Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich und wünsche uns einen guten Morgen und eine
– wie meistens – ebenso ernsthafte wie fröhliche Bera-
tung.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, darf ich
zwei Geburtstagsglückwünsche aussprechen.
Der Kollege Heinz Riesenhuber hat am 1. Dezember
seinen 72. Geburtstag gefeiert.
Man hält es kaum für möglich, aber die Recherchen be-
stätigen die Ernsthaftigkeit des vorgetragenen Befundes.
Die Kollegin Ute Kumpf hat am 4. Dezember ihren
60. Geburtstag gefeiert. Auch ihr möchte ich herzlich im
Namen des ganzen Hauses gratulieren und alles Gute
wünschen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-
führten Punkte zu erweitern:
Rede
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Haltung der Bundesregierung zur Angemes-
senheit von Managereinkommen in Deutsch-
land
ZP 2 Beratung des Zwischenberichts der Enquete-
Kommission „Kultur in Deutschland“
Kultur als Staatsziel
– Drucksache 15/5560 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinf
fahren
tzung
n 13. Dezember 2007
.01 Uhr
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Joachim Fuchtel, Eckart von Klaeden, Norbert
Barthle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Monika
Griefahn, Lothar Mark, Dirk Becker, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Erneuerbare Energien, wie Solarenergie, Geo-
thermie, Wind- und Wasserkraft, für die
Energieversorgung deutscher Einrichtungen
im Ausland einsetzen – Für Klimaschutz und
Nachhaltigkeit
– Drucksache 16/7489 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 326 zu Petitionen
text
– Drucksache 16/7492 –
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 327 zu Petitionen
– Drucksache 16/7493 –
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 328 zu Petitionen
– Drucksache 16/7494 –
ng der Beschlussempfehlung des Petitions-
usses
elübersicht 329 zu Petitionen
achten Ver-
d) Beratu
aussch
Samm
– Drucksache 16/7495 –
13864 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Präsident Dr. Norbert Lammert
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 330 zu Petitionen
– Drucksache 16/7496 –
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 331 zu Petitionen
– Drucksache 16/7497 –
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 332 zu Petitionen
– Drucksache 16/7498 –
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 333 zu Petitionen
– Drucksache 16/7499 –
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 334 zu Petitionen
– Drucksache 16/7500 –
j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 335 zu Petitionen
– Drucksache 16/7501 –
k) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 336 zu Petitionen
– Drucksache 16/7502 –
ZP 5 Wahlen zu Gremien
a) Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU
Wahl von Mitgliedern des Beirats bei der Bun-
desbeauftragten für die Unterlagen des Staats-
sicherheitsdienstes gemäß § 39 Abs. 1 des Stasi-
Unterlagen-Gesetzes
– Drucksache 16/7474 –
b) Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wahl von Mitgliedern des Verwaltungsrates
der Kreditanstalt für Wiederaufbau gemäß § 7
Abs. 1 Nr. 4 des Gesetzes über die Kreditan-
stalt für Wiederaufbau
– Drucksache 16/7475 –
c) Wahlvorschlag der Fraktion der SPD
Wahl von Mitgliedern des Gemeinsamen Aus-
schusses gemäß Artikel 53 a des Grundgeset-
zes
– Drucksache 16/7476 –
d) Wahlvorschlag der Fraktion der SPD
Wahl vom Deutschen Bundestag zu entsenden-
der Mitglieder des Ausschusses nach Artikel 77
– Drucksache 16/7477 –
e) Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU
Wahl eines vom Deutschen Bundestag zu ent-
sendenden Mitglieds des Beirats für Fragen
– Drucksache 16/7478 –
f) Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU
Wahl eines Mitglieds des Stiftungsrates der
– Drucksache 16/7479 –
g) Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU
Wahl eines Mitglieds des Verwaltungsrates bei
der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungs-
aufsicht
– Drucksache 16/7480 –
h) Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU
Wahl einer Schriftführerin gemäß § 3 der Ge-
schäftsordnung
– Drucksache 16/7481 –
ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Konsequenzen der Bundesregierung aus der
Studie über erhöhte Krebsrisiken in der Um-
gebung von Atomanlagen
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Ute Koczy, Marieluise Beck ,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen und Inte-
rimsabkommen zwischen EU und AKP-Staaten
entwicklungsfreundlich gestalten
– Drucksache 16/7469 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13865
(C)
(D)
Präsident Dr. Norbert Lammert
– zu dem Antrag der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Rainer Brüderle, Martin Zeil, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Eine Chance für den Wettbewerb – Kein
Monopolschutz für die Deutsche Post AG
– zu dem Antrag der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Brigitte Pothmer, Christine Scheel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Post braucht Wettbewerb – Wettbewerb
braucht faire Bedingungen
– Drucksachen 16/6432, 16/6631, 16/7510 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Barthel
ZP 9 Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Schneider , Klaus Ernst, Dr. Martina
Bunge, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Vier-
ten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Bu-
– Drucksache 16/7459 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, Dr. Karl
Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Arbeit statt Frühverrentung fördern
– Drucksache 16/7003 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Lanfermann, Daniel Bahr , Dr. Konrad
Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Für eine zukunftsfest und generationengerecht
finanzierte, die Selbstbestimmung stärkende,
transparente und unbürokratische Pflege
– Drucksache 16/7491 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Gesundheitsförderung und Prävention als ge-
samtgesellschaftliche Aufgaben stärken – Ge-
sellschaftliche Teilhabe für alle ermöglichen
– Drucksache 16/7471 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 11 wird abgesetzt. In der
Folge rücken die ungeraden Tagesordnungspunkte 13 bis
29 jeweils vor.
Schließlich mache ich auf zwei nachträgliche Aus-
schussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam.
Der in der 126. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich
dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
zur Mitberatung überwiesen werden.
Achter Gesetzentwurf der Bundesregierung
zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes
– Drucksache 16/7077 –
überwiesen:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Der in der 106. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung zur Mitberatung überwiesen
werden.
Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl,
Cornelia Behm, Hans-Josef Fell, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Mit Bioraffinerien in Deutschland die Bio-
masse effizienter nutzen und zusätzliche Res-
sourcen erschließen
– Drucksache 16/5529 –
überwiesen:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
13866 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Präsident Dr. Norbert Lammert
Sind Sie damit einverstanden? – Das scheint der Fall
zu sein. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 sowie den Zusatz-
punkt 2 auf:
3 Beratung des Berichts der Enquete-Kommission
„Kultur in Deutschland“
Schlussbericht der Enquete-Kommission
„Kultur in Deutschland“
– Drucksache 16/7000 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 2 Beratung des Zwischenberichts der Enquete-
Kommission „Kultur in Deutschland“
Kultur als Staatsziel
– Drucksache 15/5560 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute steht an pro-
minenter Stelle im Zentrum der parlamentarischen Bera-
tung des Bundestages ein Thema, das es nur selten auf
diese prominenten Tagesordnungsplätze schafft, was si-
cher auch damit zusammenhängt, dass die Bedeutung
dieses Themas nach wie vor in der Öffentlichkeit eher
unterschätzt wird.
Tatsächlich sind für die Lebensverhältnisse einer Gesell-
schaft die kulturellen Bedingungen, die in einer solchen
Gesellschaft gelten, nicht weniger wichtig als die wirt-
schaftlichen und sozialen Strukturen.
Dies deutlich zu machen, ist sicher eine der ganz we-
sentlichen Aufgaben der Enquete-Kommission gewesen,
deren Arbeit aus der letzten und dieser Legislaturperiode
heute im Mittelpunkt unserer Beratungen steht. Deswe-
gen nutze ich die Gelegenheit auch gerne, neben den an
der Arbeit dieser Kommission in besonderer Weise be-
teiligten Kolleginnen und Kollegen die Sachverständi-
gen zu begrüßen, die auf der Besuchertribüne Platz ge-
nommen haben.
Ich danke Ihnen im Namen des ganzen Hauses herzlich
für Ihre verdienstvolle Mitarbeit in dieser Kommission.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst der Vorsitzenden dieser Kommission, der Kolle-
gin Gitta Connemann.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-
legen! Geschätzte Sachverständigenmitglieder! Es ist
vollbracht! Im Namen aller Mitglieder der Enquete-
Kommission „Kultur in Deutschland“ melde ich: Das
Werk ist getan. Vor vier Jahren erhielten wir von Ihnen
den Auftrag, erstens die Situation von Kunst und Kultur
in Deutschland zu beschreiben und zweitens Vorschläge
für gesetzgeberisches Handeln zu unterbreiten. Dieser
Bericht ist das Ergebnis unserer Arbeit. Wir legen Ihnen
damit die wohl umfassendste Untersuchung der Kultur-
landschaft Deutschlands seit mehr als 30 Jahren vor.
Im Bericht finden sich 465 Handlungsempfehlungen
an Bund, Länder, Kommunen und andere Kulturadressa-
ten, von den Hochschulen bis zum Rundfunk. Sie erhal-
ten einen Kulturkompass, der richtungsweisend sein
kann. Er widerlegt anfängliche Zweifel; denn auch wir
fragten uns, ob es wirklich gelingen kann, die einzigar-
tige Kulturlandschaft in Deutschland zu beschreiben.
Unser Land bietet eine beispiellose kulturelle Viel-
falt, um die wir in der Welt beneidet werden. Die Zahlen
sprechen für sich: mehr als 150 Opernhäuser und Thea-
ter, mehr als 6 000 Museen, unzählige Bibliotheken,
Musikschulen, ein Netz von Kunsthochschulen, viele
Millionen Bürgerinnen und Bürger, die sich in Chören,
Kulturvereinen und Musikkapellen vor Ort und in den
Ländern engagieren.
Ich sage bewusst: in den Ländern. Nicht nur deshalb
wurde mehr als einmal die kritische Frage gestellt, wa-
rum sich eine Kommission des Deutschen Bundestages
mit diesem Thema befasst. Denn immerhin wurde im
Zuge der Föderalismusreform die ausschließliche Zu-
ständigkeit der Länder auf diesem Gebiet bestätigt. Wir
erkennen diese überwiegende Verantwortung für die
staatliche Kulturförderung an. Aber wir erkennen auch
eine Gesamtverantwortung. Nicht nur, weil der Bund als
Gesetzgeber für viele Rechtsgebiete zuständig ist, die
unmittelbar Kunst- und Kulturschaffende betreffen, vom
Urheberrecht über das Vereinsrecht bis zum Sozialversi-
cherungsrecht.
Wir, die Mitglieder der Enquete-Kommission „Kultur
in Deutschland“, skizzieren in diesem Bericht die
Grundzüge einer nationalen Kulturpolitik, im Wissen
und in der Verantwortung um die Bedeutung von Kultur
für unsere Gesellschaft; denn Kultur ist mehr als lebens-
wert. Kultur gibt mehr als Identität. Kultur ist das, was
von einer Gesellschaft bleibt.
Die Steuerdebatten dieser Tage werden in 50 Jahren ver-
gessen sein, nicht aber die künstlerischen Leistungen
dieser Zeit. Kultur ist deshalb nicht nur Ornament, son-
dern das Fundament, auf dem unsere Gesellschaft steht
und auf dem sie aufbaut.
Die Pfeiler dieses Fundaments bedürfen jedoch der
Stärkung, denn sie werden nicht nur durch kleinere Be-
ben erschüttert wie die regelmäßig aufflackernde De-
batte über die Erhöhung des Umsatzsteuersatzes für Kul-
turgüter, die wir ablehnen. Sondern sie werden auch
durch Unterspülungen bedroht, die durch die Not der öf-
fentlichen Haushalte in den letzten Jahren ausgelöst wur-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13867
(C)
(D)
Gitta Connemann
den. Die Ausgaben für Kultur gingen deutlich zurück:
2001 beliefen sie sich noch auf 8,4 Milliarden Euro,
2005 nur noch auf 7,8 Milliarden Euro.
Eine Ausnahme bildet übrigens nur der Bund. Auch
dank des Einsatzes unseres Staatsministers Bernd
Neumann ist es seit 2005 gelungen, in diesem Bereich
die Haushaltsansätze zu erhöhen. Dafür gebührt ihm
Dank.
Zwar verfügt Deutschland immer noch über eine bei-
spielhafte Kulturförderung – dank des Bürgers. Denn
dieser ist der größte Kulturfinanzierer in Deutschland,
zunächst als Marktteilnehmer, dann als Spender und in
dritter Linie als Steuerzahler. Diese Steuermittel fließen
zwar jetzt wieder stärker, aber in den vergangenen Jah-
ren sind viele Theater, Orchester, Bibliotheken und Mu-
sikschulen den Sparzwängen geopfert worden. Wir sa-
gen: zu viele. Denn leider zählen die Ausgaben für
Kultur zu den sogenannten freiwilligen Leistungen. Nur
der Freistaat Sachsen bildet hier die rühmliche Aus-
nahme. In allen anderen Ländern sind diese Ausgaben
auch zum Leidwesen vieler Kommunalpolitiker keine
Pflichtaufgaben. Kann eine Kommune ihren Haushalt
nicht ausgleichen, muss sie die Gemeindestraße weiter
teeren, aber die Gemeindebibliothek schließen. Das ist
aus unserer Sicht die vollkommen falsche Priorität.
Zu einer funktionsfähigen Infrastruktur gehören nämlich
nicht nur Verkehrswege, sondern zwingend Kultur- und
Bildungseinrichtungen. Die Ausgaben für Kultur sind
keine Subventionen, sondern Investitionen.
Erst die Investition in kulturelle Infrastruktur eröffnet
die Chance auf gleiche Teilhabe.
Es wäre allerdings ein Fehler, Kulturpolitik immer
nur auf finanzielle Aspekte zu reduzieren; denn damit
würden die Möglichkeiten verkannt, die der Gesetzgeber
zum Schutz und zur Förderung von Kunst und Kultur
hat, von der Änderung des Gemeinnützigkeitsrechts bis
zur Fortschreibung im Stiftungsrecht. Wir raten Bund
und Ländern, insoweit die Weichenstellungen auf euro-
päischer und internationaler Ebene nicht nur wachsam
zu beobachten, sondern auf Rechtsakte wie etwa das
GATS-Abkommen oder das europäische Vergaberecht
sehr frühzeitig Einfluss zu nehmen.
Denn nur dort können und müssen Angriffe auf eine au-
tonome nationale Kulturpolitik abgewendet werden.
Deutschland darf sich hier nicht mit einer Zuschauerrolle
begnügen.
Die Aufgabe der Kulturpolitik ist die Schaffung von
Rahmenbedingungen zum Schutz von Kunst und Kultur.
Ihre Aufgabe ist es nicht, selbst Kultur zu schaffen, son-
dern für die erforderlichen Rahmenbedingungen zu sor-
gen. Die Gestaltung von Kunst und Kultur überlässt sie
besser den Künstlern.
Unseren Handlungsempfehlungen gingen intensive
Recherchen und sorgfältige Prüfungen voraus. Von den
Kommissionsmitgliedern war ein beträchtliches Ar-
beitspensum zu leisten. Pro deo, pro bono. Deshalb gilt
mein besonderer Dank den Sachverständigenmitgliedern
der Kommission. Mit ihrem Einsatz, ihrem Wissen, ihrer
praktischen Erfahrung haben sie erst deutlich gemacht,
welche Themen wir behandeln müssen. Häufig haben sie
die Themen aus einem anderen Blickwinkel betrachtet.
Deshalb danke ich namentlich Susanne Binas-Preisen-
dörfer, Helga Boldt, Gerd Harms, Dieter Kramer, Heinz-
Rudolf Kunze, Bernhard Freiherr von Loeffelholz,
Oliver Scheytt, Wolfgang Schneider, Thomas Sternberg,
Dieter Swatek, Nike Wagner, Hans Zehetmair, Olaf
Zimmermann.
Meine Damen und Herren Sachverständigen, Sie ha-
ben sich in bester Weise bürgerschaftlich für die Kultur
engagiert. Gemeinsam haben wir außerhalb der Tages-
politik mehr als 50 Themenfelder behandelt. Es ging um
Infrastruktur, Kompetenzen, rechtliche Rahmenbedin-
gungen in Staat und Zivilgesellschaft, öffentliche und
private Förderung, die wirtschaftliche und soziale Lage
der Künstlerinnen und Künstler, Kulturwirtschaft, den
Kulturstandort Deutschland, kulturelle Bildung, Kultur
in der Informations- und Mediengesellschaft, Kultur in
Europa, Kultur im Kontext der Globalisierung, Kultur-
statistik in Deutschland und der Europäischen Union. Je-
des dieser Themen verdient eine öffentliche Debatte.
Mit der Empfehlung, Kultur als Staatsziel im Grund-
gesetz zu verankern, erregten wir sicherlich die meiste
Aufmerksamkeit. Die Kommission ist der Ansicht, dass
es eines solchen Bekenntnisses zur Verantwortung des
Staates für Schutz und Förderung von Kunst und Kultur
in Deutschland bedarf. Dieses Staatsziel ist sozusagen
der Überbau für alle staatlichen Ebenen. Die Verantwor-
tung der Politik geht aber weiter. Deshalb dürfen die an-
deren Handlungsempfehlungen nicht übersehen werden.
Sie betreffen die Rahmenbedingungen von Theatern,
Kulturorchestern, Opern, Museen und Ausstellungshäu-
sern sowie von Bibliotheken und soziokulturellen Zen-
tren. Es werden Vorschläge für eine Stärkung der Kultur
in ländlichen Regionen, betreffend die kulturelle Tätig-
keit der Kirchen und die Förderung des bürgerschaftli-
chen Engagements in der Kultur gemacht.
Auf die wirtschaftliche und soziale Lage der Künst-
lerinnen und Künstler haben wir zu Recht ein besonderes
Augenmerk gelegt; denn ohne sie gäbe es keine Kultur
in Deutschland.
13868 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Gitta Connemann
Deshalb unterbreiten wir allein 50 Vorschläge für eine
verbesserte Aus- und Fortbildung, Änderungen im Tarif-
und Arbeitsrecht bis hin zu Fragen der Besteuerung und
der Altersvorsorge. Hinzu kommen Aussagen zur Krea-
tiv- und Kulturwirtschaft, ein Bereich, der sich inzwi-
schen von einem Aschenbrödel zu einer durchaus an-
sehnlichen Braut entwickelt hat.
Angesichts des Wertes jeder Handlungsempfehlung – es
sind 465 – kann und will ich als Vorsitzende der Enquete-
Kommission keine einzelne hervorheben. Nur eine Aus-
nahme gestatte ich mir. Andere Einzelbewertungen über-
lasse ich in diesem Rahmen den nachfolgenden Kom-
missionsmitgliedern. Ich gestatte mir das Augenmerk
auf die kulturelle Bildung zu richten; denn diese ist eine
der besten Investitionen in die Zukunft des Landes. Der
Wert der kulturellen Bildung scheint inzwischen glückli-
cherweise in der Öffentlichkeit erkannt zu sein. Unser
Land darf sich nicht der Kreativität als unseres einzigen
Rohstoffs für die Zukunftsfähigkeit begeben. Bildung
darf nicht auf ein trostloses Lernen reduziert werden.
Bei der kulturellen Bildung geht es um den ganzen Men-
schen, um die Bildung seiner Persönlichkeit, um Emotio-
nen und Kreativität. Ohne kulturelle Bildung – das ist
meine feste Überzeugung – fehlt ein Schlüssel zu wahrer
Teilhabe. Deshalb ist auf keinem Feld die Verantwortung
des Staates auf all seinen Ebenen größer als in diesem
Bereich. Dies hat auch etwas mit Teilhabe zu tun; denn
Kunst und Kultur dürfen kein Luxusgut einiger weniger
Privilegierter sein. Die Teilhabe aller an Kultur muss ge-
währleistet sein; denn sie bedeutet auch Teilhabe an un-
serer Gesellschaft.
Diese Teilhabe wird von einer Vielfalt von Trägern ge-
währleistet. Kulturpolitik und öffentliche Kulturförde-
rung finden in Deutschland im Wechselspiel von Staat,
Wirtschaft und Zivilgesellschaft statt. Sie gemeinsam
stellen die kulturelle Infrastruktur zur Verfügung, von
Vereinen über Kulturunternehmen, Kirchen, Glaubensge-
meinschaften bis hin zu Rundfunkanstalten, Stiftungen,
Sponsoren und den Künstlern selbst. Dieser Dreiklang
aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft ermöglicht
ein kulturelles Leben, das keiner allein gewährleisten
könnte, zuletzt der Staat. Es darf deshalb kein Unter-
schied zwischen staatlich geförderter, guter Kultur auf
der einen Seite und der Kultur, die auf bürgerschaftliches
Engagement gegründet wird, sowie privat veranstalteter
Kultur auf der anderen Seite gemacht werden.
Eine solche Trennung sollte nach unserem Bericht der
Vergangenheit angehören.
Was bleibt? Es bleibt unser Bericht, ein leidenschaft-
liches Plädoyer für die Förderung von Kunst und Kultur
in Deutschland als eine ebenso notwendige wie lohnens-
werte Investition in die Zukunft. Die zurückliegende Ar-
beit war von einem Miteinander aller Beteiligten geprägt,
und zwar immer über Partei- und Fraktionsgrenzen hin-
weg. Das ist die Stärke der Kultur.
Es einte uns das Ziel, die einzigartige Kulturlandschaft
und eine beispiellose kulturelle Vielfalt zu schützen und
zu fördern, und das mit großem Gewinn für die Sache.
Als Vorsitzende der Enquete-Kommission „Kultur in
Deutschland“ danke ich deshalb allen Mitgliedern dieser
Kommission für ihre Kompetenz, für ihren Arbeitswil-
len, für ihre Begeisterungsfähigkeit und für ihre Kreati-
vität. Insbesondere danke ich den Kolleginnen und Kol-
legen aus allen Fraktionen, die neben ihrem normalen
Abgeordnetenpensum die Kärrnerarbeit einer Enquete-
Kommission auf sich genommen haben. Stellvertretend
möchte ich diesen Dank an die Obleute der Fraktionen
richten: an Wolfgang Börnsen, an Siegmund Ehrmann,
der gleichzeitig stellvertretender Vorsitzender dieser
Kommission war, an Hans-Joachim Otto, an Undine
Kurth und an Lukrezia Jochimsen. Vielen Dank!
Nicht zuletzt gilt mein Dank den Mitstreitern und
Mitstreiterinnen des Sekretariats, den Fraktionsreferen-
ten, den Mitarbeitern der Kommissionsmitglieder. Ohne
ihr Engagement hätte die Kommission ihr Arbeitspen-
sum nicht leisten können. Die Bestandsaufnahme ist er-
folgt. Die Handlungsempfehlungen liegen vor.
Und nun? Jedem Ende wohnt auch ein Anfang inne.
Mit der Vorlage unseres Berichtes beginnt eine neue
Etappe. Dieser Bericht kann ein Kulturkompass sein, der
richtungsweisend ist – wenn denn die Empfehlungen
auch umgesetzt werden. Jetzt sind die Kulturpolitiker in
allen Fraktionen, die Kulturschaffenden auf allen Ebe-
nen gefragt, unsere Vorlage zum Wohle der Kultur zu
nutzen. Ich sage noch einmal: Es ist vollbracht, das Werk
ist getan, und nun beginnt die Arbeit.
Vielen Dank.
Liebe Frau Connemann, ich will Ihnen noch einmal in
aller Form ganz herzlich für Ihre Arbeit als Vorsitzende
der Kommission danken. Dies war sicher nicht immer
eine nur einfache Aufgabe; aber es war, denke ich, eine
gleichzeitig nicht nur besonders wichtige, sondern auch
durchaus dankbare Aufgabe. Jedenfalls schlägt sich das
Ergebnis dieser Arbeit in einer auffälligeren Weise nie-
der, als das für manch andere Aktivitäten im Deutschen
Bundestag gelegentlich zu beobachten ist.
Ich habe vorhin in der friedlichen, adventlichen Stim-
mung zu Beginn der Sitzung darauf verzichtet, Ihr förm-
liches Einvernehmen darüber herbeizuführen, dass diese
Debatte insgesamt zwei Stunden dauern soll. Das
möchte ich gerne nachholen. –
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13869
(C)
(D)
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich stelle hiermit fest, dass außer einem – nicht weiter
konkretisierten – Zögern beim Vorsitzenden der FDP-
Fraktion auch zu diesem Verfahrensvorschlag Einver-
nehmen besteht.
Ich mache der guten Ordnung halber darauf aufmerk-
sam, dass die gerade gehaltene Rede selbstverständlich
in die Berechnung der Gesamtredezeit einzubeziehen ist.
Ich sage das, um voreilige Spekulationen einzudämmen.
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Hans-Joachim
Otto für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Insbeson-
dere heute: Liebe Gäste auf der Tribüne! Nach vier Jah-
ren Arbeit sehe ich mich in der Lage, es zu beurteilen:
Das Amt der Vorsitzenden einer Enquete-Kommission
ist wohl eines der komplexesten und der anstrengendsten
Ämter, die ein Bundestag überhaupt vergeben kann.
Deswegen liegt mir sehr daran – ich spreche sicherlich
im Namen aller Kolleginnen und Kollegen –, dir, Gitta
Connemann, für diese Arbeit ausdrücklich allerhöchsten
Respekt und Dank auszusprechen.
Deine Konsequenz, gelegentlich deine Härte, deine
bösen Blicke, die sind schon sprichwörtlich. Auch dein
Charme und deine Zielstrebigkeit waren notwendig, um
innerhalb der gesetzten Zeit dieses Werk vorzulegen. Du
hast dir wirklich ganz hervorragende Verdienste darum
erworben. Das soll auch an dieser Stelle gleich eingangs
gesagt sein.
Nach vier Jahren Arbeit ist dieser Tag ein Tag des
Dankes. Ich möchte allen Kolleginnen und Kollegen
und vor allen Dingen den Sachverständigen meinen
Dank, meinen Respekt, meine Hochachtung für dieses
gemeinschaftliche Werk aussprechen.
Sie nehmen es mir sicherlich nicht übel, wenn ich je-
manden besonders hervorhebe, mit dem ich vier Jahre
lang jeden Sitzungstag der Enquete-Kommission – ich
hätte fast gesagt: mich herumgeschlagen habe; aber das
ist nicht das richtige Wort – hart zusammengearbeitet
habe. Olaf Zimmermann, dem Geschäftsführer des Deut-
schen Kulturrats, möchte ich ganz herzlich Dank sagen,
auch für die Zuarbeit, die wir vom Deutschen Kulturrat
bekommen haben. Das war wirklich eine sehr große
Hilfe.
Ein solches Werk ist schön, ein solches Werk macht
stolz, aber jetzt geht es weiter. Von der Enquete-Kom-
mission wird sozusagen das Staffelholz zur weiteren fe-
derführenden Behandlung an den Ausschuss für Kultur
und Medien übergeben. Wir im Kulturausschuss wis-
sen, welche Verantwortung wir haben. Wir wissen, dass
es jetzt um die Umsetzung geht; sie muss noch in dieser
Legislaturperiode in entscheidenden Teilen vorange-
bracht werden. Genau das ist für uns der Schwerpunkt
der Arbeit in dieser Legislaturperiode. Wir müssen so
viel wie möglich von den sinnvollen Forderungen und
Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission durch
Gesetzentwürfe in das parlamentarische Leben und in die
politische Praxis umsetzen.
Es sind aber nicht nur die Handlungsempfehlungen zu
nennen, die sich im Übrigen nicht nur an den Bundestag,
sondern in sehr großer Zahl auch an die Länder und die
Kommunen richten; allein die Tatsache, dass der Bun-
destag zweimal, in der vergangenen Legislaturperiode
und in dieser Legislaturperiode, eine solche Enquete-
Kommission eingesetzt hat, ist ein nicht zu unterschät-
zendes, ein wichtiges Signal des deutschen Parlaments
zugunsten von Kultur, zugunsten von Künsten.
Die Notwendigkeit ist wirklich gegeben. Wir müssen
in aller Deutlichkeit sagen: So löblich es ist, dass die
Bundesregierung, namentlich der Staatsminister, bei den
Haushaltsberatungen auf der Bundesebene einen großen
Schritt nach vorn hat machen können, so klar müssen
wir sehen, dass auf der kommunalen Ebene und auf der
Länderebene noch einiges zu tun ist. Dort gibt es seit
Jahren finanzielle Kürzungen, zum Teil sogar wirklich
schmerzliche Verluste; Institutionen können nicht mehr
fortbestehen usw.
Meine Damen und Herren, insbesondere vor diesem
Hintergrund auf der Landes- und auf der kommunalen
Ebene brauchen wir in der Tat ein Staatsziel Kultur.
Das Staatsziel Kultur ist nicht alles – wir haben 460 For-
derungen formuliert –, aber ohne ein Staatsziel Kultur ist
alles entschieden schwieriger.
Warum brauchen wir dieses Staatsziel? Wir brauchen
ein verfassungsrechtlich eindeutiges Signal, das sagt,
dass nicht nur, wie bisher, die natürlichen Lebensgrund-
lagen als Staatsziel geschützt sind, sondern auch die an-
dere Seite der Medaille, die geistigen Lebensgrundlagen.
Wenn wir sie nicht gleichermaßen schützen, dann gibt es
eine Unwucht, und diese Unwucht wirkt sich in konkre-
ten Entscheidungen aus: in Gerichtsentscheidungen,
aber natürlich auch in vielen Haushaltsentscheidungen.
Kultur ist eine freiwillige Aufgabe. Wenn wir diese
freiwillige Aufgabe, die so wichtig ist, nicht im Grund-
gesetz verankern, dann gibt es ständig Entscheidungen
gegen die Kultur, und das müssen wir verhindern.
Deswegen müssen wir die Entscheidung über das Signal
eines Staatsziels Kultur noch in dieser Legislaturperiode
treffen.
13870 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Hans-Joachim Otto
Ich appelliere an alle Kolleginnen und Kollegen, hier
mitzuwirken.
Ich muss allerdings auch ein kritisches Wort sagen.
Die Tatsache, dass jetzt nicht nur das Staatsziel Kultur in
der Diskussion ist, auf das wir uns seit Jahren vorbereitet
haben – wir haben dazu Anhörungen durchgeführt; wir
haben dazu Verfassungsexperten gehört –, sondern dass
es eine Vielzahl weiterer Wünsche für Staatsziele gibt,
ist nicht gerade hilfreich, wenn es darum geht, das
Staatsziel Kultur durchzusetzen.
Mit Blick auch auf die Kollegen von der sozialdemo-
kratischen Fraktion sage ich: Sicherlich, wir alle wollen
Kinder schützen; aber ob wir Kinder dadurch schützen
können, dass wir höchst wohlfeile Erklärungen ins
Grundgesetz hineinschreiben,
werden wir noch an anderer Stelle klären müssen. Wir
Kulturpolitiker jedenfalls sagen: Im Hinblick auf den
Ausgleich „natürliche Lebensgrundlagen – geistige Le-
bensgrundlagen“ muss zuerst das Staatsziel Kultur ver-
ankert werden; dann reden wir über alle weiteren Staats-
ziele. Es darf da keine Inflation geben; da bin ich mir mit
allen anderen einig.
Lassen Sie mich in der Kürze der Zeit noch ein
Thema aufgreifen, das uns sehr wichtig ist: die Rolle der
Zivilgesellschaft. Manche haben mich gefragt, warum
ausgerechnet die Liberalen vorne sind, wenn es darum
geht, das Staatsziel Kultur voranzubringen. Die Antwort
ist einfach: Wir können die Zivilgesellschaft – Mäzene
und Spender – nur dann aktivieren, wenn sich der Staat
nicht gleichzeitig zurückzieht. Es kann nicht angehen,
dass beispielsweise beim Deutschen Historischen Mu-
seum, aber auch bei vielen anderen Institutionen, jede
Spende, die eingeworben wird, gleich vom Haushalt ab-
gezogen wird und sozusagen zu einer Kürzung führt.
Menschen, die sich für Kultur engagieren, die Geld und
Zeit in Kultur investieren, möchten das Geld nicht bei
Herrn Steinbrück abgeben; sie möchten, dass das Geld
ungeschmälert der Kultur zugutekommt.
Deswegen müssen wir das Verhältnis von Staat, Zivil-
gesellschaft und Wirtschaft stabilisieren. Dafür ist es
notwendig, von staatlicher Seite durch ein Staatsziel
Kultur, aber auch durch eine solide Grundfinanzierung
ein Signal an die Zivilgesellschaft auszusenden, welches
sie ermutigt, sich hier zu engagieren. Sie tut schon jetzt
sehr viel; aber wir müssen das verstetigen und dafür sor-
gen, dass sich dort auch in Zukunft Menschen verant-
wortlich fühlen.
Frau Connemann hat es schon gesagt: Der größte
Kulturfinanzierer in Deutschland ist immer noch der
Bürger. Er tut das meiste, als Marktteilnehmer, als Besu-
cher von Kulturinstitutionen, als Spender nicht nur von
Geld, sondern auch von Zeit, und – in dritter Linie – als
Steuerzahler. Deswegen ist es so wichtig, dass wir hier
ein solides Fundament schaffen.
Ich möchte einen wichtigen Punkt hervorheben, bei
dem wir uns ein bisschen von den anderen Fraktionen
unterscheiden: Unser Verständnis von Kulturförderung
entspricht nicht dem Leitbild eines – so heißt es im
Schlussbericht –„aktivierenden Kulturstaates“. Vielmehr
treten wir für einen ermöglichenden Staat ein. Plakativ
ausgedrückt: Wir stehen nicht so sehr für den Slogan
„Kultur für alle“, sondern wir wollen „Kultur von allen“.
Wir wollen Menschen ermutigen, also Rahmenbedin-
gungen dafür schaffen, dass sich mehr Menschen aktiv
beteiligen und aktiv kulturell betätigen. Wir wollen – es
ist angesprochen worden – mehr kulturelle Bildung in
den Schulen. Es ist sehr wichtig, dass sich hier Entschei-
dendes tut. Deswegen treten wir für den ermöglichen-
den Kulturstaat ein; der Begriff des aktivierenden
Kulturstaates könnte eine Schlagseite haben und sugge-
rieren, es gehe um passives Aufnehmen von Kultur,
nicht um aktives Handeln.
Es ist schwierig, vier Jahre Arbeit in zehn Minuten
darzustellen. Deswegen möchte ich an dieser Stelle nur
noch eines hervorheben: Wir haben – ich schaue jetzt
wirklich das gesamte Spektrum dieses Parlaments an –
460 Handlungsempfehlungen verabschiedet. Weit über
95 Prozent aller Handlungsempfehlungen – ich habe es
nicht ausgerechnet; vielleicht waren es 99 Prozent – sind
im Einvernehmen aller Fraktionen dieses Hauses be-
schlossen worden. Davon geht ein ermutigendes Signal
für die Kultur in Deutschland aus. Wenn dieses Haus es
schafft, dass alle Fraktionen – von der Linksfraktion bis
zur CDU/CSU, von der FDP bis zur SPD – hinter den
Forderungen stehen – hinter zirka 99 Prozent von
460 Forderungen –, dann geht davon ein Signal aus, das
überhaupt nicht unterschätzt werden kann. Dieses klare
Signal des Deutschen Bundestages, das von der Arbeit
der Enquete-Kommission ausgeht und zum Ausdruck
bringt, dass wir Anwälte für Kunst und Kultur sind, dass
wir uns für einen höheren Stellenwert von Kunst und
Kultur in der Gesellschaft und im Staat einsetzen, gilt es
jetzt in aller Konsequenz nach außen zu tragen. Wir
müssen so allen Kulturschaffenden in Deutschland, allen
Kulturinstitutionen und Kulturorganisierenden, klarma-
chen: Der Deutsche Bundestag ist ein Parlament, das
sich für Kunst und Kultur ausspricht, heute und in Zu-
kunft.
Herzlichen Dank.
Der Kollege Siegmund Ehrmann ist der nächste Red-
ner für die SPD-Fraktion.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13871
(C)
(D)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste!
Mit dem heute vorgestellten Bericht der Enquete-Kom-
mission legen wir das Ergebnis einer vierjährigen inten-
siven Arbeit – das wurde ja hier schon mehrfach ange-
sprochen – vor.
Was war der Hintergrund des Auftrages dieser
Enquete-Kommission? Ich erlaube mir, in Erinnerung zu
rufen, dass die Bundeskulturpolitik nach 1998 in der da-
maligen rot-grünen Koalition besonders akzentuiert
wurde und es insbesondere dem Engagement von Antje
Vollmer und Eckhardt Barthel zu verdanken ist, dass die
Kernfragen, die uns damals bewegt haben, so zugespitzt
wurden, dass letztendlich in der Koalitionsvereinbarung
von 2002 die Verabredung getroffen wurde, diese
Enquete-Kommission einzurichten. Deshalb noch ein-
mal herzlichen Dank an die Kolleginnen und Kollegen,
die das seinerzeit auf den Weg gebracht haben.
Ich bin aber ebenso dankbar dafür, dass sich dann im
Herbst 2003 alle Fraktionen dieses Hauses dem Einset-
zungsbeschluss angeschlossen haben. Das war sicherlich
auch prägend für den Geist, in dem diese Enquete-Kom-
mission ihre Arbeit geleistet hat.
Welche Fragen bewegten die Kulturpolitik damals,
aber auch noch heute? Zum Beispiel die Fragen: Wie
steht es um die öffentliche und private Kulturfinanzie-
rung? Kann der Staat in dem Geflecht der Verantwortung
der Künstlerinnen und Künstler, der Zivilgesellschaft,
des Ehrenamtes und des Potenzials, das in den Märkten
liegt, seiner eigentlichen Verantwortung, Kultur als öf-
fentliches Gut zu fördern, tatsächlich gerecht werden?
Wie lassen sich die Bedingungen für das Engagement
der Zivilgesellschaft verbessern? Sind die rechtlichen
und organisatorischen Rahmenbedingungen, in denen
die Arbeit der Kulturinstitutionen erfolgt, zeitgemäß?
Welche Wirkungen haben Impulse, die aus der interna-
tionalen Politik, der GATS- oder WTO-Regime, aber
auch der Prozesse im europäischen Sektor, auf unser
Handeln einströmen? Wie – auch das ist eine wichtige
Frage – ist es um die wirtschaftliche und soziale Situa-
tion der Künstlerinnen und Künstler bestellt, nachdem
wir – das wurde schon erwähnt – 1975 mit der Kreierung
des Künstlersozialrechtes einen wichtigen Impuls ge-
setzt haben? Das geschah ja damals aufgrund einer Ana-
lyse der wirtschaftlichen Situation der Künstlerinnen
und Künstler. Wie ist der Status 30 Jahre danach?
Natürlich richten sich die Handlungsempfehlungen,
die wir hier erarbeiten, vorrangig an den Bundesgesetz-
geber. Ich persönlich bin allerdings sehr froh darüber,
dass wir uns in der Enquete-Kommission einig waren,
über Bande zu spielen, das heißt, Sachzusammenhänge
zu denken, alle staatlichen Handlungsebenen in unsere
Analysen einzubeziehen, aber und vor allem auch Im-
pulse für die Debatte der Zivilgesellschaft zu geben.
Deshalb geht von diesem Tag ein Angebot zu einer brei-
ten Diskussion an alle Akteure aus, sich in der Öffent-
lichkeit mit unseren Handlungsempfehlungen auseinan-
derzusetzen.
Bevor ich auf einige Details eingehe, möchte auch ich
Dank erstatten, nämlich Dank den Kolleginnen und Kol-
legen, die als Abgeordnete und als Sachverständige mit-
gewirkt haben, Dank allen Obleuten, aber auch Ihnen,
Frau Connemann, meinen persönlichen Dank für die
souveräne, hartnäckige und nachhaltige Verhandlungs-
führung. Herzlichen Dank.
Ich möchte aber auch die Arbeit derjenigen würdigen,
die in der letzten Wahlperiode mitgewirkt haben und
dann, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr an
den Beratungen der Enquete-Kommission teilgenommen
haben, weil vielleicht die Weisheit der Wähler oder eine
persönliche Lebensentscheidung dazu geführt hat, dass
sie kein Mandat mehr für diese verantwortliche Aufgabe
hatten. Herzlichen Dank also auch an alle, die früher
diese Arbeit geleistet haben.
Lassen Sie mich jetzt auf einige Inhalte zu sprechen
kommen. Zunächst möchte ich einige grundsätzliche
Anmerkungen zu den Rahmenbedingungen der Kultur-
politik machen. Dann möchte ich das Thema „Rechtli-
che und strukturelle Rahmenbedingungen der Kultur-
arbeit“ am Beispiel der öffentlichen Bibliotheken
erläutern und einen Hinweis darauf geben, welche Weis-
heit in unseren Empfehlungen – da gibt es wahre Perlen –
enthalten ist. Schließlich geht es um Fragen im Zusam-
menhang mit dem Urhebervertragsrecht. Auch dazu er-
laube ich mir ein paar Anmerkungen.
Zur Struktur der Kulturpolitik und zu den Entschei-
dungsprozessen in der Kulturpolitik. Folgende Fragen
sind vorrangig an uns selbst gerichtet, weil dies unser
Kompetenzfeld ist: Wie soll und kann eine zeitgemäße
Kulturpolitik definiert werden? Was kann sie leisten?
Wie effektiv sind ihre Strukturen? Wie werden kultur-
politische Ziele erarbeitet und wirksam umgesetzt? Im
weitesten Sinne geht es um das Themenfeld der Kultur-
verwaltungsreform oder -modernisierung. Dazu haben
wir wichtige Hinweise auf unseren Delegationsreisen
insbesondere in die Niederlande oder nach Großbritan-
nien bekommen.
Auch in der Kulturpolitik, so empfehlen wir, sollten
wir uns moderneren, wirksameren Entscheidungsprozes-
sen zuwenden. Ich will jetzt nicht zu technisch werden,
aber wir plädieren dafür – das ist eine Handlungsemp-
fehlung der Enquete-Kommission –, auch in der Kultur-
politik in gewissen Zeitabständen Schwerpunkte zu
13872 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Siegmund Ehrmann
überprüfen und gegebenenfalls neue Ziele zu formulie-
ren. Schließlich entwickelt sich in Kunst und Kultur per-
manent Neues.
Wenn es gelänge, in eine solche konzeptionelle Arbeit
der Zielfindung einzutreten, könnten auf Basis solcher
grundlegenden Entscheidungen auch Etatisierungen über
mehrere Jahre planungsstabil gestaltet werden.
Ich möchte dies am Beispiel der Musikförderung er-
läutern. Im Haushalt des BKM werden in jedem Jahr
etwa 18,9 Millionen Euro für den Bereich der Musikför-
derung zur Verfügung gestellt. Die Segmente der klassi-
schen Musik binden etwa 15,2 Millionen Euro; Seg-
mente der moderneren, improvisierten und populären
Musik etwa 1,5 Millionen Euro. Das ist also deutlich
weniger als für die klassische Musik. Ich möchte das
eine nicht gegen das andere stellen. Aber manchmal
habe ich den Verdacht: einmal etatisiert, immer etatisiert.
So gewinnen wir keine Spielräume bei gegebener Etat-
lage, neue Akzente zu setzen. Deshalb ist die Reflexion
über Förderentscheidungen und vor allen Dingen über
Inhalte und Wirkungen, die wir damit anstreben, sehr
wichtig. Es ist nicht nur ein technischer Begriff. Denn
darin liegt die Chance gestaltender – Herr Otto, aktivie-
render – Kulturpolitik, die wir machen könnten.
Deshalb empfehlen wir dem Deutschen Bundestag – das
ist ein Appell an uns –, dieses Vorgehen in bestimmten
Handlungsfeldern der Kulturpolitik zu praktizieren. Wir
Parlamentarier sind da vorrangig gefordert. Ich bin über-
zeugt, dass noch eine Menge Diskussionsstoff vor uns
liegt. Aber wir müssen diesen Weg gehen.
Lassen Sie mich noch ein weiteres Beispiel skizzieren.
Da sehe ich die Handlungsfähigkeit des kooperativen Fö-
deralismus gefordert. Die öffentlichen Bibliotheken sind
eine ganz wichtige Institution an der Schnittstelle von
Kultur- und Bildungsarbeit.
Gleichwohl ist ihre Etatsituation sehr fragil. Der Rechts-
charakter dieser Institutionen und die Verpflichtung des
Staates gegenüber ihnen sind schon angesprochen wor-
den. Es sind freiwillige Aufgaben; deshalb ist die Lage
sehr schwierig. Deshalb fallen gerade Bibliotheken in
Finanzkrisen häufig dem Rotstift zum Opfer. Institutio-
nen werden geschlossen, oder Etats für eine zeitgemäße
Ausstattung mit Medien werden nicht entsprechend auf-
gestellt. Auch da empfehlen wir den Ländern, Biblio-
theksgesetze zu erlassen, Standards zu definieren und
über eine etwas staatsfernere Bibliotheksentwicklungs-
agentur Prozesse zu moderieren. Hier sollte man nicht
nur auf andere zeigen. Denn wir selbst sind gefordert,
gemeinsam mit den Ländern Diskussionsprozesse in
Gang zu setzen und hoffentlich zu Ergebnissen zu kom-
men, damit wir in der Fläche besser werden. Andere
Länder zeigen uns, was wir mithilfe aktiver Bibliotheks-
arbeit gestalten können.
Ein drittes Beispiel betrifft den Komplex der wirt-
schaftlichen und sozialen Situation der Künstlerinnen
und Künstler. Wir haben uns mit der Novelle zum Urhe-
berrechtsgesetz 2002 auseinandergesetzt und mussten
feststellen, dass unser Anspruch, den Urhebern eine an-
gemessene Vergütung zukommen zu lassen, in weiten
Feldern nicht Wirklichkeit ist. Das anzugehen, empfeh-
len wir dringend. Wir haben an die Bundesregierung,
aber auch an uns die Forderung gerichtet, diese Situation
noch einmal sorgfältig zu analysieren und Abhilfe zu
schaffen. Wenn fünf Jahre nach Inkraftsetzen einer
Rechtsnovelle keine Wirkungen in der Fläche zu erzie-
len sind, ist das kein gutes Zeichen. Dort sind wir gefor-
dert.
Abschließend noch eine Bemerkung zum Thema
Staatsziel Kultur. In der Enquete-Kommission haben
wir eine sehr wichtige, grundlegende Analyse vorge-
nommen; die diesbezüglich einstimmig verabschiedete
Empfehlung ist angesprochen worden. Wir haben dazu
bereits im Rahmen der Vorlage des Zwischenberichtes
eine intensive Plenardebatte geführt. Jetzt ist der Zeit-
punkt gekommen, nicht nur die Lippen zu spitzen, son-
dern auch zu pfeifen.
Wir, die SPD-Fraktion, haben dazu einen Entschei-
dungsprozess hinter uns gebracht. Ich möchte jetzt nicht
in die Debatte der Staatszielhierarchien einsteigen.
Unsere Entscheidung ist aber eindeutig: Wir fordern die
Fixierung eines Staatsziels Kultur aus vielerlei Gründen;
sie wurden hier schon genannt. Ich vermute, dass es
nicht hilfreich ist, die Diskussion zuzuspitzen. Ich
glaube, dass es jetzt wichtig ist, sich in dem Geist, in
dem die Arbeit der Enquete-Kommission geleistet
wurde, aufeinander zuzubewegen und zu sehen, was tat-
sächlich umsetzbar ist. Ich vermute, dass es Chancen
gibt. An uns selbst, aber auch an den Koalitionspartner
richte ich den Appell, gemeinsam zu Ergebnissen zu
kommen.
Mit diesem Thema will ich die anderen Aspekte nicht re-
lativieren; sie sind ungeheuer wichtig. Andere Kollegin-
nen und Kollegen werden gleich weitere Inhaltsschwer-
punkte darstellen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13873
(C)
(D)
Siegmund Ehrmann
Lassen Sie mich zum Schluss einen ganz besonderen
Dank aussprechen. Er mag etwas ungewöhnlich erschei-
nen; aber dies ist mir ein großes Bedürfnis. Ich möchte
mich neben dem Sekretariat der Enquete-Kommission
bei allen Fraktionsreferentinnen und Fraktionsreferenten
bedanken,
insbesondere bei Dr. Ingrun Drechsler und Astrid
Boewen-Nitz.
Dies tue ich an dieser Stelle auch deshalb, weil ich mir
persönlich ernsthaft gar nicht vorstellen kann, dass
Ingrun Drechsler Ende Januar in den wohlverdienten
Ruhestand geht.
Bei dem Elan, den sie hier an den Tag gelegt hat, und
dem großen vermittelnden Geschick kann ich nur sagen:
Chapeau! Jetzt liegt der Ball in unserem Spielfeld. Wir
sind in den Ausschüssen gefordert, uns mit den Hand-
lungsempfehlungen auseinanderzusetzen.
Herzlichen Dank.
Was das Ausscheiden von Frau Drechsler betrifft,
schließt sich der Präsident Ihrem begrenzten Vorstel-
lungsvermögen ausdrücklich an.
Nun hat das Wort Frau Dr. Jochimsen für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Gäste! Liebe Kollegen Sach-
verständige!
Insbesondere lieber Professor Kramer als Mitstreiter! Ich
kann mich dem Dank, den Herr Ehrmann gerade allen an
der Arbeit der Enquete-Kommission beteiligten Berei-
chen ausgesprochen hat, nur anschließen, und möchte
ihn auf unsere Fraktionsreferentin Frau Dr. Annette
Mühlberg ausdehnen. Auch ich hätte nicht gewusst, wie
ich als Späteinsteiger in diese Kommission die Arbeit
überhaupt hätte bewältigen können, wenn es nicht die
Möglichkeit eines fundierten Wissens und einer Zuarbeit
gegeben hätte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wir Ihnen heute
vorlegen, sind keine Botschaften aus dem Elfenbein-
turm, sondern ist die Zustandsbeschreibung unseres rei-
chen und vielfältigen Fundamentes Kultur, auf dem un-
sere Gesellschaft und gerade auch die Qualität unserer
Demokratie beruhen. Ich finde, das dürfen wir nie aus
den Augen verlieren. Diese Zustandsbeschreibung han-
delt von Glanz, aber gleichermaßen auch von Elend.
Glanzvoll ist die Liste der Theater, Denkmäler, Biblio-
theken, Museen, Orchester, Chöre, Tanzgruppen und der
Tausenden Einrichtungen und Gruppierungen freien bür-
gerlichen Engagements in Sachen Kultur. Glanzvoll ist
auch das Aufkommen des Wirtschaftszweiges Kultur, ei-
nes Beschäftigungssektors mit hohen Wachstumsraten
und großer Zukunft. Lieber Herr Kollege Ehrmann, dass
wir hier in Zukunft genauer hinschauen müssen, ist un-
bestritten.
Elend sind hingegen die Einkommen der meisten
Künstler und Kulturschaffenden in Deutschland. Im
Durchschnitt verdienen sie gerade einmal 11 000 Euro
pro Jahr, die Mehrheit verfügt über kein regelmäßiges
Einkommen, und es ist ihnen kaum möglich, eine Alters-
sicherung aus ihren Einnahmen zu finanzieren. Das gilt
nach wie vor, obwohl die Umsätze und Gewinne der
Branche gestiegen sind und weiter steigen. Die Kreati-
ven haben aber keinen Anteil daran. Von Leistungsge-
rechtigkeit keine Spur!
Aus unserer Sicht muss der Staat an dieser Stelle ge-
gensteuern, und zwar mit einer Stärkung des Urheber-
rechts – das wurde bereits angesprochen –, damit die
Einnahmen tatsächlich den Urhebern zugute kommen
und die Zeit für künstlerische Arbeit in der Rentenversi-
cherung flexibel angerechnet werden kann.
Zur elenden, ja jämmerlichen Seite der Zustandsbe-
schreibung der Kultur in Deutschland gehört zweitens,
dass ihr Reichtum und ihre Vielfalt an etlichen Stellen
bereits Spuren von Abbau und Rückbau aufzeigen. Ein
trauriges Beispiel dafür sind die Theater in Thüringen.
Das gilt aber nicht nur für sie. Deshalb ist es wichtig,
dass die Förderung von Kunst und Kultur im Bericht als
Pflichtaufgabe des Staates herausgestellt wird. Kultur
muss als Staatsziel im Grundgesetz verankert werden.
Ich stehe auf der Seite all derer, die gesagt haben, dass es
Zeit ist, nicht länger nur die Lippen zu spitzen, sondern
auch zu pfeifen. Das rot-rote Berlin und das vormals rot-
rote Mecklenburg-Vorpommern sind übrigens die einzi-
gen Bundesländer, die das bereits beschlossen haben.
Aus unserer Sicht muss die Kompetenz des Bundes
für die Kultur weiter gestärkt werden, zum Beispiel um
13874 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Dr. Lukrezia Jochimsen
unsere Bibliotheken zu retten. Der Kollege Ehrmann hat
das gerade vorgetragen. Der Bundespräsident hat dieses
Elend in einer bewegenden Rede zur Wiedereröffnung
der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar genau benannt:
Noch kann man sagen: Bibliotheken bilden in
Deutschland ein flächendeckendes Netz.
Er sagte aber auch:
Auf dem Land ist das Netz öffentlicher Bibliothe-
ken zum Teil ziemlich dünn – und in manchen Ge-
genden kann man von einem regelrechten Biblio-
thekssterben sprechen. Nur etwa 15 Prozent der
Schulen
– ich bitte Sie: 15 Prozent der Schulen in Deutschland –
verfügen über eine eigene Bibliothek …
Sein Fazit lautet: In Deutschland fehlt „– im Gegen-
satz zu den erfolgreichen PISA-Ländern – die strategi-
sche Verankerung der Bibliotheken als Teil unserer Bil-
dungsinfrastruktur.“ Er sagt, dass diese „heute weder auf
Länderebene noch in der Politik des Bundes in ausrei-
chendem Maße anzutreffen“ sind. „Bibliotheken gehö-
ren deshalb in Deutschland auf die politische Tagesord-
nung.“
Die Enquete-Kommission sieht das genauso. Aller-
dings unternimmt sie nicht den aus unserer Sicht ent-
scheidenden Schritt. Sie fordert kein Bundesbibliotheks-
gesetz, um den Bestand unserer Bibliotheken, die es
noch gibt, zu retten. Zu einer Reform der Kompetenzver-
teilung gehört nach unserer Vorstellung auch – es wird
Sie vielleicht wundern, dass die Linke das fordert – die
Ernennung eines Bundeskulturministers mit eigenständi-
gem Ministerium, damit Kultur im Kabinett und auf eu-
ropäischer Ebene gleichberechtigt vertreten ist.
