mut
fänden, die politischen Fehler der Agenda 2010 zu be-
richtigen. Heute haben Sie bei dieser Debatte ein weite-
res Mal die Gelegenheit dazu.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1613404900

Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer,

Bündnis 90/Die Grünen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613405000

Im Protokoll steht jetzt, glaube ich: Lebhafter Ap-

plaus bei den Grünen.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Einstimmig!)


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben
jetzt gerade in der Debatte über den Mindestlohn das Ge-
zerre, das es in der Großen Koalition in dieser Frage
gibt, mitbekommen. Schon liegt der nächste Zankapfel
auf dem Tisch. Über die Zeitarbeit wird es – darauf deu-
tet alles hin – auch Gezänk in der Großen Koalition ge-
ben. Auch hier liegen die Vorstellungen der SPD und die
Vorstellungen der Union meilenweit auseinander. Es ist
schon absehbar, dass es um die Einführung eines Min-
destlohns in der Zeitarbeitsbranche eine ebenso un-
appetitliche Auseinandersetzung geben wird wie um die
Einführung des Post-Mindestlohns. Nicht nur Frau
Connemann jetzt, sondern auch Herr Meyer vorhin in
der Mindestlohndebatte haben dafür ein beredtes Zeug-
nis abgelegt. Insoweit ist alles wie gehabt: Der Wirt-
schaftsminister warnt; der SPD-Fraktionsvorsitzende
kündigt neue Mindestlohnregelungen für die Zeitarbeits-
branche an.


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Wie viele Reden halten Sie eigentlich heute noch?)


Ich würde sagen: Wo Große Koalition draufsteht, ist gro-
ßes Gezänk drin. Das können wir heute gleich zweimal
erleben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen des Abg. Wolfgang Grotthaus [SPD])


Es ist so, dass jetzt, knapp fünf Jahre, nachdem das re-
formierte Arbeitnehmerüberlassungsgesetz in Kraft ge-
treten ist, diese Beschäftigungsform tatsächlich kräftig
zugenommen hat. Es gibt ungefähr 700 000 Menschen,
die in diesem Bereich tätig sind. Es handelt sich also
wirklich nicht um Peanuts. Es ist auch vorhersehbar,
dass die Zahl der Beschäftigten in dieser Branche noch
zunehmen wird.

Durch die Flexibilisierung ist die Zeitarbeit insbe-
sondere für die Arbeitgeber attraktiver geworden. Dass
die Arbeitgeber das toll finden, ist für Sie, Frau
Connemann, offensichtlich Grund genug, das auch toll
zu finden.

(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Dann setzen Sie sich doch einfach mal mit den Zahlen auseinander!)


Ich aber finde das nicht okay, und zwar deswegen nicht,
weil für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der
Zeitarbeitsbranche nun wahrlich nicht alles in Ordnung
ist, ganz im Gegenteil. Es stimmt zwar – das haben wir
als Grüne auch immer gesagt –, dass Zeitarbeit für ehe-
malige Arbeitslose tatsächlich eine Brücke in den ersten
Arbeitsmarkt sein kann. Das finden wir gut. Wir wollen
auch, dass das so bleibt. Wir dürfen aber nicht verken-
nen, dass das nur die eine Seite der Medaille ist. Ehe Sie,
Herr Kolb, hier über ideologische Scheuklappen reden,
sollten Sie erst einmal Ihre Brille genauer untersuchen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Welche Brille?)


Die ist nämlich völlig ideologisch gefärbt.


(Jörg Rohde [FDP]: Gelb!)


Zunehmend wird Zeitarbeit dazu genutzt, um Löhne
zu drücken, um Stammbelegschaften zu ersetzen und um
Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. Das finden wir
schlecht. Deswegen wollen und müssen wir in diesem
Bereich auch etwas ändern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Connemann, Sie können wirklich in vielen Sta-
tistiken nachlesen, was ich Ihnen jetzt vortrage:


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nennen Sie uns eine! Das genügt!)


Fast 10 Prozent derjenigen, die trotz Vollzeitbeschäfti-
gung zusätzlich Arbeitslosengeld II beantragen müssen,
arbeiten in der Zeitarbeit. Diese machen eine große
Gruppe in der Zahl der Aufstocker aus. Es gibt Lohnab-
stände von 30 bis 50 Prozent, in einigen Branchen bis zu
60 Prozent, zu den Beschäftigten in der Stammbeleg-
schaft.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Woher haben Sie die Zahlen? – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Einzelfälle!)


Das kann nicht so bleiben. Das müssen wir ändern. Es
gibt leider erheblichen Missbrauch.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Einzelfälle!)


– Frau Connemann, es handelt sich nicht um Einzelfälle.
Weil es sich nicht um Einzelfälle handelt, sind auch Sie
gefordert, hier etwas zu tun.

Zeitarbeit wird genutzt, um Löhne ganz systematisch
abzusenken. Stammbelegschaften werden in großem
Umfang durch Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeit-
nehmer ersetzt. Tochtergesellschaften werden in erhebli-
chem Umfang nur zu dem Zweck gegründet, um die
gleichen Beschäftigten als Leiharbeitnehmerinnen und
Leiharbeitnehmer zurückzuholen.

Das Beispiel von der Zeitungsredaktion ist hier schon
genannt worden. Dies ist ein skandalöser Zustand und
wahrlich kein Einzelfall. Herr Dreibus hat schon darauf
hingewiesen, dass auch die öffentlichen Arbeitgeber so

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14133


(A) (C)



(B) (D)


Brigitte Pothmer
handeln. Zum Beispiel findet so etwas auch im Kranken-
hausbereich statt.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1613405100

Frau Kollegin, die Frau Kollegin Connemann würde

gerne eine Zwischenfrage stellen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613405200

Sie möchte mir sicher sagen, dass ich recht habe.

Bitte, Frau Connemann.


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Darauf würde ich mich nicht verlassen! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich glaube, sie will Sie fragen, ob sie recht hat!)



Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1613405300

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Kollegin

Pothmer, Sie haben mich mit dem Hinweis direkt ange-
sprochen, dass 10 Prozent der Leiharbeiter aufstocken
müssen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir die kon-
krete Quelle für diese Zahl nennen würden; denn auch
ich habe in meiner Rede konkrete Quellen genannt. Es
reicht mir schon eine einzige Quelle. Bitte sagen Sie
jetzt nicht, diese Zahl stehe in vielen Statistiken. Ich
würde nämlich gerne in der konkreten Quelle nachlesen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613405400

Das IAB, Frau Connemann.


(Werner Dreibus [DIE LINKE]: September 2007! Thyssen-Konzern! Nokia!)


Dies ist ein anerkanntes Institut, das relativ viel in die-
sem Bereich untersucht hat. Ich lasse Ihnen das gerne
zukommen, Frau Connemann. Diese Hausaufgabe will
ich gerne erledigen.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Herzlichen Dank! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es weihnachtet sehr!)


Ich finde, wir können diese Entwicklung nicht igno-
rieren. Herr Grotthaus, wir können sie auch nicht aussit-
zen. Denn es gibt tatsächlich einen dringenden Hand-
lungsbedarf. Wir brauchen in Deutschland in diesem
Bereich Regelungen, mit denen der Missbrauch von
Leiharbeit verhindert werden kann. Gleichzeitig darf
die Brücke zum ersten Arbeitsmarkt nicht zerstört wer-
den. Herr Dreibus, ich glaube, da unterscheiden sich die
von uns jeweils vorgelegten Konzepte.

Der Vorschlag, den wir vorgelegt haben, hat zum In-
halt, dass das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“
gilt und dass die vorhandenen Ausnahmen auch Ausnah-
men bleiben, es also auf einzelne Fälle beschränkt bleibt
und nicht flächendeckend angewandt wird. Wir wollen
verhindern, dass Stammbelegschaften durch Zeitarbeit-
nehmer ersetzt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch das findet in großem Umfang statt. Auf diese Be-
reiche sollten wir uns konzentrieren.
Unsere Vorschläge, Herr Grotthaus, haben in der
Sachverständigenanhörung eine breite Unterstützung er-
fahren, interessanterweise aus dem Arbeitgeber- und aus
dem Arbeitnehmerlager. Denn wir haben mit diesen Vor-
schlägen berücksichtigt, dass es kein Übermaß an büro-
kratischem Aufwand geben darf, den Sie vorhin als Pro-
blem dargestellt haben. Wenn Sie für dieses Problem
wirklich eine Lösung suchen und wirklich etwas tun
wollen, dann schließen Sie sich unserem Vorschlag an.

Ich weiß, dass Sie, Herr Grotthaus, ganz heimlich mit
uns einer Meinung sind.


(Wolfgang Grotthaus [SPD]: Erzählen Sie es aber nicht weiter! – Paul Lehrieder [CDU/ CSU]: Sie sind aber sehr hellseherisch, Frau Pothmer! – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/ CSU]: Armer Herr Grotthaus! Was der sich alles gefallen lassen muss!)


Die SPD-Fraktion insgesamt ist mit uns ganz und gar ei-
ner Meinung. Für die Betroffenen in der Leiharbeit ist es
schade, dass sich Ihre Unterstützung in der Sache nicht
im Abstimmungsverhalten niederschlägt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wer regierte vor einiger Zeit? Warum hat es Rot-Grün nicht schon geregelt?)


Aus dem Konzept, das wir vorgelegt haben, ergibt
sich, dass wir einen Mindestlohn auch für die Zeit-
arbeitsbranche brauchen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha!)


Denn für die ersten drei Monate müssen wir sicherstel-
len, dass es eine soziale Absicherung gibt. Deswegen
brauchen wir für die Zeitarbeitsbranche sehr schnell die
Einführung von Mindestlöhnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Mindestlöhne sind der Jäger 90 der Sozialpolitik!)


Wir müssen die ominösen Haustarifverträge wegbe-
kommen. Denn sie stellen keinerlei Absicherung dar.
Wir müssen das, was zwischen dem DGB und den ver-
antwortlichen Zeitarbeitsfirmen vereinbart worden ist,
für allgemeinverbindlich erklären.

Wir wissen, dass die verantwortungsbewussten Ar-
beitgeber in der Zeitarbeitsbranche das dringend wollen.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau so ist das!)


Wer so tut, als müsse das gegen die Arbeitgeber durch-
gesetzt werden, der irrt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Herr Kolb, ich würde gerne einmal wissen, mit welchen
Arbeitgebern Sie Kontakt haben. Ich kenne insbesondere
im Gebäudereinigerhandwerk sehr viele Arbeitgeberin-
nen und Arbeitgeber, die sagen: Gott sei Dank haben wir
das jetzt; jetzt kann uns die Konkurrenz endlich nicht
mehr dazu zwingen, unsere Beschäftigten, die eine gute
Arbeit leisten, schlecht zu bezahlen. Diese Arbeitgebe-

14134 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Brigitte Pothmer
rinnen und Arbeitgeber sind froh und dankbar, dass sie
diesen Rahmen haben, weil sie mit ihren Beschäftigten
fair umgehen wollen.

Verantwortungsvolle Arbeitgeber in der Zeitarbeits-
branche wollen also Mindestlöhne. Verantwortungs-
volle Politikerinnen und Politiker sollten ihnen dabei
nicht im Wege stehen, sondern sie unterstützen. Wir je-
denfalls begreifen das als unseren Auftrag. Ich wünsche
mir, dass die Große Koalition das Gleiche tut.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das endet, wie es angefangen hat: Begeisterter Beifall bei den Grünen!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1613405500

Nächste Rednerin ist die Kollegin Anette Kramme,

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt ist das Geheimnis schon ausgeplaudert! Jetzt können Sie es auch zugeben!)



Anette Kramme (SPD):
Rede ID: ID1613405600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Zeitungen bezeichnen Leiharbeit ganz unter-
schiedlich. In der einen, die mir unter die Finger gekom-
men ist, steht: „Leiharbeit – moderne Sklaverei, die
floriert“. In der anderen Zeitung steht: „Billig und wil-
lig“; gemeint ist damit natürlich genau das gleiche Phä-
nomen.

Leiharbeit hat tatsächlich zwei Gesichter. Sie hat ein
Sonnengesicht: Das ist eine Branche, die boomt. Inner-
halb weniger Jahre hat sich die Zahl der Zeitarbeitsplätze
verdoppelt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und Rot-Grün hat die Voraussetzungen dafür geschaffen!)


– Darüber kann man streiten. Herr Kolb, wenn Sie sich
die Statistiken genau anschauen, werden Sie feststellen,
dass die Linie seit 1993 im Prinzip ungebrochen ist.


(Andrea Nahles [SPD]: Lass ihn eine Zwischenfrage stellen, wenn er das will! Aber nicht so!)


Davon abgesehen: Wir haben nichts gegen Zeitarbeit als
solche.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha!)


Es geht um die Schattenseiten. – Kommen wir aber zu-
nächst auf die positiven Seiten der Leiharbeit zurück:
Leiharbeit ermöglicht in Spitzenauslastungs- und Vertre-
tungssituationen eine einfache Personaleinstellung. In
einem gewissen Umfang gibt es den sogenannten Klebe-
effekt, allerdings darf er nicht überschätzt werden.


(Jörg Rohde [FDP]: Aber auch nicht unterschätzt!)

Es ist aber so, dass einige dieser Arbeitnehmer nach ei-
ner Tätigkeit im Leihbetrieb einen festen Job erhalten.
Wir wissen, dass 60 Prozent der aktuell tätigen Zeit-
arbeitnehmer unmittelbar vorher nicht beschäftigt wa-
ren.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist doch ein Riesenerfolg, wenn das so gelingt, Frau Kramme!)


Die Zeitarbeit hat also gewisse arbeitsmarktpolitische
Effekte, die man nicht verkennen kann.

Zeitarbeit hat aber auch ganz viele dunkle Seiten, ein
Schattengesicht.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt kommt wieder ein Generalverdacht!)


Das kann man an verschiedenen Punkten festmachen.
Wir beobachten ganz intensiv, dass es zu einer Erset-
zung von Stammarbeitern durch Leiharbeitnehmer
kommt. Das kann man an der Tatsache festmachen, dass
es Betriebe gibt, deren Belegschaft zu 50 Prozent aus
Leiharbeitern besteht. In der Sachverständigenanhörung
hat der Sachverständige Felix Weitenhagen für das Ber-
liner Siemens-Schaltwerk erklärt, dass die Leiharbeiter-
quote in den produzierenden Abteilungen bis zu
40 Prozent betrage.

Wir beobachten ein besonders perverses Phänomen,
das Outsourcing heißt. An uns sind Journalistenverbände
herangetreten, die davon berichtet haben, dass Tochter-
unternehmen gegründet werden, die Journalisten einstel-
len, die vorher mit befristeten Verträgen bei den eigentli-
chen Verlagen angestellt waren. Nun sind sie als
Leiharbeiter tätig.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Mit unbefristeten Verträgen!)


Wir wissen, dass das insbesondere auch für den Bereich
der Kliniken gilt.

Wenn man sich diese beiden Aspekte zusammen an-
schaut, weiß man, dass die Unternehmen, die entleihen,
nur eine Zielsetzung haben, nämlich, die regulären Tarif-
verträge, die Tarifverträge für die Stammarbeitskräfte,
zu umgehen. Dahinter steht nichts anderes als die Ab-
sicht, Lohndumping zu betreiben und die Arbeitnehmer
auszunutzen.

Wie sieht Lohndumping aus? Wir wissen, dass es
Lohnabstände von 30, 40 und 50 Prozent gibt. Manch-
mal ist es sogar noch mehr.

Die Tariflöhne beginnen bei 4,81 Euro; das ist natür-
lich nicht viel, und davon kann man nicht leben. Wir
wissen, dass es beim Arbeitslosengeld II zu Missbrauch
kommt; jeder achte Zeitarbeitnehmer bezieht Arbeitslo-
sengeld II. Ich habe bereits vorhin gesagt: Es kann nicht
sein, dass sich der Staat an der Subventionierung von
Unternehmen beteiligt, die nichts anderes als Lohn- und
Sozialdumping im Sinn haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Hier kommt es zu einer ungeheuren Fluktuation – das
muss man sich einmal vor Augen halten –: 50 Prozent

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14135


(A) (C)



(B) (D)


Anette Kramme
der Leiharbeitnehmer sind nach drei Monaten wieder
draußen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Viele von ihnen arbeiten auch dauerhaft im Entleihunternehmen!)


Aufseiten der Betriebsräte ist eine Interessenvertretung
fast nicht existent. Auch die starken Betriebsräte bei den
Entleihern haben fast keine Handlungsmöglichkeiten.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Tja! Dann sind sie auch keine starken Betriebsräte!)


Wir befinden uns also in einer Situation, in der die Be-
treuung durch Gewerkschaften nur eingeschränkt funk-
tionieren kann.

Das hat einfache Ursachen: Die Gewerkschaften in
der Bundesrepublik sind einseitig auf jeweils einige we-
nige Branchen ausgerichtet. Leiharbeit funktioniert aber
branchenübergreifend. Aus dieser Ausgangslage, die
mehr als schwierig ist, ergibt sich, dass es einen Rege-
lungsbedarf und darüber hinaus einen Regelungszwang
gibt.

Heute liegen uns zwei Anträge vor. Zumindest faktisch
sind es zwei Anträge. Einen Antrag haben die Linken ein-
gebracht. Die Grünen haben formal einen Änderungsan-
trag gestellt, der aber im Prinzip eine vollständige Ände-
rung zum Inhalt hat.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der ist klasse, oder?)


Wenn man sich diese Anträge genau anschaut, stellt man
fest, dass sie zu kurz greifen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, Frau Kramme! Jetzt stimmen Sie doch einfach einmal zu!)


An manchen Stellen sind auch intensivere Überlegungen
erforderlich.

Ich sage Ihnen: Die SPD hat zu diesem Thema einen
exzellenten Parteitagsbeschluss gefasst.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Als neue Partei des demokratischen Sozialismus?)


Er sieht wie folgt aus: Wir wollen zunächst eine Aus-
dehnung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes auf die
Leiharbeitsbranche.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sie sind in der Regierung!)


Dadurch decken wir zwei Phasen ab: die Phase, in der
nicht verliehen wird, also die verleihfreien Zeiten, und
die sogenannte Einarbeitungsphase.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, Frau Kramme! Hören Sie doch auf!)


Die Voraussetzungen dafür sind gegeben: Der Min-
destlohntarifvertrag ist vereinbart. Die 50-Prozent-Klau-
sel ist nach unserer Einschätzung erfüllt. Im Übrigen ist
das eine rein politische Vorgabe; das möchte ich jetzt ge-
genüber der Union klarstellen. Bei dieser Gelegenheit
möchte ich auch daran erinnern, dass die Aufnahme in
das Gesetz nicht nur ein Wunsch der Arbeitnehmerseite,
sondern ein beidseitiger Wunsch ist: Arbeitnehmer und
Arbeitgeber wollen das.

Wir dürfen in dieser Branche aber beim Arbeitneh-
mer-Entsendegesetz nicht stehen bleiben. Es muss der
Grundsatz gelten: Gleiche Bezahlung und gleiche Be-
handlung nach einer Einarbeitungsphase.


(Beifall bei der SPD)


Dieser Grundsatz findet sich überall wieder. Das ist ein
allgemeines Prinzip des Arbeitsrechts. Genau das wollen
wir.

Wir wissen, dass wir den Verdrängungswettbewerb,
der stattfindet, nur unterbinden können, indem wir das
finanzielle Interesse am Sozialdumping einschränken
bzw. indem wir dem Sozialdumping den Boden entzie-
hen.


(Andrea Nahles [SPD]: Jawohl!)


Alle anderen Regelungen würden dazu führen, dass un-
sere Schutzvorschriften auf irgendeine Art und Weise
unterlaufen werden; denn die Unternehmen sind clever,
und das ist auch legitim. Wir als Gesetzgeber müssen
hier vorausschauend handeln.

Ich möchte ganz klar darauf hinweisen – das sei zu-
sätzlich angemerkt –, dass auch die Betriebsräte in der
Verantwortung stehen. Ich möchte, dass es erzwingbare
Betriebsvereinbarungen gibt: einerseits über den Um-
fang der Leiharbeit, andererseits zur Festlegung der Zeit-
dauer der Überlassung.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gut, dass es nicht nach Ihnen geht, Frau Kramme! – Gegenruf des Abg. Wolfgang Grotthaus [SPD]: Und gut, dass ihr in der Opposition seid!)


– Meine Damen und Herren von der FDP, mir ist klar,
dass Ihnen bei diesem Thema graue Haare wachsen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Von wegen! Die fallen mir sogar schon aus!)


Das macht aber nichts.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Oh! Jetzt zeigt Frau Kramme ihre dunkle Seite!)


Graue Haare haben ihren eigenen Charme.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Warum werde ich eigentlich immer so müde, wenn Sie reden, Frau Kramme?)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir akzep-
tieren nicht, dass Leiharbeit ein Normalarbeitsverhältnis
ist, und wir akzeptieren nicht, dass Leiharbeit als regu-
läre Beschäftigung angesehen wird, solange sich Leihar-
beit nach wie vor überwiegend in der Schmuddelecke
befindet. Wir werden uns in dieser Angelegenheit weiter
engagieren.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)


14136 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


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Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1613405700

Ich gebe das Wort dem Kollegen Jörg Rohde, FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Jörg Rohde (FDP):
Rede ID: ID1613405800

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Frau Kramme, ich muss Ihnen direkt antworten.
Sie reden davon, dass graue Haare wachsen. Schauen Sie
mich an! Nach zwei Jahren Schwarz-Rot sehe ich so aus.
Das ist hart.


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP, der CDU/ CSU und der SPD – Andrea Nahles [SPD]: Aber für den Haarausfall sind wir nicht zuständig!)


Ich möchte erst einmal auf die Vorredner eingehen.
Herr Grotthaus, Sie haben gesagt, eine sorgfältige Prü-
fung sollte bei den Änderungen erfolgen. Das finde ich
sehr gut. Man sollte nicht überstürzt handeln. Ich möchte
aus Sicht der Liberalen hinzufügen: Prüfen Sie bedäch-
tig, prüfen Sie langsam, lassen Sie sich ruhig Zeit! Zu
dem Thema Probezeit für Lkw-Fahrer möchte ich sagen:
Vielleicht geht es dem Arbeitgeber in diesem Beispiel
weniger um die Fahrpraxis des neuen Arbeitnehmers als
um andere Eigenschaften wie Zuverlässigkeit und
Pünktlichkeit.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die fahren nicht aus Jux und Tollerei durch die Gegend! Die müssen meistens pünktlich etwas abliefern!)


Es gibt also gute Gründe für eine Probezeit, Herr Kol-
lege Grotthaus. Darüber müssen wir uns entsprechend
austauschen.

Frau Connemann, Gratulation zu Ihrer Rede. Wir ha-
ben heute offenbar viele gemeinsame Ansichten. Bei der
sorgfältigen Prüfung der nächsten Schritte sollten wir
Ihre Beispiele unbedingt einmal durchgehen. Für die
aufgeworfenen Fragen werden Antworten gefunden wer-
den müssen. Als Liberale werden wir darüber wachen,
wie die Union später abstimmt, wenn der Koalitionspart-
ner SPD bei diesem Thema die Daumenschrauben an-
zieht. Wir bauen auf Ihre Standfestigkeit, meine Kolle-
ginnen und Kollegen von der Union.


(Beifall bei der FDP)


Herr Dreibus, Frau Kramme, warum sind denn die
Arbeitnehmer so kurz bei einer Zeitarbeitsfirma beschäf-
tigt?


(Anette Kramme [SPD]: Weil sie vor den niedrigen Löhnen flüchten!)


In vielen Fällen gibt es diesen Klebeeffekt. Die heutige
Initiative der Linken geht wieder in die völlig falsche
Richtung.

Frau Pothmer, Sie hatten eben eine Zahl genannt:
10 Prozent Aufstocker. Wir kennen die Quelle nicht so
genau, aber auch wir werden zum Jahreswechsel beim
IAB nachlesen. Worin besteht denn Ihre Alternative?
Soll der Staat diese Arbeitnehmer zu 100 Prozent finan-
zieren? Sollen die arbeitslos bleiben?


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Mindestlohn!)


Das ist doch die Alternative, wenn das Geld, das man für
den Job erhält, nicht reicht.


(Beifall bei der FDP – Werner Dreibus [DIE LINKE]: Das ist 19. Jahrhundert, Herr Rohde!)


Nun konkret zum Vorschlag der Linken. Ich kann die
Enttäuschung so mancher Zeitarbeiterinnen und Zeitar-
beiter über unterschiedliche Löhne für ähnliche Tätig-
keiten nachvollziehen. Auch ich übersehe nicht, dass die
Löhne in einigen Bereichen der Zeitarbeit sehr niedrig
sind. Aber, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der
Linken, ich sehe auch, dass immer noch rund 3,4 Mil-
lionen Menschen im Land überhaupt keine Arbeit haben.
Die Kraft des Aufschwungs reicht leider noch nicht aus,
um auch diese Menschen jetzt in den Arbeitsmarkt zu in-
tegrieren. Deshalb halte ich ausnahmslos jede Maß-
nahme für falsch, die Arbeit verteuert und Neueinstel-
lungen verhindert.


(Werner Dreibus [DIE LINKE]: Was haben Arbeitslose von Hungerlöhnen?)


– Sie haben Löhne, muss ich zunächst einmal entgegnen,
Herr Dreibus. – Aber statt jetzt konsequent die Schaf-
fung von Arbeitsplätzen zu erleichtern, diskutieren wir
dieser Tage nicht nur über Mindestlöhne, sondern auch
über Maxilöhne. Meine sehr geehrten Freunde der Über-
regulierung, beides ist Unsinn. Liegt ein Mindestlohn
über dem Marktwert einer Arbeit, zerstört er Jobs, liegt
er darunter, ist er logischerweise wirkungslos.


(Beifall bei der FDP)


Das sagen wir gebetsmühlenartig. Sie hören das von vie-
len unserer Kollegen. Wenn die Löhne für alle steigen
sollen, müssen wir vielmehr die Nachfrage nach Arbeits-
kräften anheizen. Dafür gibt es viele Möglichkeiten. Wir
müssen eine Entbürokratisierung durchsetzen und den
Arbeitsmarkt deregulieren, wir müssen Subventionen
abbauen, wir müssen die Lohnnebenkosten reduzieren,
wir müssen in Bildung und Forschung investieren, und
wir müssen ein einfaches und gerechtes Steuersystem in-
stallieren. Aber von diesen Forderungen wollen leider
die meisten Fraktionen in diesem Haus außer der FDP
nichts wissen.


(Andrea Nahles [SPD]: Warum wohl? Fragen Sie sich das mal!)


Im Gegenteil: Statt die Zeitarbeitsbranche zu unter-
stützen, weil sie einen maßgeblichen Anteil am Rück-
gang der Arbeitslosigkeit in Deutschland hat, legen Sie
ihr Steine in den Weg. Systematisch sollen innovative
Konzepte plattgemacht werden. Erst wurden die privaten
Postdienste ihrer Marktfähigkeit beraubt, jetzt soll die
Zeitarbeit daran glauben; denn nichts anderes würde pas-
sieren, wenn Ihre Vorschläge, werte Linke, umgesetzt
werden würden. Sie sehen überhaupt nicht die Chance,

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14137


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Jörg Rohde
die für viele Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte
in der Zeitarbeit liegt.


(Beifall bei der FDP – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo denn?)


Sie beklagen den Klebeeffekt von 15 bis 30 Prozent als
zu niedrig, anstatt anzuerkennen, dass auf diese Weise
viele Zehntausend Menschen jährlich wieder einen fes-
ten Job finden und die übrigen Zeitarbeiter immerhin vo-
rübergehend in Arbeit waren.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das!)


Das ist allemal besser, als gar keine Arbeit zu haben.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Qualifikation ist entscheidend!)


Meine Damen und Herren von der Linken, ich
komme zum Hauptproblem Ihrer Politik: Mit Ihren un-
realistischen und marktfernen Forderungen tun Sie we-
der den Arbeitslosen noch den Beschäftigten einen Ge-
fallen.


(Dirk Niebel [FDP]: Das ist wohl wahr!)


Im Gegenteil, Sie vertiefen die Kluft zwischen Arbeit-
nehmern und Arbeitslosen und spalten die Gesellschaft.
Sie wollen die Latte für die Schaffung neuer Jobs immer
höher legen und machen bestehende Jobs unprofitabel.
Damit fallen sie weg, und wir haben mehr Arbeitslose.


(Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es ist genau so, wie der Kollege Rohde sagt!)


Das ist nicht sozial, nicht solidarisch und schafft Armut.
Darüber sollten Sie einmal in Ruhe nachdenken.

Hören Sie endlich damit auf, die Zeitarbeit pauschal
zu dämonisieren! Es ist wirklich nicht so, dass alle Zeit-
arbeitnehmerinnen und Zeitarbeitnehmer die Zeitarbeit
nur aus schierer Not heraus gewählt haben. Als Informa-
tiker kann ich berichten, dass es beispielsweise in der IT-
Branche Arbeitnehmer gibt, die es ablehnen, einen fes-
ten Arbeitsplatz in dem Start-up-Unternehmen anzuneh-
men, in dem sie als Zeitarbeiter eingesetzt sind. Für ins-
gesamt 10 Prozent der Arbeitnehmer gilt, dass sie lieber
Zeitarbeiter sind als fest beschäftigt in einem Unterneh-
men.


(Dirk Niebel [FDP]: Auch das ist wahr!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1613405900

Herr Kollege Rohde.


Jörg Rohde (FDP):
Rede ID: ID1613406000

Das ist mein letzter Satz, Frau Präsidentin. – Diesen

Jobmotor wollen Sie aus ideologischen Gründen abwür-
gen. Lassen Sie das!


(Zuruf des Abg. Werner Dreibus [DIE LINKE])


Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1613406100

Nächster Redner ist der Kollege Paul Lehrieder,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1613406200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Liebe Freunde der Fraktion der
Talkshowsozialisten, liebe Freunde der Linkspartei!


(Werner Dreibus [DIE LINKE]: Freunde? – Gegenruf des Abg. Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Er hat sich versprochen!)


Herr Dreibus, ich wehre mich gegen die Grundhal-
tung Ihres Gesetzentwurfs, die Zeitarbeit pauschal zu
verteufeln.


(Werner Dreibus [DIE LINKE]: Zweimal!)


– Manchen muss man es ein paar Mal sagen, damit sie es
verstehen. – Zeitarbeit hilft vielen Unternehmen, im glo-
balen Wettbewerb flexibel reagieren zu können; darauf
wurde bereits von einigen Rednern hingewiesen. Durch
Zeitarbeitsverhältnisse werden Beschäftigungspoten-
ziale nutzbar gemacht, die ansonsten ungenutzt bleiben
würden.

Gerade in Zeiten von Engpässen und unsicheren Auf-
tragslagen hat die Zeitarbeit bereits vielen Unternehmen
geholfen. Mit Zeitarbeit können die Unternehmen
schnell und flexibel auf Arbeitsausfall, Krankheit, aber
auch Mutterschutz reagieren. Gerade kleine und mittlere
Betriebe können sich so schnell auf Auftragsspitzen ein-
stellen und schwankende Produktionszyklen abfedern.

Gleichzeitig ist Zeitarbeit für viele Beschäftigte zum
Sprungbrett in den ersten Arbeitsmarkt geworden. Jähr-
lich werden etwa 30 Prozent aller Zeitarbeiter – das ent-
spricht etwa 200 000 Beschäftigten – in ein festes Ar-
beitsverhältnis übernommen, davon sind etwa 15 Prozent
Langzeitarbeitslose gewesen.

Das Zeitarbeitsverhältnis ist ein reguläres Arbeitsver-
hältnis in einer inzwischen vollständig anerkannten, ei-
genständigen Branche. Es ist die Branche, in der Tarif-
verträge fast flächendeckend angewandt werden. Die
Deckung liegt bei 98 Prozent.

Ja, es gibt zum Teil Lohnabstände zwischen Stamm-
arbeitern und Zeitarbeitnehmern. Aber das ist nur in
ganz bestimmten Fällen, ganz bestimmten Branchen und
überhaupt nicht flächendeckend der Fall. Gerade diesbe-
züglich wollte der Gesetzgeber mit dem Arbeitnehmer-
überlassungsgesetz Regeln setzen.

Natürlich kann die Inanspruchnahme fremden Perso-
nals zahlreiche Probleme mit sich bringen. Um
Missbräuche zu vermeiden, hat der Gesetzgeber die ge-
werbsmäßige Arbeitnehmerüberlassung im Arbeitneh-
merüberlassungsgesetz geregelt. Dieses Gesetz wurde
zum 1. Januar 2004 umfassend reformiert. Zahlreiche
Beschränkungen der Leiharbeit sind entfallen, unter an-
derem die Beschränkung der Überlassungsdauer auf
24 Monate und das Verbot der wiederholten Einstellung
eines Leiharbeiters nach vorangegangener Kündigung

14138 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


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Paul Lehrieder
durch den Verleiher. Das Prinzip des „equal pay“ ist im
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz vom 1. Januar 2004
weitestgehend verankert.

Im Gegenzug müssen die Arbeitsbedingungen von
Leiharbeitnehmern denen der Stammbelegschaft immer
dann entsprechen, wenn nicht tarifvertraglich eine andere
Regelung getroffen wurde. Gewerbsmäßige Arbeitneh-
merüberlassung darf dann nicht genehmigt werden, wenn
der Verleiher nicht die erforderliche Zuverlässigkeit be-
sitzt, insbesondere weil er die Vorschriften des Sozialver-
sicherungsrechts, des Lohnsteuerrechts, des Arbeits-
schutzrechts oder die arbeitsvertraglichen Pflichten nicht
einhält.

Seit dem 1. Januar 2004 darf die Arbeitnehmerüberlas-
sung auch dann nicht genehmigt werden, wenn der
Grundsatz der Gleichbehandlung von Leiharbeitnehmern
und Stammarbeitern des Entleihers nicht eingehalten
wird. Um diesen Gleichbehandlungsgrundsatz erfüllen zu
können, müssen die Zeitarbeitsfirmen die Arbeitsbedin-
gungen der Beschäftigten beim Entleiher in Erfahrung
bringen. Dazu wird ihnen in § 12 des Arbeitnehmerüber-
lassungsgesetzes ein Auskunftsanspruch gegenüber dem
Entleiherunternehmen zuerkannt.

Diese Verpflichtung besteht jedoch dann nicht, wenn
die Voraussetzungen einer der beiden im Gesetz genann-
ten Ausnahmen vom Schlechterstellungsverbot vorlie-
gen. Liebe Kollegen von der Linkspartei, beide Ausnah-
men hatten und haben ihre Berechtigung. Auch die
Begründung Ihres Gesetzentwurfs kann diese nicht
ernsthaft infrage stellen.

Zunächst zur Sechswochenfrist. Es ist vorgesehen,
dass Verleiher und Leiharbeitnehmer – das betrifft zuvor
arbeitslose Arbeitnehmer – sich einmalig darauf einigen
können, dass der Leiharbeitnehmer für insgesamt sechs
Wochen der Überlassung lediglich ein Nettoarbeitsent-
gelt mindestens in Höhe des zuletzt bezogenen Arbeits-
losengeldes erhält. Damit soll dem Verleihunternehmen
ein Anreiz gegeben werden, Arbeitslose überhaupt ein-
zustellen. Zugleich soll die Bereitschaft der Arbeitgeber
erhöht werden, ein Arbeitsverhältnis mit einem vormals
Arbeitslosen zu versuchen.

Wenn Sie gleichen Lohn vom ersten Tag an fordern,
müssen Sie aber bedenken, dass es sich hier um eine Ar-
beitsförderungsmaßnahme handelt.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es handelt sich nicht um eine Arbeitsförderungsmaßnahme!)


Ein großer Teil derjenigen, die hier vermittelt werden,
sind Hilfskräfte und Geringqualifizierte. Wenn Ihr Ge-
setzentwurf Gesetz würde, hätten Geringqualifizierte
und Langzeitarbeitslose künftig nicht mehr die Chance,
über Arbeitnehmerüberlassung einen festen Job zu be-
kommen. Sie würden kaum mehr in Leiharbeit, in Zeit-
arbeit vermittelt werden. Alle außer den Hochqualifi-
zierten und Facharbeitskräften fielen aus dem Markt
heraus.

Equal Pay wirkt sich besonders auf die Kalkulation
der vielen kleinen und mittleren Betriebe in Deutschland
aus. Von den 760 000 Betrieben, die überwiegend Zeit-
arbeit betreiben, beschäftigen 63 Prozent weniger als
50 Mitarbeiter; sie sind sogenannte Kleinunternehmer.
Viele von ihnen würden durch gleichen Lohn vom ersten
Tag an gefährdet. Außerdem würde Equal Pay die Ver-
waltungskosten in die Höhe schrauben; meine Kollegin
hat bereits darauf hingewiesen. Denn in jedem Fall einer
Arbeitnehmerüberlassung müsste ermittelt werden,
inwieweit Leiharbeitnehmer und Stammbeschäftigte
vergleichbar sind. Zudem müssten die vereinbarten Ar-
beitsbedingungen im Entleiherbetrieb und im Verleiher-
unternehmen verglichen werden. Damit würde an sich
jeder einzelne Arbeitnehmerüberlassungsvorgang über-
wachungspflichtig. Man muss sich den Verwaltungsauf-
wand dafür einmal vorstellen.

Vom ersten Tag an Equal Pay anzuwenden, ist in vielen
Fällen schlicht unpraktikabel. Wie soll, bitte schön, je-
mand bezahlt werden, Herr Dreibus, der im ersten Monat
an Firma A, im zweiten Monat an Firma B und anschlie-
ßend noch an Firma C entliehen wird, wenn die Firmen
unter Umständen ganz unterschiedliche Lohnstrukturen
haben? Im ungünstigsten Fall müssten Leiharbeitnehmer
dann Lohneinbußen hinnehmen. Darüber hinaus wüssten
sie nicht mehr, wie es im konkreten Fall um ihre Rechte
als Arbeitnehmer bestellt ist. Frau Kollegin Connemann
hat schon auf diese Punkte hingewiesen. Sie hat ferner
darauf hingewiesen, dass der verliehene Arbeitnehmer
auch in der arbeitsfreien bzw. in der verleihfreien Zeit ei-
nen Lohnanspruch gegenüber dem Leiharbeitsunterneh-
men hat.

Herr Kollege Dreibus, wenn Sie sich von diesem Po-
dium anschicken, uns von der CDU/CSU Vorhaltungen
über das christliche Verständnis vom Arbeitsrecht zu
machen, dann ist das mehr als gewagt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Über christliche Arbeitsmoral diskutiere ich aus ver-
ständlichen Gründen lieber mit meiner KAB als mit den
Freunden von unserer Linkspartei.

Hinzu kommt bei Equal Pay, dass sich die Arbeitsge-
richte auf mehr Arbeit einstellen müssten, weil sich dann
viele Arbeitnehmer falsch bezahlt fühlen.

Nun zum Tarifvorbehalt. Nach dem Tarifvorbehalt
kann ein Tarifvertrag vom Gleichbehandlungsgrundsatz
abweichende Regelungen zulassen. Im Geltungsbereich
eines solchen Tarifvertrages können auch nicht tarifge-
bundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Anwendung
tarifvertraglicher Regelungen individualrechtlich verein-
baren.

Sehr geehrte Kollegen von der Linkspartei, Ihre pau-
schale Unterstellung, dass die Tariföffnungsklausel im
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz von den Arbeitgebern
zu Lohndumping missbraucht wird, entbehrt jeder
Grundlage.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Entsprechend schwammig ist in Ihrem Gesetzentwurf
die Rede von „praktischen Erfahrungen“, ohne dass kon-
krete Zahlen oder Fakten benannt werden. Mit Blick auf
die Tarifabschlüsse der drei großen Verbände der Zeitar-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14139


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Paul Lehrieder
beit wird schnell klar, dass diese Unterstellung nicht
haltbar ist. Wenn nämlich Ungelernte und Geringqualifi-
zierte im Westen an die 7 Euro Stundenlohn, im Osten
um die 6 Euro pro Stunde erhalten, kann das wohl kaum
als Lohndumping bezeichnet werden, insbesondere dann
nicht, wenn man berücksichtigt, dass in einigen Bran-
chen Leute mit abgeschlossener Berufsausbildung laut
Tarifvertrag zwischen 4 und 5 Euro bekommen. Meine
Kollegin hat vorhin schon darauf hingewiesen, dass,
wenn Equal Pay gilt, zum Beispiel im Hotel- und Gast-
stättenbereich den Leiharbeitnehmern der Lohn sogar
gekürzt werden müsste. Das werden Sie doch nicht
ernsthaft wollen.

Der Tarifvorbehalt soll Fehlentwicklungen vorbeu-
gen. So wurde gegen das Diskriminierungsverbot bei der
Leiharbeit immer wieder vorgebracht, dass ein positiver
Beschäftigungseffekt nicht zu erwarten sei. Durch eine
Pflicht zur Gleichbehandlung würde sich die Leiharbeit
derart verteuern, dass sie für Entleiher und Verleihunter-
nehmen wirtschaftlich nicht mehr rentabel wäre. Die
Möglichkeit, die Personalkosten zu reduzieren, ist je-
doch zentraler Beweggrund, Leiharbeitnehmer im eige-
nen Betrieb zu beschäftigen. Diesen Bedenken sind wir
mit der am 1. April 2004 eingeführten Neuregelung des
Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes begegnet. Seitdem
können abweichende Tarifverträge abgeschlossen wer-
den. Ich sehe deshalb keine Veranlassung, das Arbeit-
nehmerüberlassungsgesetz im von der Linkspartei ge-
wünschten Sinne zu ändern.

Ich wünsche von dieser Stelle aus den Kolleginnen
und Kollegen abermals ein frohes Weihnachtsfest aus
dem sonnigen Mainfranken.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1613406300

Ich gebe der Kollegin Katja Mast, SPD-Fraktion, das

Wort.


(Beifall bei der SPD)



Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1613406400

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Leiharbeit ist kein Teufelszeug, Leiharbeit ist nicht
von Rauschgoldengeln. Gute Arbeit wird auch nicht von
Engeln oder Teufeln gemacht, sondern von uns auf dem
Boden der Tatsachen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Andrea Nahles [SPD]: Jawohl!)


Rund 600 000 Menschen arbeiten in Leiharbeit – Ten-
denz steigend. Das sind meist voll sozialversicherungs-
pflichtig Beschäftigte. 2003 waren rund 43 Prozent der
Zugänge in die Leiharbeit zuvor arbeitslos. Als wir das
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verabschiedet haben,
war genau das unser Ziel: Klebeeffekte für Arbeitslose
und das Auffangen von Auftragsspitzen in den Unter-
nehmen. Wenn man so will, ist das das Engelsgesicht der
Leiharbeit.
Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. Der Klebeeffekt
existiert zwar, aber 10 bis 15 Prozent sind einfach noch
zu wenig, um von einem effizienten arbeitsmarktpoliti-
schen Instrument sprechen zu können. Im Übrigen gilt
für die Leiharbeit das Gleiche wie für den Arbeitsmarkt
im Allgemeinen: Bildung ist die beste Arbeitslosenver-
sicherung. Der Klebeeffekt hilft den qualifizierten Leih-
arbeitern, den anderen kaum.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das stimmt!)


Leiharbeit hat aber auch Teufelsgesichter:


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ach!)


Lohnstrukturen, die nicht zum Leben reichen, und der
Abbau von Arbeitsplätzen der Stammbelegschaft. Die
Mitbestimmung der Betriebsräte wird geschwächt. Es
besteht die Gefahr einer Spaltung der Belegschaft in Be-
schäftigte erster und zweiter Klasse. Trotz des Über-
gangs von Arbeitslosigkeit in Leiharbeit stimmt eben
auch, dass 2003 rund 34 Prozent der Neuzugänge in die
Arbeitslosigkeit aus der Leiharbeit gekommen sind. Au-
ßerdem schließen Zeitarbeitsunternehmen mit Nicht-
DGB-Gewerkschaften Haustarifverträge ab,


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ja nicht unanständig und nicht per se unzulässig!)


durch die Dumpinglöhne ermöglicht werden, obwohl es
einen Mindestlohntarifvertrag des Deutschen Gewerk-
schaftsbundes mit dem Interessenverband Deutscher
Zeitarbeitsunternehmen und dem Bundesverband Zeitar-
beit gibt, die rund 60 Prozent der Zeitarbeitnehmer orga-
nisieren. Wenn man so will, sind das die Teufelsgesich-
ter der Leiharbeit.

Die Zahl der Presseberichte, in denen von Löhnen in
der Leiharbeit die Rede ist, die unter 6 Euro liegen,
nimmt zu. Der Tagesspiegel und die Financial Times
Deutschland berichten, dass jeder achte Zeitarbeitneh-
mer bei Vollzeitarbeit nebenher auf Arbeitslosengeld II
angewiesen ist. Wohlgemerkt: Das sind die Steuermittel,
die die Arbeiter bezahlen, die von den billigeren Leihar-
beitnehmern aus dem Job gedrängt werden.


(Andrea Nahles [SPD]: Genau!)


Da ist der Wurm drin, und wir müssen handeln.

Es gibt in Unternehmen Leiharbeitsquoten von 30
oder gar 40 Prozent, und zwar dauerhaft. Es fällt schwer,
zu glauben, dass es sich da um Auftragsspitzen handelt.


(Andrea Nahles [SPD]: Jawohl!)


Doch auch hier gilt: Wo Schatten ist, muss auch Licht
sein. Am Montag wurden in unserer Expertenanhörung
neben den Schatten der Zeitarbeit auch die positiven Sei-
ten erwähnt. Der Betriebsrat von Audi, Ingolstadt, hat
uns die Betriebsvereinbarung im Werk zur Zeitarbeit
vorgestellt. Ziel war es, eine Obergrenze von 5 Prozent
für den Einsatz von Leiharbeit festzuschreiben, um die
Lohnspirale nach unten zu verhindern. Der Grundsatz
„gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ ist bei Audi, Ingol-
stadt, nahezu umgesetzt. Das Beispiel Audi ist Vorbild
für andere Betriebe. Soziale Balance im Betrieb und
Flexibilität sind kein Widerspruch. Das ist ein weiteres

14140 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Katja Mast
Engelsgesicht der Zeitarbeit und der gelebten Mitbestim-
mung in Deutschland.

Heute beraten wir den Antrag der Fraktion, die sich
gerade Die Linke nennt. Was ist denn die Kernbotschaft
des Antrags? Die Teufelsgesichter der Zeitarbeit ver-
schwinden, wenn wir den Grundsatz „gleiche Arbeit und
gleicher Lohn“ für Zeitarbeiter vom ersten Tag an um-
setzen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU])


Das wäre eine simple Pauschallösung für das vielschich-
tige Phänomen der Leiharbeit und greift aus meiner
Sicht zu kurz; denn wir brauchen mehr, gerade dann,
wenn wir akzeptieren, dass es Licht und Schatten in der
Zeitarbeit gibt.

Wir brauchen Antworten auf folgende Fragen: Wie
erreichen wir gleiche Vertragsbedingungen für Leihar-
beitnehmer? Wie erreichen wir bessere Mitbestim-
mungsrechte für Leiharbeitnehmer? Wie verhindern wir,
dass Stammbelegschaften durch Zeitarbeitnehmer aus-
getauscht werden? Wie definieren wir gleichen Lohn für
gleiche Arbeit? Wie schaffen wir es, dass in Nichtent-
leihzeiten ein angemessener Lohn gezahlt wird? Wie
schaffen wir es, dass unsere Regelungen nicht durch aus-
ländische Firmen unterlaufen werden? Wie können wir
die maximale Verleihzeit im Betrieb begrenzen? Wie er-
reichen wir es, dass Leiharbeitnehmer nicht nur für einen
Auftrag angeheuert werden? All diese Fragen und die
dazu notwendigen Antworten bedürfen der Sorgfalt und
einer gesetzgeberischen Gesamtstrategie.

Wir Sozialdemokraten wollen, dass die Lösungen in
den Betrieben gefunden werden. Erst wenn wir sehen,
dass das nicht geht, wollen wir eingreifen. Dabei ziehen
wir mit den Gewerkschaften an einem Strang. Bestes
Beispiel hierfür ist die erst jüngst von der SPD-Bundes-
tagslandesgruppe Baden-Württemberg gemeinsam mit
der IG Metall Baden-Württemberg gestartete Initiative
zur Verbesserung der Leiharbeit. Kern ist die Forderung
nach Mindestlöhnen für die Leiharbeitsbranche.


(Andrea Nahles [SPD]: Ja!)


Nachdem wir in dieser Legislaturperiode für Gebäude-
reiniger und Briefdienstleister Mindestlöhne durchge-
setzt haben, muss der Mindestlohntarifvertrag nun für
die gesamte Leiharbeitsbranche gelten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich hoffe, die Zeitarbeitsbranche stellt beim Bundesmi-
nister für Arbeit und Soziales einen entsprechenden An-
trag auf Aufnahme in das Entsendegesetz.

Schritt für Schritt werden wir die Union in die Pflicht
nehmen


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört! Hört!)


und Branche für Branche für einen anständigen Lohn in
unserem Land kämpfen. Denn gute Arbeit heißt für uns
Sozialdemokraten: Arbeit, die fair entlohnt ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Doch wir bleiben da nicht stehen. Gute Arbeit ist auch
Arbeit, die Qualifikation erhält und ausbaut, die nicht
krank macht, die Anerkennung bietet, die die volle Teil-
habe an den sozialen Sicherungssystemen ermöglicht,
die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglicht
und die demokratische Teilhabe garantiert.

Recht hatte Willy Brandt damals wie heute: Kleine
Schritte sind mehr als große Worte. Die SPD-Bundes-
tagsfraktion will das in der Zeitarbeit steckende Poten-
zial nutzen und die soziale Absicherung verbessern. Wir
kämpfen für gerechte und sichere Arbeitsbedingungen.

Ich bleibe dabei: Leiharbeit ist nicht Teufelszeug,
Leiharbeit ist nicht von Rauschgoldengeln. Gute Arbeit
wird auch nicht von Engeln oder Teufeln gemacht, son-
dern von uns auf dem Boden der Tatsachen.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1613406500

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Wolfgang Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Wolfgang Meckelburg (CDU):
Rede ID: ID1613406600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich will zunächst im Zusammenhang mit der Zwischen-
frage von Frau Connemann etwas ausräumen. Frau
Pothmer, Sie brauchen uns diese IAB-Studie nicht zu ge-
ben; wir haben sie. Sie haben aus der Studie zu den Auf-
stockern zitiert. Allerdings haben Sie falsch zitiert. Dort
steht, dass rund 10 Prozent der vollzeitbeschäftigten
Aufstocker weniger als 800 Euro verdienen. Das hat mit
Zeitarbeit gar nichts zu tun. Wir können uns im Aus-
schuss gern weiter darüber unterhalten.


(Beifall der Abg. Gitta Connemann [CDU/ CSU] – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Man muss den Grünen genau auf die Finger schauen! – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie wissen doch gar nicht, aus welcher Studie ich zitiert habe!)


Jetzt zu Ihnen, verehrte Kollegin Katja Mast. Ich kann
mir, nachdem Sie deutlich am Schluss Ihrer Rede gesagt
haben, dass Sie uns Schritt für Schritt treiben wollen,
jetzt nicht verkneifen, Ihnen zu sagen: Es gibt einen Un-
terschied zwischen SPD-Parteitagsbeschlüssen und Ko-
alitionsbeschlüssen. Einen Koalitionsbeschluss gibt es
noch nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Katja Mast [SPD]: Ich will Sie nur in die Pflicht nehmen!)


– Ja, ich fühle mich in die Pflicht genommen, aber ich
orientiere mich auch ein bisschen an den Zahlen;


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn die Pflicht ruft, gibt es viele Schwerhörige!)


denn vieles, was hier gesagt wird, ist mit Zahlen nicht zu
belegen.


(Andrea Nahles [SPD]: Sie haben ja gar nichts zu den Rauschgoldengeln gesagt!)


Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14141


(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Meckelburg
Die Zeitarbeit kommt aus einer Schmuddelecke. In
den 60er-Jahren war Leiharbeit verpönt. Die Linke will
mit ihrem Antrag die Zeitarbeit offensichtlich wieder in
diese Schmuddelecke bringen. Wir als Union wollen das
nicht. Zeitarbeit ist inzwischen Wirtschaftsmotor gewor-
den. Deswegen werden wir Ihren Gesetzentwurf ableh-
nen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Über lange Zeit stand im Vordergrund, wie man den
Zeitarbeitsmarkt regulieren kann. Das ging über die letz-
ten 30 Jahre so. Es dauerte einige Zeit, bis sich die Zeit-
arbeit zum Wirtschaftsmotor entwickelte. Seit Ende der
90er-Jahre, also in den letzten zehn Jahren, hat sich die
Zahl der Zeitarbeitnehmer in Deutschland mehr als ver-
doppelt. Dies zeigt, dass es etwas mit Regulierung – zu
viel oder zu wenig – zu tun.

Ich stimme dem zu, was Laurenz Meyer heute Mor-
gen hier gesagt hat, nämlich dass es einen Unterschied
zwischen den beiden Koalitionsparteien gibt. Wir als
Union sind immer daran interessiert, Menschen in Arbeit
zu bringen und Brücken zu bauen. Zeitarbeit gehört
dazu. Bei Ihnen steht immer die Frage im Vordergrund,
wie man möglichst gerecht vorgehen kann. Dabei be-
rücksichtigen Sie vielleicht nicht immer, ob das zum
Verlust von Arbeitsplätzen führen könnte. Ich finde, wir
sind immer auf einem guten Weg, wenn es uns gemein-
sam gelingt, einen Kompromiss zu finden.


(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Der Stellenwert der Zeitarbeit für den Arbeitsmarkt
ist eindeutig. Ein Zeitarbeitsverhältnis ist ein reguläres
Arbeitsverhältnis in einer inzwischen vollständig an-
erkannten, eigenständigen Branche. Das war die Ent-
wicklung der letzten vierzig Jahre. Für die Beschäftigen
in der Zeitarbeitsbranche gelten – wie für andere Be-
schäftigte auch – alle arbeitsrechtlichen Bestimmungen,
inklusive Kündigungsschutz und Befristung. Ich will
nicht verhehlen, dass es Probleme gibt, aber ich glaube
nicht, dass sie in dem Maße verallgemeinert werden dür-
fen, wie das zum Teil heute Morgen der Fall war.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das alles sind Punkte, die uns am vergangenen
Montag in der Anhörung zum Antrag der Linken von
Experten vorgetragen wurden. Wir als Union stimmen
mit den Experten überein: Zeitarbeit ist eine wichtige
Wachstumsbranche. Ich will die Zahlen nicht wieder-
holen; sie sind vorhin genannt worden. Gerade im letz-
ten Jahr hat die Zeitarbeit deutlich zugenommen.

Die Zeitarbeit ist ein Wachstumsmotor. Im vergange-
nen Jahr ging der gesamte Beschäftigungsaufbau zu
einem Viertel auf die Zeitarbeit zurück. Für die Beschäf-
tigten ist Zeitarbeit eine Brücke zum ersten Arbeits-
markt. Zwei Drittel der Zeitarbeitnehmer waren zuvor
arbeitslos; 15 Prozent waren sogar langzeitarbeitslos.
Man geht davon aus, dass ungefähr ein Drittel aller Zeit-
arbeitnehmer über die Zeitarbeit eine Möglichkeit erhält,
entweder im entleihenden Unternehmen oder in einem
anderen Unternehmen Beschäftigung zu finden. Diese
Daten zeigen, dass Zeitarbeit ein Motor unserer Wirt-
schaft ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Zum Argument, Zeitarbeit gehöre in die Schmuddel-
ecke, will ich ein paar Zahlen nennen. Nur ein Drittel
aller Arbeitnehmer bei Personaldienstleistern sind so-
genannte Helfer. Die Facharbeiterquote liegt bei 63 Pro-
zent; 7 Prozent sind Akademiker. Das zeigt, dass Zeit-
arbeit längst aus der Schmuddelecke herausgefunden
hat. Deshalb rede ich auch nicht von Leiharbeit, sondern
von Zeitarbeit als eigenständiger Branche.

Die Zeitarbeit ist ein wichtiges Flexibilitätsinstru-
ment für die Wirtschaft. Sie bietet neben der Befristung
die Möglichkeit, Arbeitskräfte nach Auftragslage einzu-
setzen. Das erklärt möglicherweise den Boom. Wenn wir
insgesamt die Möglichkeit hätten, Änderungen am Sys-
tem vorzunehmen, dann müsste man die Zeitarbeit über-
denken. Das erfordert aber möglicherweise Maßnahmen,
die wir in dieser Großen Koalition nicht durchsetzen
können.

Was die Vorstellungen der Linken angeht, habe ich
kein Verständnis für die Easy-Gysi-Vorschläge, die Sie
einbringen, auch wenn Sie aus dem Westen kommen. Sie
machen es sich zu einfach. Sie versprechen allen alles
und stellen stets die Gerechtigkeit in den Vordergrund.
Das kann man machen, solange man es nicht umsetzen
muss. Sie laufen ja nicht Gefahr, mehrheitsfähig zu wer-
den. Deswegen können Sie das Blaue vom Himmel ver-
sprechen.


(Werner Dreibus [DIE LINKE]: Na, na, na! – Weiterer Zuruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE])


– Sie wissen genau, worüber ich rede, Frau Enkelmann.
Dort, wo es real versucht wurde, ist es gescheitert. Auch
die neuen Namensgebungen Ihrer Partei werden nichts
daran ändern, dass Ihre Politik fehlgeleitet ist.


(Widerspruch bei der LINKEN)


– Sie müssen sich das Woche für Woche anhören. Ob
SED, PDS oder Linke – am Ende kommt immer DDR
heraus. Wir jedenfalls wollen das nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das liegt daran, dass Ihnen jegliches Grundverständ-
nis für Wirtschaft, Arbeit und Finanzen fehlt. Sie haben
nie diejenigen im Blick, die all das bezahlen müssen,
was Sie in sozialpolitischer Hinsicht versprechen. Sie
haben nicht begriffen, dass die Menge des Geldes weder
im Staat noch in der Wirtschaft vermehrbar ist.

Die Themen Soziales und Wirtschaft sind bei uns im
Begriff der sozialen Marktwirtschaft verankert. Sozial
wird groß geschrieben, aber es ist mit der Marktwirt-
schaft gekoppelt. Worüber sich SPD und CDU/CSU
möglicherweise verständigen müssen, ist die Akzentset-
zung, ob gerade der soziale Aspekt wichtiger ist, ob der
Markt stärker berücksichtigt werden muss und ob Ände-
rungen in der Marktwirtschaft vielleicht sogar sozialer

14142 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



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Wolfgang Meckelburg
sind. Das ist die Spannbreite. Aber Sie als PDS haben
von sozialer Marktwirtschaft überhaupt keine Ahnung.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Hauptsache, Sie haben das, Herr Meckerberg! – Gegenruf des Abg. Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Verunstaltung von Namen ist unparlamentarisch! – Gegenruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ja, und die SED heißt Die Linke!)


– „Mecklenburg“ würde ich noch akzeptieren, aber „Me-
ckerberg“ nicht. Vielleicht habe ich jetzt etwas gut; dann
nenne ich Sie tapferes Schneiderlein. Machen Sie weiter
so!

Sie haben mit sozialer Marktwirtschaft nichts im
Sinn. Sie ist in Ihrem Programm nicht zu finden. Sie
wollen etwas anderes. Sie sind Partei des populistischen
Sozialismus. Darin kommt der Markt nicht vor; deswe-
gen können Sie nicht sozial sein. Sie wollen sozialistisch
und populistisch sein. Machen Sie so weiter! Sie rennen
aber ins Leere.

Zum Abschluss möchte ich etwas zu den drei hier
aufgestellten Behauptungen sagen. Die erste Behaup-
tung lautet: Zeitarbeit ist schlechte Arbeit. Hier stellt
sich die Frage, ob es nicht besser ist, lieber Zeitarbeit als
gar keine Arbeit zu haben. Ich beziehe mich auf
Dr. Lembke aus der Anhörung, der gesagt hat: Was ist
sozialer? Arbeit gegen Entgelt, selbst wenn es nicht exis-
tenzsichernd ist, oder lieber Geld ohne Arbeit?


(Werner Dreibus [DIE LINKE]: Hungerlöhne für alle!)


– „Hungerlöhne für alle“, das ist Unsinn;


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist eine Tatsache!)


das will niemand in diesem Parlament. – Mir ist Arbeit
gegen Entgelt lieber, auch wenn wir es etwas aufstocken
müssen. Hauptsache, jemand ist erst einmal im Arbeits-
markt.

Das zweite Argument lautet: Zeitarbeit führt zu
Lohndumping. Bisher gibt es dafür keinen Beweis. Es
gibt ja sogar den Fall, dass in bestimmten Branchen, in
denen die Tarife höher sind, die Löhne gesenkt werden
müssten, wenn Zeitarbeitnehmer beschäftigt werden und
Ihre Forderung nach Equal Pay umgesetzt werden soll.
Das wollen Sie sicher nicht. Das ist also sehr kompli-
ziert.

Das dritte Argument lautet: Zeitarbeit verdrängt nor-
male, gute Arbeit. Ich zitiere hier aus dem IAB-Kurzbe-
richt:

Leiharbeiterjobs stellen in der Regel nur kurze Pha-
sen im Erwerbsverlauf der Beschäftigten dar.

Mehr möchte ich dazu nicht sagen, da meine Redezeit
abgelaufen ist.

Lassen Sie mich zusammenfassen: Zeitarbeit ist Ar-
beitsmarkt- und Wirtschaftsmotor. Zeitarbeit ist prinzi-
piell nicht infrage zu stellen. Sozialpolitische Forderun-
gen, die diesen Arbeitsmarkt kaputtmachen, sind nicht
akzeptabel. Deswegen werden wir den Gesetzentwurf
der Linken ablehnen. Wir wollen Zeitarbeit als eigen-
ständige Branche erhalten und sie weiterhin als Wachs-
tumsmotor einsetzen.

Schönen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1613406700

Herr Kollege Schneider, Sie wissen, dass wir in die-

sem Parlament sehr darauf achten, von persönlichen Be-
leidigungen abzusehen. Ich finde, dass das kreative Ver-
ändern des Namens eine Art persönliche Beleidigung
von Herrn Meckelburg ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Frau Präsidentin, ich bedaure sehr, dass ich mir offensichtlich genauso wenig den korrekten Namen merken kann wie er den Namen meiner Fraktion!)


– Herr Kollege Schneider, bitte lassen Sie mich ausre-
den. Ich bitte Sie, sich zu überlegen, ob Sie sich bei dem
Kollegen entschuldigen. Im Übrigen können Sie den Na-
men in unserem wunderbaren Kürschner nachlesen.


(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Auch der Name unserer Fraktion steht darin!)


Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf ei-
nes Gesetzes der Fraktion Die Linke zur Änderung des
Gesetzes zur Regelung der erwerbsmäßigen Arbeitneh-
merüberlassung. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/7513, den Gesetzentwurf der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 16/4805 abzulehnen. Ich bitte die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen,
CDU/CSU, FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäfts-
ordnung die weitere Beratung.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a und 32 b so-
wie die Zusatzpunkte 9 und 10 auf:

32 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines
Siebten Gesetzes zur Änderung des Dritten
Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze

– Drucksache 16/7460 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14143


(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten

Volker Schneider (Saarbrücken), Klaus Ernst,
Dr. Lothar Bisky, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE

Rentenabschläge für Langzeiterwerbslose ver-
hindern

– Drucksachen 16/6933, 16/7200 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Stöckel

ZP 9 Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Schneider (Saarbrücken), Klaus Ernst, Dr. Martina
Bunge, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Vier-
ten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Bu-

(Rentenabschlagsverhinderungsgesetz)


– Drucksache 16/7459 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, Dr. Karl
Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP

Arbeit statt Frühverrentung fördern

– Drucksache 16/7003 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke zur Verhinderung von Rentenab-
schlägen werden wir später namentlich abstimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Klaus Brandner.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das ist ein guter Mann! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist die Jungfernrede! Etwas alte Jungfer!)


K
Klaus Brandner (SPD):
Rede ID: ID1613406800


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-
ginnen und Kollegen! Der Arbeitsmarkt entwickelt sich
weiterhin positiv. Im November gab es 3,38 Millionen
Arbeitslose. Seit 1992 waren in einem November nicht
mehr so wenige Menschen arbeitslos. Davon profitieren
alle, die Jungen und die Älteren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die Zahl der jungen Arbeitslosen ist um 19,1 Prozent
und die der älteren um 17,4 Prozent niedriger als vor ei-
nem Jahr.

Diese Entwicklung ist nicht mehr nur Folge der guten
Konjunktur, sondern sie ist auch Resultat struktureller
Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt. Wir dürfen mit
Fug und Recht sagen, dass das auch das Ergebnis einer
guten Politik ist, einer Politik, die Wachstum und Be-
schäftigung fördert, die ein gerechtes System des „För-
derns und Forderns“ organisiert, die weniger auf Früh-
verrentung setzt und mehr auf Unterstützung, die für
diejenigen, die sonst kaum Aussichten auf einen Arbeits-
platz haben, Arbeitsgelegenheiten und Arbeitsplätze
schafft, und die darauf setzt, dass gerade Ältere besser
vermittelt werden, die bisher weniger Chancen hatten.
Weil dem so ist, können wir den Gerechtigkeitsvorstel-
lungen der Menschen entsprechen und einen längeren
Bezug des Arbeitslosengeldes I für ältere Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer ermöglichen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Wie ist die Lage der Älteren? Richtig ist: Viele Fir-
men haben erkannt, dass es für sie von Vorteil ist, ältere
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu beschäftigen
und auf ihre Erfahrung zu setzen. 1998 zum Beispiel wa-
ren weniger als 38 Prozent der 55- bis 64-Jährigen er-
werbstätig. Heute sind es 52 Prozent. Hier tut sich also
etwas, auch dank gezielter Förderung und bestimmter
Maßnahmen, die wir politisch ergriffen haben. Richtig
ist aber auch: Trotz dieser guten Zahl bestehen bei der
beruflichen Wiedereingliederung Älterer weiterhin Pro-
bleme. Mit dem Siebten Gesetz zur Änderung des Drit-
ten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze, das
als Entwurf vorliegt, sollen deshalb die soziale Siche-
rung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und
ihre Integration in den Arbeitsmarkt weiter verbessert
werden.

Erstens verlängern wir die Dauer des Anspruchs auf
das Arbeitslosengeld in drei Stufen. Dabei werden die
Vorversicherungszeiten in den letzten fünf Jahren und
das Lebensalter berücksichtigt. 50-Jährige erhalten künf-
tig bis zu 15 Monate, 55-Jährige bis zu 18 Monate und
58-Jährige bis zu 24 Monate Arbeitslosengeld. Die Ver-
längerung gilt für alle, die nach Inkrafttreten des Geset-
zes arbeitslos werden und Anspruch auf Arbeitslosen-
geld haben, und für diejenigen, die bereits arbeitslos sind
und auch nach Inkrafttreten des Gesetzes Anspruch auf
Arbeitslosengeld haben.

Zweitens verbessern wir die Wiedereingliederung
mit Eingliederungsgutscheinen und Eingliederungszu-
schüssen. Um ältere Arbeitslose bei ihrer Suche nach
Arbeit gezielt zu unterstützen, haben wir dem längeren
Anspruch auf Arbeitslosengeld einen Eingliederungsgut-
schein vorgeschaltet. Damit verpflichtet sich die Agentur
für Arbeit, bei Einstellung eines älteren Menschen einen
Lohnkostenzuschuss an den Arbeitgeber zu zahlen. Der

14144 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(D)


Parl. Staatssekretär Klaus Brandner
Eingliederungsgutschein ist während der ersten zwölf
Monate der Arbeitslosigkeit eine Ermessensleistung. Die
Arbeitsvermittlerinnen und Arbeitsvermittler entschei-
den in diesem Zeitraum, ob und in welcher Höhe der
Gutschein ausgegeben wird. Der Lohnkostenzuschuss
liegt zwischen 30 und 50 Prozent. Die Förderdauer be-
trägt zwölf Monate.

Wenn in den ersten zwölf Monaten der Arbeitslosig-
keit trotz aller verabredeten Bemühungen die Integration
in den Arbeitsmarkt nicht gelingt, erhalten ältere Ar-
beitslose einen Rechtsanspruch auf den Gutschein. Um
die Anreize für die Arbeitgeber noch einmal zu erhöhen,
beträgt die Förderhöhe dann ausnahmslos 50 Prozent.
Unabhängig von der Höhe des Zuschusses kann eine
Förderung jedoch nur dann erfolgen, wenn das Beschäf-
tigungsverhältnis für mindestens zwölf Monate abge-
schlossen wird. Damit wird gewährleistet, dass Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer neue Ansprüche in der
Arbeitslosenversicherung erwerben. Neu am Einglie-
derungsgutschein ist vor allem, dass er direkt an die Ar-
beitslosen ausgegeben wird. Dadurch wird die Eigen-
initiative bei der Suche nach einem Arbeitsplatz
unterstützt. Das erleichtert hoffentlich vielen Arbeitge-
bern, sich für einen älteren Arbeitslosen zu entscheiden.

Drittens beinhaltet der Gesetzentwurf eine Nachfol-
geregelung zur sogenannten 58er-Regelung. Dabei gilt
der Grundsatz: Auch ältere Menschen sind unverzüglich
in Arbeit oder eine Arbeitsgelegenheit zu vermitteln. Die
Beschäftigung hat also Vorrang.

Der zweite Grundsatz lautet – auch ihn will ich an-
sprechen –: Das Arbeitslosengeld II wird nur dann ge-
zahlt, wenn die Hilfebedürftigen keine anderen vorrangi-
gen Leistungen in Anspruch nehmen können. Wäre die
alte 58er-Regelung ersatzlos ausgelaufen, wäre jeder äl-
tere Arbeitslose, der Anspruch auf eine Altersrente mit
Abschlägen hat, darauf verwiesen worden.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Darauf mussten wir Sie aber erst mal hinweisen!)


– Frau Schewe-Gerigk, auch wenn meine frühere Funk-
tion zwischenzeitlich auf meine Kollegin Nahles überge-
gangen ist – sie übt sie erfolgreich aus –, werden Sie sich
daran erinnern, dass die Sozialdemokratische Partei die-
ses Thema sehr früh aufgegriffen hat.


(Beifall bei der SPD – Irmingard ScheweGerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Mai haben wir unseren Antrag eingebracht!)


Wir sind froh darüber, dass wir mit unserem Koalitions-
partner zu einer vernünftigen Regelung gekommen sind.

Ich sage hier ganz deutlich: Um den unterschiedlichen
Altersgrenzen auch beim Eintritt in die Rente gerecht zu
werden, wird ein einheitliches Renteneintrittsalter vorge-
geben: Man kann eine Altersrente mit Abschlägen frü-
hestens nach dem 63. Lebensjahr in Anspruch nehmen.
Darüber hinaus soll eine besondere Härtefallregelung
vereinbart werden. Durch Rechtsverordnung wird gere-
gelt, in welchen besonderen Fällen man auch nach dem
63. Lebensjahr nicht verpflichtet ist, eine Abschlagsrente
in Anspruch zu nehmen. Dabei geht es zum Beispiel um
die Fälle, in denen der Betroffene in Kürze eine ab-
schlagsfreie Rente in Anspruch nehmen kann oder in de-
nen eine Arbeitsmöglichkeit unmittelbar bevorsteht.

Ich bin den Koalitionsfraktionen dankbar, dass sie in
diesen beiden wichtigen und schwierigen Fragen ge-
meinsame Lösungen gefunden haben. Das Arbeitsminis-
terium hat sich unter Hochdruck und mit der gebotenen
Sorgfalt darangemacht, die politischen Vereinbarungen
der Fraktionen in dem Entwurf einer Formulierungshilfe
umzusetzen. Ziel der Bundesregierung war es, das Ge-
setzgebungsverfahren noch in diesem Jahr abzuschlie-
ßen, damit die Neuregelungen zum 1. Januar 2008 in
Kraft treten können. Zu diesem Zweck ist – Sie wissen
es – sogar die Kabinettssitzung in dieser Woche auf den
Dienstag vorverlegt worden.


(Andrea Nahles [SPD]: Richtig!)


Dass der vorgesehene Zeitplan nun nicht eingehalten
werden soll, hat uns sehr überrascht. Ich will das hier
deutlich anmerken.


(Andrea Nahles [SPD]: Sehr bedauerlich!)


Wichtig bleibt aber, dass die gesetzliche Neuregelung so
schnell wie möglich umgesetzt wird. Für 30 000 bis
40 000 Ältere läuft der Arbeitslosengeldanspruch nach
bisherigem Recht nach dem 31. Dezember dieses Jahres
aus. Dadurch, dass das Gesetz später in Kraft tritt, droht
ihnen eine „Hängepartie“ mit komplizierten Übergangs-
regelungen und nachträglichen Korrekturen. Ich sage
hier ganz deutlich: Wir wollen das so weit wie möglich
vermeiden, und wir arbeiten derzeit an entsprechenden
Lösungen.

Für Ihre Unterstützung im Interesse der Betroffenen
möchte ich mich schon an dieser Stelle ganz herzlich be-
danken. Ich hoffe, dass damit, Frau Schewe-Gerigk, klar
ist: Zwangsverrentung ist mit dieser Bundesregierung
nicht zu machen. Sie hat die Initiativen der Koalitions-
fraktionen sehr früh aufgegriffen und so eine vernünftige
Lösung gefunden.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1613406900

Ich gebe das Wort dem Kollegen Dirk Niebel, FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Dirk Niebel (FDP):
Rede ID: ID1613407000

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Kollege Staatssekretär Brandner, das war
Ihre Jungfernrede als Staatssekretär. Bei der Erwiderung
auf Jungfernreden muss man lieb sein. Deswegen werde
ich mich im Wesentlichen auf den Arbeitsminister kon-
zentrieren.


(Lachen bei der SPD)


(B)


Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14145


(A) (C)



(B) (D)


Dirk Niebel
Aber ich kann mir die kleine Anmerkung nicht verknei-
fen, dass Sie sozusagen die fleischgewordene 58er-Re-
gelung sind.


(Heiterkeit bei der FDP)


Insofern wünsche ich Ihnen viel Erfolg in Ihrem neuen
Amt.

Auch die FDP-Bundestagsfraktion wird dafür sorgen,
dass es keine Zwangsverrentung gibt. Die Details dazu
wird Ihnen mein Kollege Kolb in seiner Rede vortragen.
Ich werde mich auf den zweiten Bereich dieses Gesetz-
entwurfs, auf die Verlängerung des Arbeitslosengeld-I-
Bezuges, konzentrieren.

Heute ist ein bemerkenswerter Tag; es ist sozusagen
Domino-Day: Der erste Dominostein war die Einführung
des Mindestlohns in einer Branche. Vorgesehen ist jetzt
ein zweiter Dominostein: die Rücknahme wesentlicher
Bereiche der sogenannten Hartz-Reformen. Der Herr
Bundesarbeitsminister hat in seiner Rede vorhin enorme
Schwierigkeiten gehabt, den Namen des Schröder-Freun-
des Hartz in den Mund zu nehmen. Auch wenn man das
angesichts der verschiedenen Freunde des abgewählten
Gasmanns aus Hannover zwar verstehen kann, sollte
man nicht übersehen, dass es darum ging, eines zu ver-
schleiern: dass es hier um die Umkehrung einer erfolgrei-
chen Politik geht.


(Angelika Krüger-Leißner [SPD]: Überhaupt nicht!)


Als der Genosse Scholz als Generalsekretär der So-
zialdemokratischen Partei noch um die Lufthoheit über
den Kinderbetten gekämpft hat, hat er dem Stern am
7. August 2003 ein Interview gegeben. Damals antwor-
tete er auf die Frage, ob es gerecht sei, die Arbeitslosen-
geld-I-Bezugsdauer zu verkürzen – ich zitiere –:

Die Arbeitslosenversicherung ist eine Versicherung
und kein Sparguthaben. Sie schützt vor dem Risiko
der Arbeitslosigkeit. Es gibt viele, die ihr Leben
lang einzahlen und nie eine Leistung bekommen,
weil sie immer Arbeit haben.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da hat er doch eigentlich recht!)


Am 24. November 2006, als der Genosse Arbeitsmi-
nister schon Erster Parlamentarischer Geschäftsführer
der SPD-Bundestagsfraktion war, hat der Herr Bundes-
präsident ein klares Nein zur Verlängerung des Arbeits-
losengeldbezuges verkündet. Bei dem darauffolgenden
politischen Disput entgegnete der Kollege Olaf Scholz
damals:

Wo der Bundespräsident recht hat, hat er recht.

Jetzt ist es doch so, dass an dieser Stelle wieder ein-
mal Symbolpolitik betrieben wird.


(Andrea Nahles [SPD]: Da fehlt doch die Pointe!)


Der Vorgänger des wertgeschätzten Kollegen Brandner
hat im Deutschen Bundestag in der Aktuellen Stunde am
10. Oktober 2007 deutlich gemacht, dass die durch-
schnittliche Arbeitslosengeldbezugsdauer überhaupt keine
Notwendigkeit ergibt, die Bezugsdauer zu verlängern.

Laut Staatssekretär a. D. Andres beziehen 50- bis
55-Jährige durchschnittlich sechs Monate Arbeitslosen-
geld I, 55- bis 60-Jährige durchschnittlich sieben Monate
und 60- bis 65-Jährige durchschnittlich elf Monate. Was
heißt das in der Conclusio? In der Conclusio bedeutet
das, dass Symbolpolitik betrieben wird, indem den Men-
schen suggeriert wird, man würde ihnen das Leben ein
Stück weit besser gestalten.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber das kostet 800 Millionen Euro!)


Im Ergebnis wird aber auf der anderen Seite dafür ge-
sorgt, dass die Chancen älterer Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer auf einen Arbeitsplatz zeitlich wieder
deutlich nach hinten geschoben werden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das haben Frau Nahles und wie sie alle heißen nicht kapiert!)


Denn die höhere Beschäftigungsquote von Erwerbslosen
in höherem Lebensalter ist nach allen Äußerungen der
Wirtschaftsinstitute darauf zurückzuführen, dass die Be-
zugsdauer des Arbeitslosengeldes verkürzt worden ist.
Weil über die Dauer der Arbeitslosigkeit die Leistung,
die sich am letzten Nettoeinkommen bemessen hat, nicht
mehr erzielt werden kann, ist es wirtschaftlich nur folge-
richtig, die Leistungsbezugsdauer möglichst bis zum
Ende auszuschöpfen; mit dem Ergebnis, dass dann die
Chance auf einen Arbeitsplatz, der idealerweise mindes-
tens so gut ist wie der verlorene Arbeitsplatz, noch ge-
ringer geworden ist. Deswegen führt diese Politik im Er-
gebnis dazu, dass die Chancen von älteren Menschen,
einen Arbeitsplatz zu bekommen, geringer werden.

Wenn Sie Spielräume sehen – das Ganze kostet jede
Menge Geld, und zwar das Geld anderer Leute und nicht
das des Genossen Arbeitsminister –, wenn Sie also die
Chance sehen, Spielräume finanzieller Art zu generie-
ren, dann sorgen Sie doch dafür, dass Arbeit noch billi-
ger wird. Die Spielräume bei der Arbeitslosenversiche-
rung sind so, dass locker ein Beitragssatz von 3 Prozent
hinzubekommen ist. Das ermäßigt die Kosten für Be-
triebe, wenn sie jemanden einstellen, und das erhöht die
Möglichkeiten und Spielräume der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, zu konsumieren, weil mehr Netto
vom Brutto übrigbleibt. Darum muss es gehen: Mehr
Netto vom Brutto für die Menschen in diesem Land, da-
mit sie am Aufschwung in Deutschland teilhaben kön-
nen!

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1613407100

Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Ralf Brauksiepe,

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU – Andrea Nahles [SPD]: Doppelschicht!)


14146 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1613407200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir setzen mit dem siebten SGB-III-Änderungsgesetz
zur Verlängerung des Bezugs von Arbeitslosengeld I ei-
nen richtigen Weg in der Sozialpolitik fort, einen Weg,
der auf die stärkere Würdigung der Beitrags- und damit
Lebensleistung von Menschen setzt.

Im Frühjahr dieses Jahres habe ich im Zusammen-
hang mit der Rente mit 67 die Regelung „Wer 45 Bei-
tragsjahre hat, kann weiter abschlagsfrei in Rente gehen“
mit der Honorierung einer großen Beitrags- und Lebens-
leistung begründet. Als ich dabei gesagt habe, auch bei
der Arbeitslosenversicherung mache das Sinn, stieß das
bei unserem Koalitionspartner noch auf Skepsis.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann musst du die treiben!)


Jetzt haben wir auch für diesen Sozialversicherungs-
zweig gemeinsam hinbekommen – das ist gut –, dass
sich Lebens- und Beitragsleistung bei den Ansprüchen
stärker auswirkt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Über 50-Jährige haben, jedenfalls dann, wenn die not-
wendigen Vorversicherungszeiten erfüllt sind – darauf
hat der Staatssekretär zu Recht hingewiesen –, in Zukunft
15 Monate und über 58-Jährige 24 Monate Anspruch auf
das Arbeitslosengeld I. Indem es uns gelungen ist, eine
Vereinbarung zu treffen, nach der dies ohne zusätzliche
Belastung für die BA finanziert werden kann, war es uns
auch möglich, gleichwohl, wie wir es uns vorgenommen
haben, die Senkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosen-
versicherung auf 3,3 Prozent zu Beginn des nächsten
Jahres sicherzustellen.

Wir wissen sehr genau: Wir werden in allererster Li-
nie nicht an der Länge des Bezugs von Arbeitslosengeld
gemessen, sondern am Abbau der Arbeitslosigkeit und
an der Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze, was uns in
der Großen Koalition sehr gut gelungen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Man sollte aber nicht so tun, als bräche gewisserma-
ßen der Sozialstaat zusammen, wenn Menschen, die
Jahrzehnte Beitrag gezahlt haben, ein paar Monate län-
ger Arbeitslosengeld erhalten. Ich kenne die Arbeitslo-
sen nicht, von denen bei der FDP immer die Rede ist, die
sich während der Arbeitslosigkeit erst einmal in der
Hängematte ausruhen und dann kurz vor Toresschluss
anfangen, nach Arbeit zu suchen. Das hat mit den Men-
schen in diesem Land nichts zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1613407300

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Kolb?


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Der Herr Kolb hat nur vier Minuten Redezeit!)


Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1613407400

Gern.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1613407500

Ich bedanke mich, Herr Kollege Brauksiepe. – Ich

habe in Erinnerung, dass die CDU in Leipzig eine Art
Doppelbeschluss gefasst hat. Nachdem Sie hier verkün-
det haben, dass die Verlängerung des Bezugs von
Arbeitslosengeld I abgehakt ist, möchte ich fragen, wann
wir mit der Erfüllung des zweiten Teils des Leipziger
Parteitags rechnen dürfen. Denn damals wurde doch,
wenn ich mich recht erinnere, die Notwendigkeit gese-
hen, auch Veränderungen beim Kündigungsschutz vor-
anzutreiben. Wie ist der aktuelle Stand der Dinge, Herr
Kollege Brauksiepe?


Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1613407600

Zunächst darf ich Sie darauf hinweisen, Herr Kollege

Kolb: Dieser Parteitag war in Dresden; der Leipziger
liegt schon länger zurück.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da waren Sie nur einen Tag! Ich erinnere mich!)


Das war also der Dresdener Parteitag. Wir haben dort
viele kluge Beschlüsse gefasst. Wir sind dafür, dass all
das, was wir beschlossen haben, auch umgesetzt wird.
Wir machen das alles Stück für Stück. Wofür wir jetzt
politische Mehrheiten haben, das setzen wir um.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir diskutieren hier keine Parteitagsbeschlüsse!)


Den Rest machen wir dann, wenn wir dafür ebenfalls
Mehrheiten haben. Darum setzen wir jetzt die Verlänge-
rung des Bezugs von Arbeitslosengeld I um, wofür wir
seit 13 Monaten werben. So sieht die Situation aus, Herr
Kollege Kolb.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich danke für die Gelegenheit, das darstellen zu können.

Uns geht es darum, dass die Menschen nicht in Passi-
vität verbleiben, sondern aktiviert werden; darauf hat
Klaus Brandner zu Recht hingewiesen. Deswegen wird
mit dem längeren Bezug von Arbeitslosengeld I die Ein-
führung eines Eingliederungsgutscheins verbunden, um
die Menschen wieder besser in Arbeit zu bringen. Die
Aktivierung der Menschen steht für uns im Vordergrund.
Das gilt gerade für Ältere, die es in vielen Bereichen
nach wie vor schwerer haben, in Arbeit zu kommen. Wir
geben niemanden auf – nicht denjenigen in Arbeitslosen-
geld-I-Bezug und auch nicht denjenigen in Arbeitslos-
gengeld-II-Bezug.

Deshalb führen wir mit diesem Gesetz einen Abs. 2 a
in § 3 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch ein, der da
lautet:

Erwerbsfähige Hilfebedürftige, die das 58. Lebens-
jahr vollendet haben, sind unverzüglich in Arbeit
oder in eine Arbeitsgelegenheit zu vermitteln.

Das hängt mit der sogenannten 58er-Nachfolgeregelung
zusammen.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14147


(A) (C)



(B) (D)


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1613407700

Herr Kollege, darf ich Sie unterbrechen? Kollegin

Pothmer hätte dazu eine Zwischenfrage.


Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1613407800

Gerne, Frau Pothmer.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613407900

Herr Brauksiepe, vielleicht können Sie uns noch ein-

mal erklären, wie die Einführung des neuen Eingliede-
rungsgutscheines für Ältere zu Ihrem Ziel passt – das
haben Sie uns schon lange versprochen –, den Instru-
mentenkasten zu verkleinern, insbesondere vor dem
Hintergrund, dass dieser Instrumentenkasten bereits ei-
nige Eingliederungsmaßnahmen enthält?


Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1613408000

Sie haben recht, Frau Kollegin Pothmer, dass es schon

an verschiedenen Stellen Eingliederungsleistungen gibt.
Genauso ist wahr, dass wir die arbeitsmarktpolitischen
Instrumente schon in den letzten zwei Jahren gestrafft
haben. Wir haben beispielsweise Ihr Lieblingskind, die
Ich-AG, abgeschafft; dieses Angebot gibt es nicht mehr
für Neufälle.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ähnlich haben wir auch an anderen Stellen gehandelt.

Seien Sie ganz sicher: Wir werden in den nächsten
Monaten eine Reform der arbeitsmarktpolitischen In-
strumente vorlegen,


(Dirk Niebel [FDP]: Das wird jetzt aber auch Zeit!)


die trotz dieses Eingliederungsgutscheines, zu dessen
Einführung wir uns bekennen, zu einer erheblichen Re-
duzierung der Zahl der arbeitsmarktpolitischen Instru-
mente führen wird, aber nicht zu einer Reduzierung der
für die aktive Arbeitsmarktpolitik eingesetzten finanziel-
len Mittel; das will ich klar sagen. Demnächst wird es
dazu eine entsprechende Vorlage der Koalition geben.
Frau Kollegin Pothmer, seien Sie unbesorgt; wir führen
gute Eingliederungsmaßnahmen durch und reduzieren
die Zahl der arbeitsmarktpolitischen Instrumente.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Ich will zur 58er-Nachfolgeregelung deutlich sagen:
Panikmache in dieser Frage war immer falsch. Wer sich
ernsthaft mit dieser Sache beschäftigt, weiß, dass die
Rentenansprüche der Menschen in aller Regel deutlich
höher sind als das, worauf sie Anspruch haben, wenn sie
Arbeitslosengeld II bekommen. Deswegen ist damit zu
rechnen, dass die allermeisten Menschen die entspre-
chenden Ansprüche, wenn sie sie erworben haben, auch
freiwillig realisieren.

Gleichwohl macht es keinen Sinn, hier einen Streit
um des Kaisers Bart zu führen. Zur Vermeidung von
Härtefällen haben wir eine am Nachrangigkeitsprinzip
gemessene großzügige Regelung vereinbart: Niemand
darf vor dem 63. Geburtstag auf einen bestehenden Ren-
tenanspruch verwiesen werden.
Ich betone in diesem Zusammenhang: Das ist ein zu-
sätzliches Recht. Alle bisherigen Schutzrechte für
Frauen, früher in Rente zu gehen, bleiben selbstverständ-
lich genauso erhalten wie der Vertrauensschutz für dieje-
nigen, die die 58er-Regelung schon in Anspruch genom-
men haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Von daher wird selbstverständlich auch in Zukunft nie-
mand gegen seinen Willen auf einen Rentenanspruch
verwiesen.

Ich glaube, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir
hier in der Sache ein überzeugendes Paket an Maßnah-
men vorgelegt haben. Eigentlich hätte man es dabei be-
wenden lassen können. Ich bedaure, dass es nun zu einer
öffentlichen Debatte, die jetzt auch hier geführt wurde,
um die Frage des Inkrafttretens dieser Regelung gekom-
men ist. Ich will deutlich sagen – mein Freund Klaus
Brandner weiß das aus langjähriger parlamentarischer
Arbeit –: Es ist gut, dass die Kabinettssitzung vorgezo-
gen worden ist; denn andernfalls hätte diese erste Lesung
erst in fünf Wochen, also Mitte Januar, stattfinden kön-
nen. Das machte also schon Sinn.

Die CDU/CSU-Fraktion ist selbstverständlich auch
dafür, dass begünstigende Regelungen so schnell wie
möglich in Kraft gesetzt werden.


(Beifall der Abg. Gitta Connemann [CDU/ CSU])


Genau das haben die Koalitionsspitzen übrigens verein-
bart. Ich darf einmal zitieren: „Ein entsprechendes Ge-
setz wird schnellstmöglich in Kraft treten.“ Nicht mehr
und nicht weniger haben wir vereinbart. Wir haben kei-
nen konkreten Termin vereinbart. Natürlich muss in die
Abwägung einbezogen werden, dass ein Gesetzgebungs-
verfahren in geordneten Bahnen verlaufen und über je-
den Zweifel erhaben sein muss. Die Große Koalition mit
ihrer großen Mehrheit darf sich den Staat mit Verfahren,
die diese Grundsätze nicht beachten, nicht zur Beute ma-
chen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Andrea Nahles [SPD]: Na ja! Scheinheilig!)


Selbstverständlich ist ein rückwirkendes Inkrafttreten
möglich. Die Ursachen dafür, dass wir nicht eher dran
sind, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegen woanders.
Wir haben auf unserem Parteitag in Dresden vor
13 Monaten den Beschluss zur Verlängerung des Bezugs
von Arbeitslosengeld I gefasst. Im November des Jahres
2006 hat es darüber auch eine Debatte im rheinland-pfäl-
zischen Landtag gegeben. Ich darf einmal zitieren, was

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1613408100


Jetzt komme ich zu dem zweiten Punkt …: Arbeits-
losengeld I. – Das Ganze geht zurück auf einen Vor-
schlag, den Herr Kollege Rüttgers gemacht hat.

– Wo Herr Beck recht hat, hat er recht. Ich kann das als
Mitglied der CDU Nordrhein-Westfalen bestätigen.

Er äußert sich dann nicht kritisch zur Finanzierung
– darum ging es nicht –, sondern er sagte, es gehe um
eine sehr grundsätzliche Frage, und fuhr fort:

14148 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Ralf Brauksiepe
Jetzt geht es schon darum, ob wir diesen Kurs korri-
gieren oder nicht … Ich sage Ihnen, wer die Schleu-
sentore dort aufmacht, der bekommt sie nicht mehr
zu.

Das sagte er im Hinblick auf unseren Vorschlag, die
Dauer des Arbeitslosengeld-I-Bezuges zu verlängern.
An die Adresse der CDU gewandt führte er weiter aus:

Solange Sie solche Versuche unternehmen,

– nämlich den Bezug von Arbeitslosengeld I zu verlän-
gern –

wird das nicht ohne meinen Widerspruch bleiben.
Das sage ich Ihnen.

Wohl wahr! Elf Monate hat Herr Beck hartnäckig Wider-
stand geleistet, bis er zu besseren Erkenntnissen gekom-
men ist. Dann hat die SPD auf ihrem Parteitag auch eine
Verlängerung des Bezugs von Arbeitslosengeld I be-
schlossen. Danach ging es ganz schnell.