Die Kommission hat umfangreich, ausführlich, prä-
zise und konkret gearbeitet und sich dabei auf vielerlei
Sachverstand gestützt. Mir erscheint es aber als ein
Elend, dass die Kommission nicht bereit war, sich ange-
messen mit den kulturellen Folgen der deutschen Tei-
lung zu befassen. Die Auseinandersetzung mit der Tat-
sache, dass Kultur in Deutschland 40 Jahre lang in zwei
Gesellschaften geschaffen, gefördert, gefeiert, kritisiert,
ja, auch unterdrückt wurde, dass es zwei Kulturen gab,
und zwar nicht parallel nebeneinander, sondern ganz be-
wusst gegeneinander positioniert, und diese Tatsache
Folgen hat, bis auf den heutigen Tag, und zwar ebenso
im Bewusstsein der Menschen wie für unsere kulturelle
Infrastruktur, wäre des Schweißes der Edlen wirklich
wert gewesen.
Wir meinen, dass die bis heute festzustellenden men-
talen Unterschiede zwischen Ost und West eine Heraus-
forderung für die Kulturpolitik sind. Dabei geht es nicht
darum, sie zu überwinden, sondern darum, sie als
Chance zu nutzen.
Die Chance, die beiden Schulsysteme von DDR und
Bundesrepublik in ihrer Unterschiedlichkeit zu nutzen,
haben wir sträflich versäumt. Mit dem Erbe der beiden
Kulturen sollten wir anders umgehen, auch und gerade
nach der Veröffentlichung dieses Berichts.
Insgesamt halten wir den Bericht für eine notwendige
Grundlage unserer weiteren Arbeit für die Kultur. Er ent-
stand nicht im Elfenbeinturm, und er handelt nicht von
Luxus, Dekoration oder Überfluss, sondern von den
Überlebensnotwendigkeiten unserer Gesellschaft.
Ich danke Ihnen.
Das Wort erhält nun die Kollegin Undine Kurth,
Bündnis 90/Die Grünen.
Undine Kurth (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe, verehrte Gäste! Es ist schon eine Weile
her, da haben die Grünen die Schaffung eines Kultus-
ministeriums gefordert; dass daraus nichts geworden
ist, wissen wir alle. Dann haben wir die Einsetzung einer
Enquete-Kommission gefordert, die sich mit der Situa-
tion bzw. dem Zustand der Kultur in Deutschland befas-
sen sollte; dass das erfolgreich vonstatten gegangen ist,
sehen wir heute. Bei dieser Einsetzung herrschte in die-
sem Haus große Übereinstimmung, und sie wurde von
allen Fraktionen getragen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Einsetzung
der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ ein
echter Glücksfall für Kunst und Kultur in unserem Land
war,
auch deshalb, weil sie von dem gemeinsamen Willen ge-
tragen war, zu Ergebnissen zu kommen und Ressort- und
Fraktionsgrenzen zu überwinden. Diese ernsthafte und
sehr engagierte Arbeit hat letztendlich dazu geführt, dass
uns eine beeindruckende Bestandsaufnahme und eine
ebenso beeindruckende Zahl von Handlungsempfeh-
lungen vorliegen; davon ist hier schon mehrfach gespro-
chen worden.
Deshalb glaube ich, dass dies die richtige Gelegenheit
ist, all denen zu danken, die so engagiert an der Erstel-
lung des Berichts der Enquete-Kommission mitgewirkt
haben. Ich möchte für meine Fraktion vor allem diejeni-
gen nennen, die in der letzten Legislaturperiode daran
mitgearbeitet haben: Ursula Sowa und Antje Vollmer.
Ihnen gilt unser herzlicher Dank. Denn ohne ihre Vorar-
beit hätten wir nicht so gut weiterarbeiten können.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13875
(C)
(D)
Undine Kurth
An vielen Stellen dieses Berichts wird immer wieder
übereinstimmend betont – diese Übereinstimmung ist
übrigens nicht das Ergebnis nichtkontroverser Debatten,
sondern eher das Ergebnis einer sehr gründlichen Aus-
einandersetzung –, dass Kultur einen hohen Eigenwert
hat, dass sie Orientierung gibt, dass sie identitätsbildend
ist und dass sie das System von Werten und Normen, das
unsere Gesellschaft trägt, bestimmt. Kultur lebt davon,
dass sie von Generation zu Generation in Ausdrucksfor-
men weitergegeben, aber auch immer wieder infrage ge-
stellt und neu definiert wird. Kultur vermittelt Heimat,
Identität und vor allem Respekt vor der eigenen kulturel-
len Leistung und damit die Souveränität, mit anderen
Kulturen umgehen zu können.
Es wird immer wieder betont und übereinstimmend
festgestellt: Ohne Kultur ist unsere Gesellschaft nicht
denkbar. Ebenso klar ist aber auch, dass die Politik nicht
Kultur machen kann. Der Staat allein kann weder kultu-
relle Vielfalt noch kulturelles Leben organisieren.
Er kann aber Rahmenbedingungen setzen, damit Kul-
tur gemacht werden kann, Rahmenbedingungen, die er-
möglichen, dass es eine kulturelle Teilhabe für alle gibt.
Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, Rahmenbedingun-
gen zu schaffen, die das wirtschaftliche Potenzial von
Kunst und Kultur fördern und die soziale Lage derer, die
diese Vielfalt in unserem Land erarbeiten, besser im
Auge hat.
Denn wer weiß, wie viel Schauspieler, Sänger, Maler
und Grafiker verdienen, und wer bedenkt, dass die Gage
oder das Honorar der Gegenwert bzw. die Anerkennung
der Leistung ist, der muss sich schon fragen, welches
Bild vom Wert der Arbeit von Schauspielern, Sängern,
Malern und Grafikern wir in diesem Lande eigentlich
haben.
Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit
dem Rechtsextremismus ist auch wichtig, immer wieder
daran zu erinnern, dass uns Kultur befähigt, Demokratie
zu leben,
Urteile zu fällen und abzuwägen. Deshalb sind Kultur
und kulturelle Bildung – beides gehört zusammen; wir
müssen Kultur und Bildung zusammen denken – eben
nicht Arabeske bzw. schönes, schmückendes Beiwerk
nach dem Motto: Es ist ganz nett, wenn man es hat, es ist
aber auch nicht sehr dramatisch, wenn man es nicht hat.
Kultur ist vielmehr das Trainingszentrum für unsere
Sozialisation. Wenn wir Trainingszentren leer stehen
lassen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn andere sie
besetzen.
Deshalb glaube ich, dass wir sehr ernsthaft darangehen
müssen, die Handlungsempfehlungen, die jetzt auf
dem Tisch liegen, umzusetzen. Jede dieser Handlungs-
empfehlungen hat ihre Berechtigung und ist Ergebnis
langer Debatten, fundierter Überlegungen und übrigens
auch des Streits, der der Verständigung auf einen Kom-
promiss vorausgegangen ist. Es ist sicher auch richtig,
eine Priorisierung vorzunehmen und festzulegen, welche
dieser Handlungsempfehlungen wir zuerst umgesetzt se-
hen wollen und welche uns die wichtigsten sind.
Ich möchte mich auf zwei konzentrieren, weil ich
glaube, dass sie schlicht die Voraussetzung sind, alle an-
deren umsetzen zu können. Das ist zum einen die Auf-
forderung, dass die Förderung von Kunst und Kultur
eine verpflichtende Aufgabe des Staates sein muss. Nur
so können Vielfalt und Dichte des kulturellen Angebotes
erhalten bleiben. Die zweite Aufforderung hebt darauf
ab, dass Kunst- und Kulturpolitik anderen Politikfeldern
gleichgestellt werden muss. Wir müssen anerkennen,
dass es eine einzigartige Vielfalt von kulturellen Einrich-
tungen in unserem Land gibt. Die Theater, die Bibliothe-
ken, die Konzerthäuser, die Museen, die Sammlungen
und die soziokulturellen Zentren sind erwähnt worden.
All das trägt zum kulturellen Leben, das so wichtig für
uns ist, bei. Wie aber werden diese Einrichtungen erhal-
ten? Wir müssen akzeptieren, dass die Gesellschaft, dass
die Politik die verpflichtende Aufgabe hat, sich um sie
zu kümmern.
Nur so kommen wir aus der Selbstrechtfertigung und
den Debatten darüber, ob denn Kunst und Kultur über-
haupt Geld kosten dürfen, heraus.
Deshalb glaube ich auch, dass das Staatsziel Kultur
ein so wichtiges Ziel ist. Wir wissen sehr wohl, dass das
allein das Problem nicht lösen wird; aber es wird bei der
Lösung des Problems sehr hilfreich sein. So sehr wir da-
rin übereinstimmen, Herr Otto, dass wir ein solches
Staatsziel brauchen, so wenig ist uns geholfen, wenn wir
Staatsziele gegeneinander ausspielen.
Wenn das Staatsziel den Kindern nicht nützt, dann wird
das Staatsziel auch der Kultur nicht nützen.
Deshalb, so glaube ich, sollten wir nicht sagen, dass das
eine besser als das andere ist.
Es liegen eine Menge Handlungsempfehlungen vor.
Jetzt kann wieder das Argument kommen, dass das eine
Beschreibung all der Dinge ist, die wir längst kennen.
13876 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
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(D)
Undine Kurth
Erstens bin ich der festen Überzeugung, dass da viel be-
schrieben ist, was bisher nicht bekannt war. Die Be-
standsaufnahmen haben durchaus vieles zutage geför-
dert, was bisher nicht in der öffentlichen Debatte war.
Zweitens glaube ich, dass es sehr wichtig ist, darauf hin-
zuweisen, dass Politik nicht automatisch immer nur dort
stattfindet, wo man Geld vergeben kann und wo man die
haushaltstechnische Zuständigkeit hat. Politik hat auch
die Aufgabe, wichtige gesellschaftliche Probleme in den
öffentlichen Diskurs zu bringen, sich mit dem Rang und
der Wertigkeit von Problemstellungen auseinanderzuset-
zen. Wenn man sich dann darauf einigt, dass Kultur exis-
tenziell für uns ist und unsere Demokratie sichert, dann
ist man sich sicher auch darüber einig, dass man dafür
ebenso wie für andere politische Bereiche Geld ausge-
ben darf.
Wir erleben keine Debatte darüber, ob Infrastruktur fi-
nanziert werden muss, und wir erleben keine Debatte
darüber, ob Wirtschaftsförderung wichtig ist. Warum soll
Kulturförderung nicht ebenso wichtig sein? Deshalb
glaube ich, dass es natürlich auch um das Argument
Geld geht. Hier, Herr Staatsminister, unseren Respekt
und unsere Anerkennung für die 400 Millionen Euro, die
zusätzlich in den Haushalt für Kultur gekommen sind.
Wir werden erst dann ganz glücklich sein, wenn wir wis-
sen, wofür dieses Geld ausgegeben wird. Trotz allem: Es
ist ein ausgesprochen gutes Zeichen.
– Mit dem Parlament zusammen, jawohl. –
Wenn man sich die Angaben des Statistischen Bun-
desamtes genau ansieht – übrigens ist auch Rechnen eine
Kulturtechnik –, dann kann man sehen, dass in den Län-
dern genau das Gegenteil passiert. Prozentual steigen
zwar die Ausgaben – zumindest in den meisten Ländern;
nur Mecklenburg-Vorpommern hat das nicht geschafft –,
aber sie bewegen sich im marginalen Bereich. Die Hürde
von 2 Prozent des Gesamtvolumens zu überschreiten,
schaffen gerade einmal vier Länder in dieser Republik.
Nominell aber sinken die Ausgaben für Kultur drastisch.
Zwischen den Jahren 2001 und 2007 sind in der Bundes-
republik Deutschland 600 Millionen Euro weniger für
Kultur ausgegeben worden, weniger für die Vielfalt, we-
niger für die Leistung von Kultur, die wir alle brauchen –
und das vor dem Hintergrund steigender Preise. Man
kann das wesentlich besser volkswirtschaftlich ausdrü-
cken: Im Jahr 2001 haben wir noch 0,4 Prozent des Brut-
toinlandsprodukts für Kultur ausgegeben, jetzt geben wir
0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts dafür aus.
Deshalb lautet meine dringende Bitte an Sie, Herr
Staatsminister: Sagen Sie Ihren Landeskollegen bei
nächster Gelegenheit bitte, dass man auch mehr Geld für
Kultur ausgeben kann!
Man darf sich nicht allein dafür feiern lassen, dass man
die Etats nicht senkt. Genau das erleben wir aber gerade
in den Ländern. Dort ist man schon darüber glücklich,
dass die Etats der Theater, Orchester, Museen und sozio-
kulturellen Zentren auf niedrigstem Level nicht noch
weiter gekürzt werden. Eigentlich wäre das Gegenteil
notwendig. Wenn wir uns hier einig sind, dass Kultur
wichtig ist und unsere Gesellschaft trägt, dann sollten
wir auch übereinstimmend der Meinung sein, dass wir
dafür Geld in die Hand nehmen müssen. Sonst funktio-
niert das nämlich nicht.
Wir sind – das ist schon mehrfach gesagt worden –
am Ende der Arbeit der Enquete angelangt. Das heißt
aber auch, dass wir am Beginn der politischen Umset-
zung stehen. Denn die beste Analyse, der beste Bericht
einer Enquete-Kommission als eine Art Politikberatung
wird in der Gesellschaft nicht viel verändern – gerade
dafür wurde die Enquete-Kommission „Kultur in
Deutschland“ aber eingesetzt –, wenn wir nicht die rich-
tigen Schlüsse daraus ziehen. Es sollte uns daran gelegen
sein, die Handlungsempfehlungen der Kommission in
reale politische Veränderungen umzusetzen.
Wenn wir es mit der Verantwortung von Bund, Län-
dern und Gemeinden für die Kultur ernst meinen, dann
müssen wir beginnen, an all diesen Punkten Veränderun-
gen in Gang zu setzen. Zum einen können wir das hier
im eigenen Hause tun. Zum anderen sind aber natürlich
auch die Länder gefragt. Diesbezüglich geht mein Ap-
pell vor allem an die Kollegen der Großen Koalition;
denn Sie haben ja im Moment noch – ich denke, das
wird sich ändern – die beste Ausgangsposition, um poli-
tische Veränderungen in den Ländern zu erreichen. Des-
halb mein dringender Appell an Sie: Fangen Sie damit
an; unsere Unterstützung haben Sie!
Danke schön.
Ich erteile das Wort der Kollegin Dorothee Bär für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Sach-
verständige! Zunächst geht mein ganz herzlicher Dank
an Sie, Herr Präsident, zum einen für Ihre Vorbemerkun-
gen heute Morgen zu Beginn der Debatte, zum anderen
für die Ermöglichung dieser Debatte in der Kernzeit.
Es ist sehr schön, eine Kulturdebatte erleben zu können,
während es draußen noch hell ist. Das würden wir uns
wesentlich öfter wünschen. Dafür noch einmal ganz
herzlichen Dank!
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13877
(C)
(D)
Dorothee Bär
Ich möchte mich auch ganz herzlich bei allen Sach-
verständigen bedanken. Sie gestehen es mir sicherlich
zu, wenn ich unserem CSU-Sachverständigen, Hans
Zehetmair, besonders herzlich danke, der sich durch
seine Kompetenz und seinen Sachverstand in den letzten
vier Jahren über alle Fraktionsgrenzen hinweg in unser
aller Herzen „hineinsachverständigt“ hat.
Ich möchte an dieser Stelle aber auch noch einmal der
Kommissionsvorsitzenden ganz herzlich danken. Liebe
Gitta Connemann, Sie haben in den letzten Jahren eine
Mammutaufgabe erfüllt. Es ist keine Selbstverständlich-
keit, dass eine Enquete-Kommission über zwei Legisla-
turperioden besteht. Es war auch keine Selbstverständ-
lichkeit, dass diese Enquete-Kommission in dieser
Legislaturperiode so ohne Weiteres fortgeführt werden
konnte. Sie haben nicht nur mit sehr vielen verschiede-
nen Persönlichkeiten aus den Fraktionen sowie mit den
Sachverständigen zu kämpfen gehabt, sondern – das
möchte ich an dieser Stelle noch einmal betonen – hatten
auch ganz neue Herausforderungen dadurch zu bewälti-
gen, dass die Regierung gewechselt hat und es in dieser
Legislaturperiode eine Fraktion mehr im Bundestag gibt
als in der letzten. Diese Herausforderungen haben Sie
ganz herausragend gemeistert. Dafür noch einmal ganz
herzlichen Dank, und zwar nicht nur von unserer Ge-
samtfraktion, sondern insbesondere von der CSU.
Das positive Signal, das davon für uns alle ausgeht, ist,
dass man Kultur nicht an Wahlterminen und Farbkon-
stellationen ausrichten kann. Vielmehr wurde in den
letzten vier Jahren eine sehr kontinuierliche Arbeit ge-
leistet. Ich denke, darauf können wir alle stolz sein.
Ich möchte mich auch bei den Mitarbeitern des Sekre-
tariats bedanken, ganz besonders bei allen, die an der
Endredaktion beteiligt waren. Ich glaube, dass die End-
redaktion mit die schwierigste Arbeit war, weil es galt,
alles unter einen Hut zu bekommen. Die Bestandsauf-
nahme war wirklich ein Mammutprojekt. Der Bericht
der Enquete-Kommission umfasst mehr als 500 Seiten.
Ich denke, es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass man
ihn mit Stolz unter den Weihnachtsbaum legen kann.
Oder man kann ihn sich im Anschluss an diese Debatte
von der Vorsitzenden signieren lassen und ihn verschen-
ken.
Der Schlussbericht beschränkt sich nicht auf Feststel-
lungen, sondern gibt auch Empfehlungen. Da wir in ei-
nem föderalen Staat leben, richten sich diese Empfeh-
lungen an viele Adressaten, auch an uns. Natürlich
müssen auch wir Bundestagsabgeordnete uns an die
Empfehlungen, die wir geben, halten. Aber ebenso sind
die Länder und die Kommunen angesprochen. Alle ge-
sellschaftlichen Bereiche in diesem Land leisten un-
glaubliche Arbeit, um die Kultur in Deutschland leben-
dig zu halten, um sie für alle erlebbar und erfahrbar, aber
natürlich auch erschwinglich zu machen. Ich möchte
fünf Punkte aus dem Bericht der Enquete-Kommission
herausgreifen: das Ehrenamt, die ländlichen Regionen,
die Kinder – sie wurden heute leider Gottes schon in ei-
nem nicht so schönen Zusammenhang angesprochen,
Herr Kollege Otto –,
die Bibliotheken und den Spracherwerb.
Zunächst zum Ehrenamt. Ich glaube, das Ehrenamt
ist für die Kultur in Deutschland die zentrale Stütze.
Wenn wir uns umschauen – die meisten von uns arbeiten
ja auch in ländlich geprägten Regionen –, müssen wir
doch feststellen: Wenn wir das Ehrenamt, den unentgelt-
lichen, uneigennützigen Einsatz nicht hätten, wäre es
nicht möglich, die kulturellen Angebote, die unsere Kul-
turlandschaft ausmachen, so am Leben zu erhalten.
Die ländlichen Regionen werden oft übergangen,
wenn es um Kultur geht. Oft wird etwas spöttisch auf
diese Regionen geschaut, wird gedacht, die Hochkultur
gebe es nur in Großstädten. Doch das ist mitnichten der
Fall. Die meisten Menschen leben in ländlichen Regio-
nen. Ich komme selber aus einem sehr ländlich gepräg-
ten Bereich. Auch in meinem Heimatwahlkreis leben
Künstler, die man dort nicht vermuten würde;
man denkt ja oft, die Künstler leben nur in Großstädten.
In meinem Landkreis wohnt ein weltweit bekannter
Künstler: Herman de Vries. Er schätzt besonders die
ländliche Ruhe, die Idylle. Wenn Ausstellungen von ihm
in Paris stattfinden, denkt man nicht, dass er aus einem
Ort kommt, der nur ein paar Hundert Einwohner hat. An
diesem Beispiel kann man sehen, was für Schätze bei
uns in den Regionen versteckt sind.
Ein weiteres Ziel, das uns sehr wichtig ist, besteht da-
rin, die Kinder für die Kultur zu gewinnen.
Wir haben dazu sehr viele Veranstaltungen durchgeführt.
Wir haben nämlich festgestellt, dass Kinder gerade im
kulturellen Bereich begeisterungsfähig und wissbegierig
sind. Ich möchte noch ein Projekt aus meiner Heimat he-
rausgreifen. Dort werden Kinder-Kultur-Abos verkauft
zu einem Preis, der unter dem von vier Kinobesuchen
liegt. Unsere Bundesministerin Ursula von der Leyen hat
dieses inzwischen bayernweite Projekt bereits ausge-
zeichnet. Dass der Bericht der Enquete-Kommission der
Bedeutung der Kinder Rechnung trägt, ist auch daran zu
sehen, dass die Kinder 388-mal erwähnt werden. Auch
dafür noch einmal ganz herzlichen Dank!
13878 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Dorothee Bär
Wir haben ein besonderes Kapitel zum Thema Biblio-
theken eingerichtet. Denn das Lesen gehört ja sehr stark
zu unserer Kultur. Bücher vermitteln unsere Sprache, un-
sere Kultur. Bibliotheken sind der zentrale Ort, um mög-
lichst viele Kinder und Jugendliche zu erreichen. Sie
bieten Lesungen und Veranstaltungen an, die insbeson-
dere die Kinder ansprechen sollen.
Jetzt komme ich zu einem weiteren Schwerpunkt, der
eines meiner Herzensanliegen in dieser Enquete-
Kommission war: Auch für Migrantenkinder sind Biblio-
theken eine gute Anlaufstelle, um unsere Sprache zu er-
lernen. Wie wichtig der Spracherwerb ist, wurde insbe-
sondere in meiner Berichterstattung zu Interkultur und
Migrantenkultur deutlich. Sie können sich sicherlich
vorstellen, dass es nicht selbstverständlich war, dass wir
bei dem Thema „Interkultur und Migrantenkultur“ zu ei-
nem einstimmigen Votum kamen. Dafür, dass es den-
noch gelungen ist, möchte ich mich an dieser Stelle bei
allen Mitgliedern meiner Berichterstattergruppe bedan-
ken. Denn der Spracherwerb ist nun einmal zentral für
eine gelungene Integration.
Daraus ergibt sich auch unsere Handlungsempfeh-
lung, aus der ich kurz zitieren möchte:
Die Enquete-Kommission empfiehlt … die Rahmen-
bedingungen für das Erlernen der deutschen Sprache,
die zentral für eine Integration von Migranten ist, zu
verbessern. Sprachförderung ab dem frühen Kindes-
alter muss deshalb auch in Zukunft verstärkt unter-
stützt werden. Dabei muss sichergestellt werden,
dass die ganze Familie die deutsche Sprache erler-
nen kann. Sie empfiehlt die Förderung situationsan-
gemessener Formen des Sprachenerwerbs. Neben
der Sprachförderung sollten auch die deutsche Ver-
fassung mit ihren Grundrechten und die Grundre-
geln der Rechtsordnung vermittelt werden.
Ich denke, wir konnten hier einen wirklichen Meilen-
stein erreichen. Deswegen bin ich sehr dankbar und froh,
dass wir diese Handlungsempfehlungen und diesen Be-
richt zum Thema Sprachenerwerb interfraktionell, mit
allen Fraktionen gemeinsam, so vorlegen konnten.
Zum Schluss bleibt zu sagen: Vielen herzlichen Dank
für die vergangenen vier Jahre. Ich habe dem Vorsitzen-
den der Blasmusik versprochen, das Wort „Blasmusik“
hier zu erwähnen, damit es heute auch einmal genannt
wurde.
Da freut sich auch der direkt gewählte Abgeordnete des
Berchtesgadener Landes.
Ich denke, in diesem Sinne haben wir noch sehr viel zu
tun. Ich freue mich, dass wir unsere Kultur im Anschluss
an diese Debatte noch gemeinsam feiern können. Nehmen
Sie das Angebot an: Nehmen Sie den Schlussbericht mit,
und lassen Sie ihn von der Vorsitzenden signieren! Dann
haben Sie ein wunderbares Weihnachtsgeschenk für zu
Hause.
Vielen Dank.
Bei aller Begeisterung für die Blasmusik weise ich vor-
sichtshalber darauf hin, dass es auf Kosten der Redezeit
geht, wenn jetzt Kompensationsbedarf besteht und sämtli-
che Orchestergruppen einzeln erwähnt werden müssen.
Der nächste Redner ist der Kollege Christoph Waitz
für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich gehöre zu denjenigen, die erst seit dieser
Legislaturperiode und somit die zweite Hälfte der Kom-
missionsarbeit begleiten durften. Für mich war es ein
spannender und sehr bereichernder Schnellkurs in Sa-
chen Kulturpolitik.
Aus dieser Erfahrung heraus kann ich jedem, der ei-
nen Einstieg in die Kulturpolitik und in die aktuellen
Handlungsfelder finden möchte, diesen Schlussbericht
zur Lektüre empfehlen; denn – dies gerät in unserer De-
batte ein wenig in den Hintergrund – dieser Bericht ent-
hält zu einem großen Teil die Bestandsaufnahme der
Kultur in Deutschland sowie eine Problembeschreibung,
auf deren Basis wir die Handlungsempfehlungen, die
schon jetzt im Mittelpunkt unseres Interesses stehen,
entwickelt haben.
Für mich als sächsischen Bundestagsabgeordneten
war es bei meinen Schwerpunktsetzungen für die Arbeit
innerhalb der Enquete-Kommission ganz wichtig, he-
rauszubekommen, welche kulturpolitischen Themen für
den Freistaat Sachsen von besonderer Bedeutung sind.
Sie wissen, dass Sachsen mit dem Sächsischen Kultur-
raumgesetz eine Art Kulturverfassung hat, die in vieler-
lei Hinsicht vorbildhaft für den Rest Deutschlands sein
könnte.
Für Sachsen gilt aber, was letztlich auch für die ge-
samte Bundesrepublik gilt: Die Kultur- und die Kreativ-
wirtschaft sowie der Kulturtourismus haben noch viel zu
viel ungenutztes Potenzial. Nicht nur in Leipzig, das weit
über die Grenzen Deutschlands hinaus als Bach-Stadt und
Stadt der alten und neuen Leipziger Malerschule bekannt
ist, ist die Kultur ein wichtiger Identitätsfaktor und ein
zentrales Element der Stadt- und Wirtschaftsentwick-
lung.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13879
(C)
(D)
Christoph Waitz
Welche tatsächlichen wirtschaftlichen Effekte die Kul-
tur hat, wurde in diesem Jahr am Beispiel der Kulturförde-
rung für die Wirtschaft der Stadt Dresden untersucht. Das
Ergebnis dieser Studie hinsichtlich der wirtschaftlichen
Effekte ist beeindruckend: Die Ausgaben der Besucher
in Dresden für Hotels, Restaurants, Verkehr usw., was
auch zu zusätzlichen Steuereinnahmen führt, betragen
circa 144 Millionen Euro. Bei einer staatlichen Förde-
rung von circa 40 Millionen Euro ist das eine Rendite,
die ansonsten nur mit gewagten Finanzspekulationen er-
reichbar wäre, mit dem kleinen Unterschied, dass sich
die Bedeutung der Semperoper zum Beispiel für die
Identifikation der Stadt und des Landes als zusätzlicher
wirtschaftlicher Effekt auswirkt.
Dieses Beispiel, Herr Tauss, lässt sich nicht auf jedes
kleine Theater übertragen. Dadurch wird aber mit dem
verbreiteten Vorurteil aufgeräumt, dass Kultur vor allem
Geld kostet. Einmal abgesehen davon, dass wir es uns
gar nicht leisten könnten, auf die Kultur zu verzichten,
wäre eine Vernachlässigung auch unter dem wirtschaftli-
chen Gesichtspunkt kontraproduktiv.
Dies unter Beweis zu stellen und für jeden politischen
Entscheidungsträger nachlesbar aufzuschreiben, war si-
cher auch ein Anspruch der Kultur-Enquete. Neben diesen
grundsätzlichen Maßnahmen zur Förderung der Kultur-
wirtschaft, die sich in einem fraktionsübergreifenden
Antrag, den wir hier neulich verabschiedet haben, wieder-
finden, halte ich es für zentral, dass insbesondere Länder
und Kommunen Kultur in einem verstärkten Maße als Al-
leinstellungsmerkmal für ihr Tourismusmarketing einset-
zen. Wir brauchen in diesem Punkt eine viel stärkere Ver-
netzung zwischen der Tourismus- und der Kulturbranche
und den politischen Entscheidungsträgern.
Eine Maßnahme, die die Kultur-Enquete vorschlägt, um
den Wettbewerb zwischen den Kulturstädten Deutschlands
zu befördern, ist die Ausschreibung eines Wettbewerbs un-
ter dem Titel „Kulturstadt Deutschland“. Nach den
überaus positiven Erfahrungen, die wir mit dem Wettbe-
werb um die europäische Kulturhauptstadt – und zwar
ausdrücklich nicht nur für die Gewinner, sondern für alle
Beteiligten – gemacht haben, kann ein solcher nationaler
Wettbewerb nur förderlich und für andere Kommunen im
besten Sinne des Wortes beispielgebend sein.
Einen weiteren Themenkomplex möchte ich noch
ganz kurz anreißen, weil er einen wichtigen Bereich be-
handelt und weil es in ihm einige Empfehlungen der En-
quete-Kommission gibt, die sicherlich gut gemeint, aber
nicht wirklich förderlich sind. Es geht um das Kapitel
„Kultur in Europa – Kultur im Kontext der Globalisie-
rung“. Die europäische Perspektive unseres nationalen
Handelns steht hier außer Frage und ist ohne Alternative.
Das Zusammenwachsen Europas wird in zunehmendem
Maße zu einer europäischen Identität führen, die die na-
tionale Identität jedoch nicht ersetzt, sondern ergänzt
und erweitert.
Allerdings sind die Empfehlungen des Europakapitels
nicht ausnahmslos geeignet, einen hilfreichen Beitrag
dazu zu leisten. Ein Beispiel dafür ist die Methode der
offenen Koordinierung, über die in der Enquete-Kom-
mission mehrfach diskutiert wurde. Ich glaube nicht,
dass das Instrument der offenen Koordinierung in der
Kulturpolitik tatsächlich praktikabel ist. Die Methode
der offenen Koordinierung ermöglicht keine ausreichend
demokratisch legitimierte Diskussion über die von der
Europäischen Kommission vorgeschlagenen Maßnah-
men. Dies ist gerade im Hinblick auf das Subsidiaritäts-
prinzip, welches mit der Methode der offenen Koordi-
nierung unterlaufen wird, von großer Bedeutung.
Ein weiteres Problem sehen wir bei dem UNESCO-
Abkommen zum Schutz des immateriellen Kulturerbes.
Wir teilen im Grundsatz die Ziele des Abkommens und
erkennen die Bedeutung des immateriellen Kulturerbes
und dessen Bewahrung ausdrücklich an. Die vorgeschla-
genen Institutionen und Maßnahmen stellen aber eine
unnötige Bürokratisierung und Konservierung des kultu-
rellen Lebens dar, der wir eine lebendige Weiterentwick-
lung des immateriellen Kulturerbes vorziehen.
Wir als FDP-Fraktion werden mit großem Engage-
ment die Umsetzung der Handlungsempfehlungen for-
cieren. Aber die Mehrheitsverhältnisse in diesem Hause
sind – noch – relativ klar verteilt.
– Na, wir werden schauen. Die nächsten Wahlen kom-
men bestimmt. – Wir konnten gestern im Kulturaus-
schuss deutlich erleben, dass die Koalition einem Antrag
auch dann nicht zustimmen kann, wenn er der Regie-
rungsposition eins zu eins entspricht. Das bedeutet für
Sie, liebe Kollegen und Kolleginnen von der Union und
der SPD, dass es unter diesen Bedingungen Ihre Auf-
gabe ist, die Themenfelder vorzubereiten und auch die
Mehrheiten für die Umsetzung der Ergebnisse der En-
quete-Kommission durchzusetzen.
Ein Thema der Enquete-Kommission steht schon jetzt
auf der Tagesordnung des Bundestages: das Staatsziel
Kultur. Die FDP-Bundestagsfraktion hat dazu Anfang
2006 einen Gesetzentwurf eingebracht. Nach wie vor
harren wir der Entscheidung. Die SPD hat dem Staats-
ziel Kultur kürzlich zugestimmt. Jetzt fehlen noch Ihre
Stimmen von der CDU/CSU.
Herr Kollege.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-
Fraktion, zeigen Sie, dass Sie es ernst meinen mit der
Kulturförderung,
und stimmen Sie dem Staatsziel Kultur zu!
13880 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Christoph Waitz
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort der Kollegin Lydia Westrich für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Als Finanzpolitikerin in eine Enquete-Kommission
zu kommen, ist erst einmal ein Kulturschock, besonders
wenn diese Kommission „Kultur in Deutschland“ heißt.
Ich bin gewöhnt, an Paragrafen und Details zu feilen.
Bei den Finanzpolitikern entscheidet im Endeffekt meis-
tens nur ein kleines Wort in einem Halbsatz eines Absat-
zes irgendeines Paragrafen in einem einzigen Gesetz
über das Wohlergehen der Bürger unseres Staates. Dann
kam die Enquete-Kommission
mit Sachverständigen, die reden und reden, die nicht nur
ein Mitspracherecht, sondern auch ein Stimmrecht ha-
ben. Sie haben Ideen, die in der Paragrafenwelt nicht
fassbar sind. Wo aber bleiben bei den vielen Reden die
Fakten?
Kunst heißt, wie mir ein Künstlerfreund gesagt hat,
loszulassen und sich hinzugeben, sich auf Unbekanntes
einzulassen. Da ich keine Künstlerin bin, habe ich zu-
mindest versucht, mich auf das Thema „Kultur in
Deutschland“ einzulassen, das mich als Bundes- und
Kommunalpolitikerin brennend interessiert. Kaum war
die innere Bereitschaft da, zeigten sich die Fakten.
Aus den Reden ergaben sich Streitgespräche, Anhö-
rungen der Betroffenen und Gutachten über viele Teilbe-
reiche der immensen Schatzkiste, die wir in Deutschland
haben. Was fangen wir bei immer knapper werdenden
Kassen mit diesem Schatz an? Das herauszufinden, war
unsere Aufgabe. Der großen Herausforderung, den
Schatz zu mehren und ihn für künftige Generationen
weiterzuentwickeln, statt ihn auszugeben, haben wir uns
– jeder in seinem Bereich – gestellt. Das hat Spaß ge-
macht.
Mein Bereich war die wirtschaftliche und soziale Lage
von Künstlerinnen und Künstlern. Für Eingeweihte wird
es weniger erstaunlich sein als für mich, dass ich jenseits
des roten Teppichs, des Glitzerns und des Glamours der
Feste schnell in sehr ernüchternde Lebensbiografien vor-
gestoßen bin. So ist die Hauptdarstellerin einer Soap, die
täglich durch die Wohnzimmer flimmert, als alleinerzie-
hende Mutter arbeitslos geworden, und sie muss immer
wieder um ihr Arbeitslosengeld II kämpfen, weil ein
Sachbearbeiter die Wiederholung eines ihrer Auftritte im
Fernsehen gesehen hat, für die sie jedoch kein Geld be-
kommt. Bis das Arbeitslosengeld II dann wieder fließt,
vergeht einige Zeit, in der sie kein Einkommen hat.
Vor allem darstellende Künstler – die im Filmbereich
tätigen Kulturschaffenden, Kameraleute usw. – haben
zunehmend mit der Existenzsicherung zu kämpfen. Aus
Kostengründen beschränken die Unternehmen der Film-
wirtschaft, aber auch die Theater die Produktionszeiten
auf das unumgängliche Maß. Die Beschäftigungszeiten
werden auf wenige Drehtage mit immensen Überstunden
begrenzt. Die Arbeitgeber sparen dadurch Beiträge zur
Sozialversicherung.
Zunächst hat auch der Künstler kurzfristig Vorteile
wegen seines Spitzenverdienstes in diesen wenigen Ta-
gen, und er bemerkt zu spät, dass ihm Sozialversiche-
rungstage fehlen. Durch die Verkürzung der Rahmenfrist
in der Arbeitslosenversicherung von drei auf zwei Jahre,
innerhalb derer zwölf Monate versicherungspflichtige
Zeiten als Voraussetzung für einen Anspruch auf Ar-
beitslosengeld erbracht werden müssen, können immer
weniger Schauspieler, Kameraleute, Toningenieure und
Produzenten diesem Anspruch gerecht werden.
Deshalb verlangt die Enquete-Kommission, eine Lö-
sung für die Betroffenen zu finden.
Wir sind sehr zuversichtlich, bald zu einer Lösung zu
kommen, seit auch unser Finanzminister Peer Steinbrück
und unser SPD-Bundesvorsitzender Kurt Beck dieses
Problem aufgegriffen haben.
Der Druck der Enquete-Kommission hat schon mehr-
fach gegriffen, zum Beispiel beim Erhalt der ZBF, der
zentralen Vermittlungsstelle für Bühnen- und Filmschaf-
fende, die der Bundesagentur für Arbeit angegliedert ist.
Der Bundesrechnungshof, der diese Stelle kritisiert hat,
hat genauso wenig wie viele andere begriffen, dass sich
die Situation von Künstlerinnen und Künstlern durch ih-
ren Tätigkeitswechsel von selbstständiger zu nichtselbst-
ständiger Tätigkeit und von unständiger zu kurzfristiger
Beschäftigung von anderen in hohem Maße unterscheidet.
Versuchen Sie zum Beispiel einmal, einen Tänzer zu
vermitteln: Er hat keinen anerkannten Ausbildungsberuf
und ist mit 30 Jahren gesundheitlich ruiniert. Seine Aus-
bildung war lang und teuer. Nun bleibt an der Jobbörse
nur das Repertoire der Hilfsarbeiten für ihn übrig. Die
Mitglieder der Enquete-Kommission werden auch da-
rauf drängen, den Tanz als Ausbildungsberuf einzustu-
fen und die Gründung einer Tanzstiftung zu forcieren.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13881
(C)
(D)
Lydia Westrich
Die zentrale Vermittlungsstelle für die Künstlerinnen
und Künstler bleibt aber trotz der Rüge des Rechnungs-
hofs erhalten, da ihr Spezialwissen und ihre Verbindun-
gen natürlich nicht in jeder Agentur für Arbeit vorgehal-
ten werden können.
Arbeitslosengeld II, Arbeitsgelegenheiten, keine Aus-
bildung – das sind Worte, auf die wir im Zusammenhang
mit Künstlerinnen und Künstlern normalerweise nicht
kommen. Aber ich habe gelernt, dass gerade im Kultur-
bereich die Einkommensentwicklung besorgniserre-
gend ist. Da die wirtschaftliche und soziale Lage der
Künstler und Kulturschaffenden häufig von der wirt-
schaftlichen Situation des öffentlichen Kulturbetriebs
abhängt, unterliegen sie in schwierigen Zeiten immer als
erste dem öffentlichen Sparzwang. Das gilt für Theater,
Opern, Orchester, Museen, Bibliotheken, Musikschulen,
sozio-kulturelle Zentren, den Film- und Medienbereich
und viele andere. Die oft projektbefristete Anstellung ist
leider die Regel. Schlecht bezahlte Volontäre ersetzen
Museumspädagogen oder Bibliotheksmitarbeiter. Mu-
siklehrer in die Selbständigkeit zu entlassen, ist bei vielen
Kommunen leider gang und gäbe. Die Künstlersozialver-
sicherung errechnet für ihre selbständigen Mitglieder
Durchschnittsjahreseinkommen von 11 000 Euro. Da
könnten wir glatt in eine Mindestlohndebatte einsteigen.
Das Problem ist, dass Kunst und Finanzen häufig
nicht zusammenhängend betrachtet werden, weder von
den Schöpfern der Kunstwerke noch von uns. Umso
wichtiger ist die Empfehlung der Enquete-Kommission,
schon bei der Ausbildung die Vermittlung von betriebs-
wirtschaftlichen Fähigkeiten einzubinden. Existenzgrün-
dung und erfolgreiche Betriebsführung müssen selbst-
verständlicher Teil des Studiums sein wie alle anderen
Fertigkeiten. Das ist der richtige Weg bei der Ausbil-
dung.
Aber auch die Wirtschaftsförderung muss sich auf
die Bedürfnisse der Kulturschaffenden besser einstellen.
Mit den Mikrokrediten haben wir einen Anfang ge-
macht. Dennoch sind die Bedürfnisse der Künstler für
die meisten Wirtschaftsförderungsgesellschaften Fremd-
land, obwohl die künstlerische Arbeit, wie es Frau Bär
beschrieben hat, als weicher Standortfaktor gerne mit
Prestigegewinnen vermarktet wird. Es ist von uns, von
der Enquete-Kommission, nicht zu viel verlangt, dass
sich diese Wirtschaftsförderungsgesellschaften für diese
Klientel passgenau einsetzen.
Als Steuerpolitikerin war ich natürlich auch für die
steuerrechtliche Behandlung der Künstler- und Kultur-
berufe zuständig. Hierüber könnte ich eine Menge erzäh-
len. Unser allgemeines Steuerrecht enthält bereits Rege-
lungen, die die besondere Situation von Künstlern
berücksichtigt und die der Förderung von Kunst und
Kultur dienen. Doch gibt es immer wieder Fortentwick-
lungen, die noch längst nicht Eingang in die Gesetzge-
bungsmaschinerie gefunden haben.
Unser verstorbener Bundespräsident Johannes Rau
hat die Kunst als Lebensmittel bezeichnet. Dementspre-
chend werden Kunstwerke wie Lebensmittel bei der
Umsatzsteuer nur mit dem ermäßigten Steuersatz verse-
hen. Das muss nach dem Willen der Enquete-Kommis-
sion trotz immer wieder aufkommender Debatten auch
weiter so bleiben.
Zusätzlich wollen wir den Zweig der längst etablier-
ten Kunstfotografie in den Katalog der ermäßigten Steu-
ersätze mit aufnehmen. Frau Bundeskanzlerin Merkel
und Herrn Finanzminister Steinbrück sei gesagt: Was
den Bergbahnen billig ist, das ist der Kunstfotografie
schon lange recht. Darauf werden wir drängen.
Zur Künstlersozialversicherung muss ich noch ein
paar Worte sagen, Herr Präsident. Dieses von Sozialde-
mokraten initiierte Sozialversicherungssystem, das im
künstlerischen Bereich die Lebensrisiken wie Krankheit,
Alter und Pflege auffangen soll, ist weiterhin Gott sei
Dank in voller Blüte. Der Drang in diese Versicherung
ist ungebrochen. Wir Mitglieder der Enquete-Kommis-
sion werden uns dafür einsetzen, dass der Bundeszu-
schuss zur Künstlersozialversicherung weiterhin stabil
gehalten wird –
Frau Kollegin!
– und dass wir mehr Vertragsgesellschaften zu Ein-
zahlungen heranziehen.
Dieses Thema, Herr Präsident, ist unerschöpflich,
meine Redezeit leider nicht. Eines ist klar: Ohne Künst-
lerinnen und Künstler, ohne Kulturschaffende bräuchten
wir das Thema Kultur gar nicht anzugehen. Deshalb darf
der Spar- und Optimierungszwang, den ich auf allen
Ebenen gar nicht abstreite, nicht alleine auf dem Rücken
der Kulturschaffenden ausgetragen werden.
Alleine für diese Erkenntnis hat sich für mich die Einset-
zung der Enquete-Kommission gelohnt.
Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Roland Claus, Frak-
tion Die Linke.
13882 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auch ich schätze die Weisheit des Berichtes als
einen Kulturkompass, wie Sie es genannt haben, Frau
Vorsitzende. Ich finde, das ist ein schönes Wort. Leider
versagt das große Werk aber völlig, wo es um die Be-
wertung von 40 Jahren deutscher Teilung geht.
Der Ansatz, Kulturgeschichte in die Kategorien Diktatur
einerseits und Widerstand andererseits einzuteilen, geht
fehl. Sprache ist verräterisch. Sie nennen diesen Ab-
schnitt Nachwirkungen der deutschen Teilung. Nach-
wirkungen! Warum tun Sie das, obwohl Sie wissen, dass
Sie damit vor allem im Osten der Republik an Zustim-
mung verlieren? Auch Sie haben erkannt, dass die Ost-
deutschen nach über zehn Jahren ihr Selbstbewusstsein
wiedergewonnen haben und deutlich artikulieren. Sie er-
zählen ganz entspannt über ihre Biografien, über ihr Le-
ben in der DDR. Ihre Antwort, die Antwort der hier
dominierenden Politik, ist eine politisch-kulturelle Dis-
kriminierung und Delegitimierung der DDR. Das muss
hier so deutlich festgestellt werden.
Die deutsche Kulturgeschichte von 1949 bis 1989 ist
aber ein Abschnitt gemeinsamer deutscher Geschichte,
trotz oder gerade wegen der Gegensätze. Beide deutsche
Staaten haben sich bekanntlich politisch-kulturell in er-
heblichem Maße über ihre jeweilige Gegensätzlichkeit
definiert. Beide waren mit Blick auf den anderen der
Geist, der stets verneint. Damit waren die Wechselwir-
kungen aufeinander immer riesengroß, und das selbst in
den eisigsten Zeiten des Kalten Krieges.
Herr Kollege Claus, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Bär?
Ja, gerne.
Bitte, Frau Bär.
Herr Kollege, finden Sie es gerechtfertigt, hier zu
sprechen, obwohl Sie kein einziges Mal in der Enquete-
Kommission anwesend waren, geschweige denn sich je-
mals mit diesem Thema befasst haben? Finden Sie es ge-
rechtfertigt, Ihre heutige Redezeit als kommunistische
Plattform zu missbrauchen?
Ich beantworte Ihre beiden Fragen jeweils mit Ja.
Selbstverständlich finde ich es gerechtfertigt, dass ich
mich mit Ihrem Bericht befasse. Sie sollten sich das auch
wünschen.
Wenn sich Ihre Logik darin erschöpfte, dass nur diejeni-
gen über den Schlussbericht der Enquete-Kommission
reden dürften, die ihr auch angehörten, stellten Sie sich
kulturell ein Armutszeugnis aus.
Was ich in der Sache darlegen und ausführen will, hat
mit der Würdigung dessen zu tun, was an kulturellen
Gemeinsamkeiten und Unterschieden in 40 Jahren
deutscher Teilung zu besprechen ist. Ich will Ihnen ein
Beispiel nennen. Die kleine, so subversive DDR hat es
sogar geschafft, mehr Heinrich-Böll- und Siegfried-
Lenz-Bücher zu verkaufen als die Bundesrepublik Bü-
cher von Stefan Heym und Christa Wolf. Ich glaube, das
hatte auch etwas mit den Preisen zu tun.
Sie müssen keine Sorge haben. Ich habe zu viele per-
sönliche Freunde aus Kultur und Kunst an den Westen
verloren, um mir die DDR schönzureden. Aber ich be-
haupte: Der kulturelle Lebensalltag in der DDR war dem
kulturellen Lebensalltag Österreichs ähnlicher als dem
kulturellen Lebensalltag Rumäniens. Die DDR hat 1990
kulturell vieles in die Einheit eingebracht – die Zahlen in
Ihrem Bericht belegen das –, vor allem das Selbstver-
ständnis, Kultur und Bildung sozial nicht zu teilen; sie
sollen allen zugänglich sein. Ich finde, dass diese Ost-
erfahrungen, insbesondere Erfahrungen aus der DDR,
aber auch Erfahrungen mit gesellschaftlicher Transfor-
mation gegenwärtig brachliegen und nicht von dieser
Gesellschaft genutzt werden.
Deutschsprachige Rockmusik war eher und mehr
ost- als westdeutsch. Ich sage das trotz oder wegen gro-
ßer Zuneigung zu Heinz Rudolf Kunze, Nena, Klaus
Lage und anderen. Dass viele Ostrocker in den Westen
gingen, lag nicht daran, dass sie den Westen so toll fan-
den, sondern daran, dass sie nicht aushalten konnten, wie
wir in der DDR den Sozialismus vergeigt haben.
Anna Seghers, Erwin Strittmatter, Willi Sitte, Konrad
Wolf, Hermann Kant haben Millionen fasziniert. Ihre
Verbundenheit mit der DDR genügt heute aber, sie kul-
turhistorisch zu verbannen.
In Deutschland ist der Zugang zu Bildung und Kultur
heute in zunehmendem Maße von sozialen Unterschie-
den beeinflusst. Das nenne ich kulturfeindlich.
Wo gesellschaftlicher Reichtum und – noch schneller –
die Kinderarmut größer werden, ist kultureller Notstand
nicht weit.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13883
(C)
(D)
Roland Claus
Noch immer sind Zeit und Chance zur Umkehr. Mit
historischem Abstand wächst zuweilen die Souveränität,
mit Geschichte umzugehen. Deshalb fordere ich noch
einmal dazu auf, kulturelle, mentale Unterschiede zwi-
schen Ost und West als Herausforderung für die Kultur-
politik zu begreifen und sie nicht schlechthin zu über-
winden. Diese Unterschiede sollten wir als Chance
begreifen.
Jo Krummacher ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Gäste! Zweifelsfrei ist Kultur eine jener
elementaren Kohäsionskräfte, die gesellschaftliches Le-
ben und ein Dasein im Miteinander überhaupt erst er-
möglichen. Insofern ist Kultur wie das täglich Brot oder
die Luft, die wir atmen.
Denn was wäre dieses Land ohne die Sprache der
Lutherbibel, ohne Beethovens Neunte, ohne Schillers
Räuber, ohne die Bilderwelt von Lucas Cranach oder
Georg Baselitz? Was wäre es ohne die Berliner Muse-
umsinsel oder ohne einen Film wie Das Leben der Ande-
ren? Was ohne die Gedichte eines Friedrich Hölderlin
oder eines Heinrich Heine? Was ohne die vielen Musik-
vereine und Theatergruppen? Was ohne das Engagement
der Kirchen, vom Mittelalter über die Neuzeit bis hin zur
Gegenwart?
Nebenbei bemerkt: Die Enquete-Kommission konnte
feststellen, dass die beiden großen christlichen Kirchen
in unserem Land mehr für die Kulturförderung ausgeben
als die öffentliche Hand.
Was also wäre dieses Land ohne seine kulturelle Viel-
falt? Folgerichtig hat die Arbeit der Enquete-Kommis-
sion dazu beigetragen, den Reichtum unserer Kultur-
landschaft zu erfassen. Aus der Mitte des Bundestages,
unter Mitwirkung namhafter Sachverständiger und na-
türlich auch unter Einbeziehung der Länder ist eine
umfassende Bestandsaufnahme gelungen, die die Kul-
tur noch stärker in das Zentrum des politischen Bewusst-
seins rückt.
Neben dieser umfassenden und deutlichen Bestands-
aufnahme ist der Bericht der Enquete-Kommission aber
auch mit konkreten Empfehlungen verbunden: mit kla-
ren Aufforderungen an alle staatlichen und gesellschaft-
lichen Akteure, Kultur quasi immer mitzudenken und in
das Alltagshandeln zu integrieren.
Dabei fangen wir nicht bei null an. Mit Staatsminister
Bernd Neumann haben wir auf Bundesebene einen enga-
gierten Fürsprecher und Motor für kulturelle Belange.
Im Bundesministerium für Bildung und Forschung ist
die Kultur ebenfalls präsent, von der Förderung der
Geisteswissenschaften bis hin zur Grundlagenforschung.
Auch sonst hat die Bundesregierung stets bewiesen, dass
die Kultur bei ihr in guten Händen ist. Nein, wir fangen
wirklich nicht bei null an. Aber gerade deswegen kom-
men wir gemeinsam und auf der Grundlage des Berichts
der Enquete-Kommission noch viel weiter.
Aus Sicht der Union war von Anfang an wichtig, der
Breite des kulturellen Spektrums gerecht zu werden und
gleichzeitig auf die entsprechende Schärfentiefe zu ach-
ten.
Kulturelle Bildung muss insbesondere für öffentlich
geförderte Kultureinrichtungen eine Kernaufgabe sein.
Kultur macht nicht an Grenzpfählen halt, und darum be-
treffen die empfohlenen Weichenstellungen auch die eu-
ropäische und die internationale Ebene. Genauso richtet
sich der Blick auf die gesellschaftlichen und lokalen
Wurzeln der Kultur. Alle kulturschaffenden, alle kultur-
fördernden und alle kulturtragenden Kräfte sollen sich
möglichst frei entfalten können.
Bürgerschaftliches und ehrenamtliches Engagement
sind tragende Pfeiler der Kultur in Deutschland, und
viele Empfehlungen setzen zu Recht genau hier an. Neue
Formen der Zusammenarbeit zwischen der öffentlichen
Hand und den Privaten – aber ebenso zwischen Bund,
Ländern und Kommunen – sind geeignet, auch in Zu-
kunft eine kulturelle Infrastruktur auf höchstem Niveau
zu gewährleisten.
Kurz: Die Faktoren gegenwärtiger Kulturpolitik wur-
den präzise erfasst und die Perspektiven der zukünftigen
Kulturpolitik ebenso plausibel wie vielversprechend
skizziert. Jetzt haben wir eine klare Vorstellung, und gut
vorbereitet gehen wir an die Umsetzung.
Die Zahlen sind genannt worden, aber die Wiederho-
lung des Bedeutsamen hilft der Wahrnehmung: vier
Jahre Arbeit, über 400 Handlungsempfehlungen, einge-
bettet in 1 200 Seiten Bestandsaufnahme. Das ist der Be-
richt der Enquete-Kommission, mit dem sich auch der
Bund als Akteur der Kulturpolitik zu Wort meldet, nicht
als föderaler Besserwisser im bestehenden Gefüge, son-
dern als echter Partner. Insofern gleicht der Bericht der
Enquete-Kommission einer Partitur, durch die das kultu-
relle Geschehen überschaubar wird. Das zu spielende
Werk richtet sich nicht an einen Solisten, sondern zielt
auf ein harmonisches Ineinandergreifen der verschiede-
nen Akteure.
13884 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Johann-Henrich Krummacher
Wir haben die Chance auf ein neues, prosperierendes
kulturelles Miteinander. Wenn wir alle die Bewahrung,
Weitergabe und Förderung der Kultur weiterhin als et-
was Essenzielles begreifen, dann wird sich auch der zu-
künftige Einsatz wirklich lohnen.