Ich will deutlich sagen: Wir wollen die Menschen so
schnell wie möglich begünstigen. Elf Monate hat Herr
Beck gebraucht. Das ist traurig, aber kein Grund für eine
Sondersitzung des Deutschen Bundestages.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1613408200

Herr Kollege!


Dr. Ralf Brauksiepe (CDU):
Rede ID: ID1613408300

Wir stehen für gute inhaltliche Beschlüsse in einem

vernünftigen und geordneten Verfahren, liebe Kollegin-
nen und Kollegen!


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1613408400

Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Gregor Gysi,

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613408500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie ha-

ben gerade von einem geordneten Verfahren gesprochen.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist ein geordneter Rückzug!)


Was Sie hier anrichten, ist ein Tohuwabohu, das wir sel-
ten erlebt haben.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist auch mir völlig unverständlich, was Sie da an-
richten. Nehmen wir einmal die beiden genannten Bei-
spiele.

Sie wollen irgendwann im Februar 2008 die Verlänge-
rung des Bezugs von Arbeitslosengeld I für eine be-
stimmte Gruppe ab 1. Januar 2008 beschließen, sagen
aber den betroffenen Leuten, sie sollten jetzt erst einmal
ALG II beantragen, mit all den Demütigungen, die damit
verbunden sind. Wenn dann Tausende Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter der Bundesagentur ihre diesbezügliche
Arbeit geleistet haben, tritt das Gesetz in Kraft und sie
können die ganzen Papiere wieder wegwerfen; denn die
Antragsteller bekommen weiterhin ALG I. Das ist doch
nicht nachvollziehbar.


(Beifall bei der LINKEN und der FDP sowie der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es gibt doch Grenzen dessen, was an Scharlatanerie or-
ganisiert werden darf.

Jetzt komme ich zur Frage der Zwangsverrentung.
Hier wird es ja noch abenteuerlicher. Sie sagen jetzt be-
stimmten Leuten, nämlich denen, die 60, 61 oder
62 Jahre alt sind, sie müssten erst einmal eine Frühver-
rentung mit Abschlägen beantragen. Klar, das ist gelten-
des Recht.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Die haben alle Bestandsschutz!)


– Passen Sie auf, ich komme gleich dazu, um welche
Leute es sich handelt. – Wie gesagt, diese Leute müssen
die Zwangsverrentung beantragen. Erst sechs Wochen
später tritt das Gesetz in Kraft, das eine Zwangsverren-
tung nicht mehr vorsieht. Dann haben aber die Mitarbei-
terinnen und Mitarbeiter der Bundesagentur sowie die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Rentenversiche-
rung die entsprechenden Anträge schon bearbeitet. Das
ist nicht hinnehmbar. Das ist Tohuwabohu, was Sie hier
organisieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Nun sagt der zuständige Bundesminister, er wolle mal
sehen, dass er das Gesetz halbwegs außer Kraft setzen
kann und dass ihm vielleicht irgendeine Regelung ein-
fällt, mit der man die Doppelarbeit verhindern kann.
Hätte die Union zugestimmt, hätten wir das heute ver-
bindlich entscheiden können. Das ganze Tohuwabohu ist
völlig unnötig.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein weiterer Punkt. Wie wollen Sie denn als Bundes-
minister ein Gesetz außer Kraft setzen? Das Grundgesetz
sieht das nicht vor; das muss ich Ihnen ganz klar sagen.
Es gäbe eine Möglichkeit, liebe Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten: Wenn Sie unserem Antrag auf
Verlängerung zumindest der 58er-Regelung zustimmen
würden – darüber stimmen wir ja namentlich ab –, dann
wäre der Wille des Gesetzgebers, diese Regelung erst
gar nicht in Kraft zu setzen, um sie dann später wieder
außer Kraft zu setzen, deutlich geworden. Das wäre die
Lösung.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir werden sehen, wie Sie sich dazu verhalten.

Ich komme jetzt kurz zur Verlängerung des Bezugs
von Arbeitslosengeld I. Ich möchte daran erinnern, was
die SPD auf ihrem Parteitag beschlossen hat: Das Ar-
beitslosengeld I sollten 45- bis 49-Jährige statt 12 Mo-
nate 15 Monate, 50-Jährige und Ältere statt 12 Monate
24 Monate bekommen. Auch bei den über 55-Jährigen

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14149


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gregor Gysi
sollte die Bezugsdauer von 18 auf 24 Monate gesteigert
werden.

Schauen wir uns einmal an, was herausgekommen ist.
Ihr wunderbarer Kompromiss sieht Folgendes vor: Für
45- bis 49-Jährige gibt es gar keine Verlängerung, für
50- bis 54-Jährige wird um drei Monate von 12 auf
15 Monate verlängert. Für 55- bis 57-Jährige gibt es
ebenfalls keine Verlängerung. Erst für 58-Jährige und
Ältere verlängert sich die Bezugsdauer von 18 auf
24 Monate. Das ist nicht nichts; das ist wahr. Aber es ist
sehr viel weniger als das, was Sie beschlossen haben.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1613408600

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Meckelburg?


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613408700

Ja, klar.


Wolfgang Meckelburg (CDU):
Rede ID: ID1613408800

Angesichts Ihrer Aussage, die einzige Möglichkeit

des Parlaments, gegenüber dem Minister deutlich zu ma-
chen, dass wir die Verlängerung des Bezugs von
Arbeitslosengeld I und der 58er-Regelung haben wollen,
sei dadurch gegeben, dass wir Ihrem Antrag heute zu-
stimmen, möchte ich Sie fragen: Können Sie einmal zur
Kenntnis nehmen, dass wir mit dem Gesetzentwurf, der
vor zwei Wochen hier verabschiedet worden ist, bereits
beschlossen haben, dass wir beides wollen? Das Signal
gibt es also schon längst, und Ihr Antrag ist daher völlig
überflüssig.


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613408900

Es geht nicht um ein Signal, lieber Herr Kollege,


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: So haben Sie gerade argumentiert!)


sondern um einen Parlamentsbeschluss, der Ihnen recht-
liche Möglichkeiten gibt.


(Beifall bei der LINKEN)


Das schafft Ihr Gesetz, auf das Sie hingewiesen haben,
nicht.


(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das steht im Gesetz drin!)


Ich will gar nicht auf die Bedingungen eingehen, weil
mir meine Redezeit davonläuft.


(Wolfgang Grotthaus [SPD]: Gott sei Dank!)


– Zu drei Punkten will ich Ihnen schon etwas sagen. –
Sie verlangen für die Verlängerung des Bezugs von
Arbeitslosengeld I, dass die über 55-Jährigen drei Jahre
vorher versichert sein müssen. Die über 58-Jährigen
müssen vier Jahre vorher versichert sein. Dann kommen
Sie mit Ihrem Gutschein und erhöhen den Arbeitszwang.
Das ist ganz eindeutig. Das heißt, auf der einen Seite ge-
ben Sie den Menschen etwas, und auf der anderen Seite
versuchen Sie, ihnen etwas zu nehmen.

(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Sie wollen den Leuten die Chance auf Arbeit nehmen! Das ist unanständig!)


Immerhin ist es eine Verlängerung des Bezugs von
Arbeitslosengeld I.

Herr Staatssekretär, Sie behaupten in Ihrer Rede tat-
sächlich, dass Sie die Zwangsverrentung abschaffen. Da
sagen Sie eindeutig die Unwahrheit.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Denn Sie schaffen die Zwangsverrentung nicht ab. Das
stimmt einfach nicht. Vom Tohuwabohu habe ich bereits
gesprochen. Was ändert sich? Sie sagen: Die 60-, die
61- und die 62-Jährigen sollen nicht mehr zwangsverren-
tet werden. Dazu muss man wissen, dass auch bisher
nicht alle 60-, 61- und 62-Jährigen, die arbeitslos sind,
frühverrentet werden sollten, sondern nur Frauen und
Schwerbehinderte. Denn nur sie sind berechtigt, eine
Frühverrentung zu beantragen. Wer sie nicht beantragen
darf, fällt ja nicht unter diese Regelung. Es ist völlig in
Ordnung, dass sie für diese Personengruppe die Zwangs-
verrentung wegfallen lassen wollen. Auch die Union hat
nämlich erkannt, dass vor dem Bundesverfassungsge-
richt niemals durchgesetzt werden kann, dass Frauen
zwangsverrentet werden, aber die meisten Männer nicht.
Das ist heute einfach nicht mehr möglich.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das haben Sie ja akzeptiert.

Aber für die 63- und 64-Jährigen haben Sie nach wie
vor die Zwangsverrentung vorgesehen. Das wird die Be-
troffenen hart treffen, weil sie mit Renteneinbußen ver-
bunden ist. Ich verstehe auch nicht, wie Sie sagen kön-
nen, diese Menschen hätten davon mehr. Es hängt immer
davon ab, wie lange jemand lebt. Das Problem ist Fol-
gendes: Es besteht jetzt eine Wahlmöglichkeit. Ein Be-
troffener kann beim ALG II bleiben, oder er kann eine
Frühverrentung beantragen. Er hat einen Anspruch er-
worben, und Sie lassen ihn entscheiden, wie er damit
umgeht. Diese Regelung heben Sie für die 63- und
64-Jährigen auf.

Wir sollten uns hier nichts vormachen: Da Sie das
Renteneintrittsalter auf das 67. Lebensjahr verschieben,
wird der Zeitpunkt kommen, zu dem nach Ihrem Gesetz
auch 65- und 66-Jährige eine Frühverrentung beantragen
müssen. Das betrifft diejenigen, für die das höhere Ren-
teneintrittsalter gilt.

Was bedeutet das? Ich will Ihnen das sagen; denn wir
sollten uns hier nichts vormachen – das müssen Sie wis-
sen, wenn Sie das entscheiden –: Wenn ein Durch-
schnittsrentner, der mit 65 Jahren Anspruch auf eine
Rente in Höhe von 1 050 Euro hätte, mit 63 Jahren zur
Frühverrentung gezwungen wird, bedeutet das eine Kür-
zung der Rente um 7,2 Prozent. Das sind 72 Euro im
Monat und 864 Euro im Jahr.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Solche Rechner hätte die DDR gebrauchen können!)


14150 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B)


Dr. Gregor Gysi
Gehen wir einmal weiter und schauen, wie es bei ei-
nem Renteneintrittsalter von 67 Jahren aussieht. Dann
wird es um einen Abzug in Höhe von 14,4 Prozent ge-
hen, was monatlich 144 Euro und jährlich 1 728 Euro
entspricht. Da können Sie sich nicht hier hinstellen und
sagen: Er fährt damit besser. Nein, er fährt damit
schlechter. Er sollte aber wenigstens die Entscheidungs-
hoheit behalten.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Folgendes kommt noch hinzu – ich bitte Sie, über Ihre
Regelung vor dem Hintergrund des Grundgesetzes noch
einmal nachzudenken –: Wer darf denn mit 63 bzw.
64 Jahren etc. eine Frühverrentung beantragen? Wen
trifft das denn? Nur diejenigen, die 35 Jahre oder länger
rentenversichert waren. Das heißt, wenn jemand nur
33 Jahre, 30 Jahre oder weniger rentenversichert war,
dann darf er keine Frühverrentung beantragen, dann un-
terliegt er nicht der Zwangsverrentung. Wenn er aber
35 Jahre oder länger gearbeitet hat, dann wird er zu einer
Frühverrentung gezwungen, die zu einer Kürzung seiner
Rente führt. Das ist doch beim besten Willen nicht hin-
nehmbar.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])


Es ist grundgesetzwidrig – das muss ich schon sagen –,
dass Sie die Leute zur Frühverrentung zwingen und ih-
nen den erworbenen Rentenanspruch kürzen. Sie zwin-
gen die Leute zur Frühverrentung und kürzen ihnen den
Rentenanspruch, den sie erworben haben. Und dann gibt
es noch die Erhöhung des Renteneintrittsalters. Es ist
erst recht grundgesetzwidrig, dass Sie nur einen Teil der
Leute zwingen, und zwar diejenigen, die mehr gearbeitet
haben. Diejenigen, die weniger gearbeitet haben, zwin-
gen sie nicht. Lassen Sie die Zwangsverrentung einfach
bleiben! Sie ist grundgesetzwidrig, ungerecht und völlig
falsch!


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1613409000

Nächste Rednerin ist die Kollegin Irmingard Schewe-

Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn in einer Familie unterschiedliche Vorstellungen
über Weihnachten und die Geschenke bestehen, entsteht
häufig ein Streit. Genau so ist es in der Großen Koali-
tion. Die SPD wollte rechtzeitig zum Fest mit ganz be-
sonderen Geschenken glänzen. Sie wollte zum Jahresbe-
ginn den Arbeitslosengeld-I-Bezug für Ältere verlängern
und der Zwangsverrentung die Spitze nehmen. Jetzt hat
sie das Problem, dass der andere Teil der Familie, die
CDU/CSU, einen Teil der Geschenke überflüssig findet.
So wurden Weihnachtsgeschenke versprochen, die zum
Fest noch gar nicht vorhanden sind. Dazu kann ich nur
sagen: Das ist eine schöne Bescherung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Verlierer dieses Hickhacks sind die vielen älteren
Arbeitslosen, die zu Beginn des nächsten Jahres herab-
gestuft werden und Arbeitslosengeld II beziehen. Mit et-
was Glück beziehen sie später wieder das deutlich hö-
here Arbeitslosengeld I. Wie zu Jahresbeginn mit der
drohenden Zwangsverrentung umgegangen wird, da-
rüber kann im Moment nur spekuliert werden. Eines ist
aber klar: Die Betroffenen sind verunsichert, und die in
den Jobcentern Beschäftigten werden sich eher mit den
Rückabwicklungen als mit der Arbeitsvermittlung be-
schäftigen. Das ist ein starkes Stück.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ursache dieses Desasters ist die Unfähigkeit der Gro-
ßen Koalition, sich rechtzeitig zu einigen. Dabei hätte sie
viel Zeit gehabt. Herr Brandner, wir haben uns vorhin
schon kurz darüber ausgetauscht und festgestellt, dass es
die Grünen waren, die schon im Mai dieses Jahres darauf
hingewiesen haben, dass es ungerecht ist, dass Langzeit-
arbeitslose ab dem nächsten Jahr gegen ihren Willen mit
lebenslangen Abschlägen in Rente geschickt werden.
Das muss gesagt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habt ihr vergessen!)


Noch im Oktober haben Sie unseren Antrag abge-
lehnt. Damals hätten Sie noch genügend Zeit für ein or-
dentliches Gesetzgebungsverfahren gehabt, Herr Brauksiepe.
Stattdessen haben Sie auf dem Rücken der Betroffenen
munter weiter gestritten.

Die heutige Entscheidung, die Zwangsverrentung erst
ab dem 63. Lebensjahr umzusetzen, ist zwar ein Teiler-
folg, den die Oppositionsfraktionen gemeinsam mit den
Sozialverbänden und den Gewerkschaften durch öffent-
lichen Druck erreicht haben. Unterm Strich ist diese Lö-
sung aber ein fauler Kompromiss;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


hier muss ich Herrn Gysi zustimmen.


(Zuruf von der Linken: Das stimmt ja auch!)


– Das ist richtig; sehr gut.

Das ursprüngliche Ansinnen, Langzeitarbeitslose zum
frühestmöglichen Zeitpunkt vorzeitig in die Rente zu
zwingen, wurde nur ein wenig abgemildert. Denn dieser
Schritt hätte Frauen und Menschen mit Behinderung be-
sonders hart getroffen. Sie hätten bereits mit 60 Jahren
vorzeitig in Rente gehen müssen, und das mit Abschlä-
gen in Höhe von 18 Prozent. Da die Schutzfunktion da-
durch in ihr Gegenteil verkehrt worden wäre, hätten
diese beiden Gruppen mit Erfolg gegen diese eklatante
Form der Diskriminierung klagen können. Da kann ich
Ihnen nur sagen: Das AGG lässt grüßen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir Grüne lehnen eine Zwangsverrentung auch ab
dem 63. Lebensjahr ab.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Warum habt ihr sie denn damals beschlossen?)


(D)


Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14151


(A) (C)



(B) (D)


Irmingard Schewe-Gerigk
– Es handelt sich weiterhin um eine Zwangsverrentung,
Herr Kollege Brauksiepe.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Sie haben das doch einmal mit beschlossen!)


– Schreien Sie nicht so laut.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Doch! Sie haben das nämlich einmal mit beschlossen!)


Jetzt betragen die Abschläge zwar „nur“ 7,2 Prozent.
Wer dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht und ihm zur
Verfügung stehen will, darf aber nicht gezwungen wer-
den, vorzeitig in Rente zu gehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die gesetzliche Rentenversicherung ist im Übrigen nicht
da, um die Probleme des Arbeitsmarktes auszubaden.

Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie wol-
len erwerbsfähige Hilfebedürftige ab dem 58. Lebens-
jahr unverzüglich in Arbeit oder in eine Arbeitsgelegen-
heit vermitteln.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Genau! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja! Warum denn nicht?)


Ich finde es klasse, dass Sie das machen wollen. Natür-
lich begrüßen auch wir es, wenn ältere Langzeitarbeits-
lose schnell in Arbeit vermittelt werden; das sollte eine
Selbstverständlichkeit sein. Die Vermittlung in 1-Euro-
Jobs läuft aber auf einen Missbrauch dieses Instruments
hinaus, das eigentlich zur Eingliederung gedacht ist. Das
besonders Perfide: Mit diesem Gesetz wollen Sie auch
noch die Statistik bereinigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Wenn das mal nicht sogar das Hauptanliegen ist!)


Der Presse habe ich entnommen, dass es die Kanzle-
rin höchstpersönlich war, die dafür sorgen wollte, dass
ältere Arbeitsuchende, wenn es keine Vermittlungser-
folge gibt, schnell aus der Arbeitslosenstatistik ver-
schwinden. Ihr geht es offensichtlich vor allem darum,
die ungelösten Probleme auf dem Arbeitsmarkt zu ver-
schleiern, damit sie nicht mehr sichtbar sind. Die Bun-
deskanzlerin hat dabei wahrscheinlich die langen Phasen
der bevorstehenden Wahlkämpfe im Sinn. Sie will wei-
terhin als Kanzlerin der Erfolge gefeiert werden. Da ist
es natürlich nützlich, die Misserfolge unter den roten
Teppich zu kehren, auf dem sie so gerne wandelt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich komme zum zweiten Punkt des Gesetzentwurfs:
der Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosen-
geldes I für Ältere. Das hört sich zunächst sehr sozial an,
ist es aber nicht. Die Rückkehr in den ersten Arbeits-
markt wird dadurch weiter verschleppt.


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Wer sagt das denn?)

Es werden neue Anreize für eine Frühverrentungspolitik
gesetzt. Ich sage Ihnen: Wenn der wirtschaftliche Auf-
schwung nachlässt, werden die älteren Beschäftigten die
Ersten sein, die entlassen werden.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der damalige Minister Müntefering hat in der letzten
Plenardebatte gelobt, dass gerade die Älteren von der
guten Konjunktur profitiert haben. Die Beschäftigungs-
quote Älterer konnte von 39 auf 52 Prozent erhöht wer-
den; Herr Staatssekretär Brandner hat vorhin darauf hin-
gewiesen. Mit den Regelungen, die Sie jetzt treffen,
gefährden Sie diese positive Entwicklung.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie kehren zur Politik der 90er-Jahre zurück. Sie setzen
auf das Alimentieren statt auf das Qualifizieren. Sie
überweisen lieber länger, statt die Menschen zu befähi-
gen und sie zu vermitteln.

Woher nehmen die Koalitionäre das Geld, mit dem
länger ALG I gezahlt werden soll? Natürlich aus dem
Topf der Arbeitsförderung. Es handelt sich um 800 Mil-
lionen Euro. Dieses Geld wäre sehr viel besser angelegt,
wenn man es zur Qualifizierung und Förderung gerade
von Geringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen ver-
wenden würde. Ich kann Ihnen nur sagen: Gut gemeint
ist nicht gut.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Bundeskanzlerin nimmt es offensichtlich nicht
ernst, dass die Mehrheit der Bevölkerung unzufrieden
ist, weil der Aufschwung an ihr vorbeigeht. Die Gewin-
ner des Aufschwungs sind der Fiskus und die Vermögen-
den. Einige wenige erhalten Geschenke, die von der
Mehrheit bezahlt werden müssen. Die Kanzlerin baut
wohl darauf, dass die meisten bis zur nächsten Wahl ver-
gessen haben werden, wie sehr die Regierung ihnen in
die Tasche gegriffen hat. Für uns Grüne hat die Bekämp-
fung der Armut höchste Priorität. Deshalb akzeptieren
wir die Zwangsverrentung mit 63 Jahren nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Strukturelle Probleme am Arbeitsmarkt müssen sichtbar
bleiben, damit sie beseitigt werden können. Die können
Sie nicht einfach verstecken.


(Andrea Nahles [SPD]: Das ist aber eine Argumentation, die bei den Leuten gut ankommen wird!)


Wir Grüne fordern Sie auf: Kehren Sie nicht zur Früh-
verrentungstradition zurück! Bündeln Sie die finanziel-
len Mittel für Qualifizierung und Vermittlung und belas-
sen Sie den älteren Langzeitarbeitslosen ein höheres
Schonvermögen! Das ist das Gebot der Stunde.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Augen zu und drauf!)


14152 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613409100

Nächster Redner ist nun der Kollege Gregor Amann

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Gregor Amann (SPD):
Rede ID: ID1613409200

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Dr. Gysi, Sie haben einen sympathischen
Vornamen, aber trotzdem ging Ihre Rede, wie so oft,
haarscharf an den Fakten vorbei. Ich will im Folgenden
auf das Thema Zwangsverrentung eingehen. Es ist gut,
dass sich die Koalition jetzt auf eine Lösung geeinigt
hat. Das Problem ist bekannt. Durch Auslaufen der 58er-
Regelung sind ab Januar 2008 Zehntausende von älteren
Langzeitarbeitslosen von Zwangsverrentung bedroht.
Unser Sozialgesetzbuch besagt, dass ein Empfänger von
Arbeitslosengeld II vor dem Bezug des Arbeitslosengel-
des jedes andere ihm mögliche Einkommen vorrangig in
Anspruch nehmen muss, das heißt im konkreten Fall den
Bezug der Rente und dann, da vorzeitig, mit Abschlä-
gen.

Das Nachrangigkeitsprinzips des Sozialgesetzbuchs
hat grundsätzlich seine Berechtigung; denn Solidarität
hat immer zwei Seiten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die SPD will es auch nicht infrage stellen. Aber wir hal-
ten es für ungerecht und unsozial, dass Menschen, die
mit Ende 50, Anfang 60 das Pech haben, arbeitslos zu
werden und keine neue Arbeit zu finden, gezwungen
werden, vorzeitig in Rente zu gehen und dann Abschläge
von bis zu 18 Prozent hinnehmen müssen, die für ihren
gesamten Lebensabend gelten; denn die Inanspruch-
nahme einer vorzeitigen Rente unter Hinnahme von
finanziellen Einbußen war immer als ein freiwilliges An-
gebot gedacht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb gilt derzeit die sogenannte 58er-Regelung, wel-
che die Betroffenen bisher vor einer solchen Zwangsver-
rentung schützt. Aber die 58er-Regelung läuft zum Ende
dieses Jahres aus, sodass ein dringender Handlungsbe-
darf besteht. Ich freue mich darüber, dass wir uns mit
dem Koalitionspartner endlich darauf einigen konnten,
eine sinnvolle Anschlussregelung zu schaffen. Das ist
eine gute Nachricht für alle Betroffenen, und diese er-
möglicht ihnen, Weihnachten etwas unbeschwerter zu
feiern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Bevor ich auf Details der neuen Regelung eingehe,
will ich an dieser Stelle aber auch darauf hinweisen, dass
die Schaffung von Arbeitsplätzen und das Anheben der
Erwerbstätigenquote gerade auch älterer Arbeitnehmer
natürlich die Maßnahme ist, von der die Betroffenen am
meisten profitieren, da sie sich so ihr eigenes Einkom-
men und entsprechende Rentenansprüche erwerben kön-
nen. Zum Glück ist die Regierung auch hier sehr erfolg-
reich. Seit anderthalb Jahren sinkt die Zahl der
Arbeitslosen, im vergangnen Monat sank sie auf den
niedrigsten Novemberstand seit 15 Jahren. Gerade ältere
Arbeitnehmer profitieren davon. Staatssekretär Brandner
hat die Zahlen bereits genannt. Wir sind hier also auf ei-
nem guten Weg.

Aber für die, die davon noch nicht profitieren, gilt ab
dem 1. Januar 2008 die folgende Regelung: Die Arbeits-
agenturen werden verpflichtet, den Betroffenen inner-
halb von zwölf Monaten ein Arbeitsangebot zu machen;
denn wir sind fest davon überzeugt, dass Menschen um
die 60 keineswegs zum alten Eisen gehören und eine
Chance auf dem Arbeitsmarkt verdient haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Darüber hinaus stehen ihnen sämtliche Integrationsange-
bote der Arbeitsagenturen zur Verfügung. Bei mangeln-
dem Vermittlungserfolg muss ihr Fallmanager alle sechs
Monate prüfen, ob nicht doch ein Förder- oder ein Ar-
beitsgebot gemacht werden kann. Keiner wird abge-
schrieben. Sollte kein Arbeitsangebot möglich sein, dann
gelten sie, soweit sie das wünschen, als nicht mehr ar-
beitsuchend. Das heißt, sie müssen sich bei Ortsabwe-
senheit nicht mehr bei der Arbeitsagentur abmelden etc.
Erst ab dem 63. Lebensjahr können zukünftig Empfän-
ger von Arbeitslosengeld II auf die Vorrangigkeit ihrer
Rentenansprüche verwiesen werden. Was die Rentenab-
schläge angeht, ist das also eine deutliche Verbesserung
gegenüber der Zwangsverrentung ab 60, die diese Be-
troffenen hinnehmen müssten, wenn wir nach Auslaufen
der 58er-Regelung nichts unternommen hätten.

Dabei ist der Verweis auf einen vorgezogenen Ren-
tenbezug mit 63 Jahren dann nicht möglich, wenn eine
besondere Härte vorliegt. Das gilt beispielsweise für
Menschen, die als sogenannte Aufstocker zu ihrem Ar-
beitseinkommen ergänzend ALG II bekommen. Weitere
Härtefälle werden durch eine Verordnung festgelegt.

Wir haben also eine gute Regelung gefunden, die ab
dem 1. Januar 2008 gelten soll. Ärgerlich ist nur, dass
wir es nicht schaffen, diese Regelung auch vor dem
1. Januar zu verabschieden. Ich hätte mich sehr gefreut,
wenn unser Koalitionspartner etwas mehr Flexibilität ge-
zeigt hätte.


(Beifall bei der SPD)


Das Regierungskabinett hat seine Sitzung extra von
Mittwoch auf Dienstag verlegt. Wir Sozialdemokraten
wären im Interesse der Betroffenen auch zu einer Son-
dersitzung in der nächsten Woche bereit gewesen.

Stattdessen muss nun einigen Zehntausend Betroffe-
nen – genau wie bei der Verlängerung der Bezugsdauer
des Arbeitslosengeldes I – nach Beschluss dieses Geset-
zes im nächsten Jahr rückwirkend zu ihrem Recht ver-
holfen werden. Welch ein bürokratischer Aufwand, den
man hätte vermeiden können!

Ich habe der Zeitung entnommen, dass Edmund
Stoiber zukünftig in Brüssel für den Bürokratieabbau zu-
ständig ist. Vielleicht sollte er erst einmal die CDU/
CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag beraten.


(Beifall bei der SPD)


Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14153


(A) (C)



(B) (D)


Gregor Amann
Die zentrale gute Nachricht des heutigen Tages ist
und bleibt aber: Die Große Koalition hat eine sinnvolle
Anschlussregelung für die auslaufende 58er-Regelung
gefunden und bewahrt so viele Tausend ältere Arbeits-
lose vor der Zwangsverrentung im nächsten Jahr.


(Beifall bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613409300

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Heinrich Kolb für

die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1613409400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die FDP begrüßt das Auslaufen der 58er-Regelung, aber
sie lehnt eine damit einhergehende Zwangsverrentung
entschieden ab.


(Beifall bei der FDP)


Das Problem der Zwangsverrentung kam wirklich
nicht überraschend. Vielmehr gibt es seit dem Sommer
eine Debatte in der Öffentlichkeit über die Notwendig-
keit, eine Lösung dafür zu finden. Nur die Koalition hat
diese Debatte offensichtlich aus ihren Beratungen ausge-
blendet. Wenn man heute beobachtet, wie die Koali-
tionsfraktionen miteinander umgehen, erinnert das ein
bisschen an das Gebaren der Kesselflicker, die nicht
eben zärtlich miteinander verkehren.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Heute beginnt nun das Gesetzgebungsverfahren zur
Abwendung einer Zwangsverrentung. Dazu muss ich an
die Adresse der Großen Koalition gerichtet sagen: Es ist
schlicht und ergreifend zu spät. Bei den Betroffenen
wurden große Unsicherheit und Ängste ausgelöst, was
vermeidbar gewesen wäre.

Immerhin haben Sie jetzt nach langem Zögern er-
kannt, dass eine Lösung erforderlich ist. Aber, Herr
Kollege Amann, das, was Sie vorlegen, ist keine gute
Lösung. Das will ich sehr deutlich sagen. Denn Ihr Ge-
setzentwurf läuft im Kern darauf hinaus, dass nicht mehr
ab dem 60., sondern erst ab dem vollendeten 63. Lebens-
jahr eine Zwangsverrentung erfolgen soll. Vor allem
Frauen und Menschen mit Behinderungen werden damit
zwar nicht mehr so krass benachteiligt, wie das bisher
der Fall war. Aber auch bei der Zwangsverrentung ab
dem vollendeten 63. Lebensjahr bleibt es für Frauen, Be-
hinderte und langjährig Versicherte dabei, dass sich das,
was eigentlich als Privileg gedacht war, im Falle einer
Langzeitarbeitslosigkeit gegen die eigentlich Privilegier-
ten wendet.

Noch vor kurzem hat Kollege Schiewerling hier ge-
sagt, das müssten wir so machen, weil der Grundsatz der
Nachrangigkeit es so gebiete. Dabei leuchtet mir eines
nicht ein: Wenn man bei der Nachrangigkeit jetzt ein
bisschen nachgeben kann und die Grenze von 60 auf
63 Jahre verschiebt, warum sind Sie dann nicht konse-
quent und verschieben die Grenze auf das 65. Lebens-
jahr? Dann wäre der Anspruch auf Grundsicherung im
Alter sozusagen als Schnittstelle gegeben.

(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Uns stört, dass mit Ihrem Entwurf weiterhin arbeits-
marktpolitisch unerwünschte Wirkungen verbunden
sind. Für manche in der Koalition war es offensichtlich
wirklich wichtig, dass die Arbeitslosenstatistik um die
älteren Langzeitarbeitslosen bereinigt wird. Wir haben
den Verdacht, dass dann folgt: Aus den Augen, aus dem
Sinn. Das kann man in den Dienststellen der Bundes-
agentur für Arbeit nachvollziehen. Wenn die Betroffenen
nicht mehr in der Statistik auftauchen, bemüht man sich
natürlich nicht mehr so intensiv um sie.

Gerade das wollen wir nicht. Wir wollen, dass auch
Ältere – auch über 58-Jährige – noch eine echte Chance
am Arbeitsmarkt haben. Das geht nur, wenn sie weiter-
hin aktiv vermittelt und gefördert werden. Genau das
wollen Sie offensichtlich nicht.


(Beifall bei der FDP)


Die Linke hat, wie man feststellen muss, wenn man
sich die Historie anschaut, ziemlich herumgeeiert: Erst
haben Sie den Antrag gestellt, die 58er-Regelung zu ver-
längern, Herr Gysi. Dann haben Sie einen Vorschlag vor-
gelegt, der sich mehr oder weniger in Problembeschrei-
bung und einem Appell an die Koalition erschöpft hat.
Heute sind Sie wieder etwas konkreter; doch auch das ist
aus unserer Sicht nicht ausreichend. Mit Ihrem Vor-
schlag, Herr Kollege Gysi, lassen Sie den Menschen nur
die Wahl zwischen einer Frühverrentung mit engen Zu-
verdienstgrenzen und dem Bezug von Arbeitslosengeld
mit hoher Anrechnung des Zuverdienstes. Auch das
führt im Ergebnis dazu, dass ältere Arbeitnehmer vom
Arbeitsmarkt ferngehalten werden. Wir werden Ihrer
Vorlage daher nicht zustimmen, obwohl wir eine
Zwangsverrentung genauso wie Sie verhindern wollen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Die FDP-Fraktion hat schon Anfang November mit
dem Antrag „Arbeit statt Frühverrentung fördern“,
Bundestagsdrucksache 16/7003, dargelegt, wie wir uns
die Lösung vorstellen, nämlich mit einem flexiblen Ren-
teneintritt bei Wegfall aller Zuverdienstgrenzen. Es soll
keinen Zwang geben, in die Rente zu gehen, auch nicht
für Arbeitsuchende. Vielmehr sollen auch Arbeitsu-
chende im höheren Alter bei der Arbeitsuche unterstützt
werden. Das ist ein moderner Vorschlag. Ich empfehle,
unsere Vorschläge zu lesen und ihnen zuzustimmen; Sie
werden ja gleich die Möglichkeit dazu haben. Auf jeden
Fall muss das Problem der Zwangsverrentung gelöst
werden; daran kann kein Zweifel bestehen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613409500

Nächster Redner ist nun der Kollege Stefan Müller für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


14154 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Stefan Müller (CSU):
Rede ID: ID1613409600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Bundesagentur für Arbeit hat im Oktober eine ermu-
tigende Untersuchung vorgestellt. Bei dieser Untersu-
chung ging es um die Chancen, die Menschen ab 50 auf
dem Arbeitsmarkt haben. Das Ergebnis, zu dem man im
Rahmen dieser Untersuchung gekommen ist, ist erfreu-
lich und ermutigend: Zwei Drittel des Beschäftigungs-
aufwuchses, den wir in den letzten Jahren zu verzeich-
nen hatten, sind auf ehemalige Arbeitslose, also neue
Arbeitnehmer ab 50 zurückzuführen.


(Zuruf des Abg. Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE])


– Ich möchte das auch deswegen erwähnen, Herr Kol-
lege Schneider, weil wir gemeinsam dem entgegentreten
müssen, dass der Eindruck entsteht, Menschen ab 50 hät-
ten in unserer Arbeitswelt keine Chance mehr. Wir müs-
sen klar und deutlich sagen: Das Gegenteil ist richtig.
Natürlich haben Menschen ab 50 eine Chance auf dem
Arbeitsmarkt, sie werden gebraucht. Deswegen müssen
wir allen Arbeitsuchenden ab 50 Mut machen, sich auf
infrage kommende Stellen zu bewerben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie müssen sich weiter um Arbeit bemühen, sie dürfen
nicht glauben, zu alt zu sein.

Die Wirtschaft kann auf erfahrene Arbeitnehmer nicht
verzichten. Es ist doch fragwürdig, wenn einerseits der
Fachkräftemangel in unserem Land beklagt wird, aber
gleichzeitig der Eindruck erweckt wird, dass Menschen
über 50 zum alten Eisen gehörten, nicht mehr gebraucht
würden. Deswegen ist an vorderster Stelle die Wirtschaft
gefragt, sind die Unternehmen gefragt, Arbeitslosen über
50 eine Chance zu geben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Die Große Koalition hat mit der Initiative „50 plus“
einen Beitrag dazu geleistet, dass Ältere, dass erfahrene
Arbeitnehmer wieder eine Chance am Arbeitsmarkt ha-
ben, auch dadurch, dass sie besser vermittelt werden. Es
muss für uns gelten, dass niemand in Deutschland, der
Arbeit sucht, aber das gesetzliche Renteneintrittsalter
noch nicht erreicht hat, „zu alt“ für den Arbeitsmarkt ist.
Deswegen ist es wichtig, an dieser Stelle herauszustel-
len, dass es nicht isoliert um die Verlängerung der
ALG-I-Bezugsdauer geht. Es geht um viel mehr. Deswe-
gen gibt es neben der Verlängerung der ALG-I-Bezugs-
dauer einen Eingliederungsgutschein, der gekoppelt ist
an ein konkretes Arbeitsangebot, mit dem Auftrag, sich
um die Einlösung des Gutscheins selbst zu bemühen.

Ein Weiteres. Es geht bei der Verlängerung der
ALG-I-Bezugsdauer nicht darum, dass Ältere zu Hause
bleiben sollten, dass sie sich von sich aus nicht mehr um
Arbeit bemühen sollten. Es geht auch nicht darum, die
Überschüsse der Bundesagentur leichtfertig zu verteilen;
dieser Vorwurf ist uns ja gemacht worden. Es geht bei
der Verlängerung der Dauer des Bezugs von
Arbeitslosengeld I schlicht und ergreifend um Leistungs-
gerechtigkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist nicht erklärbar, warum jemand, der 20 Monate
lang Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entrichtet
hat, jemandem gleichgestellt wird, der 20 Jahre in die
Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat. Deswegen sage
ich: Es geht hier um Leistungsgerechtigkeit, damit lang-
jährige Beitragszahler den anderen nicht gleichgestellt
werden.


(Ute Kumpf [SPD]: Es geht um ein Stück weit Solidarität, Herr Kollege!)


Das betrifft natürlich vor allem Arbeitslose über
50 Jahre, die vor ihrer Arbeitslosigkeit vielfach lange
Jahre gearbeitet und Beiträge gezahlt haben. Genau die-
sem Umstand tragen wir mit dem heute vorliegenden
Gesetzentwurf Rechnung. Es ist deswegen auch gerecht-
fertigt, dass wir diese Maßnahme vornehmen.

Ich will dazu auch sagen, dass wir das nicht einfach
nur auf Kosten der Beitragzahler finanzieren. Ich will
nur daran erinnern: Zum gleichen Zeitpunkt, an dem die
Verlängerung der ALG-I-Bezugsdauer rückwirkend zum
1. Januar 2008 in Kraft tritt, werden auch die Beiträge
zur Arbeitslosenversicherung ein weiteres Mal abge-
senkt, sodass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in diesem Lande noch einmal entlastet werden. Auch das
ist ein großer Erfolg und muss im Zusammenhang gese-
hen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich sage noch einmal: Es geht um Leistungsgerechtig-
keit und um die Frage, wie wir Lebensleistungen ent-
sprechend honorieren können. Deswegen ist diese Ver-
längerung der ALG-I-Bezugsdauer eben kein Almosen,
sondern es geht hier um unsere soziale Verantwortung
denen gegenüber, die lange Jahre Beiträge in die Ar-
beitslosenversicherung eingezahlt haben.

Deshalb gibt es einen Prüfauftrag. Ich finde, die ein-
zig richtige Bemessungsgrundlage dafür, wer künftig
längere Bezugszeiten in Anspruch nehmen kann, ist
nicht das Alter, sondern muss die Dauer sein, über die
Beiträge eingezahlt wurden. Wir werden prüfen, ob die
Bundesagentur für Arbeit in der Lage ist, Beitragskonten
einzuführen, um genau dem Rechnung zu tragen, sodass
die Zahl der Beitragsjahre als künftige Bemessungs-
grundlage herangezogen werden kann.

Die Kollegen von der FDP machen hier ja ständig
ordnungspolitische Bedenken geltend.


(Jörg Rohde [FDP]: Mit Recht!)


– Man kann ja dieser Auffassung sein, ich teile sie aber
nicht. Selbst dann, wenn es ordnungspolitisch bedenk-
lich wäre: Ich halte es für sozialpolitisch gerechtfertigt.
Genau deswegen werden wir das im Januar auch be-
schließen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das ist zu befürchten!)


Das Ziel ist ja nicht einfach nur, die Menschen länger
in der Arbeitslosigkeit zu belassen, sondern das Ziel ist,

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14155


(A) (C)



(B) (D)


Stefan Müller (Erlangen)

dass möglichst viele auch möglichst schnell wieder in
Beschäftigung kommen. Dazu sind alle Anstrengungen
erforderlich. Die Erwartung an die Bundesagentur für
Arbeit ist selbstverständlich, dass sie sich trotz verlän-
gerter ALG-I-Bezugsdauer ab dem ersten Tage auch da-
rum bemüht, dass ein neuer Arbeitsloser tatsächlich
schnell wieder eine Beschäftigung erhält.

Ich begrüße deshalb das, was das Vorstandmitglied
der Bundesagentur für Arbeit Heinrich Alt heute in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung gesagt hat:

Egal, wie lange ein Leistungsanspruch besteht: Wir
haben vom ersten Tag an einen klaren Vermitt-
lungsauftrag, und dem gehen wir nach.

Er hat recht und wird dort auch unsere Unterstützung ha-
ben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend noch
ein Wort zu dem Verfahren. Ich muss mich schon wun-
dern, dass von den Oppositionsfraktionen jetzt beklagt
wird, wir hätten das alles noch in diesem Jahr durchzie-
hen und in dieser Woche beschließen müssen.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Da hätten wir sie mal hören wollen!)


Was für einen Tanz hätten Sie alle hier veranstaltet,
wenn wir das in einem Schnellverfahren innerhalb von
einer Woche gemacht hätten? Das sollten Sie sich einmal
überlegen. Es ist unredlich, wie Sie sich hier in diesem
Zusammenhang aufführen.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613409700

Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Krüger-

Leißner für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Rede ID: ID1613409800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich denke, wir können uns freuen, dass wir heute die
erste Lesung eines Gesetzentwurfes haben, für den Kurt
Beck mit seinem Antrag „Reformen für ein soziales
Deutschland“ auf unserem Parteitag den Grundstein ge-
legt hat. Ich sage das ganz bewusst, weil ich der Legen-
denbildung von Herrn Brauksiepe ein wenig entgegen-
treten will. Zum Glück ist der Vorschlag von Herrn
Rüttgers nicht die Grundlage für unseren Antrag.


(Beifall bei der SPD)


Ich danke ganz besonders Franz Müntefering und
Peter Struck, aber auch Olaf Scholz, die dieses Vorha-
ben, das ja eigentlich erst vor sieben Wochen beschlos-
sen wurde, hier so schnell umgesetzt haben.

Ja, wir sind uns in der Sache einig geworden. Das
finde ich auch gut so. Leider gilt das nicht für das Ver-
fahren. Das ist sehr schlecht. Dazu sage ich später aber
noch etwas mehr.
Zunächst die guten Nachrichten: Erstens. Ältere Men-
schen werden künftig länger Arbeitslosengeld I bezie-
hen. Zweitens. Niemand wird dadurch schlechter gestellt
werden – schon gar nicht die Jüngeren. Herr Brauksiepe,
das war uns ganz besonders wichtig.


(Beifall der Abg. Andrea Nahles [SPD])


Wir haben gemeinsam einen konstruktiven Kompro-
miss gefunden und eine längere Bezugsdauer verabredet:
15 Monate für die über 50-Jährigen, 18 Monate für die
über 55-Jährigen und 24 Monate für die über 58-Jäh-
rigen.

Ich finde, dass es eine gute Lösung ist, auch weil wir
sie mit zusätzlichen Anstrengungen bei der Aktivierung
älterer Arbeitnehmer gekoppelt haben. Es wird den Ein-
gliederungsgutschein geben, der entweder an ein kon-
kretes Arbeitsangebot oder an einen Auftrag, diesen bei
Dritten einzulösen, gebunden ist. Dazu kommen die Pro-
gramme, die wir für Ältere haben. Diese werden wir
fortsetzen: die Initiative „50 plus“, die Jobperspektive
und den Kommunal-Kombi. Sie werden helfen, das Ziel
zu erreichen, ältere Menschen wieder in Arbeit zu brin-
gen und nicht bloß länger Sozialleistungen zu zahlen.

Für mich haben diese Entscheidungen zwei wichtige
Gründe.

Erstens schauen wir gemeinsam auf Reformjahre zu-
rück, die die Weichen gestellt haben, die Arbeitslosigkeit
in Deutschland abzubauen, und die letztendlich den wirt-
schaftlichen Aufschwung ermöglicht haben. Der Sach-
verständigenrat schreibt in seinem aktuellen Gutachten:

Die Politik hat mit zum Teil sehr weitreichenden
Reformen auf den Feldern der Besteuerung, des Ar-
beitsmarkts und der Sozialen Sicherung zum wirt-
schaftlichen Comeback Deutschlands beitragen, …

Das geht auf die Reformagenda 2010 zurück.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir sind vom einst kranken Mann Europas zu einem
starken Mann Europas geworden. Das können wir an
den Arbeitsmarktzahlen, die sich wesentlich verbessert
haben und auf die wir stolz sein können, sehr deutlich
ablesen. Wir haben seit 15 Jahren den niedrigsten Stand
der Arbeitslosigkeit; gegenüber 2005 sind es 1,15 Mil-
lionen Arbeitslose weniger.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Auch die Beschäftigungsquote der Älteren hat sich we-
sentlich verbessert: von 37,7 Prozent in 1998 auf heute
52 Prozent. Das ist uns aber nicht genug. Wir wollen,
dass mehr Menschen in Arbeit kommen, dass sich auch
für Ältere mehr Chancen eröffnen und weniger in die
Frühverrentung gehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zum zweiten Grund, warum diese Entscheidung so
wichtig ist. Einige Entwicklungen waren für uns nicht
ganz überschaubar. Wir haben erkannt, dass wir sie ver-
ändern müssen. Darüber sind wir uns einig geworden, so

14156 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(D)


Angelika Krüger-Leißner
zum Beispiel bei der Regelung für ältere Arbeitnehmer.
Wir haben gesehen, dass es trotz aller wirtschaftlichen
Erfolge immer noch für einen über 50-Jährigen sehr
schwer ist, innerhalb eines Jahres einen Arbeitsplatz zu
finden. Auch unsere Erwartungen, dass Ältere durch
Weiterbildung und Qualifizierung länger im Unterneh-
men bleiben können, haben sich noch nicht erfüllt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Für diese Menschen, die nach einem schon langen Ar-
beitsleben weiß Gott nicht in der Hängematte liegen
wollen, brauchen wir mehr Gerechtigkeit und mehr so-
ziale Sicherheit. Wir brauchen längere und verlässliche
Übergänge. Schließlich sind die Hartz-Reformen „keine
in Stein gemeißelten Gesetzestafeln“, wie eine große
Berliner Tageszeitung ganz richtig schrieb. Rasante ge-
sellschaftliche Entwicklungen zwingen Politiker, Dinge
immer wieder neu zu durchdenken und zu prüfen, ob die
gewünschten Entwicklungseffekte eingetreten sind;
wenn sie nicht eingetreten sind, müssen Veränderungen
herbeigeführt werden.

So wie wir denken 80 Prozent der Menschen in
Deutschland. Die Verlängerung der Bezugsdauer des
Arbeitslosengeldes I ist ein klares politisches Signal.
Leider gelingt uns diese Klarheit bei der Umsetzung
nicht. Wenn es nach uns gegangen wäre, hätten wir das
Vorhaben schon in dieser Woche abschließen können.
Wir wären auch zu einer Sondersitzung bereit gewesen.
Leider hat die Union da nicht mitgezogen. Wir sind für
dieses Kuddelmuddel also nicht verantwortlich.

Ich begrüße außerordentlich, dass unser Arbeitsminis-
ter Olaf Scholz nun alle Anstrengungen unternimmt, um
hierbei zu einer praktikablen Handhabung zu kommen.
Lieber Olaf, es muss uns gelingen, dass am 1. Januar
kein Chaos ausbricht.

Wir werden im Januar weiter beraten. Unser Ziel ist,
dass das Gesetz rückwirkend zum 1. Januar in Kraft tre-
ten kann. Ich hoffe, dass wir gemeinsam den 30 000 bis
40 000 betroffenen Bürgern die Gewissheit geben kön-
nen, dass wir uns Anfang des nächsten Jahres dafür ein-
setzen werden. Ich denke, dann können wir ruhigen Ge-
wissens in die Weihnachtspause gehen.

Danke.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Gitta Connemann [CDU/CSU])



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613409900

Ich bitte noch um ein bisschen Aufmerksamkeit für

den letzten Redner in dieser Debatte, den Kollegen
Gerald Weiß von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU):
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehr-

ten Damen und Herren! Ich will in dieser Vorbrandung
der namentlichen Abstimmung ein kurzes Resümee ver-
suchen und stelle für die Union fest: Die Große Koali-
tion korrigiert, was korrekturbedürftig ist – das haben
die CDU/CSU seit Jahr und Tag und die SPD seit ihrem
Hamburger Parteitag vor einigen Wochen gefordert, und
es ist von 82 Prozent der deutschen Bevölkerung
gewollt, weil sie es für gerechter halten –: Die Arbeit-
nehmer, die viele Jahrzehnte lang gearbeitet und Sozial-
versicherungsbeiträge gezahlt haben, werden beim Ar-
beitslosengeld besser gestellt als solche, die nur wenige
Wochen gearbeitet haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist gerechter bzw. – der Kollege Müller hat recht –
leistungsgerechter als bisher. Wesentlich Ungleiches
muss ungleich behandelt werden. Gleichbehandlung
wäre hier ungerecht. Je länger die Beitragszahlung, desto
länger der Leistungsempfang: Dies empfinden die Men-
schen als leistungsgerecht. Dem tragen wir heute Rech-
nung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Arbeitslosenversicherung ist zwar in erster Linie,
aber nicht nur eine Risikoversicherung. Wenn sie eine
reine Risikoversicherung wäre, dann müsste sie Leistun-
gen ab dem ersten Beitragstag gewähren. Das ist aus
wohlerwogenen Gründen nicht der Fall. Wenn bei länge-
rer Beitragszahlung und höherem Lebensalter länger
Leistungen gewährt werden, dann trägt das dem Um-
stand Rechnung, dass ältere Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer – auch wenn sich die Lage am Arbeitsmarkt
erfreulich gebessert hat, die Volkswirtschaft floriert und
wir mitten im Aufschwung sind – in aller Regel länger
nach einer neuen Stelle suchen müssen, wenn sie ihre
Stelle verloren haben. Insoweit ist das auch in diesem
Sinne gerecht. Wir wirken damit der Unsicherheit und
der Angst entgegen. Beides ist Gift für den volkswirt-
schaftlichen Aufschwung.

Wir investieren in die Sicherheit und den Auf-
schwung, wenn wir an diesem strategischen Freitag die
Entscheidungen auf den beiden Feldern so treffen, wie
wir es in der Koalition vereinbart haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Frau Schewe-Gerigk, wir kehren nicht zu der Über-
steuerung und den Fehlanreizen zurück. Die alte Früh-
verrentungspraxis ist und bleibt passé.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie als Fachfrau wissen das besser, Frau Schewe-Gerigk.
Sie ist schon deshalb passé, weil wir das Renteneintritts-
alter bei Arbeitslosen stufenweise auf das 63. Lebensjahr
anheben. Damit ist ein wesentlicher Frühverrentungs-
anreiz passé und damit auch die alte Praxis.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613410000

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Volker Schneider?


(Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: Nein!)


Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU):
Ich höre deutlich, dass dies nicht gewünscht wird.

Dann fahre ich lieber fort.

(B)


Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14157


(A) (C)



(B) (D)


Gerald Weiß (Groß-Gerau)


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Eine höhere Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer ist und bleibt – die Kollegin-
nen und Kollegen der Koalition haben es bereits ausge-
führt – das zentrale Ziel. Auf diesem Weg sind wir als
Koalition schon ein ganzes Stück vorangekommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auch der zweite Teil des Entscheidungspaketes, näm-
lich der Kompromiss bei der sogenannten 58er-Rege-
lung, hat, finde ich, zu einer guten Lösung geführt. Na-
türlich war es eine Gratwanderung. Es geht ja um eine
Entscheidung in einem magischen Fünfeck: Solidarität,
Subsidiarität, Nachrangigkeit der Bedürftigkeitsleistung
ALG II, Vertrauensschutz, Eigenverantwortung. Ich meine,
dass wir mit der Entscheidung, erst ab dem 63. Lebens-
jahr – das ist ja der Kern der Entscheidung – auf die Vor-
rangigkeit der Rentenansprüche zu verweisen, eine wei-
terführende Entscheidung in der Mitte des Problems
getroffen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dies wird auch dem Vertrauensschutz gerecht. Auch hier
ist das zentrale Anliegen und das vorrangige Ziel die
Eingliederung der Lebensälteren. Das ist überhaupt das
Vorrangigste vor allen subsidiären Leistungen, die wir
anbieten können: die Hilfe beim Brückenbau für die Ver-
mittlung in Arbeit. Diese Hilfe muss auch die Lebens-
älteren erreichen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In diesem Sinne ist dieser strategische Freitag der So-
zialpolitik ein glücklicher Tag. Ich finde, wir haben gute
Entscheidungen vorbereitet und getroffen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613410100

Bevor wir zu den Abstimmungen kommen, erteile ich

das Wort zu einer Kurzintervention dem Kollegen
Schneider.


(Unruhe)



Volker Schneider (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613410200

Da müssen Sie jetzt durch; denn schließlich sollten

Sie die Beschlüsse, die Sie fassen, wenigstens korrekt
darstellen. Eine Zwischenfrage durfte ich ja nicht stellen.
Sie haben zum Schluss gesagt, dass Ihre abgewandelte
58er-Regelung ein Beitrag zur Integration sei. Das ver-
schlägt mir schier die Sprache. Ich möchte Ihnen einmal
vorlesen, was Sie hier beschlossen haben, nur damit das
klar ist:

Erwerbsfähige Hilfebedürftige, die nach Voll-
endung des 58. Lebensjahres mindestens für die
Dauer von zwölf Monaten Leistungen der Grund-
sicherung für Arbeitsuchende bezogen haben, ohne
dass ihnen eine sozialversicherungspflichtige Be-
schäftigung angeboten worden ist, gelten nach Ab-
lauf dieses Zeitraums für die Dauer des jeweiligen
Leistungsbezugs nicht als arbeitslos.

Das ist wirklich der Gipfel dessen, was man beschlie-
ßen kann; denn Sie nehmen den Leuten die positiven
Seiten, die sie vorher von der 58er-Regelung gehabt ha-
ben, erklären sie aber trotzdem als nicht arbeitslos, damit
Sie sie wenigstens aus der Statistik heraushaben. Das ist
Ihre Form der Integrationsbemühungen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1613410300

Herr Kollege Weiß, bitte.

Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU):
Herr Schneider, ich habe die hoffentlich begründete

Hoffnung, dass auch Sie es noch verstehen. Das vorran-
gige Ziel der Koalition ist die Integration der Lebensälte-
ren in Arbeit. Dem muss jede Initiative und jede An-
strengung gelten. Wenn das nicht gelingt, dann helfen
wir mit Transferleistungen. Wenn ein Versicherungsan-
spruch mit vertretbaren Abschlägen ab dem 63. Lebens-
jahr besteht, dann verweisen wir darauf, den Lebens-
unterhalt eigenverantwortlich zu bestreiten. Ich halte das
für einen vernünftigen Kompromiss in einem Mix der
Sozialpolitik und in großer Verantwortung für die Men-
schen. Ich hoffe, Sie verstehen es noch.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613410400

Ich schließe die Aussprache.

Im Rahmen des Tagesordnungspunktes 32 a sowie der
Zusatzpunkte 9 und 10 wird interfraktionell Überweisung
der Vorlagen auf den Drucksachen 16/7460, 16/7459 und
16/7003 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Druck-
sache 16/7003 zu Zusatzpunkt 10 soll jedoch nicht an
den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung überwiesen werden. Sind Sie damit einver-
standen? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisun-
gen so beschlossen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesord-
nungspunkt 32 b und damit zur Abstimmung über die
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und
Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Rentenabschläge für Langzeiterwerbslose verhin-
dern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 16/7200, den Antrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 16/6933 abzulehnen. Die
Fraktion Die Linke verlangt namentliche Abstimmung.

Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre
Plätze einzunehmen. Sind die Plätze an den Urnen be-
setzt? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann eröffne ich die
Abstimmung.

Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? – Es sieht so aus, als
hätten alle ihre Stimme abgegeben. Dann schließe ich
die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das

14158 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen spä-
ter bekannt gegeben.

Wir setzen die Beratungen über die weiteren Tages-
ordnungspunkte fort.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 c sowie
den Zusatzpunkt 11 auf:

33 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur struktu-
rellen Weiterentwicklung der Pflegeversiche-
rung (Pflege-Weiterentwicklungsgesetz)


– Drucksachen 16/7439, 16/7486 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Elisabeth Scharfenberg, Nicole Maisch, Birgitt
Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Finanzielle Nachhaltigkeit und Stärkung der
Verbraucher – Für eine konsequent nutzer-
orientierte Pflegeversicherung

– Drucksache 16/7136 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Für eine humane und solidarische Pflegeab-
sicherung

– Drucksache 16/7472 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Lanfermann, Daniel Bahr (Münster), Dr. Konrad
Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP

Für eine zukunftsfest und generationengerecht
finanzierte, die Selbstbestimmung stärkende,
transparente und unbürokratische Pflege

– Drucksache 16/7491 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so ver-
fahren.

Ich bitte, die Gespräche, die geführt werden, außer-
halb des Saales fortzusetzen, damit wir den Ausführun-
gen der Redner folgen können. – Ich bedanke mich.

Ich erteile Frau Bundesministerin Ulla Schmidt als
erster Rednerin das Wort für die Bundesregierung.


(Beifall bei der SPD)



Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1613410500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Pflege braucht Vertrauen, gute Leistung, gute Qualität,
Verstehen und Zuwendung. Menschen auf der Suche
nach Betreuung und Pflege für ihre Angehörigen benöti-
gen vielfältige Unterstützung. Das Gesetz zur strukturel-
len Weiterentwicklung der Pflegeversicherung, welches
die Bundesregierung Ihnen heute vorlegt, bietet viele zu-
sätzliche Hilfen und einen leichteren Zugang. Besonders
wichtig ist mir, dass die häusliche Pflege durch mehr
Pflegegeld und höhere ambulante Sachleistungen ge-
stärkt wird, damit mehr pflegebedürftige Menschen ih-
ren Wunsch erfüllen können, daheim – in ihrer vertrau-
ten Umgebung, wo sie am liebsten sind – von
Angehörigen gepflegt zu werden.

Wir sorgen mit diesem Gesetz für dringend notwen-
dige Verbesserungen für demenziell Erkrankte, geistig
Behinderte und psychisch Kranke. Sie sollen zukünftig
bis zu 2 400 Euro an Zuschüssen erhalten. Das gilt auch
für Menschen, die noch nicht pflegebedürftig sind, aber
ein zusätzliches Maß an Betreuung benötigen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir sorgen für mehr Transparenz bei der Qualität der
Pflege. Künftig müssen alle Prüfberichte in allgemein
verständlicher Form veröffentlicht werden. Die Men-
schen müssen sich darüber informieren können, wo gute
und sehr gute Heime und ambulante Dienste zu finden
sind und wo es weniger gute Heime und ambulante
Dienste gibt, die man am besten meidet. Schon allein das
wird helfen, die immer noch verbreiteten Missstände in
der stationären, aber auch in der ambulanten Pflege zu
verringern. Ich glaube, dass Öffentlichkeit und Transpa-
renz das beste Mittel sind, um wirklich in einen Wettbe-
werb um gute Qualität einsteigen zu können. Die Men-
schen müssen das Wahlrecht haben; sie sollen aufgrund
guter Kriterien selber entscheiden.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Nach diesem Gesetzentwurf haben Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer den Anspruch, für sechs Monate
aus ihrem Beruf auszusteigen, um einen Angehörigen
selbst zu pflegen oder um seine Pflege zu organisieren.
Die Rückkehr zu ihrem Arbeitsplatz bleibt garantiert,
ebenso die volle soziale Absicherung in dieser Zeit.

Wir alle wissen, dass Pflegefälle manchmal unerwar-
tet und akut auftreten können. Menschen benötigen dann

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14159


(A) (C)



(B) (D)


Bundesministerin Ulla Schmidt
sehr kurzfristig einen Freiraum, um sich beraten zu las-
sen, das Notwendige zu organisieren oder sich zu infor-
mieren: Kann ich zu Hause pflegen oder muss ich eine
stationäre Pflege in Anspruch nehmen? Unser Gesetz-
entwurf sieht vor, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer beim Eintreten eines Pflegefalls in einer beson-
deren Notsituation für zehn Tage von der Arbeit
freigestellt werden können, damit sie die notwendige
Zeit haben, zu organisieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich würde mich freuen, wenn wir mit der Sorge von
Menschen um ihre pflegebedürftigen Angehörigen ge-
nauso umgingen, wie wir es mit der Sorge von Eltern um
ihre erkrankten Kinder tun: Die Eltern erkrankter Kinder
haben den Anspruch, zehn Tage lang Krankengeld zu
beziehen.


(Beifall bei der SPD)


Leider gibt es für eine Gleichbehandlung dieser beiden
Notsituationen derzeit noch keine Mehrheit; aber der
erste Schritt ist getan.

Viele Angehörige beklagen, dass weniger die eigentli-
che Pflege als vielmehr die Vorbereitung und die Organi-
sation rund um die Pflege die größten Belastungen dar-
stellen. Angehörige laufen von Pontius zu Pilatus. Sie
gehen wie mit einem Laufzettel in der Hand von Amt zu
Amt, zu vielen Einrichtungen und zum Arzt, um Pflege
zu organisieren. Was liegt da eigentlich näher, als einen
zentralen Ansprechpartner zu schaffen?


(Beifall bei der SPD)


Dafür hat die Bundesregierung in ihrem Konzept Pflege-
stützpunkte mit Pflegeberatern vorgesehen, die nicht nur
beraten, sondern das gesamte Leistungsgeschehen für
die Pflegebedürftigen koordinieren und über die Leistun-
gen der Kranken- und Pflegeversicherung entscheiden
können. Dadurch wird mehr Hilfe organisiert. Dies ist
ein Angebot, auf das ein Rechtsanspruch besteht. Ein
Pflegebedürftiger und seine Angehörigen können es in
Anspruch nehmen. Wer das nicht will, muss es nicht. Es
gibt hier keinen Zwang.


(Beifall bei der SPD)


Die Pflegestützpunkte sollen quartiersnah sein, und
sie sollen als Marke für die gesamte Pflege etabliert wer-
den. An einem Ort zusammengefasst soll angeboten
werden: Beratung und Entscheidung bezüglich Pflege-
fragen, Leistungen der Altenhilfe, der Behindertenhilfe
und der Grundsicherung, Einbindung des Ehrenamts und
Informationen über alle Angebote rund um die Pflege.

So etwas gibt es schon heute. In Berlin bestehen ge-
riatrische Koordinationsstellen, in Rheinland-Pfalz gibt
es Beratungs- und Koordinierungsstellen, in Baden-
Württemberg Informations-, Anlauf- und Vermittlungs-
stellen. Ob jemand wohnortnah ein Angebot hat, darf
aber nicht davon abhängen, wo er wohnt. Wenn wir die
Pflege weiterentwickeln, muss unsere Aufgabe sein, da-
für zu sorgen: Egal wo jemand wohnt, er muss wohnort-
nah, im Quartier, eine solche Anlaufstelle haben. Den
Menschen, die Pflege organisieren, müssen wir die Ar-
beit erleichtern; die Pflege an sich ist schwer genug.


(Beifall bei der SPD)


Ich bin sehr froh darüber, dass alle diese guten An-
sätze auch vom Bundesrat so gesehen werden. Diese An-
sätze zu Anlaufstellen im Quartier, zu Pflegestützpunk-
ten weiterzuentwickeln und dafür zu sorgen, dass
Leistungen unter einem Dach und aus einer Hand ange-
boten werden, ist ein wichtiger Schritt voran.

Ich bin sicher, dass wir mit der Einbeziehung der
Kommunen hier endlich etwas schaffen, was das Leben
derer, die pflegen, erleichtert. Wir werden dafür sorgen,
dass alle an einem Strang ziehen, dass Vorhandenes ge-
nutzt wird und dass Doppelstrukturen vermieden wer-
den.


(Beifall bei der SPD)


Erstmals in der Geschichte der Pflegeversicherung
werden die Leistungen in drei Schritten angehoben. Ab
2015 werden die Leistungen in regelmäßigen Abständen
an die Preisentwicklung angepasst, um eine Entwertung
der Beträge zu vermeiden.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Nur wenn es passt!)


Aber ich sage hier ganz deutlich: Mehr noch als bisher
brauchen wir eine breite gesellschaftliche Debatte da-
rüber, was uns die Pflege eigentlich wert ist. Notwendig
ist ein Konsens darüber, wie wir sie organisieren und fi-
nanzieren.

Für das, was wir jetzt auf den Weg bringen, werden
wir – darüber sind wir uns einig – den Beitragssatz zur
Pflegeversicherung um 0,25 Prozentpunkte anheben.
Wir wissen, dass dies nur bis 2014/15 ausreicht und dass
wir in der nächsten Legislaturperiode erneut über die
Frage der langfristigen Finanzierung diskutieren müs-
sen. Jetzt ist es wichtig, das vorliegende Gesetz auf den
Weg zu bringen. Wir brauchen die Strukturveränderun-
gen.

Ich will an dieser Stelle abschließend sagen: Wir soll-
ten vorsichtig sein. Es gibt keinen Anlass, den Katastro-
phenprognosen mancher interessengeleiteter Professoren
zu glauben,


(Dr. Carola Reimann [SPD]: Wohl wahr!)


die immer wieder neue Zahlen – auch absurde Zahlen –
in die Welt setzen.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Meinen Sie jetzt Herrn Lauterbach oder wen? – Heinz Lanfermann [FDP]: Herr Lauterbach! – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sie meint Herrn Lauterbach!)


In ihrem jüngsten Gutachten rechnen die Wirtschafts-
weisen auf der Basis unserer heutigen Reform für das
Jahr 2050 mit einem Beitragssatz von 2,5 bis 3,2 Pro-
zent. Ehe hier nun einige voreilig kritisieren, frage ich:
Wäre das in einer Gesellschaft mit immer mehr Hochbe-
tagten, in der viele Menschen über 80 Jahre alt sind, zu

14160 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Bundesministerin Ulla Schmidt

Georg Brunnhuber Bartholomäus Kalb Thomas Rachel
Ingo Wellenreuther
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer (Lübeck)

Ilse Falk
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)

Dr. Maria Flachsbarth

Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Eckart von Klaeden
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Kristina Köhler (Wiesbaden)

Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Katherina Reiche (Potsdam)

Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Kurt J. Rossmanith
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht (Weiden)

Peter Rzepka
Anita Schäfer (Saalstadt)

Hermann-Josef Scharf

Elisabeth Winkelmeier-
Becker

Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

SPD

Dr. Lale Akgün
Gregor Amann
Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Cajus Caesar Hans-Werner Kammer Hans Raidel
Karl-Georg Wellmann
Annette Widmann-Mauz
viel und unerschwinglich? –
zu debattieren.

Vielen Dank für Ihre Aufm


(Beifall bei der SPD so der CDU Vizepräsidentin Gerda H Bevor ich nun dem nächs komme ich zurück zum Tag Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 521; davon ja: 428 nein: 93 enthalten: 0 Ja CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Albach Peter Altmaier Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Otto Bernhardt Clemens Binninger Renate Blank Peter Bleser Antje Blumenthal Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen Wolfgang Bosbach Klaus Brähmig Michael Brand Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Monika Brüning Wir haben Zeit und Ruhe, erksamkeit. wie bei Abgeordneten /CSU)


(Reutlingen)


(Bönstrup)


asselfeldt:
ten Redner das Wort gebe,
esordnungspunkt 32 b und

Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Jürgen Gehb
Eberhard Gienger
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu

Guttenberg
Holger Haibach
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Dr. Franz Josef Jung
gebe Ihnen das von den Sch
führern ermittelte Ergebnis d
mung über die Beschlussem
für Arbeit und Soziales zu de
Linke mit dem Titel „Rent
erwerbslose verhindern“ be
men 521. Mit Ja haben gest
gestimmt 93, Enthaltungen
schlussempfehlung angenom

Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer (Altötting)

Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Laurenz Meyer (Hamm)

Maria Michalk
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Carsten Müller


(Braunschweig)

Stefan Müller (Erlangen)

Bernward Müller (Gera)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Daniela Raab
riftführerinnen und Schrift-
er namentlichen Abstim-
pfehlung des Ausschusses
m Antrag der Fraktion Die
enabschläge für Langzeit-
kannt: Abgegebene Stim-
immt 428, mit Nein haben
keine. Damit ist die Be-

men.

Hartmut Schauerte
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Andreas Schmidt (Mülheim)

Ingo Schmitt (Berlin)

Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Marion Seib
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Thomas Strobl (Heilbronn)

Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß (Emmendingen)

Gerald Weiß (Groß-Gerau)


Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14161


(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Rainer Arnold
Ernst Bahr (Neuruppin)

Doris Barnett
Klaus Barthel
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding (Heidelberg)

Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Willi Brase
Bernhard Brinkmann


(Hildesheim)

Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Marion Caspers-Merk
Dr. Peter Danckert
Dr. Herta Däubler-Gmelin
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Petra Ernstberger
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Peter Friedrich
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Renate Gradistanac
Angelika Graf (Rosenheim)

Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Nina Hauer
Hubertus Heil
Dr. Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Petra Hinz (Essen)

Gerd Höfer
Iris Hoffmann (Wismar)

Frank Hofmann (Volkach)

Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Johannes Jung (Karlsruhe)

Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Angelika Krüger-Leißner
Jürgen Kucharczyk
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel (Berlin)

Ulrike Merten
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller (Chemnitz)

Michael Müller (Düsseldorf)

Gesine Multhaupt
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Heinz Paula
Johannes Pflug
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Steffen Reiche (Cottbus)

Maik Reichel
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel Riemann-

Hanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Michael Roth (Heringen)

Ortwin Runde
Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Dr. Hermann Scheer
Marianne Schieder
Otto Schily
Dr. Frank Schmidt
Ulla Schmidt (Aachen)

Silvia Schmidt (Eisleben)

Renate Schmidt (Nürnberg)

Heinz Schmitt (Landau)

Carsten Schneider (Erfurt)

Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
Reinhard Schultz


(Everswinkel)

Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Dieter Steinecke
Andreas Steppuhn
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen


(Wiesloch)

Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

FDP

Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Christian Ahrendt
Daniel Bahr (Münster)

Uwe Barth
Angelika Brunkhorst
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich (Bayreuth)

Joachim Günther (Plauen)

Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg Rohde
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Rainer Stinner
Florian Toncar
Christoph Waitz
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

Martin Zeil

Nein

DIE LINKE

Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Lutz Heilmann
Hans-Kurt Hill
Cornelia Hirsch
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen

14162 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt

(Beifall bei Die Ministerin hat, wie Si der einmal alle Fakten ignor dem Tisch. Wir wissen, wie v sehr die Zahl der Pflegebedü der Beitragszahler sinken wir nau berechnen. (Daniel Bahr [Münster] ben wir ja auch nicht m Frau Schmidt!)


Dies gilt nicht nur für Prof
niemanden, der anders rechne
die SPD in ihrem Gefolge.


(Elke Ferner [SPD]: Da Gucken Sie doch mal in gutachten!)

der FDP)

e gerade gehört haben, wie-
iert. Alle Zahlen liegen auf
iele Menschen es gibt, wie

rftigen steigen und die Zahl
d. Wir können das alles ge-

[FDP]: Deswegen ha-
ehr so viel Zeit wie

essoren. Es gibt eigentlich
t – außer Frau Schmidt und

s stimmt doch nicht!
die Sachverständigen-
funkinterview – die Bezahlu
laubstage. Die Bezahlung so
Hälfte durch die Kassen und
Modell durch den Arbeitgebe
telstand erfolgen.

Nun komme ich auf das H
Ministerin, zu sprechen. Mit
Worten erklären Sie, dass ma
Pilatus laufen muss, sondern
4 000 Stellen, die Sie etwas
bezeichnen. Diese über 4 000
Kosten von mindestens über 8
chen, von denen Sie aber nu
stellen wollen. Den Rest dür
Dieser Gesetzentwurf ist, wi
ihn sich anschaut, wirklich e
eigentlich unzumutbarer Ges


(Beifall bei der FDP – Lehrstück ng der geplanten zehn Urll – damit das klar ist – zur zur Hälfte nach bewährtem r und damit durch den Mit erzstück Ihrer Reform, Frau warmen und gefühlvollen n nicht mehr von Pontius zu nur zu einem jener über martialisch als Stützpunkte Pflegestützpunkte werden 00 Millionen Euro verursar 10 Prozent zur Verfügung fen dann andere bezahlen. e man feststellt, wenn man in Lehrstück an schlechter, etzgebungsarbeit. Martin Zeil [FDP]: ohne h!)

Rot in der wichtigen Finanzierungsfrage gescheitert. schluss und fordert – so heute Morgen in einem Rund-
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Oskar Lafontaine
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Petra Pau
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Paul Schäfer (Köln)

Volker Schneider


(Saarbrücken)

Dr. Herbert Schui

Dr. Ilja Seifert
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Jörn Wunderlich

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Birgitt Bender
Grietje Bettin
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid

Nun können wir die Debatte fortsetzen. Als nächstem
Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Heinz
Lanfermann für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Heinz Lanfermann (FDP):
Rede ID: ID1613410600

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Vor
über zwei Jahren haben Union und SPD in ihrem Koali-
tionsvertrag versprochen, die gesetzliche Pflegeversi-
cherung zu reformieren. Genauer gesagt wollten Sie
schon vor anderthalb Jahren einen Entwurf vorlegen.

Vor allen Dingen haben Sie aber auch eine Finanz-
reform versprochen, in der aufgrund der demografischen
Entwicklung unter anderem das Umlageverfahren zu-
mindest um kapitalgedeckte Elemente ergänzt werden
sollte. Dieses Versprechen wird nicht eingehalten. Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf wird es keine zu-
kunftsfeste Finanzierung geben, und damit ist Schwarz-
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Priska Hinz (Herborn)

Dr. Anton Hofreiter
Thilo Hoppe
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Fritz Kuhn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Jerzy Montag

Kerstin Müller (Köln)

Winfried Nachtwei
Omid Nouripour
Brigitte Pothmer
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland

Fraktionslose Abgeordnete

Henry Nitzsche
Gert Winkelmeier

Sie ignorieren die demografische Entwicklung; aber ge-
gen Fakten kann man auf Dauer keine Politik machen.


(Beifall bei der FDP)


Die sogenannte Große Koalition wird in der Pflege-
debatte ganz klein, möchte am liebsten gar nicht darüber
sprechen, verschiebt die Debatte von morgens auf mit-
tags, auf einen Zeitpunkt, zu dem viele von uns schon
zurückfahren, und verkürzt die Debattenzeit von 90 auf
45 Minuten, sodass man nicht auf alle Themen eingehen
kann.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das ist die breite gesellschaftliche Debatte, die Frau Schmidt angekündigt hat!)


– Genau, das ist der breite Dialog.

Die Regierung legt einen Entwurf vor. Die Vertreter
der CDU/CSU streiten ab, dass das ein Koalitionsent-
wurf ist, weil sie als Fraktion nichts damit zu tun haben.
Die Ministerin widerspricht dem eigenen Kabinettsbe-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14163


(A) (C)



(B) (D)


Heinz Lanfermann
– Ja, wenn man hineinschaut, stellt man fest, dass er eine
leere Tüte ist.

Es werden keinerlei konkrete Maßnahmen und keine
konkreten Zuständigkeiten beschrieben. Es steht nichts
darüber im Gesetzentwurf, von wem diese Berater, von
denen es in diesen Stützpunkten nur so wimmelt, Wei-
sungen bekommen, welche Befugnisse es gibt und wer
welche Aufgabenbereiche hat. Es steht darin auch nichts
darüber, wie Sie die Koordinierung mit den Landesstel-
len und den kommunalen Stellen, über die Sie ja nicht
verfügen können, verwirklichen wollen.


(Elke Ferner [SPD]: Das wollen Sie alles in das Gesetz hineinschreiben?)


Diese werden nur aufgefordert, irgendwelche Verträge
zu unterschreiben, von denen man noch gar nicht weiß,
was darin stehen soll.

Bei der Vorbereitung dieses Gesetzentwurfes – Sie
hatten ja über zwei Jahre Zeit; von den Jahren davor, in
denen Sie nichts getan haben, einmal ganz abgesehen;
Sie sind ja schon lange genug im Amt, um lange nichts
getan zu haben – haben Sie zum Beispiel überhaupt nicht
mit den Landkreisen gesprochen. Wir alle, die wir uns in
der Pflegepolitik betätigen, waren doch dabei, als die
Vertreter der Landkreise gesagt haben: Mit uns hat man
nicht gesprochen. – Sie bekommen ja nicht einmal Ant-
worten auf ihre Briefe, wenn sie ihre Mitarbeit anbieten.
Hinterher sollen sie aber alle etwas unterschreiben, da-
mit Sie Pflegestützpunkte aufbauen können. Sie stellen
diese als Eldorado der Pflege dar. In Wirklichkeit sind
die über 4 000 Pflegestützpunkte nichts anderes als eine
Ansammlung von Basislagern in einem Gebirge von Bü-
rokratie, das Sie jetzt neu aufbauen.


(Beifall bei der FDP)


Ich bin dem Kollegen Zöller, der gleich sprechen
wird, sehr dankbar. Heute ist in der Lausitzer Rundschau
ein sehr schönes Interview mit ihm zu lesen, worin er
sagt, dass die Union die Einrichtung von Pflegestütz-
punkten ablehnt. Dies begründet er folgendermaßen:

Im Sozialgesetzbuch

– hören Sie zu, Frau Schmidt –


(Martin Zeil [FDP]: Die hört schon gar nicht mehr zu!)


ist schon jetzt geregelt, dass die Pflegekassen eine
Beratungspflicht haben. Das geschieht auch. Wenn
neben dieser Pflegeberatung auch noch Pflegestütz-
punkte existieren, dann entstehen Doppelstruktu-
ren und eine enorme Bürokratie.

Auch wir wollen, dass das Geld besser an die Pflege-
betten kommt, als dass es in der Bürokratie versickert.


(Beifall bei der FDP)


Die Ministerin behauptet, vorhandene Strukturen
würden aufgenommen, integriert, vernetzt usw. Sie ha-
ben gerade noch gesagt, dass es so etwas geben soll. Ich
habe Sie im Oktober angeschrieben und gefragt: Was
gibt es in den Ländern? Was gibt es in den Gemeinden?
Was gibt es, was man vernetzen und aufbauen könnte?
Was gibt es, was man ergänzen könnte? Antwort von
Frau Caspers-Merk: Wir sind noch in der Findung. Das
wissen wir alles noch nicht. – Dann habe ich den Gesetz-
entwurf abgewartet und noch einmal an die Ministerin
geschrieben und wieder diese vier konkreten Fragen ge-
stellt – das werde ich jedem hier zur Verfügung stellen –:
Ich erhielt eine zweiseitige nichtssagende Antwort, nur
Larifari. Auf die Fragen wurde überhaupt nicht einge-
gangen. Das heißt, die Ministerin, die offiziell nichts
weiß, will nun vernetzen und verknüpfen, was sie nicht
kennt. Viel Vergnügen, Frau Ministerin!


(Beifall bei der FDP)


So geht man im Übrigen nicht mit dem Parlament um.
So lasse ich Ihnen das auch nicht durchgehen.

Dieser Gesetzentwurf ist im Hinblick auf die Pflege-
stützpunkte nichts anderes als ein teurer Schuss ins
Blaue. Ich sage Ihnen auch, was Sie damit vorhaben:
Derjenige, der sich einordnet, der die Verträge unter-
schreibt, deren Bedingungen Sie bestimmen, wird in
eine Struktur eingegliedert, die von oben nach unten ver-
läuft, vom Gesundheitsministerium zu den Pflegekassen.
Das trägt Staatsdirigismus und Staatspflege in die Ge-
meinden hinein.


(Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: Grober Unsinn, was Sie da reden!)


Das wird dazu führen, dass an den Orten, wo die Träger
sich nicht fügen, wo sie nicht unterschreiben, wo sie
nicht mitmachen, sondern auf ihre eigenen bewährten
Beratungsangebote setzen, Doppelstrukturen unter Ver-
wendung des Geldes aufgebaut werden, das Sie den
Menschen jetzt aus der Tasche ziehen wollen. Nach und
nach werden Sie so die anderen vom Markt drängen.


(Elke Ferner [SPD]: Für wie blöd halten Sie uns eigentlich?)


Wer 2 000 Euro im Monat verdient, soll ja jedes Jahr
60 Euro mehr in die Pflegeversicherung zahlen, damit
Frau Schmidt ihre Staatspflege weiter ausbauen kann.

Es gibt sicherlich sinnvolle Verbesserungen, gegen
die wir nichts einzuwenden haben. Aber Sie betreiben
eine Politik, bei der sämtliche Zahlen und die demografi-
sche Entwicklung ignoriert werden und bei der nur Wert
darauf gelegt wird, staatliche Strukturen weiter durchzu-
setzen und andere zu verdrängen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613410700

Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Zöller für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)



Wolfgang Zöller (CSU):
Rede ID: ID1613410800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn zurzeit über Pflege gesprochen wird, dann wird
vorwiegend über Missstände, Organisationsdefizite und

14164 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Zöller
Kosten diskutiert. So wird die Diskussion aber zu kurz-
sichtig geführt. Es geht nämlich um mehr: In der Wert-
schätzung des Alters und in der Frage, wie wir mit den
älteren Menschen umgehen, kommen nämlich unsere
kulturellen Prinzipien zum Ausdruck. Es geht also da-
rum: Wollen wir eine humane Pflege, oder wollen wir
eine Pflege vom Fließband? Deshalb müssen wir in der
Gesellschaft und ganz besonders in diesem Hause einen
Konsens über folgende Fragen herstellen: Wie wollen
wir künftig pflegen? Wie wollen wir künftig selbst ein-
mal gepflegt werden? Wie kann man Verbesserungen er-
reichen? Wie kommen wir zu einer nachhaltigen Finan-
zierung?

Meine sehr geehrten Damen und Herren, eine Ent-
wicklung macht mir große Sorgen. Man hört immer wie-
der, dass pflegebedürftigen Menschen aus Mangel an
Pflegekräften oder aus Mangel an Zeit Magensonden
verabreicht werden, anstatt pflegebedürftigen Menschen
in dem Tempo zu Essen und zu Trinken zu geben, in dem
sie kauen und schlucken können. Im Übrigen: Wer ein-
mal eine Magensonde erhalten hat, wird nie wieder et-
was schmecken können. Was für eine Qualität hat das
Leben dann noch? Ähnliche Defizite gibt es beim Wa-
schen, beim Anziehen oder beim Toilettengang. Wenn
Windeln und Dauerkatheter von den Versicherungen un-
ter dem Begriff „pflegeerleichternde Maßnahmen“ abge-
rechnet werden, sind wir alle aufgefordert, tätig zu wer-
den. Ich halte das, was ich beschrieben habe, nicht für
eine humane Pflege, sondern für menschenunwürdig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])


Deshalb habe ich die Frage gestellt: Wie wollen wir pfle-
gen?

Viele Berichte zur Pflegequalität haben gezeigt, dass
wir dringend mehr motiviertes und qualifiziertes Perso-
nal für die Pflege vor Ort brauchen. Diese Menschen, die
einen sehr anspruchsvollen und schwierigen Dienst an
den Pflegebedürftigen leisten, sollten auch wissen, dass
wir ihre Arbeit schätzen. Pflegeheime, die qualitativ gute
Pflege leisten, werden sich nicht vor Prüfungen fürchten.
Prüfungen sind notwendig, um schlechte Pflege festzu-
stellen und Defizite abzustellen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir dürfen
nicht alle Pflegenden in einen Topf werfen und mit über-
zogenen Vorschriften und bürokratischen Auflagen gän-
geln. Hier müssen wir den richtigen Weg für effiziente
und dauerhaft wirksame Qualitätskontrollen finden. Es
geht also nicht um ein Mehr an Kontrollen und Vor-
schriften, sondern es geht um die richtige Anwendung.
Denn Qualitätssicherung und Qualitätsprüfungen dürfen
kein Selbstzweck werden.

Wir müssen also an folgenden Punkten ansetzen, um
diese Zustände zu verbessern: Wir müssen die Pflege-
leistungen verbessern und an die Kostenentwicklung an-
passen.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Richtig!)


Das tun wir mit diesem Gesetzentwurf.

(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Aber viel zu wenig!)


Für Demente werden Leistungen wesentlich verbessert.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Na, na!)


Diese sollten allerdings nicht nur im ambulanten, son-
dern auch im stationären Bereich ermöglicht werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir müssen die Pflege spürbar entbürokratisieren. Pfle-
gedienste müssen sich wieder auf ihre eigentliche Auf-
gabe, die Versorgung Pflegebedürftiger, konzentrieren
können. Dann wird auch der Pflegeberuf wieder attrakti-
ver werden.

Wir müssen weiterhin die Qualitätsprüfungen im Hin-
blick auf Praktikabilität, bürokratischen Aufwand und
Effizienz überarbeiten. Wir brauchen unangemeldete
Prüfungen. Der Schwerpunkt der Prüfungen muss auf
den Zustand der Patienten und weniger auf die Vollstän-
digkeit der Dokumentation gerichtet werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Letztlich halten wir auch sehr viel davon – in diesem
Punkt sind wir uns einig –, dass die Prüfergebnisse ver-
öffentlicht werden müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


Wir wollen des Weiteren – soweit dies möglich ist –,
dass jeder in seinem von ihm gewünschten Umfeld ge-
pflegt und betreut werden kann. Die überwiegende
Mehrheit der pflegebedürftigen Menschen will so lange
wie möglich zu Hause oder zumindest ambulant und
nicht in Pflegeheimen versorgt werden. Parallel dazu
nimmt die Tragfähigkeit familiärer Bindungen und Un-
terstützungen leider ab. Vor diesem Hintergrund werden
mit diesem Gesetzentwurf die Möglichkeiten neuer
Wohnformen wie zum Beispiel Wohngemeinschaften für
Ältere oder betreutes Wohnen und die ambulante wohn-
ortnahe Versorgung gefördert. Die Pflegebedürftigen
sollen die dort erbrachten Leistungen wesentlich flexib-
ler als bisher in Anspruch nehmen können.

Es ist klar, dass diese beschlossenen Verbesserungen
nicht zum Nulltarif zu haben sind. Aber die Pflege-
bedürftigen und ihre Angehörigen haben Anspruch auf
gesellschaftliche Solidarität. Die Reform der Pflegever-
sicherung ist im Hinblick auf die vereinbarten Leistungs-
verbesserungen ein wichtiger Durchbruch im Interesse
von Millionen von Betroffenen. Aber um das System zu-
kunftsfähig zu machen und mehr Generationengerech-
tigkeit zu verankern, bleibt die Einführung einer Kapital-
deckung als Aufgabe bestehen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Da nicht alles finanzierbar ist, sind wir auch auf mehr
ehrenamtliches Engagement angewiesen.

Wir werden in diesem Gesetzgebungsverfahren an der
einen oder anderen Stelle noch nachjustieren müssen.
Ich habe bereits Pflegequalität und Entbürokratisierung
angesprochen. Hinzu kommt das Thema Pflegestütz-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14165


(A) (C)



(B) (D)


Wolfgang Zöller
punkte. Wir sind uns darin einig, dass es wohnortnah
kompetente Anlaufstellen geben soll.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir müssen uns aber fragen, ob wir zusätzliches Geld
für Organisation oder für Pflege ausgeben. Wir sind der
Auffassung: Das Geld muss für die Pflege ausgegeben
werden. Diese Stützpunkte sollten Anwalt der Patienten
und nicht nur der verlängerte Arm der Pflegekassen sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ein weiterer Punkt erscheint uns sehr wichtig. Wir
müssen die sogenannte aufsuchende Beratung fördern.
Denn viele haben nicht die Möglichkeit, Beratungsstel-
len aufzusuchen. Wir dürfen durch neue Strukturen, die
parallel zu bereits existierenden entstehen, nicht zu über-
triebenen Kostenforderungen kommen, die nur zu mehr
Bürokratie, aber nicht zu mehr Leistungen für die Be-
troffenen führen.

Eine Gefahr sehe ich bei der im Gesetzentwurf vorge-
sehenen Regelung, dass qualifiziertes Personal dort ab-
gezogen wird, wo wir es eigentlich brauchen, nämlich
am Pflegebett. Die Entwicklung darf doch nicht dahin
gehen, dass irgendwann einmal mehr Personen für Orga-
nisation und Aufsicht als für die eigentliche Pflege zu-
ständig sind. Es ist unsere Aufgabe, darauf zu achten.

Die vorhandenen, knappen Mittel der Pflegeversiche-
rung müssen für Leistungen, die den Pflegebedürftigen
zugutekommen, ausgegeben werden. Hier brauchen wir
jeden Euro. Wir können deshalb keine Leistungsauswei-
tungen befürworten, die nicht den Pflegebedürftigen zu-
gutekommen und mit einem unkalkulierbaren Kosten-
risiko verbunden sind.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Lassen Sie mich zusammenfassen: Die Grundausrich-
tung des Reformprojektes ist richtig. Die genannten Bei-
spiele zeigen aber auch, dass in einzelnen Fragen noch
Diskussionsbedarf besteht. Ich bin felsenfest davon
überzeugt und zuversichtlich, dass wir dabei gemeinsam
zu guten Ergebnissen für die pflegebedürftigen Men-
schen und deren Angehörige kommen werden.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613410900

Für die Fraktion Die Linke hat nun das Wort der Kol-

lege Dr. Ilja Seifert.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613411000

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Meine Damen und Herren auf den Tribünen! Lie-
ber Herr Zöller, wenn ich Sie hier so reden höre, wün-
sche ich mir fast einen CSU-Minister, der wenigstens die
christliche Soziallehre beherzigt, der Werte zugrunde
legt, wenn er Politik macht. Dann gäbe es nicht so ein
Reförmchen, bei dem man die Substanz mit der Lupe su-
chen muss. Herr Zöller, Sie haben zu Recht die Frage ge-
stellt, ob wir eine humane Pflege oder eine Pflege vom
Fließband wollen. Ich habe den Eindruck, dass das, was
Sie hier verändern, an der Fließbandpflege nichts ändert.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Lanfermann, Sie haben recht: Obwohl diese De-
batte die breite Öffentlichkeit betrifft, haben wir nur we-
nig Zeit, um über die Entwicklung im Bereich der Pflege
zu beraten. Nach zwölf, fast 13 Jahren können wir Bi-
lanz ziehen. Dann können wir fragen, welche Änderung
die Bundesregierung anbietet. Vielleicht sollten wir auch
noch einmal darüber reden, was die Linke als Alterna-
tive anzubieten hat.

Zur Bilanz: Erstens. Wir haben es mit einer Teilkas-
koversicherung zu tun. Allein das Wort „Teilkaskoversi-
cherung“ ist ein Schlag ins Gesicht derjenigen, um die es
geht. Wir sind nämlich keine Autos, sondern Menschen.
Der Begriff allein zeigt, was Sie wollen. Sie wollen den
Leuten nicht wirklich helfen, sondern die Staatskasse ein
bisschen entlasten. Zweitens. Die Unterversorgung ist
hinreichend bekannt. Die Berichte liegen auf dem Tisch.
Wir brauchen nicht lange darüber zu reden. Die Angehö-
rigen sind total überlastet und überfordert. Ich finde, Sie
tun nichts, was wirklich für Abhilfe sorgt.

Ich greife einmal das Beispiel Demenz auf: Sie wol-
len die demenzkranken Menschen in die Pflegeversiche-
rung einbeziehen; man wusste von Anfang an, dass das
nötig ist. Wollen Sie den Menschen ernsthaft einreden,
dass sie für 6,57 Euro pro Tag sinnvolle Betreuungs-
angebote einkaufen können? Wenn Angehörige einen
dementen Menschen für drei Stunden in der Woche in
eine teilstationäre Einrichtung geben, damit sie ein biss-
chen entlastet werden, dann haben sie anschließend viel
damit zu tun, diesen Menschen aus seiner Verwirrtheit
wieder herauszuholen. Das Problem ist, dass das nicht
regelmäßig ist, dass nicht das geboten wird, was der de-
mente Mann oder die demente Frau braucht. Eine regel-
mäßige Begleitung und Betreuung ist notwendig. Diese
Regelung wird nicht helfen.

Über die besondere Situation in Ostdeutschland kann
ich leider gar nicht lange reden. Nur so viel: Es wird im-
mer wieder gesagt, dass man für den Pflegefall zusätz-
lich privat vorsorgen muss. Wovon soll man denn vor-
sorgen, wenn man nichts hat? Kommt man dann auf die
Idee, für den Pflegefall vorzusorgen, der, wenn man
Glück hat, nicht eintritt? So viel zur Situation.