Der Kollege Keskin ist der nächste Redner für die
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Mit sehr viel Sachverstand und Engagement konnte
die Enquete-Kommission zur Migrantenkultur/Interkul-
tur eine sehr gelungene Arbeit leisten. Der Bericht
wurde von allen Fraktionen gemeinsam beschlossen.
Auch ich möchte mich ganz herzlich bei allen Beteilig-
ten bedanken.
Die kulturelle Vielfalt Deutschlands wird von der
Kommission als eine Realität, als Fakt anerkannt, und
zwar von allen Fraktionen, auch von der Union. Das ist
ein Novum. Ich begrüße diesen Fortschritt. Bekanntlich
haben wir über die Tatsache, dass Deutschland längst
eine multikulturelle Gesellschaft geworden ist, jahr-
zehntelang kontrovers diskutiert. Nunmehr musste diese
Erkenntnis als gemeinsame Position auch von der Union
öffentlich mitgetragen werden.
Die Kommission kommt einstimmig zu der Feststel-
lung, dass die Kulturen der Migrantinnen und Migranten
als Bestandteil der Kultur in Deutschland und als Berei-
cherung für Deutschland zu bewerten sind. Ausdrücklich
wird diese kulturelle Vielfalt bejaht und begrüßt. Die En-
quete-Kommission stellt weiterhin fest, dass es gerade
die kulturelle Vielfalt ist, die den Reichtum der Kultur in
Deutschland ausmacht. Es wird daher unterstrichen, dass
die unterschiedlichen Kulturen in Deutschland gleichbe-
rechtigt gefördert werden müssen.
Die Integration funktioniert nicht von selbst. Der
Staat und die Mehrheitsgesellschaft sind hier gefordert,
aktiv tätig zu werden.
Rechts- und Sozialstaat, Geschichte und Sprache müssen
aktiv und wechselseitig vermittelt werden. Auch in der
Bildungspolitik muss eine Kehrtwende vollzogen wer-
den, damit die Menschen von den Chancen der kulturel-
len Vielfalt profitieren können: Interkulturelle Bildung
und Erziehung müssen so ausgerichtet werden, dass die
Ressourcen der Menschen in vielfältiger Weise zur Gel-
tung kommen können.
Selbstverständlich gehört neben dem Erlernen der
deutschen Sprache auch das Erlernen der Muttersprache
der Migrantenkinder zu diesen Bildungsansätzen. Wis-
senschaftlich wurde bewiesen: Wer seine Muttersprache
gut beherrscht, kann auch die deutsche Sprache leichter
erlernen. Aus dieser Tatsache müssen die notwendigen
Konsequenzen gezogen werden.
Der überparteiliche Konsens, der sich im Bereich der
Kulturpolitik erfreulicherweise herstellen ließ, sollte An-
reiz und Ermutigung auch für andere Politikbereiche
sein.
Es ist nicht nur im Hinblick auf die Integration erfor-
derlich, sondern auch ein Gebot der Demokratie, Men-
schen, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben oder so-
gar hier geboren und aufgewachsen sind, die vollen
bürgerlichen Rechte zu gewähren.
Daher fordert die Linke, dass der Erwerb der deutschen
Staatsbürgerschaft auch unter Beibehaltung der alten
Staatsangehörigkeit erleichtert wird.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Die Kollegin Simone Violka ist für die SPD-Fraktion
die nächste Rednerin.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren Sachverstän-
dige! Wenn wir über Kultur in Deutschland sprechen,
dann dürfen wir die Auswirkungen des demografischen
Wandels auch auf den kulturellen Bereich nicht außer
Acht lassen. Deshalb stand für uns, die Mitglieder der
Enquete-Kommission, nie zur Debatte, wie viel Kultur
wir uns in Zukunft noch leisten können; vielmehr ging
es um die Frage, welche Herausforderungen unsere Ge-
sellschaft bewältigen muss, damit die Kulturlandschaft
in Deutschland nicht nur erhalten wird, sondern sich
auch weiterhin mannigfaltig entwickeln kann.
Da sich der demografische Wandel in den Regionen
unterschiedlich vollzieht, gibt es bisher noch keine flä-
chendeckenden politischen Lösungsansätze für die per-
spektivische Lösung dieses Problems. Es gibt Regionen,
viele davon im Osten Deutschlands, die sich schon seit
Jahren in einem solch enormen Strukturwandel befinden,
dass dort auf politischer Ebene und auf der Ebene der
Kulturschaffenden bereits reagiert wird bzw. reagiert
werden musste. Auf den dortigen Erkenntnissen kann
man deutschlandweit aufbauen.
Die neuen Länder haben eine alte, vielfältige Kultur-
landschaft in das vereinigte Deutschland eingebracht.
Ich würde mich freuen, wenn auch Dresden seiner Ver-
antwortung gerecht würde und ein Weltkulturerbe nicht
weniger schätzte als eine Brücke.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13885
(C)
(D)
Simone Violka
Die Erhaltung des Kulturguts und die Förderung kultu-
reller Infrastruktur in den neuen Ländern liegen trotz un-
terschiedlicher gesellschaftlicher Rahmenbedingungen
in gesamtdeutscher Verantwortung. Da hierfür Geld be-
nötigt wird, empfiehlt die Enquete-Kommission Bund
und Ländern, die Verwendung von 2 Prozent der in
Korb II bis 2019 als zweckgebundene Zuweisungen des
Bundes zur Verfügung stehenden Mittel für die Kultur in
den neuen Ländern verbindlich festzuschreiben.
Das sogenannte Leuchtturmprogramm hat sich als
Erfolg erwiesen. Deshalb empfehlen wir, das in den
neuen Ländern bewährte Programm auf den gesamten
Staat auszudehnen.
Aufgrund der gesellschaftlichen Umstrukturierung
sind vor allem ländliche Regionen einer enormen Be-
völkerungsausdünnung ausgesetzt, die die Gefahr mit
sich bringt, dass es dort kein flächendeckendes kulturel-
les Angebot mehr gibt. Das bedeutet für die Menschen,
die dort leben, nicht nur lange Wege zur Kultur, sondern
auch, dass ihre Regionen zunehmend an Attraktivität
verlieren, was dann häufig noch mehr Ausdünnung nach
sich zieht und damit ein immer geringeres Angebot an
Arbeitsplätzen zur Folge hat.
Gleichzeitig müssen aber viele Steuergelder aufgewen-
det werden, um für die immer geringer werdende Zahl
von Menschen lebensnotwendige Infrastrukturen zu er-
halten.
Nun könnte man ja auf den Gedanken kommen, dass,
wenn es weniger Menschen gibt, auch weniger Kultur
benötigt würde. Das ist meiner Meinung nach der fal-
sche Ansatz; denn es ist festzustellen, dass sich nur ein
bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung als Kulturkon-
sument sieht. Dieser Anteil ist in den vergangenen Jah-
ren fast gleich geblieben. Hier muss angesetzt werden;
denn hier liegt ein enormes Potenzial für die Kultur
brach. Das kann aber nur über ein ansprechendes und
vor allem nahes kulturelles Angebot und – das darf in
diesem Zusammenhang auch nicht vergessen werden –
eine bessere kulturelle Bildung genutzt werden. Diese
stellt nämlich eine Grundlage für wachsendes Interesse
an Kultur dar.
Bei der Kultur im ländlichen Raum spielt das bürger-
schaftliche Engagement eine besonders große Rolle. Es
gibt bereits Regionen, in denen das kulturelle Angebot
ausschließlich auf den Schultern von engagierten Bürge-
rinnen und Bürgern und dort lebenden Künstlerinnen
und Künstlern liegt. Dabei sind auch Laienkultur und
Brauchtum ein selbstverständlicher und unverzichtbarer
Bestandteil der Kulturlandschaft. Deutschland wäre ein
kulturell armes Land ohne die Tausenden Orchester,
Chöre, Theater- und Tanzgruppen und Kulturvereine.
Deshalb ist es notwendig, die Rahmenbedingungen für
diese Gruppe zu garantieren und auch zu verbessern.
Dank eines ausgeprägten Engagements von Künstle-
rinnen und Künstlern, aber auch von Kunst- und Kultur-
interessierten finden wir auch in ländlichen Regionen ein
vielseitiges Kulturangebot vor. Dieses Angebot zu erhal-
ten, ist eine Herausforderung in Zeiten, in denen die Gel-
der für kulturelle Angebote in den Haushalten immer
knapper werden. Das größte Problem hierbei ist aber oft
nicht zu wenig Geld, sondern eine zu unstete Förderung,
die oftmals von Jahr zu Jahr völlig offenlässt, ob über-
haupt weiter gefördert wird und, wenn ja, in welcher
Höhe. Als Schirmherrin eines solchen Festivals, nämlich
des von Wustrau, weiß ich, wovon ich rede. Trotz un-
glaublichen Engagements und – das ist in Kulturkreisen
leider oft der Fall – einer unglaublichen Bereitschaft zur
Selbstausbeutung bei den Künstlerinnen und Künstlern
stehen wir leider Jahr für Jahr vor der Frage, wie lange
wir das durchhalten. Das könnte durch eine langfristige
Planung bei den einzelnen Engagements verhindert wer-
den. Wenn dann gleichzeitig noch alle Ressourcen aus-
geschöpft würden, könnte auch eine möglichst hohe fi-
nanzielle Unabhängigkeit erreicht werden.
Einen Ausgleich über Sponsoring oder Mitgliedsbei-
träge zu erreichen, ist vor allem in ländlichen Regionen
kaum möglich, weil viele bereits in mehreren Vereinen
engagiert und am Ende ihrer finanziellen Möglichkeiten
sind. Für überregional agierende Firmen und Konzerne
ist der ländliche Raum für Sponsoring meist unattraktiv,
weil zu wenige erreicht werden und es kein überregiona-
les mediales Interesse gibt. Um solche Lücken zu schlie-
ßen, müssen öffentliche Gelder so effektiv wie möglich
eingesetzt werden.
Eine Lösung sehen wir in der Enquete-Kommission
in der Schaffung einer Kulturentwicklungsplanung;
dieser muss aber eine genaue Bedarfsanalyse vorausge-
hen, in der es an erster Stelle nicht um Mitteleinsparung,
sondern um Erhalt durch Anpassung und Veränderung
geht. Solch eine Kulturentwicklungsplanung kann aber
auch nur dann ein wirklicher Erfolg werden, wenn kultu-
relle Institutionen stärker kommunen- und gegebenen-
falls auch länderübergreifend genutzt werden. Auch der
Zusammenschluss und die Mehrfachnutzung von spar-
tenübergreifenden Kulturstätten kann eine Möglichkeit
zur Lösung der anstehenden Probleme darstellen.
Doch das setzt voraus, dass zum Beispiel vorhandene
Konkurrenzsituationen zwischen Städten und ländli-
chem Raum ebenso überwunden werden müssen wie die
zwischen öffentlich finanzierten Einrichtungen und Pro-
grammen.
13886 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Simone Violka
Deshalb sollte sich eine effektive Kulturentwicklungs-
planung nicht nur an den Einrichtungen, sondern auch an
den Nutzern ausrichten.
Wichtig ist hierbei auch eine langfristige Sicht. Mo-
mentan gibt die ältere Generation, deren Anteil an der
Gesamtgesellschaft immer größer wird, überdurch-
schnittlich viel Geld für Kultur aus. Doch es wäre kurz-
sichtig, nur darauf zu setzen. Denn wenn das so bleiben
soll, muss auch die jüngere Generation sie ansprechende
kulturelle Angebote erhalten. Wer als junger Mensch
keinen Zugang zur Kultur findet, wird diesen im Alter
nicht automatisch von selbst finden.
Dabei ist die Förderung der kulturellen Bildung uner-
lässlich, wobei allerdings keine Verteilungskonflikte
zwischen den Generationen geschaffen werden sollten.
Nur so bedeuten sinkende Bevölkerungszahlen nicht
gleichzeitig auch eine geringere Nachfrage nach kulturel-
len Angeboten. Deshalb ist ein demografischer Wandel
kein unwiderlegbares Argument für den Rückbau kultu-
reller Infrastruktur, sondern stellt eine lösbare gesamt-
gesellschaftliche Aufgabe dar, zu deren Bewältigung ich
hiermit alle aufrufe.
Vielen Dank.
Nun erhält der Kollege Wolfgang Börnsen für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Bei einer Parlamentsdebatte über Kultur ist es beruhigend,
einen Parlamentspräsidenten im Nacken zu wissen,
der ein großes Herz für die Kultur hat.
Ich bedanke mich sehr, weise aber darauf hin, dass
dies die Redezeit nicht verlängert.
Deutschland ist ein Kulturstaat; wir sind ein Kultur-
staat. Unsere Kulturlandschaft gehört zu einer der viel-
fältigsten und einzigartigsten in der Welt. Wir sind reich
an Kultur, und wir wollen das auch bleiben.
Diese besondere Kulturqualität beruht auf der Kreati-
vität, dem Einsatz, dem Ideenreichtum, dem Fleiß und
der Mitverantwortung von Hunderttausenden von Kul-
turschaffenden, Künstlern, von Professionellen und
Laien, von Vereinen und Verbänden, von den Kirchen
und Tausenden von Bürgerinitiativen. Sie sind das Salz
in unserem Kulturstaat.
Ich komme, wie auch du, Grietje, aus dem Wahlkreis 1,
Flensburg-Schleswig, ganz oben im Norden der Republik,
südlich von Kopenhagen. Am zweiten Adventssonntag
nahm ich an einem Chorkonzert in meiner Heimatkirche
teil. Allein an diesem Tag konnte ich zwischen 80 ver-
schiedenen Angeboten auswählen: Da gab es Orgel- und
Orchesterkonzerte, Rock, Pop, Jazz zum Advent und
viel Chorgesang. Kulturverantwortliche gehen davon
aus, dass pro Veranstaltung mit etwa 100 Besuchern zu
rechnen ist. Das heißt, 8 000 Bürgerinnen und Bürger
zwischen Schlei und Förde haben an diesem Sonntag
Kultur genossen. So war es an diesem Tag auch in Gör-
litz, in Greifswald, in Goslar, in Rottweil-Tuttlingen, in
Leer und in vielen anderen Teilen unserer Republik.
Hochgerechnet waren an diesem Sonntag bundesweit
über 2 Millionen Menschen in unserem Land kulturaktiv.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Koppelin?
Gerne. Er ist auch ein Schleswig-Holsteiner.
Lieber Wolfgang Börnsen, du hast deinen Wahlkreis
Flensburg-Schleswig und die vielen Veranstaltungen
dort erwähnt. Das gibt mir Veranlassung, direkt hierzu
eine Frage zu stellen: Kannst du mir erklären, warum es
notwendig ist, dass dänische Künstler, wenn sie bei der
dänischen Minderheit auftreten, in die Künstlersozial-
versicherung einzahlen müssen?
Es gibt ein gemeinsames Abkommen zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Däne-
mark, in dem das so festgelegt ist. Es wird aber zu einer
Überarbeitung kommen. Das haben wir auch in den En-
quete-Bericht aufgenommen. Denn wir glauben, dass
wir in Europa grenzübergreifend zu einheitlichen und
verbesserten Maßstäben kommen müssen, was die
Künstlerförderung angeht.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13887
(C)
(D)
Wolfgang Börnsen
Ich möchte mit meiner Rede fortfahren. Auch wenn
Sport und Freizeit in unserem Land Spitzenplätze ein-
nehmen, ist doch der aktive Kulturbezug in unserem
Land unübersehbar. Keine Bundesliga hat bisher die Be-
sucherrekorde in unseren Museen schlagen können. So
soll es auch bleiben. Beides bereitet Vergnügen, wenn
die Qualität stimmt.
Ich bleibe beim Beispiel Musik. Um zu verdeutli-
chen, welche Kulturkraft es in unserem Land gibt, will
ich darauf aufmerksam machen, dass über 5 Millionen
Menschen in unserem Land aktiv Musik betreiben: in
über 50 000 Chören, in 750 Sinfonie- und Staatsorches-
tern – nirgendwo in Europa gibt es mehr – und in fast
50 000 Rock-, Pop- und Jazzbands. Wir haben eine groß-
artige Kulturszene in Deutschland.
Allein in diesem Bereich befinden wir uns in einem
blühenden, lebendigen Kulturgarten, der aber gepflegt,
gefördert und beachtet gehört. Dafür tragen alle staatli-
chen Ebenen eine Mitverantwortung, aber auch wir Bür-
ger selbst. Deutschland ist ein Kulturstaat. Wer sich als
solcher versteht, hat daraus Konsequenzen zu ziehen,
mahnt die Enquete-Kommission und erinnert daran,
2 Prozent aller Ausgaben, wie im Freistaat Sachsen
praktiziert, für die Kultur bereitzustellen. Überall in
Deutschland sollte eine solche Selbstverpflichtung
Schule machen.
Im Großraum Essen ist vorgesehen, dass jeder Ju-
gendliche, jeder Schüler ein Instrument erhält. Auch das
sollte bundesweit praktiziert werden.
Die kulturelle Bildung zur Kernaufgabe in den Schulen
zu machen, ist selbstverständlich. Die soziale Lage der
Künstler und Kulturschaffenden grundsätzlich zu ver-
bessern, tut weiterhin not.
Der Laienkultur den gleichen Stellenwert einzuräumen
wie der Spitzenkultur, ist richtig. Beide sind bedeutsam;
beide gehören gefördert.
Die Kreativ- und Kulturwirtschaft – mit 800 000 Ar-
beitsplätzen ein Jobmotor in unserem Land – weiterhin
zu forcieren, auch das ist notwendig. Und: Die Bedeu-
tung und den Wert der deutschen Sprache mehr bewusst
zu machen, auch das haben wir in Zukunft zu tun.
Nun wird eingewandt, diese und die weiteren
455 Empfehlungen der Enquete-Kommission könnten
nur ernsthaft umgesetzt werden, wenn die Kultur zum
Staatsziel erhoben wird – zu einem Ziel ohne rechtliche
Konsequenzen. Derzeit konkurriert die Kultur mit weite-
ren Staatszielforderungen in Bezug auf den Sport, den
Schutz der Kinder, die Generationengerechtigkeit, die
Anerkennung autochthoner Minderheiten und viele Be-
reiche mehr. Unser Grundgesetz ist jedoch kein Waren-
hauskatalog.
Seine Qualität, seine Autorität, seine Zeitlosigkeit beru-
hen auf der Konzentration auf Kernaussagen. Eine Ver-
vielfachung der Staatsziele lehnen wir ab. Kultur ja!
Eine Alibifunktion der Kultur ist jedoch nicht vertretbar.
Mir ist eine Taube in der Hand lieber als ein Kulturspatz
auf dem Dach.
Gut 90 Prozent der Kulturverantwortung liegt bei den
Ländern, Städten und Gemeinden. In 15 Landesverfas-
sungen ist die Kultur eine fundamentale Aufgabe des
Staates und hat den Anspruch, gefördert zu werden. Dies
wird auch ganz deutlich umgesetzt.
Wir selber im Deutschen Bundestag haben 1990 die
Kultur zur Staatsaufgabe gemacht; daran muss erinnert
werden. Das war an dem Tag, als das Parlament dem Ei-
nigungsvertrag zugestimmt hat. Dort heißt es in Art. 35
wörtlich:
In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur
– trotz unterschiedlicher Entwicklung der beiden
Staaten in Deutschland – eine Grundlage der fortbe-
stehenden Einheit der deutschen Nation. Sie leisten
im Prozeß der staatlichen Einheit der Deutschen auf
dem Weg zur europäischen Einigung einen eigen-
ständigen und unverzichtbaren Beitrag.
Es heißt weiter:
Stellung und Ansehen eines vereinten Deutschlands
in der Welt hängen außer von seinem politischen
Gewicht und seiner wirtschaftlichen Leistungskraft
ebenso von seiner Bedeutung als Kulturstaat ab.
Dieser Dreiklang ist gemeint: Politik, Wirtschaft und
Kultur. Kultur ist auf Augenhöhe zu sehen.
Der Bezugspunkt für den Begriff „Kulturstaat“ ist in ei-
nem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 5. März
1974 festgelegt worden. Darin ist, ausgehend von Art. 5
des Grundgesetzes, die Freiheit der Kunst als normative
Wertentscheidung ausgelegt worden. Im Hinblick auf
den Begriff „Kulturstaat“ ist damit eine ungeschriebene
Staatszielzuordnung vorgenommen worden. Die Mehr-
zahl der Rechtsexperten in unserem Land bestreitet die
verfassungsähnliche Bedeutung des Einigungsvertrages
trotz seiner Endlichkeit nicht. Die Kultur in Deutschland
hat also eine eindeutige Rechtsgrundlage. Kulturstaat zu
sein, schließt den Anspruch auf Förderung ein. Kultur-
staat zu sein, bedeutet, dass der rechtliche Rahmen von
uns entsprechend gesetzt werden muss. Das tun wir. Die-
ses Prinzip hat die Enquete-Kommission geleitet, als sie
beschlossen hat, den Rechtsanspruch der Kultur heraus-
zustellen.
Für uns als Christdemokraten gelten weiterhin die
vier Prinzipien Dezentralität, Subsidiarität, Pluralität und
13888 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Wolfgang Börnsen
Partizipation. Wir sagen: Kultur und Kunst haben einen
Anspruch auf Freiheit, aber auch einen Anspruch auf
Förderung. Sie haben einen Anspruch darauf, dass wir
als politisch Verantwortliche an ihrer Seite stehen.
Herr Kollege, ich muss Sie im Sinne des Herrn Präsi-
denten nun doch mahnen, Ihre Redezeit einzuhalten.
Ich komme zum Schluss. Wir alle haben eine Auf-
gabe. Wir wissen: Wer die Kultur fördert, fördert starke
Persönlichkeiten, fördert Kritik, Courage und Selbstbe-
wusstsein. Wer solche Persönlichkeiten fördert, fördert
und stärkt die Demokratie. Das heißt, Kulturförderung
ist auch Demokratieförderung.
Herzlichen Dank.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Steffen Reiche, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In genau 20 Minuten unterschreiben die 27 Staats- und
Regierungschefs in Lissabon den Reformvertrag. Europa
schafft sich mit dem Vertrag von Lissabon eine neue,
bessere Grundlage. Europa bewegt sich. Europa bleibt
interessant.
Deshalb bin ich dankbar, dass der Bericht der En-
quete-Kommission ein eigenes Kapitel zur politischen
Behandlung der Kultur in Europa enthält. Das ist eine
wesentliche Entscheidung. Es ist mehr gelungen als er-
wartet. Für den europäischen Traum, für das europäische
Projekt brauchen wir etwas, was die Herzen der Men-
schen bewegt. Kultur bewegt die Menschen. Wir haben
eine europäische Kultur. Das Problem ist aber, dass wir
sie oft nicht sehen, wenn wir in Deutschland oder Frank-
reich sind. Wim Wenders hat das neulich in Berlin auf
eindrucksvolle Weise formuliert. Er hat gesagt:
Hier, in Berlin, bin ich Deutscher, inzwischen von
ganzem Herzen. Aber kaum ist man in Amerika,
sagt man nicht mehr, man sei aus Deutschland,
Frankreich oder woher auch immer. Man kommt
aus „Europa“ oder kehrt dorthin zurück. Für die
Amerikaner ist das der Inbegriff von Kultur … Das
Einzige, was ihnen einen Minderwertigkeitskom-
plex einjagt. Und zwar einen permanenten.
Und auch aus Asien oder gar anderen Teilen der
Welt aus gesehen erscheint Europa wie eine Bastion
von Menschheitsgeschichte, Würde und, ja, wieder
dieses Wort: der Kultur.
Europa hat eine Seele, oh ja, die muss man unserem
Kontinent nicht erst geben. Die hat er schon. Das ist
nicht seine Politik und nicht seine Wirtschaft. Das
ist in erster Linie seine Kultur.
Wir können und wollen Europa mit der Kultur eine
Seele geben. Es gibt ein wunderbares Bonmot von Jean
Monnet. Er hat gesagt, wenn er Europa noch einmal be-
gründen könnte, würde er mit der Kultur beginnen. Wir
können das zwar nicht, aber wir können der Kultur bei
der Weiterentwicklung Europas eine größere Bedeutung
beimessen als bisher. Europa lebt von der Vielfalt der
Kulturen. Europa lebt von seiner Kultur und durch seine
Kultur. Europa ist räumlich winzig, aber kulturell ein
Riese. Die europäische Kultur ist ein Quartett: Die lokale
Ebene, die regionale Ebene, die nationale Ebene und die
kontinentale Ebene haben etwas beizutragen. Die Ge-
wichtung der einzelnen Ebenen ist zwar unterschiedlich,
aber sie nehmen sich gegenseitig nichts weg. Bis vor kur-
zem wurde noch gesagt: Europäische Kulturpolitik
kann es nicht geben. Weil es europäische Kultur gibt,
kann, darf und muss es aber auch europäische Kulturpo-
litik geben.
Wir haben in den letzten Jahren das Wachsen einer
nationalen Kulturpolitik erlebt. Das war zwar ein schwe-
rer Kampf, aber den Ländern ist nichts genommen wor-
den. Heute erleben wir das Entstehen einer europäischen
Kulturpolitik. Sie nimmt den Nationen nichts, will nicht
an die Stelle der Nationen treten, sondern will der Welt
Europa zeigen und Europa erlebbar machen. Deshalb
fordern wir: Deutschland muss aus dem Bremserhaus
heraus, muss nach vorn, in die Lokomotive, und mitbe-
stimmen, wie wir europäische Kulturpolitik definieren
und was auf die europäische Kulturagenda gehört.
Deshalb, liebe Kollegen von der FDP – das sei aber
auch den Ländern gesagt –, brauchen wir eine offene
Koordinierung. Im Bildungsbereich haben wir doch ge-
sehen, was dadurch gelungen ist. Es ist ein gemeinsamer
europäischer Hochschulraum geschaffen worden. Das ist
gut für Europa, und das ist gut für die Nationen.
Insofern denke ich, dass wir die Bedenken des Bundes-
rates gemeinsam überwinden sollten.
Traurig ist aber, dass die Länder, die die Kulturhoheit
für sich beanspruchen, hier und heute nur durch zwei
Mitarbeiter vertreten sind und dass die Kultusminister
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13889
(C)
(D)
Steffen Reiche
bzw. die Ministerpräsidenten der Länder bei dieser wich-
tigen Debatte über die Kultur in Deutschland keine Prä-
senz zeigen und sich nicht daran beteiligen.
Wir brauchen mehr Mittel für die Kultur. Deshalb
denke ich, dass in den künftigen europäischen Haushal-
ten umgeschichtet werden muss: von der Agrikultur zur
Kultur.
Unsere Geschichte, unsere Werte, unsere Erinnerungsar-
beit und die Menschenrechtsbildung, die in Deutschland
und in Europa gewachsen sind, sind für internationale
Gespräche und für Begegnungen der Kulturen der Welt
wichtig. Deshalb haben wir die große Bedeutung dessen,
was in der DDR gewachsen ist, in unserem Abschlussbe-
richt, der 1 200 Seiten umfasst, immer wieder betont –
nicht nur an einer Stelle, Herr Tauss, sondern querbeet.
Die DDR kommt dort nicht etwa zu kurz, sondern ihr
kulturelles Erbe wird erwähnt und soll bewahrt werden.
Wir brauchen eine gemeinsame europäische Kultur-
politik, die die einzelnen Länder gemeinsam mit dem
Kulturrat entwickeln wollen. Einen europäischen Film-
preis gibt es schon. Wir müssen aber auch regelmäßig
– jährlich oder alle zwei Jahre – gemeinsam beschrei-
ben: Was ist europäische Kunst: in der Literatur, in der
Poesie, beim Theater, beim Tanz und an vielen anderen
Stellen? Es gibt eine nationale Akademie der Künste.
Wir fordern, dass die nationalen Akademien ein Netz-
werk bilden, aus dem sich perspektivisch eine europäi-
sche Akademie entwickeln kann.
Wir wollen, dass Europa mit einer Stimme spricht;
zurzeit herrscht ein Wettbewerb zwischen CNN, al-
Dschasira, der Deutschen Welle, der BBC und dem fran-
zösischen Sender. Die drei europäischen Länder haben
zusammen aber einen kleineren Etat für ihren internatio-
nalen Rundfunk als CNN oder al-Dschasira allein. Europa
braucht eine gemeinsame Stimme, und wir brauchen eu-
ropäische Medien.
Es gibt eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspo-
litik und eine gemeinsame Präsenz außerhalb Europas.
Deshalb brauchen wir auch europäische Kulturinstitute
unter einem Dach. In einem ERASMUS-Institut bei-
spielsweise könnten wir künftig außerhalb Europas zei-
gen: Was ist europäische Kultur, und was sind europäi-
sche Werte?
Den Franzosen ist es mit den Lieux de mémoire ge-
lungen, zu zeigen: Was sind die Kultur und die Ge-
schichte Frankreichs? Wir brauchen in und für Europa
etwas Vergleichbares, damit man sehen kann, wie die eu-
ropäische Kultur- und Geschichtslandschaft gewachsen
ist. So kann man Europa verstehen. Deshalb brauchen
wir im Grunde auch eine europäische Kulturstiftung.
Europa ist unsere Antwort auf die Globalisierung.
Deshalb müssen wir uns im Rahmen der Europäischen
Union stärker in die Erarbeitung von UNESCO-Konven-
tionen einbringen. Deutschland hat bisher drei Konven-
tionen ratifiziert. Wir müssen aber auch die vier anderen
möglichst bald ratifizieren. Aller guten Dinge sind zwar
drei, Herr Neumann. Ich denke aber, nachdem wir bisher
drei UNESCO-Konventionen ratifiziert haben, wäre es
gut – das fordern wir zumindest –, auch die Konvention
zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes zu ratifi-
zieren.
Bildung ist die wichtigste Investition in die Zukunft.
Die großen Untersuchungen wie PISA, IGLU und an-
dere zeigen, wo wir stehen. In Deutschland wurde darauf
reagiert, indem wir Anstrengungen unternommen haben.
Aber mit der Kultur verhält es sich nach einem Diktum
von Willy Brandt wie mit dem Frieden: Kultur ist nicht
alles, aber ohne Kultur ist alles nichts. – Deshalb müssen
wir kulturelle Bildung stärker als gesellschaftlichen
Auftrag, die Ganztagsschulen als Chance für kulturelle
Bildung begreifen.
Eine Bundeszentrale für kulturelle Bildung soll und
muss gegründet werden, um dies besser zu koordinieren.
Was wir dringend brauchen, sind, nachdem wir für Ma-
the, für Lesen, für Deutsch, für die erste Fremdsprache
und für die Naturwissenschaften nationale Bildungsstan-
dards definiert haben, solche Standards auch für die kul-
turelle Bildung.
Hier ist die KMK in der Pflicht, hier ist die Bundesbil-
dungsministerin in der Pflicht, aber auch der Deutsche
Kulturrat, die sich an einem solchen Gespräch beteiligen
müssen.
Wir verstehen Kultur als Lebensmittel, aber Kultur ist
und bleibt auch Teil der Schülerspeisung. Deshalb brau-
chen wir engere Kooperationen von Theater und Schule.
Medienkompetenz zu vermitteln, ist Auftrag der Schule.
Schulunterricht mit Künstlern und Kultureinrichtungen
muss in den Schulen auf die Tagesordnung gesetzt wer-
den. Die Enquete-Kommission bittet deshalb die Länder
um Kooperation, aber wir bieten auch Kooperation. Die
Enquete-Kommission will nicht über Zuständigkeiten
streiten, sondern mit allen Zuständigen die kulturelle
Bildung in Deutschland stärken und die europäische
Kultur durch die Vielfalt der Kulturen voranbringen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
13890 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 15/5560 und 16/7000 an den Aus-
schuss für Kultur und Medien vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 e auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Bleser, Wolfgang Zöller, Klaus Hofbauer, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Dr. Gerhard Botz,
Waltraud Wolff , Ingrid Arndt-
Brauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Unsere Verantwortung für die ländlichen
Räume
– Drucksache 16/5956 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Kirsten Tackmann, Kornelia Möller, Werner
Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Arbeitgeberzusammenschlüsse zur Stärkung
ländlicher Räume
– Drucksache 16/4806 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Tourismus
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der FDP
EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit im Agrarbe-
reich einführen – praxisuntaugliche Erntehel-
ferregelung auslaufen lassen
– Drucksache 16/6643 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
d) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Fleischge-
setzes
– Drucksache 16/6964 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz
– Drucksache 16/7503 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Wilhelm Priesmeier
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann
Cornelia Behm
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Agrarpolitischer Bericht 2007 der Bundesre-
gierung
– zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne-
ten Cornelia Behm, Ulrike Höfken, Bärbel
Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung
Agrarpolitischer Bericht 2007 der Bundesre-
gierung
– Drucksachen 16/4289, 16/5599, 16/6864 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Bleser
Waltraud Wolff
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann
Cornelia Behm
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache.
– Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich würde gerne dem
Herrn Minister Horst Seehofer das Wort geben.
Herr Minister, Sie haben das Wort.
Horst Seehofer, Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz:
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Wir diskutieren über einen Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD mit dem Titel „Unsere Ver-
antwortung für die ländlichen Räume“. Ich bin beiden
Fraktionen sehr dankbar, dass dieses Thema noch in die-
sem Jahr in die öffentliche Debatte eingeführt wird; denn
nach wie vor leben in den ländlichen Räumen Deutsch-
lands die meisten Menschen. Die Umbrüche, die infolge
der Globalisierung und des demografischen Wandels
überall stattfinden, haben besondere Auswirkungen auf
den ländlichen Raum, wie wir wissen. Ich denke, diese
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13891
(C)
(D)
Bundesminister Horst Seehofer
Debatte macht deutlich, dass die Politik die Menschen
im ländlichen Raum nicht alleine lässt, sondern dass wir
alles unternehmen, damit aus diesen Umbrüchen im
ländlichen Raum ein Aufbruch für die Menschen im
ländlichen Raum wird.
Die Bundesregierung hat seit über einem Jahr in ganz
Deutschland Diskussionen zu allen Facetten und Proble-
men des ländlichen Raums durchgeführt. Wir werden
das Ergebnis nicht nur in dieser Debatte, sondern auch
auf der Grünen Woche im Januar des nächsten Jahres ge-
bündelt vorstellen. Ich möchte für die Bundesregierung
drei Schwerpunktbemerkungen machen, die als roter Fa-
den, als Leitplanken für die weitere Diskussion zu die-
sem Thema geeignet sind.
Der erste Punkt. Es gibt die sogenannte Berliner Stu-
die, die für den Landtag in Brandenburg erstellt wurde.
In den neuen Ländern sind die Auswirkungen des demo-
grafischen Wandels und der Globalisierung auf den länd-
lichen Raum schon heute zu registrieren. Diese Berliner
Studie, die insgesamt sehr gut ist, hat als Reaktion auf
die Veränderung im ländlichen Raum einen Vorschlag
gemacht, nämlich ob man zur Vermeidung von Doppel-
investitionen nicht den Menschen, die in peripheren
ländlichen Gebieten leben, eine Prämie dafür zahlen
sollte, dass sie in städtische Gebiete umsiedeln. Denn da-
mit würde man vermeiden, zweifach Infrastrukturmaß-
nahmen finanzieren zu müssen, die dann möglicher-
weise nicht ausgelastet sind.
Deshalb ist es mir wichtig, dass wir als Bundesregie-
rung nicht für eine solche – wie wir sie nennen –
„Fluchtprämie“ sind, sondern am verfassungsrechtlichen
Gebot einer gleichgewichtigen Entwicklung in Deutsch-
land festhalten. Das heißt, dass wir für alle Teilräume in
Deutschland Chancen eröffnen wollen, sodass die Men-
schen dort leben und arbeiten können, und Stadt und
Land nicht gegeneinander ausspielen.
Es gilt für uns weiterhin das Gebot des Grundgeset-
zes, gleichgewichtige Chancen für alle Teilräume
Deutschlands zu eröffnen. Der alte Satz aus dem Volks-
mund „Stadt und Land – Hand in Hand“ ist auch im Zeit-
alter der Globalisierung richtig. Das Schöne an der Dis-
kussion der letzten Monate ist, dass niemand den
Versuch unternommen hat, Stadt und Land gegeneinan-
der auszuspielen, sondern dass es einen allgemeinen
Konsens gibt, dass nur im vernünftigen Zusammenwir-
ken von Städten und ländlichen Räumen für beide eine
gute Entwicklung gewährleistet werden kann.
Der zweite Punkt. Naturgemäß ist die Landwirtschaft
– nicht nur, aber vor allem – im ländlichen Raum zu
Hause. Die Bedeutung des ländlichen Raums erschöpft
sich natürlich nicht in der Landwirtschaft. Aber ich
möchte festhalten, dass der ländliche Raum ohne eine
positive, dynamische und innovative Entwicklung der
deutschen Landwirtschaft keine Zukunftsperspektive
hat.
Deshalb ist es die Politik der Bundesregierung, alles
dazu beizutragen, dass die deutsche Landwirtschaft
eine gute Zukunftsperspektive hat. Ohne dass wir uns zu
sehr selbst loben wollen, denke ich, für die Koalition sa-
gen zu können, dass uns das in den letzten 24 Monaten
gelungen ist.
Es gibt eine Aufbruch- und Investitionsstimmung in
der Landwirtschaft. Wir befinden uns mitten in der zwei-
ten „grünen Revolution“. Die Landwirte haben heute so
viele Funktionen – man kann sogar von Multifunktion
sprechen – zu erfüllen wie nie zuvor in der landwirt-
schaftlichen Geschichte. Diese reichen von der Nah-
rungsmittelproduktion über Dienstleistungen – ich
denke, lieber Tourismusbeauftragter Ernst Hinsken, an
Freizeit, Erholung, Tourismus und Urlaub auf dem Bau-
ernhof – bis hin zur Funktion als Energie- und Rohstoff-
wirt. Diese Multifunktion zusammen mit dem Multita-
lent Landwirt beschreiben wir als zweite „grüne
Revolution“.
Als eine Maßnahme zur Stärkung des ländlichen
Raums werden die Bundesregierung und die Koalition
deshalb die Unterstützung der deutschen Landwirtschaft
weiter betreiben. Gerade aufgrund der Erfahrungen der
aktuellen Energiepolitik – dazu gehören Energiesicher-
heit, Energiepreise und Klimaschutzziele – sollten wir
den Ehrgeiz entwickeln, uns nicht auch noch in der Nah-
rungsmittelproduktion in größerem Umfange von Im-
porten abhängig zu machen. Wir sollten vielmehr dafür
sorgen, dass die Landwirtschaft in Deutschland und Eu-
ropa die Nahrungsmittelproduktion so gewährleistet,
dass wir diesbezüglich nicht im gleichen Maße vom
Ausland abhängig werden wie bei der Energieversor-
gung.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf einen
Punkt eingehen, der in der aktuellen Diskussion immer
wieder angeführt wird: Ist es auf Dauer möglich, dass
die Bauern auf unseren Ackerflächen nicht nur Nah-
rungsmittel produzieren, sondern auch Energie? Ich habe
mir einmal die Zahlen heraussuchen lassen, wie viel Flä-
che wir in Deutschland außerhalb der Landwirtschaft
täglich für Infrastrukturmaßnahmen und als ökologische
Ausgleichsflächen für größere Infrastrukturmaßnahmen
verbrauchen. Es sind das 110 Hektar täglich. Im Rahmen
unserer Nachhaltigkeitsinitiative haben wir als Bundes-
regierung das Ziel, diese 110 Hektar im Jahre 2020 auf
30 Hektar zu reduzieren.
Ich nenne Ihnen diese Zahl aus folgendem Grund:
Wenn wir über Flächenkonkurrenz in Deutschland dis-
kutieren, dann sind wir meiner Meinung nach gut bera-
ten, zuallererst diesen Flächenverbrauch von 110 Hektar
zurückzudrängen und den Bauern nicht einzureden, dass
unsere Flächen nicht für Nahrungsmittelproduktion und
Energieproduktion ausreichen würden.
13892 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Bundesminister Horst Seehofer
Die Zurückdrängung des Flächenverbrauchs ist daher
eine viel größere Aufgabe für die weitere Politik.
Der dritte Punkt – auch da ist die Studie des Berlin-
Instituts, das im Auftrag des Landtags Brandenburg die
Folgen des demografischen Wandels untersucht hat, le-
senswert –: Wir dürfen die Politik für den ländlichen
Raum nicht auf eine sektorale Betrachtung reduzieren. Es
wird das wunderschöne Beispiel angeführt, dass manche
Kommunen geglaubt haben, eine Schule aus Kostengrün-
den stilllegen zu müssen. Die Stilllegung der Schule hat
jedoch dazu geführt, dass die Kinder über weite Strecken
in die nächste Schule zu befördern waren, und früher oder
später sind auch die Eltern aus dem ländlichen Raum
weggezogen. Diese Stilllegung war also im Ergebnis
kontraproduktiv für die Zukunft des ländlichen Raumes.
Deshalb ist der bemerkenswerte Satz formuliert worden:
Wer Bildungseinrichtungen aus dem ländlichen Raum
abzieht, leitet den Tod der Fläche ein.
Jenseits aller Zuständigkeiten – die natürlich nicht alle
bei unserem Ministerium liegen, oft nicht einmal beim
Bund liegen – müssen wir auf ein integriertes Konzept
für den ländlichen Raum hinwirken. Dieses Konzept
darf nicht nur Landwirtschaft und Förderung des ländli-
chen Raumes beinhalten, es muss von der medizinischen
Versorgung über die Bildungseinrichtungen bis hin zum
bürgerschaftlichen Engagement alles umfassen.
Wir fördern – darauf werden meine Kolleginnen und
Kollegen noch eingehen – in verstärktem Maße die
Wertschöpfung im ländlichen Raum. Wir haben die
Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der
Agrarstruktur“ erhöht. Aber auch die Energieleitungen
im ländlichen Raum und der schnelle Internetanschluss
sind wichtige Voraussetzungen, um dem ländlichen
Raum Perspektiven zu eröffnen.
Ich möchte noch darauf hinweisen, dass wir uns ent-
schlossen haben, ab Januar des nächsten Jahres auf jeder
Grünen Woche in Berlin das Thema „ländlicher Raum“
im Rahmen einer ständigen Konferenz mit allen Betei-
ligten in Deutschland zu diskutieren und die Ansätze
weiterzuentwickeln; diese Konferenz wird eine ständige
Einrichtung werden.
Die Reform der Forschungseinrichtungen in meinem
Ressort, die ja Gott sei Dank mit Ihrer Unterstützung ab-
geschlossen ist, wird auch den Schwerpunkt haben, Ent-
wicklungslinien für den ländlichen Raum aufzuzeigen.
Ich denke, dass wir uns hier nicht auf Stimmungen und
vage Gerüchte verlassen sollten, sondern die Zukunft
des ländlichen Raums auf wissenschaftlicher Basis ge-
stalten sollten.
Ich bin sehr dankbar, dass die beiden Koalitionsfrak-
tionen das Thema „ländlicher Raum“, das zwar nicht je-
den Tag für Schlagzeilen gut ist, aber für die betroffenen
Menschen von ungeheurer Bedeutung ist, in dieser Form
in die öffentliche Debatte eingeführt haben.
Herzlichen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Christel
Happach-Kasan, FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr verehrter Herr Minister, ich bedanke
mich zunächst einmal, dass Sie, anders als bei der Haus-
haltsdebatte, bei diesem Tagesordnungspunkt als Erster
gesprochen haben, sodass ich Ihnen antworten kann.
Ich freue mich, dass Sie ein integriertes Konzept für
den ländlichen Raum vorlegen wollen; ich warte ge-
spannt darauf. Ich teile Ihre Auffassung, dass Bildung
für den ländlichen Raum ein ganz wichtiges Thema ist.
Ich darf aber auch sagen: Das ist Ländersache. Insofern
würde ich meine Rede gerne auf die Themen fokussie-
ren, die tatsächlich die Themen Ihres Hauses sind.
Die Produktion von Nahrungsmitteln, die Bereitstel-
lung von Energie, die Pflege der Kulturlandschaft, der
Klimaschutz, das sind vier Tätigkeitsfelder der Land- und
Forstwirtschaft, die für unsere Gesellschaft absolut un-
verzichtbar sind. Verschiedene Regionen in Deutschland
sind besonders durch die ländlichen Räume geprägt; das
sind unsere Urlaubsregionen: Schleswig-Holstein, Meck-
lenburg-Vorpommern und natürlich auch Bayern.
Wir können uns inzwischen – das wird vielfach er-
wähnt – über gerechtere Preise für landwirtschaftliche
Produkte freuen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen,
es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass das mo-
natliche Einkommen je Familienarbeitskraft in der
Landwirtschaft im Schnitt noch immer unter dem Ver-
gleichslohn in der gewerblichen Wirtschaft liegt. Auch
das ist eine Schwäche der ländlichen Räume. Wir müs-
sen daran arbeiten, dass dies besser wird.
Starke landwirtschaftliche Unternehmen erwirtschaf-
ten zurzeit höhere Einkommen. Der weltweit gestiege-
nen Nachfrage sei es gedankt. Ich darf aber auch sagen:
Ein insgesamt schwacher Minister fällt da nicht mehr
weiter ins Gewicht.
Ein Sprichwort besagt: Wo viel Licht ist, ist auch viel
Schatten. – Sie, Herr Minister, schaffen es, mit ganz we-
nig Licht jede Menge Schatten zu produzieren. Das ist
Ihr Geheimrezept.
(C)
(D)
Durch die günstige Weltkonjunktur wird die schlechte
Bilanz verschleiert. 75 Prozent der deutschen Landwirte
erzielen ihr Einkommen über die Veredelung. 60 Prozent
des Einkommens in der Landwirtschaft stammen aus der
Veredelung. Kreise mit starker Veredelungswirtschaft
haben Vollbeschäftigung. Das zeigt, dass die Verede-
lungswirtschaft die besondere Zuwendung einer dem
ländlichen Raum verpflichteten Agrarpolitik braucht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und
von der SPD, in Ihrem Antrag kommt das allerdings re-
lativ wenig zur Geltung.
Die Agrarwirtschaft und insbesondere die Verede-
lungswirtschaft brauchen verlässliche politische Rah-
menbedingungen. Dazu gehört die klare Festlegung,
dass die Milchquote im Frühjahr 2015 ausläuft.
– Kollege Bleser, ich freue mich, dass du das weißt. Mi-
nister Seehofer scheint das aber nicht zu wissen. – Es ist
verantwortungslos,
den Menschen das Wissen, dass die Quote ausläuft, zu
verweigern. Es gibt in der EU keine Mehrheit für die Bei-
behaltung der Milchquote. Der Deutsche Bauernverband
und der Milchindustrie-Verband haben sich für die Ab-
schaffung der Quote ausgesprochen. Die Abschaffung ist
überfällig, weil durch die Quote unternehmerische Ent-
scheidungen behindert und die deutschen Landwirte
vom wachsenden Weltmarkt abgeschnitten werden. Wir
wollen, dass die Landwirte ihr Einkommen am Markt
mit guten Preisen erwirtschaften.
Herr Minister Seehofer, Sie haben in der FAZ vom
27. September 2006 gesagt:
Ich beobachte in Bayern pausenlos, wie Gelder
ohne Sinn und Verstand verteilt werden.
Gleichzeitig wird in Punkt 4 des Antrages gefordert,
... sich auch zukünftig im Rahmen der Weiterent-
wicklung der bewährten EU-Förderpolitiken für die
Stärkung der ländlichen Räume einzusetzen.
Zur Veredelungswirtschaft sagen Sie allerdings kein
Wort. Dort nehmen Sie den Landwirten ihre Möglichkei-
ten, sich ein Einkommen am Markt zu erwirtschaften.
Das ist für den ländlichen Raum eine schlechte Politik.
Die Veredelungswirtschaft braucht eine aktive Politik
für die Tiergesundheit. Das ist Voraussetzung für die Ge-
währleistung einer hohen Lebensmittelsicherheit. Die Er-
krankungen an Zoonosen bedeuten ein sehr viel höheres
Risiko als die in der Öffentlichkeit diskutierten und von
bestimmten Verbänden immer wieder thematisierten ge-
fühlten Risiken. Ich nenne Pflanzenschutzmittelrück-
stände und Grüne Gentechnik.
Das Auftreten der Vogelgrippe Anfang des Monats in
Polen – 4 000 Puten wurden getötet – zeigt, dass wir na-
hezu jederzeit mit dem Auftreten des Virus rechnen müs-
sen. Die Tötungspolitik zur Eindämmung von Tierseu-
chen ist angesichts regional hoher Bestandsdichten eine
Politik des vergangenen Jahrhunderts. Wir brauchen die
Abkehr der EU von der Nichtimpfpolitik. Das dient dem
Tierschutz.
Die Blauzungenkrankheit hat sich in Deutschland
erschreckend schnell ausgebreitet. Die Einschätzung der
Bundesregierung, durch den Winter würde das Problem
beseitigt werden, war falsch. Es ist dadurch zu spät mit
der Entwicklung eines Impfstoffes begonnen worden.
In dem gestern im Ausschuss beratenen Fleischgesetz
– das ist nur ein Beispiel – werden die Interessen der
Produzenten, sprich: der Landwirte, nicht ausreichend
berücksichtigt. Der Wert eines Schlachtkörpers muss mit
geeichtem Gerät bestimmt werden. Jede Apotheker-
waage ist geeicht. Warum nicht auch die Geräte für die
Bestimmung des Schlachtkörpergewichtes? Weiter fehlt
die Transparenz.
Weitere Bürokratie und Wettbewerbsnachteile bringt
der sogenannte Tierschutz-TÜV. Die Schweinehalter,
die Sie durch die Schweinehaltungsverordnung schon
über Gebühr mit Kosten belastet haben, sollen gleich
zweimal bezahlen: zum einen aufgrund des Fleischgesetzes
und zum anderen aufgrund des Tierschutz-TÜV. Das ist
inakzeptabel.
Die steigenden Futtermittelpreise – der Sojapreis ist
um fast 50 Prozent höher als im vergangenen Jahr – belas-
ten die Veredelung und die Schweinehaltung. Es besteht
regional eine Nutzungskonkurrenz. Herr Minister, ich
stimme Ihnen zu, dass wir die Versiegelung von Flächen
zurückdrängen müssen. Das hilft uns bei der Thematik
Nutzungskonkurrenz aber nur wenig. Es ist gut, dass es
inzwischen keine Flächenstilllegungen mehr gibt.
Bei der Novellierung des EEG muss berücksichtigt
werden, dass ein hoher Nawarobonus verhindert, dass
Reststoffe aus der Ernährungsindustrie und der Land-
wirtschaft energetisch in Biogasanlagen genutzt werden.
Dadurch verstärken Sie die Nutzungskonkurrenzen.
Deswegen haben Sie mit dem EEG in der jetzt vorlie-
genden Fassung eine falsche Weichenstellung vorge-
nommen. Das ist agrar- und energiepolitisch falsch; denn
es müssen energiereiche Substrate in der Biogasanlage
landen. Das ist aber auch umweltpolitisch falsch; denn
wir wollen, dass die Gülle in der Biogasanlage landet.
Die CDU/CSU hat den Kampf um die Aussetzung der
nächsten Steuerstufe für den Biodiesel aufgegeben. Sie
ist wieder einmal eingeknickt. Auf der Konferenz
13894 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Dr. Christel Happach-Kasan
„Kraftstoffe der Zukunft 2007“ im November dieses
Jahres klang das anders.
Die Aussage von Minister Seehofer vor drei Wochen, er
werde für die Aussetzung der Steuererhöhung kämpfen,
hat sich als Muster ohne Wert erwiesen. Die Politik der
Großen Koalition ist nicht verlässlich.
Das Pflanzenschutzgesetz wäre noch anzusprechen.
Auch da ist die CDU/CSU eingeknickt. Die Reform der
Erbschaftsteuer wäre noch anzusprechen. Auch da haben
sich die CDU/CSU-Minister mit einer Protokollnotiz be-
gnügt; auch das war nichts. Ein weiteres Stichwort wäre
das Gentechnikgesetz.
Ich bin mir ganz sicher: Für eine solche Politik der
Unzuverlässigkeit, der Willkür und der Missachtung
existenzieller Interessen der Landwirtschaft, wie sie die
schwarz-rote Koalition hier an den Tag legt, wäre jede an-
dere Koalition, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, in den schrillsten Tönen gegeißelt worden.
Herr Kollege Hinsken, ich konnte Ihre Zwischenfrage
nicht mehr zulassen, weil die Kollegin ihre Redezeit
schon überschritten hatte.
Es tut mir leid, Herr Kollege, ich hätte Ihre Frage gern
beantwortet.
Nächster Redner ist der Kollege Ulrich Kelber, SPD-
Fraktion.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich werde
versuchen, nach der Schwarz-Weiß-Malerei von eben
ein etwas differenzierteres Bild der Agrarpolitik in
Deutschland zu zeichnen. Ich glaube auch, dass die
Menschen die Rituale, zu sagen, der politische Gegner
mache grundsätzlich alles falsch, leid sind, Frau
Dr. Happach-Kasan.
Wenn wir über Verantwortung und Politik für die
ländlichen Räume sprechen, müssen wir natürlich die
Ziele definieren. Der ländliche Raum muss ein attrakti-
ver Standort zum Leben und zum Arbeiten bleiben.
Es geht um die Umgebung und die Wirtschaftskraft vor
Ort. Wir müssen bei all den Herausforderungen, die wir
dort vorfinden, die örtliche Versorgung und die benötigte
Infrastruktur stärken und erhalten. Letzter, aber nicht un-
wichtiger Punkt: Das, was der ländliche Raum an Heimat
und Tradition beiträgt, muss gewährleistet und erhalten
bleiben.
Wir stoßen auf eine ganze Menge an Herausforderun-
gen und Chancen für den ländlichen Raum. Ja, er ist durch
den demografischen Wandel, durch den Verlust an Bevöl-
kerung besonders betroffen. Das macht es teilweise noch
schwieriger als in der Vergangenheit, die Infrastruktur
aufrechtzuerhalten. Wir treffen auf Probleme mit Schu-
len und Hochschulen; ich habe das gehört, Herr Minister.
Auch ich glaube, dass der Rückzug der Schulen aus dem
ländlichen Raum ein großer Fehler ist. Deshalb muss
hier ein klarer Appell an die Landesregierungen erfolgen.
Was in Niedersachsen und in Nordrhein-Westfalen im
Augenblick passiert, ist ein großer Fehler und bedeutet
eine große Gefahr für den ländlichen Raum.
Wie gewährleisten wir in Zukunft die medizinische
Versorgung, den öffentlichen Nahverkehr und die Versor-
gung mit modernen Medien? Genau das sind die Heraus-
forderungen im ländlichen Raum, die besonders schwie-
rig sind. Aber wir haben auch besondere Chancen. Wir
haben dort eine attraktive Kulturlandschaft. Kollege
Hinsken, die attraktive Kulturlandschaft ist natürlich die
Nummer eins für den Tourismus in dieser Region. Ich
bitte aber alle, diese Kulturlandschaft nicht immer wie-
der durch Widerstand in Sachen Naturschutz infrage zu
stellen und, wie im Augenblick insbesondere Kollege
Koch, mit dem Rücken zur Wand einen Wahlkampf gegen
Naturschutz in Deutschland zu machen. Nur mit Natur-
schutz gibt es auch attraktive Kulturlandschaften in diesem
Land.
Der breit aufgestellte Mittelstand ist ein weiteres Pfund,
mit dem der ländliche Raum wuchern kann. Der Mittel-
stand gewährleistet mit den vielen Dienstleistungen der
Zukunft verstärkte wirtschaftliche Möglichkeiten. Die
Stabilisierung der Landwirtschaft in den letzten Jahren,
ausgelöst durch verschiedene Politikinitiativen und durch
Veränderungen auf dem Weltmarkt, ist eine weitere
Chance. Ein Beispiel dafür ist die Veränderung bei den
nachwachsenden Rohstoffen. Der ländliche Raum wird
als Ideenschmiede – nicht nur als Lieferant – für die Nut-
zung von erneuerbaren Energien und von nachwachsen-
den Rohstoffen in der stofflichen Verwertung gesehen.
Damit sind neue Produkte und Dienstleistungen verbun-
den.
Aus der Debatte entwickeln sich Beispiele dafür, wo
Politik initiativ werden kann. Wir sind nicht allmächtig,
wir können nicht alle globalen Trends aufhalten oder ge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13895
(C)
(D)
Ulrich Kelber
stalten. Aber wir können versuchen, Beiträge zu liefern.
Ein Beispiel ist das, was wir im Bereich der erneuerbaren
Energien in den letzten sieben, acht Jahren erreicht ha-
ben. Das war der Auftakt zu einer verbesserten Einnah-
mesituation für die Bevölkerung im ländlichen Raum,
insbesondere in der Landwirtschaft,
aber auch für diejenigen, die außerhalb der Landwirt-
schaft in der Nutzung erneuerbarer Energien und zuneh-
mend auch erneuerbarer Rohstoffe tätig werden. Hier
müssen wir weiter ansetzen und unsere Bemühungen
verstärken.
Wir müssen in der Tat dafür sorgen, mit neuen Model-
len und Breitbandnutzung Infrastruktur zu ermöglichen.
Beides bedingt sich. Deswegen muss die Politik einfor-
dern, dass über die verschiedenen Modelle des Breit-
bandzugangs auch jede Privatperson wenigstens im
Megabitbereich Zugang erhält, und zwar in beide Rich-
tungen: Download und Upload.
Dies fordern wir dort ein, wo die Versorgung nicht über
Kabel gewährleistet werden kann, sei es über Funk oder
über Satellit. Darauf müssen dann auch bestimmte Ent-
scheidungen ausgerichtet werden. Das heißt, wenn wir
durch die Digitalisierung Rundfunkfrequenzen gewin-
nen, dann müssen wir uns darum bemühen, diese digitale
Dividende dafür zu nutzen, im ländlichen Raum einen
kostengünstigen Zugang zu Breitband zu schaffen; denn
wir werden das – egal wie viel Geld wir einsetzen –
nicht über die normale Verkabelung schaffen.
Der Megabitbereich für den Privatanschluss ist das
eine. Das andere ist die Frage, was die Dienstleister
brauchen und was an Telemedizinversorgung notwendig
ist, wenn wir Spezialisten im ländlichen Raum halten
wollen. Was ist an Telelearning für eine gute Schul- und
Hochschulversorgung an solchen Standorten notwendig?
Dafür müssen wir in den zweistelligen Megabitbereich
eintreten. Hierzu braucht es weitere Lösungen, die wir
im Konsens mit der zur Verfügung stellenden Industrie
erreichen müssen, weil wir in diesem Bereich sicherlich
kein Staatsbreitband einführen wollen. Deswegen ist es
richtig, dass wir mit den Geldern zuerst dafür sorgen,
dass solche Modelle aufgebaut werden. Auf Dauer kann
es nicht die Aufgabe des Staates sein, so etwas zu finan-
zieren und zu subventionieren.
Ich nenne noch zwei weitere Beispiele. Wir müssen
uns auf die Frage konzentrieren, wie wir den Ausbau der
ökologischen Landwirtschaft vorantreiben können.
Wenn auf der gleichen Fläche durch Umstellung auf
ökologische Landwirtschaft ein Drittel mehr Beschäfti-
gung möglich ist und wenn selbst bei Produkten, die in
unserem Land wachsen – ich spreche nicht von exoti-
schen Früchten, die auch in Bioqualität nach Deutsch-
land kommen –, mehr als die Hälfte des Bedarfs impor-
tiert werden muss, weil Deutschland die Umstellung auf
ökologische Landwirtschaft versäumt und die Länder die
Umstellungshilfen radikal gekürzt haben, sodass heute
ein Landwirt in Deutschland bei der Umstellung weniger
Geld bekommt als in den osteuropäischen Niedriglohn-
ländern, dann machen wir einen Fehler. Wir versäumen
einen Milliardenmarkt, der vor allem den ländlichen
Räumen zugute kommen könnte. Hier muss dringend
umgesteuert werden. Es ist ein gutes Zeichen, dass auf
Initiative der SPD zumindest im Bundeshaushalt ent-
sprechende Mittel zur Verfügung gestellt werden.
Was die Einnahmesituation in der Landwirtschaft an-
geht, sind die Erzeugerpreise in der Tat in vielen Berei-
chen gestiegen. Wir wissen aber auch, dass die Land-
wirte an vielen Stellen – für Energie, Pestizide und
Dünger – höhere Kosten zu tragen haben. Auch hier ist
die Umstellung auf eine ökologische Landwirtschaft
hilfreich, weil der Bedarf an den teurer werdenden Gü-
tern sinkt. Insofern hat die Unterstützung bei den Kosten
einen Doppeleffekt: Sie trägt zum Klimaschutz und
gleichzeitig zur Nutzung eines Milliardenmarktes bei,
der in Deutschland auch 2007 wieder um einen zweistel-
ligen Prozentsatz wachsen wird.
Ich freue mich über die Ankündigung von Minister
Seehofer, die Konferenz über die Zukunft ländlicher
Räume regelmäßig durchzuführen. Ich glaube trotzdem,
dass wir ergänzend dazu den SPD-Vorschlag verwirkli-
chen sollten, innerhalb der Bundesregierung einen Rat
für ländliche Räume zu schaffen, in dem all die Res-
sorts, deren Arbeit die ländlichen Räume tangiert, ihre
Politik aufeinander abstimmen, sodass in den Verord-
nungen und Gesetzentwürfen von vornherein die Be-
dürfnisse der Dörfer und Städte im ländlichen Raum be-
rücksichtigt werden.
Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen, nämlich
die Frage der Finanzierung. Die Große Koalition hat ge-
meinsam einiges für die ländlichen Räume erreicht, und
sie hat noch einiges vor. Wir müssen aber auch wissen:
Wer der Politik mehr Aufgaben zuordnet, der braucht da-
für auch mehr Geld. Es ist gut, dass die Mittel für die
Gemeinschaftsaufgabe im Haushalt 2008 von 615 Mil-
lionen Euro auf 660 Millionen Euro anwachsen. Nach
vielen Jahren gibt es endlich wieder einen Aufwuchs. Im
Vergleich zu den Mitteln, die dem ländlichen Raum ver-
loren gegangen sind, ist dies aber nicht ausreichend. Wir
haben durch den 2005 von Bundeskanzlerin Angela
Merkel ausgehandelten Kompromiss über die EU-Finan-
zierung in der sogenannten zweiten Säule der Agrarpoli-
tik – in diesem Bereich werden die Maßnahmen zur Stei-
gerung der Wertschöpfung im ländlichen Raum wie die
Förderung der wirtschaftlichen Infrastruktur und Ähnli-
ches finanziert – einen Verlust von durchschnittlich über
300 Millionen Euro im Jahr zu verzeichnen. Also müs-
sen wir uns darüber unterhalten, wie man diesen Verlust
ausgleicht in einem Bereich, dem sogar mehr Aufgaben
zugeordnet werden als 2005. Denn es ist eine einfache
Rechnung: Ein Verlust von 300 Millionen Euro kann
nicht durch eine Aufstockung der Mittel in Höhe von
45 Millionen Euro ausgeglichen werden.
13896 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Ulrich Kelber
Das ist der Grund – darüber werden wir uns in der
Großen Koalition ausführlich unterhalten müssen –, wa-
rum wir gesagt haben, dass wir die Situation höherer Er-
zeugerpreise nutzen müssen, um bei den Direktzahlun-
gen, also dem, was man im Volksmund „Agrar-
subventionen“ nennt, Geld einzusammeln und es in die
Förderung der ländlichen Räume zu investieren. Wir ha-
ben den Vorschlag unterbreitet, 8 Prozent davon zu neh-
men; das wären weitere 375 Millionen Euro im Jahr. Da-
mit wären die Verluste mehr als überkompensiert, und
wir hätten die Chance, das Geld für die ländlichen
Räume effektiv zu nutzen.
Wenn wir diese Chance nicht jetzt ergreifen, in einer
Zeit, in der die Landwirtschaft boomt und die Europäi-
sche Union ähnliche Vorschläge macht, dann werden wir
am Ende erleben, dass in Brüssel vor allem bei den
Agrarsubventionen, also der ersten Säule, gekürzt wird
und die Mittel nicht den Regionen zur Verfügung stehen,
in denen wir sie einsetzen wollen, um die Wirtschafts-
kraft und die Attraktivität dieser Regionen zu steigern.
Wir sollten also mit einer positiven Verhandlungseinstel-
lung dort hineingehen und uns nicht auf den Status quo
berufen. Das wäre der beste Rat, den man Deutschland
an dieser Stelle geben kann.
Zudem müssen wir uns – hier treffen sich FDP- und
SPD-Position – über den Inhalt der zweiten Säule und
der Gemeinschaftsaufgabe unterhalten. In der Vergan-
genheit ist in vielen Bereichen Geld verplempert wor-
den. Das muss geändert werden. Wenn wir dieses Geld
besser ausgeben, dann habe ich um die Zukunft der länd-
lichen Räume keinerlei Angst.
Vielen Dank.
Ich gebe das Wort der Kollegin Dr. Kirsten
Tackmann, Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Vor zwei Wochen sendete der
Rundfunk Berlin-Brandenburg eine Dokumentation, die
viel Staub aufgewirbelt hat: Einmal Westen und zurück.
Sie wurde auch in der Prignitz gedreht, wo ich seit mehr
als 20 Jahren in einem kleinen Dorf mit etwa 80 Ein-
wohnern lebe. Ich weiß also, wie schwer das Leben in
den Dörfern unterdessen geworden ist. Deswegen hat
mich die rbb-Dokumentation nicht erschreckt. Ich kenne
die Realität.
Ja, man kann natürlich darüber streiten, ob die Situa-
tion wirklich so dramatisch ist, wie dort dargestellt. Aber
wir sollten aufhören, diese Probleme kleinzureden.
In zweimal 45 Minuten war zu erleben, was die Worte
„Die ländlichen Räume stehen auf der Kippe“ wirklich
bedeuten. Das war nämlich in etwa die Aussage der Stu-
die des Berlin-Instituts für den Brandenburger Landtag
aus dem Sommer, die Minister Seehofer zitiert hat. An-
gesichts dieser Situation darf sich Agrarpolitik nicht auf
Landwirtschaftspolitik reduzieren, sie muss Strukturpo-
litik für die ländlichen Räume sein.
Die Studie des Berlin-Instituts spricht von zwei Ent-
scheidungsoptionen, die die Politik nach Ansicht der
Wissenschaftler zeitnah hat. Erste Option, Herr
Seehofer: sofortiges Umsteuern, kein Weitermachen. Im
Gutachten werden Beispiele genannt, wie man vorgehen
könnte. Es gibt zum Beispiel selbstverwaltete Zwergen-
schulen in Schweden, Polikliniken in Lappland – die gab
es also nicht nur in der DDR –, selbstverwaltete Mikro-
regionen in Mexiko, Zukunftsräte in der Schweiz, Dorf-
mobil-Projekte in Österreich. Was diesen Projekten zu-
grunde liegt, ist ein völlig anderes Denken des
ländlichen Raums. In Schweden ist es zum Beispiel poli-
tisches Ziel, die Besiedlung der Inseln vor Stockholm zu
erhalten. Natürlich weiß auch die schwedische Regie-
rung, dass dazu gehört, dass man dort die öffentliche Da-
seinsvorsorge sichert. So etwas geht, wenn man die Inte-
ressen der Menschen höher bewertet und nicht immer
nur über Kosten diskutiert.
Wenn in der Bundespolitik dieses Umdenken nicht
endlich einsetzt, dann, so das Berlin-Institut weiter,
bleibt nur eine zweite Option – diese hat Minister
Seehofer schon genannt –, die gezielte Entsiedlung,
zum Beispiel mit einer Wegzugsprämie. Die Branden-
burger Landesregierung hat ähnlich wie Minister
Seehofer aufs Schärfste protestiert. Das ist aber ange-
sichts der tatsächlichen Politik der Bundes- und Landes-
regierung scheinheilig.
Warum ziehen denn die Menschen aus den ländlichen
Regionen weg? – Sie tun es, weil sie meistens mit den
Problemen alleine gelassen werden. Fatalerweise erfolgt
der Wegzug eben nicht ganz allgemein, sondern sozial-
und geschlechtsselektiv. Es gehen vor allen Dingen
junge, kluge Frauen, weil sich gerade ihre Lebensbedin-
gungen in den Dörfern deutlich verschlechtern. Das
zeigt auch die aktuelle Studie „Gleichstellung im ländli-
chen Raum“, die im Auftrag meiner Fraktion gerade er-
stellt wurde.
Natürlich ist es gut, wenn die Jugend in die Welt hi-
nauszieht; das hat noch niemandem geschadet. Schlimm
ist nur, dass viele junge Leute selbst dann nicht zurück-
kommen können, wenn sie es wollen. Woran liegt das?
Es fehlen Ausbildungsplätze, Bus- und Bahnverbindun-
gen, Sparkassen- und Postfilialen, Fachärzte sowie so-
ziale und kulturelle Bildungsangebote. Selbst Behörden-
gänge werden zu Tagesreisen. Kurz: Die Organisation
des Alltags ist in den ländlichen Räumen unterdessen
sehr schwierig geworden, vor allen Dingen für Ältere
und Alleinerziehende. Klar, die Finanzierung der öffent-
lichen Daseinsvorsorge überfordert die ohnehin über-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13897
(C)
(D)
Dr. Kirsten Tackmann
schuldeten Haushalte in den ländlichen Gemeinden. Da-
her muss es aus meiner Sicht einen Solidarausgleich
zwischen Stadt und Land geben. Das ist sozial gerecht;
denn die Städter und Städterinnen nutzen den ländlichen
Raum durchaus als Erholungsraum.
Es bröckelt aber nicht nur die Infrastruktur. Am drin-
gendsten fehlt in den ländlichen Räumen existenzsi-
chernde, bezahlte Arbeit. Das hat auch mit politischen
Fehlentscheidungen zu tun, auch auf Bundesebene. Wer
das Bombodrom in der Kyritz-Ruppiner Heide nutzen
will, zerstört 15 000 bis 18 000 Arbeitsplätze in dieser
Region und dazu alle Zukunftspotenziale, die sie hat.
Wer bei den kleinen Biokraftstofferzeugern mit Straf-
steuern Gewinne abschöpfen will, die es gar nicht gibt,
vernichtet Arbeitsplätze im ländlichen Raum.
Wer die Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte erhöht,
entzieht Kaufkraft, die zum Beispiel den regionalen
Dienstleistungsanbietern fehlt. Im Landkreis Prignitz, in
dem ich wohne, lag die Kaufkraft 2005 mit rund
6 000 Euro deutlich unter dem bundesweiten Durch-
schnitt von rund 8 500 Euro. Das war Platz 428 von bun-
desweit 439 Landkreisen. Wer Regionalisierungsmittel
kürzt, ist mitverantwortlich für die Stilllegung von
Bahnlinien. Wer eine Steuerpolitik im Interesse des
Großkapitals und der Reichen macht, ist mitverantwort-
lich für die desolaten Kommunalhaushalte, also auch für
den Ausfall der Kommunen als Arbeit- oder Auftragge-
ber.
Wer die Telekommunikation privatisiert, ist mitverant-
wortlich für die mangelnde Versorgung mit Breitbandan-
schlüssen. Gesellschaftliche Interessen und Gewinnma-
ximierung sind heute oft nicht miteinander zu
vereinbaren. Dabei bleiben auch Einkommenschancen
gerade für Frauen in den ländlichen Räumen auf der
Strecke. Norwegen hat übrigens zum Jahresende eine
flächendeckende Breitbandversorgung bis zum Polar-
kreis angekündigt.
Gerade weil es auch politische Gründe für die schwie-
rige Situation in den Dörfern gibt, sagt die Linke: Das
muss nicht so bleiben. Das darf auch nicht so bleiben.
Weder Bevölkerungsschwund noch Verarmungstendenzen
sind Naturgesetze. Beides sind Folgen falscher Politik. Die
Linke schlägt zum Beispiel seit Jahren eine Ausbildungs-
platzabgabe vor. Gerade der Ausbildungsplatzmangel
treibt junge Leute aus den ländlichen Räumen. Wir strei-
ten für kluge Konzepte für einen bürgernahen und be-
zahlbaren öffentlichen Personennahverkehr. Wir wollen
die Förderung einer dezentralen Biokraftstoffversorgung
ohne Strafsteuer und Beimischungszwang. Busse und
Bahnen sollten auf jeden Fall regional erzeugte Bio-
kraftstoffe steuerfrei tanken können.
Wir brauchen öffentlich geförderte Beschäftigung. In
Berlin schafft der rot-rote Senat damit gerade 10 000 Ar-
beitsplätze. Wir brauchen einen gesetzlichen Mindest-
lohn von 8,44 Euro. Auch das stärkt die regionale Nach-
frage.
Es gibt zwei akute Bedrohungen für die ostdeutsche
Landwirtschaft. Die erste Bedrohung ist die geplante
Streichung von mehreren 100 Millionen Euro aus Brüs-
sel. Betroffen wären mehr als 5 000 Agarbetriebe, davon
über 90 Prozent in Ostdeutschland. Das muss verhindert
werden. Die zweite Bedrohung sind Bodenspekulatio-
nen, auch durch die Verkaufspraxis der BVVG. Hier
muss dringend eingegriffen werden, und zwar durch die
konsequente Anwendung des Grundstückverkehrsgeset-
zes und durch Überprüfung der Vergabepraxis der
BVVG.
Alles das wären aus unserer Sicht erste wichtige
Schritte hin zu Dörfern mit Zukunft. Meine Fraktion be-
teiligt sich an dem Kreativwettbewerb um die besten
Ideen mit einem eigenen Antrag. Wir greifen darin ein
sehr wichtiges Thema auf, nämlich die Tendenz, dass in
den Dörfern immer häufiger Arbeit nur zeitweise oder
saisonal verfügbar ist. Die Linke will, dass die Arbeit so
organisiert wird, dass daraus existenzsichernde Arbeits-
plätze werden.
Frankreich hat hier gute Vorarbeit geleistet. In sogenann-
ten Arbeitgeberzusammenschlüssen bilden verschie-
dene Betriebe gemeinsame Pools an qualifizierten
Arbeitskräften. Die Angestellten des Arbeitgeberzusam-
menschlusses wechseln dann je nach Bedarf von einem
Betrieb zum nächsten. Das funktioniert ähnlich einem
Maschinenring: Dort nutzen Bauern gemeinsam einen
Traktor. Das geht auch beim Personal, wie das Beispiel
Frankreich zeigt. Aktuell gibt es in Frankreich 4 100 Ar-
beitgeberzusammenschlüsse, in denen ungefähr
40 000 Menschen Lohn und Brot finden.
Die Vorteile für die Mitgliedsbetriebe sind vielfäl-
tig: Sie können über ein flexibles, bedarfsorientiertes,
erfahrenes und qualifiziertes Personal verfügen – das
ist angesichts des drohenden Fachkräftemangels ein
schwerwiegender Vorteil –; das professionelle Personal-
management spart Geld; durch Aus- und Fortbildung sowie
Qualifizierung können arbeitsarme Zeiten überbrückt
werden. Auch das organisiert der Arbeitgeberzusam-
menschluss.
Was haben die Beschäftigten davon? Ihre Vorteile sind
auch ganz klar: Im Gegensatz zu Saisonarbeitskräften sind
sie ganzjährig und vor allen Dingen sozialversicherungs-
pflichtig beschäftigt. Sie haben eine abwechslungsreiche
Tätigkeit. Die integrierte Qualifizierung verbessert ihre
Arbeitsplatzchancen, auch außerhalb des Arbeitgeber-
zusammenschlusses. Ein Arbeitgeberzusammenschluss
sichert und verstetigt also unsichere Arbeitsverhältnisse.
13898 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Dr. Kirsten Tackmann
Das unterscheidet ihn ganz klar von der modernen Skla-
verei in vielen Leiharbeitsfirmen.
Mehr noch: Er schafft sogar existenzsichernde Ar-
beitsplätze, zum Beispiel im Pilotprojekt der Spreewald-
Forum GmbH. Hier sollten mit Landesförderung die
Übertragbarkeit der französischen Erfahrungen unter
einheimischen Bedingungen geprüft und die Gründung ei-
nes ersten Arbeitgeberzusammenschlusses begleitet wer-
den. Zunächst haben sich dort sieben Betriebe zusammen-
geschlossen, vor allen Dingen Landwirtschafts- und
Landschaftsbaubetriebe, aber auch eine Autoverwer-
tung. Unterdessen sind es 15 Mitgliedsbetriebe, und
20 Arbeitsplätze sind geschaffen worden.
In Potsdam-Mittelmark wird gerade die Gründung ei-
nes weiteren Arbeitgeberzusammenschlusses für März
vorbereitet. Hervorgegangen ist dieser übrigens – das ist
ganz wichtig – aus einem erfolgreichen Potsdamer Be-
treuungsprojekt, Agrotime, für einheimische Erntehelfer.
Unterdessen denken auch sie, dass ein Arbeitgeberzu-
sammenschluss ein deutlich besserer Weg ist.
Um eines klar zu sagen: Arbeitgeberzusammenschlüsse
lösen keine arbeitsmarktpolitischen Probleme – zumindest
nicht vordergründig –, sondern sie lösen Probleme kleiner
Unternehmen. Auf jeden Fall sind sie ein sinnvollerer
Beitrag als die FDP-Forderung nach billigen Saison-
arbeitskräften.
Arbeitgeberzusammenschlüsse haben also viele Gewinner:
die Betriebe, die Beschäftigten und die Gesellschaft;
denn dadurch können Menschen aus der Arbeitslosigkeit
oder aus der Perspektivlosigkeit herausgeholt werden.
Also, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns
doch einfach einmal französisch denken.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Ich gebe das Wort der Kollegin Cornelia Behm,
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich muss zugeben, dass ich über die heutige
zweite Debatte zum Agrarbericht 2007 ziemlich über-
rascht bin. Ich erinnere daran, dass die Koalitionsfraktio-
nen hier vor genau fünf Wochen beschlossen haben, den
jährlichen Agrarbericht abzuschaffen; Begründung: Ab-
bau überflüssiger Bürokratie. Wir Grüne haben damals
dagegengehalten – das machen wir noch heute – und
darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, dass die Agrar-
politik alljährlich Bilanz zieht und dass man über diese
Bilanz debattiert. Jetzt, genau fünf Wochen später, setzen
Sie nun, zur besten Debattenzeit, eine anderthalbstün-
dige Debatte zum Agrarbericht 2007 auf.
– Ja, klar. Schauen Sie in die Tagesordnung. – Dabei ha-
ben wir über denselben Agrarbericht bereits im Juni hier
im Plenum debattiert. Offensichtlich glaubt die Große
Koalition selbst nicht an die Argumente, die sie hier vor
fünf Wochen zum Besten gegeben hat. Oder folgen Sie
einfach dem Prinzip, dass man die größten Abschieds-
feiern vor allem denjenigen angedeihen lässt, die man
sowieso schon immer loswerden wollte?
– Jetzt komme ich zur Sache.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Preise für
Agrarprodukte steigen in einem Maße, wie es sich bis
vor kurzem niemand vorstellen konnte, und die Agrar-
konjunktur zieht entsprechend an. Das ist eine positive
Entwicklung, die wir Grüne begrüßen. Nicht zuletzt hat
die Agrarpolitik der rot-grünen Regierung maßgeblich
dazu beigetragen, diese Trendwende auf den Agrarmärk-
ten herbeizuführen.
Ich nenne hier den Bioenergieboom, der durch die Bio-
gas- und Biokraftstoffförderung der rot-grünen Bundes-
regierung einen starken Schub erfahren hat.
Ich nenne auch den Bioboom, den es ohne die rot-grüne
Trendwende in der Agrarpolitik in Deutschland nicht ge-
geben hätte.
Aber natürlich spielen hier auch Faktoren eine Rolle,
die mit deutscher Politik nichts, aber auch gar nichts zu
tun haben.
Die gesamte Entwicklung des Weltmarkts hat zu höheren
Preisen für Agrarprodukte geführt, zum Teil aufgrund der
steigenden Nachfrage nach veredelten Agrarprodukten aus
den Schwellenländern, zum Teil aufgrund der weltweit
gestiegenen Bioenergienachfrage, und dazu kommen
schlechte Ernten in verschiedenen Ländern.
Worin allerdings der Beitrag schwarz-roter Agrarpolitik
zu dem Aufschwung besteht, den wir derzeit erleben,
wird wohl auf immer ein Geheimnis der Großen Koali-
tion bleiben. Kollege Bleser
wird zwar nicht müde, bei jeder sich bietenden Gelegen-
heit vor diesem Hohen Hause zu erklären, wie stolz er
auf die Politik ist,
aber außer dem gebetsmühlenartig wiederholten Hin-
weis darauf, man habe für bessere Stimmung unter den
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13899
(C)
(D)
Cornelia Behm
Bauern gesorgt, weil wieder ein Konservativer Agrarmi-
nister ist, erfahren wir nichts. Die weltweit gute Agrar-
konjunktur ist jedenfalls nicht das Werk schwarz-roter
Agrarpolitik in Deutschland.
Wir Grüne freuen uns über die gute wirtschaftliche
Lage der Bauern, und sie ist den Bauern auch von Her-
zen zu gönnen. Das hat nämlich viele Vorteile. Die
Subventionsabhängigkeit der Landwirtschaft wird
sinken, und das ist sowohl für die Landwirtschaft als
auch für die Steuerzahler eine gute Nachricht. Es ist
ebenfalls eine gute Nachricht für die vielen Hundert Mil-
lionen Landwirte in den Entwicklungsländern.
Aber man darf die Augen vor den Schattenseiten die-
ser Entwicklung nicht verschließen. Dazu gehören stei-
gende Lebensmittelpreise, die die Inflation treiben und
für viele ärmere Bevölkerungsschichten zum Problem
werden – nicht nur hierzulande, sondern insbesondere in
den Entwicklungsländern.
Wir dürfen die Augen auch nicht davor verschließen,
dass die gestiegene Nachfrage nach Agrarprodukten zu
einer Intensivierung der Landwirtschaft führt, die
viele ökologische Probleme mit sich bringt. Extensive
Bewirtschaftungsformen und Vertragsnaturschutz, die
für die Erhaltung vieler Biotope und bestimmter Arten
so wichtig sind, werden unattraktiv, wenn die Natur- und
Umweltleistungen nicht angemessen entgolten und die
Mindereinnahmen nicht ausgeglichen werden. Deshalb
ist es verheerend, dass die EU, der Bund und die Länder
die Mittel für die Agrarumweltprogramme zusammenge-
strichen haben.
Der Druck zur Beseitigung von Landschaftselementen
wie Hecken und Feuchtgebieten steigt, um mehr Acker-
fläche zu gewinnen. Das bedeutet aber auch ein Ende der
vor allem touristisch so attraktiven Kulturlandschaften,
die der Minister gegenüber Herrn Hinsken gerade so ge-
lobt hat.
In weiten Teilen des Landes wird immer mehr wertvol-
les Grünland umgebrochen. Zwischen 2003 und 2006
haben beispielsweise Nordrhein-Westfalen und Mecklen-
burg-Vorpommern 4 Prozent ihres Grünlands verloren. In
diesem Jahr haben drei Bundesländer sogar die 5-Prozent-
Hürde gerissen. Dieser Entwicklung muss die Politik drin-
gend etwas entgegensetzen. Die bisherigen Vorgaben und
Maßnahmen zur Erhaltung von extensiven Bewirtschaf-
tungsformen, von Dauergrünland und von Landschafts-
elementen reichen ganz offensichtlich nicht aus.
Auch die Stilllegungspflicht wird bald völlig wegfallen
– davon ist ganz fest auszugehen –; denn der ursprüngli-
che Anlass, die Verminderung von Agrarüberschüssen,
besteht nicht mehr; im Gegenteil. Allerdings waren die
Brachen aus der Flächenstilllegung ein Beitrag zur Er-
haltung der Artenvielfalt in der Agrarlandschaft. Hier-
für muss Ersatz geschaffen werden. Denkbar wäre ein
Mindestanteil an Landschaftselementen auf den beihilfe-
fähigen Flächen oder ein Mindestanteil an ökologischen
Vorrangflächen. Die könnten zwar landwirtschaftlich
genutzt werden, aber unter Beachtung bestimmter Natur-
schutzziele.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als ich Ihren Antrag
mit dem Titel „Unsere Verantwortung für die ländlichen
Räume“ in die Hand nahm, war ich zuerst überrascht:
Wow! Er enthält viele Bekenntnisse zu den ländlichen
Räumen. Das bin ich – abgesehen davon, dass Sie die
Pressemitteilungen des Deutschen Bauernverbandes
wiederholen – von Ihnen gar nicht gewohnt. Beim näheren
Hinschauen zeigt sich aber, dass der Text seinen Höhe-
punkt schon überschritten hat, bevor der Teil mit den
Forderungen überhaupt beginnt. Anders ausgedrückt:
Auch hier bleibt es ein Geheimnis, woraus Ihre Politik
für die ländlichen Räume konkret besteht.
Sie wollen die Rahmenbedingungen für die mittelständi-
sche Wirtschaft verbessern; das ist schön. Wir erfahren
aber nicht, wie das geschehen soll.
Sie wollen einwirken, unterstützen, klären und verfol-
gen, aber wollen Sie auch konkret etwas tun? Ja, Sie
wollen weitere Straßen im ländlichen Raum bauen.
Dabei haben wir gerade von Minister Seehofer gehört,
dass die Flächenversiegelung unbedingt gestoppt wer-
den soll.
Trotzdem habe ich in Ihrem Antrag gelesen, dass Stra-
ßen gebaut werden sollen.
Das nenne ich innovativ. Wie viele Arbeitsplätze sind
denn in den vergangenen Jahren durch den Straßenbau
im ländlichen Raum entstanden? Mittlerweile weiß
wirklich jedes Kind, dass die Wirtschaftsentwicklung in
Deutschland durch Straßenbau nicht gefördert werden
kann.
Jobmaschine Straßenbau: Sie glauben wohl immer noch
daran.
Glauben Sie, dass das Versenken weiterer Millionen in
Beton den ländlichen Räumen irgendetwas bringt? Das
kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein.
Eine zukunftsfähige Politik für den ländlichen Raum
sieht anders aus. Wir brauchen dafür erstens einen Um-
13900 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Cornelia Behm
bau der europäischen Agrarpolitik, weg von pauschaler
Subventionsvergabe, hin zu einer Vergütung gesell-
schaftlicher Leistungen von Landwirten, die besonders
umwelt- und klimaverträglich wirtschaften. Zweitens
müssen wir die GAK endlich zu einer Gemeinschafts-
aufgabe „Entwicklung des ländlichen Raums“ umbauen.
Beides sucht man bei Ihnen allerdings vergeblich. Dabei
liegen die Vorschläge auf dem Tisch. Wir brauchen einen
Umbau der ersten Säule, hin zu mehr Klimaschutz und
zur Ökologisierung der Landbewirtschaftung.
Die europäische Landwirtschaft hat auf dem Welt-
markt nur dann eine Chance, wenn sie auf Qualität und
konsequenten Umweltschutz setzt.
Dafür müssen wir die zweite Säule deutlich stärken.
Auch die zweite Säule – die Entwicklung des ländlichen
Raums – braucht Verlässlichkeit und Planungssicherheit,
also das, was Sie für die erste Säule – die Landwirtschaft –
immer fordern. Unsere Landwirte leben eben auch von
der zweiten Säule.
Wir Grüne wollen eine Agrarpolitik, die konsequent
auf mehr Arbeitsplätze setzt; denn das Leben auf dem
Land ist für die Menschen nur dann attraktiv, wenn sie
dort auch ihr Brot verdienen können.
– Quatsch! – Wir wollen eine Verbesserung der Lebens-
mittelsicherheit und der Tierseuchenbekämpfung; denn
das Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher in
Agrarprodukte aus Deutschland gewinnen wir nur, wenn
wir gesündere und vor allem frischere Lebensmittel als
unsere Nachbarn anbieten.
Schlussendlich wollen wir eine leistungsstarke bäuerliche
Landwirtschaft;
denn sie erhält unsere gewachsene Natur- und Kultur-
landschaft.
Ich danke Ihnen für die sehr beredte Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Franz-Josef
Holzenkamp, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich komme aus dem wunderschönen, wieder er-
folgreichen Niedersachsen, einem Flächenland.
Ein Großteil des Landes ist ländlicher Raum. Heute
sprechen wir über den ländlichen Raum. Niedersachsen
ist ein Agrarland. Die Agrarwirtschaft ist nach der Au-
tomobilindustrie der zweitwichtigste Wirtschaftszweig.
Ich persönlich komme aus dem Oldenburger
Münsterland. Wer es nicht kennt, sollte wissen: Es ist
immer eine Reise wert. Vor 50 Jahren war diese Region
ein Armenhaus; heute ist sie die am stärksten boomende
Region in ganz Niedersachsen. Liebe Kollegin
Tackmann, mit planwirtschaftlichen Mitteln haben wir
dies nicht erreicht.
Doch immer wieder, meine Damen und Herren, ste-
hen Städte und Metropolen mit ihren Herausforderungen
im Vordergrund der politischen Betrachtung, obwohl
sich in den ländlichen Räumen ein Großteil des wirt-
schaftlichen und gesellschaftlichen Lebens abspielt.
Deshalb freue ich mich heute über die überfällige De-
batte zur Zukunft der ländlichen Räume. Ein paar
Zahlen zur Verdeutlichung: Wir reden über etwa 65 Pro-
zent unserer Bevölkerung. Wir reden über einen Großteil
der Wirtschaftsbetriebe, da die meisten von ihnen im
ländlichen Raum angesiedelt sind und dort produzieren.
Wir reden über einen Großteil unserer öffentlichen Infra-
struktur.
Aber – das muss man auch sagen – ländlicher Raum
ist nicht gleich ländlicher Raum. Ländlicher Raum ist
vielfältig: Es gibt einerseits die Regionen, die nahe an
Ballungszentren liegen, die sogenannten Speckgürtel.
Sie glänzen mit attraktiver Wohnlage, mit gutem Zugang
zu öffentlicher Infrastruktur und einer prosperierenden
Wirtschaft. Andererseits gibt es – ich glaube, deshalb
unterhalten wir uns auch heute über die ländlichen
Räume – die Regionen, die in der Regel entfernt von den
Ballungszentren liegen, eine dünnere Besiedlung, eine
geringere Bevölkerungsdichte und eine unzureichende
Infrastruktur – da sind wir gefragt! – aufweisen sowie
durch fehlende bzw. immer häufiger in Zentren abwan-
dernde Arbeitsplätze gekennzeichnet sind. Dieses wird
durch die demografische Entwicklung verstärkt; das ist
schon angeklungen. Um diese Abwärtsspirale zu durch-
brechen, müssen wir den ländlichen Raum – da sind wir
uns, wie ich denke, einig – wieder in den Fokus nehmen.
An dieser Stelle möchte ich Minister Seehofer meinen
persönlichen Dank aussprechen: Herr Minister Seehofer,
Sie haben diese Ausgangslage und die erkennbaren Ten-
denzen zum Anlass genommen, einen Diskussionspro-
zess zu initiieren, der ja, wie Sie es dargestellt haben,
schon läuft. Einen festen Platz hat er ja zum Beispiel
Jahr für Jahr in einer öffentlichen Veranstaltung im Rah-
men der Grünen Woche.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13901
(C)
(D)
Franz-Josef Holzenkamp
Meine Damen und Herren, ländliche Räume dürfen
nicht nur als grüne Oasen, als Erholungsraum gesehen
werden, sie sind auch ein Wirtschaftsfaktor. In den Fäl-
len, wo sie als Wirtschaftsfaktor keine Rolle spielen,
können sie auch keine erfolgreiche Entwicklung aufwei-
sen. Nur so geht es.
Dafür wollen wir mit unserem Antrag die richtigen An-
stöße geben. Um nicht falsch verstanden zu werden: Wir
brauchen beides, Stadt und Land. Deshalb unterstützen
wir auch keine „Fluchtprämien“.
Es ist schon angeklungen: Die Agrarwirtschaft über-
nimmt im ländlichen Raum sowohl aus wirtschaftlicher
Sicht als auch aus kulturprägender Sicht eine zentrale
Rolle. Dieser Bundesregierung, Frau Behm, ist es gelun-
gen, die Landwirtschaft wieder in die Mitte der Gesell-
schaft zu rücken. Das war vorher nicht so. Dafür möchte
ich Ihnen, Herr Minister, als Landwirt auch persönlich
Dank sagen.
Landwirtschaft allein kann eine Region wirtschaftlich
nicht tragen, aber eine erfolgreiche Landwirtschaft ist
Voraussetzung für den Erfolg der vor- und nachgelager-
ten Bereiche. Sie finden sich im ländlichen Raum in ei-
ner Vielzahl an Ausprägungen: von Futtermittel- und
Düngemittelproduzenten über den Anlagebau bis hin zur
Ernährungswirtschaft. Diese Kette bezeichnet man im
Fachjargon als Agribusiness.
Auch hier zur Verdeutlichung ein paar Zahlen: Wir spre-
chen über einen Umsatz in Höhe von 550 Milliarden
Euro pro Jahr. Das ist zum Beispiel doppelt so viel wie
in der Automobilindustrie. Wir sprechen über etwas
mehr als 4,5 Millionen Arbeitsplätze im ländlichen
Raum – mit steigender Tendenz. Die Ernährungsbranche
boomt; ihr Exportanteil beträgt mittlerweile 22 Prozent.
Auch hier ist eine steigende Tendenz zu verzeichnen: Al-
lein in diesem Jahr konnte sie ein Plus von 10 Prozent
verzeichnen.
Meine Damen und Herren, ich habe zu Beginn aus
gutem Grund über meine Heimat gesprochen. Ihr Erfolg
hängt nämlich sehr stark mit dem Agribusiness zusam-
men. Wir haben bei uns einen sogenannten Cluster für
Agrartechnologien entwickelt: von der Landwirtschaft
als unverzichtbarem Primärsektor – das möchte ich beto-
nen – bis hin zur Ernährungswirtschaft. Die Menschen
bei uns haben Arbeit. Sie fühlen sich wohl, sie bleiben,
sie investieren, und sie gründen auch Familien. In mei-
ner Heimat befindet sich der geburtenstärkste Landkreis
in unserer gesamten Republik. Nehmen Sie sich daran
ein Beispiel.
– Ja, ich habe vier Kinder. – Das Ergebnis: wachsende
Bevölkerung und eine Arbeitslosenquote von gut 5 Pro-
zent. Vor 25 Jahren lag sie im Schnitt noch bei 25 Pro-
zent. Verbesserungen sind also möglich.
Wie Sie sehen, ist die Agrarwirtschaft eine Wachs-
tums- und Zukunftsbranche. Wenn man so will, findet
augenblicklich die zweite grüne Revolution statt. Die
Agrarwirtschaft ist innovativ, vielfältig und nachhaltig.
Gott sei Dank gibt es eine Entwicklung von Überschuss-
märkten zu Nachfragemärkten.
Die Agrarwirtschaft übernimmt zwei zentrale Aufga-
ben. Die erste Aufgabe ist die Nahrungsmittelversor-
gung für weltweit – das kann man nur global sehen –
6,5 Milliarden Menschen; 2050 werden es schon etwa
9,5 Milliarden Menschen sein. Das ist eine große
Herausforderung. Darin liegt aber auch ein riesiges
Wertschöpfungspotenzial für den ländlichen Raum.
Die zweite Aufgabe ist die eines Energielieferanten.
Hier stehen wir selbstverständlich erst am Anfang – aber
mit von uns formulierten, sehr ambitionierten Zielen.
Deswegen müssen die Rahmenbedingungen passen.
Verschiedene Vorredner haben schon die EU-Agrarpoli-
tik erwähnt. Wir haben gerade eine große Agrarreform
hinter uns. Ich setze – die Bauern erwarten das auch –
auf Verlässlichkeit und Berechenbarkeit. Deshalb erwar-
ten wir bis 2013 bei der ersten Säule keine Kürzung der
Ausgleichszahlungen.
Bei diesen Diskussionen muss man auch den gesell-
schaftlichen Leistungen gerecht werden, die die Land-
wirtschaft tagtäglich in Deutschland und in Europa bei
Einhaltung der höchsten Standards im Tierschutzbereich
und im Umweltbereich und der Sozialstandards erbringt.
Im Übrigen bewirken die Ausgleichzahlungen Kauf-
kraft, die im ländlichen Raum bleibt und nicht in irgend-
welchen Gutachterbüros oder an anderen Orten ver-
schwindet.
Auf nationaler Ebene sind Anpassungen notwendig.
Herr Minister, ich bin sehr froh darüber, dass Sie den
Flächenverbrauch – die Versiegelung beträgt etwa
100 Hektar pro Tag – angesprochen haben. Wir müssen
darüber reden; das kann so nicht bleiben, auch wenn es
eine Herkulesaufgabe wird, daran etwas zu ändern.
In dem Zusammenhang ist auch der Naturschutz an-
gesprochen worden. Naturschutz ist für die Menschen
da. Wir von der CDU/CSU-Fraktion stehen zu dem, was
schon jahrhundertelang gilt, nämlich „Schützen durch
Nützen“ und nichts anderes.
Aber auch andere Dinge sind von elementarer Bedeu-
tung für die Stabilität im ländlichen Raum. Ich nenne
beispielsweise die Erbschaftsteuerreform. Frau Happach-
Kasan, ich bin davon überzeugt, dass wir hier zu einem
guten Ergebnis kommen werden. Ferner ist das Krisen-
13902 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Franz-Josef Holzenkamp
management von elementarer Bedeutung. Der Minister
spricht es immer wieder an. Beim Bürokratieabbau ha-
ben wir einiges auf den Weg gebracht. Heute wird noch
das Fleischgesetz verabschiedet. Wir haben ein 30 Jahre
altes Gesetz endlich entrümpelt und einen akzeptablen
Kompromiss für die betroffenen Landwirte erzielt.
Unabhängig von den Bedingungen in den ländlichen
Regionen gibt es überall das Problem, dass die Infra-
struktur nur unzureichend entwickelt ist. Außerdem lei-
det der ländliche Raum besonders unter dem demografi-
schen Wandel. Um diesen Raum zukunftssicher zu
machen, stehen wir vor zusätzlichen Aufgaben. Wir
müssen zukünftig mehr für die Verkehrsinfrastruktur
tun. Die Lücken bei den Autobahnen müssen endlich ge-
schlossen werden. Wir müssen mehr Geld in die Hand
nehmen. Ich nenne in diesem Zusammenhang die Breit-
band-Technologie. Man kann viel meckern. Aber man
muss feststellen, dass die Bundesregierung beim Agrar-
haushalt viel Geld in die Hand genommen hat. Wir sind
uns alle einig, dass es im nächsten Jahr noch eine weitere
Steigerung geben muss.
Herr Kollege, die Frau Kollegin Maisch würde gerne
eine Zwischenfrage stellen. Würden Sie dies erlauben?
Ja, gerne.
Danke, Frau Präsidentin. – Herr Holzenkamp, Sie ha-
ben über den Flächenverbrauch im Kontext mit dem Na-
turschutz gesprochen. Sind Sie der Meinung, dass dem
Naturschutz in Deutschland zu viele Flächen zur Verfü-
gung stehen, oder wie darf ich Ihre Aussage verstehen,
dass man im Zusammenhang mit der Minimierung des
Flächenverbrauchs auch über den Naturschutz reden
muss?
Ich habe zunächst über den enormen Flächenbedarf
gesprochen und darüber, wie wir mit dem immer knap-
per werdenden Gut Fläche umgehen. Ich habe von
„Schützen durch Nützen“ gesprochen.
Ich habe nicht über die Zahl der Naturschutzflächen ge-
sprochen, sondern darüber, welche Bedingungen vor-
herrschen und wie man damit umgeht und umgehen
sollte. Die Naturschutzflächen sollen nicht, zugespitzt
formuliert, für Menschen gesperrt werden, sondern für
die Menschen da sein. Davon habe ich gesprochen.
Eine flächendeckende öffentliche Infrastruktur von
Schulen über Hochschulen bis hin zur medizinischen
Versorgung ist – das ist angeklungen – ein unverzichtba-
rer Standortfaktor. Wir wollen das Zusammenleben för-
dern, mehr tun für das Ehrenamt und für die Vereine als
Garanten des sozialen Friedens im ländlichen Raum. Für
dies alles brauchen wir ein integriertes Entwicklungs-
konzept; das ist angesprochen worden. Das werden wir
auf den Weg bringen.
In der Umsetzung aber bin ich, Herr Minister – ich
glaube, da sind wir sehr beieinander –, für einen dezen-
tralen Ansatz, für das sogenannte Prinzip der Subsidia-
rität, weil die Menschen vor Ort einfach besser wissen,
wie man dort vorgehen kann.
Herr Kollege!
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.
Wir wollen lebendige, pulsierende ländliche Räume.
Dafür brauchen wir bessere Rahmenbedingungen, und
deshalb bitte ich Sie alle, unseren Antrag zur Verantwor-
tung für die ländlichen Räume und die dort lebenden
Menschen zu unterstützen.
Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Edmund Peter
Geisen, FDP-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minis-
ter Seehofer! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Geht es der Landwirt-
schaft gut, geht es den ländlichen Räumen gut. Dort ste-
hen meines Erachtens die Stützen unserer Gesellschaft.
Ich füge hinzu: Eine gute Landwirtschaft ist auch guter
Klimaschutz.
Kaum gibt es positive Tendenzen im Agrarbereich,
die durch den Weltmarkt hervorgerufen wurden, so hö-
ren die Damen und Herren von der Regierungskoalition
nicht auf, zu frohlocken, wie gut es doch der heimischen
Landwirtschaft geht. Minister Seehofer hört man nur
noch über seine eigene Politik jubilieren – dies zum Är-
ger der Landwirte und der Landbevölkerung.
Denn die Fakten sind anders:
Erstens. Die Landwirtschaft war jahrelang die Infla-
tionsbremse in Deutschland. Die Einkünfte lagen am
Existenzminimum, die Arbeit wurde nicht honoriert. Es
entstand ein riesiger Investitionsstau.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13903
(C)
(D)
Dr. Edmund Peter Geisen
Zweitens. Jetzt gibt es seit einigen Monaten eine
Trendwende, und man vergisst, eine ehrliche Rechnung
aufzumachen: Alle Produktionskosten, insbesondere
die für Futter- und Betriebsmittel sowie die Energiekos-
ten, sind enorm gestiegen. Der Großteil der Kostensteige-
rung ist hausgemacht: an erster Stelle durch die Erhöhung
der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte – eigentlich um
4 Prozentpunkte, rechnet man die Energiepreissteigerun-
gen des letzten Jahres hinzu –, an zweiter Stelle durch die
Steuersätze für Agrardiesel, die im Vergleich zu anderen
EU-Ländern Mehrkosten von bis zu 100 Euro pro Hek-
tar verursachen. Das macht für einen deutschen Durch-
schnittsbetrieb bis zu 8 000 Euro pro Jahr aus.
Hier hatte die FDP-Fraktion gehofft, dass Sie, Herr
Minister Seehofer, im Rahmen der deutschen Ratspräsi-
dentschaft aktiv geworden wären. Ich habe – sozusagen
als Hilfestellung – einen Antrag zur Harmonisierung
der Steuersätze für Agrardiesel in der EU eingebracht.
Fehlanzeige! Meine Kolleginnen und Kollegen in der
Großen Koalition haben diesen Antrag leider einstimmig
abgelehnt.
Drittens. Ihre Erntehelferregelung führt zu höheren
Bürokratie- und Arbeitskosten sowie zu Ertragsausfäl-
len. Ich frage Sie, Herr Minister Seehofer: Warum hören
Sie nicht auf Ihre eigenen Leute, auf die Länderminister
und die Kolleginnen und Kollegen aus der eigenen Frak-
tion? Forderungen aus Ihren eigenen Reihen gibt es ge-
nug. Können oder wollen Sie sich nicht bei Ihrem Koali-
tionspartner durchsetzen?
Zur Erntehelferregelung liegt ebenfalls ein Antrag der
FDP vor, der den Anliegen der Bauern vor Ort viel bes-
ser gerecht wird als Ihre nunmehr im dritten Jahr ver-
korkste Regelung.
Glauben Sie mir; ich weiß, wovon ich rede. Ich habe mit
vielen Betroffenen vor Ort gesprochen. Es ist doch billi-
ger Populismus, wenn man verkündet, dass auf den
Obst- und Gemüsefeldern das Problem der Arbeitslosig-
keit in Deutschland gelöst wird. Wie hat es der Chefre-
dakteur einer landwirtschaftlichen Fachzeitung so schön
formuliert? Der eigenen Klientel schaden, um in der Öf-
fentlichkeit Punkte zu sammeln!
Wir fordern, dass die Eckpunkteregelung nicht noch
einmal verlängert wird und stattdessen die volle Arbeit-
nehmerfreizügigkeit gewährleistet wird. Wissen Sie ei-
gentlich, dass in der ganzen EU neben uns nur Österreich
die Grenzen bis 2009 dichtmacht?
Viertens. Auch das kürzlich verabschiedete, ver-
korkste Gesetz zur Modernisierung des Rechts der land-
wirtschaftlichen Sozialversicherung wird schon bald zu
Beitragserhöhungen und Kostensteigerungen für Land-
wirte führen.
Die landwirtschaftlichen Krankenkassen sind wiederum
nicht an den Bundesmitteln, zum Beispiel hinsichtlich
der kostenlosen Familienmitversicherung, beteiligt wor-
den. Das führt zu großer Verunsicherung, aber auch zu
Wut und Ärger bei den Betroffenen.
Bei der landwirtschaftlichen Unfallversicherung ha-
ben wir eine Umstellung des Systems gefordert. Der
Bund und die BGs stecken stattdessen über 1 Milliarde
Euro in eine nicht funktionierende Reform. Auch hier
werden Beitragserhöhungen mit Sicherheit die Folge
sein. Das sage ich Ihnen voraus.
Schönfärberei kann Murks auf Dauer nicht verdecken.
Vielen Landwirten geht es noch immer nicht gut. Die
Strukturen der ländlichen Räume sind noch immer ge-
fährdet. Sie sind nicht in Ordnung. Mit dieser Regierung
gibt es keine Verlässlichkeit und keine Planungssicher-
heit für die Landwirte und die ländlichen Räume. Die In-
teressen der Landwirte werden beim parteipolitischen
Machtpoker leichtfertig aufs Spiel gesetzt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Gerhard Botz,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr
Bundesminister! Werte Kolleginnen und Kollegen! Frau
Behm, ich möchte eine Vorbemerkung machen: Die Re-
dezeit kann immer knapp werden; aber ich war sehr froh,
als Ihre Redezeit zu Ende ging. Ich habe befürchtet, dass
der eine oder andere Gast auf der Tribüne, der aus einem
ländlichen Raum stammt, sich ängstlich in eine Zukunft
verschlagen sieht, in der er sich mit einem Buschmesser
zur nächsten Postdienststelle durchschlagen muss.
Ich komme zur Sache, also zu unserer Verantwortung
für ländliche Räume. Wenn ich in meinem struktur-
schwachen Wahlkreis zu einer öffentlichen Veranstal-
tung zu diesem Thema einlade, dann führt das immer zu
drei Fakten: Erstens. Der Saal ist voll. Zweitens. Selbst-
verständlich sitzen die Landwirte und die Vertreter der
vor- und nachgelagerten Bereiche im Saal; sie gehören
da auch hin. Drittens. Zur Überraschung dieser Vertreter
stellen sie oft aber nicht die Mehrheit der Anwesenden.
13904 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Dr. Gerhard Botz
Uns als Experten überrascht das nicht. Ich zähle diese an-
deren einmal kurz auf: die Kommunalpolitiker, Vertreter
der Krankenhäuser, der Katastrophenschutzorganisationen,
der Naturschutzverbände und Vertreter der Organisationen,
die die Kinderbetreuung und vieles mehr in den ländli-
chen Regionen in der Hand haben.
Das macht Folgendes klar – das muss klar gesagt wer-
den; das lenkt unser Handeln; das dürfen wir nicht verges-
sen –: Unsere Bürger in den ländlichen Räumen haben
nicht nur bezogen auf die Landwirtschaft eine Erwar-
tungshaltung. Wenn es aber um die strukturschwachen
Räume geht – ich beziehe mich in meiner Rede heute et-
was stärker auf diese Räume –, dann sind und bleiben
Landwirtschaft und Forstwirtschaft entscheidende
Teile der Wirtschaft. Diese Branchen bieten den Bürgern
Erwerbsmöglichkeiten. Hier können sie ihr Einkommen
erzielen. Sie sind der Grund für den Verbleib der Bürger in
diesen ländlichen Räumen. Meiner Meinung nach muss
das die entscheidende politische Zielstellung bleiben.