Was bietet die Bundesregierung an? Sie bietet eine
Reform an. Hinterher, nachdem die Reform beschlossen
worden ist, will sie sich überlegen, wofür die Reform ei-
gentlich ist. Denn die Kommission, die einen neuen Pfle-
gebegriff erarbeiten soll, soll ihre Ergebnisse erst Ende
nächsten Jahres vorlegen. Wenn sie dann etwas vorge-
legt hat, fangen Sie an, die Vorschläge zu zerpflücken.
Was soll das?

Wenn man wirklich eine Pflegereform durchführen
will, dann muss man sagen: Es geht darum, den Men-
schen, die Anleitung, Pflege oder ständige Hilfe benöti-
gen, im Rahmen dessen, was sie sich wünschen, Teil-
habe zu ermöglichen. Davon ist bei Ihnen aber nicht die

14166 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Ilja Seifert
Rede. Satt, sauber, trocken – das ist das höchste der Ge-
fühle. Das kann es ja wohl nicht sein.


(Elke Ferner [SPD]: Das stimmt nicht! Das wissen Sie!)


– Was ich weiß, ist, dass bedauerlicherweise nicht ein-
mal das erreicht wurde.

Sie sagen, dass Sie die Leistungen dynamisieren. Was
machen Sie in Wirklichkeit? Sie erhöhen den Beitrags-
satz zur gesetzlichen Pflegeversicherung um
0,25 Prozentpunkte. Das Geld, das durch die Leistungs-
dynamisierung eingenommen wird, fließt in die Pflege-
stützpunkte – wenn es denn überhaupt irgendwo an-
kommt.

Denken wir also einmal über die Pflegestützpunkte
nach; denn sie sind der größte Bereich, um den es geht.
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass ich
bei diesem Thema ein Déjà-vu habe. Die gleichen Heils-
versprechungen habe ich nämlich auch gehört, als be-
schlossen wurde, im Rahmen des SGB IX gemeinsame
Servicestellen einzurichten.


(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: So ist es!)


Sehen Sie sich die Situation bei den gemeinsamen Ser-
vicestellen doch einmal an! Ich gehe jede Wette ein:
Wenn Sie sie heute schließen würden, würde ein halbes
Jahr lang kein Mensch merken, dass sie geschlossen
worden sind – nicht einmal die Leute, die dort arbeiten.
Das ist so, weil sie niemand braucht. Da auch die Pflege-
stützpunkte niemand braucht, wird sie niemand aufsu-
chen, werden sie nichts nützen.

Welche Alternativen gibt es? Ich sage Ihnen: Lassen
Sie uns zuerst überlegen, was Pflege zu bedeuten hat.
Pflege hat nicht nur etwas mit Begleitung und Assistenz
zu tun. Das Ziel der Pflege besteht vielmehr darin, Men-
schen, die allein nicht zurechtkommen, die Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben oder zumindest am Familienle-
ben zu ermöglichen. Es geht also um die Ermöglichung
von Teilhabe.

Dafür brauchen wir unter anderem die geschlechter-
gleiche Pflege, wenn sie gewünscht wird,


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


und eine solidarische Finanzierung. Wir brauchen also
die Bürgerinnen- und Bürgerversicherung. Was denn
sonst? Lasst uns doch aufhören, die Idee zu verfolgen,
dass jeder seinen eigenen Kapitalstock anspart! Lasst
uns das Prinzip „ambulant vor stationär“ verwirklichen!
Wenn wir das tun, dürfen wir aber nicht immer wieder in
Pflegeheime investieren. Lasst uns die Angehörigen tat-
sächlich entlasten, indem wir denjenigen, die die Pflege-
leistung erbringen, so viel Geld in die Hand geben, dass
sie ordentlich verdienen. So kommen wir voran.

Führen Sie aber bitte nicht zunächst irgendein Re-
förmchen durch, das zumindest in seinem Titel das Wort
„Reform“ trägt, und überlegen erst dann, was Sie eigent-
lich machen. Sie müssen zuerst sagen: Wir wollen eine
humane Pflege. Herr Zöller, in diesem Punkt bin ich zu
100 Prozent Ihrer Auffassung. Obwohl Sie von den Wer-
ten der christlichen Soziallehre und nicht von meiner
aufgeklärten Perspektive ausgehen, kommen wir beide
zum gleichen Schluss: Wir müssen den Menschen Teil-
habe ermöglichen. In diesem Punkt sind wir einer Mei-
nung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613411100

Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Elisabeth

Scharfenberg für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Sehr geehrte Kol-
leginnen und Kollegen! Nun findet sie also statt: die
erste Lesung des Entwurfs eines Pflege-Weiterentwick-
lungsgesetzes. Sie dauert nicht einmal eine Stunde. Ur-
sprünglich war vorgesehen, die heutige Debatte in der
Kernzeit, also zwischen 9 und 11 Uhr, zu führen. Jetzt
finden wir uns im Nachmittagsprogramm des letzten Sit-
zungstages vor Weihnachten wieder.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Ko-
alition, liebe Frau Ministerin, ist Ihnen das nicht ab-
grundtief peinlich? Denn ganz offensichtlich zählen die
Sorgen und Bedürfnisse Pflegebedürftiger und ihrer An-
gehörigen nicht zu den wirklich großen Themen für
diese Bundesregierung und diese Koalition.


(Elke Ferner [SPD]: Das ist doch Quatsch, was Sie da erzählen! – Ute Kumpf [SPD]: Das ist wirklich dummes Zeug!)


In den letzten Wochen haben Sie uns in Höchstform
Ihre pflegepolitische Handlungsunfähigkeit demonstriert.
Was wir erleben, ist Zoff: Zoff um die Finanzierung,
Zoff um den Pflegeurlaub, Zoff um die Pflegezeit


(Elke Ferner [SPD]: Die Pflegezeit ist kein Urlaub, Frau Kollegin!)


und Zoff um die Pflegestützpunkte und die Pflegebeglei-
ter. Wir hatten reichlich den Eindruck, dass sich hier Op-
position und Regierung auseinandersetzen. Nur zu Ihrer
Erinnerung: Sie bilden eine gemeinsame Koalition.


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das muss man immer wieder sagen!)


Ich höre nichts darüber, dass Sie sich nun doch um ein
dringend notwendiges Konzept für eine nachhaltige Fi-
nanzierung kümmern. Ich höre auch nichts darüber, dass
Sie gemeinsam daran arbeiten, die an sich vernünftige
Idee der Pflegestützpunkte und Pflegeberater wirklich
im Sinne der Betroffenen umzusetzen und auszugestal-
ten. Sie wissen ganz genau, dass Sie dafür sorgen müs-
sen, dass die Pflegestützpunkte und -berater neutral und
unabhängig sind;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


denn sind sie das nicht, produzieren Sie damit nichts an-
deres als ein Kontroll- und Kostensparmodell. Sogar die
Vorschläge der Länder wären eine deutliche Verbesse-
rung gegenüber Ihren Konzepten. Von der Unionsfrak-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14167


(A) (C)



(B) (D)


Elisabeth Scharfenberg
tion dieses Hauses hingegen vernehme ich nur destruk-
tive Statements.


(Willi Zylajew [CDU/CSU]: Das ist unerhört!)


Sie wollen die Pflegestützpunkte überhaupt nicht. Sie
machen sich für dieses wirklich komplett unsinnige
Konzept der Beratungsschecks stark. Damit schaffen Sie
nicht etwa Orientierung, nein,


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Da müssen Sie mal die Basis hören, Frau Scharfenberg!)


Sie bewirken exakt das Gegenteil, nämlich Desorientie-
rung auf einem ausufernden und unüberschaubaren Be-
ratungsmarkt. Das soll dann den Betroffenen nützen?
Das stelle ich wirklich infrage.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Fragen Sie mal die Betroffenen!)


Auch die Pflegezeit ist Ihnen ein Dorn im Auge. Sie
wollen keinen Ärger mit den Arbeitgeberverbänden.
Deshalb wird die Pflegezeit möglichst unattraktiv ausge-
staltet,


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Meine Güte!)


ohne jede Form der Lohnersatzleistung, mit einer Be-
schränkung der Betriebsgröße auf mindestens 15 Mit-
arbeiter und schön begrenzt auf den engsten Verwand-
tenkreis.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Irgendjemand muss es bezahlen!)


Keine Sorge, diese Pflegezeit wird kein Mensch in An-
spruch nehmen, weil sie keiner nehmen kann. Das alles
verpacken Sie auch noch als Unterstützung für pflegende
Angehörige. Davon kann wohl überhaupt nicht die Rede
sein. Pflegende Angehörige brauchen Unterstützung und
Entlastung im Alltag. Sie tragen die Konflikte – Stich-
wort „ambulant vor stationär“ – auf dem Rücken der An-
gehörigen aus. Herr Zöller, bei allem Respekt, aber Ihre
Darstellung der Betroffenheit nimmt Ihnen wirklich kei-
ner mehr ab.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ist es so unmenschlich, Urlaubstage dafür zu nehmen?)


Zu guter Letzt klagen Sie, es sei nicht bezahlbar, was
Frau Ministerin Schmidt alles vorhat. Liebe Kolleginnen
und Kollegen der Union, wenn Sie nicht mutig genug
sind, für eine nachhaltige Finanzreform zu sorgen, dann
müssen Sie sich wirklich an die eigene Nase fassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Setzen Sie Ihren Koalitionsvertrag und die darin ge-
steckten Ziele, auch bezüglich der Finanzierung, um!


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Sie haben es noch nicht einmal zu einem Gesetzentwurf geschafft!)


Ich glaube, Ihnen ist entgangen, dass es sich bei der
Zielgruppe der Pflegereform um Menschen handelt, um
pflegebedürftige Menschen und deren Angehörige. Üb-
rigens, Herr Zöller, wir reden hier nicht nur von alten
Menschen, nein, wir reden auch von pflegebedürftigen
Kindern, wir reden von behinderten Menschen, von psy-
chisch kranken Menschen, von Menschen, die etwa nach
einem Unfall, auch in jungen Jahren, pflegebedürftig
wurden oder auch werden können. Das heißt, wir reden
eigentlich von uns allen. Es geht nämlich bei alledem,
was heute debattiert wird, um das konkrete Leben und
um das Schicksal von Menschen, die Hilfe, Unterstüt-
zung, aber vor allem mehr Selbstbestimmung und
Würde brauchen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Sie haben noch ein paar Wochen Zeit bis zur Verab-

schiedung dieses Gesetzentwurfs. Setzen Sie jetzt end-
lich Ihre ideologische Brille ab! Dieses Pflege-Weiter-
entwicklungsgesetz ist für alle Menschen im Land zu
wichtig, um zwischen Wahlkampfslogans zerrieben zu
werden;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


denn alles, was im Frühjahr beschlossen wird, wird über
Jahre hinweg nicht mehr zu ändern sein. Sie haben eine
enorme Verantwortung. Dieser Verantwortung sollten
Sie sich wirklich langsam bewusst werden.


(Ute Kumpf [SPD]: Sind wir uns!)

Ich wünsche Ihnen besinnliche Weihnachtstage,


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Wünschen wir Ihnen auch, Frau Scharfenberg!)


aber kommen Sie auch bei der Pflegereform zur Besin-
nung!

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die Grünen und die Linken versprechen, und die anderen sollen bezahlen!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613411200

Nun hat die Kollegin Elke Ferner für die Fraktion der

SPD das Wort.


Elke Ferner (SPD):
Rede ID: ID1613411300

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!

Ich glaube, die von der Bundesregierung vorgelegte
Pflegereform ist ein Riesenschritt zur Verbesserung der
Situation der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen.


(Beifall bei der SPD)

Herr Seifert, wir wissen, dass insbesondere Ihre Frak-

tion keine Mühe hat, immer noch mehr, noch weiterge-
hende Maßnahmen und noch höhere Mittel zu fordern,
aber wir müssen uns ein Stück weit an dem orientieren,
was derzeit finanzierbar ist. Auch wir hätten an vielen
Stellen gerne die Leistungen noch verbessert, aber wir
sind realistisch genug, zu sehen, was finanzierbar und
was nicht finanzierbar ist.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Es muss auch künftig finanzierbar sein!)


14168 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Elke Ferner
Der zweite Punkt, den Sie, Herr Seifert, angesprochen
haben, betrifft die Änderung des Pflegebegriffs. Ja, wir
wollen den Pflegebegriff ändern, weg von der Verrich-
tungsbezogenheit. Das braucht leider noch etwas mehr
Zeit. Aber das wird dann in einem zweiten Schritt ge-
setzlich verankert werden können. Wir halten es nicht
für verantwortbar, mit den Maßnahmen, die wir jetzt auf
den Weg bringen, ebenfalls bis dahin zu warten.


(Beifall bei der SPD)


Wenn Sie anderer Meinung sind, können Sie das den
Menschen, die mehr Hilfebedarf haben, ja gern erklären.
Wir möchten das, was wir jetzt tun können, auch wirk-
lich angehen und auf den Weg bringen.

Es ist heute auch über paar Punkte zu reden, bei denen
es innerhalb der Koalition Dissens gibt. Es geht bei-
spielsweise um die Pflegestützpunkte. Die Pflegestütz-
punkte werden gebraucht, Herr Lanfermann. Wer schon
einmal einen Pflegefall zu organisieren hatte, weiß, wie
die heutige Situation vor Ort ist. Es gibt Länder – wie
zum Beispiel Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg –,
in denen es Koordinierungsstellen und einheitliche An-
laufstellen gibt.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Lange Zeit FDP-regiert!)


Die Menschen wissen, dass sie zu diesen Stellen gehen
und sich umfassend beraten lassen können.

Es fehlen aber auch in den genannten Bundesländern
noch Stellen, die beispielsweise über die Leistungen zu
entscheiden haben. Wir wollen nicht etwas Neues paral-
lel zu den existierenden Einrichtungen schaffen. Viel-
mehr wollen wir die vorhandenen Angebote um die Be-
ratungsangebote der Sozialversicherungsträger ergänzen
und das Ganze wohnortnah – nicht irgendwo fernab,
zum Beispiel in der Kreisstadt – unter einem Dach an-
bieten. Dazu brauchen wir Stützpunkte in der Form, wie
wir sie organisieren wollen.

Herr Lanfermann, ich wundere mich, dass ausgerech-
net die FDP fordert, im SGB XI bis ins kleinste Detail
festzuschreiben, wie das alles aussehen soll, wer welche
Verantwortung trägt, wer wem Weisungen zu erteilen hat
usw. Was ist denn mit der Vielfalt, die es vor Ort gibt? –
Diese wollen wir erhalten.

Wir wollen versuchen, die Beratungsangebote so zu
bündeln, dass der Angehörige oder auch der Pflegebe-
dürftige zu den Anlaufstellen gehen und sich umfassend
beraten lassen kann. Wolfgang Zöller, ich sage noch ein-
mal ganz ausdrücklich, dass das nicht ausschließt, dass
auch einmal ein Pflegeberater oder eine Pflegeberaterin
zu den Menschen nach Hause gehen kann, wenn eine
Beratung nur so möglich ist.

Wir brauchen die Institution der Pflegestützpunkte,
die im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehen
ist. Hinter diesem Entwurf stehen auch Ministerinnen
und Minister der CDU und CSU. Offensichtlich ist das
in Teilen der Unionsfraktion aber noch nicht angekom-
men.


(Beifall bei der SPD)

Jetzt möchte ich auf die Pflegegutscheine eingehen.


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Beratungsschecks!)


– Entschuldigung, ob ich das Beratungsscheck oder Pfle-
gegutschein nenne, ist eigentlich egal. Aber was schla-
gen Sie da eigentlich inhaltlich vor? Heute gibt es eine
kostenlose Beratung durch die Sozialversicherungsträ-
ger, die Grundsicherungsträger, die Wohlfahrtsverbände
und auch durch die Leistungsanbieter. Diese preisen Sie
jetzt in Ihre Beratungsgutscheine ein.


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Nein!)


Was ist denn, wenn die vier Stunden Beratung abge-
laufen sind? Muss ich dann für die nächste Beratung be-
zahlen?


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Nein! Stimmt ja gar nicht!)


Was ist, wenn ich verschiedene Stellen anlaufen muss?
Verbrauche ich dann jeweils ein Stückchen von dem
Gutschein? Wir sind genauso wie Horst Seehofer, aber
auch der Sozialverband Deutschland und andere der
Auffassung, dass die Pflegegutscheine grober Unfug
sind.


(Beifall bei der SPD)


Ich prophezeie Ihnen, dass sie nicht ins Gesetz kommen
werden.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Was belästigen Sie uns dann damit?)


– Herr Lanfermann, Sie können gerne eine Zwischen-
frage stellen statt dazwischenzuschreien. Die Redezeit
ermöglicht es im Moment leider nicht, auf Ihre Zwi-
schenrufe einzugehen.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Das wäre aber hilfreich!)


Als Nächstes möchte ich auf die Freistellung bei ei-
nem Pflegefall eingehen. Im Namen meiner Fraktion be-
grüße ich es sehr, dass wir der Forderung nach der Mög-
lichkeit einer Freistellung für bis zu sechs Monate, die
Sozialverbände und Gewerkschaften schon vor längerem
aufgestellt haben, nachkommen und das Recht zur ra-
schen Rückkehr an den Arbeitsplatz gewährleistet ist für
den Fall, dass der Angehörige verstirbt, bevor die Zeit
der Freistellung abgelaufen ist.

Wir hätten uns gewünscht, dass das allen Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer möglich ist und sich nicht
in erster Linie an der Betriebsgröße, sondern am Bedarf
der Angehörigen von Pflegebedürftigen orientiert. Wir
werden weiterhin an unserer Forderung festhalten, dass
es für kurzfristige Freistellungen eine Bezahlung nach
dem Vorbild der Regeln geben soll, die wir bei der Er-
krankung von Kindern schon heute haben, also die Zah-
lung von Krankengeld für bis zu zehn Tage.


(Beifall bei der SPD)


Die Mehrheit der Bevölkerung will das.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14169


(A) (C)



(B) (D)


Elke Ferner
Man hört hier Argumente wie: Das kann der Sozialdienst
im Krankenhaus erledigen. Oder: Man kann Jahres-
urlaub einsetzen. Oder: Man kann ja unbezahlten Urlaub
nehmen. Deswegen sage ich: Viele Menschen können
sich unbezahlten Urlaub schlicht nicht leisten. Manche
haben am Jahresende keinen Jahresurlaub mehr übrig.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Eben, eben!)


Im Übrigen: Wer Angehörige pflegt, setzt häufig Jahres-
urlaub für die Pflege seiner Angehörigen ein. Da gibt es
also keinen Nachholbedarf.

Das Wichtigste ist, glaube ich, dass die Menschen in
Ruhe die Pflege ihrer Angehörigen organisieren können.
Das ist nichts, was man mal eben am Telefon in der Mit-
tagspause, nebenbei, organisieren kann, oder etwa nach
Feierabend, wenn kein Mensch mehr erreichbar ist, mit
dem man so etwas abklären kann. Wir brauchen gut vor-
bereitete Entscheidungen. Vor allen Dingen brauchen die
Menschen die Zeit, sich zu informieren, um das zu ihren
Angehörigen passende Pflegearrangement zu finden.


(Beifall bei der SPD)


Zur Qualität in der Pflege gäbe es sicherlich noch ei-
niges zu sagen. Das Gleiche gilt für die Finanzierung.
Ich will dazu nur einen Satz sagen: Wir haben es leider
nicht geschafft, den Risikoausgleich, der im Koalitions-
vertrag vereinbart worden ist, in das Gesetz aufzuneh-
men, weil sich die Union davon leider verabschiedet hat.

Jetzt geht es um die Frage: Wie geht es weiter, wie
werden wir den demografischen Herausforderungen ge-
recht? Das geht weit über die aktuelle Diskussion über
die Pflegeversicherung hinaus. Das geht auch weit über
die Ebene des Bundestages hinaus, das muss auf allen
politischen Ebenen diskutiert werden, weil auch an an-
deren Stellen noch viel zu tun ist.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/CSU])



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613411400

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege

Willi Zylajew für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Willi Zylajew (CDU):
Rede ID: ID1613411500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese

Pflegeversicherungsreform ist der derzeit mögliche
Schritt. Wir entwickeln eine gute Versicherung, die sich
bewährt hat, weiter. Bislang waren die Leistungen aller-
dings an den Bedarf der Grundpflege und häuslichen
Versorgung geknüpft. Dies war hilfreich, und hier erhö-
hen wir auch die Leistungen, wir dynamisieren sie sogar
verlässlich; das muss man bei aller Kritik im Detail ak-
zeptieren, Herr Kollege Dr. Seifert.

Unter dem Blickwinkel einer ganzheitlichen Betrach-
tung der Ansprüche der Bewohnerinnen und Bewohner
in Heimen wollen wir nun mehr tun, auch Leistungen
gewähren für Betreuung, Begleitung und Beaufsichti-
gung. Dies wird vielen Menschen helfen. Es kommt
auch der von weiten Teilen der Bevölkerung letztlich er-
wartete Hilfebereich für Menschen mit eingeschränkter
Alltagskompetenz; das betrifft die sogenannte „Pflege-
stufe 0“. An dieser Stelle der Klassifizierung der Hilfe-
stufen gab es sicherlich einen Mangel, den wir hiermit
ausräumen. Die Betreuungssituation Dementer wird bes-
ser.

Wir sollten uns dabei nicht allein auf den ambulanten
Bereich konzentrieren,


(Zuruf von der LINKEN: Sehr richtig!)


sondern das auf den stationären Bereich ausdehnen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir haben alle am vergangenen Montag beim Mauser-
Forum in der NRW-Landesvertretung gehört, dass der
Sozialverband Deutschland, die Diakonie, die Caritas
und der DPWV auch Leistungen für den stationären Be-
reich erwarten. Wir müssen die Chance eröffnen, Ambu-
lante im stationären Bereich besser zu betreuen, zu
beaufsichtigen. Darüber sollten wir noch einmal nach-
denken. Wir hoffen, dass wir hier in der Koalition zu Er-
gebnissen kommen.


(Zuruf von der LINKEN: Wir helfen Ihnen dabei!)


– Dafür sind wir dankbar.

Herr Lanfermann, wir sollten die Ergebnisse der An-
hörungen abwarten, sollten sehen, was im Land vorhan-
den ist, und dann überlegen, wie wir die Beratung viel-
leicht anders finanzieren. Ich denke, wir haben hier die
Chance, bestehende Strukturen zu erhalten bzw. sie aus-
zubauen und den Menschen ein Stück weit die Freiheit
zu geben, zu wählen, von wem sie sich beraten lassen.

Frau Ministerin Schmidt, Sie kennen natürlich Aachen-
Stadt. Aber schauen Sie einmal in die Eifel und nach
Aachen-Land! Dann sehen Sie, wie dort die Pflegestütz-
punkte erreichbar wären: Für 20 000 Einwohner haben
wir einen Pflegestützpunkt.

Wir als Union werden alles daransetzen, mehr aufsu-
chende Hilfe zu erreichen. Kollegin Ferner, Sie haben so
schön gesagt – das können Sie noch einmal im Protokoll
nachlesen –:

Die Menschen wissen, dass sie zu diesen Stellen ge-
hen und sich umfassend beraten lassen können.

Ich glaube, Sie verkennen die Situation der Menschen
etwas.


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So ist es!)


Viele können nicht dahin gehen oder fahren, sondern wir
sollten sehr viel stärker zusehen, dass diese Beratung zu
Hause erfolgt, sodass die Menschen die Chance haben,
sich unter mehreren Beratern denjenigen herauszusu-
chen, den sie für richtig halten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Konrad Schily [FDP] – Ulla Schmidt, Bundesministerin: Das steht schon im Gesetz! – Elke Ferner [SPD]: Das habe ich doch gar nicht ausgeschlossen!)


14170 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Willi Zylajew
Das steht im Übrigen heute schon in § 7 Sozialgesetz-
buch XI, wonach Aufklärung und Beratung Pflichtauf-
gaben der Kassen sind. Ich wundere mich, dass wir
diesen Kassen aus den vereinnahmten Pflegeversiche-
rungsbeiträgen nun noch einmal 290 Millionen Euro
mehr geben sollen – für eine Aufgabe, die sie bisher
schon zu erledigen hatten, aber nicht erledigt haben.


(Elke Ferner [SPD]: Sie wollen ihre Aufgabe erledigen!)


Bedenken wir doch – darüber müssen wir sprechen –:
Die Kasse hat das Geld und gibt die Bescheide heraus.
Sie hat den MDK und bekommt über die Fallmanager im
Endeffekt dann noch die Macht, zu entscheiden, was mit
jeder und jedem Einzelnen passiert. Ich denke, das muss
man kritisch hinterfragen. Das ist nicht richtig und nicht
sinnvoll.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Kollege Zöller hat es angesprochen: Bei den be-
vorstehenden Beratungen geht es doch um die Frage,
wie viel dieser 2,5 Milliarden Euro letztendlich für neue
Beratungsstrukturen verwendet wird und wie viel unmit-
telbar beim Pflegebedürftigen ankommt. Wir als Union
werden uns in diesen weiteren Beratungen dafür stark
machen, dass möglichst jeder Euro und jeder Cent direkt
bei dem pflegebedürftigen Menschen und nicht auf ir-
gendwelchen Verwaltungsetagen ankommt, auf denen
sie für die Menschen nur wenig hilfreich sind.


(Elke Ferner [SPD]: Also doch keine Gutscheine!)


Ich bedanke mich sehr für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613411600

Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord-

nungspunkt.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/7439, 16/7486, 16/7136, 16/7472
und 16/7491 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
den? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 34 sowie den
Zusatzpunkt 12 auf:

34 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt
Bender, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Harald Terpe,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Präventionsgesetz auf den Weg bringen – Pri-
märprävention umfassend stärken

– Drucksache 16/7284 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Gesundheitsförderung und Prävention als ge-
samtgesellschaftliche Aufgaben stärken – Ge-
sellschaftliche Teilhabe für alle ermöglichen

– Drucksache 16/7471 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden
wir so verfahren.

Ich eröffne nun die Aussprache und erteile als erster
Rednerin der Kollegin Birgitt Bender von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613411700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir

bleiben bei der Gesundheitspolitik. Es sieht auf den ers-
ten Blick so aus, als käme in die Prävention richtig
Bewegung hinein. Wenn man sich dann aber den Refe-
rentenentwurf aus dem Bundesgesundheitsministerium
anschaut, dann kann man nur frei nach Loriot fragen: Ja,
wo laufen Sie denn, ja, wo laufen Sie denn hin, mein
Gott?

Kaum ist die Gesundheitsministerin mit diesem Pro-
jekt Präventionsgesetz gestartet, wird sie von der Union
ausgebremst und galoppiert zurück. Man kann auch sa-
gen: Sie muss sich seitwärts in die Büsche schlagen.
Wenn man sich das ansieht, erkennt man: Die Präven-
tionsgesetzverhinderungsstrategie, auf die Sie so stolz
sind, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der
Union, zeigt erste Erfolge. Der Gesetzentwurf ist ein
Flickenteppich, der in kein Zimmer passt.

Von unkoordinierten Früherkennungsuntersuchungen
bis hin zu Wanderaktivitäten kann so ziemlich alles unter
dem Label „Prävention“ verbucht werden. Da frage ich
doch, wo eigentlich die politische Zielsetzung geblieben
ist. Wandern auf Kosten der Sozialversicherungsträger,
Kantinenessen zulasten der gesetzlichen Krankenkas-
sen – das ist absurd.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Genau! Das kann es ja wohl nicht sein!)


Die Union sagt, sie sei bemüht, keine überflüssigen
Doppelstrukturen aufzubauen. Die ursprünglich vorgese-
hene Präventionsstiftung ist passé. Was haben wir statt-
dessen? Einen abgespeckten Präventionsrat, der Gesund-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14171


(A) (C)



(B) (D)


Birgitt Bender
heitsziele verabschieden darf, die es auf Bundesebene
ohnehin schon gibt. Eine effiziente Gestaltung des Ge-
sundheitswesens sieht anders aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Gesundheitsministerin will den Bundesländern
Landespräventionsräte spendieren. Sie sollen über die
Vergabe der Finanzmittel entscheiden. Das freut zweifel-
los die Bundesländer.


(Detlef Parr [FDP]: Je komplizierter, desto besser!)


Die Unionsfraktion ist aber immer noch nicht zufrieden.
Sie pfeift die Unionsländer zurück, bringt sie auf Linie
und arbeitet stringent an einer konzertierten Verweige-
rungshaltung.

Was sehen wir im Gesetz? Aufklärungskampagnen
sollen gefördert werden. Die dem Bundesgesundheits-
ministerium unterstellte Bundeszentrale für gesundheit-
liche Aufklärung wird jedoch in dem Gesetz in keiner
Weise berücksichtigt.


(Detlef Parr [FDP]: Sehr richtig!)


Dabei ist es gerade die BZgA, die über langjährige Er-
fahrungen im Umgang mit Präventionskampagnen ver-
fügt. Erinnert sei nur an die bekannte Kampagne „Gib
Aids keine Chance“, die als besonders gelungenes Bei-
spiel einer Präventionskampagne gilt.


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Ja, das stimmt!)


So muss man sagen: Die Vorschläge, die hier auf dem
Tisch liegen, riechen eher nach symbolischer Präven-
tionspolitik. Ich finde – wir haben in der Debatte gerade
eben ein Beispiel dafür gesehen –, dass gesundheitspoli-
tische Luftnummern von der Großen Koalition bereits
ausreichend produziert wurden.

Es ist der Regierung – trotz großspuriger Ankündi-
gung – auch nicht gelungen, die Arbeitslosenversiche-
rung einzubinden. Dabei ist längst klar: Arbeitslose ha-
ben einen besonderen Bedarf an Präventionsangeboten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Wann kommen Sie zum Thema? Sie hatten doch einen Antrag!)


Die private Krankenversicherung, Frau Kollegin
Widmann-Mauz, hat sich mit einer Sonderabgabe freige-
kauft. Auch das kennen wir schon. Der gesundheitspoli-
tische Ablasshandel boomt – jetzt erstmals im Kontext
der Prävention.

Die von der Bundesregierung in Aussicht gestellten
Mittel in Höhe von 350 Millionen Euro sind nicht aus-
reichend. Bevor Sie etwas dazwischenrufen: Ich weiß,
dass wir zu rot-grünen Zeiten sogar noch etwas weniger
eingeplant hatten, aber Sie sind heute in einer anderen
Finanzsituation. Ich finde, dass man heute sehr wohl da-
rüber reden kann und muss, dass auch Steuermittel für
die Prävention genutzt werden müssen. Man sollte dann
höher einsteigen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Vor allem sollte man vorsehen, dass diese Mittel allmäh-
lich ansteigen.

Ich nenne einmal einen Vergleich. Im Gesundheitswe-
sen werden pro Jahr circa 250 Milliarden Euro veraus-
gabt. Die Bundesregierung rühmt sich, 0,14 Prozent aller
Ausgaben für die Gesundheit in die Prävention zu inves-
tieren. Wie gesagt, Steuermittel sind nicht einmal vorge-
sehen.

Deswegen kann ich nur sagen, dass wir Grüne Ihnen
das als Aufgabe geben. Wir brauchen ein Präventions-
gesetz, das seinen Namen verdient. Dazu gehört ein
bundesweites Entscheidungsgremium, das tatsächlich
Finanzverantwortung hat. Das muss keine Stiftung sein,
aber es muss jemanden geben, der steuert und lenkt. Wir
brauchen realistische Investitionen. 500 Millionen Euro
– ein Drittel davon Steuermittel – wären ein guter Aus-
gangspunkt. Wir brauchen echte Präventionskampagnen,
in die Bund, Länder und Kommunen eingebunden wer-
den und die mit konkreten Maßnahmen vernetzt werden.
Ein Wettbewerb um mehr Zweckmäßigkeit, Qualität und
Wirksamkeit in der Prävention ist notwendig.

Wir brauchen keine halbherzigen Aktionspläne und
Kampagnen. Deswegen sollten Sie sich an den Vorarbei-
ten aus der letzten Legislaturperiode orientieren. Dieser
Gesetzentwurf folgt leider dem altbekannten gesund-
heitspolitischen Motto dieser Koalition: Viel Lärm um
fast nichts. So laufen Sie jedenfalls nicht in die richtige
Präventionsrichtung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613411800

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun das Wort der

Kollege Hermann-Josef Scharf.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Hermann-Josef Scharf (CDU):
Rede ID: ID1613411900

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Gesund-
heit hat in unserer Gesellschaft einen hohen Wert. Im
Bewusstsein vieler Menschen ist sie eines der kostbars-
ten Güter. Dennoch hat der Präventionsgedanke, die Ver-
meidung von Krankheiten durch eine gesunde Lebens-
weise, nicht die Bedeutung, die er verdient. Die Zahl der
chronisch erkrankten Menschen nimmt zu. Jeder vierte
Bürger hat Herz-Kreislauf-Probleme, Millionen Bürger
klagen über Rückenschmerzen.

Besonders beunruhigend ist, dass viele Kinder und
Jugendliche bereits heute Alterskrankheiten wie Herz-
schwäche und Diabetes haben, weil sie sich falsch er-
nähren oder kaum noch bewegen. Es ist festzustellen,
dass sich selbstbewusste, informierte und eigenverant-
wortliche Bürger in Fragen der Gesundheit eher passiv
verhalten.

Gleichwohl gibt es bereits heute im Bereich der Pri-
mär-, Sekundär- und Tertiärprävention und der Gesund-
heitsförderung zahlreiche Angebote und Aktivitäten, die

14172 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


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Hermann-Josef Scharf
von der Bevölkerung gut angenommen werden. Ich kann
hier nur stellvertretend einige Beispiele nennen. Das Bo-
nusheft für den regelmäßigen Zahnarztbesuch fördert die
Früherkennung und hilft im wahrsten Sinne, Geld zu
sparen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Auch die Gruppenprophylaxe für Kinder und Jugend-
liche in Kindergärten und Schulen ist in allen Bundes-
ländern fest etabliert. Die Impfbereitschaft ist bei uns
vergleichsweise hoch. Seit der Gesundheitsreform haben
nun auch alle gesetzlich Versicherten einen Anspruch
auf die von der Ständigen Impfkommission empfohlenen
Leistungen. Bei unseren jüngsten Bundesbürgern stellen
wir leider einen erheblichen Nachholbedarf fest. Hier
müssen wir wieder stärker den Schutz vor einer lebens-
bedrohlichen Krankheit gegenüber möglichen Neben-
wirkungen kommunizieren.

Ebenso besteht wieder intensiver Aufklärungsbedarf
bei der Aidsprävention. Das gefährliche Virus hat seinen
Schrecken verloren, und wir verzeichnen einen erneuten
Anstieg der Zahl von Neuinfizierten. In diesem Bereich
müssen wir alle wieder mehr tun.

Die betriebliche Gesundheitsförderung ist ein gutes
Beispiel dafür, wie wir Menschen durch präventive
Maßnahmen in ihrem täglichen Lebensumfeld erreichen.
Die zum Teil sehr gute Zusammenarbeit zwischen Un-
ternehmen und verschiedenen Sozialversicherungsträ-
gern wollen wir als CDU/CSU-Fraktion im Gegensatz
zu dem vorgelegten Referentenentwurf nicht zerschla-
gen, sondern stärken und weiterentwickeln.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir möchten dieses erfolgreiche Modell auch auf an-
dere außerbetriebliche Settingbereiche wie Kindergär-
ten, Schulen und Pflegeheime ausdehnen. Das soll dann
ähnlich den Vorgaben zur betrieblichen Gesundheitsför-
derung im SGB V geregelt werden.

Neben diesen Settingmaßnahmen bieten immer mehr
Krankenkassen ihren Versicherten individuelle Ernäh-
rungs- und Bewegungsprojekte an und werben für mehr
Gesundheitsbewusstsein. Trotz dieser positiven Ent-
wicklung sehen wir als CDU/CSU-Fraktion die Notwen-
digkeit, der Prävention einen höheren Stellenwert zu ge-
ben. Mit einem Präventionsgesetz möchte meine
Fraktion auf bestehende Präventionsstrukturen auf-
bauen, diese stärken und besser vernetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann muss man dafür Instrumente finden!)


Dazu brauchen wir bundeseinheitliche Präventions-
ziele, an denen sich die vielfältigen Präventionsmaßnah-
men orientieren sollen. Gleichzeitig benötigen wir für
präventive Maßnahmen Qualitätsstandards, eine Quali-
tätssicherung und deren Evaluierung.

Die Verantwortlichen von Bund, Ländern und Kom-
munen, die Sozialversicherungsträger, aber auch die
Ärzte und andere Akteure im präventiven Bereich sollen
sich in einem Forum – wir schlagen vor, es „Nationaler
Rat für Prävention“ zu nennen – auf bundeseinheitliche
Ziele und Qualitätsrichtlinien verständigen.

Auf Landesebene wie auch auf kommunaler Ebene
wird die Umsetzung der Ziele mit den zuständigen Ak-
teuren koordiniert werden. Auch hier gibt es bereits
Strukturen wie die Landesarbeitsgemeinschaften, die
diese Aufgabe erfüllen können. In regelmäßigen Abstän-
den wird der Bundesregierung und dem Bundesrat ein
Bericht über die Umsetzung der aufgestellten Ziele vor-
gelegt.

Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen von Bünd-
nis 90/Die Grünen, auch Ihr Antrag, der dem vorgeleg-
ten Referentenentwurf aus dem Bundesministerium für
Gesundheit sehr ähnelt, sieht eine zentrale Geldsammel-
stelle vor, aus der dann vorbestimmte Maßnahmen finan-
ziert werden sollen. Dies lehnen wir strikt ab.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es ist nämlich ein Trugschluss, zu glauben, präventives
Verhalten von Menschen über zentralistisch verordnete
Maßnahmen zu entwickeln.


(Zuruf von der FDP: Was machen Sie denn?)


Ganz im Gegenteil: Wir brauchen die von mir schon
skizzierten individuellen und vielfältigen Ansätze und
Maßnahmen unterschiedlichster Akteure, um die Men-
schen auch in ihren sehr vielfältigen und unterschiedli-
chen Lebenssituationen zu erreichen. Wenn wir es ernst
damit meinen, Prävention als eine gesamtgesellschaftli-
che Aufgabe zu begreifen, dann können wir das nicht
nur den Sozialversicherungsträgern überlassen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der FDP: Wem nehmen Sie denn das Geld aus der Tasche?)


Ich erinnere mich, dass wir vor gut einem Jahr einen
Antrag für mehr Sport und Bewegung in Deutschland
debattiert haben. Vor nicht allzu langer Zeit war die zu-
nehmende Fehlernährung bei Kindern und Jugendlichen
ein Thema in diesem Hohen Hause. Ich meine, da gibt es
noch viel Handlungsbedarf, was beispielsweise den
Sportunterricht an den Schulen oder das Bildungsdefizit
bei Ernährungsfragen von Kindern und Jugendlichen be-
trifft. Auch beim öffentlichen Gesundheitsdienst gibt es
meines Erachtens in Sachen Prävention noch viel unge-
nutztes Potenzial.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)


Bei den Früherkennungsuntersuchungen für Kinder
ist in den letzten Monaten vieles in Bewegung gekom-
men. In meinem Heimatland, dem Saarland, haben wir
beispielsweise ein Projekt gestartet, bei dem die Hebam-
men junge Mütter bei Bedarf und Wunsch auch über die
vorgesehene Zeit von acht Wochen nach der Geburt bis
zu zwei Jahren weiter betreuen können.


(Zuruf von der SPD: Wer zahlt?)


Wir stellen fest, dass dieses Angebot sehr gut angenom-
men wird, wahrscheinlich weil die Hebamme für viele
Mütter eine besondere Bezugsperson darstellt.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14173


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Hermann-Josef Scharf
Meine Damen und Herren, Prävention ist eine ge-
samtgesellschaftliche Aufgabe, die eine verstärkte Zu-
sammenarbeit von Bund, Ländern und Kommunen er-
fordert, alle gesellschaftlichen Bereiche betrifft, aber
auch jeden Bürger selbst fordert.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb setzen wir uns als CDU/CSU-Fraktion für ein
Präventionsgesetz ein, das auf vorhandene Strukturen
aufbaut, auf umständliche und bürokratische Fondskon-
strukte verzichtet und mit dazu beiträgt, in Deutschland
eine breite Präventionskultur zu entwickeln.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613412000

Der nächste Redner ist der Kollege Detlef Parr für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Detlef Parr (FDP):
Rede ID: ID1613412100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unser

Gesundheitssystem muss ganz schön instabil sein. Nach
Auffassung der Bundesregierung braucht es jetzt ein
viertes Standbein, eine vierte Säule – die Prävention –,
damit der Gabentisch nicht länger wackelt, ein Gaben-
tisch, der aus fremden Taschen finanziert werden soll.
Das ist eine Weihnachtsüberraschung zulasten Dritter, an
der sich jetzt auch noch die Grünen und die Linken be-
teiligen wollen. Wie spendabel! Mit dem Geld anderer
Leute, nämlich dem Geld der Beitragszahler, lassen sich
gut Wohltaten verteilen.

Man höre und staune: Im Rahmen eines Präventions-
gesetzes sollen, so die Grünen, in der Startphase jährlich
500 Millionen Euro – mit einer Steigerungsrate von
10 Prozent in den Folgejahren – verausgabt werden. Die
Linken setzen natürlich noch einen drauf; die haben ja
die Maschine zum Gelddrucken. Zusätzlich zum Start
aus dem Bundeshaushalt sollen in den nächsten vier Jah-
ren jeweils 1 Milliarde Euro an einen Fonds überwiesen
werden, damit anschließend das Geld des Beitragszah-
lers wieder verteilt werden kann – schön bürokratisch
mit den damit verbundenen Zusatzkosten, als ob wir in
einem Präventionsnotstandsgebiet leben würden.


(Beifall bei der FDP – Zuruf von der LINKEN: Das sind Bundesmittel!)


In Deutschland herrscht kein Präventionsnotstand.
Zahlreiche Angebote zu unterschiedlichsten Bereichen
der Primär- und Sekundärprävention sowie der Gesund-
heitsförderung existieren seit geraumer Zeit:


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, alle schön nebeneinander!)


Die Aufklärungskampagnen, Frau Bender, seitens der
BZgA haben Sie erwähnt. Impfaktionen laufen. Die
zahnmedizinische Kollektiv-, Gruppen- und Individual-
prophylaxe hat dazu geführt, dass die Zahngesundheit in
unserer Bevölkerung so gut ist wie noch nie.

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine reine Idylle!)


Es gibt Bonusmodelle, Vorsorgeuntersuchungen durch
die Krankenkassen sowie Projekte der betrieblichen Ge-
sundheitsförderung. Immer mehr Unternehmen entdecken
deren Bedeutung für das Klima im Unternehmen
– Stichwort: emotionale Gesundheitsförderung – und die
Leistungsfähigkeit der Belegschaften. Weiterhin gibt es
Unterstützung von Selbsthilfegruppen mit finanziellen
Mitteln der gesetzlichen Krankenversicherung, Ernäh-
rungsberatung, Bewegungs- und Ernährungsprogramme
in Schulen und Kindergärten sowie kommunale Integra-
tionsprogramme für Migrantinnen und Migranten, und
das alles ohne gesetzliche Zwangsmaßnahmen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Es geht doch!)


Die Mitgliederversammlung des Deutschen Olympi-
schen Sportbundes, DOSB, vom vergangenen Wochen-
ende stand unter dem Motto „Sport bewegt“. Millionen
Ehrenamtliche in unseren Vereinen sind auf diesem Weg.
Millionen spielen bereits mit. Wir brauchen keine ge-
setzliche Volksbeglückung von Staats wegen.


(Beifall bei der FDP)


Prävention, verstanden als aktive Gesundheitsvorsorge,
ist primär eine individuelle Herausforderung. Jeder Ein-
zelne ist dafür verantwortlich, durch eine gesundheits-
bewusste Lebensweise der Entstehung von Gesundheits-
risiken vorzubeugen, qualitätsgesicherte Angebote
sachgerecht zu nutzen und bei bereits vorhandenen
Krankheiten durch ein verantwortungsbewusstes Verhal-
ten dazu beizutragen, dass eine Besserung erreicht oder
eine Verschlimmerung vermieden werden kann. Jeder
Einzelne von uns hat zudem eine Vorbildfunktion für un-
sere Kinder.

Es ist allerdings eine gesamtgesellschaftliche Auf-
gabe, die Bedeutung von Prävention und Gesundheits-
förderung zu verdeutlichen.


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!)


Wir müssen zielgerichteter die Menschen, die von sich
aus, ohne Hilfe, nicht zu einem gesundheitsbewussten
Leben in der Lage sind, unterstützen.


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und wie macht man das?)


Frau Bender, die Finanzierung darf deshalb nicht alleine
auf die Kranken- bzw. die Sozialversicherung zentriert
werden. Bereits vorhandene Einrichtungen auf den Ebe-
nen des Bundes, der Länder, der Kommunen sowie der
Sozialversicherung und der Heilberufe müssen jeweils
für sich und ihren Verantwortungsbereich ihre Aufgaben
ohne staatliche Eingriffe weiterhin wahrnehmen und
weiterentwickeln dürfen. Sie allein bleiben für die ein-
zelnen Präventionsbereiche zuständig und für die Finan-
zierung verantwortlich. Bewährte Kooperationen zum
Beispiel zwischen Sportverbänden, Vereinen und Kran-
kenkassen müssen uneingeschränkt weitergeführt wer-
den. Sie dürfen nicht neuen, übergeordneten Steuerun-
gen zum Opfer fallen.

14174 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


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Detlef Parr
Lassen Sie mich zum Schluss noch Folgendes heraus-
stellen: Das Arzt-Patienten-Verhältnis ist von besonde-
rem Vertrauen geprägt und spielt bei künftigen Überle-
gungen eine wichtige Rolle. Die hier vorhandenen
Kompetenzen und Möglichkeiten müssen wir optimal
nutzen und zielgerichtet ausbauen, weil Verhaltensände-
rungen unser Ziel sind, weil ein breites öffentliches Be-
wusstsein entstehen muss, dass Sport und Bewegung so-
wie eine angemessene Ernährung in Einklang stehen
müssen und wie selbstverständlich zu unserem Alltag
gehören sollten. Voraussetzung ist ein Ausbau der „spre-
chenden“ Medizin. Diese müssen wir dann aber auch
entsprechend honorieren.