Die Erwartungen, die die Bürger, die in diesen Regionen
leben, an uns haben, wachsen; das spüren wir doch alle.
Dabei geht es aber nicht um irgendwelche überzogenen
Horrorbilder oder Ähnliches. Vielmehr wird die Frage
an uns gerichtet: Was könnt ihr konkret tun? Ich sage Ih-
nen eines: Ich bin sehr zufrieden und dankbar, Herr Bun-
desminister – das, was ich jetzt sage, richtet sich an die
gesamte Bundesregierung –, dass das im Nationalen
Strategieplan für die Entwicklung ländlicher Räume
2007 bis 2013 aufgegriffen wurde; denn es war höchste
Zeit, dass das geschieht.
Ich hoffe – Herr Minister, Sie wissen ja, wie das ist;
denn Sie sind sehr erfahren –, dass dieser Plan nicht ir-
gendwann irgendwo verstaubt, sondern dass er in jeder
Abteilung Ihres Hauses immer ganz oben auf dem Tisch
liegt. Da das für alle Häuser gilt, bin ich dankbar, dass
auch Vertreter der anderen Ministerien hier anwesend sind.
Es handelt sich nämlich um den Nationalen Strategieplan
der Bundesregierung für die Jahre 2007 bis 2013. Dieser
Plan ist ein Fortschritt, und dieser Fortschritt ist ein Ver-
dienst der Großen Koalition.
Zum Schwerpunkt meines Beitrags. Herr Minister, in
Punkt eins unseres Papiers, um das wir miteinander ge-
rungen haben, ist die Verpflichtung zur Koordinierung
aus Ihrem Haus heraus festgehalten. Wichtig ist, dass
dann, wenn es um die Notwendigkeit von Veränderungen
der Arbeiten oder um die Umgestaltung und Weiterent-
wicklung der GAK geht, die Stimme von außen – ich er-
innere nur an den OECD-Prüfbericht vom März 2007 –
und die Stimme der Fachleute in unserem Land, zum
Beispiel der Fachleute, die Ihrem Haus die Ergebnisse
des Bundesprogramms „Regionen aktiv“ geliefert ha-
ben, fast identisch sind. Das, also die GAK, ist sicherlich
nach wie vor ein wichtiges Werkzeug. Aber so, wie es
derzeit ist, reicht es nicht mehr aus, um den Bedürfnissen
des ländlichen Raumes gerecht zu werden.
Werte Kolleginnen und Kollegen, viele von Ihnen ha-
ben bereits das Thema Breitbandversorgung angespro-
chen. Ich habe großes Verständnis dafür, dass wir und
vor allen Dingen die Medien immer ein Gipfelthema
brauchen, an dem wir etwas fast symbolisch festmachen.
Das ist nicht schlecht. Um nicht falsch verstanden zu
werden, sage ich aber: Das ist nur ein Gipfelthema. Da-
hinter versteckt sich nicht nur der Wunsch, sondern auch
die berechtigte Erwartung, dass auch die anderen Struk-
turelemente stabilisiert werden.
Frau Behm, ich sage Ihnen: Nicht nur in dem Teil
Deutschlands, aus dem ich komme, sondern auch in dem
Teil, der den anderen seit inzwischen fast zwei Jahrzehn-
ten maßgeblich unterstützt, werden in Zukunft Straßen
gebaut werden müssen; auch das muss man in einem sol-
chen Zusammenhang einmal sagen.
Ich möchte Ihnen an dieser Stelle noch zwei Dinge
sagen. Die Zeit geht wie immer zu schnell zu Ende.
Erstens. Ich bin nicht bereit – ich hoffe, Ihnen geht es
genauso –, mir von Wissenschaftlern empfehlen zu lassen:
Investiert die verbleibenden Fördermittel, die es mit hoher
Wahrscheinlichkeit nur noch bis dann und dann gibt, in
die Leuchttürme und die Ballungszentren. Dann geht in
Wartehaltung, und hofft, dass das geschieht, was wir euch
prophezeien, nämlich dass irgendwann die Ausstrahlungs-
kraft dieser Mittel, wenn ihr Glück habt, ausreicht, den ei-
nen oder anderen ländlichen Raum zu erleuchten. – Das
reicht den Menschen nicht.
Zweitens. Wir brauchen Netzwerke, minimale Kno-
tenpunkte, in die Geld gehen muss. Verehrte Kollegen
von der konservativen Seite,
auch deshalb ergibt es einen Sinn, rechtzeitig von der
ersten Säule in die zweite Säule zu wechseln und, bevor
sie uns endgültig verloren geht, das Geld in landwirt-
schaftsnah zu definierende Elemente zu investieren.
Abschließend muss ich sagen – da muss ich hier Ver-
schiedene anschauen –: Ich bin enttäuscht.
Ich glaube, dass wir in der Mitte richtig liegen.
Wir sollten auch als Politiker – das mag als Schwäche
definiert werden – ab und zu mit einem Schuss Emotion
– diese Freiheit habe ich mir heute genommen – die
Menschen daran erinnern, dass Fördergelder richtig sind,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13905
(C)
(D)
Dr. Gerhard Botz
dass sich die Menschen aber immer wieder in benachtei-
ligten
ländlichen Gebieten auf sich selber besonnen haben,
Selbstvertrauen und Kraft geschöpft haben, nach vorne
geschaut
und gesagt haben: Hier ist eine Krise, aber diese Krise
bietet auch Chancen. Wir packen es an, wir gehen da
durch und erarbeiten uns eine gemeinsame vernünftige
Zukunft.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Klaus Hofbauer,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-
ginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir, Frau
Dr. Happach-Kasan, eine Bemerkung. Sie haben zu
Beginn Kritik an unserem Minister geübt. Ich möchte
Ihnen sagen, dass Sie mit dieser Kritik völlig daneben-
gelegen haben.
Unser Minister Horst Seehofer leistet für die Landwirte
und für den ländlichen Raum eine hervorragende Arbeit.
Die Menschen des ländlichen Raums, insbesondere die
Bauern, haben Vertrauen in die Politik von Horst
Seehofer.
Liebe Frau Kollegin Behm, wir arbeiten im Unteraus-
schuss Strukturfragen sehr eng zusammen, und ich
schätze Ihre Arbeit. Erlauben Sie mir aber, eine Feststel-
lung zu machen: Ich bin den Verantwortlichen der Koali-
tionsfraktionen sehr dankbar, dass dieses Thema zu einer
solch guten Zeit diskutiert und beraten wird. Damit wird
das Thema Landwirtschaft und ländlicher Raum wirk-
lich einmal in den Mittelpunkt unserer Arbeit gestellt.
Herzlichen Dank dafür, dass wir diese gute Zeit bekom-
men haben.
– Und unser Fraktionsvorsitzender ist da. Er verfolgt die
Situation sehr genau, und er hat uns in der Fraktion ganz
gewaltig bei der Erarbeitung dieses Antrags unterstützt.
– Darf ich, liebe Frau Kollegin Behm, noch eine zweite
Bemerkung machen? Vielleicht können Sie diese in Ihre
Zwischenfrage einbeziehen.
Frau Kollegin Behm, Sie haben die Verkehrspolitik
und die Infrastrukturpolitik hier negativ angespro-
chen. Es ist meine feste Überzeugung, dass eine intakte
Infrastruktur die beste Förderung für den ländlichen
Raum ist. Ohne eine intakte Infrastruktur gibt es keine
Entwicklung des ländlichen Raums. Deswegen brauchen
wir gute Straßen und eine insgesamt intakte Infrastruktur
im ländlichen Raum.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Behm?
Selbstverständlich.
Geschätzter Kollege, ich muss jetzt doch einmal an
unsere Reise nach Ostbayern erinnern.
– Nein, es war keineswegs eine private Reise, die wir da
unternommen haben. Ich spreche von der Delegations-
reise des Unterausschusses „Regionale Wirtschaftspoli-
tik“. Wir besuchten drei Landkreise, und auf zwei davon
möchte ich zu sprechen kommen: den Landkreis Cham
und den Landkreis Hof. Wir haben gesehen, dass die
Wirtschaftsentwicklung dort sehr unterschiedlich ver-
läuft.
Haben Sie sich einmal damit auseinandergesetzt, wie
die Wirtschaftsentwicklung dieser beiden Kreise sich zu
ihrer Infrastrukturausstattung verhält? Sollten Sie das
noch nicht getan haben, kann ich Ihnen eine Untersu-
chung meines Kollegen Anton Hofreiter empfehlen, der
sich dieses Problems angenommen hat. Haben Sie Inte-
resse daran? Möchten Sie diese Studie vielleicht zugelei-
tet bekommen?
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich kenne
diese Studie, weil der Kollege Hofreiter sie uns im Ver-
kehrsausschuss zur Verfügung gestellt hat. Ich bitte um
Verständnis dafür, dass ich mit dieser Studie inhaltlich
nicht ganz einverstanden bin, weil die Verkehrspolitik
13906 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Klaus Hofbauer
darin unserer Meinung nach völlig falsch dargestellt
wird. Wir brauchen eine gute Infrastruktur, weil wir an-
sonsten insbesondere die strukturschwachen Gebiete und
die ländlichen Räume nicht erschließen können.
Frau Kollegin Behm, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie
meinen Heimatlandkreis Cham angesprochen haben. In
diesem Landkreis, in dem ich früher einmal kommunaler
Wirtschaftsreferent sein durfte, haben wir bereits vor
20 Jahren den „Aktionskreis Lebens- und Wirtschafts-
raum“ gegründet. Darin haben wir Wirtschaft – ein-
schließlich der Landwirtschaft –, Kultur, Schulen usw.
einbezogen, um eine Region gemeinsam zu entwickeln.
Die Entwicklung sieht folgendermaßen aus: Im Jahr
1983 hatten wir im damaligen Landkreis Kötzting, ei-
nem Teil meines Wahlkreises, im Winter eine Arbeitslo-
senquote von 48,3 Prozent. Jetzt haben wir eine Arbeits-
losenquote von 3,5 Prozent.
Das ist die Entwicklung aufgrund einer guten Infrastruk-
turpolitik.
Meine Damen und Herren, mit dem gemeinsamen
Antrag der beiden Koalitionsfraktionen wollten wir ei-
nes erreichen: Der ländliche Raum soll nicht zum An-
hängsel der Ballungsräume – allein wichtig in den Berei-
chen Naturschutz und Erholung – degradiert werden.
Vielmehr wollen wir mit diesem Antrag klarstellen, dass
Ballungsräume und der ländliche Raum gleichwertige
und gleichberechtigte Partner sind, die auf gleicher Au-
genhöhe miteinander kommunizieren müssen.
Mir ist es ein Anliegen – wie Sie, Herr Kollege
Kelber, es bereits gemacht haben –, die Stärken des
ländlichen Raumes zu unterstreichen. Als Vertreter des
ländlichen Raumes sollten wir von dieser Jammertal-
mentalität wegkommen. Wir sollten die Stärken des
ländlichen Raumes herausstellen und den ländlichen
Raum selbstbewusst erläutern.
Auf einer Veranstaltung des Kollegen Koschyk mit
Kommunalpolitikern und der CSU-Landesgruppe ist
kürzlich bei der Diskussion über den ländlichen Raum
ein junger Mann aufgestanden und hat sehr selbstbe-
wusst gesagt, dass wir als Bewohner des ländlichen
Raums ganz anders auftreten sollten, weil es bei uns
Qualitäten gibt
wie die, dass man sich ein Häuschen bauen kann, gute
Arbeitsplätze findet, eine hohe Lebensqualität hat, die
Natur vor der Haustür ist und es ein gutes kulturelles
Angebot gibt. Diese Stärken des ländlichen Raumes soll-
ten wir wieder herausstellen; denn das ist meiner Mei-
nung nach die beste Werbung für den ländlichen Raum.
Das heißt aber nicht, dass wir die Probleme unter den
Teppich kehren wollen. Deshalb halte ich es für richtig,
dass wir gemeinsam mit den Ministern Horst Seehofer
und Michael Glos ministerienübergreifend integrierte
nachhaltige Konzepte für den ländlichen Raum erarbei-
ten. Die Arbeit für den ländlichen Raum ist eine Quer-
schnittsaufgabe. Wir müssen – da spielt auch die Kultur-
politik eine Rolle, auch wenn das Länderaufgabe ist –
die Verbände einbeziehen. Ich glaube, dies ist von ent-
scheidender Bedeutung.
Ich möchte mich ausdrücklich bedanken für die Pro-
gramme zur finanziellen Förderung der ländlichen
Räume, zum Beispiel für die GAK, aber auch für die GA
im Allgemeinen. Dies sind ganz wichtige Säulen für die
strukturschwachen Gebiete. Herr Kelber, ich vertrete
hier eine andere Auffassung als Sie: Wir wollen nicht,
dass das, was unsere Landwirte an Mehreinnahmen ha-
ben, abgezogen und in andere Programme gesteckt wird.
Seien wir froh, dass unsere Bäuerinnen und Bauern
Mehreinnahmen haben! Das muss bei den Bauern blei-
ben.
Ich möchte nicht verhehlen, dass wir uns mit den Pro-
grammen intensiv auseinandersetzen müssen. Im Mo-
ment läuft auf europäischer Ebene die Finanzierungspe-
riode 2007 bis 2013. In dieser Periode sind die Weichen
für den ländlichen Raum im Großen und Ganzen richtig
gestellt. Jetzt müssen wir die Programme vor Ort mit
sinnvollen Projekten umsetzen. Dafür brauchen wir re-
gionale Organisationen. Es ist aber auch die Aufgabe des
Parlaments, gemeinsam mit dem Minister bereits an die
nächste Finanzierungsperiode zu denken. Die Weichen
für die Finanzierungsperiode ab 2013 werden im Jahre
2008 gestellt; schon 2008 werden auf europäischer
Ebene die ersten Punkte festgelegt. Es wird entscheidend
darauf ankommen, dass wir diesen Prozess für die länd-
lichen Räume gestalten.
Erlauben Sie mir, die Versorgung mit Breitbandan-
schlüssen anzusprechen. Herr Minister, wir sind Ihnen
sehr dankbar, dass Sie sich dieses Themas gemeinsam
mit Michael Glos angenommen haben. Wir sind uns ei-
nig in der Auffassung, dass die Breitbandvernetzung
keine Sache der nächsten 20 Jahre ist, sondern in den
nächsten zwei, drei Jahren geregelt werden muss.
Ich bin davon überzeugt, dass schon heute viele Ansied-
lungsentscheidungen – ob einer ein Haus bauen will; ob
einer eine Existenz gründen will; ob einer einen mittel-
ständischen Betrieb erweitern will – davon abhängen, ob
Breitbandanschlüsse verfügbar sind. Deswegen ist es
gut, dass unser Minister die Weichen gestellt hat, ge-
meinsam mit den Ländern entscheidende Schritte zu ma-
chen.
Auch die regenerativen Energien sind für den länd-
lichen Raum von entscheidender Bedeutung. Meine For-
derung im Hinblick auf die regenerativen Energien ist,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13907
(C)
(D)
Klaus Hofbauer
dass die Wertschöpfung bei den Bauern, im ländlichen
Raum bleibt.
Es darf nicht sein, dass die Wertschöpfung bei den rege-
nerativen Energien an Konzerne geht, die jetzt ganz groß
in diesen Bereich einsteigen. Wir müssen die Vorausset-
zungen schaffen, dass die Wertschöpfung bei den Erzeu-
gern bleibt. Die Produktion der Rohstoffe muss im Mit-
telpunkt stehen. Wir müssen uns Gedanken machen, wie
die Genossenschaftsidee, die im ländlichen Raum in den
letzten Jahrzehnten von großer Bedeutung war, mit
neuem Leben erfüllt werden kann.
Die Bauern müssen bei diesen Dingen als Unterneh-
mer dabei sein; das halte ich für ganz zentral. – Lieber
Herr Vorsitzender der Unionsfraktion, ich meine schon
die richtige Genossenschaft. – Deswegen sind wir dank-
bar, dass sich die Ministerien von Horst Seehofer und
Michael Glos des Themas Energie und insbesondere der
Förderung von Wärme- und Biogasleitungen angenom-
men haben. Wir werden das jetzt umsetzen, weil wir ins-
besondere in der Diskussion über das EEG darauf achten
müssen, dass die Effizienz gesteigert wird. Und die Effi-
zienz im ländlichen Raum wird nur dann gesteigert,
wenn auch die Wärme dieser Anlagen genutzt wird und
man sie nicht entweichen lässt. Herzlichen Dank für
diese Initiative!
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gäbe noch
viele Aspekte anzusprechen: Verkehrsanbindung, öffent-
licher Personennahverkehr, öffentliche Daseinsvor-
sorge, Tourismus. Der liebe Kollege Ernst Hinsken hat
den Tourismus ja schon wiederholt angesprochen. Das
sind wichtige Punkte.
Mit unserem Antrag haben wir das Thema ländlicher
Raum nicht neu erfunden, aber wir wollten gemeinsam
mit den Ministerien einen Akzent setzen. Das Thema
ländlicher Raum als Lebens-, Wirtschafts- und Kultur-
raum wird uns noch gewaltig beschäftigen. Hier liegen
große Chancen. Nutzen wir gemeinsam mit den Bürge-
rinnen und Bürgern diese Chancen. Ich glaube nämlich,
dass der ländliche Raum eine Zukunft hat.
Herzlichen Dank.
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Waltraud Wolff, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Unsere Verant-
wortung für die ländlichen Räume: Wo stehen wir dabei
in Deutschland, und was ist zu tun?
Lassen Sie mich einen Prüfbericht der OECD an den
Anfang meiner Rede stellen. Die OECD hat die deutsche
Politik für die ländlichen Räume geprüft. Wir müssen
das hier so konstatieren: Das Ergebnis ist nicht gerade
rühmlich. Sie zeigt nämlich auf, dass wir in Deutschland
unsere Chancen und Möglichkeiten noch nicht genutzt
haben.
Die OECD kommt zu dem Ergebnis, dass unsere Poli-
tik für ländliche Räume im Wesentlichen aus der Ergän-
zung der EU-Agrarpolitik besteht und dass wir struktu-
rell noch nicht neu aufgestellt sind.
Das betrifft auf der einen Seite die Gemeinschaftsauf-
gabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küsten-
schutzes“ und auf der anderen Seite genauso die Ge-
meinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“, mit der in erster Linie die struktu-
rellen Unterschiede kompensiert werden sollen. Ziel ei-
ner Politik für die ländlichen Räume ist die Steigerung
der Wettbewerbsfähigkeit sowie der Erhalt und Ausbau
von Wirtschaftskraft. Das hat die Debatte hier ganz ein-
deutig gezeigt.
Die Mehrheit der Menschen in Deutschland lebt nicht
in Großstädten, sondern in ländlichen Regionen, die
ganz unterschiedlich sind. Auf der einen Seite gibt es
blühende Regionen, nämlich wenn sie sich in der Nähe
von Ballungsgebieten befinden. Auf der anderen Seite
gibt es aber auch Regionen mit schrumpfender Entwick-
lung. Ich komme aus Sachsen-Anhalt. Für den Norden
von Sachsen-Anhalt muss man das so konstatieren.
Durch unser Grundgesetz wird uns ein ganz klarer
Auftrag gegeben. Herr Minister Seehofer hat das vorhin
einleitend auch schon gesagt. Wir als Parlament sind
nämlich dafür zuständig, dass es für die Bürgerinnen und
Bürger in Deutschland gleichwertige Lebensbedingun-
gen gibt. Das ist eine Aufgabe, die wir annehmen und
auch anpacken müssen.
Meine Damen und Herren, im Haushalt 2008 haben
wir die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesse-
rung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ erhöht.
Wir haben hier auch Projekte für die Breitbandförde-
rung im ländlichen Raum aufgenommen. Jeder hat das
hier wohlwollend getan und gesagt: Wir haben in der
GAK etwas installiert, wofür unsere Förderung in der
Zukunft weitergehen muss.
Herr Seehofer, Sie haben in Ihrer Halbzeitbilanz an-
gekündigt, eine weitere Modernisierung und Stärkung
13908 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Waltraud Wolff
der GAK anzustreben. Wir als SPD haben das gerne auf-
genommen. Aufgrund der ELER-Verordnung, die wir
aus der EU bekommen haben, gilt es, besonders für die
Entwicklung der ländlichen Räume neue Wege zu be-
schreiten. Hier soll und muss es zu einer Öffnung kom-
men, sodass möglichst auch Kleinstunternehmen – ich
sage das für die Zuschauerinnen und Zuschauer: Das
sind Unternehmen, die weniger als zehn Beschäftigte ha-
ben – gefördert werden können. Diese Öffnung geht
über die Landwirtschaft hinaus.
Hier gilt es auch, die GAK in Deutschland zu ändern.
Wir müssen ganz eindeutig neue Schritte gehen. Aus
Sicht der SPD ist Ihnen hier noch einmal ganz deutlich
zu sagen: Wir unterstützen Sie, wenn es um eine Ände-
rung der GAK geht.
Wir haben in der heutigen Debatte aber auch schon ge-
hört, dass die Fraktion der CDU/CSU, unser Koalitions-
partner, in dieser Diskussion noch nicht so weit fortge-
schritten ist. Ich möchte Ihnen noch einmal versichern:
Es ist gut, wenn wir unseren Koalitionspartner dabei
auch auf der parlamentarischen Seite ins Boot bekom-
men.
– Sie müssen dann das Protokoll lesen.
Politik für die ländlichen Räume ist mehr als Agrar-
politik. Das ist sicherlich richtig. Aber genauso richtig
ist, dass gerade die Landwirtschaft und die Veredelungs-
wirtschaft viele ländliche Regionen prägen. Es freut
mich, dass der Situationsbericht des Deutschen Bauern-
verbandes, der am Dienstag dieser Woche vorgestellt
worden ist, diese positive Entwicklung aufnimmt. Die
Landwirte können zuversichtlich sein – das sagen der
Bauernverband und dessen Präsident, Herr Sonnleitner.
Das kann ich von hier aus nur unterstützen. Die Einkom-
men steigen, die Investitionen steigen und die Zukunfts-
erwartungen sind gut.
Die steigenden Preise für Agrarprodukte kommen bei
den Bauern an. Wenn wir uns noch einmal bezüglich des
Milchmarktes erinnern: Vor zwei Jahren war nie die
Rede davon, dass es einmal einen Literpreis von 40 Cent
geben könnte. Den haben die Milchbauern immer gefor-
dert. Heute ist er Realität geworden. Dieser Aufschwung
kommt bei den Menschen an, weil er ganz deutlich zeigt:
Die Agrargenossenschaften, die Betriebe vor Ort können
ordentlich verdienen.
Der Präsident des Deutschen Bauernverbandes, Gerd
Sonnleitner, hat bei der Vorstellung dieses Berichts das
umfassende Verbot des Verkaufs unter Einstandspreis
auf der Habenseite der Großen Koalition verbucht.
Damit ist es uns ganz ernst: Lebensmittel dürfen nicht
verramscht werden. Sie haben ihren Preis. Wenn jetzt
kurz vor Inkrafttreten der Gesetzesänderung die Butter
fast billiger als die Milch verkauft wird, dann muss ich
sagen: Das ist ein echter Affront.
Wir alle wollen gute Lebensmittel. Dafür sollen die Bau-
ern anständige Preise verlangen dürfen.
Jetzt muss ich ein wenig von meiner Rede weglassen,
weil mir meine Redezeit davonläuft.
Ich habe es vorhin schon gesagt: Die Entwicklung der
Landwirtschaft profitiert. Gleichzeitig wissen wir, dass
wir die Förderung der ländlichen Räume deutlich ver-
bessern müssen. Ein Schwerpunkt kann hier nur die
integrierte ländliche Entwicklung sein. Das ist auf-
wendig, aber es lohnt sich. Wir haben die Ergebnisse des
Wettbewerbs „Regionen aktiv“ vor Augen. Wir haben
darüber diskutiert. Alle 18 Modellprojekte haben davon
profitiert. Wichtig war, dass die einzelnen Regionen selber
Träger gewesen sind. Die Region selbst konnte festlegen,
konnte schauen, wo die Defizite sind, wo die bestehenden
Potenziale sind und was genutzt werden kann. Das hat
dieses Modellprojekt ausgezeichnet. Die Konsequenz
kann doch jetzt nur sein, dass wir dafür sorgen, dass dieser
Ansatz auch in der Regelförderung in der Zukunft mög-
lich wird.
Die Politik für ländliche Räume muss deutlich ge-
stärkt werden. Das muss sich auch im Haushalt wider-
spiegeln. Gerade in der Gemeinsamen Agrarpolitik der
Europäischen Union ist die Stärkung der zweiten Säule
unumgänglich. Modulation ja, Degression nein!
Es geht nicht darum, ob es große oder kleine Betriebe
sind oder ob große oder kleine Betriebe besser sind. Es
geht vielmehr darum, welche Leistungen ein Betrieb
vollbringt. Es geht sehr viel mehr darum, wie viele Mit-
arbeiter in einem Unternehmen angestellt und welche
Sozialstandards gewährleistet sind.
Die Kappung der Direktzahlung betrifft vor allem
Betriebe in den neuen Bundesländern. Die diskutierten
Kürzungssätze würden die deutsche Landwirtschaft mit
insgesamt 300 Millionen Euro belasten. Damit würden
wir knapp die Hälfte der Kürzungen in der gesamten EU
tragen müssen. 96 Prozent von diesen 5 700 Betrieben
sind in den neuen Bundesländern. Viele Arbeitsplätze in
ohnehin strukturschwachen Gebieten wären gefährdet.
Es kann doch nicht sein, dass wir gerade dort die Land-
wirtschaft schwächen, wo der größte Bedarf für die Stär-
kung der Entwicklung der ländlichen Räume besteht, was
auch von der EU in den Programmen festgeschrieben ist.
Da fragt man sich, wie man auf EU-Ebene so paradox
vorgehen kann.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13909
(C)
(D)
Waltraud Wolff
Dennoch ist das Ziel der Kommission richtig: weg von
der Marktintervention hin zur Stärkung der ländlichen
Räume. Landwirte wollen sich an den Märkten ausrichten.
Sie wollen die Marktchancen ergreifen. Gleichzeitig
müssen sie aber auch Herausforderungen wie den Klima-
wandel oder den Rückgang der Artenvielfalt bewältigen.
Die Landwirtschaft – damit komme ich zum Schluss,
Frau Präsidentin – trägt, wie wir wissen, zum Klima-
wandel bei. Gleichzeitig ist sie aber auch von den sich
ändernden klimatischen Bedingungen stark betroffen.
Sie kann darüber hinaus als Rohstoffproduzent von Ener-
gie aus Biomasse einen wichtigen Anteil für die Begren-
zung der Folgen des Klimawandels leisten.
Kommen Sie bitte zum Ende, Frau Kollegin.
Ich komme zum Ende. – Auf der anderen Seite trägt
eine nachhaltige und angepasste Landwirtschaft dazu
bei, dass wir auch später gerne in den ländlichen Regio-
nen leben wollen.
Lassen Sie uns diese Vision in die Wirklichkeit um-
setzen.
Frau Kollegin.
Folgen Sie unserem Antrag! Lassen Sie uns prospe-
rierende Wirtschaftsbereiche in den ländlichen Räumen
etablieren.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/5956, 16/4806 und 16/6643 an die
Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung auf-
geführt sind, wobei die Vorlage auf Drucksache 16/4806
federführend im Ausschuss für Wirtschaft und Techno-
logie und die Vorlage auf Drucksache 16/6643 feder-
führend im Ausschuss für Arbeit und Soziales beraten
werden sollen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist
der Fall. Dann ist so beschlossen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Fleisch-
gesetzes. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/7503, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 16/6964 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthal-
tungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
angenommen bei Zustimmung durch die Koalition und die
Linke und Gegenstimmen der FDP und Bündnis 90/Die
Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zu-
stimmen möchte, möge sich bitte erheben. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf an-
genommen bei gleichem Stimmverhältnis wie vorher.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
zu dem Agrarpolitischen Bericht 2007 der Bundesregie-
rung sowie dem Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen zu dem genannten Bericht. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/6864, den Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5599 in
Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung
auf Drucksache 16/4289 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthal-
tungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung angenom-
men gegen die Stimmen der antragstellenden Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Zustimmung des Hauses im
Übrigen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 39 a bis 39 g
sowie Zusatzpunkt 3 auf:
39 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen des Europarats vom 23. No-
vember 2001 über Computerkriminalität
– Drucksache 16/7218 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 24. April 2007 zwischen der Re-
gierung der Bundesrepublik Deutschland und
dem Schweizerischen Bundesrat über die Zu-
sammenarbeit im Bereich der Sicherheit des
Luftraums bei Bedrohungen durch zivile Luft-
fahrzeuge
– Drucksache 16/7219 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Steuerberatungsgesetzes
– Drucksache 16/7250 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
13910 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neure-
gelung des Grundstoffüberwachungsrechts
– Drucksache 16/7414 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Innenausschuss
Rechtsausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung seeverkehrsrechtlicher, verkehrsrechtli-
cher und anderer Vorschriften mit Bezug zum
Seerecht
– Drucksache 16/7415 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Innenausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth
Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Medizinische Verwendung von Cannabis er-
leichtern
– Drucksache 16/7285 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Rechtsausschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Den Ostseeraum zur Modellregion für regio-
nale Kooperationen ausbauen und den Baltic
Sea Action Plan zum Baustein einer Europäi-
schen Meerespolitik weiterentwikkeln
– Drucksache 16/7286 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-
Joachim Fuchtel, Eckart von Klaeden, Norbert
Barthle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Monika
Griefahn, Lothar Mark, Dirk Becker, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Erneuerbare Energien, wie Solarenergie, Geo-
thermie, Wind- und Wasserkraft, für die
Energieversorgung deutscher Einrichtungen
im Ausland einsetzen – Für Klimaschutz und
Nachhaltigkeit
– Drucksache 16/7489 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind sie damit einverstanden? – Dann ist so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 40 a bis 40 o so-
wie Zusatzpunkte 4 a bis k auf. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus-
sprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 40 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Strahlenschutzvor-
sorgegesetzes
– Drucksache 16/6232 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit
– Drucksache 16/7509 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Detlef Müller
Horst Meierhofer
Hans-Kurt Hill
Sylvia Kotting-Uhl
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/7509, den Gesetzentwurf der Bundes-
regierung auf Drucksache 16/6232 in der Ausschuss-
fassung anzunehmen. Diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf zustimmen wollen, heben bitte ihre Hand. – Die
Gegenstimmen! – Die Enthaltungen! – Damit ist der
Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zustimmung
durch die Koalitionsfraktionen und die FDP ohne
Gegenstimmen bei Enthaltung durch die Fraktionen
Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen wollen, mögen sich bitte erheben. –
Die Gegenstimmen! – Die Enthaltungen! – Damit ist der
Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem gleichen Er-
gebnis wie vorher angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung der Organisation des Bundes-
ausgleichsamtes
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13911
(C)
(D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
– Drucksache 16/7079 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts-
ausschusses
– Drucksache 16/7514 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Bernhard Brinkmann
Ulrike Flach
Roland Claus
Anja Hajduk
Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/7514, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/7079
anzunehmen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
men wollen, mögen bitte die Hand heben. – Die Gegen-
stimmen! – Die Enthaltungen! – Damit ist der Gesetzent-
wurf in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, der möge
sich bitte erheben. – Die Gegenstimmen! – Die Enthaltun-
gen! – Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit
dem gleichen Ergebnis wie vorher angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Europäi-
schen Parlaments und des Rates über gemein-
same Regeln für den grenzüberschreitenden
KOM 264 endg.; Ratsdok. 10102/07
– Drucksachen 16/5806 Nr. 11, 16/7071 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Patrick Döring
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-
tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Die Gegenprobe! – Die
Enthaltungen! – Damit ist die Beschlussempfehlung bei
Zustimmung durch Koalition, Bündnis 90/Die Grünen
und Linke ohne Gegenstimmen bei Stimmenthaltung der
FDP-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung zu der Unter-
richtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Europäi-
schen Parlaments und des Rates zur Festle-
gung gemeinsamer Regeln für die Zulassung
zum Beruf des Kraftverkehrsunternehmers
KOM 263 endg.; Ratsdok. 10114/07
– Drucksachen 16/5806 Nr. 12, 16/7072 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Patrick Döring
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-
tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Die Gegenstimmen! –
Die Enthaltungen! – Damit ist die Beschlussempfehlung
bei Zustimmung durch die Koalition ohne Gegenstim-
men bei Stimmenthaltung durch die Opposition ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 40 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Mitteilung der Kommission an den Rat, das
Europäische Parlament, den Europäischen
Wirtschafts- und Sozialausschuss und den
Ausschuss der Regionen
Ein Aktionsplan für Kapazität, Effizienz
und Sicherheit von Flughäfen in Europa
KOM 819 endg.; Ratsdok. 5886/07
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäi-
schen Parlaments und des Rates zu Flugha-
KOM 820 endg.; Ratsdok. 5887/07
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Bericht der Kommission über die Anwen-
dung der Richtlinie 96/67/EG des Rates vom
15. Oktober 1996
KOM 821 endg.; Ratsdok. 5894/07
– Drucksachen 16/4501 Nr. 2.43, 16/4501 Nr. 2.44,
16/4501 Nr. 2.46, 16/7169 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ingo Schmitt
Rainer Fornahl
Winfried Hermann
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-
tung eine Entschließung anzunehmen. Wer ist für diese
Beschlussempfehlung? – Die Gegenstimmen! – Die Ent-
haltungen! – Diese Beschlussempfehlung ist bei Zustim-
mung durch die Koalition im Großen und Ganzen bei
Gegenstimmen durch die Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen und bei Stimmenthaltung durch
die FDP-Fraktion angenommen.
13912 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Tagesordnungspunkt 40 f:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
gierung
Mitteilung der Kommission an das Europäi-
sche Parlament und den Rat
Organspende und -transplantation: Maßnah-
KOM 275 endg.; Ratsdok 9834/07
– Drucksachen 16/6389 Nr. 1.10, 16/7192 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Konrad Schily
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-
tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.
Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 40 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 317 zu Petitionen
– Drucksache 16/7349 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 40 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 318 zu Petitionen
– Drucksache 16/7350 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und FDP bei Enthaltung von Bünd-
nis 90/Die Grünen und Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 319 zu Petitionen
– Drucksache 16/7351 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 40 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 320 zu Petitionen
– Drucksache 16/7352 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung der
Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke
und ohne Enthaltungen angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 321 zu Petitionen
– Drucksache 16/7353 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung der
Fraktionen von CDU/CSU, SPD, Linke und Bündnis 90/
Die Grünen und Gegenstimmen der Fraktion der FDP
und ohne Enthaltungen angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 322 zu Petitionen
– Drucksache 16/7354 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung von
CDU/CSU, SPD und FDP und Gegenstimmen von
Bündnis 90/Die Grünen und Linke und ohne Enthaltun-
gen angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 323 zu Petitionen
– Drucksache 16/7355 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung von
CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen und Ge-
genstimmen von FDP und Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 40 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 324 zu Petitionen
– Drucksache 16/7356 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung von
CDU/CSU und SPD und Gegenstimmen von Bünd-
nis 90/Die Grünen und Linke und Enthaltung der FDP
angenommen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13913
(C)
(D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Tagesordnungspunkt 40 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 325 zu Petitionen
– Drucksache 16/7357 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung der
Koalition und Ablehnung der Opposition angenommen.
Zusatzpunkt 4 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 326 zu Petitionen
– Drucksache 16/7492 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-
nommen.
Zusatzpunkt 4 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 327 zu Petitionen
– Drucksache 167493 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-
nommen.
Zusatzpunkt 4 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 328 zu Petitionen
– Drucksache 167494 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung der
Koalition und der FDP und Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen
angenommen.
Zusatzpunkt 4 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 329 zu Petitionen
– Drucksache 167495 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-
nommen.
Zusatzpunkt 4 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 330 zu Petitionen
– Drucksache 167496 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung von
CDU/CSU, SPD, FDP und Linke und Gegenstimmen
von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 4 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 331 zu Petitionen
– Drucksache 167497 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung von
CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen und
Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und ohne Enthal-
tungen angenommen.
Zusatzpunkt 4 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 332 zu Petitionen
– Drucksache 16/7498 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch CDU/CSU, SPD, Linke, Bündnis 90/Die Grünen
und Gegenstimmen der Fraktion der FDP angenommen.
Zusatzpunkt 4 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 333 zu Petitionen
– Drucksache 16/7499 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch die CDU/CSU, SPD und FDP, bei Gegenstimmen
der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung von Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 4 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 334 zu Petitionen
– Drucksache 16/7500 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch CDU/CSU, SPD und FDP und bei Gegenstimmen
von Bündnis 90/Die Grünen und Linken angenommen.
Zusatzpunkt 4 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 335 zu Petitionen
– Drucksache 16/7501 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
13914 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
durch CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen und
bei Gegenstimmen von FDP und Linken angenommen.
Zusatzpunkt 4 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses
Sammelübersicht 336 zu Petitionen
– Drucksache 16/7502 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung
durch CDU/CSU und SPD und bei Gegenstimmen von
FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion ange-
nommen.
Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 5 a bis 5 h auf:
Wahlen zu Gremien
a) Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU
Wahl von Mitgliedern des Beirats bei der Bun-
desbeauftragten für die Unterlagen des Staats-
sicherheitsdienstes gemäß § 39 Abs. 1 des Stasi-
Unterlagen-Gesetzes
– Drucksache 16/7474 –
b) Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wahl von Mitgliedern des Verwaltungsrates
der Kreditanstalt für Wiederaufbau gemäß § 7
Abs. 1 Nr. 4 des Gesetzes über die Kreditan-
stalt für Wiederaufbau
– Drucksache 16/7475 –
c) Wahlvorschlag der Fraktion der SPD
Wahl von Mitgliedern des Gemeinsamen Aus-
schusses gemäß Artikel 53 a des Grundgeset-
zes
– Drucksache 16/7476 –
d) Wahlvorschlag der Fraktion der SPD
Wahl vom Deutschen Bundestag zu entsen-
dender Mitglieder des Ausschusses nach Arti-
– Drucksache 16/7477 –
e) Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU
Wahl eines vom Deutschen Bundestag zu ent-
sendenden Mitglieds des Beirats für Fragen
– Drucksache 16/7478 –
f) Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU
Wahl eines Mitglieds des Stiftungsrates der
– Drucksache 16/7479 –
g) Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU
Wahl eines Mitglieds des Verwaltungsrates bei
der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungs-
aufsicht
– Drucksache 16/7480 –
h) Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU
Wahl einer Schriftführerin gemäß § 3 der Ge-
schäftsordnung
– Drucksache 16/7481 –
Es handelt sich um Wahlvorschläge zur Nachbeset-
zung von Gremien.
Sind Sie damit einverstanden, dass wir darüber im
Block abstimmen? – Das ist der Fall.
Wer stimmt für die Wahlvorschläge? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Damit sind die Wahlvor-
schläge einstimmig angenommen.
Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Konsequenzen der Bundesregierung aus der
Studie über erhöhte Krebsrisiken in der Um-
gebung von Atomanlagen
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Hans-Josef Fell für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ärzte, die in der Umgebung von Kern-
reaktoren praktizieren, geben schon seit Jahrzehnten
Hinweise darauf, dass es einen Zusammenhang zwi-
schen Radioaktivität und Zunahmen von Erkrankungen
geben könnte. Es ist andererseits eindeutige Erkenntnis
der Wissenschaft, dass Radioaktivität bereits vorgeburt-
lich Missbildungen und Krebs auslösen kann, Letzteres
auch im frühkindlichen Stadium.
Seit Jahrzehnten streiten sich Wissenschaftler da-
rüber, wie hoch die Gefahr für eine Erkrankung beson-
ders im Bereich der niedrigen radioaktiven Strahlung
ist. Tatsache ist, dass die radioaktive Belastung in der
Umgebung von Kernreaktoren geringfügig höher ist als
die natürliche radioaktive Strahlung. Zudem ist die Art
der radioaktiven Strahlung, die aus den Schornsteinen
der Kernreaktoren kommt, eine ganz andere als die der
natürlichen. Aus Atomkraftwerken entweichen gasför-
mige Radionuklide. Darunter befinden sich auch die
besonders gefährlichen Spaltprodukte aus der Kern-
spaltung und deren Zerfallsprodukte, die übrigens auch
über Abwasserrohre in die Gewässer gelangen.
Ich weiß genau, worüber ich hier spreche: Mir wurde
dieser Sachverhalt innerhalb meines Physikstudiums und
in meiner Ausbildung als Strahlenschutzexperte bei der
Gesellschaft für Strahlenforschung in München gelehrt.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13915
(C)
(D)
Hans-Josef Fell
Mit jedem Regen werden diese aus den Schornsteinen
der Atomkraftwerke kommenden Radionuklide als soge-
nannter Fallout ausgewaschen. Sie erhöhen damit die
Strahlung in der Umgebung. Ich persönlich messe dies
kontinuierlich mit meiner privaten Radioaktivitätsmess-
station in der Nähe des Kernkraftwerks Grafenrheinfeld.
Über die Atmung und über die Nahrung werden die
radioaktiven Partikel in den Körper aufgenommen, wo
sie ihre gesundheitsgefährdende Wirkung entfalten kön-
nen. Über den exakten Wirkungsmechanismus dieser in-
korporierten, höchst unterschiedlichen radioaktiven
Spaltprodukte weiß die Wissenschaft zu wenig. Kriti-
sche Wissenschaftler warnen seit Jahrzehnten, dass die
krankmachenden Wirkungen wesentlich höher sind, als
nach den radiologischen Lehrbüchern zu erwarten wäre.
Nun hat die vorliegende Leukämiestudie erstmals zwei-
felsfrei nachgewiesen, dass für Kinder unter fünf Jahren,
die in der Nähe von Kernreaktoren aufwachsen, das Ri-
siko, an Leukämie zu erkranken, wesentlich höher ist als
bisher angenommen.
Die besondere und wissenschaftlich bisher einzigar-
tige Qualität dieser Studie ist, dass alle anderen bekann-
ten Leukämierisiken ausgeschlossen werden können.
Diese nachgewiesenen Risiken sind nicht unerheblich.
In einem Radius von bis zu 5 Kilometern um die Kernre-
aktoren gibt es 19 Leukämiefälle mehr, als im statisti-
schen Mittel ohne Kernreaktoren zu erwarten gewesen
wären.
Die Datenlage der Studie weist im 50-Kilometer-Radius
sogar bis zu 275 zusätzliche Krebsneuerkrankungen aus –
Hunderte von Einzelschicksalen, die in jeder betroffenen
Familie eine Tragödie auslösen.
Falsch ist die Interpretation, es gebe keinen Zusam-
menhang zwischen kindlicher Leukämie und der Radio-
aktivität in der Umgebung von Kernreaktoren. Nur der
Wirkungszusammenhang ist nicht ausreichend bekannt.
Genau dies muss aber nun Gegenstand weiterer Untersu-
chungen sein.
Die Ergebnisse der Studie müssen zu Konsequenzen
führen:
Erstens. Der bisher in der Wissenschaft angenommene
Wirkungszusammenhang zwischen niedriger radioaktiver
Strahlung und Krebserkrankungen muss wissenschaftlich
neu bewertet und an die Erkenntnisse dieser Studie ange-
passt werden.
Zweitens. Hinweise von Medizinern und Wissen-
schaftlern zeigen, dass auch eine erhöhte Missbildungs-
rate sowie erhöhte Krebsgefahren bei Erwachsenen, die
in der Umgebung von Kraftwerken leben, vorhanden
sein dürften. Dies muss in neuen Studien genauer er-
forscht werden.
Drittens. Ein vorsorgender Gesundheitsschutz erfor-
dert auch entsprechendes Handeln. Die nachgewiesenen
erhöhten Krebsraten in der Umgebung von Kernreakto-
ren müssen vorsorglich dazu führen, dass die Emission
von Spaltprodukten und anderer Radioaktivität aus den
laufenden Kernreaktoren beendet wird.
Wollen die Betreiber von Kernreaktoren diese weiterbe-
treiben, dann müssen sie Wege finden, die radioaktiven
Emissionen aus den Schornsteinen ihrer Kernreaktoren
vollständig zu stoppen.
Viertens. Da die Atomenergie eine Fülle weiterer Ge-
fahren wie erhöhte Terroranfälligkeit, Sicherheitspro-
bleme und anderes birgt, müssen zunächst die störanfäl-
ligen älteren Reaktoren stillgelegt werden.
Fünftens. Im Sinne des Verursacherprinzips müssen
die Reaktorbetreiber nachweisen, dass die nachgewie-
sene erhöhte Zahl von Krebsfällen nicht durch den lau-
fenden Betrieb der Kernreaktoren verursacht wird. Soll-
ten sie diesen Nachweis nicht erbringen, müssen sie
aufgefordert werden, die Kernreaktoren stillzulegen;
eine Stromversorgung aus erneuerbaren Energien – diese
sind radioaktivitätsfrei – wird als Ersatz leicht möglich
sein.
Die Gesundheit unserer Kinder sollte uns dies alles
wirklich wert sein.
Ich danke Ihnen.
Der Kollege Dr. Georg Nüßlein hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine
Herren! Jedes Kind, das an Krebs erkrankt, ist ein Kind
zu viel. Niemand kann und darf darum ein Interesse ha-
ben, die Studie, über die wir hier diskutieren, zu relati-
vieren; im Gegenteil: Offene Fragen sind zu klären.
In der Tat liefert die Studie ein Ergebnis, aber, Herr
Kollege Fell, keine Erklärung dazu. Das Ergebnis lautet
– ich sage es jetzt präziser, als Sie als Physiklehrer das
getan haben –: In einer 5-Kilometer-Zone um Kernkraft-
werke erkranken pro Jahr bundesweit durchschnittlich
1,2 Kinder unter fünf Jahren mehr an Krebs als in einer
zufällig ausgewählten Kontrollgruppe. Das ist das prä-
zise statistische Ergebnis dieser Studie.
Die Einzelschicksale, die dahinterstehen – circa ein
erkranktes Kind pro Jahr im Bundesgebiet –, halten mich
davon ab, von statistischem Grundrauschen zu sprechen.
13916 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Dr. Georg Nüßlein
Außerdem will ich, wie gesagt, nicht das Ergebnis relati-
vieren. Die Studie ist hinsichtlich der Modellannahmen
in keiner Weise statistisch in Zweifel zu ziehen. Das Er-
gebnis ist statistisch signifikant; das heißt, der Zusam-
menhang ist mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von
weniger als 5 Prozent richtig.
Die Art und Weise, wie Herr Fell gerade die Debatte
eröffnet hat, ist ein weiterer Beleg dafür, dass sich viele
mühen, politische Schlussfolgerungen aus dieser Studie
zu ziehen. Das in seriöser Weise zu tun, ist zumindest
zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich. Die Studie belegt
nämlich – auch wenn Sie, Herr Fell, etwas anderes be-
haupten – überhaupt keine Ursachen.
Dazu die KiKK-Studie wörtlich:
Obwohl frühere Ergebnisse mit der aktuellen Studie
reproduziert werden konnten, kann aufgrund des
aktuellen strahlenbiologischen und -epidemiologi-
schen Wissens die von deutschen Kernkraftwerken
im Normalbetrieb emittierte ionisierende Strahlung
grundsätzlich nicht als Ursache interpretiert wer-
den.
Soweit die zusammenfassende Schlussfolgerung. Im
nächsten Satz wird sogar darauf hingewiesen, dass Zu-
fall bei dem beobachteten Abstandstrend eine Rolle spie-
len könnte.
Das Deutsche Kinderkrebsregister verlautbart in einer
Presseerklärung vom 12. Dezember 2007 entsprechend:
So kommt nach dem heutigen Wissensstand Strah-
lung, die von Kernkraftwerken im Normalbetrieb
ausgeht, als Ursache für die beobachtete Risikoer-
höhung nicht in Betracht. Denkbar wäre, dass bis
jetzt noch unbekannte Faktoren beteiligt sind oder
dass es sich doch um Zufall handelt.
So sieht das übrigens auch der zuständige Abteilungs-
leiter beim Bundesamt für Strahlenschutz, Thomas Jung,
während sich sein Chef Wolfram König – er ist hier im
Hause bekannt –
alle Mühe gibt, einen anderen Eindruck zu erwecken. Er
wird folgendermaßen zitiert: „Es gibt Hinweise, aber
keine Beweise.“
Ich sage: Es gibt Forschungsbedarf, sonst gar nichts.
Wie ich in meinen Gesprächen mit Experten erfahren
habe, sollte man im Zusammenhang mit Leukämie Fol-
gendes beachten:
Erstens. Es gibt andere Leukämie-Cluster, das heißt
regional-zeitliche Häufungen von Leukämien an Orten
ohne Kernkraftwerke.
Zweitens. In der Wissenschaft wird über demografi-
sche Einflussfaktoren geforscht.
Drittens. Es soll immunologische Faktoren geben, die
eine Rolle spielen.
Viertens. Es könnte auch andere Zusammenhänge ge-
ben, die gerade an Kernkraftstandorten eine Rolle spie-
len und die man vielleicht anhand eines Vergleichs mit
anderen Clustern identifizieren kann.
Jedenfalls herrscht hier Klärungsbedarf. Darüber hinaus
taugt der Zwischenbericht – Herr Fell, ich sage Ihnen das
ausdrücklich – nicht für Politik. Ich sage das an die Adresse
der Grünen und gehe dabei nicht einmal so weit wie Herr
Jung vom Bundesamt für Strahlenschutz – ich habe ihn ge-
rade zitiert –, der meint, im Straßenverkehr oder durch das
Passivrauchen seien Kinder ungleich größeren Risiken aus-
gesetzt.
Die Union macht jedenfalls keine Politik mit den
Ängsten von Eltern.
Deshalb kann ich mir eine Anmerkung an dieser Stelle
– bei aller Sachlichkeit – beim besten Willen nicht ver-
kneifen. Meine Damen und Herren von den Grünen, Sie
waren sieben Jahre in der Regierung. Wenn Sie schon
immer mehr als die Wissenschaft gewusst haben – Herr
Fell hat gerade wieder gezeigt, dass er mehr als die Wis-
senschaft weiß –, wenn die Risiken aus Ihrer Sicht wirk-
lich so enorm und so unverantwortbar sind, warum ha-
ben Sie dann in sieben Jahren Regierungszeit den immer
propagierten sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie
nicht durchgesetzt?
Warum haben Sie den Atomausstieg aufgegeben? Das
sollte der nächste Redner aus Ihren Reihen einmal be-
gründen.
Das ist nämlich für uns eine politisch hochspannende
Frage.
Vielen herzlichen Dank.
Die Kollegin Angelika Brunkhorst spricht jetzt für die
FDP-Fraktion.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13917
(C)
(D)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ein Kind an Krebs erkrankt, dann ist das immer eine
Katastrophe, für das Kind selbst, für die Familie, das Um-
feld und die Freunde. Umso mehr freue ich mich, dass die
Krebsforschung in Deutschland und weltweit sehr große
wissenschaftliche Fortschritte gemacht hat und dass es
insbesondere bei Leukämie bei Kindern mittlerweile sehr
gute Heilungschancen gibt.
Den Heilungschancen stehen natürlich die vielen of-
fenen Fragen bei der Ursachenforschung gegenüber. Die
britische Forscherin Claire Gilham veröffentlichte 2005
zu diesem Thema eine Studie, aus der hervorging, dass
Kinder, die bereits in den ersten Lebensmonaten Kinder-
tagesstätten besuchten oder häufig andere Kontakte so-
zialer Art hatten, seltener an Leukämie erkrankten. An-
dere Theorien gehen davon aus, dass genetische
Ursachen für das Vorkommen von Leukämie mit eine
Rolle spielen könnten, oder sie führen diese Erkrankun-
gen auf virale Infektionen zurück. Immerhin ist es heute
bei 85 Prozent der Fälle nicht möglich, die wirklichen
Ursachen einer Leukämie festzustellen. So viel erst ein-
mal vorab.
Hingegen kommt – das haben die Verfasser der
KiKK-Studie ganz deutlich gesagt – nach heutigem Wis-
sensstand nicht allein die Strahlung von Kernkraftwer-
ken im Normalbetrieb als Ursache für die beobachtete
erhöhte Erkrankungszahl im 5-Kilometer-Umkreis in-
frage.
An Standorten, an denen man zum Beispiel Kernkraft-
werke geplant, sie aber letztendlich doch nicht gebaut
hat, gibt es genauso viele Erkrankungen wie an Standor-
ten, an denen heute Kernkraftwerke in Betrieb sind.
Die Wissenschaftler, die am Deutschen Krebsregister
tätig sind, rufen meinen großen Respekt hervor. Wir
müssen ihnen ihre Arbeit hoch anrechnen, insbesondere
vor dem Hintergrund, dass sie bei der Erstellung dieser
Studie mit gravierenden Schwierigkeiten zu kämpfen
hatten. Zunächst einmal war die Bereitschaft von Fa-
milien, die innerhalb des 5-Kilometer-Umkreises von
Kernkraftwerken wohnen, nicht besonders hoch, über-
haupt die Fragebögen auszufüllen und Interviews zu füh-
ren. Also war die Fallzahl sehr gering. Dann mussten
sich die Forscher bei der Erarbeitung der Studienkonzep-
tion mit einem sogenannten Expertengremium des BfS
auseinandersetzen, welches vorrangig mit Vertretern
atomkritischer NGOs besetzt war. Für eine wissenschaft-
liche Studie ist das eine ungewöhnlich einseitige Kon-
stellation. Das möchte ich hier auf jeden Fall einmal
feststellen.
Schließlich möchte ich an dieser Stelle noch auf ein
weiteres aktuelles Ereignis hinweisen. In der Berliner
Morgenpost von heute steht, dass die Leiterin der Unter-
suchungskommission vom BfS noch nicht einmal einge-
laden wurde, als die Studie veröffentlicht wurde.
Da gibt es scheinbar irgendwelche Dissonanzen. Ich
kann es mir nicht anders erklären. Oder sind die Ergeb-
nisse nicht so, wie man sie sich vorgestellt hat?
Die Studie an sich weist also mehrere Schwierigkei-
ten auf:
Die geringe Fallzahl hatte ich eben schon genannt.
Die Autoren der KiKK-Studie sagen in Bezug darauf,
dass die daraus überhaupt abzuleitenden Risikobewer-
tungen mit sehr großen Unsicherheiten behaftet sind,
und das nicht nur an einer Stelle; an vielen Stellen wer-
den hierfür unterschiedlich hergeleitete Begründungen
geliefert. Allein dann, wenn man die Zusammenfassung
liest, fällt einem das auf.
Jeder, der sich schon einmal mit empirischer Sozial-
forschung befasst hat, weiß, dass Studien mit einer rela-
tiv kleinen mathematischen Zahlenbasis immer sehr
große Ungewissheiten hervorrufen. Es stellt sich zum ei-
nen die Frage, ob die Ergebnisse überhaupt auf kausale
Zusammenhänge zurückzuführen sind, zum anderen, ob
die wissenschaftlichen mathematischen Methoden nicht
an ihre Grenzen stoßen, wenn man es mit ganz kleinen
Fallzahlen zu tun hat.
Ich glaube, bei allem, was die Studie ergeben hat oder
auch nicht, ist es jetzt entscheidend, den Blick nach
vorne zu werfen. Der Vorsitzende der Strahlenschutz-
kommission, Professor Dr. Wolfgang-Ulrich Müller, hat
darauf hingewiesen, dass die dokumentierten Leukämie-
fälle sicherlich weitere Ursachen haben als nur die Strah-
lung. Man darf also nicht allein bei der Strahlung mono-
kausal eine Erklärung für die Leukämiefälle suchen. Ich
denke, wir müssen – das hat auch der Vorredner schon
gesagt – anstreben, dass weitergehende Untersuchungen
vorgenommen werden, die auch andere mögliche Umge-
bungsursachen in den Blick nehmen.
Zum Schluss möchte ich an meine Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen appellieren: Sind Sie eigent-
lich im Bilde, dass diese Debatte – ich denke nur an Ihre
Bestürzungsreaktionen, Herr Fell – so kurz vor Weih-
nachten bei vielen Familien ein starkes Unwohlsein her-
vorrufen wird?
– Frau Künast, seien Sie bitte einmal ganz ruhig! – Ich
unterstelle Ihnen in der Tat, dass es Ihnen darum ging,
die Atomdebatte möglichst lange am Kochen zu halten.
13918 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Angelika Brunkhorst
In der Studie werden keine sofortigen Handlungen ge-
fordert.
Darüber hätten wir mit der nötigen Sorgfalt gut und
gerne auch im nächsten Jahr debattieren können.
Es wäre auf jeden Fall sozialverträglicher gewesen.
Schönen Dank.
Der Kollege Christoph Pries spricht jetzt für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Bevor ich zum Anlass der Aktuellen Stunde
komme, möchte ich eine persönliche Anmerkung ma-
chen. Wir sprechen heute über Krebs – vor allem über
Leukämie – bei Kleinkindern. Trotz deutlich verbesser-
ter Heilungschancen ist diese Diagnose eine Horrorvor-
stellung für jeden, der selbst Kinder hat. Wir alle sollten
dies in der Hitze der politischen Diskussion nicht verges-
sen. Das gebietet der Respekt vor den Betroffenen.
Als am vergangenen Samstag die ersten Informatio-
nen über die Studie „Kinderkrebs in der Umgebung von
Kernkraftwerken“ bekannt wurden, waren die Reaktio-
nen leicht vorhersehbar: Aufschrei bei den Grünen, Ab-
wiegeln bei Union und FDP. Liebe Kollegin Brunkhorst,
die Diskussion über die Ergebnisse einer soliden wissen-
schaftlichen Studie als irrational und schäbig zu bezeich-
nen, nur weil einem diese Ergebnisse nicht passen, halte
ich für unangemessen.
„Schäbig“ wäre wahrscheinlich Ihre Wortwahl.
Auch der Eindruck von Kollegin Reiche, die Untersu-
chung solle Antipathien gegen die Kernenergie schüren,
halte ich für ziemlich deplatziert.
Ich habe bei der Durchsicht der Studie nicht einen Beleg
für Ihre absurde Verschwörungstheorie gefunden.
Kommen wir zu den Grünen. Der Kollege Fell titelte
bereits vor der offiziellen Veröffentlichung der Studie:
„Atomenergie gefährdet Kindergesundheit“. Weiter
heißt es, Atomkraftwerke seien verantwortlich für das
Leid vieler Kinder. Lieber Kollege Fell, hätten Sie die-
sen Satz im Zusammenhang mit der Reaktorkatastrophe
von Tschernobyl geschrieben, würde ich Ihnen zustim-
men. Aber im Zusammenhang mit der vorliegenden Stu-
die zu diesem Vokabular zu greifen, finde ich einfach
abenteuerlich. Hysterie, Herr Fell, bringt uns keinen
Millimeter weiter.
Was uns vorliegt, ist eine wissenschaftliche Untersu-
chung mit einem Ergebnis, aber ohne eine Erklärung. Wir
haben ein statistisches Ergebnis. Es besagt, dass die Wahr-
scheinlichkeit von Krebserkrankungen bei Kleinkindern,
die im Umkreis von 5 Kilometern von Atomkraftwerken le-
ben, signifikant erhöht ist. Das ist besorgniserregend.
Gleichzeitig wurde ein direkter Zusammenhang zwischen
den Erkrankungen und der Strahlenbelastung von den Au-
toren weder untersucht noch hergestellt. Einige Experten
unterstützen die Meinung, es gebe keine Anzeichen für ei-
nen Zusammenhang, andere sind der Auffassung, dieser
Zusammenhang könne nicht ausgeschlossen werden.
Um dieses Dilemma aufzulösen, müssen wir auf der
Grundlage der vorliegenden Studie weitere Untersu-
chungen durchführen. Wir sind deshalb der Auffassung,
dass die Entscheidung von Bundesumweltminister
Gabriel richtig ist, die Studie von der Strahlenschutz-
kommission umfassend bewerten zu lassen. Im Gegen-
satz dazu ist es wenig hilfreich, die Untersuchung als
Steinbruch zu benutzen.
Ein schönes Beispiel dafür war am Dienstag in der
atomkraftfreundlichen Frankfurter Allgemeinen Zeitung
zu lesen. Dort wurde in einem Artikel aus der Zusammen-
fassung der Studie zitiert: Die Häufung von Leukämiefäl-
len in der Region um das Atomkraftwerk Krümmel, vom
Autor als Zufall dargestellt, habe die Untersuchung am
stärksten beeinflusst. Weggelassen hat der Redakteur al-
lerdings, dass im zitierten Absatz von den Wissenschaft-
lern eindeutig klargestellt wird:
Die Auslassung jeweils einer einzelnen Kernkraft-
werksregion ergab keinen Hinweis darauf, dass das
Ergebnis nur von einer einzelnen Region abhängig
ist.
Dieser kleine, aber entscheidende Unterschied muss dem
Redakteur wohl entgangen sein. Ein Schelm, wer Böses
vermutet.
Ich möchte abschließend zusammenfassen. Das Er-
gebnis der Studie gibt Anlass zur Sorge. Was wir jetzt
brauchen, ist eine sachliche Bewertung – insbesondere
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13919
(C)
(D)
Christoph Pries
mit Blick auf den möglichen Ursachenzusammenhang
zwischen Wohnortnähe zum Atomkraftwerk und Krebs-
risiko. Erst nach Abschluss dieser Prüfungen kann über
das weitere Vorgehen entschieden werden.
Die SPD-Bundestagsfraktion plädiert weiterhin für
eine Übertragung von Reststrommengen von älteren auf
neuere Atomkraftwerke. Die Gründe dafür sind bekannt:
Ältere Atomkraftwerke sind störanfälliger. Ältere Atom-
kraftwerke bieten weniger Schutz bei Unfällen und Ter-
roranschlägen. Ältere Atomkraftwerke sind nach unserer
Auffassung trotz Nachrüstungen weniger sicher als neuere
Anlagen. Die Versorgungssicherheit würde durch eine
Abschaltung der Uraltmeiler nicht gefährdet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die SPD-Bundes-
tagsfraktion ist die Atomenergie eine Risikotechnologie,
die wir für nicht mehr zeitgemäß halten.
Die vorliegende Studie bestärkt uns in dieser Position.
Der Atomausstieg ist und bleibt die richtige Entschei-
dung.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Der Kollege Hans-Kurt Hill spricht jetzt für die
Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kinder, die in der Nähe von Atomkraftwerken leben, er-
kranken doppelt so häufig an Krebs wie Kinder im übri-
gen Bundesgebiet. Das ist das erschreckende Ergebnis
einer Studie des Bundesamtes für Strahlenschutz. Die
Zahlen dieser Untersuchung sind außergewöhnlich gut
belegt. Frau Brunkhorst und Herr Nüßlein, an dieser Er-
kenntnis ist nicht zu rütteln. Die Untersuchung zeigt
zwar nicht direkt auf, warum das Leukämierisiko so
hoch ist. Der Zusammenhang zwischen erhöhter Krebs-
gefahr für Kinder und der Nähe des Wohnortes zu einem
Atomkraftwerk ist aber methodisch nachgewiesen.
Daraus ergeben sich zwei Schlussfolgerungen, Herr
Nüßlein: Erstens. Dies ist ein Zufall – was wohl kaum
anzunehmen ist. Zweitens. Das Wohnen in der Nähe von
Atommeilern verursacht ein erhöhtes Krebsrisiko.
Deshalb ist es jetzt unsere Aufgabe, die Aufgabe ver-
antwortlicher Politiker, umgehend Konsequenzen zu zie-
hen. Wir müssen folgende Fragen neu bewerten: Sind
die bisherigen gesetzlichen Grenzwerte noch haltbar?
Welche Fakten in der Nähe von Atomkraftwerken müs-
sen beachtet und bewertet werden? Welche Rolle spielen
niedrige Strahlenwerte über einen längeren Zeitraum?
Wurden Faktoren beim Normalbetrieb von Atomkraftwer-
ken übersehen? Welche Auswirkung haben die Erkennt-
nisse auf die Zwischenlagerung und die geplante Endla-
gerung hochradioaktiver Stoffe?
Ist unter diesen Umständen der Weiterbetrieb solcher
Atomanlagen überhaupt noch zu verantworten?
Ich warne an dieser Stelle allerdings vor zwei Dingen:
Erstens. Die Leukämiekranken sind keine statisti-
schen Opfer. Der Zusammenhang zwischen Atomkraft
und Krebs ist bedrückend und real. Wer die Ergebnisse
der Studie relativiert, nimmt die Leukämieopfer billi-
gend in Kauf.
Zweitens. Das Unterschreiten gesetzlicher Grenz-
werte kann die Gefahr nicht herabsetzen; denn die Er-
kenntnis der Studie ist: Wir wissen immer noch viel zu
wenig über die Gefährlichkeit radioaktiver Strahlung
insbesondere aus spaltbaren Materialien.
Geradezu unverantwortlich ist es, wenn jetzt behaup-
tet wird, da die Grenzwerte nicht überschritten würden,
gebe es keinen Zusammenhang zu den benachbarten
Atomkraftwerken. Jetzt zu behaupten, die Studie liefere
keine neuen Erkenntnisse, wie es Frau Kollegin Reiche
von der CDU/CSU gleichlautend mit der Atomlobby be-
hauptet, ist geradezu zynisch.
Unsere Aufgabe ist es, den Sachverhalt ernst zu neh-
men, um jegliche Gefährdung von der Bevölkerung ab-
zuwenden.
Dazu stellt die Linke drei Forderungen auf:
Erstens. Der zuständige Umweltminister Gabriel wird
gebeten, in der ersten Januarsitzung des Umweltaus-
schusses eine umfassende Erklärung darüber abzugeben,
welche Konsequenzen die Bundesregierung aus den Er-
kenntnissen ziehen wird und was die nächsten Schritte
sind.
Zweitens. Besorgte Anwohnerinnen und Anwohner
von Atomanlagen müssen detailliert über die Situation
informiert werden.
13920 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Hans-Kurt Hill
Sie müssen die Möglichkeit erhalten, Daten über ihren
individuellen Strahlenwert zu bekommen. Es ist heute
ohne Probleme möglich, Privatpersonen mit einem per-
sönlichen Strahlenmessgerät auszustatten.
Für jede Person, die das möchte, könnte ein elektroni-
sches Strahlenregister geführt werden. Herr Fell hat das
eben schon ausgeführt.
Drittens und letztens: Die Atomanlagen müssen ihren
Betrieb in Deutschland schnellstmöglich einstellen. Das
verlangen das Vorsorgeprinzip und das Prinzip der Ge-
fahrenabwehr.
Vielen Dank.
Die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth spricht jetzt für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
den vergangenen Jahren wurde immer wieder der Verdacht
geäußert, dass Kinder, die in der Nähe von Kernkraftwer-
ken leben, häufiger an Krebs erkranken. Deshalb hat das
Bundesumweltministerium über das Bundesamt für
Strahlenschutz die sogenannte KiKK-Studie, die Epide-
miologische Studie zu Kinderkrebs in der Umgebung
von Kernkraftwerken, beim Deutschen Kinderkrebs-
register an der Universität Mainz in Auftrag gegeben.
Die Wissenschaftler verglichen Daten von an Krebs er-
krankten Kindern unter fünf Jahren aus dem Zeitraum
1980 bis 2003, die zum Zeitpunkt ihrer Erkrankung in
einem Umkreis von maximal 5 Kilometern zu einem von
16 Kernkraftwerken lebten, mit den Daten ihrer gesun-
den Altersgenossen aus derselben Region.
Die KiKK-Studie hat gezeigt, dass es zwischen der
Nähe der Wohnung zu einem Kernkraftwerk und der
Häufigkeit, mit der Kinder vor ihrem fünften Geburtstag
an Krebs, insbesondere an Leukämie, erkranken, einen
Zusammenhang gibt. Für den Untersuchungszeitraum
wurde ermittelt, dass 37 Kinder neu an Leukämie erkrankt
sind, obwohl statistisch nur 17 Neuerkrankungen zu er-
warten gewesen wären. Die Forscher betonen allerdings,
dass Strahlung von Kernkraftwerken im Normalbetrieb
nach heutigem Wissen als Ursache für die beobachtete Ri-
sikoerhöhung nicht in Betracht kommt. Es handelt sich
vielmehr um eine rein mathematisch-statistische Erhe-
bung, die im Ergebnis leider keine Erkenntnisse über die
Ursache der Krebserkrankung bei Kindern liefert. Diese
Fragestellung ist im Forschungsauftrag des BMU, das
damals unter der Leitung von Jürgen Trittin stand, nicht
enthalten.
Die Direktorin des Instituts für Medizinische Biometrie,
Epidemiologie und Informatik an der Universität Mainz,
Professor Maria Blettner, stellt als Mitautorin der KiKK-
Studie fest – ich zitiere –:
Leider erlaubt die KiKK-Studie keine Aussage da-
rüber, wodurch sich die beobachtete Erhöhung der
Anzahl von Kinderkrebsfällen in der Umgebung
deutscher Kernkraftwerke erklären lässt. Denkbar
wäre, dass bis jetzt noch unbekannte Faktoren be-
teiligt sind oder dass es sich doch um einen Zufall
handelt.
Auch Bundesumweltminister Gabriel betont, dass die
Strahlenbelastung der Bevölkerung in der Umgebung
von Kernkraftwerken durch den Betrieb um mindestens
das Tausendfache erhöht sein müsste, um strahlenbiolo-
gisch den Anstieg des Krebsrisikos erklären zu können.
Die Unionsfraktion im Deutschen Bundestag unter-
stützt das Vorgehen des Bundesumweltministers, der die
Strahlenschutzkommission, SSK, mit der Bewertung der
Ergebnisse und der Behandlung der Frage eines mögli-
chen Ursachenzusammenhangs beauftragt hat; denn Poli-
tik muss die Ängste der Bevölkerung, insbesondere der
Eltern, ernst nehmen. Deshalb müssen wir die Ergebnisse
dieser Studie fundiert beleuchten.
Der Hinweis von Professor Wolfgang-Ulrich Müller
vom Institut für Medizinische Strahlenbiologie des Essener
Universitätsklinikums, der zugleich Vorsitzender der SSK
ist, dass auch noch andere Ursachen als die Strahlung
vor dem Hintergrund der KiKK-Studie zu untersuchen
sind, ist sicher richtig. Denn noch immer ist die Entste-
hung von Leukämie, die inzwischen Gott sei Dank in
vielen Fällen heilbar ist, überhaupt noch nicht klar. Mög-
licherweise spielen neben einer genetischen Disposition
auch noch andere Umweltbelastungen eine Rolle. For-
schungen in dieser Richtung sind wichtig, um das Krebs-
risiko von Kindern generell zu senken.
Die Unionsfraktion begrüßt ferner, dass auch die
Bundesländer, in denen Kernkraftwerke betrieben wer-
den, wie mein Heimatland Niedersachsen, unmittelbar
nach Bekanntgabe der Studie die sorgfältige Prüfung der
Ergebnisse zugesagt haben. Das Niedersächsische Lan-
desgesundheitsamt wird dabei vom Radiologischen
Lagezentrum des Niedersächsischen Landesbetriebes für
Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz unterstützt,
das das Expertenwissen für Strahlenschutz mit einer
gerade erst verbreiterten Personalbasis zusammenfasst.
Herr Fell, dabei wird man auch auf Messergebnisse des
Reaktorfernüberwachungssystems zurückgreifen können.
Das ist ein wichtiges Instrument zur kontinuierlichen
Kontrolle der Radioaktivität in der Umwelt.
Unverantwortlich ist es aber, die Ängste der Men-
schen für eigene politische Zwecke zu missbrauchen.
Wenn sich der Spitzenkandidat der niedersächsischen
SPD im Landtagswahlkampf die populistische Forderung
der Linken, alle Kernkraftwerke in Deutschland sofort
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13921
(C)
(D)
Dr. Maria Flachsbarth
abzuschalten, zu eigen macht, dann ist das höchst verant-
wortungslos und zudem billigste Polemik.
Wer die Ergebnisse einer solchen Studie für Wahlkampf-
zwecke instrumentalisiert, der geht zynisch mit der
Angst von Eltern um und disqualifiziert sich selbst für
jegliche höheren Ämter.
Als ehemaliger Landesumweltminister weiß Herr
Jüttner natürlich, was seine Forderung nach sofortiger
Abschaltung aller Kernkraftwerke zur Folge hätte: Sein
Parteifreund Sigmar Gabriel, der Bundesumweltminister,
müsste umgehend die Betriebsgenehmigung aller Kern-
kraftwerke in Deutschland widerrufen. Aus Gründen der
Rechtsstaatlichkeit tut Minister Gabriel das natürlich
nicht, sondern er mahnt stattdessen zu Besonnenheit. Er
hat zugesagt, das BMU werde nach Vorliegen der Ergeb-
nisse der Prüfung der SSK über das weitere Vorgehen
entscheiden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich fordere Sie ein-
dringlich auf, diese Haltung des Bundesumweltministers
zu unterstützen und in dieser schwierigen Frage mit der
notwendigen Ernsthaftigkeit zu agieren.
Vielen Dank.
Jetzt spricht die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl für
Bündnis 90/Die Grünen.
– Nein, lieber Herr Nüßlein.
Liebe Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Das Ergebnis der Studie, über die wir heute re-
den, kann kurz zusammengefasst werden: Es gibt einen
Zusammenhang zwischen der Nähe einer Wohnung zu
einem AKW und dem Risiko von Kindern im Alter von
bis zu fünf Jahren, an Krebs bzw. Leukämie zu erkran-
ken. Warum das so ist, können die Autoren nicht sagen.
Was heißt das für die Politik, die mit den Ergebnissen
dieser Studie anders umgehen muss als die Wissenschaft,
weil sie sich dazu verhalten muss? Es heißt ganz sicher
nicht – das höre ich allerdings aus dieser Debatte und aus
der Berichterstattung in der Presse zum Teil heraus –: In
der Studie konnte zur Kausalität der Erkrankungen keine
Aussage getroffen werden; also ist sie nicht aussagekräf-
tig. Wir legen sie zur Seite und bedauern, dass wir für so
viel Geld nur so wenige Ergebnisse bekommen haben.
Diese Studie ist aussagekräftig. Ihre Aussage ist, dass
es einen Zusammenhang zwischen der Nähe einer Woh-
nung zu einem AKW und dem Risiko eines Kindes, an
Krebs zu erkranken, gibt
und dass dieses Risiko steigt, je größer die Nähe des Le-
bensraums des Kindes zum AKW ist. Meine Damen und
Herren, das ist die dramatische Erkenntnis dieser Studie,
auch wenn wir nicht wissen, warum dieser Zusammen-
hang besteht.
Der Auftrag dieser Studie war im Übrigen nichts an-
deres, als diesen Zusammenhang, der im Rahmen der
früheren Michaelis-Studie einmal signifikant und einmal
nicht signifikant festgestellt wurde, endgültig zu belegen
oder zu entkräften. Ihr Auftrag war nicht, die Ursachen
zu erforschen. Das Ergebnis ist aber ganz offensichtlich
beunruhigend genug, um zur Nebelkerzenwerferei zu
verführen.
Um vom Ergebnis und von der Frage nach möglichen
Konsequenzen abzulenken, wird der Präsident des BfS dif-
famiert – dieses Spielchen hatten wir schon einmal –, und
die Mitglieder des Expertengremiums, die diese Studie be-
wertet haben, werden kurzerhand zu Atomkraftgegnern
erklärt, mit der Implikation, sie würden die Ergebnisse in
eine gewünschte Richtung interpretieren. Der traurige
Witz ist, dass es genau umgekehrt ist: Frau Blettner und
andere interpretieren in diese Studie etwas hinein, was
sie nicht besagt.
Wie kann man erklären, die radioaktive Strahlung
scheide als Ursache der höheren Krebsrate aus, weil die
Kausalität nicht nachzuweisen sei?
Wenn Sie nicht wissen, warum die Bremsen Ihres Autos
versagen, fahren Sie dann ruhig weiter? Wenn Sie nicht
wissen, warum Ihr Haus brennt, bleiben Sie dann ruhig
darin sitzen? Sie machen das Blinde-Kuh-Spiel zum Er-
kennungsprinzip! Wir wissen so gut wie nichts über die
Wirkung der Niedrigstrahlung auf Kleinkinder. Wir wissen
nicht, ob die Alphastrahlung im Hinblick auf das Ergebnis
der Studie eine Rolle spielen könnte. Unser derzeitiger
Wissensstand ist hier am Ende.
Was ist das für eine Arroganz, unseren derzeitigen
Wissensstand, mit dem wir ganz offensichtlich in Erklä-
rungsnot geraten, als letzte Instanz zu setzen?
Damit sagen Sie: Das, was sich nach unserem Wissens-
stand nicht erklären lässt, kann nicht wahr sein.
Wer das ernst meint, der steckt in Zeiten, als der Wider-
stand noch sagen musste: „Und sie bewegt sich doch!“
13922 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Sylvia Kotting-Uhl
Aufgabe der Politik und einer Gesellschaft, die es mit
dem Schutz ihrer Mitglieder, vor allem ihrer schwächs-
ten Mitglieder, ernst meint, ist sicherlich nicht, die Über-
bringer unangenehmer Wahrheiten mit Arrest oder
Schlimmerem zu bestrafen oder sie wie heute zu diffa-
mieren. Die Aufgabe ist, die Ursache für den eklatanten
Zusammenhang von AKW-Nähe und Kinderkrebsrisiko
zu erforschen. Diese Absicht unterstelle ich einmal hoff-
nungsvoll dem Schreiben des Bundesumweltministers.
Aber was geschieht, wenn keine Antwort gefunden
wird, wenn, wie so oft bei Umwelterkrankungen, weiter-
hin keine Kausalität nachgewiesen werden kann, weil
die Faktoren, die als Auslöser infrage kommen, zu kom-
plex sind und wir ihre Wirkungs- und Wechselmechanis-
men untereinander nicht entschlüsseln können? Auch
dann muss gehandelt werden. Man kann es bei einer sol-
chen Situation nicht einfach mit der Begründung bewen-
den lassen, man könne sie sich nun einmal nicht erklä-
ren. Der Komplex „Umwelt und Gesundheit“ leidet
traditionell daran, dass sich Zusammenhänge zwischen
Umweltrisiken und Erkrankungen nur selten – und
wenn, dann nur in langwierigen Prozessen – beweisen
lassen. Erinnern Sie sich an Asbest! Die Schädlichkeit
war klar, aber die Kausalität war lange nicht zu bewei-
sen, wobei die Worte „Umweltschädigung“ oder „Um-
welterkrankung“ viel zu wenig klarmachen, dass es hier
im Allgemeinen um nicht von der Natur, sondern von
uns Menschen hervorgerufene Schädigungen geht. Ob
Chemikalien oder Radioaktivität, es sind unsere Ein-
griffe, keine Naturgewalten, und wir haben die Macht,
diese Eingriffe bei entsprechenden Hinweisen auf Ge-
fährlichkeit zu überdenken und zu reduzieren.
Der Staat hat die Aufgabe, seine Bürger zu schützen,
vor allem die Schutzbedürftigsten, die Kinder. Es scheint
mir an der Zeit, der Erfüllung des Vorsorgeprinzips et-
was näher zu kommen. Sich verdichtende Hinweise, ein
starker Verdacht, das Fehlen einer anderen, mindestens
genauso wahrscheinlichen Erklärung müssen als Hand-
lungsauftrag an den Staat ausreichen. Hier kann es nicht
länger nach dem Prinzip gehen: Im Zweifel für die An-
geklagten. – Es muss heißen: Im Zweifel für die Opfer. –
Wenn es nach weiteren Untersuchungen dabei bleibt,
dass es keine nachweisbaren Gründe oder keine Erklä-
rung für die Steigerung der Kinderkrebsraten gibt, dann
müssen die deutlichen Hinweise auf den Zusammenhang
mit der Nähe zu AKWs ausreichen. Dann ist es in der
Tat an der Zeit, den Atomausstieg, so, wie er beschlos-
sen ist, infrage zu stellen; aber umgekehrt, wie es heute
hier so häufig passiert, nämlich mit der Forderung nach
einer deutlichen Beschleunigung.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Michael Müller für die Bundesregierung.
M
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das
Bundesamt für Strahlenschutz hat am Montag die Studie
über Kinderkrebs im Umkreis von Kernkraftwerken ins
Netz gestellt. Diese Studie hat eine intensive Diskussion
ausgelöst, im Übrigen nicht nur in der Bundesrepublik,
sondern auch im Ausland. Das sollten wir schon beach-
ten. Diese Studie wird zu Recht als die bisher aufwen-
digste und sorgfältigste Studie über diesen Zusammen-
hang bezeichnet und hat deshalb in der Zwischenzeit
auch in vielen anderen Ländern große Beachtung gefun-
den, weshalb die Debatte, die wir jetzt beginnen, nicht
nur eine Debatte für die Bundesrepublik ist. Wir sollten
das beachten. Sie hat auch international eine hohe Be-
deutung.
Die Fakten sind eindeutig. Im unmittelbaren Umkreis
von Atomkraftwerken von bis zu 5 Kilometern ist bei
Kindern unter 5 Jahren das Krebsrisiko 60 Prozent und
speziell bei Leukämie etwa um 120 Prozent erhöht.
Diese Fakten stehen fest, und wir sollten sie überhaupt
nicht bezweifeln. Jetzt geht es darum, wie wir mit diesen
Fakten umgehen. Das ist natürlich vor dem Hintergrund
der aufgeladenen Debatte über die Atomkraft nicht so
einfach, vor allem wenn man sieht, dass das eine kontro-
verse Debatte ist, die bereits über 30 Jahre anhält.
Trotzdem will ich sagen: Frau Brunkhorst, wenn Sie
hier Behauptungen aufstellen, dann sollten Sie sich vor-
her besser informieren. Das muss ich Ihnen schon sagen.
Dafür ist die Debatte einfach zu wichtig.
Ich will das an zwei Punkten festmachen. Erstens. Frau
Blettner war schriftlich zur Pressekonferenz eingeladen.
Sie können gerne die Unterlage haben. Zweitens. Die
Expertenkommission als einseitig atomkritisch zu be-
zeichnen, ist schlicht falsch.
Es ist gerade der qualitative Unterschied zu früher, dass
wir eine plurale Zusammensetzung wollen.
Es ist eine gesellschaftliche Debatte, und die muss man
mit allen Strömungen der Gesellschaft führen. Ich halte
das für richtig; denn wir können in diesen Fragen nicht
mit knappen Mehrheiten agieren. Wir brauchen große
Mehrheiten, weil es hier um einen in der Tat fundamen-
talen Einschnitt geht.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13923
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Michael Müller
Genauso wenig kann man es akzeptieren, wenn diese
Debatte als von den Atomkraftgegnern als hysterisch
aufgeladen abgetan wird. Es mag die eine oder andere
Übertreibung geben – übrigens auf beiden Seiten. Aber
es geht hier darum, dass Kinder im Vorschulalter in gro-
ßer Zahl Opfer sind. Mit diesem Tatbestand müssen wir
sorgfältig und seriös umgehen.
Alles andere ist aus meiner Sicht schlicht falsch. Dafür
ist das Thema zu ernst.
Wir kommen einfach nicht an der Bewertung folgen-
der Punkte vorbei: In dieser Studie hat man insgesamt
1 600 erkrankte Kinder mit der ungefähr dreifachen Zahl
gesunder Kindern verglichen. Daraus ergeben sich die
von der Kollegin Flachsbarth zitierten Zahlen. Diese
Zahlen sind vom Deutschen Kinderkrebsregister an der
Universität Mainz in 41 Landkreisen sehr sorgfältig er-
hoben worden.
Das Fazit ist eindeutig: Es gibt deutlich mehr
Krebserkrankungen in der Nähe von Atomkraftwerken.
Soweit ist das eindeutig. Der Streit beginnt, weil die
Kausalität nicht so einfach nachzuweisen ist. Das ist der
entscheidende Punkt. Weil es nicht einfach ist, bei den
biologischen Wirkungen von Strahlungen Kausalitäten
zu benennen, müssen wir uns sowieso im Klaren darüber
sein, dass wir es immer mit einer in hohem Maße wert-
orientierten Debatte und mit einer Vorsorgedebatte zu
tun haben.
Ich will nur ein Beispiel nennen: Einer der größten
Einschnitte in der Umweltdebatte war die Erfahrung von
Rachel Carson aus dem Jahr 1968, dass man am Nordpol
Dioxin gefunden hat. Das macht deutlich, dass die einfa-
chen Ursache-Wirkung-Ketten, von denen wir sonst in
der Regel ausgehen, in bestimmten Bereichen nicht vor-
handen sind.
Umso wichtiger ist es, eine ernsthafte und wertorien-
tierte Bewertung vorzunehmen. Meiner Meinung nach
sollten einfache Entweder-oder-Debatten diesbezüglich
nicht stattfinden. Wir müssen uns darüber klar werden,
ob wir vor dem Hintergrund der Gesundheitsgefährdung
nicht sehr viel mehr in Richtung Vorsorge unternehmen
müssen. Das ist der Punkt, um den es geht.
Zu den Stellen, an denen ich einen Widerspruch in
den Aussagen der Studie sehe, möchte ich Folgendes sa-
gen: Aus meiner Sicht hat Frau Professor Blettner im
Rheinischen Merkur völlig zu Recht gesagt, dass es drei
Möglichkeiten zur Erklärung des Tatbestandes gibt. Die
erste ist, dass es in der Tat einen Zusammenhang zwi-
schen der Strahlung und der Erkrankung gibt.
Die zweite ist, dass es Zufall ist, dass gerade dieses
Ergebnis herausgekommen ist. Daran glaube ich aber
– wie übrigens auch Frau Blettner – am wenigsten. Denn
wenn man die am meisten gefährdete, von Leukämie am
stärksten bedrohte Region in der Elbmarsch bei der Stu-
die außer Betracht lässt, ist das Ergebnis trotzdem nicht
anders. Das ist ein interessanter Punkt. Das widerspricht
der Annahme, dass das Ergebnis möglicherweise nur ein
Zufall ist.
Die dritte Möglichkeit ist – es ist völlig legitim, das
zu sagen –, dass wir einfach viel zu wenig über die Wir-
kungen von niedrigsten Strahlenbelastungen wissen und
viel genauer erforschen müssen, ob sie im Zusammen-
hang mit anderen Faktoren bestimmte Wirkungen insbe-
sondere bei Kleinkindern hervorrufen. Das ist meiner
Meinung nach eine völlig berechtigte Aussage.
Für nicht berechtigt halte ich es, wenn man gleich
sagt: Der Zusammenhang existiert nicht.
Das darf man gerade vor dem Hintergrund des Auftrags
der Studie – denn sie sollte eine epidemiologische Erhe-
bung, keine Ursachenerforschung sein – nicht sagen.
Das ist aus meiner Sicht eine falsche Darstellung. Ich
glaube, dass die Interpretation von Frau Blettner im
Rheinischen Merkur die richtige ist.
Aus meiner Sicht muss man das auch vor dem Hinter-
grund anderer Aspekte sagen. Sie wissen, dass wir bei-
spielsweise bei der Frage des Strahlenschutzes seit Jah-
ren eine kritische Diskussion darüber haben, ob die alten
Zahlen, die teilweise auf die 60er- und 50er-Jahre zu-
rückgehen, heute noch zeitgemäß sind. Wir haben einen
Grenzwert von 0,3 Millisievert für Abwasser und
0,3 Millisievert für die Luft. Viele sagen, schon das sei
eine zu hohe Belastung. An dem Punkt kommen wir
nicht vorbei.
Es gibt auch andere Hinweise, die wir sehr ernst neh-
men müssen, zum Beispiel ob das Zusammenwirken
mehrerer Ursachen gerade bei Kleinkindern verstärkend
wirkt. Darüber wissen wir nicht genug. Ein einheitlicher
Wert ist damit möglicherweise nicht adäquat, um bei-
spielsweise unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen
damit zu bewerten oder Vorsorge für sie zu treffen.
Meine Damen und Herren, es ist für uns ganz wichtig,
dass wir Klarheit schaffen. Ich finde, wir müssen jetzt
unsere Anstrengungen, die Zusammenhänge zu klären,
verstärken. Wir müssen mehr Ursachenforschung betrei-
ben.
Dazu will ich drei Punkte nennen: Erster Punkt. Wir ha-
ben der Strahlenschutzkommission den Auftrag erteilt,
diese Studie zu bewerten und mögliche Schlussfolgerun-
gen für die Politik zu benennen. Ich halte das für eine
Arbeit, die in etwa sechs bis neun Monaten geleistet
wird; dann müssen wir hier erneut darüber reden, welche
Konsequenzen daraus zu ziehen sind und welche
Schritte wir unternehmen.
13924 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Michael Müller
Zweiter Punkt. Wir müssen darüber reden, ob die
Grenzwerte, die heute in der Strahlenschutzverordnung
stehen, ausreichend sind.
Es gibt nämlich viele Hinweise, dass die Zusammen-
hänge so einfach, wie bisher angenommen wird, nicht
sind.
Dritter Punkt. Wir müssen mehr forschen, welche bio-
logischen Wirkungen Strahlung hat; darüber wissen wir
zu wenig. Eine persönliche Anmerkung dazu: Im Zwei-
felsfall muss der Vorsorge Vorrang gegeben werden, zu-
mal wir Alternativen haben: Wir sind ja beispielsweise
mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz auf einem guten
Weg.
Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Katherina Reiche.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist das gute parlamentarische Recht der Opposition,
eine Aktuelle Stunde zu beantragen.
Es hat sich allerdings schnell gezeigt, wie durchsichtig
Ihr Vorhaben ist: dass es eigentlich um Ihre Unverbes-
serlichkeit in Bezug auf die Nutzung der Kernenergie
geht.
Die am Samstag vorgelegte Studie zur Krebserkran-
kung von Kindern in der Umgebung von deutschen
Atomkraftwerken, kurz KiKK-Studie genannt, hat be-
züglich der Ursachen für die statistisch höhere Anzahl
von Leukämiefällen keine Aussagekraft. In der KiKK-
Studie ging es – das ist schon ausführlich dargelegt wor-
den – um den statistischen Zusammenhang zwischen
dem Risiko eines Kindes, an Krebs zu erkranken, und
der Entfernung zwischen seinem Wohnort und dem
nächstgelegenen Kernkraftwerk. Zu den Ursachen er-
höhter Krebsraten enthält die Studie keine Aussagen.
Bundesminister Gabriel – das hat der Herr Staatsse-
kretär eben gesagt – hat erklärt, dass nach derzeitigem
wissenschaftlichen Kenntnisstand der beobachtete An-
stieg der Anzahl der Erkrankungen nicht mit Strahlenbe-
lastungen in der Umgebung eines Kernkraftwerkes er-
klärt werden kann. Trotzdem behauptet der Präsident des
Bundesamtes für Strahlenschutz, Wolfram König, das
Gegenteil: dass Strahlung als Ursache für die erhöhte
Krebsrate nicht auszuschließen ist.
Die Formulierung, die er gewählt hat, ist bewusst vor-
sichtig; doch er widerspricht seinem Minister und den
Wissenschaftlern, die diese Studie zu verantworten ha-
ben. Man kann jetzt die Argumente hin und her wälzen,
wir können jeder unsere eigene Interpretation machen.
Besser ist, die Interviews der Wissenschaftler selbst
zu lesen. In dem Interview, das am 11. Dezember im
Tagesspiegel erschienen ist, wurde Maria Blettner vor-
gehalten:
Trotzdem sagt Wolfram König, Präsident des Bun-
desamts für Strahlenschutz, dass Strahlung als Ur-
sache nicht auszuschließen ist.
Maria Blettners Antwort – ich bitte Sie, zuzuhören –:
Wenn er darauf Hinweise hat, dann weiß er mehr
als wir.
Weiterhin sagt sie:
Ja, es existieren ähnliche Untersuchungen, die stets
zitiert werden.
Sie meint damit: ähnlich kritische Untersuchungen in an-
deren Teilen der Welt. Blettner weiter:
Das sind natürlich die auffälligen Studien. Doch es
gibt natürlich genauso viele, die nicht auffällig sind.
Auf die Frage, ob das Ergebnis Zufall sein könnte, ant-
wortet sie:
Es könnte auch Zufall sein.
Deshalb glaube ich, meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen, dass wir aufpassen müssen,
dass wir in die Studie nichts hineininterpretieren, bei
dem die Wissenschaftler selbst sehr zurückhaltend sind.
Ich habe das Gefühl, dass sich die Wissenschaftler der-
zeit hintergangen fühlen, zumindest aber fehlinterpre-
tiert.
Lande, was das mit dem Körper der kleinen
Kinder macht! Weder da noch bei Chemika-
lien! Sie versündigen sich, und das als angebli-
che Christin! Das ist die gleiche Debatte wie
damals, als es um die Chemikalien ging! Sie
kümmern sich nicht um die Kinder!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13925
(C)
(D)
Katherina Reiche
Es muss der Frage nachgegangen werden, Frau Künast,
wie die statistischen Abweichungen zustande kamen.
Aber es muss in objektiver, in seriöser Weise geschehen.
Es ist Grundlagenforschung notwendig. Wir erleben zur-
zeit das Gegenteil: altbewährte Stimmungsmache gegen
die Kernkraft. Das erinnert mich an den bewährten
Spruch: Komm mir bloß nicht mit Argumenten – ich
fühle, dass es so ist!
Wir haben im Bundesamt für Strahlenschutz angeru-
fen, weil wir die Einzeldaten für jeden Standort haben
wollten. Uns wurde gesagt, das könnten sie nicht heraus-
geben; denn sie hätten viel zu wenige Daten, diese seien
nicht aussagekräftig. – Wenn der Präsident des Bundes-
amtes für Strahlenschutz Eltern mit Halbwahrheiten in
Panik versetzt, dann handelt er unverantwortlich.
Jedes Elternteil ist um die Kinder besorgt. Wer wäre
das nicht? Jedes kranke Kind ist eines zu viel. Deshalb
können wir froh sein, dass wir in Deutschland so viel in
Forschung investieren und auch hier – gerade bei der
Leukämie im Kindesalter – enorme Fortschritte errei-
chen konnten.
Frau Künast, die Wahrheit ist doch, dass interessierte
Kreise die vermeintliche Sorge um die Gesundheit von
Kindern bzw. das Schicksal und den Kummer betroffe-
ner Eltern in unverantwortlicher Weise politisch instru-
mentalisieren. Dagegen sprechen wir uns aus.
Wichtige Tatsachen, dass nämlich zum Beispiel die
Ursachen für Krebs, darunter auch Leukämie, egal ob
genetisch oder durch Umwelteinflüsse bedingt, bedauer-
licherweise noch nicht ausreichend aufgeklärt sind und
dass die Strahlung aus kerntechnischen Anlagen um das
1 000- bis 100 000-Fache geringer als die natürliche
Strahlung ist, werden vernachlässigt. Nach Aussage der
Leiterin der Untersuchung kann das Ergebnis – das habe
ich zitiert – Zufall sein. So wurde geprüft, ob an anderen
Standorten, an denen kerntechnische Anlagen geplant,
aber nie gebaut wurden, ähnliche Effekte zu sehen sind.
Dies war tatsächlich der Fall.
Auf die Frage, was sie von der Reaktion einiger Poli-
tiker hält, die nun ein sofortiges Abschalten der Meiler
fordern, antwortete die Autorin der Studie: Vielleicht
sind wir ein bisschen selbst daran schuld, weil wir die
Studie gemacht und veröffentlicht haben. Man darf jetzt
aber keine Panik machen, vor allem bei den Eltern nicht,
die in der Nähe eines Kernkraftwerkes wohnen. So tra-
gisch die Leukämie für die Betroffenen ist: Wir sprechen
über eine Krankheit, die fünf von 100 000 Kinder unter
fünf Jahren betrifft und bei deren Therapie es enorme
Fortschritte gegeben hat.
– Herr Kollege, ich zitiere die Wissenschaftlerin.
Also, keine Panik: Wir wissen nicht, ob die Kernkraft-
werke tatsächlich die Verursacher sind. Wir reden nicht
über die Kausalität, wir reden über eine statistische Kor-
relation.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
Ich komme zum Schluss. – Ich möchte mit einem Zi-
tat aus der Information des Deutschen Kinderkrebsregis-
ters enden:
Kann man aus den Ergebnissen der KIKK-Studie
schließen, dass aus Kernkraftwerken Strahlung ent-
weicht und bei Kindern Krebs und speziell Leukämie
verursacht? Kurz gesagt: nein.
Jetzt spricht Marlies Volkmer für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte zunächst einmal feststellen, worüber wir uns
bei der Bewertung der Studie einig sind: Wir sind uns ei-
nig, dass ausgesagt wird, dass Kinder bis zu fünf Jahren,
die in der Nähe von Kernkraftwerken leben, deutlich
häufiger als ihre Altersgenossen an Krebs erkranken und
dass es im Umkreis von fünf Kilometern um ein Kern-
kraftwerk mehr als doppelt so viele Fälle von Leukämie
gibt, als nach dem statistischen Durchschnitt zu erwarten
gewesen wäre.
Entscheidend ist, dass das Atomkraftwerk in der Stu-
die geradezu als Punktquelle ausgemacht wird und dass
das Risiko, an Leukämie zu erkranken, mit zunehmen-
dem Abstand abnimmt. Das ist in einer solchen Studie
zum ersten Mal festgestellt worden. Das ist statistisch si-
gnifikant und kein Zufall.
Weniger eindeutig ist tatsächlich die Erklärung der
Ursache. Was ist die Ursache dafür? Was steckt dahin-
ter? Das konnte durch die Studie nicht geklärt werden,
weil sie auch gar nicht darauf angelegt war.
13926 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Dr. Marlies Volkmer
– Eben. Das sollte sie nicht. Es war eine epidemiologi-
sche Studie.
Wir haben heute ja bereits mehrfach die Aussage der
Autorin der Studie vernommen, wonach die Strahlenbe-
lastung in der Umgebung der Reaktoren nicht ausrei-
chend sei, um die erhöhte Zahl der Krebserkrankungen
zu erklären.
Dabei wird aber verschwiegen, dass die Autoren nur
vor dem Hintergrund des aktuellen strahlenbiologischen
und strahlenepidemiologischen Wissens argumentieren.
Wie ist es um dieses Wissen bestellt? Wie wirkt Strah-
lung, vor allem niedrig dosierte Strahlung, insbesondere
auf den Organismus von kleinen Kindern? Welche Be-
sonderheiten gibt es bei Heranwachsenden? Tatsächlich
sind diese Punkte nicht abschließend geklärt. Vor diesem
Hintergrund ist es mir unverständlich und ich finde es
unverantwortlich, wie viele schon wieder die Interpreta-
tion parat haben, dass die Strahlenbelastung in der Um-
gebung der Kernkraftwerke keine Ursache für Krebser-
krankungen sein kann.
Das erinnert mich an die ganz fatale Diskussion, die
wir bezüglich der Klimaerwärmung hatten. Da war es
auch so. Auch da gab es Wissenschaftler, die immer ge-
sagt haben, das alles sei nicht bewiesen, das habe es alles
schon gegeben, es habe schon Zeiten gegeben, in denen
es so warm war. Bis zum letzten Beweis kann man
manchmal nicht warten. Dann ist es nämlich zu spät.
Jetzt redet jeder über die Klimakatastrophe.
Die Mitglieder der Expertenkommission, die die Stu-
die von Anfang an wissenschaftlich begleitet haben,
kommen zu dem Schluss: Aufgrund des besonders ho-
hen Strahlenrisikos für Kleinkinder und des unzurei-
chenden Wissens über die Wirkung der in den Körper
aufgenommenen Strahlung könne die Strahlung keines-
wegs als Ursache ausgeschlossen werden. – Das schreibt
der zwölfköpfige Expertenrat, der übrigens einstimmig
zu dieser Aussage gekommen ist.
Frau Brunkhorst und Frau Reiche, als Ärztin bin ich
entsetzt über den Zynismus, mit dem Sie hier argumen-
tieren.
Es kann einfach nicht sein, dass Sie die unbestrittenen
Erfolge in der Krebstherapie und insbesondere in der
Therapie der Leukämie hier quasi als Alibi benutzen, um
nichts tun zu müssen.
– Ja, so kommt es aber an.
Wissen Sie, Leukämie ist keine Erkrankung wie Rin-
gelröteln oder Husten und Schnupfen. Es ist immer eine
langwierige Chemotherapie erforderlich, die entschei-
dend in das Leben der Familien eingreift.
Aus diesem Grund ist der Staat verpflichtet, diese Ergeb-
nisse im Interesse des Schutzes der Bevölkerung und
insbesondere der Vorsorge der Bevölkerung ernst zu
nehmen. Aus diesem Grund ist es auch notwendig, dass
die Emissionen aus den Kraftwerken verhindert werden.
Das ist Aufgabe der Betreiber.
Ich schließe mich meinen Vorrednern nun hinsichtlich
der Forderung an, dass die Studie zügig und umfassend
geprüft werden muss. Der Vorsitzende der Strahlen-
schutzkommission hat unter anderem darauf hingewie-
sen, dass einige Faktoren in der Untersuchung nicht be-
rücksichtigt wurden, zum Beispiel die Dosis der
Strahlung. Mindestens genauso wichtig ist es, Studien zu
fördern, die das strahlenbiologische Wissen erweitern.
Ich denke hier zum Beispiel an die Beteiligung des Lan-
des Schleswig-Holstein an einem Projekt der Universi-
tätsklinik Hamburg-Eppendorf, das Leukämieentstehung
im Kindesalter untersucht.
Durch die Studie ist aber auch klargeworden, dass es
keine Entwarnung vor den Risiken der Kernkraft geben
kann und dass der schnelle Ausstieg aus dieser Hoch-
technologie unbestritten richtig und wichtig ist.
Jetzt spricht der Kollege Jens Koeppen für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
gen! Es ist gar keine Frage: Krebs ist die Geißel der
Menschheit. Oft findet die Medizin noch keine ausrei-
chenden Antworten. Viele Menschen sind dem Schicksal
hilflos ausgeliefert. Besonders wenn Kinder von der
Krankheit betroffen sind, ist das so ziemlich das
Schlimmste, was passieren kann. Darin sind wir uns alle
einig.
Deswegen ist die Studie zu Krebsfällen bei Kindern
im Umfeld von Kernkraftwerken ein zwingender Anlass,
sich damit auseinanderzusetzen, und zwar auf der einen
Seite ohne Verharmlosung, aber auf der anderen Seite
auch ohne Hysterie. Man muss sich vielmehr mit Augen-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13927
(C)
(D)
Jens Koeppen
maß, Sachverstand und der gebotenen Professionalität
mit der Studie auseinandersetzen.
Denn angesichts der betroffenen Kinder und der unvor-
stellbaren Sorgen der Eltern verbieten sich praktisch jede
Parteitaktik und jedes Wahlkampfgetöse.
Wer jetzt bewusst mit den Ängsten der Menschen
spielt, um ideologische und parteistrategische Vorteile
zu erhaschen, Herr Kelber, und vermeintliche Siege da-
vonzutragen, kann in dieser Debatte nicht ernst genom-
men werden.
Mit den Ängsten der Menschen zu spielen, ist höchst
verwerflich.
– Erwartungsgemäß kommen nämlich die üblichen Re-
flexe von den Grünen, den Linken und von einigen
NGOs, Frau Künast.
Es stimmen alle in den Chor ein: Als Erstes wird der so-
fortige Ausstieg aus der Kernenergie gefordert und als
Zweites die gesamte Atomtechnologie verteufelt.
Ich finde das unglaubwürdig und zutiefst unseriös.
Ich hoffe nicht, dass das zutrifft, aber ich glaube
manchmal, dass Ihnen ein Störfall im Kernkraftwerk ge-
rade recht kommt. Mal ist es der Wechselrichtereffekt in
Forsmark in Schweden, mal ein defekter Dübel in
Deutschland. Mal ist es die eine Studie und dann wieder
eine andere. Schon wird – wie gestern – im Ausschuss
wieder der alte, verstaubte Antrag vorgelegt, in dem der
sofortige Ausstieg gefordert wird.
Ich finde das unseriös; das ist nicht in Ordnung.
Sie schaffen schließlich auch nicht die Autos ab, weil
130 Kinder im Jahr im Straßenverkehr sterben. Sie
schaffen auch nicht die Autos ab, weil 34 000 Kinder
verletzt werden. Wenn Menschen durch Rußpartikel an
Lungenkrebs erkranken, dann schaffen wir ebenfalls
nicht die Autos ab, sondern bauen Rußpartikelfilter ein.
Wir wollen keine Hysterie; wir wollen vielmehr Ant-
worten geben. Wir wollen Lösungen statt Aktionismus.
Das ist der richtige Weg. Ich hoffe, dass sich die Kollegen
von der SPD jetzt nicht treiben lassen, sondern verant-
wortungsvoll an die Auswertung der Studie herangehen
und diese ernst nehmen, wie es unser Umweltminister
vorgeschlagen hat.
Wir alle nehmen die Studie ernst.
Sie stellt einen Zusammenhang zwischen der Nähe zu ei-
nem Atommeiler und dem Risiko, an Leukämie zu er-
kranken, fest, der 0,8 Fällen pro Jahr entspricht. Das ist
zwar ernst zu nehmen, aber die Studie trifft keine Aussa-
gen über die Ursache. Die Strahlung müsste nach bishe-
rigen Erkenntnissen 1 000- bis 10 000-fach höher sein,
um diesen Effekt zu bewirken. An dieser Stelle muss an-
gesetzt werden, Herr Hill, und zwar wissenschaftlich
korrekt. Dafür ist entsprechende Forschung notwendig.
Wenn die Ursachen wasserdicht erforscht sind und
die Kausalität hergestellt ist, dann muss gehandelt wer-
den – das ist völlig klar –, aber schnell, unbürokratisch
und ohne Ideologie, Parteitaktik und vor allen Dingen
ohne Schaum vor dem Mund.
Vielen Dank.
Heinz Schmitt spricht jetzt für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Die sogenannte KiKK-Studie hat kurz vor
Weihnachten für einen kräftigen Kick beim Pro und
Kontra zur Atomkraft geführt. Die wichtigsten Ergeb-
nisse wurden heute schon in zahlreichen Beiträgen ge-
nannt: Kinder unter fünf Jahre tragen ein höheres Risiko,
an Krebs zu erkranken, je näher sie an einem Atomreak-
tor leben. Das ist das nüchternde Ergebnis der Untersu-
chung.
Andere Schlussfolgerungen sind umstritten. Auch das
wurde heute schon festgestellt. Bei so viel Unklarheit hat
unser Umweltminister Sigmar Gabriel das einzig Ver-
nünftige getan: Er hat mit der Strahlenkommission unab-
hängige Experten beauftragt, die Studie zu bewerten.
Für andere Leser der Studie und auch für heutige
Rednerinnen scheint das Ergebnis erstaunlich eindeutig
zu sein. Frau Brunkhorst, Sie sagten, man dürfe die Stu-
die nicht dazu nutzen, die Debatte über Atomkraft in
schäbiger Weise anzuheizen.
So habe ich es gelesen. Auch Frau Reiche – das hat
sie heute wiederholt – hat den Eindruck, dass die Studie
die Antipathien gegen Kernkraft schüren soll. Herr
Nüßlein, Sie sagen: Es gibt Handlungsbedarf, sonst gar
nichts. – Mir sind all diese Betrachtungen, die auch mit
Zahlen, Statistiken, Wahrscheinlichkeiten unterlegt wer-
13928 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Heinz Schmitt
den, ein Stück zu nüchtern, zu bürokratisch, zu tech-
nisch. Niemand kann – so war mein Eindruck von vielen
Reden – sich in die Lage von Familien versetzen, die
krebskranke Kinder, an Leukämie erkrankte Kinder ha-
ben. Mir fehlt bei dieser Debatte das Mitgefühl mit Men-
schen, die einen Kampf auf Leben und Tod führen müs-
sen.
Das kommt mir in der Debatte viel zu kurz.
Ich sage nicht: Wir müssen Atomkraftwerke sofort
abschalten; wir müssen den sofortigen Ausstieg vollzie-
hen. – Es gibt viele andere, triftigere Gründe, die dafür
sprechen, dass wir den Atomausstieg weiter vorantreiben
und uns an die beschlossenen Vereinbarungen halten.