Statt eine Euro-Umverteilungsmaschinerie in Gang zu
setzen, lassen sie uns die vorhandenen Ressourcen, die
begrenzt sind, bei allen Beteiligten auf die Verhinderung
von vermeidbaren, besonders belastenden und teuren
Krankheiten, auf Kinder und Jugendliche sowie auf so-
zial benachteiligte Gruppen konzentrieren. Unsere Ge-
sellschaft muss – Frau Bender, darüber müssten wir uns
eigentlich einig sein – mehr von der Hilfe zur Selbsthilfe
als von staatlich verordneten Programmen leben. Alle
Staatsgläubigen in diesem Hause sollten sich an die
Worte erinnern: Wenn du eine helfende Hand suchst, du
findest sie zunächst am Ende deines eigenen Armes.

Danke fürs Zuhören.


(Beifall bei der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1613412200

Für die SPD-Fraktion hat nun das Wort der Kollege

Peter Friedrich.


(Beifall bei der SPD)



Peter Friedrich (SPD):
Rede ID: ID1613412300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Herr Parr, Ihre Rede war zweigeteilt. Sie haben
zuerst erklärt, welche Maßnahmen im Hinblick auf Ko-
ordinierung, Zielbindung und Vereinheitlichung unnötig
sind. Dann haben Sie auf die Defizite und die Stellen
aufmerksam gemacht, an denen dringend gegengesteuert
werden müsste. Das alles passt nicht zusammen. Sie ha-
ben die Gruppenprophylaxe gelobt. Dem stimme ich
ausdrücklich zu. Dahinter steht aber eine Struktur, die
weitestgehend dem entspricht, was nun zur Debatte
steht.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Gelder sollen konzentriert werden. In der Prävention soll
einheitlich und gemeinsam gehandelt werden.


(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Aber freiwillig! Das ist ein großer Unterschied!)


Nicht jeder darf machen, was er will. Vielmehr geht es
um Zusammenarbeit und Kooperation. In diesem Be-
reich gibt es auch steuernde Elemente. Ganz so freiwillig
ist es wohlgemerkt nicht; denn auch hier gibt es entspre-
chende gesetzliche Regelungen. Wenn Sie also die Grup-
penprophylaxe loben, müssten Sie eigentlich mit den zur
Diskussion stehenden Vorschlägen sehr zufrieden sein
und sie unterstützen.

Die einen sagen: Ich weiß gar nicht, was ihr habt. Es
läuft doch alles wunderbar. Es gibt unendlich viele Prä-
ventionsbemühungen und großes ehrenamtliches Enga-
gement vor Ort. Mehr bedarf es nicht. – Es ist richtig,
dass es das gibt. Wir sind stolz darauf und denjenigen
dankbar, die sich in diesem Bereich ehrenamtlich enga-
gieren. Sie leisten einen großen Beitrag zur Gesund-
erhaltung der deutschen Bevölkerung.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613412400

Kollege Friedrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Dr. Schily?


Peter Friedrich (SPD):
Rede ID: ID1613412500

In Anbetracht der Tagesordnung und der Tatsache,

dass der Kollege Gysi später noch sprechen wird, ver-
zichte ich im Hinblick auf die anstehende Heimreise der
Kolleginnen und Kollegen darauf. Es ist wohl nicht das
letzte Mal, dass wir über dieses Thema diskutieren.


(Detlef Parr [FDP]: Aber Sie sollten unsere Beiträge auch verstehen, Herr Kollege!)


– Ich bin stets darum bemüht, Herr Parr. Aber Sie müs-
sen sich auch verständlich ausdrücken.

Auf der anderen Seite hilft es nichts, alles zu loben
und zu sagen: Weil es so gut läuft, bedarf es keiner Ko-
ordinierung der Zielvorgaben. – Ich glaube, beides
bringt nichts.

Prävention ist aus Sicht der SPD die zentrale Zu-
kunftsaufgabe des deutschen Gesundheitswesens, wenn
wir der Anforderung, nachhaltige Politik zu betreiben,
gerecht werden wollen. Ich glaube, dass die immer wie-
der aufbrandende Diskussion darüber, ob man ein kapi-
talgedecktes oder ein umlagefinanziertes System bevor-
zugt, letzten Endes den Blick auf die zentralen
Herausforderungen an die Zukunftsfähigkeit des deut-
schen Gesundheitswesens verstellt.

Wenn wir jedem Menschen dauerhaft den Zugang zu
hochwertiger Medizin auf dem neuesten Wissensstand
bieten wollen, dann müssen wir – gerade in einer älter
werdenden Gesellschaft – dafür sorgen, dass immer
mehr Menschen möglichst lange gesund sind, damit im-
mer weniger Menschen diesen Zugang in Anspruch neh-
men müssen. Prävention bedeutet, Krankheit zu vermei-
den, Krankheitsschwere zu verringern, Krankheitsdauer
zu verkürzen. Besonders wichtig ist: Prävention bedeutet
für den Menschen, der präventiv tätig ist, also für seinen
Körper, für seine Gesundheit etwas tut, auch einen Zuge-
winn an Lebensqualität.

Wir haben in der Großen Koalition in der Tat noch ei-
nen sehr großen Diskussionsbedarf. Das haben Sie an
den Redebeiträgen schon gemerkt. Ich dachte eigentlich,
wir sprechen über die vorliegenden Anträge. Frau
Bender hat sich lieber an dem Referentenentwurf abge-
arbeitet. Lassen Sie mich Folgendes sagen: Ich finde
schon, dass die Fantasie, die man für die vorliegenden
Anträge aufgebracht hat, sich im Wesentlichen in dem

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14175


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Peter Friedrich
erschöpft, was in der letzten Legislatur auf den Weg ge-
bracht worden ist. Das Einzige, was dem hinzugefügt
wird, ist, dass Sie wollen, dass mehr Geld ausgegeben
wird. Bündnis 90/Die Grünen möchte, dass 500 Millio-
nen Euro ausgegeben werden. Die Linke verlangt – als
Ausdruck der nach unten offenen Richterskala der Serio-
sität –,


(Michael Leutert [DIE LINKE]: Starker Tobak!)


dass sogar 1 Milliarde Euro mehr zur Verfügung gestellt
wird; dieses Geld soll an einen Fonds überwiesen wer-
den. Eines finde ich toll: Was den Sprachgebrauch an-
geht, gleichen Sie sich der Gesundheitsreform an: Sie
selber fordern die Einrichtung von Fonds. Das ist ein be-
merkenswerter Lernfortschritt aufseiten der Linken.

Wir müssen uns mit der Frage beschäftigen – da gebe
ich dem Kollegen Scharf recht –, wie wir dafür sorgen
können, dass auf den schon vorhandenen Anstrengungen
aufgebaut wird und dass wir tatsächlich zu einem ein-
heitlichen Vorgehen finden. Es gibt eine große Zahl an
Präventionsanstrengungen. Das Problem ist nur – wir
müssen doch ehrlich miteinander umgehen –: Wir errei-
chen heute im Wesentlichen diejenigen, die ohnehin ein
hohes Gesundheitsbewusstsein haben, die ohnehin eine
hohe Affinität zu Prävention haben.


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die, die sich selber helfen können! Die FDP da!)


Momentan wird Prävention seitens der Krankenkassen
sehr stark dafür eingesetzt, Menschen, die ohnehin aktiv
sind, ein Zuckerle anzubieten. Von Prävention profitie-
ren eben nicht diejenigen, die sie am meisten brauchen.
Dass sich das ändert, das müssen wir erreichen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich füge ganz bewusst hinzu: Mit Blick auf einige
Auswüchse müssen wir Präventionsleistungen davon be-
freien, ein Nischendasein zu führen und Marketingin-
strumente der Krankenkassen zu sein. Es kann nicht sein,
dass man denjenigen, die ohnehin aktiv sind – sozusagen
den Besten der Besten, den freiwillig Versicherten –,
noch eine Dampferfahrt anbietet, während für diejeni-
gen, die Prävention am dringendsten brauchen – seien es
sozial Schwache, seien es Menschen mit einem Migra-
tionshintergrund, seien es Arbeitslose etc. –, nichts ge-
macht wird.


(Frank Spieth [DIE LINKE]: Ross und Reiter nennen! – Detlef Parr [FDP]: Das ist doch an der Realität vorbei, Herr Kollege!)


Diesen Zustand müssen wir beenden.


(Beifall der Abg. Elke Ferner [SPD] – Frank Spieth [DIE LINKE]: Ross und Reiter nennen!)


Deswegen wollen wir auf der nationalen Ebene ein-
deutige Präventionsziele formulieren, mit denen wir uns
genau mit diesen Fragen auseinandersetzen können: Wie
können wir erreichen, dass weniger Kinder aus Familien
mit einem niedrigeren sozialen Status an Adipositas er-
kranken? Wie können wir Rauchentwöhnung fördern?
Wie können wir Arbeitslosen Setting-Ansätze anbieten?
Das alles wird über die nationalen Präventionsziele ge-
leistet werden müssen. Was wir brauchen, ist die Bünde-
lung von Mitteln, die vor Ort eingesetzt werden, damit
wir tatsächlich allen Leistungen anbieten können und
nicht nur derjenigen Klientel, die für die jeweiligen Trä-
ger interessant ist.

Schauen wir uns einmal an, welche Expertenberichte
uns vorliegen, in denen besondere Anforderungen be-
handelt werden! Gestern Mittag wurde hier im Deut-
schen Bundestag über Kindeswohlgefährdungen debat-
tiert. Im ganzen Haus besteht Konsens darüber, dass ein
Kind das Recht hat, gesund aufzuwachsen. Das heißt
aber nicht nur, es vor Missbrauch, Gewalt oder Verwahr-
losung zu schützen, sondern auch, dafür zu sorgen, dass
jedes Kind in diesem Land gleiche Gesundheitschancen
hat.


(Beifall bei der SPD)


In der KiGGS-Studie wird ein eindeutiger Zusam-
menhang zwischen sozialem Status, Bildungsstatus und
Gesundheit hergestellt. Als Menschen mit sozialer Ver-
antwortung dürfen wir alle doch nicht zulassen, dass die
Lotterie der Natur, also die Familie, in die man hineinge-
boren wird, über Lebenserwartung und gesundheitliche
Zukunftschancen entscheidet. Wir brauchen ein Präven-
tionsgesetz, damit diese soziale Schere nicht weiter aus-
einander geht.

Ein anderes Handlungsfeld. Wir haben in dieser Wo-
che im Ausschuss das Gutachten des Sachverständigen-
rats behandelt. Schauen Sie doch einmal nach, was darin
zum Thema Arbeitslose und dazu, was dort geschehen
muss, steht! Sie werden erkennen: Es funktioniert nur
über Setting-Maßnahmen. Nur über solche Maßnahmen
schafft man es, die komplette Lebenswelt abzubilden,
psychische wie somatische Erkrankungen gemeinsam,
das heißt über eine große Bandbreite, anzugehen.

Einer der Punkte, die wir noch diskutieren, auch in
der Großen Koalition, auch zwischen SPD-Fraktion und
Ministerium, ist: Wie bekommen wir alle Träger, auch
die Bundesagentur für Arbeit, mit hinein? Wir als SPD-
Fraktion werden auf keinen Fall zulassen, dass jeder Trä-
ger weiterhin einfach vor sich hin wurstelt.


(Beifall der Abg. Elke Ferner [SPD] sowie der Abg. Dr. Margrit Spielmann [SPD])


Wir wollen einheitliche Präventionsziele in einer defi-
nierten Qualität, die die Krankenkassen, gesetzliche wie
private, die Rentenversicherung, die Arbeitsagentur und
die Unfallversicherung gemeinschaftlich und abge-
stimmt zu Präventionsleistungen bringen. Wer Setting-
Maßnahmen will, muss auch gemeinschaftliche Veranla-
gung von Mitteln wollen. Anders ist das nicht zu haben.


(Beifall bei der SPD – Frank Spieth [DIE LINKE]: Wo bleibt der öffentliche Anteil? – Detlef Parr [FDP]: Gemeinsam, einheitlich, in Vielfalt!)


14176 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


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Peter Friedrich
Wir werden aber auch abwägen müssen: Wie viel
können wir über das Gesetz schon vorstrukturieren? Wie
schaffen wir es, vor Ort noch so viel Bewegungsfreiheit
zu erhalten, dass die jeweiligen Träger tatsächlich arbei-
ten können?


(Detlef Parr [FDP]: Die Frage des Freiheitserhalts stellen Sie sich auch schon!)


Deswegen wollen wir, dass auf Landesebene entschie-
den und gesteuert werden kann, wobei Bund, Länder und
Kommunen beteiligt werden und eben nicht, wie in den
Anträgen jetzt vorgesehen ist, alles von der Bundes-
ebene einheitlich nach unten angeordnet wird, am besten
noch die jeweilige Zahlung.


(Frank Spieth [DIE LINKE]: Sind Sie auch für einen steuerfinanzierten Beitrag?)


Mit dem Referentenentwurf haben wir, glaube ich,
eine gute Diskussionsgrundlage. Wir als SPD wollen
noch eine ganze Reihe von Punkten hineinbringen. Wir
werden nicht darum herumkommen, zu sagen: Wir wol-
len tatsächlich auch Mittel zusammenbringen.

In diesem Sinne freue ich mich auf die Debatte im
nächsten Jahr. Ich wünsche Ihnen allen eine schöne
Weihnacht. Achten Sie am Festtagstisch ein bisschen auf
Ihre Gesundheit!


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613412600

Das Wort hat die Kollegin Dr. Martina Bunge für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Martina Bunge (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613412700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Alle Jahre wieder kommt nicht nur Weihnachten, son-
dern auch eine Debatte über das Präventionsgesetz.

Aber mal im Ernst: Der größte Weihnachtswunsch der
Deutschen ist in diesem Jahr Gesundheit und Wohlbefin-
den. Das ergab eine Umfrage, pikanterweise der Nord-
westdeutschen Klassenlotterie. Dieser Wunsch ist aber
nicht mit Geld zu erfüllen. Die Bundesregierung hätte
dies allerdings tun können, und zwar – endlich – mit der
offiziellen Vorlage des Präventionsgesetzes. Stattdessen
gibt es auch hierüber Streit zwischen den Koalitionsfrak-
tionen. So sahen sich die Oppositionsfraktionen zu eige-
nen Anträgen genötigt. Auch die Linke hat in dieser Wo-
che ihre Vorstellungen auf den Tisch des Hauses gelegt.

Ich denke, dass das schon eine groteske Situation ist
– wir haben es eben wieder gemerkt –: Über alle Partei-
und Fraktionsgrenzen hinweg, überall im Land, in allen
Debatten sind wir uns über die Erfordernisse einig, aber
es passiert nichts – seit Jahren. Warum? Ich denke, an
dieser Stelle bündeln sich alle Umstände, die einem ver-
nünftigen präventiven Gesundheitssystem in der Bun-
desrepublik im Wege stehen.

Erstens. Im Wege steht meines Erachtens – das ist
auch ein Grund – ein Lobbyismus, der zu teure Arznei-
mittel vor Gesundheitsförderung und Prävention sowie
vor alternative Methoden stellt.

Zweitens. Es wird gesagt – das haben wir gerade von
der FDP gehört, dass wir eine weitverzweigte Sozialge-
setzgebung haben, die Prävention einschließt; wir
bräuchten also nichts zu tun.

Drittens ist ein Politikstil zu nennen – daher wieder
der Streit –, der die Parteiräson vor die Fachlichkeit
stellt. Das Ergebnis: Wir haben wieder Stillstand.

Ich vermute – das ist nicht erst seit heute so –, dass
die Koalition nicht in der Lage ist, ein Präventionsgesetz
zustande zu bringen, auch wenn es jetzt einen unabge-
stimmten Referentenentwurf gibt.

Fortschrittliche Gesundheitspolitikerinnen, -politiker
und -akteure sowie viele andere wissen, was nötig ist:
Gesundheitsförderung ein Leben lang. An dieser Stelle
brauchen wir wirklich einen Quantensprung. Deshalb
schlagen wir vor, zu Beginn 1 Milliarde Euro aus dem
Haushalt für einen Fonds zur Verfügung zu stellen. Ein
Fonds ist nicht a priori schlecht, Herr Friedrich; das sa-
gen auch wir. Die Frage ist vielmehr, wie er ausgestaltet
wird. Das ist der Knackpunkt.

Gesundheit ist – das wissen wir alle – die grundle-
gende Voraussetzung für die Teilhabe eines jeden, einer
jeden. Die Förderung der Gesundheit hat damit de facto
Verfassungsrang. Es ist ein Gebot der Menschlichkeit,
hier etwas zu tun. Aber die Politik versagt.

Eine Binsenweisheit ist inzwischen, dass die soziale
Lage den entscheidendsten Einfluss auf die Gesundheit
hat. Wer arm ist, ist häufiger krank, stirbt früher. Die
Einflüsse des Arbeitsmarktes, der Einkommensvertei-
lung, der Bildungspolitik sind zugestandenermaßen so
groß, dass Prävention allenfalls Gegenakzente setzen
kann. Aber dann beschließen wir doch bitte schön zu-
mindest dieses Präventionsgesetz, auch wenn darüber
hinaus eine veränderte, gesundheitsfördernde Gesamtpo-
litik gefragt wäre.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber auf die Realisierung einer solchen Politik haben
wir bei diesen Konstellationen letztlich keine Hoffnung.

Wir hören Berichte von zu dicken, bewegungsfaulen
und ungelenken Kindern. Wir wissen um die ernäh-
rungsbedingten Ursachen der Volkskrankheiten, die sich
immer mehr ausbreiten. Die WHO sieht die seelische
Gesundheit in Gefahr und prophezeit, dass psychische
Erkrankungen in Zukunft den größten Anteil haben wer-
den. Das alles schreit doch nach flächendeckender und
dauerhafter Gesundheitsförderung und Prävention. Sie
muss endlich eine feste Säule im Gesundheitssystem
werden. Ich denke, statt Aktionismus gilt hier, endlich
etwas zu tun. Ein Appell an die Eigenverantwortung
reicht nicht. Das geht nur über ein entsprechendes Ge-
setz.

Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen schöne Weih-
nachten.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14177


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Martina Bunge

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Peter Friedrich [SPD]: Für „schöne Weihnachten“ gibt es Applaus!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613412800

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/7284 und 16/7471 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a und 35 b auf:

a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD

Menschenrechte in der ASEAN-Staatenge-
meinschaft stärken

– Drucksache 16/7490 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen),
Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Die Menschenrechte der Uiguren schützen

– Drucksache 16/7411 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss

Ich bitte diejenigen, die aus unerfindlichen Gründen
nicht mehr an dieser Debatte teilhaben wollen, trotz alle-
dem die notwendige Ruhe herzustellen, damit die Kolle-
ginnen und Kollegen, die an dieser Debatte teilnehmen,
verstanden werden.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Christel Riemann-Hanewinckel für die SPD-Frak-
tion.


(Beifall bei der SPD)



Christel Hanewinckel (SPD):
Rede ID: ID1613412900

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Der 10. Dezember ist der Tag der Menschen-
rechte. Vor 59 Jahren wurde die Allgemeine Erklärung
der Menschenrechte von den Vereinten Nationen verab-
schiedet. Fast 60 Jahre nach dieser Erklärung ist es welt-
weit um die Menschenrechte trotzdem noch immer nicht
gut bestellt.

Die Koalition bringt heute einen Antrag ein, der sich
mit der Situation in Südostasien beschäftigt. Vor gut drei
Wochen – Sie erinnern sich vielleicht – hat die Öffent-
lichkeit dorthin geschaut und sehr gespannt die Entwick-
lungen während des letzten ASEAN-Gipfels beobachtet.
Der Verband südostasiatischer Nationen ist vor 40 Jah-
ren während des Kalten Krieges als Bollwerk gegen den
Kommunismus in dieser Region gegründet worden.
Aber in dieser Rolle hat ASEAN längst ausgedient.
ASEAN hat sich verändert und – so sagen es die Staaten
selber – will sich weiterentwickeln.

Die EU ist den ASEAN-Staaten in vielem ein Vorbild.
Ihren Integrationsgrad allerdings strebt ASEAN nicht
an. Das ist auch sehr schwierig; denn die kulturellen,
wirtschaftlichen und politischen Unterschiede der Mit-
gliedstaaten sind viel zu groß. Länder mit einer relativ
etablierten Demokratie wie die Philippinen wehren sich
heftig dagegen, Souveränität mit einem Militärregime
wie Birma zu teilen und damit in die Nähe solcher dikta-
torischen Regierungen gerückt zu werden.

Das wohlhabende Malaysia hat nur wenig Interesse,
die Entwicklungskluft zu den wesentlich ärmeren Län-
dern wie Kambodscha oder Laos durch Umverteilung zu
verringern.

Die ASEAN-Staatengemeinschaft hat auf ihrem letz-
ten Gipfel in Singapur im November 2007 eine Charta
unterzeichnet. Die großen Erwartungen, die in diese
Charta gesetzt wurden, haben sich bisher nicht erfüllt.
Die Charta verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Stärkung
von Demokratie, zu Rechtstaatlichkeit und guter Regie-
rungsführung sowie zur Achtung der Menschenrechte.
Das bedeutet ja gleichzeitig, die Menschenrechte zu
schützen und zu fördern. Schließlich werden in der
Charta verfassungswidrige Regierungswechsel abge-
lehnt. Das ist ein an sich eindrucksvoller Katalog. Im
gleichen Atemzug aber, wie diese Verpflichtungen be-
schlossen wurden, wurden sie durch zahlreiche Prinzi-
pien und Verfahrensregeln neutralisiert.

Dazu gehört einmal, dass aus Sicht der ASEAN-Staa-
ten das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren An-
gelegenheiten eines Staates unantastbar ist.

Die Charta sieht dann die Einrichtung einer Men-
schenrechtskommission vor; welche Befugnisse sie aber
erhalten wird, das bleibt abzuwarten. Denn die Charta
enthält zum Beispiel keine Mechanismen, mit denen ge-
gen Staaten Sanktionen verhängt, sie suspendiert oder
ausgeschlossen werden können, wenn sie gegen die
Charta verstoßen.

Außerdem bleibt es beim Konsensprinzip. Das heißt:
Zehn Staaten, die unterschiedlicher nicht sein könnten,
müssen ihre Entscheidungen einstimmig treffen.

Zu welcher für uns in Deutschland und Europa in-
akzeptablen Situation das führen kann, hat dann auch
Birma sehr eindrücklich während des Gipfels in Singa-
pur gezeigt. Sie erinnern sich vielleicht: Der UN-Ge-
sandte Gambari sollte über seine jüngsten Vermittlungs-
ergebnisse unterrichten, aber er wurde auf Drängen
Birmas wieder ausgeladen. Die Art und Weise, wie es
der Militärjunta Birmas gelungen ist, ASEAN als durch-
setzungsschwach hinzustellen, macht deutlich, dass
diese Charta, die sich zwar gut liest, für die Menschen-
rechte wenig bewirken wird.

14178 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Christel Riemann-Hanewinckel
Ob die Charta jemals rechtsgültig werden wird, bleibt
offen, denn für die Ratifizierung gibt es keinerlei Fristen.
Die Philippinen haben große Bedenken geäußert, eine
Ratifizierung vorzunehmen, solange das Militärregime
in Birma keinerlei Bemühungen unternimmt, demokrati-
sche Strukturen einzuführen.

Der ASEAN-Staatenverbund steht vor der Herausfor-
derung, die eingebüßte Glaubwürdigkeit zurückzuge-
winnen. Wenn sie sich wirklich darum bemühen wollen,
dann sollten Deutschland und auch Europa Unterstüt-
zung anbieten. Die Staaten in Südostasien, die sich in der
Charta zur Achtung der Menschenrechte verpflichtet ha-
ben, werden nur glaubwürdig, wenn sie den beiden
grundlegenden Menschenrechtspakten – dem Zivilpakt
und dem Sozialpakt – beitreten, wenn sie die Todesstrafe
abschaffen, wenn sie rechtsstaatliche Systeme aufbauen,
wenn sie Kinder vor Gewalt und Zwangsarbeit schützen
und nicht zulassen, dass Kindersoldaten rekrutiert wer-
den,


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


wenn sie den Frauen zu ihren Rechten verhelfen, indem
sie das Palermo-Protokoll und das Zusatzprotokoll zu
CEDAW unterzeichnen und ratifizieren, wenn sie reli-
giöse und ethnische Minderheiten respektieren und
schützen und wenn sie konsequent gegen Machtmiss-
brauch und Korruption vorgehen.

Meine Damen und Herren, wir können und müssen
den EU/ASEAN-Dialog nutzen. Dadurch können wir die
Verwirklichung der Menschenrechte in den ASEAN-
Staaten voranbringen.

Ich danke an dieser Stelle den politischen Stiftungen
und Organisationen, die durch ihre Arbeit vor Ort die
Zivilgesellschaft stärken.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])


Für das Wachstum jeder Demokratie ist die Zivilgesell-
schaft als Basis unentbehrlich.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss
möchte ich auf die Konsequenzen unserer Birma-De-
batte vom 10. Oktober 2007 und unseres damals gemein-
sam beschlossenen Antrages hinweisen. Unsere Forde-
rung hatte zur Folge, dass sich die Entscheidungspraxis
im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geändert
hat


(Michael Leutert [DIE LINKE]: Dann war es doch richtig, dass wir darüber gesprochen haben! – Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wirft aber auch ein Licht auf das Bundesamt!)


und Flüchtlinge aus Birma inzwischen nicht mehr ausge-
wiesen werden.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dieser Erfolg des Deutschen Bundestages macht deut-
lich, dass es sinnvoll und notwendig ist, auch bei schein-
bar kleinen Dingen immer wieder sehr genau hinzusehen
und gemeinsam entsprechende Entscheidungen zu tref-
fen.

Ich bin gespannt auf die Debatte im Ausschuss über
unseren Antrag. Vielleicht gelingt es uns – ich habe da
große Hoffnung –, alle davon zu überzeugen, diesem
Antrag zuzustimmen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613413000

Das Wort hat der Kollege Florian Toncar für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Florian Toncar (FDP):
Rede ID: ID1613413100

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Die Menschenrechtsdebatte nach dem Tag der
Menschenrechte ist traditionell eine Aussprache über die
Menschenrechtspolitik im Allgemeinen. So will ich das
auch heute halten. Ich kann Ihnen zusagen, dass wir die
beiden vorliegenden Anträge im Ausschuss mit Wohl-
wollen mitberaten werden. Darin finden wir viele
Punkte, die wir teilen.

Ich glaube, dass es bitter nötig ist, dass nach dem
Streit der letzten Wochen und Monate über die Men-
schenrechtspolitik, der über die Parteitage und Medien
ausgetragen worden ist, sich auch der Bundestag einmal
mit der Thematik und dem Streitgegenstand beschäftigt.
Denn es ist kein alltäglicher Vorgang für die Menschen-
rechtspolitiker, wenn die Kanzlerin und der Vizekanzler
in dieser Frage, vor allen Dingen was die Methoden an-
geht, nicht einer Meinung sind.

Was hat sich getan? Anders als die rot-grüne Regie-
rung legt die Bundeskanzlerin derzeit in der Außenpoli-
tik ein starkes Gewicht auf die Menschenrechte. Da hat
sie die Unterstützung der FDP.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die rot-grüne Bundesregierung wollte China mit Waffen
beliefern. Frau Merkel empfängt den Dalai Lama.
Gerhard Schröder hofierte den russischen Autokraten
Putin. Frau Merkel hält da eine angemessene Distanz
und trifft sich auch mit Regimekritikern.


(Michael Leutert [DIE LINKE]: Das ist da doch kein Regime!)


Diese deutlichen Zeichen bedeuten schon eine ganze
Menge.

Der Bundesaußenminister kritisiert nun diesen neuen
Stil als Schaufensterpolitik. Er klagt über den Boykott
des Rechtsstaatsdialogs durch die Chinesen. Dazu muss
man sagen: Wenn es so ist, dass für die Chinesen der
Rechtsstaatsdialog eine einseitige Sache ist – quasi ein

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14179


(A) (C)



(B) (D)


Florian Toncar
Geschenk, ein Zugeständnis an Deutschland –, dann
zeigt dies, dass wir den Sinn und den Zweck dieses Dia-
loges noch nicht ausreichend vermittelt haben. Wenn die
Chinesen nicht der Meinung sind, dass ihr eigener Staat
von diesem Dialog massiv profitiert, dann sind wir mit
diesem Dialog noch nicht so weit, wie wir es uns eigent-
lich erhofft haben.


(Beifall bei der FDP)


Der Außenminister sagt, manchmal sei stille Diplo-
matie gefragt. Damit spricht er etwas Richtiges aus.
Aber im Grunde genommen ist es auch etwas sehr Tri-
viales. Denn natürlich muss man manchmal still vorge-
hen, wenn man ein gutes Ergebnis erreichen will. Aber
auch stille Diplomatie muss sich an ihren Zielen und Er-
folgen messen lassen. Genau das möchte ich, was die
Menschenrechtspolitik des Außenministers angeht, an
dieser Stelle tun.

Man kann das an Äußerlichkeiten festmachen: an der
Präsenz des Ministers in Menschenrechtsdebatten oder in
Ausschüssen. Man kann das auch an einem Management-
fehler im Auswärtigen Amt festmachen. Als das Ar-
beitsprogramm der deutschen EU-Ratspräsidentschaft
erstellt wurde, mussten wir alle relativ entsetzt feststel-
len, dass das Thema Menschenrechtspolitik zunächst
weggelassen worden ist. Erst zu einem späteren – aber
viel zu späten – Zeitpunkt kam es hinzu. Das alles sind
zwar nur Förmlichkeiten. Aber sie verdeutlichen schon
die Wertschätzung, die dieses Thema erfährt.

Kommen wir nun zum Inhaltlichen. Ausgerechnet
während der deutschen Ratspräsidentschaft wurden
Sanktionen gegen Usbekistan gelockert. Dieser Aus-
schuss hat sich mit einer Delegation genau angeschaut,
was in diesem Land vor sich geht. Ich glaube, dass es
hinsichtlich der Menschenrechtssituation in Usbekistan
keinerlei Verbesserungen gibt, die es rechtfertigen wür-
den, diese Sanktionen gegen Usbekistan zu lockern. Das
ist aber zweimal in diesem Jahr passiert, beide Male mit
deutscher Unterstützung und einmal sogar während der
deutschen Präsidentschaft. Ich kann keinen Grund er-
kennen, dass das richtig war.


(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben erleben müssen, dass gegen den fraktions-
übergreifenden Willen des Bundestages eine EG-Grund-
rechteagentur eingesetzt wurde, anstatt den Europäi-
schen Gerichtshof für Menschenrechte, der nun wahrlich
jeden Cent und mehr personelle und sachliche Ressour-
cen brauchen könnte, entsprechend auszustatten. Auch
das war nicht nur eine Entscheidung gegen den Willen
des Parlaments, sondern auch gegen die Interessen der
Menschenrechtspolitik gerichtet. Der Europaausschuss
hat es so zum Ausdruck gebracht, Herr Kollege Strässer.


(Christoph Strässer [SPD]: Nein, nein! Sie haben das mit beschlossen, was wir gemacht haben!)


Vor allem aber fehlt eine Strategie, um einer zentralen
Herausforderung unserer Zeit zu begegnen, nämlich der
neuen gefühlten Machtlosigkeit angesichts bestimmter
ökonomischer Strukturen. Wir sind von Gas- und Öllie-
ferungen aus Russland und manchen zentralasiatischen
Staaten so abhängig, dass wir uns kaum mehr trauen, je-
denfalls auf offizieller Ebene, gegenüber Russland und
Zentralasien angemessene Worte zur desolaten Entwick-
lung in den Bereichen Menschenrechte und Demokratie
zu finden. Altkanzler Gerhard Schröder hat gesagt, dass
diese Abhängigkeit etwas Gutes habe. Wenn man das
hört, fragt man sich wirklich, in welcher Welt er lebt.
Wie kann man eine Woche nach den Wahlen in Russland
sagen, dass es für Europa gut ist, in dieser Abhängigkeit
zu stecken? Ich kann dafür überhaupt keinen nachvoll-
ziehbaren Grund erkennen. Das ist vielmehr ein Stück
weit peinlich für die deutsche Außenpolitik, wenn sich
der Altkanzler so äußert.

Natürlich muss Europa wesentlich geschlossener auf-
treten. Alle Länder haben ihren Beitrag dazu zu leisten,
Deutschland zum Beispiel, was das Thema Gaspipeline
angeht. Dadurch, dass man die Gaspipeline unter der
Ostsee verlaufen lässt, bietet man Russland die Möglich-
keit, Gas an bestimmte Länder zu liefern und andere aus-
zuschließen, den Gaspreis in bestimmten Ländern nach
oben zu treiben, um Druck auszuüben, bzw. in anderen
Ländern, die sich wohlgefällig verhalten, zu senken. Ich
glaube, dass wir mit diesem Problem nicht fertig werden,
wenn auf europäischer Ebene weiterhin jedes Land den
eigenen, kurzfristigen Vorteil sucht und wir nicht darauf
achten, dass die langfristigen Interessen der Gemein-
schaft gewahrt werden. Für dieses Problem müssen wir
eine Lösung finden. Es wäre Aufgabe des Außenminis-
ters, daran zu arbeiten.


(Beifall bei der FDP)


China, das in vielen Teilen der Welt, insbesondere in
Afrika, aktiv ist, stellt eine Herausforderung dar, weil es
all unsere Ansätze in Sachen Menschenrechte und Good
Governance völlig unterläuft. China engagiert sich in
vielen Ländern. Angesichts dessen ist es vergleichsweise
wirkungslos, wenn wir die Einhaltung von Menschen-
rechten zur Bedingung für unser Engagement machen.
Wir müssen uns um dieses Problem kümmern und China
klarmachen, dass es als größtes Land der Welt, als ein
wirtschaftlich mittlerweile sehr mächtiges Land, eine
Verantwortung für das hat, was im Rest der Welt, auf an-
deren Erdteilen vor sich geht. Wir müssen China klarma-
chen, dass es seine eigenen Interessen nicht verfolgen
darf, ohne auf die Verhältnisse in dem entsprechenden
Land zu achten.

Bill Clinton hat unlängst gesagt: Wir müssen die Welt
so gestalten, dass unsere Werte auch dann noch gültig
sind, wenn es Länder gibt, die einflussreicher sind als
wir.


(Christoph Strässer [SPD]: Guter Mann, der Clinton!)


Das hat ein Amerikaner gesagt, Ex-Präsident des mäch-
tigsten Landes der Welt. Ich glaube, dass er damit die
zentrale Herausforderung, der sich Amerikaner und Eu-
ropäer stellen müssen, beschrieben hat, und zwar nicht
nur in Sachen Menschenrechte, sondern bezogen auf
eine wertegebundene Politik insgesamt. Ich würde mir

14180 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Florian Toncar
wünschen, dass dieser werteorientierte Ansatz in der ge-
samten Bundesregierung Wertschätzung erhält.


(Beifall bei der FDP – Michael Leutert [DIE LINKE]: Damit wir endlich so eine Menschenrechtspolitik wie die Amerikaner machen können! – Heiterkeit bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613413200

Das Wort hat die Kollegin Erika Steinbach für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1613413300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich freue mich sehr, dass die Freien Demokraten und die
Opposition insgesamt die Menschenrechtspolitik der
Bundeskanzlerin begrüßt. Das ist ein gutes Zeichen. Ich
sehe das ganz genauso.


(Michael Leutert [DIE LINKE]: Überraschung!)


Für Menschenrechtsorganisationen und uns Parla-
mentarier ist der Internationale Tag der Menschenrechte,
den wir in dieser Woche begangen haben, Anlass, um
über den Tellerrand hinauszuschauen und hinsichtlich
des Standes der Menschenrechte Bilanz zu ziehen. Sel-
ten – wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben: eigent-
lich nie – gibt es dabei Anlass für besonders viel Freude.
Auch wenn in der Allgemeinen Erklärung der Men-
schenrechte und allen darauf folgenden Konventionen
hehre Ziele formuliert wurden und viele Staaten das un-
terschrieben haben, muss man leider konstatieren, dass
Dutzende von Staaten all das ignorieren und die Würde
und die Rechte der Menschen bis heute mit Füßen treten,
was dramatisch ist. Man muss das so deutlich sagen.

Der Schutz von Minderheiten gehört zu den großen
Herausforderungen, wenn es um die weltweite Durchset-
zung der Menschenrechte geht. Ich bin davon überzeugt,
dass sich am Umgang eines Landes mit seinen Minder-
heiten die Qualität der Demokratie zeigt.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wie weit viele Minderheiten in der Realität von ihrem
Rechtsanspruch auf Würde entfernt sind, mögen drei
Beispiele illustrieren: die Christen im Irak, die Tibeter
und die Uiguren in China.

Der Krieg im Irak hat in den vergangenen Jahren zur
größten Flüchtlingsbewegung im Nahen Osten seit 1948
geführt. 4,5 Millionen Iraker sind auf der Flucht oder
sind schon vertrieben worden. Von dem aufflammenden
Extremismus ist insbesondere die Minderheit der ira-
kischen Christen betroffen. Das sind die Chaldäer, die
syrisch-orthodoxen Christen, die Assyrer, die Armenier
sowie die griechisch- und die syrisch-unierten Christen.
Mord, Zwangskonversion, Vergewaltigung und Vertrei-
bung gehören dort zum Alltag. Nach Schätzungen christ-
licher Organisationen hat sich die Zahl der Christen im
Irak seit Beginn des Krieges halbiert.

(Michael Leutert [DIE LINKE]: Bei Nichtchristen ist es nicht so schlimm, oder was?)


Aber nicht nur im Nahen Osten, sondern auch in
China und in den ASEAN-Staaten kommt es immer wie-
der zu deutlichen Repressionen und Übergriffen gegen-
über religiösen und vor allem ethnischen Minderheiten.
Relativ bekannt – nicht zuletzt durch das Treffen der
Bundeskanzlerin mit dem Dalai Lama – ist das Schicksal
der Tibeter. In Deutschland nahezu unbekannt ist dage-
gen das Schicksal der Uiguren, einer muslimischen Min-
derheit in der chinesischen Provinz Xinjiang. Ähnlich
wie in Tibet geht die chinesische Zentralregierung auch
in Xinjiang gegen alle Autonomiebestrebungen der
Menschen mit großer Härte vor. Ähnlich wie in Tibet
wird auch hier versucht, die kulturelle Identität der
Uiguren durch die systematische Ansiedlung von Han-
Chinesen strikt zu untergraben.

War im Jahre 1949 nur einer von 15 Bewohnern der
Provinz Xinjiang ein Han-Chinese, so hat sich dieses
Verhältnis bis heute auf eins zu drei reduziert. Infolge
dieser Besiedlungspolitik wurde der Ruf der Uiguren
nach mehr Autonomie lauter; das kann man sehr gut
nachvollziehen. Das Vorgehen gegen diese Volksgruppe
wird von China als Kampf gegen den Terrorismus dekla-
riert, um es zu schönen. Dabei befürwortet nur eine win-
zig kleine Gruppe der Uiguren die Gewalt als legitimes
Mittel gegen das chinesische Unterdrückungsregime.

Auffällig ist auch, dass die Zahl der zum Tode Ver-
urteilten unter den Uiguren deutlich höher ist als im
Durchschnitt Chinas. Massenverhaftungen sind für diese
Volksgruppe kein seltenes Phänomen. Bei einer solchen
Massenverhaftung wurden im letzten Jahr auf einen
Schlag 16 000 Uiguren verhaftet. Auch die Vorsitzende
des Uigurischen Weltkongresses, Rebiya Kadeer, die be-
reits mehrfach für den Friedensnobelpreis nominiert
worden ist, hat eine mehrjährige Haftstrafe hinter sich.

Über all das können wir im Ausschuss noch intensiv
diskutieren. – Abschließend eine Bemerkung zu Ihnen,
Herr Kollege Beck: Der Antrag, den die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen vorgelegt hat, enthält den Prüfauftrag,
ob die 13 als ungefährlich eingestuften Uiguren, die sich
auf Guantánamo befinden, von Deutschland aufgenom-
men werden können. Ich bin allerdings der Meinung,
dass das Land, das diese schuldlosen Männer eingesperrt
hat, nämlich die Vereinigten Staaten von Amerika, jetzt
in der Verpflichtung steht, diese in China offensichtlich
gefährdeten Personen bei sich aufzunehmen. Deutsch-
land ist dafür nicht die richtige Adresse.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So viel zur Menschenrechtspolitik dieser Regierung!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613413400

Das Wort hat der Kollege Michael Leutert für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)


Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14181


(A) (C)



(B) (D)


Michael Leutert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613413500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Kanzlerin wird für ihre Menschenrechtspolitik im-
mer wieder sehr gelobt. Kurz vor dem diesjährigen Tag
der Menschenrechte hat sich nun auch der andere Men-
schenrechtsexperte der CDU zu Wort gemeldet: Innen-
minister Schäuble. Ich darf ihn zitieren:

Diejenigen, die sagen, Guantánamo ist nicht die
richtige Lösung, müssen bereit sein, darüber nach-
zudenken, was die bessere Lösung ist.

Guantánamo ist für den Innenminister also erst einmal
alternativlos. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, ich muss sagen: Solange Ihr Innenminister
solche Sprüche macht und solange Sie nicht in der Lage
sind, den Innenminister auf die Grundlage des Rechts-
staates zurückzuholen, brauchen Sie einen Antrag wie
den, den Sie heute einbringen, gar nicht erst vorzulegen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Koalitionsfraktionen haben heute einen Antrag
zur Situation der Menschenrechte in den ASEAN-Staa-
ten vorgelegt; über diesen Antrag werden wir demnächst
noch diskutieren. Dabei handelt es sich im Prinzip um
einen mehr oder weniger detaillierten Bericht über die
Situation der Menschenrechte in den einzelnen ASEAN-
Staaten. Was passiert hier? Sie versuchen, dafür zu sor-
gen, dass der Bundestag diesen Staaten wieder einmal
mit erhobenem Zeigefinger mitteilt, was sie alles zu tun
haben. An der Stelle, an der Sie etwas tun könnten, tun
Sie aber wieder einmal nichts.

Ich nenne Ihnen nur einmal als Beispiel die Zahl der
Abschiebungen, die in diese Länder im Jahr 2006 statt-
gefunden haben: Indonesien 3 Abschiebungen, Laos 1,
Malaysia 24, Philippinen 41, Singapur 3, Thailand 32
und Vietnam 938. Das sind die Abschiebungen, die aus
Deutschland in die Staaten erfolgt sind, die Sie dafür
geißeln, dass sie die Menschenrechte so dramatisch ver-
letzen. Die Menschenrechtslage ist dort natürlich drama-
tisch, aber wir sollten, wenn dem so ist, bei uns anfan-
gen. Reden Sie mit Ihrem Innenminister, damit für diese
Länder ein Abschiebestopp durchgesetzt werden kann.
Das wäre eine Maßnahme, die im Sinne der Menschen-
rechte wäre.


(Beifall bei der LINKEN)


Stichwort Glaubwürdigkeit. Es ist richtig, dass wir
insbesondere auch China dafür kritisieren, dass dort ein
Überwachungssystem, insbesondere was die Internet-
und Telefonüberwachung betrifft, installiert wird, was
eindeutig gegen Menschen- und Bürgerrechte verstößt.
Solange wir aber Gesetze wie das Telekommunikations-
überwachungsgesetz beschließen,


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Gott sei Dank!)


nehmen wir uns die moralische Grundlage, um diese
Länder zu kritisieren. Wir machen uns mit dieser Politik
unglaubwürdig.

(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Sie sollten erst mal über Ihren Freund Chávez nachdenken!)


– Mein Freund ist Chávez nicht. – So eine unglaubwür-
dige Politik kann meine Fraktion einfach nicht mittra-
gen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir müssen uns einmal prinzipiell darüber unterhal-
ten – zumindest ich habe das Gefühl, dass wir in den
letzten zwei Jahren aneinander vorbeigeredet haben –,
was wir unter Menschenrechtspolitik verstehen. Verste-
hen wir darunter, die Welt zu betrachten und den Zeige-
finger zu erheben, oder verstehen wir darunter, dass wir
in den Bereichen etwas tun, in denen wir etwas tun kön-
nen? Der Tag der Menschenrechte wäre Anlass genug,
Selbstkritik zu üben. Es gibt im Übrigen in der Men-
schenrechtserklärung auch den Art. 23. Ich habe ihn
schon einmal zitiert, ich tue es gerne wieder. Er behan-
delt das Recht auf Arbeit. In Abs. 2 steht in diesem Arti-
kel klar und deutlich:

Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen
Lohn für gleiche Arbeit.

Heute wurde der Postmindestlohn beschlossen. Dieser
Beschluss verstößt eindeutig gegen den zitierten Artikel,
weil nämlich ostdeutsche Mitarbeiter der Post in Zukunft
2 Euro an Mindestlohn weniger bekommen werden als
westdeutsche. Es ist für uns völlig unklar, warum diese
Differenzierung erfolgt.


(Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ich glaube, wir reden wirklich aneinander vorbei! – Holger Haibach [CDU/CSU]: Gehen Sie doch zum Bundesverfassungsgericht!)


18 Jahre nach der Wende haben Sie es noch nicht ge-
schafft, dafür zu sorgen, dass in Ost und West gleiche
Löhne gezahlt werden.

Nun einige Worte zum Antrag der Grünen. Viele
Dinge, die darin stehen, sind richtig. Aber auch in die-
sem Antrag – das habe ich schon einmal gesagt – werden
die USA als Kronzeuge für die Menschenrechte he-
rangezogen. Solange die USA, die das Lager in
Guantánamo betreiben, als Kronzeuge für Menschen-
rechte herangezogen werden, so lange können wir diesen
Antrag nicht unterstützen. Dadurch wird der Antrag ent-
wertet. Das ist unglaublich und unerträglich, es tut mir
leid.