Für mich stellen Namen wie Sellafield, Harrisburg, auch
Forsmark, Brunsbüttel und Krümmel, ebenso das Endlager
Asse triftige Gründe dar, um deutlich zu machen, wie es
um die Sicherheit von Kernkraftwerken bestellt ist. Wem
diese Beispiele für die Unsicherheit von Atomkraftwer-
ken nicht ausreichen, der kann heute, 21 Jahre nach der
Havarie eines Reaktors in Tschernobyl, besichtigen,
welch grausige Folgen ein einziger Unfall in einem
Atomkraftwerk hat. Die Folgen der Reaktorkatastrophe
für die Menschen in den betroffenen Gebieten sind immer
noch erschütternd. Mit Überwachung, Bedrohung und
staatlichen Repressalien werden Aufklärung und huma-
nitäre Hilfe gar noch behindert.
Meine Damen und Herren, Kernkraft war und ist
nicht beherrschbar. Die endgültige Lagerung von strah-
lendem Müll ist und bleibt ungelöst. Atomkraft ist daher
ein Auslaufmodell ohne Zukunft. Die große Mehrheit
der Menschen in diesem Land lehnt die Atomkraft ab.
Deshalb haben wir mit unserem früheren Koalitionspartner
den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen. Wir haben
auf sichere Alternativen gesetzt. Genau das steht in un-
serem jetzigen Koalitionsvertrag.
Auch die Kanzlerin hat ja in Meseberg die Alternativen
zur Atomkraft, zum Beispiel die erneuerbaren Energien,
schätzen gelernt.
Deutschland hat eine neue Dimension beim Klima-
schutz, bei der Energieeffizienz und bei erneuerbaren
Energien erreicht. Wir haben weltweit eine Vorreiter-
funktion, wie dies auch auf der Konferenz in Bali deut-
lich zutage tritt.
Wir sind also auf dem richtigen Weg. Die SPD wird
beim Ausstieg aus der Atomkraft wie auch bei der Lö-
sung der drängenden Aufgaben, die uns mit dem Klima-
wandel gestellt werden, Kurs halten. Es gibt keine Pole-
mik, keine kurz entschlossenen Forderungen, sondern
ein langfristiges Setzen auf sinnvolle, verträgliche Alter-
nativen. Wir sollten die Bewertung dieser Studie abwar-
ten und dann die richtigen Schlüsse ziehen.
Monika Griefahn spricht jetzt für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bereits
Anfang der 90er-Jahre kam mein Landtagskollege Uwe
Harden von der Bürgerinitiative aus der Elbmarsch bei
Hamburg zu mir, um auf das Problem von leukämiekran-
ken Kindern in der Region aufmerksam zu machen. Ich
war damals Umweltministerin in Niedersachsen. Schon
zum damaligen Zeitpunkt war die Zahl der erkrankten
Kinder in der Nähe des Atomkraftwerks Krümmel und
des GKSS-Forschungszentrums wesentlich höher als in
anderen Gebieten. Wir, also die Landesregierung in Nieder-
sachsen, setzten damals eine Expertenkommission ein, die
über Jahre hinweg alle möglichen infrage kommenden
Ursachen für diese auffällige Häufung von Leukämie bei
Kindern suchte. Wir suchten im Staub, auf Dachböden,
bei defekten Röntgengeräten. Die Expertenkommission
untersuchte Bodenproben und einiges mehr, eben alles,
was man sich als potenzielle Ursachenfaktoren vorstellen
konnte. Aber so sehr alle suchten, später auch noch eine
Kommission des Landes Schleswig-Holstein, sie konn-
ten bis heute keine eindeutigen Ursachen finden.
Heute gibt es 16 krebskranke Kinder und Jugendliche
in der Region. Nach einem ZDF-Bericht ist das der
höchste Leukämiecluster weltweit. Zu erwarten gewesen
wären nach einem Berechnungsschlüssel ungefähr fünf
Fälle. Diese Feststellungen geben Anlass zur Sorge, vor
allem vor dem Hintergrund, dass wir dieses schon so
lange wissen und es eben nicht ausschalten können.
Dankenswerterweise hat Frau Klug, Parlamentarische
Staatssekretärin beim Bundesumweltminister, weitere
Hilfen zugesagt, um die Ursachen für diesen Cluster zu
finden. So soll bis Ende des Jahres vom Bundesamt für
Strahlenschutz gemeinsam mit dem Land Niedersachsen
ein Fragebogen erarbeitet werden, um weitere Fachge-
spräche über die Ursachen vorbereiten zu können.
Das ist der aktuelle Stand der Dinge, was die Untersu-
chung in der Elbmarsch betrifft.
In dieser Phase erscheint die KiKK-Studie insofern
sehr verdienstvoll, als sie für die 16 deutschen Atomkraft-
werke nachweist, dass die Zahl krebskranker Kinder
steigt, je näher ihr Wohnort am AKW-Standort liegt. Da
liegt doch eine gewisse Kausalität nahe, dass Atomkraft-
werke auch im Normalbetrieb Auswirkungen auf die Ge-
sundheit haben. Die Wissenschaft mag sich zu dieser
Aussage noch nicht hinreißen lassen. Daher möchte ich
auf eine Studie verweisen, die schon etwas älter ist, die
aber auch sehr überzeugende Hinweise gibt. Es ist die
langjährige Untersuchung von Alice Stewart und Rosalie
Bertell, die über 30 Jahre medizinische Fälle von Men-
schen begleitet und ausgewertet haben, die niedrigstrah-
liger Radioaktivität ausgesetzt waren. Sie wiesen
Zusammenhänge mit den Erkrankungen der Menschen
nach. Lange Zeit sind sie nicht ernst genommen worden.
Aber schließlich hat sich die Erkenntnis durchgesetzt,
dass jede Strahlung bei bestimmten Isotopen ein Pro-
blem sein kann. So sagen uns Ärzte, dass auch das erste
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13929
(C)
(D)
Monika Griefahn
Isotop einer inkorporierten Alphastrahlung den Zelltei-
lungsprozess verändern und somit Krebs fördern kann.
Was wird denn an den AKWs gemessen? Bei der Um-
gebungsüberwachung am AKW Krümmel gibt es eine
Messung der Emission im Abluftkamin. Dabei handelt
es sich vorwiegend um Gammastrahlung. Es gibt dort
drei Messpunkte für Immissionen für Alpha- und Beta-
strahlung. Drei Punkte sind zu wenig, um zu belastbaren
Erkenntnissen zu kommen. Darüber hinaus orientieren
sich die Grenzwerte in der Regel – darauf hat Herr Staats-
sekretär Müller dankenswerterweise hingewiesen – an
MAK-Werten, also an der maximalen Arbeitsplatzkon-
zentration bei acht Stunden für einen 70 Kilogramm
schweren Mann. Bei einem Kleinkind wird das mit dem
Faktor 1,2 multipliziert. Unter dem Aspekt der Körper-
größe und der völlig anders anzusetzenden Zeit – wenn
jemand in der Nähe eines Atomkraftwerkes wohnt – ist
das als Vergleichsmaßstab überhaupt nicht ausreichend,
um daraus Grenzwerte abzuleiten.
Außerdem sind nicht nur der Kamin, sondern auch die
Sicherheitsgefäße interessant. Dort aber gibt es keine
Emissionsuntersuchungen.
Es kann also sein, dass die Wissenschaft mit den Mes-
sungen, die gemacht werden, und den Berechnungsgrund-
lagen, die gelten, zu dem Schluss kommt, eine eindeutige
Ursachenzuordnung nicht leisten zu können. Deswegen
kann man aber die Ergebnisse der jetzigen KiKK-Studie
nicht beiseiteschieben. Wir als Politiker mit Verantwor-
tung für die Gesellschaft und die Gesundheit in dieser
Gesellschaft können doch nicht sagen: Solange eine
Kausalität von Atomkraftwerken und Leukämie nicht
bewiesen ist, machen wir weiter wie bisher. Wir müssen
doch sagen: Solange die Möglichkeit besteht, dass es da
einen Zusammenhang gibt, müssen wir Vorsorge treffen
und uns von dieser Technologie verabschieden.
Wenn dann noch nicht einmal ausgeschlossen werden
kann, dass Risiken im ganz normalen Betrieb bestehen,
dann ist es doch umso wichtiger, der Atomkraft ein Ende
zu machen, und zwar nicht nur bei uns, sondern auch bei
anderen. Wir müssen über den Tellerrand hinausschauen.
Mir macht es Sorge und Angst – das muss ich deutlich
sagen –, wenn Herr Gaddafi mit einem Atomkraftwerk
aus Paris nach Hause geht
und wenn China AKWs als Heilmittel für den Klima-
schutz anpreist. Ich denke, das kann nicht die Zukunft
sein. Wir müssen dort gleich andere Lösungen realisieren.
Christopher Weeramantry vom Internationalen Ge-
richtshof, der in diesem Jahr den Alternativen Nobelpreis
bekommen hat, hat bei seinem Besuch hier in Berlin be-
sorgt darauf hingewiesen, dass, wer ein AKW hat, auch
das Material besitzt, eine Bombe zu bauen. Vagabundie-
rendes Material aus Atomkraftwerken gibt es genug auf
der Welt. Viele weitere Gründe gegen den Einsatz der
Atomkraft gibt es. Die Studie hat uns einen weiteren
wichtigen aufgezeigt: Wir dürfen die Gesundheit der
Bürger nicht leichtfertig gefährden. Lassen Sie uns also
diesen Spuk möglichst schnell beenden und weitere Leu-
kämiefälle verhindern!
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Die Aktuelle Stunde ist hiermit beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska
Hinz , Kai Gehring, Krista Sager, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Bildungsstrategie für mehr Chancengerechtig-
keit starten
– Drucksache 16/7465 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Es ist verabredet, hierzu eine Stunde zu debattieren. –
Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Priska Hinz für Bündnis 90/Die Grünen.
Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
gen! In den letzten Wochen gab es mit IGLU und PISA
zwei Schulleistungsstudien, die uns wieder einmal deut-
lich gemacht haben, dass Deutschland spitze ist, nämlich
im Vergeuden von Talenten. Sicher: Die Schülerinnen
und Schüler sind in den Naturwissenschaften ein biss-
chen besser geworden. Aber machen wir uns nichts vor:
Im Lesen und in der Mathematik sind die deutschen
Schülerinnen und Schüler nach wie vor Mittelmaß.
Unser größtes Problem ist und bleibt die Ungerechtig-
keit im Bildungssystem. Es ist ein Skandal, dass in
Deutschland Arbeiterkinder bei gleicher Leistung eine
fast dreimal geringere Chance haben, ein Gymnasium zu
besuchen, als Akademikerkinder.
Es ist ein Skandal, dass immer noch 20 Prozent der Ju-
gendlichen die Schule als funktionale Analphabeten
verlassen, und es ist ein Skandal, dass Migrantenkinder
in ihren Leistungen um zweieinhalb Schuljahre gegen-
13930 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Priska Hinz
über ihren deutschen Mitschülerinnen und Mitschülern
zurückliegen. Deswegen fordern wir Grünen eine Bil-
dungsstrategie für mehr Chancengerechtigkeit. Wir wen-
den uns hier ausdrücklich an die Bundesregierung. Da
darf sich der Bund nicht heraushalten – Föderalismus hin
oder her –, weil es hierbei um die Chancen aller Kinder
in Deutschland, um den sozialen Zusammenhalt unserer
Gesellschaft und um die Entwicklung unserer Volkswirt-
schaft geht.
Gerade in der aktuellen Debatte über den Fachkräfteman-
gel muss sich die Regierung fragen lassen: Wie wollen Sie
dem eigentlich begegnen, wenn Sie weiter zulassen, dass
so viele junge Menschen ihrer Chancen beraubt werden?
Es ist eine unbequeme Tatsache, dass der Bildungs-
erfolg in Deutschland quasi vererbt wird und dass dies
eine direkte Folge unseres gegliederten Schulsystems ist,
in dem die Kinder nach unten durchgereicht werden, an-
statt ernsthaft und mit Ausdauer individuell gefördert zu
werden. Der Vergleich der Ergebnisse von IGLU und
PISA bestätigt genau das. In der Grundschule können
die Kinder noch auf hohem Niveau gut lesen, ohne dass
es eine große Spreizung gibt. Mit der Gliederung des
Schulsystems ab Sekundarstufe I endet diese Förderung.
Die Kinder werden einsortiert, und die Chancen werden
ungleich verteilt, unabhängig davon, welche Talente die
Kinder haben.
Damit sich die Unterrichtskultur in Deutschland än-
dert, damit sich das Schulsystem verbessert, müssen wir
auf Dauer die Schulstruktur verändern. Ich finde, dass
sich die Bundesbildungsministerin in diese Debatte und
nicht in die Debatte um das Zentralabitur einmischen
sollte. Sich in diese Debatte einzumischen, ist nämlich
bedeutend wichtiger.
Die Bundesregierung hat das Thema Schule mit der
Föderalismusreform erst einmal beiseitegelegt; sie hat
erklärt, sie sei dafür nicht mehr zuständig.
– Das hat diese Bundesregierung zusammen mit der Koali-
tion aber leider aktiv betrieben. – Nach zwei Jahren hat die
Bundesregierung mittlerweile aber gemerkt: Das Thema
ist doch wichtig; die Bevölkerung verlangt Antworten, und
das nicht nur von den Kultusministern der Länder. Deswe-
gen gibt es jetzt eine nationale Qualifizierungsinitiative der
Bundesbildungsministerin. Aber erarbeiten Sie bitte auch
eine richtig gute Strategie für mehr Bildungsgerechtigkeit
und speisen Sie uns nicht wieder mit ollen Kamellen oder
mit heißer Luft ab!
Die Qualifizierungsinitiative sieht zum Beispiel vor,
dass die Zahl der Schulabbrecher halbiert werden soll. –
Guten Morgen, meine Damen und Herren! Das hat die
EU mit den Stimmen Deutschlands schon mehrfach be-
schlossen. Was fehlt, sind die Umsetzungsschritte; da ist
bislang nichts passiert.
Die Ministerin kündigt in dieser Haushaltsdebatte
großspurig eine Qualifizierungsoffensive für Erzieherin-
nen an. Auf Nachfrage stellt sich heraus: Das wird ein
Weiterbildungsportal im Internet. – Ja, bravo!, kann ich
da nur sagen. Das ist eine echte Qualitätsrevolution im
frühkindlichen Bereich.
Ein weiterer Schuss in den Ofen und äußerst kontra-
produktiv ist das Betreuungsgeld. Es wird nicht nur von
der OECD als desaströs bezeichnet. Wer hat denn den
größten Anreiz, für 150 Euro zu Hause zu bleiben? –
Das sind gerade die Familien, deren Kinder die Förde-
rung am nötigsten haben, nämlich solche, die bildungs-
fern sind und in einem sozial benachteiligten Umfeld
leben. Das kann man doch wirklich nicht als Strategie ei-
ner Bundesregierung bezeichnen, die sich auf die Fah-
nen geschrieben hat, beim Thema Fachkräftemangel vor
allen Dingen die Ausbildung in den Vordergrund zu rü-
cken. Das müssen Sie in Ihren Köpfen doch einmal ir-
gendwie zusammenbringen, vor allen Dingen Sie, meine
Damen und Herren von der CDU/CSU.
Aber auch in Sachen Ausbildung ist von Bildungsge-
rechtigkeit wenig zu sehen. Eine halbe Million Jugendli-
che – trotz positiver Zahlen bei den neuen Ausbildungs-
verträgen – befinden sich in Warteschleifen, die weder
zu einem anerkannten Abschluss führen noch auf die
nachfolgende Ausbildung anrechenbar sind. Anstatt hier
Strukturen zu reformieren, experimentiert die Koalition
mit fragwürdigen Qualifizierungs-Kombilöhnen.
Bei der Weiterbildung hat die Regierung zwei Rote
Karten bekommen: eine vom Haushaltsausschuss des
Deutschen Bundestages – sie soll endlich eine Strategie
vorlegen – sowie eine von der EU, die in ihrem Fort-
schrittsbericht analysiert hat, dass wir in Deutschland
Qualifizierung zu wenig voranbringen. Wie viele Rote
Karten brauchen Sie denn noch, um endlich eine Weiter-
bildungsstrategie vorzulegen und in Sachen Weiterbil-
dung zu Potte zu kommen?, fragen wir uns.
Wir Grünen haben die Föderalismusreform immer
schon als großen Fehler betrachtet. Es gibt zurzeit leider
keine Mehrheit dafür, das zurückzudrehen. Aber es meh-
ren sich die Stimmen, selbst bei der CDU/CSU, die sa-
gen, dass man die Bildung zum nationalen Thema ma-
chen muss. Die Kanzlerin soll einen Bildungsgipfel
veranstalten. Frau Schavan mischt sich zunehmend in
Bildungsdebatten ein. Herr Röttgen hat auf einmal ge-
fordert, „dass Bildung jenseits der föderalen Zuständig-
keiten zu einem großen Projekt in der zweiten Halbzeit
der Großen Koalition“ zu machen sei. Bitte tun Sie das!
Sie haben unsere Unterstützung dafür.
Wir fordern Sie auf: Legen Sie gemeinsam mit den
Ländern eine Bildungsstrategie vor, die das Stückwerk
der föderalen Zuständigkeiten überwindet – mit Prioritä-
ten bei der frühkindlichen Förderung, bei der Bildung
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13931
(C)
(D)
Priska Hinz
von Migranten, beim längeren gemeinsamen Lernen, bei
der Lehrerausbildung und bei der zweiten Chance in
Aus- und Weiterbildung!
Wir nehmen auch gern den Bundesfinanzminister
beim Wort, der gefordert hat, „vor allem in Bildung, Bil-
dung, Bildung“ zu investieren. Auch das unterstützen
wir.
Frau Kollegin.
Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Der letzte Satz.
Wenn bei der Föderalismusreform II etwas für die
Bildung herumkommt, können wir die genannten Maß-
nahmen auch finanzieren und sind gemeinsam auf dem
Weg, den Skandal der Bildungsbenachteiligung in
Deutschland zu beseitigen.
Danke schön.
Der Kollege Marcus Weinberg spricht jetzt für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Hinz, bei allem Respekt – ich habe Ihnen sieben
Minuten zugehört, habe das nicht ganz so gern getan,
aber sei’s drum –:
Dass Sie nach den IGLU- und PISA-Ergebnissen hier ei-
nen einzigen positiven Satz zustande bringen, um die
deutschen Schülerinnen und Schüler und auch die Lehrer
einmal zu loben, ist, finde ich, einfach zu wenig.
Bei aller Kritik an den Ergebnissen sollte man beden-
ken: Als wir aus dem Bildungsbereich damals, nach den
ersten PISA-Ergebnissen, zusammenkamen, wurden
zwei Dinge gefordert.
Erstens: Reformen im Bereich des Bildungssystems.
Zweitens: Zeit. Es war und ist wichtig, den Schulen,
Pädagogen und Schülern Zeit zu geben, sich zu verän-
dern und die Reformen durchzuführen.
Ich finde, dass die PISA-Ergebnisse gut sind. Im Be-
reich der Naturwissenschaften ist Deutschland auf
Platz acht der OECD-Staaten. Das ist überdurchschnitt-
lich. Entscheidend ist dabei die Verbesserung: von
Platz 18 auf Platz 13. Das signalisiert, dass wir im deut-
schen Bildungssystem Reformen umgesetzt haben, all-
mählich, aber kontinuierlich.
Herr Tauss, wir beide wissen: Viel wichtiger ist es, dass
wir es geschafft haben, ein halbes Schuljahr aufzuholen.
Dieses Ergebnis ist wichtig für die Schülerinnen und
Schüler.
Frau Hinz, ich muss Ihnen widersprechen: Auch im
Bereich der Lesekompetenz gab es Verbesserungen.
Sowohl Leistungsschwächere als auch Leistungsstärkere
haben sich verbessert. Bei 13 von 24 OECD-Staaten
stagnierten die Ergebnisse, bei sieben waren sie sogar
schlechter als 2000; die deutschen Kinder haben sich
verbessert.
Im Übrigen wurde auch die Erkenntnis gewonnen,
dass in Deutschland wieder mehr Kinder zum Vergnügen
lesen. Das erachte ich als positiv. Die Abhängigkeit der
Lesekompetenz von der sozialen Herkunft – sie ist nach
wie vor viel zu hoch; da sind wir einer Meinung – ist zu-
rückgegangen. Auch diese Entwicklung ist wichtig.
Die Ergebnisse von PISA werden immer wieder rela-
tiviert. Ich möchte einige Sätze zu den Relativierungsbe-
mühungen gewisser Wissenschaftler in den letzten Wo-
chen und Monaten sagen. Ich finde es immer schlecht,
wenn sich die Politik in die Wissenschaft einmischt,
wenn sie versucht, Daten zu korrigieren, indem sie die
methodische Herleitung bezweifelt. Das macht man
nicht. Ich finde es aber auch schwierig, wenn Wissen-
schaftler versuchen, wissenschaftliche Daten rein poli-
tisch zu interpretieren, möglicherweise sogar ideologie-
bedingt. Das, was wir in den letzten Monaten zu den
PISA-Ergebnissen gehört haben, auch von Verantwortli-
chen aufseiten der OECD, finde ich nicht akzeptabel. Ich
finde es nicht akzeptabel, dass Professor Schleicher die
besseren Ergebnisse – auch wenn sie nur leicht besser
sind – zu relativieren versucht. Dazu zitiere ich Herrn
Professor Prenzel:
Die Ergebnisse von PISA 2006 sind sehr wohl mit
denen von 2003 vergleichbar, da die Rahmenkon-
zeption für PISA 2006 die vorausgegangenen Kon-
zeptionen aufgegriffen und fortentwickelt hat.
Hinzu gekommen sind lediglich Einstellungsfragen,
beispielsweise zum Verantwortungsgefühl für die
Umwelt, die aber gerade nicht Gegenstand der Tests
zur Wissensüberprüfung waren …
Das heißt im Ergebnis: Wir sollten uns nicht in den
Streit der Wissenschaft einmischen; aber ein paar mah-
nende Worte auch in die Richtung von Herrn Professor
Schleicher sind angebracht. Wir sollten das Ergebnis,
dass wir uns verbessert haben, optimistisch wahrnehmen
und dementsprechend bewerten und nicht in der Bil-
dungspolitik alles ins Negative wandeln.
13932 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Marcus Weinberg
Sie haben die Probleme angesprochen, und Sie haben
angesprochen, was die Bundesregierung aus Ihrer Sicht
alles nicht tut. Ich möchte drei Punkte herausgreifen.
Völlig richtig ist: Es ist schlecht, dass die soziale Her-
kunft und der Migrationshintergrund den Bildungserfolg
von Kindern definieren.
Das ist in Deutschland extrem. Deutschland ist aber
nicht mit Kanada oder Finnland vergleichbar, weil die
soziale, die kulturelle Entwicklung eine andere ist. Sie
schauen jetzt so kritisch. Schauen Sie sich einmal das
kanadische Zuwanderungssystem an!
– Frau Hinz, entschuldigen Sie. Ich glaube, Sie wissen
nicht, welche Maßnahmen bei der Integration von Mi-
granten in Kanada und Finnland ergriffen werden. Der
Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund ist bei uns
viermal so hoch. Sie können nicht Südlappland mit
Hamburg oder Dortmund vergleichen.
Sie müssen auch die kulturellen und sozialen Vorgänge
in Ihre Bewertung einbeziehen.
Kanada definiert sich als Zuwanderungsland; aber die
Zuwanderung ist wesentlich geringer als in Deutschland.
Hätte damals die CDU/CSU jene Maßnahmen und Re-
striktionen gefordert, die dort ergriffen werden, dann
hätten Sie aufgeschrien. Das ist die Realität in Kanada.
Deswegen kommen dort solche Probleme nicht auf.
Die Bundesregierung hat den Nationalen Integra-
tionsplan beschlossen. Ich glaube, es ist gut, dass man
erstmals die Maßnahmen und Möglichkeiten sowie den
Bedarf im Bereich der Integration bündelt. Ich finde es
richtig, dass die Kompetenzzuweisung die Federführung
des Bundes vorsieht. Es geht hier um Fragen der Sprach-
förderung, der Integrationskurse und der Maßnahmen im
beruflichen Bereich. Der Bund hat das richtigerweise
zum ersten Mal in seiner Geschichte aufgegriffen.
Ein weiterer Punkt, den Sie angesprochen haben, ist
die Qualifizierungsoffensive. Ich stimme Ihnen zu, dass
die Frage der Durchlässigkeit wichtig ist. Man muss fra-
gen, wie es um die Bildungswege steht. In Ihrem Antrag
sprechen Sie kritisch an: Erst zwei Jahre nachdem die
Bundesregierung ins Amt gekommen sei, leite man die
Qualifizierungsoffensive ein.
– Moment mal, Frau Hinz! Erst einmal kurz zuhören! –
Das haben Sie übrigens in Ihrem Antrag mit dem Defi-
zit, das im Bereich „Soziale Herkunft – Bildungserfolg“
besteht, zusammengebracht. Sie sagen also: „Die Bun-
desregierung tut nichts“
und werfen ihr vor, sie habe zwei Jahre abgewartet.
Dazu kann ich nur sagen: Schauen Sie sich einmal die
Biografie der heute 15-Jährigen an. Sie wurden 1997
eingeschult, sie sind in der Regel 2001 in die Sekundar-
stufe gekommen und überprüft wurden sie 2006. Man
könnte auch sagen: Die gesamte Bildungsbiografie die-
ser Kinder bildet eine Zeit ab, in der Rot-Grün die Re-
gierungsmehrheit stellte. Da frage ich mich: Was haben
Sie denn damals gemacht? Sie haben gar nichts gemacht.
Wir haben mittlerweile eine Qualifizierungsoffensive
eingeleitet und den Nationalen Integrationsplan sowie
weitere Lösungsansätze entwickelt.
– 4 Milliarden Euro für das Ganztagsschulprogramm,
das ist richtig. Ich hätte mir gewünscht, dass es – das hat,
wie ich glaube, auch der Kollege Schummer damals in
seiner Rede gesagt – enger mit den Ländervertretern ab-
gestimmt worden wäre.
Ich will nun auf einen anderen Bereich zu sprechen
kommen. Es geht – das geht uns auch nach der Födera-
lismusreform noch etwas an – um den wichtigen Bereich
der Bildungsforschung. Für die empirische Bildungsfor-
schung haben wir 120 Millionen Euro vorgesehen, da-
von 56 Millionen Euro für ein nationales Bildungspanel.
Damit haben wir die Möglichkeit, endlich dauerhaft Bio-
grafien von Schülerinnen und Schülern zu verfolgen und
festzustellen, wie welche Bildungsimplikationen wirken.
Dieses Programm zur Bildungsforschung wird in den
nächsten Jahren eine tragende Stütze für die Reformen
sein, die auf Länderebene, aber teilweise auch im Bund
auf den Weg gebracht werden.
Über einen Punkt, Frau Hinz, müssen wir noch ein-
mal sprechen. Ich möchte hierzu von Ihnen gerne noch
einmal eine Antwort. Sie haben wieder einmal das ge-
gliederte Schulsystem kritisiert.
Sie haben Gott sei Dank nicht den Vergleich mit Finn-
land gebracht, sonst müssten wir hier einmal einen Ver-
gleich mit Frankreich oder Schweden anstellen. Diese
haben nämlich bei PISA abgebaut, obwohl sie ein inte-
griertes System haben.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13933
(C)
(D)
Marcus Weinberg
Mir reicht es nicht, wenn Sie hier nur eine Kritik am ge-
gliederten Schulsystem vortragen. Sie müssen auch ein-
mal sagen, was Sie wollen. Wollen Sie die Einheits-
schule? Wollen Sie die Gymnasien abschaffen?
Diesbezügliche Äußerungen habe ich von Ihnen noch
nicht gehört. Bei der nächsten Ausschusssitzung hätten
Sie die Gelegenheit, uns einmal vorzustellen, wie Ihr
Konzept zu dieser Frage aussieht.
– Frau Sager, bei Ihnen weiß ich das nicht. Ich erlebe ge-
rade in Hamburg, wie Ihre Partei die Einheitsschule der
Bildungsvielfalt vorzieht.
Wir von der CDU/CSU haben in der Frage eine klare
Position. Wir sagen, das, was in Thüringen, Sachsen,
Bayern und Baden-Württemberg gut ist, kann nicht
schlecht sein.
Ob die Systeme zwei- oder dreigliedrig sind, ist eine
Frage, die die Verantwortlichen auf Länderebene ent-
scheiden sollen. Mir ist es nur wichtig, dass wir die Bil-
dungsvielfalt behalten. Da haben wir von der CDU/CSU
eine ganz klare Position: Bildungsvielfalt statt Einheits-
schule. Wir könnten jetzt lange die Situation innerhalb
Deutschlands und zwischen Deutschland und Europa
vergleichen. Ich möchte nur von denjenigen, die heute
das gegliederte Schulsystem im engeren Sinne kritisie-
ren, wissen, welche Alternativen sie vorschlagen und ob
sie die Einheitsschule wollen.
Das frage ich auch vor dem Hintergrund, dass die Ab-
schaffung der Gymnasien 86 Prozent der Anhänger der
Linken abgelehnt haben.
– Das ist Ihre Abteilung. – Bei der SPD waren es
88 Prozent. Insgesamt haben sich nur 29 Prozent für die
Einführung einer Einheitsschule ausgesprochen.
Das ist eine zentrale Schlussfolgerung, die, wie ich
glaube, auch aus den PISA-Studien gezogen werden
kann.
Bei Reformen in diesem Bereich müssen wir uns über
Reformen bei der Lehrerausbildung, über Qualitätsent-
wicklung und über die Erhöhung der Autonomie der
Schulen, sprich der Selbstständigkeit, unterhalten. Es
geht um die Frage, was man mit Blick auf Bildung im
frühkindlichen bzw. vorschulischen Bereich tun kann. In
der Debatte geht es dann sicherlich auch um die Frage
der Schulstruktur. Aber die Frage der Schulstruktur an
die erste Stelle zu setzen, ist ein methodischer Fehler.
Den haben Sie wiederum in Ihrem Antrag und in Ihrer
Rede gemacht. Es reicht nicht aus, das gegliederte
Schulsystem einfach nur zu kritisieren. Mit der Födera-
lismusreform haben wir den Ländern die Verantwortung
zugewiesen, jeweils nach ihren Bedürfnissen zu reagie-
ren. Wir in Hamburg wollen das zweigliedrige Schulsys-
tem. In Bayern wird man das dreigliedrige Schulsystem
noch länger behalten. Jedes Land soll hier selber ent-
scheiden. Wichtig ist nur eines: Bildungsvielfalt. Das
heißt keine Einheitsschule, keine Gleichmacherei auf
niedrigem Niveau. Da müssen sich die Grünen und ei-
nige andere klar äußern. Wir werden diese Debatte wie-
der führen müssen.
Ich halte es für richtig – damit komme ich zum
Schluss, Frau Hinz –, dass jeder für sich entscheidet, ob
das Glas halbvoll oder halbleer war. Wichtig ist, festzu-
halten: Die kleinschrittigen Reformen haben, auch wenn
es sehr mühevolle Reformen waren, gewirkt. Das haben
PISA und IGLU bewiesen. Wir müssen trotzdem weiter-
arbeiten. Jetzt geht es aber um die Fragen, die ich gerade
angesprochen habe. Es erscheint mir wichtiger, über die
Lehrerfortbildung zu diskutieren, als nur und allein über
die Schulstruktur.
Ich glaube, dass wir auf dem richtigen Weg sind, und
hoffe, dass die Ergebnisse aus der nächsten PISA-Studie,
die wir in drei Jahren bekommen werden, das bezeugen
werden. Insoweit freue ich mich auf weitere interessante
Diskussionen, auch mit Ihnen. Von Ihnen möchte ich
dann gerne hören, was Sie sich genau unter der Einheits-
schule vorstellen und ob Sie tatsächlich die Bildungs-
vielfalt abschaffen wollen.
In dem Sinne: Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Cornelia Pieper für
die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe
die große Bitte an alle Abgeordneten im Deutschen Bun-
destag, aber auch in den Landtagen, endlich die ideologi-
13934 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Cornelia Pieper
schen Scheuklappen abzulegen, wenn wir über Bil-
dungspolitik in Deutschland diskutieren.
Für die Liberalen ist die größte sozialpolitische He-
rausforderung des 21. Jahrhunderts, unseren Kindern
und Jugendlichen eine gute Bildung zu ermöglichen. Der
ehemalige Bundespräsident Roman Herzog hat vor rund
zehn Jahren in seiner berühmten „Ruck-Rede“ erklärt,
Bildung müsse in unserem Land zu einem Megathema
werden, wenn wir uns in der Wissensgesellschaft des
nächsten Jahrhunderts behaupten wollen. Recht hat er
gehabt. Zehn Jahre sind inzwischen ins Land gegangen,
und wir sind ein Stück vorangekommen. Ich behaupte
aber, das reicht noch nicht. Bildung muss das zentrale
Zukunftsthema für Deutschland werden.
Unter diesem Gesichtspunkt stimme ich zumindest
dem Titel des Antrages von Bündnis 90/Die Grünen
„Bildungsstrategie für mehr Chancengerechtigkeit star-
ten“ zu. Die Frage ist nur, wie wir das in Deutschland
umsetzen.
Aus der teilweise richtigen, aber nicht ganz vollständi-
gen Analyse im Antrag zieht die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen aus meiner Sicht falsche, nämlich rein ideo-
logische Schlussfolgerungen.
Ich will noch einmal die Fakten nennen. Nach den
letzten internationalen Studien ist es so, dass Deutsch-
land zu den elf IGLU-Teilnehmerstaaten gehört, in de-
nen 2006 signifikant bessere Leseleistungen erzielt wur-
den als 2001. Deutschland liegt erstmals über dem
OECD-Durchschnitt. Beim Schwerpunkt Naturwissen-
schaften erreicht Deutschland Platz 13 von 57 Nationen.
Schauen Sie sich in diesem Zusammenhang einmal die
Rangfolge der Bundesländer an: Auf Platz 1 liegt Bay-
ern, auf Platz 2 Baden-Württemberg, auf Platz 3 Sachsen
und auf Platz 4 Thüringen. Danach folgen Hessen und
Sachsen-Anhalt. Soweit ich mich erinnere, regiert in kei-
nem dieser Bundesländer Rot-Grün.
Man muss den Schwarz-Weiß-Diskussionen mit Vor-
sicht begegnen. Deswegen will ich sie nicht fortsetzen.
Wir sehen keinen kausalen Zusammenhang zwischen so-
zialer Selektion, also den schlechteren Chancen von
Kindern aus bildungsfernen Schichten, und einem ge-
gliederten Schulsystem. Nicht nur wir, sondern auch der
Bildungsexperte Professor Dr. Prenzel meint:
Wer nur die Schulstruktur ändert, wird auf die Nase
fallen.
Recht hat er.
Es geht aber um mehr. Wir haben noch weitere große
Sorgen in diesem Land, was das Bildungssystem anbe-
langt.
Wir ignorieren nicht die rund 24 Prozent junger Men-
schen, die ihre Berufsausbildung abbrechen. Wir igno-
rieren nicht die 8 bis 9 Prozent Schülerinnen und Schüler
pro Jahrgang, die noch nicht einmal ihren Hauptschulab-
schluss schaffen.
Jedes Schicksal, jedes Kind ist uns wichtig. Alle Kinder,
gerade die aus einkommensschwachen Elternhäusern,
müssen eine Chance auf bessere Bildung bekommen.
Deswegen meinen wir: Der Schlüssel zum Erfolg, was
die chancengerechte Bildung angeht, ist mehr frühkind-
liche Bildung.
Diese frühkindliche Bildung muss eine intensive Sprach-
förderung beinhalten, gerade für Kinder mit Migrations-
hintergrund. Auch die Mütter dieser Kinder müssen bei
der Förderung einbezogen werden.
Wir brauchen bessere Bildungseinrichtungen und bes-
sere Kindergärten, die auch Bildung vermitteln. Deswe-
gen sind bundesweite Bildungsstandards, mit denen die
Qualität von Kindergärten beschrieben werden kann,
vonnöten.
Wir brauchen eine bessere Qualifizierung von Erziehe-
rinnen und Erziehern; da gebe ich den Grünen recht. Wir
wollen, dass zumindest die Kindergartenleiterinnen ei-
nen Fachhochschulabschluss haben.
Wir wollen mehr Qualität in der Bildung und eine indi-
viduellere Förderung von Kindern. Das ist der Schlüssel
zu mehr Chancengerechtigkeit und zu mehr Qualität in
unserem Bildungssystem. So werden wir im internationa-
len Wettbewerb besser bestehen können.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Kollege Swen Schulz, SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um es vor-
wegzusagen: Der Antrag der Grünen geht in die richtige
Richtung.
Allerdings gibt es an dem Antrag etwas, was mich auf
den ersten Blick gestört hat, nämlich der Titel. Die Grü-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13935
(C)
(D)
Swen Schulz
nen wollen „mehr Chancengerechtigkeit“ und nicht
Chancengleichheit.
Ich möchte zwar nicht kleinlich erscheinen, aber wir
müssen bei den Begrifflichkeiten aufpassen.
Gerechtigkeit ist eine Kategorie, mit der etwas, was
ungleich ist, legitimiert wird.
– Hören Sie mir doch zu, Frau Hinz! – Der Grundsatz
zum Beispiel, dass jemand, der mehr leistet, auch mehr
bekommen soll, beschreibt dies. Doch um Gerechtigkeit
zu organisieren, müssen die Chancen gleich sein. Unser
Ziel für das Bildungswesen ist, Chancengleichheit zu er-
reichen. Das ist Voraussetzung für Gerechtigkeit.
Das muss von Anfang an organisiert werden. Viele
Kinder haben aufgrund ihrer Herkunft, aufgrund ihrer
sozialen oder familiären Situation schlechte Startbedin-
gungen. Darum ist es so notwendig, dass wir die Krippen
und Kitas als Bildungseinrichtungen begreifen, in denen
die Kinder gefördert werden.
Es ist ein großer Schritt, wenn wir den Rechtsanspruch
auf vorschulische Bildung und Betreuung ab dem ersten
Geburtstag festschreiben, das Angebot ausbauen und die
Qualität verbessern. Ich begrüße ausdrücklich, dass un-
ser Koalitionspartner in dieser Hinsicht hinzugelernt hat
und inzwischen das, was Rot-Grün unter Familienminis-
terin Renate Schmidt forciert hat, akzeptiert.
Es ist aber nicht zu verschweigen, dass wir innerhalb
der Koalition noch einen Konflikt haben. Teile der CDU/
CSU fordern die Einführung eines Erziehungsgeldes.
Die Familien, die ihre Kinder nicht in die Krippe oder
die Kita geben möchten, sollen vom Staat Geld erhalten
– gewissermaßen als Ausgleich, weil sie die staatlich fi-
nanzierte Einrichtung nicht in Anspruch nehmen.
Ich habe die wirklich herzliche Bitte: Lassen Sie diese
Idee in der Mottenkiste verschwinden.
Denn was würde in der Realität passieren? Familien, de-
ren Kinder eine besondere Förderung benötigen, weil
sich die Eltern nicht kümmern können oder wollen, wer-
den ihre Kinder sehr häufig zu Hause behalten; denn das
ist bares Geld für die Eltern.
Wird dieses Geld von den Eltern dafür genutzt, die Kin-
der auch tatsächlich zu fördern?
Werden pädagogisch sinnvolle Spiele gekauft und dann
auch gemeinsam gespielt?
Werden Ausstellungen besucht, Ausflüge organisiert,
Sprachförderung gemacht?
Es wird sicherlich die eine oder andere Familie aus die-
sem problematischen Bereich geben, die das macht.
Aber ich denke, in der Regel wird das nicht so sein.
Wir brauchen alle Kraft und alle Mittel für die Ein-
richtungen, für deren Ausstattung und deren Personal so-
wie für die Gebührenfreiheit. Gehen Sie einmal in eine
Kita und sprechen Sie dort mit den Erzieherinnen, die
sich jeden Tag für die Kinder einsetzen, die Probleme
beheben und die Integration fördern. Sprechen Sie ein-
mal mit ihnen über das Erziehungsgeld. Ich glaube, da
werden Sie nicht gut landen. Das ist ein wirklich falscher
Weg. Bitte lassen Sie das sein!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bildung braucht
Zeit. Chancengleichheit kann es nicht geben, wenn die
Schule mittags vorbei ist und die Kinder danach auf sich
allein gestellt sind. Das Lernen ist ja mit dem Schul-
schluss nicht vorbei. Es müssen Hausaufgaben gemacht
werden, oder es muss für die Arbeit am nächsten Tag ge-
lernt werden. Es ist ganz offensichtlich: Kinder, die in
der Familie unterstützt werden, haben dann gute Karten.
Aber das ist nicht überall so.
Besonders klar werden die Probleme, wenn man sich
verdeutlicht, dass Nachhilfe inzwischen ein milliarden-
schwerer Markt ist. Das zeigt, wie ungleich die Chancen
verteilt sind. Denn wer kann oder will sich das leisten
und wer nicht? Wir müssen aber allen den gleichen Zu-
gang zu Bildung ermöglichen, egal wie viel Geld die El-
tern haben.
Darum ist es für die Förderung aller – übrigens auch für
die der starken Schülerinnen und Schüler – so wichtig,
dass wir flächendeckend Ganztagsschulen einrichten.
Auch das ist übrigens ein Punkt, den Rot-Grün mit Bil-
dungsministerin Bulmahn forciert hat
13936 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
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Swen Schulz
und der inzwischen von der CDU/CSU unterstützt wird.
Wir begrüßen das.
Die Einführung von Ganztagsschulen ist natürlich Auf-
gabe der Bundesländer. Ich sage das nicht, weil ich hier ir-
gendetwas wegschieben will – ganz und gar nicht. Im Ge-
genteil: Gerade die SPD hat sich im Deutschen Bundestag
im Rahmen der Debatte um die Föderalismusreform I da-
für eingesetzt, dass der Bund den Ländern im Bereich der
Schulen helfen darf.
Die Länder haben aber darauf bestanden, dass sie ganz
allein für die Schulen zuständig sind.
Ich bin mir nicht sicher, ob alle Ländervertreter begriffen
haben, dass diese Kompetenz auch eine entsprechende
Verantwortung nach sich zieht, der sie gerecht werden
müssen.
Im Rahmen der Diskussion über die Föderalismusre-
form II werden wir diesbezüglich wohl keine grundle-
gend neue Weichenstellung hinbekommen. In einem
Punkt sollten wir aber Einigkeit herstellen können: Der
alte Investitionsbegriff, der Ausgaben für Beton erleich-
tert und Ausgaben für Bildung erschwert, gehört raus
aus den Verfassungen von Bund und Ländern. Das ist ein
Relikt des Wiederaufbaus. Heute müssen wir vor allem
in die Köpfe investieren.
Jetzt nähere ich mich dem Diskussionsthema, das von
meinen Vorrednern schon genannt wurde.
Neulich erzählte mir ein Freund arabischer Herkunft,
dass seine Brüder und er am Ende ihrer Grundschulzeit
nicht etwa eine Gymnasial- oder Realschulempfehlung,
sondern eine Hauptschulempfehlung bekommen haben,
obwohl die Leistungen sehr gut waren. Sie hatten richtig
ordentliche Noten. Heute sind sie Bauingenieur, Bioche-
miker und Herzchirurg.
Wie viele Eltern haben aus welchen Gründen auch
immer nicht die Kraft wie diese Familie, das Beste für
ihre Kinder durchzusetzen? Wie viele Talente haben wir
schon „vergeudet“?
Herr Weinberg, die PISA-Studie hat sehr deutlich ge-
zeigt, dass die Abhängigkeit des Bildungserfolgs vom
sozialen und familiären Hintergrund eklatant ist. Kinder
ausländischer Herkunft müssen wesentlich besser als an-
dere sein, um eine Gymnasialempfehlung zu erhalten.
Das ist nicht tragbar. Das muss anders laufen.
Ich bin sicher, dass die Einführung der Gemein-
schaftsschule hierbei ein notwendiger Schritt ist. Natür-
lich weiß ich, dass das nicht das Allheilmittel ist. Das al-
lein wird es nicht bringen. Es geht vor allem um die
Inhalte, die Lehrerausbildung und die pädagogischen
Konzepte. Es ist aber offensichtlich, dass das gegliederte
Schulsystem, die frühe Aufteilung der Schüler auf ver-
schiedene Schularten, ein großes Problem ist.
Grundidee des gegliederten Schulsystems ist, dass ho-
mogene Gruppen besser lernen. Ich kann die Befürch-
tung von Eltern verstehen, dass ihr talentiertes Kind im
Schulalltag durch schwächere Schüler möglicherweise
am Lernen gehindert wird. Es gibt auch Fälle, wo das
heute so ist. Darum muss nicht nur die Form, sondern
auch der Inhalt der Schule besser werden. Es geht um
eine Schule neuen, modernen Typs, wie sie in vielen
Staaten erfolgreich ist, in denen die Starken und die
Schwachen optimal gefördert werden.
Wenn die Logik des gegliederten Schulsystems stim-
men würde, müssten unsere Abiturienten ja die besten
der Welt sein. Das ist aber nicht der Fall.
Erst wenn eine moderne Pädagogik etabliert wird, wer-
den alle Schüler besser. Finnland und Kanada zeigen,
wie es geht. Herr Weinberg, ich bitte Sie, noch einmal
genau in die PISA-Studie zu schauen.
Herr Weinberg, auch Ihnen muss es doch zu denken
geben, dass die deutschen Grundschulen, die ja praktisch
Gemeinschaftsschulen sind – dort lernen alle gemeinsam –,
im internationalen Vergleich besser abschneiden als die
Oberschulen.
Herr Weinberg, vielleicht überzeugt Sie die folgende
Tatsache: Den deutschen Schulpreis 2007 hat eine Ge-
samtschule gewonnen.
Die weiteren Preisträger sind ein integriertes Förderzen-
trum, eine weitere integrierte Gesamtschule, eine
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13937
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Swen Schulz
Montessori-Gemeinschaftsschule und – immerhin – ein
Gymnasium. Das ist übrigens eine bessere Quote als
2006. Damals war überhaupt kein Gymnasium unter den
Preisträgern.
Herr Köhler hat vor wenigen Tagen gesagt: Schon
heute ist zu beobachten, dass dort, wo die Schulinfra-
struktur aufgrund sinkender Kinderzahlen ausdünnt, die
Bereitschaft zu pragmatischen Lösungsansätzen wächst.
Wo zugunsten der Kinder und damit der Zukunft gehan-
delt werden muss, sollten ideologische Vorbehalte – etwa
über Schulstrukturen oder den jahrgangsübergreifenden
Unterricht – an Bedeutung verlieren.
Der Bundespräsident hat recht. Ich kann nur alle auf-
fordern, aus ihren ideologischen Schützengräben heraus-
zuklettern. Das Bildungssystem bestimmt unsere Zu-
kunft. Deswegen müssen wir es immer wieder auf den
Prüfstand stellen. Das gegliederte Schulsystem stammt
nun einmal aus der Kaiserzeit. Es ist von ständischem
Denken geprägt. Es wird modernen Erfordernissen nicht
mehr gerecht.
Wir dürfen niemanden zurücklassen, und wir wollen auf
kein Talent verzichten. Darum brauchen wir die Ge-
meinschaftsschule. Ich setze darauf, dass diejenigen, die
bei der vorschulischen Bildung und bei der Ganztags-
schule hinzugelernt haben, dies auch in diesem Punkt
tun.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Kollegin Cornelia Hirsch, Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
PISA-Schock aus dem Jahre 2001 war vor allen Dingen
deshalb ein so großer Schock, weil damals ganz klar
schwarz auf weiß festgestellt und endlich einer breiten
Öffentlichkeit bekannt wurde, was der große Skandal
des deutschen Bildungssystems ist: dass diejenigen, die
aus Familien mit wenig Geld kommen, herausgekickt
werden und ohne Perspektive auf der Straße stehen blei-
ben. Dass das so ist, finden wir falsch. Wenn wir uns die
Ergebnisse von IGLU und PISA, die in diesem Jahr er-
mittelt wurden, ansehen, dann müssen wir feststellen
– Herr Weinberg, das gilt auch für Sie –, dass sich an
diesem Skandal nicht das Geringste geändert hat,
dass sich die soziale Ungleichheit sogar weiter ver-
schärft hat.
Genau diese Kritik wird im Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen aufgegriffen. Deshalb begrüßt ihn die Linke
ausdrücklich. Wir halten es auch für richtig, dass dieser
Antrag in den Bundestag eingebracht wurde. Wenn uns
auch vonseiten der Bundesbildungsministerin immer
wieder erzählt wird, man könne im Bildungsbereich
eigentlich gar nichts machen, weil die Länder hierfür
verantwortlich seien, stehen wir vor ganz konkreten
Herausforderungen, die dringend angegangen werden
müssen. Für die Linke möchte ich vier Punkte nennen,
die wir in diese Debatte einbringen möchten.
Der erste Punkt – er ist schon angesprochen worden –
betrifft den Föderalismus. Als Vernor Muñoz, der UN-
Sonderberichterstatter, in seinem Bericht festgestellt hat,
dass das Recht auf Bildung in Deutschland missachtet
wird, hat uns die Bundesbildungsministerin sinngemäß
gesagt, das täte ihr leid, sie würde es nicht gut finden,
aber sie könne daran wenig ändern, da für den Bildungs-
bereich in diesem Land hauptsächlich die Länder zustän-
dig seien.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts einer
solchen Aussage müsste langsam wirklich allen Beteilig-
ten klar werden, dass die derzeitige Kompetenzvertei-
lung zwischen Bund und Ländern keinen Sinn macht
und dass wir, nachdem Sie die Föderalismusreform I be-
reits vergeigt haben, dafür sorgen müssen, dass wir nicht
auch noch die Föderalismusreform II vergeigen.
Obwohl es bei der Föderalismusreform I im Bildungs-
ausschuss eine breite Mehrheit dafür gab, mehr Kompe-
tenzen des Bundes im Bildungsbereich zu fordern, um
auch in Zukunft Programme wie das Ganztagsschulpro-
gramm initiieren zu können, hat sich Bundesbildungs-
ministerin Annette Schavan hier absolut beratungsresis-
tent gezeigt und sogar noch Kompetenzen an die Länder
abgegeben. Dieser Fehler darf im Rahmen der Föderalis-
musreform II nicht wiederholt werden.
Die Linke hat Vorschläge vorgelegt, wie man bei-
spielsweise die Bildungsfinanzierung zu einer Gemein-
schaftsaufgabe von Bund und Ländern machen könnte;
das wäre ein Schritt in die richtige Richtung.
13938 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Cornelia Hirsch
Ich lade Sie ganz herzlich ein, mit uns gemeinsam über
weitere Schritte in diese Richtung zu diskutieren.
Zweiter Punkt. Wenn wir die jetzige Kompetenzver-
teilung zwischen Bund und Ländern zugrunde legen und
überlegen, was getan werden könnte, muss man feststel-
len, dass Sie noch nicht einmal die Möglichkeiten, die
jetzt vorhanden sind, nutzen. Was hindert Sie beispiels-
weise daran, den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz ge-
setzlich zu verankern?
Das wäre ein richtiger Schritt. Dadurch könnte man da-
für sorgen, dass auch Kinder aus Hartz-IV-Familien
nicht ausgegrenzt werden, weil sie zu Hause bleiben,
und von den Angeboten frühkindlicher Bildung profitie-
ren.
Was hindert Sie daran, eine gesetzliche Ausbildungs-
platzumlage auf den Weg zu bringen, damit nicht jedes
Jahr Tausende von Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz
auf der Straße stehen und noch während ihrer Schulzeit
sagen müssen: Ich habe ohnehin keine Perspektive, ich
kann nichts Sinnvolles machen?
Was hindert Sie daran, das Thema Weiterbildung
nicht so anzugehen, dass Sie auf das Bildungssparen set-
zen und somit diejenigen fördern, die ohnehin viel ha-
ben? Warum nehmen Sie nicht die Weiterbildung als
eine der wichtigsten Herausforderungen in den Blick
und versuchen nicht, diejenigen, die bisher aus dem Bil-
dungssystem herausgekickt wurden, ganz gezielt zu för-
dern und zu unterstützen, um ihnen im Rahmen der Wei-
terbildung eine Perspektive zu geben, damit sie sich
selbstbestimmt in die Gesellschaft einbringen können?
Niemand hindert Sie daran, das zu tun, nur Sie selbst.
Es ist Ihre politische Entscheidung, solche Punkte nicht
anzugehen. Die Linke hat hierzu Anträge eingebracht.
Ich kann Sie nur dazu auffordern, die entscheidenden
Schritte zu machen. Sie sind möglich, und sie wären
wichtig für ein besseres Bildungssystem in diesem Land.
Dritter Punkt. Bildungspolitik ist natürlich kein iso-
liertes Themenfeld. Sie alle wissen – das ist bekannt und
nachgewiesen –, dass in diesem Land laut offiziellen
Angaben weit über 2 Millionen Kinder und Jugendliche
in Armut leben. Das ist die offizielle Zahl, die Dunkel-
ziffer liegt noch bedeutend höher. Aber selbst diese offi-
zielle Zahl ist mehr als doppelt so hoch wie die vor der
Einführung von Hartz IV. Sie alle, liebe Kolleginnen und
Kollegen, haben diese Hartz-Gesetze beschlossen. Ihre
Beschlüsse haben mit dazu geführt, dass es so viele Kin-
der und Jugendliche gibt, die in diesem reichen Land in
Armut leben.
– Herr Tauss, das werden Sie sich schon anhören müs-
sen. Auch Sie haben für diese Gesetze gestimmt. – Sie
sind somit mit dafür verantwortlich, dass es Kinder und
Jugendliche gibt, die kein Geld für Schulbücher, für das
Mittagessen in der Schule oder für anständige Kleidung
haben, weil sie das Geld sparen müssen, da es sonst
nicht für die Fahrkarte zur Schule reicht. Dafür sind Sie
hier alle mitverantwortlich. Mit Ihrer Sozialpolitik tra-
gen Sie zu Bildungsarmut und Bildungsausgrenzung bei.