Der nächste Punkt: Wenn China oder Russland dafür
kritisiert werden, dass sie im sogenannten Kampf gegen
den Terrorismus ethnische Minderheiten unterdrücken,
dann ist diese Kritik richtig. Natürlich liegt die Verant-
wortung für Menschenrechtsverletzungen bei dem Staat,
der die Menschenrechtsverletzungen begeht. Aber letzt-
endlich hat doch der Westen die Ideologie zur Legitima-
tion dieser Unterdrückung geliefert. Die Einschränkung
der Bürger- und Menschenrechte in Guantánamo wird
mit dem Kampf gegen den Terrorismus legitimiert. Der
Bruch des Völkerrechts beim Überfall auf den Irak
wurde ebenfalls mit dem Kampf gegen den Terrorismus

14182 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Michael Leutert
legitimiert. Deshalb brauchen wir uns nicht zu wundern,
wenn China und Russland die Einladung, die wir damit
ausgesprochen haben, annehmen und ihre Maßnahmen
mit dieser Ideologie legitimieren.

Zuletzt noch ein Wort an die Fraktion der Grünen. Sie
sprechen im Zusammenhang mit den Uiguren von Ab-
schiebestopp. Das ist richtig, und das wird von meiner
Fraktion unterstützt. Aber meine Frage ist: Warum gab
es diesen Abschiebestopp nicht unter Rot-Grün? Warum
haben Sie ihn nicht durchgesetzt, als Sie es konnten? Ich
denke, das ist ein Antrag zur Vergangenheitsbewältigung
der Grünen. Deshalb gehört er nicht in den Bundestag,
sondern in die Parteigremien der Grünen. Dort muss die
Vergangenheitsbewältigung stattfinden.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613413600

Das Wort hat der Kollege Volker Beck für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613413700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nur ei-

nen Satz kurz zu dem vorherigen Redner, weil ich ei-
gentlich zu dem Tag der Menschenrechte und den Anträ-
gen sprechen will. Wer bei jeder Menschenrechtsdebatte
am Ende bei Hartz IV und beim Mindestlohn landet,


(Michael Leutert [DIE LINKE]: Es tut mir leid!)


dem muss ich sagen: Wer Sozialpolitik, über die wir
durchaus reden sollen, mit Regimen in Zusammenhang
bringt, die Menschen systematisch foltern und umbrin-
gen, weil es Terrorregime sind, der hat die Menschen-
rechtsfrage bis heute nicht verstanden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Zuruf des Abg. Michael Leutert [DIE LINKE])


Wie weit es bei dem Thema Menschenrechte mit Ihrem
Engagement in dieser Wahlperiode her ist, sieht man an
der Fülle der Anträge, die aus der Feder Ihrer Fraktion
zu diesem Thema stammen. Ehrlich gesagt: Mir ist kei-
ner erinnerlich.

Jetzt aber zur Sache; denn die Menschenrechtsdiskus-
sion ist meiner Meinung nach zu wichtig, als dass man
sie auf diese Weise für die innenpolitische Debatte in-
strumentalisieren darf.


(Zuruf von der FDP: Richtig!)


Man muss eine konsistente Menschenrechtspolitik be-
treiben. Ich werde Ihnen jetzt zeigen, dass das auch die
Essenz dessen ist, was wir mit unseren Anträgen vor-
schlagen. Dieses Hohe Haus hat Guantánamo und die
Todesstrafe in den USA mehrmals interfraktionell in
Form von Entschließungsanträgen gerügt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Deshalb sollte man nicht so tun, als würden wir nur nach
China, Russland oder in bestimmte Regionen schauen.
Wir haben uns im Hinblick auf Konsistenz und Glaub-
würdigkeit keinen Vorwurf zu machen.

Nun komme ich zu den Anträgen. Wir haben uns vor-
genommen, anlässlich des Tages der Menschenrechte
das Thema der Uiguren auf die Tagesordnung zu setzen,
weil es ein vergessenes Thema der Menschenrechtspoli-
tik ist. Das Volk der Uiguren leidet genauso wie die
Tibeter, hat aber nicht die gleiche Popularität, weil die
Figur des Dalai Lama, die den Tibetern eine Stimme in
der Weltgemeinschaft verleiht, bei den Uiguren keine
Entsprechung hat. Ich möchte auch daran erinnern, dass
die Tibetfrage nicht schon immer populär war und auch
nicht von der Kanzlerin populär gemacht wurde. Viel-
mehr hat Petra Kelly in der ersten grünen Bundestags-
fraktion von 1983 bis 1987 dieses Problem im Parlament
thematisiert,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


was dazu geführt hat, dass der Bundestag es seitdem mit
fraktionsübergreifendem Engagement beobachtet und
die Tibeter unterstützt.

In der autonomen uigurischen Region Xinjiang wer-
den die Menschen religiös verfolgt und kulturell unter-
drückt. Es wird versucht, die Menschen aus dieser Re-
gion zu vertreiben. Han-Chinesen werden in der Region
künstlich angesiedelt, um das Volk der Uiguren letztend-
lich zu chinesifizieren und seine kulturelle Identität auf-
zulösen. Die Menschen werden als Terroristen diffa-
miert, weil sie Muslime sind.

Die mutige Rebiya Kadeer ist jetzt weltweit die
Stimme dieser Menschen. Sie war einmal Mitglied des
Volkskongresses. Obwohl sie Millionärin war, hat sie
sich der Rechte ihres Volkes angenommen und musste
dafür ins Gefängnis. Mich hat heute ein Ruf der uiguri-
schen Exilorganisationen erreicht. Auf diesem Wege
habe ich erfahren, unter welchen Bedingungen ihre
Söhne in China in Haft sitzen, seitdem sie Vorsitzende
des Uigurischen Weltkongresses ist. Einem ihrer Söhne
geht es dramatisch schlecht. Rebiya Kadeer appelliert an
die Chinesen, ihn an ein Krankenhaus zu überstellen. Ihr
Sohn Ablikim Abdureyim ist nur noch ein Schatten sei-
ner selbst. Er konnte seinen Vater bei dessen letztem Be-
such gar nicht mehr erkennen. Er ist ein junger Mann,
sieht aber aus wie ein Greis. Ich möchte im Namen des
Deutschen Bundestags mit Ihrer aller Unterstützung sa-
gen: Die Chinesen müssen diesen Mann freilassen bzw.
einem Krankenhaus überstellen, um sein Leben zu ret-
ten. Ich denke, das findet die Unterstützung des ganzen
Hauses.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE] – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Herr Leutert, da können Sie ruhig auch einmal klatschen!)


Bei der Politik bezüglich der Uiguren kann man es
sich aber auch nicht so einfach machen, wie Frau
Steinbach es gerade gemacht hat. Wenn die Amerikaner

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14183


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Volker Beck (Köln)

Gefangene haben, von denen sie wissen, dass sie keine
Terroristen sind, aber aus der Provinz Xinjiang – und da-
mit aus China – kommen, können sie sie nicht dahin zu-
rückschicken. Gleichzeitig sind die Amerikaner nicht
bereit, sie aufzunehmen. Sie sind damit nur deshalb noch
Gefangene, weil sich kein Land dieser Welt findet, das
sie aufnehmen will. Meiner Meinung nach sollten wir
eine gemeinsame deutsche und europäische Initiative
starten, um dieses Unrecht zu beenden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie des Abg. Michael Leutert [DIE LINKE])


Ansonsten ist unser Nein zu Guantánamo fadenscheinig.
Deshalb wünsche ich mir, dass unser Antrag auch in die-
sem Punkt Zustimmung findet.

Ich will noch kurz zu meinem zweiten Punkt und
dann zur Methode der Menschenrechtspolitik kommen.
Der ASEAN-Antrag ist, glaube ich, etwas euphorischer
als die treffende Rede von Christel Hanewinckel. Ich
glaube, es ist ein Fortschritt, dass die Menschenrechte in
der Charta genannt sind. Aber solange es keinen entspre-
chenden Beschwerdemechanismus, keinen Gerichtshof
gibt, an den sich die Bürger der ASEAN-Staaten wenden
können, so lange ist das nur ein wertloses Stück Papier.
Im Umgang mit Birma hat man das ja gesehen. Man hat
den UN-Sonderbeauftragten nicht eingeladen. Stattdes-
sen hat man anders agiert.

Zum Schluss noch ein allgemeines Wort zur Men-
schenrechtspolitik: Ich glaube, dass das Hickhack
zwischen Bundeskanzleramt und Auswärtigem Amt den
Druck von den Unrechtsregimen nimmt und gleichzeitig
das außenpolitische Gewicht der Bundesrepublik
Deutschland verspielt. Mir fehlt jedes Verständnis dafür,
dass man sich bei solchen Initiativen nicht abstimmt.

Es ist richtig, dass die Kanzlerin die Menschenrechts-
frage anspricht. Ich habe allerdings manchmal das Ge-
fühl, dass das konzeptionell nicht zu Ende gedacht ist,
dass es nicht daraufhin kalkuliert ist, wie wir den Druck
auf die Regime maximieren können, dass eher auf einen
innenpolitischen Achtungserfolg abgezielt wird als auf
die Verbesserung der Menschenrechtslage.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613413800

Kollege Beck, es ist gut, dass wir jetzt leidenschaft-

lich werden, aber wir müssen trotzdem auf die Zeit ach-
ten.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613413900

Ein letzter Satz, Frau Präsidentin. – Warum hat die

Kanzlerin das beim EU-Afrika-Gipfel nicht so angespro-
chen, dass man den Druck der südafrikanischen Staaten-
gemeinschaft auf Simbabwe unterstützt? Warum hat die
Kanzlerin, die in ihrer Kanzlerschaft gerade einmal zwei
Tage in Afrika geweilt hat, das mit einem solchen Pau-
kenschlag angesprochen, sodass sich die afrikanischen
Staatsführer gezwungen sahen, sich mit dem Verbrecher-
regime von Mugabe zu solidarisieren?


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Haben sie ja gar nicht!)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613414000

Kollege Beck, so geht es nicht.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613414100

Das war ein Fehler, und diesen Fehler muss man trotz

der Kürze der Redezeit der Opposition beim Namen nen-
nen dürfen.

Vielen Dank, Frau Präsidentin.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Holger Haibach [CDU/CSU]: Was hätten Sie denn getan, wenn die Kanzlerin das Thema nicht angesprochen hätte?)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613414200

Ich dachte eigentlich, Sie wollten mich heute damit

überraschen, dass Sie die Redezeit einmal einhalten.
Aber Sie haben ja nachher noch die Chance dazu.

Das Wort hat der Kollege Christoph Strässer für die
SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1613414300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Dass am Montag der 59. Jahrestag der Verabschiedung
der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte war, ist
Anlass, einmal über die Situation nachzudenken, in der
das alles vonstattengegangen ist. Die Welt lag in Trüm-
mern, unerträgliche Regime hatten die Menschen terrori-
siert. Aufgrund dieser Erfahrungen haben sich insgesamt
48 Staaten in Paris bereiterklärt, diese Erklärung – eine
Erklärung für eine bessere Welt – zu unterzeichnen. Ich
darf einmal aus der Allgemeinen Erklärung der Men-
schenrechte zitieren. Schon in der Präambel geht es um
Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden und um den Glauben
an die Würde und den Wert der menschlichen Person.
Aufgrund der Erfahrungen glaube ich, dass das ein Ziel
ist, das wir auch heute unter der Ägide der Vereinten Na-
tionen, massiv unterstützen müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


192 Staaten haben die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte durch ihren Beitritt zu den Vereinten
Nationen akzeptiert. Ich möchte jetzt, ohne mit dem Fin-
ger auf jemanden zu zeigen, über die Frage nachdenken:
Wie würden eigentlich die Mütter und Väter der Allge-
meinen Erklärung der Menschenrechte das sehen, was
heute in der Welt vor sich geht?

Ich möchte nur zwei Bereiche ansprechen. Der erste
Bereich betrifft das, was in Europa vor sich geht. Herr
Kollege Toncar, ich glaube, Sie haben in den letzten Dis-
kussionen etwas nicht mitbekommen. Gerade unter der
Ägide dieser Bundesregierung, dieses Außenministers
sind die Mittel für den Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte deutlich gestiegen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Florian Toncar [FDP]: Das habe ich sehr wohl mitbekommen!)


14184 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


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Christoph Strässer
All das, was wir als Parlament gefordert haben, ist um-
gesetzt worden. Wir haben sogar jenseits der Verpflich-
tungen, die wir haben, draufgesattelt. Hier zu sagen, das
alles sei ein Misserfolg dieser Bundesregierung, ist ver-
kehrt. Sie sollten den Leuten von dieser Stelle aus auch
kurz vor Weihnachten keine Märchen erzählen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Am 12. Dezember dieses Jahres ist die Grund-
rechtecharta der Europäischen Union proklamiert wor-
den. Das, was da in den letzten Wochen und Monaten
ausgehandelt worden ist, ist ebenfalls das Verdienst die-
ser Bundesregierung, und zwar der gesamten Bundesre-
gierung. Ich glaube, es ist ein deutlicher Fortschritt für
die Menschenrechte in ganz Europa, dass sich 25 Länder
dieses Kontinents dazu verpflichtet haben, die Men-
schenrechte zu achten und sie auch einklagbar zu ma-
chen. Auch dies sollte man anlässlich des Jahrestages
der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte einmal sagen. Wir sind hier auf einem
guten Weg in Europa.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte auch Stellung nehmen zu der Debatte über
die Art und Weise der Menschenrechtspolitik. Die Kern-
frage, die sich stellt, ist aus meiner Sicht: Wem nutzt die
Menschenrechtspolitik einer Bundesregierung? Wenn
wir diese Frage beantworten, müssen wir uns natürlich
auch anschauen, mit welchen Instrumenten wir Men-
schenrechtspolitik betreiben. Genau an dieser Stelle gibt
es offensichtlich einen Dissens. Diesen Dissens muss
man austragen. Ich würde mir natürlich auch wünschen
– ich sage das einmal in Richtung Regierungsbank –,
dass der Bundesaußenminister nicht drei Tage lang in
Unkenntnis darüber bleibt, dass die Bundeskanzlerin den
Dalai Lama empfängt. Das ist sicherlich kein gutes Bei-
spiel für Kooperation in dieser Bundesregierung. Das
muss man verbessern; dafür würde ich dringend werben.
Wenn hier die symbolische Politik, in der es darum geht,
nach außen Zeichen zu setzen, ausgespielt wird gegen
das, was Sie stille Diplomatie genannt haben, dann zer-
stört das aus meiner Sicht jede Glaubwürdigkeit der
Menschenrechtspolitik.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Schröder/Putin war ja nun keine stille Diplomatie!)


– Ich weiß wohl, Herr Kollege Fischer. Ich könnte auch
den Vorgänger von Herrn Schröder anführen. Aber das
bringt uns nicht weiter. Diese Polemik nutzt weder der
Menschenrechtspolitik noch den Menschen, für die wir
sie betreiben.


(Beifall bei der SPD – Burkhardt MüllerSönksen [FDP]: Die Frage ist doch: Hilft es, oder schadet es?)


– Was schadet denn eigentlich?


(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Wenn Putin als lupenreiner Demokrat im Amt bleibt!)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613414400

Wir befinden uns hier jetzt nicht im Dialog, es sei

denn, Sie lassen Zwischenfragen zu.


Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1613414500

Es hat ja keinen Sinn. – Die Polemik der Opposition

in dieser Frage ist nachvollziehbar, aber sie führt uns
nicht weiter.

Was schadet im Moment eigentlich, und was nutzt?
Das ist doch die Frage, vor der wir jetzt stehen. Es geht
doch nicht darum, was vor vielen Jahren gewesen ist.
Für mich steht die Antwort auf die Frage im Zentrum,
was die konkrete Form der Menschenrechtspolitik be-
wirkt. Ich will drei Dinge benennen.

Wer eine symbolträchtige Menschenrechtspolitik be-
treibt, der muss sich über die Folgen im Klaren sein. Er
muss auch an die Konsequenzen denken. Herr Toncar,
hier teile ich Ihre Meinung überhaupt nicht, nämlich
dass das, was in stiller Diplomatie vollzogen worden ist,
die Etablierung von Menschenrechtsdialogen – insbe-
sondere mit der Volksrepublik China –, wirkungslos ge-
wesen ist.


(Florian Toncar [FDP]: Das habe ich auch nicht gesagt!)


Das exakte Gegenteil ist der Fall. Ich kann Ihnen sagen:
Die Veränderungen in der chinesischen Politik nach in-
nen und nach außen sind auf das zurückzuführen, was
dort in neun Jahren geschehen ist.

Ich kann das deshalb sagen, weil ich dreimal an die-
sen Menschenrechtsdialogen beteiligt war, die im Übri-
gen – im Gegensatz zu dem, was hier vor einigen Wo-
chen passiert ist – in Peking öffentlich gemacht worden
sind. Das alles können Sie nachlesen. Sie können sich
auch die Veränderungen anschauen. Das ist noch nicht
gut genug, aber ich sage Ihnen: Ohne diese Menschen-
rechtsdialoge, ohne diese stille Diplomatie wären wir
und wäre auch die chinesische Regierung heute nicht auf
diesem Weg, der richtig ist, der aber weiter fortgesetzt
werden muss. Darauf zu verzichten – er ist abgebrochen
bzw. beendet –, kann keine erfolgreiche Menschen-
rechtspolitik sein. Ich glaube, hier müssen wir etwas an-
deres machen.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613414600

Lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Toncar

zu?


Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1613414700

Ja, gerne.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613414800

Bitte.


Dr. Florian Toncar (FDP):
Rede ID: ID1613414900

Herr Kollege Strässer, ich möchte es kurz machen,

aber ich kann das so nicht stehenlassen. Sind Sie bereit,
zur Kenntnis zu nehmen, dass ich in meiner Rede sinn-
gemäß gesagt habe: Wenn die chinesische Seite diesen

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14185


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Florian Toncar
Dialog als ein Zugeständnis an uns versteht und nicht als
etwas, wovon ihr Staat selbst profitiert, dann ist das we-
niger, als wir uns bisher davon erhofft haben. Sind Sie
bereit, mir zuzugestehen, dass ich das so gesagt habe und
dass ich nicht gesagt habe, dass dieser Menschenrechts-
dialog völlig wirkungslos gewesen ist?


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)



Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1613415000

Es mag sein, dass Sie das gesagt haben. Das Problem

ist nur, dass das falsch ist, weil Dialoge nie auf Einseitig-
keit beruhen. Wir haben ein Interesse daran, dass sich in
China etwas verändert. Das erreichen wir mit diesen
Dialogen. Die Chinesen hatten bislang ein Interesse da-
ran – ich hoffe, dass das wiederkommt –, diesen Dialog
fortzuführen, weil sie – jedenfalls zum Teil – erkannt ha-
ben, dass sie mit ihrer bisherigen Politik auch im eigenen
Lande nicht zurande kommen. – Das ist die Antwort auf
Ihre Frage.

Lassen Sie mich nun zum Schluss kommen. Ich
möchte gern noch etwas zu den Konsequenzen einer
symbolischen Menschenrechtspolitik sagen, weil man
mit diesen Symbolen auch Standards setzt. Ich sage das
einmal ganz deutlich: Wenn dieses Thema gegenüber
dem Dalai Lama so offen angesprochen worden ist, dann
ist das okay. Vor wenigen Wochen war hier aber der Kö-
nig von Saudi-Arabien vier Tage lang zu Gast. Wenn
man es wirklich ernst damit meint, dann darf man sich
nicht nur auf China und Russland konzentrieren, sondern
dann muss das auch gegenüber Ländern wie Saudi-Ara-
bien angesprochen werden. Dort ist die Menschenrechts-
situation so unglaublich schwierig, dass ich hier ein ge-
nauso klares Wort erwartet hätte.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Michael Leutert [DIE LINKE] – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Sagen Sie doch mal etwas zu der Aufhebung des Waffenembargos gegenüber China!)


Herr Kollege Toncar, noch einmal zu Ihrem Bild: Sie
haben einen Zeitungsartikel beschrieben, in dem von
leeren Schaufenstern und leeren Räumen die Rede ist.
Sie haben völlig recht: Beides würde nicht passen. Das
Schlimmste für die betroffenen Menschen wäre aber,
wenn wir ihnen etwas vormachten, indem wir das
Schaufenster mit schönen Geschenken vollstellen und
die Tür geschlossen halten. Ich glaube, das kann nicht
sein. Deshalb sage ich: Es wäre ein Weihnachtsgeschenk
an die Menschen, für die wir uns alle gemeinsam einset-
zen, wenn wir gemeinsam beides aufmachen würden,
nämlich sowohl die Schaufenster als auch die Tür zu den
vorhandenen Geschenken.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613415100

Das Wort hat der Kollege Holger Haibach für die Uni-

onsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Holger Haibach (CDU):
Rede ID: ID1613415200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist heute
sehr viel darüber gesprochen worden, was sich rund um
den Tag der Menschenrechte in dieser Woche und allge-
mein bezüglich der Menschenrechte im letzten Jahr er-
eignet hat. Sehr viel Negatives wurde erwähnt; das ist
richtig so.

Ich will auf zwei positive Ereignisse hinweisen, die in
den letzten beiden Tagen stattgefunden haben; das dritte,
die Proklamation der Grundrechtecharta, hat Kollege
Strässer schon genannt. Sie haben sich in einem Land er-
eignet, das in Deutschland in den letzten Jahren nicht
immer nur als Vorzeigestaat in Sachen Menschenrechte
dargestellt wurde und über das es vielleicht mehr Dis-
kussionen gab, als notwendig waren. Es geht um die
USA. In den USA hat mit New Jersey zum ersten Mal
seit 40 Jahren ein Staat beschlossen, die Todesstrafe ab-
zuschaffen. Ich finde, das ist ein gutes und wichtiges
Zeichen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf des Abg. Michael Leutert [DIE LINKE])


– Es kann ja sein, Herr Kollege Leutert, das Ihnen das
nicht passt, aber es ist nun einmal so.


(Michael Leutert [DIE LINKE]: Es passt mir schon!)


Wenn der amerikanische Senat seine Zusage zum
Haushalt der CIA daran knüpft, dass die hoch umstrit-
tene Foltermethode Waterboarding abgeschafft werden
muss, dann ist auch das ein wichtiges Zeichen. Dafür
müssen auch wir auf jeden Fall kämpfen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Michael Leutert [DIE LINKE]: Unglaublich!)


Ich will ganz deutlich sagen, dass wir uns angesichts
des Tages der Menschenrechte in dieser Woche über die
Gesamtsituation unterhalten müssen. Es ist wichtig, auch
auf Positives hinzuweisen. Ich glaube, dass das dazu bei-
trägt, einmal deutlich zu machen, dass nicht alle unsere
täglichen Bemühungen völlig sinnlos sind.

Ich will auf einiges eingehen, was in dieser Debatte
gesagt worden ist. Kollege Toncar, zum Gerichtshof:
Auf die Verbesserung der Situation hat Kollege Strässer
schon hingewiesen. Es war diese Bundesregierung, die
sich im Wesentlichen im Ministerkomitee dafür einge-
setzt hat. Alle, die beteiligt waren, wissen, dass es keine
leichte Aufgabe war, alle anderen Mitgliedstaaten dazu
zu bewegen. Es nutzt ja nichts, wenn nur wir Ja sagen.
Am Schluss müssen alle 47 Mitgliedstaaten Ja sagen.
Das ist erreicht worden. Dafür kann man der Bundesre-
gierung dankbar sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


14186 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


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Holger Haibach
Herr Kollege Leutert, es ist ja inzwischen ein altes
Spiel, das Sie treiben – Kollege Beck hat darauf hinge-
wiesen –: Sie nennen immer wieder die gleichen The-
men und versuchen, Deutschland in eine Reihe mit
Russland, China und anderen Ländern zu stellen, in de-
nen die menschenrechtliche Situation hochproblema-
tisch ist. Man kann darüber diskutieren, ob der Mindest-
lohn zu hoch oder zu niedrig ist,


(Michael Leutert [DIE LINKE]: Er ist ungleich! – Florian Toncar [FDP]: Das haben Sie doch schon entschieden!)


– doch, man kann darüber diskutieren –, ob dieser Min-
destlohn in einem Teil des Landes niedriger sein muss
oder ob er in beiden Teilen des Landes gleich sein muss.
Man kann auch darüber diskutieren, ob ein Gesetz zur
Onlinedurchsuchung sinnvoll ist. Aber wissen Sie, was
Deutschland von allen anderen Ländern unterscheidet,
die Sie in diesem Zusammenhang immer nennen? Es
gibt hier eine Gerichtsbarkeit. Hier kann sich jeder bis
zum Bundesverfassungsgericht durchklagen und fragen:
Entspricht das unserem Grundgesetz oder nicht? Das ist
der Unterschied. Ich finde, das müssten Sie in dieser De-
batte endlich einmal anerkennen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Widerspruch bei der LINKEN – Florian Toncar [FDP]: Wie beim Luftsicherheitsgesetz!)


Wenn Sie schon Herrn Schäuble zitieren, dann darf
ich Sie recht herzlich bitten, ihn auch vollständig zu zi-
tieren. Sie haben einen einzigen Satz aus einem langen
Interview vorgelesen, in dem er deutlich gemacht hat,
dass er Guantánamo nicht für die optimale Lösung hält.
Wenn er sagt, dass wir uns überlegen müssen, wie wir
weiterhin mit Völkerrecht und Kriegsrecht umgehen,
dann gibt er nur eine internationale Diskussion – übri-
gens auch unter Völkerrechtlern – wieder. Wir alle sind
uns darüber einig, dass Guantánamo geschlossen gehört.
Aber nichtsdestoweniger stellt sich die Frage, was mit
den Gefangenen passiert, die dort sind – das ist eine
wichtige Frage –, ob sie einem rechtsstaatlichen Verfah-
ren zugeführt werden oder nicht. Diese Frage hat Herr
Schäuble nicht in Zweifel gezogen. Ich finde es ehren-
rührig, dass Sie ihn in diese Ecke stellen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Michael Leutert [DIE LINKE]: Das war im Übrigen ein Zitat aus der Welt! Das ist nicht von mir!)


– Ich habe dieses Interview gelesen. Deswegen erlaube
ich mir, deutlich zu sagen, dass ich der Meinung bin,
dass Sie es – um nichts anderes zu sagen – zumindest
sehr verkürzt wiedergegeben haben.

Ich komme auf die Methoden deutscher Außenpolitik
zurück. Der Kollege Beck hat festgestellt, dass alles
ganz furchtbar sei, und es als schlechtes Zeichen für die
Welt bezeichnet, wenn in zwei verschiedenen Häusern
– respektive im Kanzleramt und im Außenministerium –
in einigen Fragen unterschiedliche Meinungen vertreten
werden. Es ist in der Tat besser, wenn etwas vorher abge-
sprochen wird und wenn wir letztlich zu einer gemeinsa-
men Meinung kommen, Herr Kollege Beck. Wir sollten
aber nicht so tun, als hätte es das noch nie gegeben. Wie
war das denn mit Herrn Fischer und Herrn Schröder,
wenn es um China ging?


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das Waffenembargo!)


Es ist doch nicht das erste Mal, dass es eine solche Aus-
einandersetzung gegeben hat. Daran ist die deutsche
Menschrechtspolitik ganz bestimmt nicht gescheitert.
Auch das muss ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Es ging eben nicht um eine Entscheidung, Herr Kol-
lege Beck. Ich kann Ihnen auch gerne eine Frage beant-
worten, die Sie mir nicht gestellt haben. Es geht nicht
um eine Entscheidung, sondern um die Frage nach dem
richtigen Weg. Insofern hat der Kollege Strässer recht
– auch wenn ich in meiner Analyse zu einem anderen
Schluss komme –: Die Frage, was den Menschenrechten
nutzt, ist nicht nur erlaubt, sondern muss gestellt werden.
Man muss bei den Überlegungen das Ziel im Blick ha-
ben. Man kann zwar unterschiedlicher Meinung sein, zu
welcher Lösung man kommt, aber ich glaube, dass man
letztlich beides brauchen wird: auf der einen Seite die
klaren Symbole, auf der anderen Seite aber auch die
Diplomatie.

Bei den ganzen Dialogen und bei aller Diplomatie
muss man eines berücksichtigen: Dialoge dürfen keine
Feigenblattveranstaltung und kein Ersatz für klare öf-
fentliche Äußerungen sein. Die stille Diplomatie darf
auch nicht zu Leisetreterei verkommen. Das ist manch-
mal meine Sorge. Wir müssen sehr aufpassen, dass wir
die richtigen Akzente an der richtigen Stelle setzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, dass wir mit dem vorliegenden Antrag der
Koalition zum Thema ASEAN, den die Kollegin
Riemann-Hanewinckel, wie ich finde, hinreichend und
umfänglich beschrieben hat, einen wichtigen Beitrag zu
dieser Debatte leisten. Der Antrag ist in einer Zeit ver-
fasst worden, als noch nicht klar war, wie sich die Charta
entwickeln würde. Insofern wäre ich heute vielleicht et-
was vorsichtiger in meinem Urteil als damals.

Aber nichtsdestoweniger muss man auch die positi-
ven Punkte sehen. Es gibt tatsächlich zum ersten Mal die
Idee, eine Menschenrechtskommission auf asiatischem
Boden einzurichten. Das hat es nie zuvor gegeben. Es
gibt tatsächlich eine Verpflichtung. Ich weiß, dass die
Politik der Nichteinmischung dagegensteht. Dagegen
steht auch, dass der UN-Sondergesandte für Birma,
Gambari, nicht eingeladen worden ist. Das alles sehe ich
auch. Ich finde aber, dass man das Positive und Negative
an dieser Stelle gegeneinander abwägen muss. Ich finde
es wichtig, dass wir das auch in aller Deutlichkeit ma-
chen.

Wir werden die beiden Anträge im Menschenrechts-
ausschuss beraten, und ich glaube, dass wir in beiden
Fällen zu vernünftigen Lösungen kommen können.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14187


(A) (C)



(B) (D)


Holger Haibach

(Detlef Dzembritzki [SPD]: Gutes Schlusswort!)


– Es gibt – damit komme ich zu meinem Schlusswort,
Herr Kollege – einen wunderbaren Artikel über die
ASEAN-Charta von Sebastian Bersick und Felix Heiduk
in SWP-Aktuell, der Zeitschrift der Stiftung Wissen-
schaft und Politik. Darin schreiben sie – ich zitiere –:

Mit der Unterzeichnung der Charta bezeugen die
ASEAN-Mitglieder ihren politischen Willen, den
Weg der Vergemeinschaftung geschlossen fortzu-
setzen. Aber erst wenn sie die Charta ratifiziert und
implementiert haben, wird sich zeigen, ob sich die
ASEAN tatsächlich „nach Art der Krebse [bewegt],
die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäu-
schen, doch ziemlich schnell vorankommen“ – wie
es in Günter Grass’ Novelle „Im Krebsgang“ heißt.

Ich hoffe, das gilt für die gesamte Menschenrechtspoli-
tik. In diesem Sinne wünsche ich uns allen frohe Weih-
nachten und ein frohes neues Jahr.

Danke sehr.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613415300

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/7490 und 16/7411 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Mücke, Jens Ackermann, Joachim Günther

(Plauen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion

der FDP

Gewährleistung der einheitlichen Betreuung
von Arbeitslosen nach einer Kreisgebietsre-
form

– Drucksache 16/6642 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss

Wir nehmen alle Reden dieser Debatte zu Protokoll.
Das betrifft die Beiträge der Kollegin Maria Michalk für
die Unionsfraktion, der Kollegin Gabriele Lösekrug-
Möller für die SPD-Fraktion, des Kollegen Jan Mücke
für die FDP-Fraktion, der Kollegin Katrin Kunert für die
Fraktion Die Linke und der Kollegin Brigitte Pothmer
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/6642 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

1) Anlage 7
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 37 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch, Karin Binder, Dr. Lothar
Bisky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Angleichung des aktuellen Rentenwerts (Ost)

an den aktuellen Rentenwert

– Drucksache 16/6734 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613415400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das ist nicht ganz atypisch, dass ich erstens alleine zu
diesem Thema rede und dass wir zweitens dieses Thema
so spät und dann behandeln, wenn der Plenarsaal kaum
besetzt ist.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das liegt an der Linksfraktion, dass sie das so spät veranlasst hat!)


– Das liegt gar nicht an uns.


(Iris Gleicke [SPD]: Doch, das stimmt! Es gibt nämlich eine Absprache!)


Das ist ein völliger Irrtum. Wir würden gerne viel mehr
Tagesordnungspunkte in Spitzenzeiten beraten; die be-
kommen wir aber nicht.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Die Frage, um die es hier geht, ist und bleibt wichtig,
auch wenn Sie sie für unwichtig halten sollten.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie halten sie für unwichtig, weil Sie das so spät aufgesetzt haben!)


Es geht um den Renteneckwert Ost im Verhältnis zum
allgemeinen Renteneckwert. Ich sage Ihnen, warum uns
dieses Thema so wichtig ist. Es muss doch diesbezüglich
eine Entwicklung geben. Eine Entwicklung erfordert,
dass man sich Gedanken macht, wie eine Angleichung
erfolgen kann.

Der Rentenwert West liegt derzeit bei 26,27 Euro.
Der Rentenwert Ost liegt bei 23,09 Euro, also 3,18 Euro
niedriger. Die Frage ist doch, wann gleichen wir das an,
oder haben Sie gar nicht vor, das anzugleichen? Genau
damit beschäftigt sich unser Antrag.

14188 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Gregor Gysi
Der Eckrentner im Westen bezieht eine Durch-
schnittsrente von 1 182 Euro, und der Eckrentner im Os-
ten bekommt lediglich eine Durchschnittsrente von
1 039 Euro. Nun stellt sich doch die Frage, ob wir hier
beschließen, wann und in welchen Schritten wir die Dif-
ferenz von 12 Prozent – das macht pro Monat 143 Euro
und im Jahr über 1 700 Euro aus – ausgleichen oder ob
wir dauerhaft darauf verzichten. Das ist die Frage, um
die es geht.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Hierzu steht gelegentlich etwas in den Zeitungen, wo-
mit ich mich gerne auseinandersetzen möchte. Es gibt
eine Zeitung, die schreibt gerne Folgendes: Ein Rentner-
ehepaar Ost hat im Durchschnitt mehr als ein Rentner-
ehepaar West. – Das Ungerechte daran ist, dass unter-
schlagen wird, dass im Osten über 90 Prozent der Frauen
beruflich aktiv waren. Im Westen gab es nie eine solch
hohe Zahl; diese schwankte immer um die 50 Prozent.
Das heißt, im Osten waren meistens beide Ehepartner
länger als 40 Jahre tätig, und in den alten Bundesländern
in der Regel nur der Mann. Vor diesem Hintergrund ha-
ben natürlich die beiden Ehepartner im Osten zusammen
mehr Rente als die beiden Ehepartner im Westen. Aber
das ist nicht die Frage. Es geht doch um Folgendes: Eine
Verkäuferin war 40 Jahre lang Verkäuferin im Osten,
und eine andere Verkäuferin war 40 Jahre lang Verkäufe-
rin im Westen. Wenn das so ist, dann frage ich: Haben
sie einen Anspruch auf eine gleich hohe Rente oder
nicht? Bis heute haben sie keinen Anspruch auf die
gleich hohe Rente.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Bei diesem Thema werden immer drei Faktoren über-
sehen, auf die ich nur ganz kurz hinweisen möchte. Das
ist, wenn Sie so wollen, ein Lob an die Bundesrepublik.

Erstens. In der Bundesrepublik gab es Betriebsrenten.
So etwas gab es in der DDR nicht. Deshalb ist die ge-
setzliche Rente meistens nicht das einzige, was die Leute
im Westen beziehen.


(Frank Spieth [DIE LINKE]: So ist es! – Zuruf von der FDP: Das spricht doch für das westdeutsche System!)


Zweitens. In der Bundesrepublik gab es zu nicht ge-
ringen Teilen Vermögensbildung über Lebensversiche-
rungen etc., was bei vielen Rentnerinnen und Rentnern
noch hinzukommt. Auch so etwas gab es in der DDR
nicht.

Drittens. Der Durchschnitt der gesetzlichen Rente be-
rechnet sich im Osten völlig anders als im Westen – die-
ser Unterschied wird immer wieder vergessen –,


(Zuruf von der FDP: Eben!)


und zwar aus folgendem Grunde: Es gab ja keine Beam-
ten, und deshalb gibt es keine Pensionen. Als Beispiel
nenne ich den berühmten Professor Prokop, Gerichts-
mediziner an der Charité, der bis zum Bundesverfas-
sungsgericht geklagt und eine ziemlich hohe Rente zuge-
billigt bekommen hat. Diese muss die gesetzliche
Rentenversicherung zahlen. Ein Professor Prokop in
Kiel oder München würde immer eine Pension beziehen.


(Zuruf von der FDP: Steuergelder!)


Das heißt, diese Rente ginge gar nicht in den Durch-
schnitt der gesetzlichen Rente ein. Das muss man wissen
und den Leuten sagen. Deshalb darf man die Durch-
schnitte nicht gegenüberstellen. Aus diesem Grunde ha-
ben wir unseren Antrag eingebracht.

Auch wenn nur wenige im Plenarsaal anwesend sind,
hoffe ich, dass Sie sich vor der zweiten Lesung mit dem
Antrag auseinandersetzen werden. Wir sollten dann ei-
nen Beschluss fassen, so schnell wie möglich die Ren-
teneckwerte Ost und West anzugleichen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])


Niemand soll deshalb benachteiligt sein, weil er aus
dem Osten oder aus dem Westen kommt. Gleichstellung
ist ein Ziel unseres Grundgesetzes. Dafür müssen wir
uns einsetzen. Ich möchte diese Angleichung noch erle-
ben. Wir haben gesagt: so schnell wie möglich. In spä-
testens fünf Jahren muss die Angleichung da sein. Nun
geben Sie sich einen Ruck und beschließen das auch!

Danke.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613415500

Wir sind vor ein kleines Problem gestellt worden,

weil im Rahmen dieser Debatte eine Absprache nicht
eingehalten wurde. Deshalb muss ich, bevor ich der Kol-
legin Schewe-Gerigk das Wort erteile, die Unionsfrak-
tion fragen, ob die Kollegin Maria Michalk jetzt reden
möchte.


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Die Rede war so schlecht, sie muss reden!)


– Dann ist das so.

Die Kollegin Maria Michalk hat jetzt das Wort.


Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1613415600

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Es ist ein übliches Spiel der Linksfraktion, sich
vor Feiertagen in unserem Land Themen herauszu-
picken, die die Gefühle der Menschen bewegen. Herr
Gysi, wir hatten eine Vereinbarung. Das, was Sie hier
veranstaltet haben, ist unparlamentarisch.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Ich will in aller Kürze sagen: Sie haben niemals an
den Sitzungen unseres Fachausschusses teilgenommen,
in denen wir darüber systematisch diskutieren.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ah!)


Ihrem Populismus möchte ich nur mit dem Hinweis be-
gegnen: Selbst die Gewerkschaften vereinbaren in den

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14189


(A) (C)



(B) (D)


Maria Michalk
Tarifverhandlungen Unterschiede zwischen den Löhnen
im Osten und denen im Westen.


(Frank Spieth [DIE LINKE]: Das machen sie seit 1992!)


Begründet wird das mit der Arbeitsplatzsicherung.

Die Systematik, die wir alle einvernehmlich beim
Renten-Überleitungsgesetz gewählt haben, um in der
Systematik der bundesdeutschen Rentenregelungen zu
bleiben, bewirkt, dass unsere Rentner immer dann profi-
tieren, wenn sich die wirtschaftliche Entwicklung in un-
serem Land verbessert und die Menschen mehr Lohn be-
kommen. Folgten wir Ihrem Stufenmodell, das nichts
anderes als eine pauschale Abkehr von dieser Systematik
darstellt, würden wir die Arbeitnehmer bestrafen, die
früh aufstehen und abends spät nach Hause kommen;
denn diese würden aus dieser Systematik herausgenom-
men.


(Widerspruch bei der Linken)


Deshalb ist es ungerecht und unsolidarisch, diejenigen,
die Steuern zahlen und letztlich die Beiträge erarbeiten,
die wir für die aktive Rentnergeneration einsetzen, ge-
gen die aktiven Rentner auszuspielen.

Wir wissen, dass die jetzige Rentnergeneration hier
und da durchaus Einschnitte hinnehmen muss, weil sich
die Einkommenssituation insgesamt nicht so schnell ver-
bessert hat, wie wir uns alle das gewünscht haben. Aber
wer meint, eine Zukunftsprognose für die nächsten zehn
Jahre abgeben zu können, muss ein Hellseher sein. Das
sind wir nicht. Deshalb bleiben wir bei unserer Renten-
systematik. Da wir wissen, dass die jetzige Rentnergene-
ration von einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung
profitiert, tun wir alles, um die Rahmenbedingungen für
mehr Arbeitsplätze zu verbessern.

Ich danke Ihnen und wünsche schöne Weihnachten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613415700

Wir nehmen den Beitrag des Kollegen Dr. Heinrich

Kolb für die FDP-Fraktion zu Protokoll.1)


(Jörg Rohde [FDP]: Damit befassen wir uns im Ausschuss!)


Dann hat Frau Schewe-Gerigk für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich kann das Ganze vielleicht erklären. Wir hatten ein
anderes Verfahren gewählt. Wir hatten uns darauf ver-
ständigt, dass alle Reden zu diesem Tagesordnungspunkt
zu Protokoll gegeben werden. Herr Gysi, Sie haben aber
darauf bestanden, hier zu reden. Wenn Sie allerdings die
Kolleginnen und Kollegen, die hier sind, beschimpfen

1) Anlage 8
und sagen, wir seien daran schuld, dass über Ihren An-
trag zu diesem späten Zeitpunkt diskutiert werde,


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Unmöglich!)


dann muss ich Ihnen sagen, dass Ihre Fraktion Ihre Rede
zu diesem Zeitpunkt auf die Tagesordnung gesetzt hat,
nicht die anderen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Um Ihnen dieses Spiel nicht durchgehen zu lassen,
werde ich meine Rede jetzt halten. Ich werde sie kürzen,
damit wir das alles hinbekommen.

Wir, die Grünen, sehen ebenfalls einen erheblichen
Nachbesserungsbedarf in der Rentenpolitik zur Vermei-
dung von Armut im Alter. Anlass unserer Einschätzung
sind die Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt, die wir
seit Beginn der 90er-Jahre erleben. Sie wirken sich na-
türlich besonders dramatisch in den ostdeutschen Bun-
desländern aus. Eine Anpassung der Rentenpolitik an die
veränderten Erwerbsverläufe und Familienformen ist
absolut überfällig. Die vorhandene Grundsicherung im
Alter, auf die stets verwiesen wird, ist für uns keine Lö-
sung; denn wer seine Arbeitskraft ein Leben lang zur
Verfügung gestellt hat, muss ein Einkommen oberhalb
der Bedürftigkeit erzielen können.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Die lustlose Beantwortung unserer Frage zu den Armuts-
risiken im Alter verdeutlicht, dass auch das Ministerium
sich mit diesem Thema nicht wirklich auseinandersetzen
möchte. Dort herrscht das Prinzip „Augen zu und durch“
vor.

Wir beraten heute Ihren Antrag „Angleichung des ak-
tuellen Rentenwerts (Ost) an den aktuellen Rentenwert“.
Sie fordern in diesem Antrag eine doppelte Anglei-
chung, Herr Gysi. Was das bedeutet, möchte ich diesem
Hohen Hause einmal deutlich machen: Sie wollen eine
Höherbewertung der Einkommen in Ostdeutschland bei-
behalten; spätestens 2012 soll es in Ost und West einen
einheitlichen Rentenwert geben. Die Bundesregierung
geht in ihren Rentenberichten davon aus, dass erst im
Jahre 2030 eine Angleichung der Rentenwerte möglich
ist. Auch wir finden diese Situation problematisch; denn
17 Jahre nach Vollendung der deutschen Einheit sind un-
terschiedliche Rentenwerte nicht mehr vermittelbar.


(Beifall bei der LINKEN)


– Jetzt hört es gleich auf mit den Gemeinsamkeiten.

Im Unterschied zur Linksfraktion wollen wir Grünen
bei der doppelten Hochwertung nicht mit der Gießkanne
vorgehen. Die Linke will ohne Berücksichtigung des
Einkommensniveaus eine doppelte Begünstigung in den
neuen Ländern erreichen. Damit wird das zukünftige
Rentenniveau in den neuen Ländern vollständig losge-
löst vom Einkommen und der Entwicklung der Produk-
tivität.

Durch die Umsetzung dieses Vorschlags würden – das
ist noch wichtiger – neue Formen von Ungerechtigkeit
erzeugt, Herr Gysi: Beispielsweise würde der ehemalige

14190 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Irmingard Schewe-Gerigk
Mitarbeiter der Stasi, der bereits beruflich begünstigt
wurde und der auch noch eine Zusatzrente bekommt,
wenn ihm keine Menschenrechtsverletzung nachgewie-
sen werden konnte, ein besonders sattes Alterseinkom-
men erhalten.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha! Hört! Hört! – Christian Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Das ist ja interessant!)


Ich glaube, das würden auch weniger begünstigte Rent-
ner und Rentnerinnen aus den neuen Ländern überhaupt
nicht verstehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist nicht gerecht.

Ich weiß auch nicht, wie man das begründen kann.
Ich wüsste zum Beispiel nicht, wie ich einer Verkäuferin
aus Recklinghausen vermitteln sollte, dass jemand mit
einem mittleren oder hohen Einkommen in Dresden der-
art aus Steuermitteln begünstigt werden soll, während
sie nur eine Minirente erhält, die sie mit ihrem kleinen
Einkommen selbst erarbeitet hat.

Vorausgesetzt die Zahlen aus dem Verdi-Konzept zur
Anpassung des Rentenwerts sind richtig, werden zur
Umsetzung Ihres Vorschlags in der letzten Stufe 6 Mil-
liarden Euro jährlich benötigt. Das heißt, bereits im
Jahre 2012 und in den Folgejahren sollen 6 Milliarden
Euro Steuermittel zur Begünstigung, auch von hohen
Renten, in die neuen Länder fließen, und zwar unabhän-
gig von der Einkommensgrenze. Käme eine zukünftige
Bundesregierung auf die Idee, die doppelte Hochwer-
tung aus Mitteln der Rentenversicherung zu finanzieren,
würde das bedeuten: Die Versicherten finanzieren ein
zweites Mal die Folgekosten der deutschen Einheit. Sol-
chen Vorschlägen können wir nicht zustimmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir Grünen wollen – jetzt kommt unser Vorschlag –
eine absehbare Anpassung der Rentenwerte Ost und
West; da sind wir ganz bei Ihnen. Wir wollen aber eine
gezielte Hochwertung von kleinen Einkommen, unab-
hängig von der geografischen Lage des Wohnorts.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Frank Spieth [DIE LINKE]: Wie ist denn das mit dem Grundgesetz vereinbar?)


Niedrige Einkommen dürfen nicht zu Armutsrenten füh-
ren. Dazu wollen wir die Entgelte aus Steuermitteln bis
zu 80 Prozent eines Durchschnittswerts hochwerten. Die
Begrenzung auf 80 Prozent soll eine Schlechterstellung
von Versicherten verhindern, die ausschließlich eigene
Beiträge entrichtet haben.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613415800

Frau Schewe-Gerigk, Sie müssen Ihre Vorschläge auf

die weiteren Beratungen verschieben.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich danke Ihnen, Frau Präsidentin. – Ich bin fertig mit
meinen Vorschlägen.
Ich glaube, es ist deutlich geworden, dass bei kleinen
Beiträgen Hochwertungen möglich sind, dass man aber
die Rente von Personen, die 3 000 Euro verdienen, über
eine Hochwertung nicht noch zusätzlich aufwerten
muss.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die PDS kümmert sich nur um die Besserverdienenden in Ostdeutschland!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613415900

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär

Franz Thönnes.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


F
Franz Thönnes (SPD):
Rede ID: ID1613416000


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich sage nichts zum Verfahren. Das Thema dieser De-
batte ist ernst genug. Daher sollte man mit ihm in einer
solchen Situation nicht in der Art und Weise umgehen,
wie es hier jetzt passiert ist.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)


Die Umsetzung dessen, was in der freundlich klingen-
den Überschrift des Antrags der Fraktion Die Linke ge-
fordert wird, hätte langfristig unerfreuliche Folgewir-
kungen, gerade für die Menschen in den neuen Ländern.


(Iris Gleicke [SPD]: Das ist leider wahr!)


Man kann für den Gleichstellungswunsch der Rentnerin-
nen und Rentner in den neuen Ländern an der einen oder
anderen Stelle Verständnis haben; aber die Forderung
nach einer Angleichung weist in die völlig falsche Rich-
tung. Die Gründe nenne ich Ihnen gerne.

Zunächst will ich Ihnen aber sagen – ich glaube, das
muss man auch –, was heute ist. Es gilt, zu sagen, wie
das Ganze entstanden ist und was die Grundsätze unse-
res solidarischen Rentenversicherungssystems sind.

Dabei ist festzuhalten: Bei dem Versuch, Lösungen zu
finden, die über den bisherigen Angleichungsmechanis-
mus hinausgehen, darf es nicht zu Verwerfungen im Sys-
tem kommen, besonders nicht zu Verwerfungen, die die
solidarische Funktion des Rentenversicherungssystems
infrage stellen.


(Beifall der Abg. Iris Gleicke [SPD])


Denn wir wollen auch in Zukunft in diesem Land ein
tragfähiges solidarisches Rentenfinanzierungssystem ha-
ben, ein System, das im Übrigen für die deutsche Einheit
unermesslich viel geleistet hat.


(Frank Spieth [DIE LINKE]: Ja!)


Ich möchte dazu Folgendes ansprechen:

Erstens. Wie war das denn im Jahre 1990? Am
30. Juni betrug die verfügbare Eckrente in den alten Län-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14191


(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Franz Thönnes
dern 1 615,99 DM, das heißt die Altersrente eines Versi-
cherten mit einem durchschnittlichen Bruttoarbeitsent-
gelt nach 45 anrechnungsfähigen Versicherungsjahren.
Der vergleichbare Ostwert lag je nach Zugangsjahr zur
Rente in der damaligen DDR bei 470 bis 602 Mark, also
im Verhältnis 29,1 bis 37,3 Prozent.

Wie im Westen sollte sich die künftige weitere An-
gleichung an der Entwicklung der Löhne und Gehälter
orientieren. Um aber an dieser Stelle eine zügigere An-
gleichung zu erzielen, wurde politisch entschieden, dass
die Anpassung zweimal im Jahr erfolgen sollte und dass
sie sich im Voraus und nicht rückwirkend – so war das in
den alten Ländern – an der erwarteten Lohnentwicklung
orientieren sollte.

Diese Entscheidung führte im Kern dazu, dass inner-
halb von fünfeinhalb Jahren der Abstand zwischen Ost-
und Westwert, den ich eben genannt habe, gesunken ist.
Der Verhältniswert zu West stieg von 29,1 bis 37,3 Pro-
zent auf 82,2 Prozent zum 1. Januar 1996. Damit wird
die Annäherung deutlich, die in dieser Zeit erfolgt ist –
eine hervorragende Leistung innerdeutscher Solidarität;
das möchte ich ganz klar sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Wolfgang Gunkel [SPD])


Ab 1996 erfolgte dann, wie im Westen, eine jährliche
Anpassung, orientiert an den jeweiligen Lohn- und Ge-
haltsentwicklungen des Vorjahres. Dies hat bis heute zu
einer weiteren Steigerung auf 88,1 Prozent geführt.

Zweitens. Der Grundsatz der weiteren Entwicklung
ist also: Im Osten folgen die Renten wie im Westen der
Entwicklung der Löhne und Gehälter.

Gewollt wird aber nun, dass der Rentenwert Ost un-
abhängig von der Lohnentwicklung an den Rentenwert
West angeglichen wird. Die Angleichung soll zum 1. Juli
2008 beginnen und bereits 2012 abgeschlossen sein.
Trotz des dafür nötigen Angleichungszuschlages soll die
Hochwertung der in den neuen Ländern erzielten Ar-
beitsverdienste auf das jeweils vergleichbare Westniveau
erhalten bleiben.

Wer jetzt schnell den Rentenwert Ost anhebt, der
spielt nicht nur mit Milliardenbeträgen, sondern trifft
außerdem die künftigen Rentnergenerationen in Ost-
deutschland negativ.


(Frank Spieth [DIE LINKE]: Die Sozialmauer muss weg!)


Die Renten sind in Ostdeutschland schon heute höher als
im Westen, nicht in jedem Einzelfall – das ist wahr –,
aber im Schnitt, weil wir die langjährigen ungebroche-
nen Erwerbsbiografien aller so berücksichtigt haben, als
hätten sie dafür entsprechende Beiträge gezahlt.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613416100

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Lötzsch?
F
Franz Thönnes (SPD):
Rede ID: ID1613416200


Nein.

Die heutige Systematik in der gesetzlichen Renten-
versicherung ist gut für die ostdeutschen Beschäftigten,
die heute Beiträge zahlen. Sie werden zweifach begüns-
tigt, wenn die Lohnentwicklung entsprechend ist.

Erstens. Sie erwerben die Rentenentgeltpunkte güns-
tiger. Ein Beispiel: Das rentenrechtliche Durch-
schnittsentgelt betrug im Jahr 2006 in den alten Ländern
29 500 Euro und in den neuen Ländern 25 000 Euro. Ein
Versicherter aus Hannover hat im Jahr 2006 mit einem
Jahresverdienst von 29 500 Euro brutto also einen Ent-
geltpunkt erworben. Dagegen erreicht im Jahr 2006 ein
Beschäftigter in Magdeburg mit einem Jahresverdienst
von nur 25 000 Euro ebenfalls einen Entgeltpunkt Ost.
Er wird mit dem Hochwertungsfaktor so gestellt, als ob
er die 29 500 Euro verdient hätte.

Zweitens. Wenn sich die Rentenwerte durch eine ent-
sprechende Lohnentwicklung angeglichen haben, dann
zählen die in den Jahren zuvor günstiger erworbenen
Rentenpunkte sogar voll. Wer also heute im Osten Ren-
tenansprüche erwirbt, der hat Aussicht auf nicht nur
88 Prozent des Rentenwerts, sondern auf den vollen
Rentenwert, wenn er später in Rente geht.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613416300

Herr Staatssekretär, es besteht der Wunsch nach einer

weiteren Zwischenfrage. Die Kollegin Bunge möchte
Sie etwas fragen.

F
Franz Thönnes (SPD):
Rede ID: ID1613416400


Nein. Ich habe meine Antwort darauf bereits gegeben.
Wir sind hier, was das parlamentarische Verfahren an-
geht, anders eingestiegen als abgesprochen. Deswegen
werde ich jetzt weiter ausführen, ohne Zwischenfragen
zuzulassen.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Jawohl!)


Diese Systematik ist mit Bedacht so gewählt worden.
Wer daran jetzt Veränderungen vornimmt, der stellt die
künftigen Rentnerinnen und Rentner im Osten schlech-
ter. Wäre der Rentenwert jetzt einheitlich, dann müsste
auch im Osten das versicherte Entgelt bei der Rentenbe-
rechnung ohne den Hochwertungsfaktor am höheren
Durchschnittsverdienst West gemessen werden. Die
Aufrechterhaltung der Hochwertung der Arbeitsver-
dienste trotz einer Angleichung der Rentenwerte wäre
ein systematischer Bruch. Die Lohn- und Beitragsbezo-
genheit der Renten in den neuen Ländern wäre aufgege-
ben. Damit wäre ein Grundprinzip der Rentenversiche-
rung verletzt.

Drittens. Die Angleichung des aktuellen Rentenwerts
Ost an den Westwert bedeutet eine Abkehr von Grund-
entscheidungen der beiden Staatsverträge zur Herstel-
lung der deutschen Einheit und eine Abkehr von den
Grundentscheidungen der Rentenüberleitung. Mit guten
Gründen ist hier ein Mechanismus festgelegt worden,
der die Angleichung an die tatsächliche Entwicklung der

14192 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Parl. Staatssekretär Franz Thönnes
Löhne und Einkommen der Beschäftigten koppelt. Des-
wegen ist diese Lohnentwicklung die entscheidende
Stellschraube.

Es geht um die wirtschaftliche Entwicklung in Ost-
deutschland. Gibt es Arbeit? Gibt es steigende Löhne?
Haben wir handlungsfähige Tarifpartner auf beiden Sei-
ten, Mitglieder in den Gewerkschaften, Mitglieder in den
Arbeitgeberverbänden, und haben wir Mindestlöhne
statt Dumpinglöhne? Denn Dumpinglöhne in der Er-
werbsphase heute bedeuten niedrige Renten morgen.
Das sind die wichtigen Fragen – auch für die Altersvor-
sorge; darum geht es.

Es gibt ein weiteres Element, das nicht unterschlagen
werden darf. Wir wissen, dass es bei den Löhnen eine
Schere gibt, die teilweise erheblich auseinanderklafft,
sogar stärker als bei den Renten. 18 Prozent beträgt die
Differenz zwischen Ost- und Westdeutschland bei den
Löhnen. Die Rentnerinnen und Rentner sind daher im
Vergleich zu den Arbeitnehmern in den neuen Ländern
bereits bessergestellt.

Viertens. Mit dem Rentenversicherungsnachhaltig-
keitsgesetz ist entschieden worden, dass sich die Schere
im Kern nur noch schließen kann; sie kann nicht mehr
weiter aufgehen. Sie wissen ganz genau, dass wir deswe-
gen, weil wir nicht wollen, dass sie weiter auseinander-
geht, gesagt haben: Die Renten im Osten müssen min-
destens so sehr steigen wie die im Westen. Das heißt,
selbst wenn es im Osten niedrigere Tarifabschlüsse gibt,
ist der Angleichungsprozess in Bezug auf die Renten so
zu vollziehen, wie er im Westen stattgefunden hat.

Auf die bei einer sofortigen Angleichung entstehen-
den Mehrausgaben von 6 Milliarden Euro hat die Kolle-
gin Schewe-Gerigk hingewiesen. Hierbei muss man na-
türlich überlegen, woher dieses Geld kommen soll. Ich
glaube, unter solidarischen Gesichtspunkten ist dies
nicht mit einer vernünftigen Systematik in Übereinstim-
mung zu bringen. Über dieses Thema sollte noch intensi-
ver diskutiert werden. Aber wenn es wirtschaftlich auf-
wärtsgeht – es geht darum, dies zu organisieren –, dann
haben auch die Rentnerinnen und Rentner im Osten et-
was davon. Dies ist besser, als an den Berechnungen he-
rumzuschrauben und ungedeckte Wechsel auf die Zu-
kunft auszustellen.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Wir brauchen gut bezahlte Jobs in Ostdeutschland;
das ist die Hauptaufgabe. Die Bundesregierung und die
gesamte Koalition arbeiten daran. Das tun wir seit Jah-
ren im Rahmen des Solidarpaktes und des Aufbaus Ost.
Hierbei geht es um Investitionen in Bildung und For-
schung. Es gibt ein Programm Kommunalkombi, das gut
100 000 Menschen Beschäftigungsperspektiven geben
soll. Ich empfehle, sich sehr intensiv mit den inneren
Wirkungen der Rentenformel und den Schutzbestim-
mungen, die wir geschaffen haben, auseinanderzusetzen.
Das bringt – vielleicht auch bei der Fraktion Die Linke –
etwas mehr Klarheit als solche Saisonanträge, wie sie
heute wieder gestellt worden sind.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613416500

Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin

Dr. Martina Bunge.


Dr. Martina Bunge (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613416600

Eigentlich wollte ich den Staatssekretär etwas fragen.

Da das nicht möglich ist, muss ich das jetzt in eine Fest-
stellung kleiden. Da das Vorhaben, die Einkommen in
Ost und West in fünf Jahren, wie 1991 geschätzt wurde,
anzugleichen, nicht in Erfüllung ging, kann man beim
historischen Akt der deutschen Einheit nach einer Son-
derlösung suchen.


(Iris Gleicke [SPD]: Das Ganze ist eine Sonderlösung! Das ist eine Aufwertung! Ihr wollt das Privileg abschaffen! Ihr wisst nicht, worüber ihr redet!)


Darauf bezieht sich auch die Forderung nach einer An-
gleichung der Renten. Eine Sonderlösung, die in fünf
Jahren abgearbeitet werden soll, also bis 2012, wird
nicht das ganze System durcheinanderbringen.

Um noch auf einen Aspekt hinzuweisen: Man kann ja
auch rentensystematisch entkoppeln: wie die Renten ge-
steigert und wie die Entgeltpunkte für die jetzt Erwerbs-
tätigen berechnet werden. Wenn man das entkoppelt, hat
man keinem geschadet und endlich eine Ost-West-An-
gleichung hergestellt.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613416700

Herr Staatssekretär, möchten Sie erwidern? – Das ist

nicht der Fall.

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/6734 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 38 auf:

Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Volker Beck (Köln), Irmingard Schewe-Gerigk,
Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN

Europäisches Jahr der Chancengleichheit für
alle

– Drucksachen 16/4933, 16/6314 –

Es liegen zwei Entschließungsanträge der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be-
schlossen.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14193


(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Petra Pau
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613416800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Jahr

der Chancengleichheit 2007 geht in den nächsten Tagen
zu Ende. Wenn man bilanziert, was die Bundesregierung
daraus gemacht hat, kommt man zu dem Schluss: Es
handelt sich um ein Jahr der vertanen Chancen.

Sie haben die Themen „Chancengleichheit“ und
„Vielfalt der Menschen in Unternehmen und Gesell-
schaft“ letztendlich nur mit spitzen Fingern angefasst.
Zur Eröffnung des Jahres fand, weil wir die EU-Ratsprä-
sidentschaft innehatten, ein Eröffnungskongress mit
Frau von der Leyen und Frau Böhmer sowie einem
Minister aus Portugal, das ja nach uns die EU-Ratspräsi-
dentschaft übernommen hat, bei uns statt. Ende dieses
Jahres gab es eine Abschlusskonferenz in Lissabon. Da
war die portugiesische Ratspräsidentschaft in Person des
Ministerpräsidenten und eines Ministers vertreten, die
Bundesregierung dagegen gerade einmal auf Mitarbeite-
rinnen- bzw. Mitarbeiterebene.

Wie sehr Sie sich mit diesem Thema beschäftigen,
wird auch daran deutlich, dass es bei der Antidiskrimi-
nierungsstelle des Bundes, die aufgrund der entspre-
chenden europäischen Richtlinie eingerichtet wurde
– deren Umsetzung sollte ja durch das Jahr der Chancen-
gleichheit begleitet werden –, über ein Jahr gedauert hat,
bis überhaupt ein Webauftritt eingerichtet wurde und In-
formationen über das Allgemeine Gleichbehandlungsge-
setz zugänglich gemacht wurden.

Das zeigt, Antidiskriminierung und Gleichbehand-
lung haben für diese Regierung keinen Wert. Das wird
letztendlich auch am Allgemeinen Gleichbehandlungs-
gesetz deutlich. Deswegen haben wir hierzu auch einen
Entschließungsantrag vorgelegt. Als wir über die Verab-
schiedung dieses Gesetz beraten haben – das hat der
CDU/CSU ja arg wehgetan –, haben wir Ihnen gesagt,
dass Ihnen alle Veränderungen, die Sie am ursprüngli-
chen rot-grünen Entwurf vornehmen, europarechtlich
auf die Füße fallen werden. Genau so ist es gekommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mit Schreiben vom 23. Oktober 2007 hat uns die EU-
Kommission gefragt, was wir uns bei bestimmten Sa-
chen gedacht haben. Diese Anfrage bezog sich dabei nur
auf eine der vier Richtlinien, nämlich die Antirassismus-
Richtlinie. Die Umsetzung der anderen drei Richtlinien
wird überhaupt erst noch geprüft.

So fragte man danach, warum es Ausnahmen vom
Prinzip der Gleichbehandlung beim Wohnraum gibt und
wo dafür die Basis in der Richtlinie sei. Hier droht eine
Verurteilung, weil nach Ansicht der Kommission diese
Ausnahmeregelung nicht den Vorgaben der Richtlinie
entspricht.

Es wird gefragt, warum denn die ursprünglich im All-
gemeinen Gleichbehandlungsgesetz vorgesehenen Rege-
lungen zum Kündigungsschutz herausgenommen wurden,
obwohl ansonsten das gesamte Arbeitsrecht einbezogen
wird. Hier stellt die Kommission fest, dass Deutschland
nicht sicherstellt, dass die Entlassungsbedingungen ent-
sprechend der europäischen Richtlinie ausgestaltet wer-
den.

Es wird auch danach gefragt, warum die Verbände
– das war uns immer ganz besonders wichtig – in Pro-
zessen eine geringe Rolle spielen sollen und es kein Ver-
bandsklagerecht gibt. Dabei wissen wir doch genau, dass
Menschen, die häufig von Diskriminierung betroffen
sind, überproportional innerhalb der Benachteiligten zu
Gruppen gehören, die entweder einen schlechteren Zu-
gang zu Bildung hatten oder wenig Geld haben, und des-
halb eine hohe Scheu haben, das Prozesskostenrisiko auf
sich zu nehmen. Aber gerade diesen Menschen müssen
doch in einem Antidiskriminierungsgesetz oder, wie Sie
es nennen, Gleichbehandlungsgesetz Möglichkeiten er-
öffnet werden, um sich wirksam gegen Diskriminierung
wehren zu können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mit unserem Entschließungsantrag wollen wir Ihnen
auf die Sprünge helfen. Wir bitten deshalb den in dieser
Sache federführenden Rechtsausschuss, eine Anhörung
hierzu durchzuführen, damit wir unsere europarechtli-
chen Hausaufgaben erledigen und einer Verurteilung in
einem Vertragsverletzungsverfahren entgehen.

Es könnte ja alles so schön sein, wenn manche Sa-
chen, die Sie in die Hand nehmen, auch ernsthaft betrie-
ben würden. In einem Text unserer Bundesregierung
heißt es:

Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen Wert-
schätzung erfahren – unabhängig von Geschlecht,
Rasse, Nationalität, ethnischer Herkunft, Religion
oder Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexuel-
ler Orientierung und Identität.

Das sollte die Grundlage sein. Sie haben als einzige
Initiative in diesem Jahr die Charta der Vielfalt verab-
schiedet. Die einzige Fraktion dieses Hohen Hauses, die
als Arbeitgeber dieser Charta beigetreten ist, ist die Bun-
destagsfraktion der Grünen. Wir schlagen dem Hohen
Haus nun vor, dass der Deutsche Bundestag als öffentli-
che Institution diese Charta ebenfalls unterzeichnet und
sich damit das zu eigen macht, was die Bundesregierung
immer fordert. Ich hoffe, dass der Antrag eine Mehrheit
findet. Er ist auf jeden Fall eine Nagelprobe für die
Ernsthaftigkeit Ihrer Bemühungen. Dieser sehr kleine
Schritt reicht bei weitem nicht aus. Aber wenigstens die-
sen Schritt sollten wir gemeinsam gehen.

Ich hoffe, dass wir im neuen Jahr, wenn das Jahr der
Chancengleichheit verstrichen ist, darüber reden können,
was die Voraussetzungen für Chancengleichheit sind.
Gerade wer nicht so viel Gesetzgebung in diesem Be-
reich haben will, muss sich um die gesellschaftspoliti-
sche Flankierung kümmern, sonst wird der Ruf nach
dem Gesetzgeber immer lauter. Auch wir finden: Die
beste Lösung ist, dass wir für ein diskriminierungsfreies
Klima in der Gesellschaft sorgen. Dann wären mehr Ge-
setze nicht notwendig.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


14194 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613416900

Das Wort hat die Kollegin Dr. Eva Möllring für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Eva Möllring (CDU):
Rede ID: ID1613417000

Nur wenn jeder Einzelne seine Chance bekommt,
können wir unser Wirtschaftspotenzial voll aus-
schöpfen.

Das hat Vladimir Spidla gesagt, der als Sägewerks-
arbeiter, Kulissenschieber, Arbeitsamtsdirektor und Mi-
nisterpräsident gearbeitet hat.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Diese Debatte ist der Schlusspunkt des Jahres
2007 im Deutschen Bundestag, was die Chancengleich-
heit angeht. Das hat seinen Grund; denn das Jahr der
Chancengleichheit geht zu Ende. Wir stellen fest, dass
die Chancengleichheit in Deutschland wirklich durchge-
hend zu einem Thema geworden ist, Herr Beck. Integra-
tion, Antidiskriminierung und Gleichstellung sind aus
der politischen Diskussion des Jahres 2007 nicht wegzu-
denken.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Aber die Regierung setzt sie nicht um!)


Die Antidiskriminierungsstelle hat mit großer Dynamik
ihre Arbeit aufgenommen. Informieren Sie sich, reden
Sie mit Frau Dr. Köppen, und Sie werden feststellen, wie
viele Anträge sie bearbeitet.

Gleich im Januar 2007 fand in Berlin als Auftaktver-
anstaltung der erste Gleichstellungsgipfel mit 600 aus-
gewählten Teilnehmerinnen und Teilnehmern statt. Im
März folgte die Leipziger Konferenz zur Chancen-
gleichheit älterer Arbeitnehmer und im Mai das Treffen
der Gleichstellungs- und Familienministerinnen bzw.
-minister in Bad Pyrmont.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie finden Sie, dass dieser Kongress nicht einmal barrierefrei war?)


– Herr Beck, ich habe festgestellt, dass Sie weder etwas
über die Gleichstellung von Frauen noch über die
Gleichstellung von älteren Menschen gesagt haben; das
hat mich sehr bekümmert. Denn es ist ein sehr zentraler
Punkt in diesem Themenfeld.

Gerade die Chancengleichheit von Frauen und Män-
nern in der Erwerbs- und Familienarbeit sowie die Dis-
kussion in Deutschland über sich wandelnde Rollenbil-
der, über Mütter und Väter in Führungspositionen und
über die Förderung von Frauen und Kindern mit Migra-
tionshintergrund hat die Schlagzeilen und Titelblätter er-
obert. Wer dadurch nicht sensibilisiert wurde, liebe beide
Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, der muss schon
ein dickes Fell haben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613417100

Kollegin Möllring, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Wunderlich?


Dr. Eva Möllring (CDU):
Rede ID: ID1613417200

Nein, danke. Wir wollen doch irgendwann Weihnach-

ten feiern.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Da haben wir noch eine Menge Zeit!)


Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich der Frauen-
ministerin von der Leyen, dass sie die deutsche EU-
Teampräsidentschaft genutzt hat, um die Chancen- und
Entgeltgleichheit von Frauen und Männern im Erwerbs-
leben und die Erweiterung der Rollenbilder in der
Roadmap der EU-Kommission zu verankern. Wir kön-
nen stolz darauf sein, dass diese Initiative aus Deutsch-
land gekommen ist und nun von Portugal und Slowenien
weitergeführt wird.

Es hat danach zahlreiche Konferenzen und Kampa-
gnen gegeben, in denen Herkunft, Behinderungen, Reli-
gion, Geschlecht und sexuelle Identität als Ursache für
mangelnde Chancengleichheit angesprochen wurden.
Der augenscheinlichste Erfolg dieser breiten Debatte
– ich glaube, auch das haben Sie nicht erwähnt, Herr
Beck – ist der Nationale Integrationsplan,


(Beifall bei der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich hatte nur fünf Minuten!)


der nicht nur eine Bestandsaufnahme, sondern auch eine
Fülle von Maßnahmen und Lösungsstrategien enthält.
Das Bewusstsein für Integration hat wirklich auf allen
politischen Ebenen Fuß gefasst.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind alles freiwillige Selbstverpflichtungen! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum ist die CDU gar nicht dabei?)


Schlüsselfaktoren für eine erfolgreiche Integration
sind Sprache und Bildung. Deshalb wollen wir die deut-
sche Sprache von Anfang an fördern. Es wird sich nie-
mand in Deutschland zurechtfinden, der nicht die deut-
sche Sprache kann. Ich habe einmal als junges Mädchen
erlebt, wie ich in Spanien vergeblich versucht habe, ei-
nen Bus zum Anhalten zu bringen. Daher ist mir sehr be-
wusst, wie wichtig es ist, dass man sich in der Sprache
des jeweiligen Landes verständigen kann. Denn man hat
nicht immer jemanden neben sich stehen, der einem
hilft.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es hat niemand das Gegenteil behauptet, auch nicht Herr Beck! Und der behauptet viel!)


– Es ist gut, dass Sie nicht das Gegenteil behaupten. Das
ist der erste Schritt zur Besserung.

Im Jahr der Chancengleichheit kam bei uns ein neuer
Denkansatz auf:

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14195


(A) (C)



(B) (D)


Dr. Eva Möllring

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben schon zu viel Glühwein getrunken!)


Diversity als Chance für Wirtschaft und Mitarbeiter. Vor
einem Jahr haben vier Unternehmen die Diversity-
Charta unterzeichnet. Seitdem haben sich 207 Betriebe
und öffentliche Einrichtungen angeschlossen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Unionsfraktion auch?)


Wir sind dankbar, dass die Kanzlerin die Schirmherr-
schaft für diese Initiative übernommen hat. Wir können
uns alle dafür einsetzen, dass sich möglichst viele wei-
tere Betriebe anschließen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die grüne Bundestagsfraktion ist schon dabei! Da haben Sie geschlafen, Frau Kollegin!)


– Herr Beck, ich betrachte Ihre Erfolgsliste gerne im
nächsten Jahr zu Weihnachten. Sie können sie mir ja
dann vorlegen.


(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wenn die ganzen grünen Unternehmen unterschrieben haben!)


Als Familien- und Frauenpolitikerin liegt mir die
Gleichstellung von Frauen und Männern besonders am
Herzen. Ich begrüße es deshalb, dass allein das Bundes-
ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
2,7 Millionen Euro investiert hat, um Gleichstellungsan-
liegen von Frauen und Männern anlässlich des Jahres der
Chancengleichheit zu verwirklichen. Das ist ein wichti-
ger Schritt. Trotzdem haben wir den Durchbruch noch
lange nicht erreicht. Frauen verdienen im Durchschnitt
immer noch 22 Prozent weniger als Männer.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Die verdienen nicht so wenig; die kriegen so wenig!)


– Guter Einwand, danke. – Hinsichtlich der Lohnunter-
schiede liegen wir weltweit gesehen weiter nur auf dem
71. Platz von 128 Nationen, also in der unteren Hälfte.
Deshalb sind weiterhin zahlreiche Maßnahmen notwen-
dig, um altmodische Rollenbilder zu überwinden und
Frauen gleiche Chancen im Berufsleben einzuräumen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Arbeit von Frauen muss gerecht bewertet werden.
Tarifstrukturen müssen transparent sein und öffentlich
gemacht werden. Frauen und Männer müssen die
Chance haben, Gehälter und andere Geldzahlungen zu
kennen und eine angemessene Bezahlung zu fordern.
Das hat ein Expertengespräch ergeben, das wir in dieser
Woche mit Frauen aus verschiedenen Branchen und Ver-
bänden geführt haben.

Der Ausbau der Kinderbetreuung wird für viele
Mütter und Väter ein Schlüssel zur dauerhaften Berufs-
tätigkeit sein. Nun sind die Unternehmen gefordert, fa-
milienfreundliche Arbeitszeiten und systematische Wei-
terbildungsangebote anzubieten. Die Politik muss sich in
den nächsten Jahren verstärkt darum kümmern, den
Müttern und Vätern diese Angebote finanziell zu ermög-
lichen. Wir leben nicht mehr in einer Zeit, in der eine
Erstausbildung langfristig eine erfolgreiche Berufstätig-
keit gesichert hat. Es wird von essenzieller Bedeutung
sein, dass gerade Mütter und Väter die Familienzeit als
Freiraum begreifen, um berufliche Chancen durch Fort-
bildung zu steigern. Nach dem Elterngeld und dem Aus-
bau der Kinderbetreuung ist das aus meiner Sicht der
nächste konsequente Schritt einer modernen Frauen- und
Familienpolitik.

Herr Winkler, ich freue mich, dass Sie mir in allen
Punkten zustimmen. Vielleicht treten Sie demnächst ja
bei uns ein.


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Trotz Weihnachten wäre das übertrieben! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt haben Sie meine hoffnungsvolle Karriere ruiniert! – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ich wusste ja schon immer, dass der Winkler ein Schwarzer ist!)


Das Jahr der Chancengleichheit endet nicht mit dem
letzten Kalendertag, sondern ist ein Startschuss für viele
neue Projekte und für eine positive Entwicklung. Ich
wünsche Ihnen und uns noch viele Jahre der Chancen-
gleichheit.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613417300

Das Wort hat der Kollege Jörg Rohde für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Jörg Rohde (FDP):
Rede ID: ID1613417400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das Europäische Jahr der Chancengleichheit neigt sich
dem Ende zu. Daher ist es durchaus angemessen, dass
wir uns in der letzten Sitzungswoche dieses Jahres mit
diesem Thema befassen und eine Bilanz ziehen.

Das Europäische Jahr der Chancengleichheit sollte
den Europäerinnen und Europäern bewusst machen, dass
sie ein Recht auf Gleichbehandlung haben. Es ging um
die Förderung der Chancengleichheit in verschiedenen
Bereichen, von der Arbeit bis zur Gesundheitsversor-
gung. Es ging darum, zu zeigen, wie Diversität die Euro-
päische Union und ihre Mitgliedstaaten im wirtschaftli-
chen, sozialen und gesellschaftlichen Bereich stärkt.
Schwerpunkte sollten sein: Rechte, gesellschaftliche
Präsenz, Anerkennung und Respekt.

In der Antwort auf die Große Anfrage der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen finden sich Hinweise auf zahl-
reiche Projekte aus den unterschiedlichsten Bereichen,
die zum Teil alle Diskriminierungsmerkmale umfassen,
sich zum Teil aber auch auf einige der in Art. 13 EGV
genannten Merkmale beschränken. Auch wenn mit die-
sen Projekten Signale gesetzt werden konnten, gibt es

14196 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Jörg Rohde
nach wie vor Bereiche, in denen es weiterhin erforder-
lich ist, auf Gleichstellung hinzuwirken.

Dies gilt etwa für den Bereich der Arbeitswelt. Laut
einer Studie der OECD ist die Differenz zwischen den
Gehältern von Frauen und Männern in unserem Land
größer als in fast allen anderen Industriestaaten. Ledig-
lich Japan und Korea liegen in dieser unrühmlichen Sta-
tistik noch vor der Bundesrepublik Deutschland.

Ein Beispiel: Ein Rechtsanwaltsgehilfe erhält im
Westen nach Angaben einer sehr weitverbreiteten Zei-
tung 2 819 Euro. Das Einkommen einer Frau, die diesen
Beruf im Westen ausübt, liegt bei nur 2 352 Euro. Lebt
sie im Osten, schmilzt es gar auf 1 797 Euro. Hier be-
steht also weiterhin Handlungsbedarf.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Der Frauenanteil unter den Führungskräften in der
deutschen Wirtschaft ist mit 12 Prozent noch immer
gering. Selbst in den Bereichen, in denen das Bundes-
gleichstellungsgesetz gilt, etwa in der Bundesverwal-
tung, sind Frauen vor allem in Beschäftigungsverhältnis-
sen mit geringerem Einkommen und schlechteren
Karrieremöglichkeiten häufiger zu finden.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja! Woran liegt das wohl?)


Auch das Angebot, einer Teilzeitbeschäftigung nachzu-
gehen, wird hauptsächlich von Frauen wahrgenommen.
Es ist zu konstatieren: Gesetze alleine helfen nicht.


(Beifall bei der FDP)


Damit komme ich zu den Entschließungsanträgen.
Der Abbau von Diskriminierung lässt sich nicht per Ge-
setz verordnen. Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe.
Was wir brauchen, ist eine Veränderung des Bewusst-
seins. Wir müssen eine Kultur des Miteinanders entwi-
ckeln, in der Diskriminierung und Vorurteile geächtet
und Vielfalt und Unterschiedlichkeit nicht nur akzeptiert
und toleriert, sondern auch als Bereicherung empfunden
werden.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das versuchen wir in Deutschland schon seit 60 Jahren!)


Freiheit zu garantieren heißt, die Rechte von Minderhei-
ten zu schützen.


(Beifall des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])


Was die Situation der Frauen angeht, bedeutet dies,
dass der Fahrplan der Europäischen Kommission für die
Gleichstellung von Frauen und Männern 2006 bis 2010
zügig umgesetzt werden muss und dass das Gender-
Mainstreaming überwacht und gestärkt werden muss.
Dies bedeutet aber auch, dass vor allem in den Unterneh-
men, Behörden und Einrichtungen Personen speziell mit
Blick auf Diversity geschult werden müssen. Ich möchte
in diesem Zusammenhang nur darauf hinweisen, dass im
Jahr 2007 bereits fast jedes zweite DAX-Unternehmen
über eine oder mehrere hauptamtliche Beauftragte für
Diversity verfügte.

In einem Entschließungsantrag der Grünen wird der
Bundestagspräsident gebeten, für die Unterzeichnung
der sogenannten Charta der Vielfalt Sorge zu tragen. Der
Deutsche Bundestag tritt als Verfassungsorgan schon
jetzt für den Abbau von Diskriminierungen und Intole-
ranz ein. Gleiche Rechte und gleiche Chancen für alle
Bürger, und das unabhängig von ihrer ethnischen Her-
kunft, ihrem Geschlecht, ihrer Religion oder Weltan-
schauung, ihrer Behinderung, ihres Alters oder ihrer se-
xuellen Identität, müssen garantiert werden. Diesem Ziel
fühlt sich der Bundestag seit jeher verpflichtet. Daran
hätten Sie uns nicht erinnern müssen, Herr Beck.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Oh doch! Das war wichtig! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich auch nicht!)


Es ist bedauerlich, dass die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen – dies auch vor dem Hintergrund des Kongresses
„Diversity als Chance“, der am 5. Dezember dieses Jah-
res mit Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, Staatsmi-
nisterin Prof. Dr. Maria Böhmer sowie Ján Figel für die
Europäische Kommission in Berlin stattgefunden hat –
in ihrem Entschließungsantrag keine konkreteren Forde-
rungen formulierte und auch in der Begründung in erster
Linie auf den Wortlaut der Charta für Vielfalt verwies.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wollen dieses Ziel eben auch erreichen!)


Zum Schluss möchte ich als Sprecher für Menschen
mit Behinderungen noch einige Bemerkungen zur Chan-
cengleichheit Behinderter machen. Das trägerübergrei-
fende persönliche Budget wird am 1. Januar 2008 nach
einer mehrjährigen Erprobungsphase zum Rechtsan-
spruch. Es könnte ein hervorragendes Mittel zur Schaf-
fung von Chancengleichheit sein. Denn es ermöglicht
behinderten Menschen, selbst zu entscheiden, von wem,
wann, wie und in welcher Umgebung sie betreut, ge-
pflegt und gefördert werden. Dieses Budget ist nichts an-
deres als die Chance zur Selbstbestimmung. Umso be-
dauerlicher ist es aber, dass die Bundesregierung keine
Schritte unternommen hat, um einige Konstruktionsfeh-
ler des Budgets noch vor dem 1. Januar 2008 zu korri-
gieren. Hier hätte ich mir mehr gewünscht, und ich bin
mir sicher, dass darüber fraktionsübergreifend Einigkeit
besteht.

Als letzter Redner der FDP-Fraktion in diesem Jahr
wünsche ich Ihnen auch im Namen all meiner liberalen
Kollegen eine erholsame und besinnliche Weihnachts-
zeit. Wir freuen uns auf die Diskussionen mit Ihnen im
kommenden Jahr. Alles Gute!


(Beifall bei der FDP und der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613417500

Den Beitrag der Kollegin Renate Gradistanac für die

SPD-Fraktion nehmen wir zu Protokoll.1)

1) Anlage 9

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007 14197


(A) (C)



(B) (D)


Vizepräsidentin Petra Pau
Das Wort hat der Kollege Dr. Ilja Seifert für die Frak-
tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613417600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren Besucherinnen und Besucher!
Das Europäische Jahr der Chancengleichheit ist ein Jahr
der verpassten Chance. Kollege Beck, ich kann Ihnen da
bedauerlicherweise nur zustimmen. Welche Chancen
hatten wir denn? Gerade hatten wir eine Diskussion über
die Rentnerinnen und Rentner. Was ist dabei herausge-
kommen? Die Ostdeutschen haben keine Chance, dass
ihre Renten angeglichen werden. Toll zum Thema Chan-
cengleichheit.

Oder reden wir über Menschen mit Behinderungen.
Herr Rohde hat es gerade gesagt: Das Persönliche Bud-
get ist ein wunderbares Wort. Erfunden haben wir es, die
Menschen mit Behinderungen, vor vielen Jahren in un-
serer Bewegung. Was machen Sie daraus? Ein Sparpro-
gramm. Wie es um die Chance bestellt ist, Herr Rohde,
dass damit jemand selbstbestimmt sein Leben so gestal-
ten kann, wie er möchte, sehen wir an folgendem Fall:
Gestern oder vorgestern wurde einem behinderten Men-
schen in Hamburg verboten, in eine eigene Wohnung zu
ziehen. Er muss im Heim bleiben, weil das angeblich ein
paar Euro billiger ist. Was hat das mit Selbstbestimmung
zu tun? Was nützt ihm das Persönliche Budget? Er emp-
findet dieses Weihnachtsgeschenk als „lebenslänglich“,
lebenslänglich eingesperrt im Heim. So wird verfahren,
anstatt dafür zu sorgen, dass zumindest diejenigen, die es
wollen, aus diesen Einrichtungen herauskommen und ihr
eigenes Leben mit Hilfe von Assistentinnen und Assis-
tenten führen können.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613417700

Kollege Seifert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Rohde?


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613417800

Aber gern, wenn es um diese Zeit noch erlaubt ist.


Jörg Rohde (FDP):
Rede ID: ID1613417900

Diese Minute nehmen wir uns, Herr Kollege Seifert.

Sie hatten gerade den Fall in Hamburg angesprochen.
Wenn ich das richtig sehe – wir beide sind behinderten-
politische Sprecher –, dann müsste doch dann, wenn der
Rechtsanspruch ab dem 1. Januar, also in wenigen Ta-
gen, existiert, ein Behinderter selber entscheiden kön-
nen, dass er seine eigene Wohnung bezieht; denn das ist
ein Rechtsanspruch. Es handelt sich doch anscheinend
nur um wenige Tage.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613418000

Lieber Herr Rohde, Sie sollten sich vielleicht einmal

mit dem Persönlichen Budget auseinandersetzen. Es
handelt sich bedauerlicherweise nicht um einen neuen
Anspruch, sondern nur um eine neue Art und Weise, wie
man sich das Geld auszahlen lassen kann. Wenn es so
wäre, dass man so viel Geld bekommt, wie man braucht,
dann würde das Persönliche Budget diesem Menschen
wirklich helfen. Dann könnte dieser Mensch ab dem
1. Januar sagen: Ich möchte aus dem Heim ausziehen,
ich möchte meine eigene Wohnung und meine Assisten-
tin bzw. meinen Assistenten bezahlen. – Er bekommt
aber das Geld nicht. Das Recht nützt ihm nichts, wenn er
die Mittel nicht in die Hand bekommt. Dieser Mensch ist
bedauerlicherweise laut Gerichtsbeschluss momentan im
Heim eingesperrt. Es sieht nicht so aus, als ob er dort he-
rauskäme, jedenfalls nicht mit den jetzigen Mitteln.
Wenn wir als behindertenpolitische Sprecherinnen und
Sprecher gemeinsam auf die Bundesregierung so einwir-
ken würden, dass der Bedarf an Hilfeleistung gedeckt
wird, dann wären wir weiter und hätten etwas erreicht.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Kommen wir zurück zum Thema. Wenn wir Chancen-
gleichheit herstellen wollen, so müssen wir verschiedene
Merkmale beachten. Wenn Ihre so gelobte, allerliebste
Familienministerin bei der Eröffnungsveranstaltung im
Haus des Lehrers, in der Kongresshalle, in ihrer ellenlan-
gen Rede das Wort „Menschen mit Behinderung“ nicht
einmal sagt, nicht einmal denkt, dann weiß ich, was sie
von den Merkmalen und von Chancengleichheit hält. Ich
habe die Rede gehört. Die behinderten Menschen kom-
men in ihrem Denken gar nicht vor.


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Jetzt müssen wir aber Einspruch erheben!)


Komischerweise kommt das auch im richtigen Leben
nicht vor.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Die Ministerin hat ein weites Herz für Menschen mit Behinderung!)


Wir müssen uns jede Chance mühsam erkämpfen. Sie
geben uns keine Möglichkeit, uns tatsächlich auf die Re-
gierung zu stützen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613418100

Kollege Seifert, gestatten Sie eine weitere Zwischen-

frage, dieses Mal vom Kollegen Volker Beck?


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613418200

Ich bin überrascht, aber selbstverständlich, Herr

Beck.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1613418300

Können Sie, da auch Sie, wie Sie eben geschildert ha-

ben, bei dem Kongress anwesend waren und zu Recht
bemerken, dass der Begriff in der Rede fehlte, bestäti-
gen, dass es offensichtlich bei der Konzeptionierung der
ganzen Veranstaltung daran fehlte, an die Bedürfnisse
von Behinderten zu denken, insbesondere angesichts der
Tatsache, dass die Peinlichkeit der Veranstaltung darin
bestand, dass behinderte Teilnehmer, die eigentlich auf
das Podium sollten, nicht dorthin kamen, weil keiner da-
ran gedacht hat, dass ein Rollstuhlfahrer eine Rampe
braucht, um menschenwürdig auf das Podium kommen

14198 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 134. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2007


(A) (C)



(B) (D)


Volker Beck (Köln)


zu können? Wie haben Sie als behinderter Mensch es ge-
funden, dass das Jahr der Chancengleichheit so beginnt?


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613418400

Herr Beck, ich muss sagen: Ich habe mich geschämt.

Selbst wenn ich dort als jemand bin, der sich zu denen
zählt, um die es geht, bin ich als Abgeordneter auch ein
wenig Repräsentant dieses Staates. Ich habe mich für
diesen Staat geschämt, dass er nicht einmal in der Lage
ist, eine Veranstaltung zu organisieren, in der Rollstuhl-
fahrerinnen und Rollstuhlfahrer wenigstens auf die
Bühne können, wenn sie schon als Rednerinnen und
Redner eingeteilt sind.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem etwas Besonderes zu sein. Darum: Sonder-Regelungen für alle! Und: Sonder-Regelungen für jede/n! Danke schön. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das hört sich fast liberal an!)


– Richtige Liberale wissen, dass sozial richtig ist!


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1613418500


BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Anschließend habe ich mir erlaubt, ein wenig mit dem
Kommissar Spidla zu reden, da wir uns ein wenig ken-
nen. Er hat selber gesagt, dass es ihm ziemlich unange-
nehm ist, so etwas erleben zu müssen. Ich glaube, da ist
die EU-Kommission schon etwas weiter als unsere aller-
liebste Ministerin.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Erlauben Sie mir, da ich der letzte Redner in diesem
Jahr bin, zum Abschied noch etwas Versöhnliches zu sa-
gen.


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Wer weiß!)


Ich erlaube mir, diese Debatte mit einem kleinen Gedicht
zu beenden:

BE-SONDER-LICHES

Jede/r ist etwas Besonderes. –
Besonders ich.
Oder:
Jede/r ist etwas Besonderes. –
Besonders du.
Und:
Jede/r isst etwas Besonderes.
Jede/r braucht Besonderes.
Jede/r möchte Besonderes.
Jede/r träumt Besonderes.
Also:
Es ist nichts Besonderes,
Damit schließe ich die Aussprache.

Wir kommen zur Überweisung der Entschließungsan-
träge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Der Ent-
schließungsantrag auf Drucksache 16/7536 soll zur fe-
derführenden Beratung an den Rechtsausschuss und zur
Mitberatung an den Ausschuss für Arbeit und Soziales,
an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend sowie an den Ausschuss für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe überwiesen werden. Der Entschlie-
ßungsantrag auf Drucksache 16/7537 soll zur federfüh-
renden Beratung an den Ältestenrat und zur Mitberatung
an den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ge-
schäftsordnung überwiesen werden. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die
nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mitt-
woch, den 16. Januar 2008, 13 Uhr, ein.

Ich wünsche Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
aber auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der
Verwaltung, der Fraktionen, der Mitglieder des Bundes-
tages und natürlich auch den Gästen des Hauses besinn-
liche Feiertage, die notwendige Muße, um Kraft zu tan-
ken, und die eine oder andere gute Idee für das Jahr
2008. Heute war viel von Zeitnot die Rede. Es gibt aber
Hoffnung: Im Jahr 2008 haben wir einen Tag mehr. Ich
wünsche Ihnen alles Gute.

Die Sitzung ist geschlossen.