Ich nenne noch zwei weitere Punkte. Erstens. Wenn
Sie schockiert darüber sind, dass Migrantinnen und Mi-
granten im Bildungssystem durchgereicht werden, dann
müssen Sie sich auch die Frage stellen, wer die Gesetze
macht, die dazu führen, dass immer noch nicht alle Men-
schen, die in diesem Land leben, die gleichen sozialen
und politischen Rechte haben. Zweitens. Schauen Sie
sich an, wie die Schulen und Hochschulen ausfinanziert
sind. Auch da muss man sich die Frage stellen: Wer
macht denn die Steuergesetze, die dafür verantwortlich
sind, wie viel Geld in den öffentlichen Kassen vorhan-
den ist? Wenn durch die Steuer- und Finanzpolitik Gel-
der an diejenigen verteilt werden, die ohnehin schon viel
haben, und die öffentlichen Kassen leer geräumt werden,
dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn man
keine gute Bildung hat. Die Linke spricht sich für Um-
verteilung, und zwar von oben nach unten, und mehr
Geld für die öffentlichen Kassen aus, damit man eine
gute Bildung finanzieren kann.
Vierter Punkt. Herr Präsident, damit komme ich zum
Schluss. Es muss Schluss sein mit der Tabuisierung der
Schulstruktur. Die Linke fordert eine Schule für alle
Kinder. Das können Sie, jedenfalls nach der aktuellen
Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern, hier
nicht beschließen, aber Sie könnten endlich damit aufhö-
ren, falsche Behauptungen aufzustellen, die es den Län-
dern erschweren, eine Schule für alle Kinder durchzuset-
zen.
Besten Dank.
Ich erteile nun das Wort Kollegin Marion Seib, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Kollege, wir machen hier Bundespolitik.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Nach dem Durchlesen des Antrags der
Grünen „Bildungsstrategie für mehr Chancengerechtig-
keit starten“ habe ich richtig aufgeatmet, und zwar aus
zwei Gründen. Erstens haben Sie sich nicht an die
Grundorientierung Ihrer Politik in der Wissensgesell-
schaft gehalten. In Ihrem Grundsatzprogramm in dem
Kapitel „Aufbruch in die Wissensgesellschaft“ haben
Sie unter der Überschrift „Grundorientierung unserer
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13939
(C)
(D)
Marion Seib
Politik in der Wissensgesellschaft“ Folgendes festgehal-
ten – das ist interessant –:
In der Wissensgesellschaft wird experimentelles, ri-
sikoreiches, fehlerfreundliches Denken und Han-
deln zentrale Schlüsselqualifikation für die Bürge-
rinnen und Bürger. Ihre Chancen liegen darin, dass
sie Verfahren entwickeln, aus Erfahrungen zu ler-
nen.
Sie gehen also offenbar davon aus, dass jeder bildungs-
willige Bürger jeden Tag das Rad neu erfinden muss.
Aber gerade das Aufbauen auf vorhandenem Wissen ist
der Schlüssel für Erfolg, und zwar für generationenüber-
greifenden Erfolg. Dies ist Ihnen offensichtlich suspekt.
Das zweite Mal habe ich aufgeatmet, als ich Ihren
Hilferuf nach Vorgaben durch die Bundesregierung für
eine durchdachte Bildungspolitik gelesen habe. Offen-
sichtlich sind Sie beratungsfähig; das beruhigt. Ihre Ein-
schätzung der Lage erbringt allerdings den Beweis, dass
Sie in Ihrer Fraktion und Partei Vorurteile gegenüber der
föderalistischen Struktur unseres Landes regelrecht pfle-
gen, immer nach dem Motto: Draußen hängt die Welt in
Fetzen, lasst uns drinnen Speck ansetzen. – Nur ist es in
diesem Fall ideologischer, zentralistischer Speck, der im
Übrigen so veraltet ist, dass Sie sich garantiert den Ma-
gen daran verderben.
Dabei haben Sie offensichtlich die Entwicklungen in
den Ländern verschlafen. Die Internationale Grund-
schul-Lese-Untersuchung, IGLU, ist Ihnen durch die
Lappen gegangen. Sie beweist, dass unsere Grundschü-
ler bei der Lesekompetenz heute im europäischen Spit-
zenfeld liegen.
Bei der internationalen Vergleichsstudie PISA 2006
wurde bei den Naturwissenschaften eine signifikante
Leistungssteigerung erreicht. Bei der Lesekompetenz
und in der Mathematik gibt es kontinuierliche Verbesse-
rungen. So weit zu den Fakten.
Wenn es aber ein unbezweifelbares Ergebnis aller in-
ternationalen Vergleichsstudien gibt, dann dieses: Aus
ihnen ist keine allein selig machende Schulstruktur abzu-
lesen. Die Fortschritte bei IGLU und PISA zeigen, dass
sich der Bildungsföderalismus und die Bildungsvielfalt
in Deutschland bewährt haben.
Deshalb können wir auch die Ergebnisse der Länderaus-
wertung mit Spannung und vor allem mit Zuversicht er-
warten. Aber ich sage Ihnen auch: Es muss ein Födera-
lismus im Rahmen bundesweiter Verbindlichkeiten und
Vereinbarungen sein.
Trotz allem gibt sich niemand mit dem zufrieden, was
erreicht wurde. Deshalb setzen insbesondere die unions-
regierten Länder auf folgende sechs Punkte.
Erstens: Verstärkung der vorschulischen Förderung.
Wir unterstützen die frühkindliche Bildung, indem wir
80 000 Erzieherinnen Weiterqualifizierungsmaßnahmen
ermöglichen.
Zweitens investieren wir auch in den Ausbau von
Ganztagsschulen. Die Zahl der Ganztagsschulen in
Deutschland steigt, und zwar kontinuierlich. Sie schaf-
fen Zeit und Raum für Bildung und Erziehung.
Drittens: individuelle Förderung. In meinem Heimat-
land Bayern wurde Anfang November eine zweite Aus-
bildungsstätte für Förderlehrer eröffnet. Förderlehrer
gibt es bisher nur in Bayern.
Viertens: Integration von Kindern mit Migrationshin-
tergrund. Das Bundesbildungsministerium fördert For-
schung zur Verbesserung von Sprachtests und unterstützt
gemeinsam mit den Ländern die gezielte Sprachförde-
rung von Migranten.
Fünftens: Erhöhung der Durchlässigkeit des Schulwe-
sens. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Nach unserem
Verständnis soll es künftig keinen Abschluss ohne An-
schluss geben. Dies ist ein enorm wichtiger Schritt in die
Zukunft.
Sechstens müssen wir die Schulen bei ihrer Erzie-
hungsarbeit unterstützen. Dabei haben wir von der
Union natürlich alle im Blick, nicht nur die Akademiker-
kinder, sondern auch die Arbeiterkinder,
die Kinder aus bürgerlichen Familien, Kinder von Hand-
werkern, Landwirten, Beamten, Geschäftsleuten, Händ-
lern, Angestellten und Freiberuflern. Es muss einmal in
aller Deutlichkeit gesagt werden: Wir spielen weder die
Kinder und Jugendlichen noch die Eltern gegeneinander
aus.
Wir wollen nicht – wie vorhin geschehen, Herr Kol-
lege –, dass alle Eltern als erziehungsunfähig hingestellt
werden.
Dagegen verwahren wir von der Union uns ganz ener-
gisch. Wir pflegen nicht die Unterschiede. Wir wollen
alle Talente fördern.
Alle sollen ihr Potenzial ausschöpfen können. Deshalb
gibt es bei uns keinen Einheitsbrei, sondern Vielfalt.
Die 15 Einzelforderungen in Ihrem Antrag, Frau Kol-
legin, sind in weiten Teilen überholt oder von anderen
abgekupfert. In den Ziffern eins bis sechs verteilen Sie
weiße Salbe für Strukturveränderer. In Ziffer sieben be-
13940 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Marion Seib
stätigen Sie Ihre eigene Schlafmützigkeit; denn die Na-
tionale Qualifizierungsinitiative liegt seit August 2007
vor.
Unter Ziffer 8 bis 10 verbreiten Sie ziemlich lauwarme
Luft und schwülstige Wort- und Satzgebilde mit den
Hauptinhalten: sollten, könnten, müssten. Schön, dass
Sie sich wenigstens unter Ziffer 11 der Forderung nach
der Durchsetzung des Bildungssparens anschließen; dies
wird von den christlichen Arbeitnehmerverbänden CDA
und CSA seit vielen Jahren gefordert.
Unter Ziffer 12 geben Sie immerhin zu, dass Ihnen die zahl-
reichen öffentlich finanzierten Projekte bekannt sind – um
dann unter Ziffer 14 und Ziffer 15 anzudrohen, dass Sie
sich gerne hinter irgendwelchen Gutachten verstecken
würden, um Ihrer Verantwortung für die individuellen
Bildungsbedürfnisse der Menschen zu entkommen.
In einem Punkt, der Ziffer 13 Ihres Forderungskata-
logs, haben Sie in der Tat recht: Es ist unabdingbar, die
Länder und Kommunen finanziell und organisatorisch in
die Lage zu versetzen, den neuen und vielfältigen Bil-
dungsaufgaben in Gegenwart und Zukunft nachzukom-
men. Lassen Sie uns alles tun, damit wir unser aller Ziel
erreichen: die bestmögliche Förderung aller kindlichen,
jugendlichen und auch erwachsenen Talente.
Ihr Antrag, verehrte Kollegen von den Grünen, ist dazu
nicht die richtige Wahl.
Besten Dank.
Das Wort hat nun Kollege Ernst Dieter Rossmann,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Weil der Ausgangspunkt für die begrüßenswerte Vorlage
der Grünen die PISA-Studien sind, möchte ich für die
Sozialdemokratie noch einmal ausdrücklich sagen: Alle
Kritik, die ja von verschiedenen Kultusministern am Ins-
titut PISA und an dem, was die OECD beispielhaft für
viele Länder geäußert hat, geübt worden ist, weisen wir
zurück.
Wir finden, PISA ist ein gutes Instrument, und es ist
auch in Ordnung, wie mit diesem Instrument umgegan-
gen worden ist.
Es freut uns, dass das, was Frau Wolff oder Herr Rau
oder Herr Busemann einmal gegen PISA sagen wollten,
am Ende einer nüchternen und anerkennenden Betrach-
tung, bis ins konservative Lager hinein, gewichen ist.
Frau Sommer und auch andere sagen, dass es gut ist,
dass wir diesen Blick über die Grenzen unseres Landes
hinaus haben. Wenn wir ihn nicht hätten, könnten wir
jetzt keine objektive Bewertung vornehmen. Bei dieser
Bewertung muss man einen Mittelweg gehen. Die Panik,
die dabei war, als Sie, Frau Hirsch, die Ergebnisse von
IGLU bis PISA angesprochen haben, ist nicht ange-
bracht; aber es ist auch noch nicht an der Zeit, sich auf
die Schulter zu klopfen.
Wir haben bei IGLU tatsächlich gute Ergebnisse er-
reicht. Die kleine Bemerkung sei gestattet: Die Grund-
schule ist eine Gemeinschaftsschule.
Die Grundschule ist eine Einrichtung, in der alle Kinder,
unabhängig von den sogenannten Begabungen und Vor-
aussetzungen, die sie mitbringen, gemeinsam, im binnen-
differenzierten Unterricht, in einer Klasse, unterrichtet
werden. Grundschulpädagogen sind große Künstler,
großartige Pädagogen, dass sie es schaffen, ein solches
Leistungsvermögen, in der Breite, bei allen Kindern,
aufzubauen. Die IGLU-Ergebnisse sind toll.
Die PISA-Ergebnisse sind zwar besser geworden,
aber noch nicht gut genug. Wenn die grüne Fraktion un-
seren Blick darauf lenkt, dass die Grundkritik, das
Grunderschrecken, das wir bei PISA hatten und nach
wie vor haben, zur Folge haben muss, dass wir PISA als
Herausforderung begreifen, dann ist das richtig. Anders als
andere Länder haben wir es noch nicht erreicht, dass bei
uns alle – und nicht 20 Prozent nicht! – eine ausreichende
Grundfertigkeit, Grundfähigkeit in Lesekompetenz, in
mathematischem Verständnis, in naturwissenschaftlichem
Verständnis haben. Anders als in anderen Ländern gibt
es bei uns nach wie vor einen engen Zusammenhang
zwischen sozialer Herkunft und Bildungsverwirkli-
chung. Andere Länder machen uns auch vor, wie man
zugewanderte Kinder und Jugendliche besser fördern
kann.
Wenn wir darin übereinstimmen, dann müssen wir
auch darin übereinstimmen, dass die gemeinsame He-
rausforderung so auf den Punkt gebracht werden kann:
Wir müssen uns in Deutschland nachhaltig mit dem Pro-
blem der Bildungsarmut auseinandersetzen.
Dazu möchte ich drei Anmerkungen machen, mit denen
ich vertiefen will, was Kollege Schulz schon angesprochen
hat: eine Anmerkung zur Bewusstseinsfrage, eine An-
merkung zur Strukturfrage und eine zur Strategiefrage.
Was die Bewusstseinsfrage angeht: Wir können im-
mer alles von der Politik aus betrachten. Ich möchte aber
einen anderen Blickwinkel wählen: den von Lehrern,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13941
(C)
(D)
Dr. Ernst Dieter Rossmann
von Eltern und von Schülern. Bei der Lektüre der IGLU-
Studie, bei der wir ja gute Ergebnisse erreicht haben, ist
mir aufgefallen, dass ein Ergebnis höchst bedenklich ist:
das Ergebnis, dass Lehrer, obwohl sie so gute Grund-
schullehrer sind, Kinder offensichtlich umso eher für
eine weiterführende Bildungseinrichtung vorschlagen, je
höher der Sozialstatus ist, den diese von den Eltern mit-
bringen. Es ist ein Problem, dass jemand 100 Punkte
weniger haben muss, falls er aus einem Haushalt mit
Höchstqualifizierten kommt, während jemand 100 Punkte
mehr haben muss, wenn er aus einer Landarbeiterfamilie
kommt.
Woher kommt dieses Problem? Kommt es daher, dass
es dort noch eine gedankliche Assoziation gibt und dass
man die Diagnostik und das Umgehen damit nicht ge-
lernt hat? Kommt es vielleicht auch durch die stille und
nicht ausgesprochene Erwartung hinsichtlich dessen,
wie es einem solchen Kind in der weiterführenden Bil-
dungseinrichtung im gegliederten Schulsystem ergehen
würde, sodass man von daher schon glaubt, dass ein
Kind aus diesem oder jenem Milieu mehr in diese oder
jene Bildungseinrichtung passt?
Neben der Lehrerseite gibt es auch noch die Seite der
Eltern, wo es ähnlich ist. Auch hier wird uns durch die
Ergebnisse gezeigt, dass Familien, die wir eher als bil-
dungsfern beschreiben würden, ihre Kinder nur dann für
weiterführende Schulen empfehlen, wenn die Kinder
deutlich besser sind und ganz gewaltig gute Leistungen
erbringen, sodass den Kindern die Normalchancen, die
sie haben müssten, in diesen Familien nicht zugestanden
werden.
Das Bittere ist: Das, was Lehrer und Eltern hier realisie-
ren, ist bei den Kindern schon so früh angekommen, dass
es sich nur ein ganz geringer Prozentsatz der Arbeiter-
kinder vorstellen kann, jemals ein Abitur machen oder
studieren zu können. Ein Akademikerkind kann sich
dagegen natürlich fast in jedem Fall vorstellen, zu stu-
dieren und eine gute Bildungslaufbahn zu absolvieren.
Angesichts dieses Ausgangspunkts der Analyse
möchte ich jetzt noch einmal dafür werben, dass wir uns
die Gemeinschaftsschule und das gegliederte Schulwesen
nicht immer wieder strukturell um die Ohren hauen, son-
dern uns fragen, was die Chance eines längeren gemein-
samen Lernens sein könnte. Eine Chance könnte sein,
dass die Lehrer von schwierigen und falschen Entschei-
dungen entlastet würden, weil sich das richtige Bild im
Bildungsvollzug zeigt. Für die Familie könnte die
Chance bestehen, dass sie sich in einer durchgängigen
Bildungseinrichtung befindet und dort einen längeren
gesicherten Bildungsweg beschreiten kann. Für die Kin-
der besteht die Chance, dass sie nicht mehr das Gefühl
haben, dass sie ab einem bestimmten Punkt nicht mehr
als Kind betrachtet werden, das Entwicklungsmöglich-
keiten hat, sondern als Kind, das eine Sortierung durch-
laufen muss.
Dies müssen wir gemeinsam aufnehmen und auch
verstehen. Dann wird man auch für ein gemeinsames
längeres Lernen eintreten können.
Die einen haben hierbei die Vorstellung einer gemein-
samen Schule. Diese ist im Rahmen des Deutschen
Schulpreises 2007 mit den besagten Gesamtschulen an-
gesprochen worden. Bei diesem Wettbewerb ist aber
auch ein Gymnasium ausgezeichnet worden, nämlich
das Friedrich-Schiller-Gymnasium aus Marbach. Der
Schulleiter hat in der Rückerinnerung gesagt: Wir ma-
chen in unserem Friedrich-Schiller-Gymnasium in Mar-
bach das, was gute Gesamtschulen schon immer getan
haben. Wir fördern alle Kinder individuell. Wir fördern
sie in einer gemeinschaftlichen Aktion, indem wir uns
team- und lehrerübergreifend für sie einsetzen.
Sie stellen immer die Rückfrage, was wir denn mit
den Gymnasien machen. Die Schulstruktur kann doch
nur das Vehikel sein, aus dem man die kulturelle Frage,
also die Frage, wie die Schulkultur aussieht, entwickelt.
Auch Gymnasien können sich in Verantwortung für alle
Schüler kulturell ganz anders entwickeln, als sie sich
vielfach leider entwickelt haben.
Ich wollte versuchen, Ihnen dies nahezubringen,
Herrn Weinberg und anderen, weil die KMK zu Recht
sechs, sieben Punkte angegangen ist, die gut sind: von
der frühkindlichen Bildung bis zur Ganztagsschule. Sie
werden uns erlauben, dass wir hinsichtlich der Ganztags-
schule immer noch richtig stolz sind,
wenn wir uns daran erinnern, wie andere hier zu anderer
Gelegenheit darüber gesprochen haben.
Wenn es um die Strukturfrage geht, dann geht es nicht
nur um die Schule, sondern auch um die frühkindliche
Bildung, die Eltern-Kind-Zentren, die Ganztagsschulen
bis hin zu einer Schulheimat, in die auch das Umfeld und
der Stadtteil mit einbezogen werden, das längere ge-
meinsame Lernen – durchaus auch in Verschiedenheit –,
die Ausbildung für alle und schließlich auch um das
lebenslange und lebensbegleitende Lernen. Wenn es
nicht möglich ist, dass alle im dualen System eine Aus-
bildung erhalten, dann muss man das duale System
durch ein anderes System ergänzen, nämlich das der
überbetrieblichen oder schulischen Ausbildung, damit
alle eine Ausbildung erhalten. Wir sind dort nicht dog-
matisch festgelegt. Wir sollten uns aber darauf festlegen,
dass alle eine Ausbildung erhalten.
Eine Ergänzung möchte ich schon noch machen: Bei
Förderungen von Kindern und Jugendlichen wird in
Kategorien von Stipendien, Stiftungen und anderem
gedacht. Wir glauben, dass das Bildungsrecht ein Recht
ist, das man – auch bezüglich der Förderung – einklagen
können muss. Deshalb waren wir im Unterschied zu an-
13942 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Dr. Ernst Dieter Rossmann
deren beim BAföG so sehr dafür. Wir sind auch sehr für
ein Bildungssparen und dafür, dass es beim Aufstiegs-
ausbildungsförderungsgesetz Rechtsansprüche geben wird,
die man erweitern kann, auch mit der Perspektive auf ein
Erwachsenenbildungsförderungsgesetz. Es ist vielleicht
die Zeit, zu sagen: Wir müssen über das Schüler-BAföG
neu nachdenken. Die SPD will das jedenfalls tun, weil
wir glauben, dass das Schüler-BAföG ein kritischer
Punkt ist.
Denn manche verabschieden sich davon, alle Bil-
dungschancen ihrer Kinder mitzurealisieren, weil sie
eine materielle Ungleichheit und Unsicherheit für sich
sehen.
Nach den Strukturfragen jetzt zur Strategiefrage. Es
ist gut, dass es jetzt einen Bildungsgipfel geben soll. Es
ist gut, wenn wir dort viel Gemeinsamkeit haben. Aber
es wirkt auch klärend, wenn wir uns den Streit nicht
ersparen. Streit sollten wir uns nicht ersparen, weil aus
der Differenz neue Ideen entstehen können. Wir Sozial-
demokraten sehen in Bezug auf diesen Bildungsgipfel,
dass die Bundesregierung die Stärkung der Alphabetisie-
rung und Grundbildung aufgenommen hat. Das kann
man ausbauen. Da ist sehr viel passiert.
80 000 Kindertagesstättenkräfte und ein Internetportal
können noch nicht alles sein. Wir haben a) wesentlich
mehr Erzieherinnen und Erzieher, und b) ist das Internet-
portal allein noch nicht die ganze Lösung. Da müssen
Bund und Länder zusammenkommen.
In Bezug auf Schulen müssen wir uns überlegen, wie
wir die ureigenste Länderaufgabe, die Lehrerausbildung,
endlich als den zentralen Punkt festlegen können. Das ist
fast der Restant aus den sieben Punkten, die die Kultus-
ministerkonferenz 2001 mitbeschlossen hat. Vielleicht
kann der Bund mithelfen – von Bildungsforschung über
strukturelle Unterstützung –, damit die Lehrerausbildung
eine Einheitlichkeit, aber auch eine andere Qualität be-
kommt.
Wir sehen sicherlich, dass wir auch in Bezug auf
Fachkräfte eine wirkliche Bildungsoffensive starten
müssen. Dabei gibt es für uns ein Anliegen: Es darf nicht
nur ein Fachkräftegipfel, sondern muss ein Bildungsgipfel
werden.
Das sind wir den Analysen von IGLU und PISA schuldig;
denn das ist eine lebensbegleitende, sich aufbauende
Struktur. Man kann es nicht reduzieren; denn dort müs-
sen der humanistische und der bildungsökonomische Im-
puls zusammenkommen.
Ich möchte gern noch einmal auf den Blickwinkel der
Kinder zurückkommen. Wir in Deutschland sollten es
schaffen, dass mehr Kinder in dem Bewusstsein leben:
Ich habe alle Chancen, die will ich nutzen, und ich
bekomme immer wieder Chancen, für die ich mich
anstrengen will. Dieses Gefühl und seine Auswirkungen
werden wir hoffentlich in späteren Studien im internatio-
nalen Vergleich wiederfinden. Damit es dazu kommt,
gilt auch für Politiker, dass wir uns anstrengen müssen.
Danke.
Das Wort hat nun Uwe Barth, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Es ist um die zwar wenigen, aber immerhin vorhandenen
positiven Ansätze in dem Antrag sehr schade, weil sie
unter einem ganzen Berg von falschen Behauptungen,
selektiv und tendenziell verwendeten Fakten und fal-
schen Schlussfolgerungen verschüttet sind.
Jawohl, unser Bildungssystem wirkt leider immer
noch selektiv. Jawohl, das ist nicht gut, das müssen wir
ändern. Jawohl, dazu muss auch Politik beitragen. Aber
nein, es ist nicht allein Aufgabe von Politik. Nein, das ist
nicht die Folge von quasi böswilligen Handlungen von
Politikern oder gar irgendwelchen Lehrern. Nein, es ist
keine zwangsläufige Folge von Strukturen.
Nein, liebe Kollegen von den Grünen, Gleichmacherei
ist kein hehrer Grundsatz, sondern ein grundfalscher An-
satz.
Soziale Selektivität ist ein Phänomen, zu dem viele
unterschiedliche Faktoren beitragen. Ich will ein paar
nennen, die in dem Antrag völlig verschwiegen werden.
Die Erkenntnis, dass Bildung einen Wert an sich hat und
dass sie Voraussetzungen für das ganze Leben schafft, ist
in unserer Gesellschaft nicht gleichmäßig verteilt. Der
Satz, den auch meine Oma mir immer wieder gesagt hat:
„Lerne ordentlich, damit später einmal etwas aus dir
wird“, wird in bildungsnahen und bildungsfernen Eltern-
häusern sicherlich ganz unterschiedlich weitergegeben.
Schauen wir, wo unter den Weihnachtsbäumen Bücher
liegen und in welchen Elternhäusern Kinder dazu ange-
halten werden, diese Bücher zu lesen.
Schließlich stellt sich die Frage, welche Eltern es
sind, die durch Druck auf die Lehrer dafür sorgen, dass
ihre Kinder eine Gymnasialempfehlung bekommen, ob-
wohl sie von ihren Leistungen her nicht geeignet sind,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13943
(C)
(D)
Uwe Barth
und welchen Elternhäusern das eher egal ist. Wir alle
kennen die Antworten. All dies trägt mit dazu bei, dass
sich die soziale Selektion als objektiv wahrnehmbare
Realität in den Statistiken niederschlägt.
Die Korrelation zwischen sozialer Herkunft und
Gymnasialempfehlung hat übrigens entgegen den Be-
hauptungen in Ihrem Antrag in den letzten Jahren deut-
lich abgenommen. Zugegeben, das ist kein Grund zum
Ausruhen, aber es ist immerhin ein Fakt, den man auch
zur Kenntnis nehmen muss.
Wir wissen zwar, dass es Schülerinnen und Schüler
mit Migrationshintergrund im Bildungssystem nicht
leicht haben. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass bei-
spielsweise Kinder von Migranten aus Vietnam ihre
deutschen Mitschüler bei den Noten in den Schatten stel-
len.
Das hat möglicherweise mit der Wertschätzung der Bil-
dung zu tun, die in der jeweiligen Kultur bzw. in den El-
ternhäusern vermittelt wird. Eine Folge oder gar der Be-
weis einer gezielten Benachteiligung ist dies bestimmt
nicht.
Die Strukturdebatte, die Sie beginnen, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, ist weder zweckdienlich noch in ir-
gendeiner Form begründet. Als Rot-Grün in Nordrhein-
Westfalen regiert hat, gehörten die nordrhein-westfäli-
schen Kinder im bundesweiten Bildungsvergleich zu den
Verlierern.
Die Bildungsdurchlässigkeit ist im strikt dreigliedrigen
System Baden-Württembergs besonders hoch, und die
Lebensperspektiven für Kinder aus sozial benachteilig-
ten Elternhäusern stellen sich in Bayern am günstigsten
dar. Zwar ist auch dort nicht alles Gold, was glänzt, aber
IGLU und PISA zeigen, dass es Lichtblicke gibt. Deut-
sche Kinder sind besser geworden. Die Konzepte der in-
dividuellen Förderung, der schulischen Eigenständig-
keit und eines neuen Bewusstseins unter den Pädagogen
beginnen zu greifen.
Es gibt noch mehr, was die Politik tun kann, damit
sich unser Bildungssystem weiter verbessert. Dazu ge-
hören die Voraussetzungen für eine bessere vorschuli-
sche Bildung, mehr Eigenständigkeit für die Schulen, die
verbesserte Überprüfung der schulischen Bildungsleis-
tungen und die Verbesserung der Lehreraus- und -weiter-
bildung. Es geht auch darum, von den Besten zu lernen,
und vor allem um eines, nämlich die Anerkennung von
erbrachten Leistungen und erzielten Verbesserungen.
Das nämlich motiviert Menschen, und Motivation ist
eine der wichtigsten Triebfedern, die alle am Bildungs-
system Beteiligten für ihren persönlichen Erfolg brau-
chen.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7465 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts
des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend
– zu dem Antrag der Abgeordneten Antje
Blumenthal, Thomas Bareiß, Thomas Dörflinger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marlene
Rupprecht , Ingrid Arndt-Brauer,
Clemens Bollen, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Gesundes Aufwachsen ermöglichen – Kinder
besser schützen – Risikofamilien helfen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Miriam Gruß,
Ina Lenke, Sibylle Laurischk, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP
Schutz und Chancen für die Kinder in
Deutschland
– zu dem Antrag der Abgeordneten Ekin Deligöz,
Birgitt Bender, Dr. Harald Terpe, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Kinder entschlossen vor Vernachlässigung
schützen
– Drucksachen 16/4604, 16/4415, 16/3024, 16/5695 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Blumenthal
Marlene Rupprecht
Miriam Gruß
Diana Golze
Ekin Deligöz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
13944 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Johannes Singhammer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Fürchterliche Tragödien um vernachlässigte, miss-
handelte und getötete Kinder haben in den vergangenen
Tagen und Wochen die Menschen in Deutschland er-
schüttert. Ich denke dabei an den Mord an fünf Kindern
in Darry durch eine offensichtlich psychisch gestörte
Mutter. In Plauen fanden Polizisten die Leichen von drei
Kindern. In den letzten Monaten vergingen kaum vier
Wochen, in denen nicht grauenvolle Schicksale von Kin-
dern bekannt wurden.
Als einen besonders abscheulichen Fall beschreibt
das Magazin Focus die Misshandlung des kleinen
Simon, ein Jahr und neun Monate alt:
Simon verstummte mit einem Schlag. Eine gezielte
Gerade vom Freund der Mutter. Das Kind fiel ins
Koma. Zu Hause war endlich Ruhe.
Als der Täter von der Polizei vernommen wurde, er-
klärte er:
Vom Gefühl her hänge ich mehr an meinem Hund.
Das sind völlig unterschiedliche Sachverhalte, aber es
gibt stets ein Opfer: die Kinder. Deshalb hat eine Politik
die Bringschuld, alles zu tun und nichts zu unterlassen,
um die Schwächsten, die Kleinsten, die Hilflosesten, die
Unschuldigsten in unserem Land zu schützen.
Kompetenzgerangel und unterschiedliche Zuständigkei-
ten dürfen keinesfalls wichtiger sein als der Schutz unse-
rer Kinder.
Wir haben in den vergangenen Monaten in der Gro-
ßen Koalition ein 37-Punkte-Programm erarbeitet mit
der Überschrift „Gesundes Aufwachsen ermöglichen
– Kinder besser schützen – Risikofamilien helfen“, das
durch die schlimmen Ereignisse der letzten Tage eine
traurige Aktualität erhalten hat. Ziel ist es, zum Schutz
der Kinder ein Netz mit einem ganz klaren Grundkon-
zept zu weben: Prävention, Vorbeugung, Früherkennung.
Aber lassen Sie mich in diesem Zusammenhang eines
ganz klar feststellen: Wir wollen nicht Eltern und Fami-
lien unter Generalverdacht stellen. Die allermeisten El-
tern in Deutschland kümmern sich liebevoll um ihre
Kinder und tun alles für sie.
Diese Familien haben unseren Dank, unseren Respekt
und auch unsere Unterstützung verdient. Starke und in-
takte Familien
sind die beste Voraussetzung für ein glückliches Auf-
wachsen von Kindern.
Überforderte Familien in finanziellen Notlagen, Fami-
lien, bei denen der innere Zusammenhalt nicht mehr ge-
geben ist, brauchen Einzelunterstützung, aber auch die
richtigen Rahmenbedingungen. Deshalb sieht unser
Maßnahmenkatalog unter anderem vor: Maßnahmen zur
Stärkung der Elternkompetenz, passgenaue Hilfen für
Familien in besonderen Belastungssituationen, eine
frühzeitige, verlässliche und genau abgestimmte ver-
netzte Unterstützung der Familien durch Kinderärzte,
Krankenhäuser, Erzieherinnen, Kindergärten, Polizei,
Gesundheits- und Jugendämter.
Die Vorsorgeuntersuchungen wollen wir zu einem
maßgeschneiderten Konzept der Früherkennung aus-
bauen, und zwar durch eine Überarbeitung der Untersu-
chungsverfahren, um zielgenau Kindesvernachlässigun-
gen frühzeitig zu erkennen, durch eine Verdichtung der
Intervalle bei den Vorsorgeuntersuchungen und durch
Bonusprogramme, Anreize, um möglichst alle Eltern zu
überzeugen, ihre Kinder an den kostenlosen Vorsorgeun-
tersuchungen teilnehmen zu lassen.
Ich kann mir auch gut vorstellen, dass das geplante
Betreuungsgeld nur dann vollständig ausgezahlt wird,
wenn die Eltern einen lückenlosen Nachweis der Teil-
nahme an Vorsorgeuntersuchungen vorlegen.
Ich freue mich, dass eine ganze Reihe von Bundeslän-
dern die Verpflichtungen und Anreizsysteme bereits
kombinieren, zum Beispiel Bayern.
Mein Dank gilt an dieser Stelle der Bundeskanzlerin
dafür, dass sie in der kommenden Woche im Gespräch
mit den Ministerpräsidenten den Kinderschutz zur Chef-
sache erklären und die Abstimmung mit den Ländern
durchführen wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zur Ehrlich-
keit und Wahrheit gehört aber auch, dass bei allen be-
schlossenen Maßnahmen und Programmen kein Garan-
tiezertifikat ausgestellt werden kann, das besagt, dass es
in Zukunft in Deutschland keinen einzigen Fall mehr
von Kindesmisshandlung oder gar Kindestötung gibt.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang bezüglich
der Diskussion um die Frage Kinderrechte, Kinderschutz
in die Verfassung klar sagen: Die Erfahrung zeigt leider,
dass die Eltern, die uns in der Vergangenheit mit ihrem
Verhalten besonders erschüttert haben, nicht ins Grund-
gesetz geschaut haben.
Ich bitte deshalb, diesem Antrag mit einer sehr um-
fangreichen Konzeption, mit einem dicht geknüpften
Netz für mehr Kinderschutz zuzustimmen, weil wir da-
mit das politisch Mögliche auf den Weg bringen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13945
(C)
(D)
Johannes Singhammer
Ich füge an dieser Stelle hinzu: Neben allen Program-
men, Paragraphen und Gesetzesbestimmungen, die wir
noch formen werden, brauchen wir in Deutschland vor
allem ein Klima der Kinderfreundlichkeit. Dazu kann es
dienen, wenn sich gelegentlich der eine oder andere Er-
wachsene auf die Augenhöhe von Kindern, also auf
80 Zentimeter, hinabbewegt. Das muss nicht zur Ver-
zwergung – auch nicht in der Politik – führen, sondern
kann ein neuer Schritt hin zu mehr Menschlichkeit sein.
Danke schön.
Das Wort hat nun Miriam Gruß, FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Die Debatte über den heutigen Tagesord-
nungspunkt haben wir im März dieses Jahres zum ersten
Mal geführt. Das Traurige ist: Wir sind heute keinen
Schritt weiter. Damals erschütterte uns der Fall Kevin
und der eines Mädchens, das aus dem zehnten Stock ge-
worfen wurde. Heute sind es der Fall Lea-Sophie und die
Vorkommnisse in Darry oder Plauen. Für all diese Kin-
der kommt die heutige Diskussion in diesem Plenum viel
zu spät. Jeden Tag, jede Stunde, vielleicht gerade in die-
ser Minute, gibt es zig Kinder in unserem Land, die un-
sere Hilfe bräuchten, die von uns aus dem Bundestag,
aus der Politik von Bund, Ländern und Kommunen, aber
natürlich auch aus der Gesellschaft, von Nachbarn und
Menschen in der Umgebung, in der Nähe. Wir alle, Poli-
tik und Gesellschaft, müssen uns heute eingestehen: Es
ist nicht fünf vor zwölf, sondern fünf nach zwölf. Erhe-
bungen des Bundeskriminalamtes zeigen zwar, dass die
Zahl der Kindstötungen nicht steigt. Aber ganz ehrlich:
Wer weiß schon, wie hoch die Dunkelziffer ist? Jedes
vernachlässigte, misshandelte oder tote Kind, egal ob
von einer Statistik erfasst oder nicht, ist eine Niederlage.
Wir müssen jetzt endlich anfangen, aus unseren Fehlern
zu lernen.
Erstens. Betrachten wir die Kinder- und Jugendhilfe.
Schon hier fehlt es an allen Ecken und Enden. Wir brau-
chen mehr Personal. Wenn ein Mitarbeiter des Jugend-
amtes 200 Fälle zu betreuen hat, wie soll er dann Zeit
haben, ein Kind in Augenschein zu nehmen und zu er-
kennen, wie es dem Kind geht? Den Jugendämtern müs-
sen als Schnittstelle zu den Familien verlässliche perso-
nelle und sachliche Ressourcen zur Verfügung gestellt
werden. Ebenso muss in die Aus-, Fort- und Weiterbil-
dung der Mitarbeiter der Jugendämter investiert werden,
damit deren Diagnosekompetenz gestärkt wird.
Zweitens, was die Familien betrifft: Wir brauchen ein
breitgefächertes Angebot der aufsuchenden Hilfe, die
bereits während der Schwangerschaft einsetzt. Wir brau-
chen ein Nationales Zentrum „Frühe Hilfen“, das diesen
Namen auch verdient und nicht mit vier Mitarbeitern in
einem Baucontainer arbeiten muss.
Wir brauchen eine frühe Identifikation und eine engma-
schige Betreuung, um Überforderungssituationen in den
Griff zu bekommen. Die aufsuchende Hilfe muss durch
besonders qualifizierte Familienhebammen, Familien-
fürsorgerinnen und Kinderkrankenschwestern verstärkt
werden. Früher kannten die Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter ihre Leute. Die Bürgerinnen und Bürger konnten
sich ohne Scham an sie wenden. Die Hürde, Hilfe in An-
spruch zu nehmen, ist groß. Jeder hier im Raum und alle,
die uns zusehen, dürften wissen, wie schwer es ist,
fremde Hilfe anzunehmen. Das ist vom faden Beige-
schmack des Scheiterns und des Versagens begleitet.
Doch wer selbst Hilfe aufsucht, hat den größten Teil der
Arbeit schon erledigt. Die Diagnose, selber nicht zu-
rechtzukommen, ist bereits erfolgt. Deshalb brauchen
wir verstärkt niedrigschwellige aufsuchende Angebote.
Wir brauchen darüber hinaus Erwachsenenbildungskon-
zepte und Angebote, die die Elternkompetenz stärken.
Nur wenn wir starke Eltern haben, haben wir starke Kin-
der.
Drittens. Betrachten wir den Haushalt, das Geld. Ohne
Mehrausgaben und eine Neustrukturierung unserer Aus-
gaben werden wir nicht weit kommen. Die Ausgaben für
die Kinder- und Jugendhilfe stagnieren in diesem Jahr.
21 Milliarden Euro sind zwar vermeintlich viel Geld.
Aber dieses Geld kommt in struktureller Hinsicht offenbar
nicht an. Allein die Stagnation dieser Ausgaben zeigt,
welchen Stellenwert Kinder und Familien in unserer Ge-
sellschaft momentan haben. Erschreckend in diesem Zu-
sammenhang sind Pressemeldungen aus Halle oder Bay-
ern – ich will das nur kurz erwähnen, weil es mich
besonders erschüttert hat –, wonach Kinder aus Heimen in
ihre Familien zurückgeführt werden sollen. In Halle geht
es um 314 Kinder. In Bayern ist sogar von allen Kindern
die Rede, die auf lange Sicht nicht mehr in Heimen unter-
gebracht werden sollen. Der Grund ist klar: Eine Heimun-
terbringung kostet pro Kind rund 80 000 Euro im Jahr.
Hier gilt wohl: Lieber ist der Haushalt gesichert als das
Wohl des Kindes. Das darf nicht sein.
Nehmen wir die Diskussion um die Verankerung der
Kinderrechte im Grundgesetz: Natürlich müssen wir zu-
sätzlich konkrete Hilfen anbieten. Papier allein schützt
kein Leben. Die Aufnahme der Kinderrechte in das
Grundgesetz würde aber Signale setzen. Wir würden da-
mit zeigen, welchen Wert unsere Kinder in dieser Gesell-
schaft haben. Das Kindeswohl und damit die Kinder
würden an oberster Stelle stehen, und wir würden da-
durch eine Kettenreaktion auslösen, die bis jetzt noch
nicht vorhanden ist.
Ich kann Ihnen sagen: Aus der FDP kommen positive
Signale. Die SPD, die Linke und die Grünen sprechen
sich bereits dafür aus. Jetzt ist es an Ihnen, der Union,
13946 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Miriam Gruß
den hohen Stellenwert, den Sie Kindern in diesem Land
einräumen, unter Beweis zu stellen und nicht zum Ver-
weigerer der Kinderrechte zu werden.
Herr Singhammer, stattdessen verwirren Sie uns
heute in Pressemitteilungen mit der Forderung nach ver-
pflichtenden Pflichtvorsorgeuntersuchungen und ver-
bindlichen Untersuchungen zur Pflichtvorsorge. Abgese-
hen davon, dass ich nicht weiß, was genau Sie damit
gemeint haben, haben Sie uns noch nicht erklärt, wie die
Ärzte das konkret leisten sollen. Sie wissen selbst: Es
gibt hier noch keine einheitlichen Standards. Es darf
auch nicht sein, dass es Unterschiede in der Behandlung
eines Kindes in Berchtesgaden und in Bremen gibt.
Außerdem haben Sie heute so schön formuliert, es sei
wichtig, dass wir die Eltern ertüchtigen. Abgesehen da-
von, dass das Wort „ertüchtigen“ von anno dazumal ist:
Sie glauben doch nicht wirklich, dass Sie die Probleme
hiermit lösen.
Last, but not least verkaufen Sie uns heute ein
37-Punkte-Programm, das nichts anderes enthält als Ihr
alter Antrag – alter Wein in neuen Schläuchen. Es hilft
trotzdem nichts.
Ich fasse zusammen: Was wir wirklich brauchen, ist
eine umfassende Vernetzung aller am Aufwachsen
Beteiligten, einen regen Erfahrungsaustausch und ein-
heitliche Qualitätsstandards. Wir müssen die Prozesse
evaluieren und ständig nach dem Prinzip leben: Lieber
verbessern als verharren. Kinder werden bei uns leider
immer erst dann vermisst, wenn sie tot sind; so steht es
heute sehr aufrüttelnd in der Zeit. Meine sehr verehrten
Damen und Herren, wir Erwachsenen in der Politik und
in der Gesellschaft sind es, die für unsere Kinder verant-
wortlich sind. Wir dürfen uns in 20 Jahren nicht vorwer-
fen lassen, die Kinder im Stich gelassen zu haben.
Das Wort hat nun Marlene Rupprecht, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will hier keine Fälle schildern. Ich glaube, dieses Thema
sitzt genügend in unseren Emotionen. Was uns in vie-
lem, was wir sagen, anheizt, ist eigentlich unsere Hilflo-
sigkeit: Wir müssen Fällen begegnen, in denen wir nicht
gehandelt haben oder nicht handeln konnten und in de-
nen alle Mechanismen versagt haben, die wir haben.
Gerade weil wir emotional so stark angesprochen
sind, sollten wir dringend etwas beachten. Ein Arzt, der
einen Schwerverletzten oder einen Unfallverletzten am-
bulant zu behandeln hat, kann nicht anfangen, zu wei-
nen, sondern muss eine Diagnose stellen, und dann han-
delt er. Egal wie betroffen er ist: Er versucht, analytisch
vorzugehen. Genau so sollten wir an diese Thematik he-
rangehen. Es geht um die Analyse: Was ist die Ursache?
Was hat nicht funktioniert? Es geht um die Handlungs-
ebene: Was kann der Bundestag tun? Was müssen andere
Ebenen tun? Ich glaube, eine Behandlung dieses Themas
ist erst dann zielführend, wenn diese Fragen beantwortet
sind. Alles andere ist Aktionismus. Er beruhigt unser
schlechtes Gewissen. Wenn es schwierig ist, neigen wir
dazu, nach dem Reiz-Reaktion-System „Oben tut man
etwas hinein, und unten kommt eine Lösung heraus“ zu
verfahren. Im Leben haben Probleme meistens nicht nur
eine Ursache. Deshalb würde ich gern auf einige As-
pekte eingehen.
Tödliche Verletzungen von Kindern gehen zu über
50 Prozent auf Unfälle durch Stürze zurück. Die Mehr-
zahl der tödlichen Verletzungen von Kindern unter ei-
nem Jahr lässt sich auf Misshandlungen durch Schütteln
zurückführen. Schauen wir uns an, welche anderen For-
men von Misshandlungen es noch gibt: Vernachlässi-
gung, seelische und emotionale Misshandlung – sie ist
äußerlich vielleicht nicht sichtbar – und sexueller Miss-
brauch. Ich glaube, wir brauchen dringend eine klare
Unterscheidung. Wenn wir uns dies sowie die Anzahl
der Todesfälle und der Misshandlungen anschauen,
kommen wir zu folgendem Schluss: Wir müssen dort an-
setzen, wo Kinder leben, nämlich in ihrer Lebenswelt –
das ist vor Ort in den Kommunen. Dort muss gehandelt
werden, und dort wird gehandelt.
Ich will an dieser Stelle für diejenigen sprechen, die
tagtäglich in den Jugendämtern gute Arbeit leisten.
Man muss sich die Zahlen einmal anschauen: 30 Sorge-
rechtsentzüge pro Tag, 725 Inobhutnahmen. Das sind
massive Eingriffe. Da müssen die Beschäftigten ent-
scheiden: Breche ich die Tür auf? Befindet sich dahinter
ein misshandeltes Kind? Ist die Familie einfach in den
Urlaub gefahren, obwohl Schulzeit ist? – Immer in
Grenzregionen zu arbeiten, erfordert ein hohes Maß an
Professionalität und Unterstützung. Das sollte man hier
einmal aussprechen.
Ich möchte nicht Beschäftigte in einem Jugendamt sein
und ständig hören müssen, ich hätte zu früh eingegriffen
und hätte Kinder zu früh aus der Familie genommen,
oder ich hätte zu spät eingegriffen.
Eine Untersuchung in Bayern, die die Fachhoch-
schule Coburg erst jetzt veröffentlicht hat, befasste sich
mit unserer letzten Reform des Kinder- und Jugendhilfe-
gesetzes, des KJHGs. Die Antworten der Jugendämter in
Bayern – ich achte diese Ämter sehr, ich arbeite mit ih-
nen und weiß, dass dort Profis sitzen – haben eindeutig
ergeben: Wir können nicht immer nur Personal abbauen
und Finanzen reduzieren. Wir brauchen gut ausgebildete
Kräfte, und zwar eine ausreichende Zahl an Kräften.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13947
(C)
(D)
Marlene Rupprecht
Was kann man tun, außer zu lamentieren? Die Ju-
gendämter sagen: Wir haben keine standardisierten Ver-
fahren. Jeder macht, so gut er kann, aber niemand sagt
einmal, wie es eigentlich richtig geht. – Deshalb brau-
chen wir die Landesjugendämter dringend weiter und
eben nicht den Abbau der Landesjugendämter, der durch
die Verfassungsreform ermöglicht wurde.
Dort können standardisierte Verfahren entwickelt wer-
den. Dabei geht es um Fragen der Art: Wie erkenne ich
eine Kindeswohlgefährdung? Wie greife ich ein? Wie
viel Personal brauche ich dazu? – Die Bandbreite
schwankte von zwei Fachkräften bis zu fünf oder sechs
Fachkräften, die an einem Fall beteiligt sind. Auch da
brauchen sie Unterstützung.
Ein weiterer Mangel. Zwei Drittel sagen: Wir koope-
rieren bereits vor Ort, aber nicht in allen Bundesländern
gibt es standardisierte Verfahren für die Kooperation. –
Unter anderem geht es darum: Meldet das Gericht, wenn
jemand vorbestraft ist? Bei mir vor Ort gab es zum Bei-
spiel den Fall, dass der Freund einer Mutter wegen Ge-
walttaten und Körperverletzung vorbestraft war, das
Gericht das aber nicht gemeldet hat. Da kann die Ge-
sundheitsbehörde wunderbare Verträge mit dem Jugend-
amt und der Polizei gemacht haben – wenn vom Gericht
die Meldung nicht kommt, nützt das alles nichts. Das
heißt, alle Beteiligten müssen melden und Informationen
zusammenführen. Dafür ist ein gut ausgestattetes Ju-
gendamt vor Ort notwendig.
Noch etwas Wichtiges haben die Jugendämter heraus-
gefunden. Sie müssen mit den Gerichten und Staats-
anwälten viel früher kooperieren. Auch wenn ein Sorge-
rechtsentzug – das ist ein starker Eingriff in ein
Verfassungsrecht – abgelehnt wird, müssen sie kooperie-
ren. Wenn das Gericht der Ansicht ist, es sei noch nicht
so weit gewesen, einen solchen Eingriff vorzunehmen,
muss langfristig beobachtet werden: Verschlechtert sich
die Situation?
Diese Forderungen der Jugendämter würde ich gern
hier hineintransportieren und an die Kanzlerin weiterge-
ben. Wenn sie mit den Ministerpräsidenten redet, sollte
sie wirklich mit Bedacht an die Aufgabe herangehen,
nicht mit großen Forderungen und einer Lösung kom-
men, so wie das im Moment in den Medien geschieht.
Ich komme zu der einen Lösung, die immer wieder
gefordert wird. Ich finde es vernünftig, wenn Eltern ihre
Kinder untersuchen lassen. Ich halte es für richtig und
wichtig, dafür zu sorgen, dass Kinder gesund aufwach-
sen. Ich möchte aber dem Parlament sagen: Wir sind der
Gesetzgeber; wir müssen wissen, wofür wir zuständig
sind und wofür nicht.
Wir sind auf Bundesebene für ein Leistungsrecht zustän-
dig, das in sich keinen Zwang kennt. Wir kennen nach
der Verfassung nur einen Fall, in dem wir Zwang anwen-
den dürfen: bei akuter Seuchengefahr. Ansonsten ist kein
Eingriff möglich, schon gar nicht über ein Leistungsge-
setz, das solidarisch finanziert wird.
Das öffentliche Gesundheitswesen ist nach der Ver-
fassung auf Länderebene angesiedelt. Deshalb begrüße
ich, wenn sich die Länder eine gemeinsame Antwort auf
die Frage überlegen – damit wir keinen Flickenteppich
aus 16 verschiedenen Länderregelungen bekommen –,
wie man die Eltern dazu motivieren kann – manche
Krankenkassen tun das –, ihre Kinder regelmäßiger dem
Arzt vorzustellen. Das halte ich für wichtig.
Insgesamt ist es wichtig, das Aufwachsen der Kinder
genauer zu betrachten. Ich möchte kein totes Kind gegen
ein anderes ausspielen; aber 10 Prozent der Todesfälle
von Kindern ereignen sich infolge von Verletzungen und
Unfällen, während sich knapp 2 Prozent infolge von
Misshandlungen ereignen. Wir sollten deshalb die Frage
in den Blick nehmen, was wir tun können, um Verletzun-
gen und Unfälle zu vermeiden, zum Beispiel durch die
Installation von Rauchmeldern – dafür sind die Länder
zuständig – oder durch die Einführung einer Helmpflicht
für Radfahrer – der Verkehrsminister ist heute nicht da –,
um schwere Kopfverletzungen zu verhindern. Wir soll-
ten solche Maßnahmen genau unter die Lupe nehmen.
Wenn uns – unabhängig von öffentlichen Diskussio-
nen – wirklich wichtig ist, was aus Kindern wird, dann
müssen wir Aktionismus vermeiden und das Problem in
seiner Gesamtheit betrachten, dann müssen wir endlich
kapieren, dass man in der Kinder- und Jugendpolitik
nicht nur Schlaglöcher ausbessern darf – ich vergleiche
das immer mit den Maßnahmen bei der Verkehrsinfra-
struktur –, sondern Verkehrswege planen muss. Für die
Kinder- und Jugendhilfepolitik heißt das: Wir brauchen
einen Strukturplan, der dafür sorgt, dass Kinder gut auf-
wachsen.
Ich sage Ihnen noch etwas – Herr Präsident, ich be-
mühe mich, ganz schnell zu sein –: Der Verkehrsminister
baut nicht für Herrn Grübel eine Extrastraße, wenn er ir-
gendwo hinfahren möchte. Er nimmt an, dass Herr
Grübel durch Mobilität teilhaben möchte. Deswegen ist
von vornherein eine Straße vorhanden. Anders verhält es
sich mit einem Schwertransport: Dann gibt es eine Son-
derbehandlung; in außerordentlichen Fällen, wenn ein
besonders großes Schwergewicht transportiert werden
soll, wird eine Brücke verstärkt. Ich wünsche mir, dass
dieses Vorgehen der Verkehrspolitik bei der Verkehrswe-
geplanung auf die Jugend- und Sozialpolitik vor Ort
übertragen wird: vorausschauend planen. Das hilft allen,
ohne dass der Staat eingreift.
Wir sind nicht die besseren Erzieher. Wir alle können
teilhaben, und zwar in Freiheit. Diese Teilhabe wünsche
ich mir. Ich möchte keinen Aktionismus.
Mein großer Wunsch ist – ich danke dafür, dass die Kin-
derkommission in diesem Punkt zusammensteht –, dass
wir dies zum Ausdruck bringen, indem wir sagen: Kin-
13948 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Marlene Rupprecht
der sind natürlich Menschen – das Bundesverfassungs-
gericht hat 1968 Rechte der Kinder anerkannt –, aber sie
sind Menschen mit besonderen Bedürfnissen und An-
sprüchen. Deshalb sollten wir die Kinder als Subjekte er-
kennbar in die Verfassung aufnehmen, um ihnen beson-
deren Schutz, besondere Förderung und kindgerechte
Lebensverhältnisse zu garantieren.
Wir haben mit der Unterzeichnung der UN-Kinder-
rechtsresolution den Kindern besondere Rechte zuge-
standen. Ich bitte Sie, das anzunehmen, was die Kinder-
kommission für sich in Anspruch nimmt – ich bin
dankbar dafür, dass es diese Kommission gibt –: Kinder
müssen ernst genommen, als Rechtssubjekte und als ei-
genständige Persönlichkeiten gesehen werden. Ich hoffe,
dass Sie mit uns gemeinsam marschieren und Ihr Nein
zur Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung noch
einmal überdenken. Die Grundgesetzänderung ist drin-
gend notwendig. Es wäre ein Highlight, wenn wir die
Bedeutung der Kinder für die Gesellschaft in der Verfas-
sung zum Ausdruck bringen würden.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile das Wort Kollegin Diana Golze, Fraktion
Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Ich denke, man muss nicht betonen, dass das
Thema dieser Debatte uns alle betroffen macht. Jeder
Fall von Kindesmissbrauch ist ein Fall zu viel. Wir alle
hoffen, dass wir geeignete Maßnahmen treffen, um die
Zahl der Fälle zu beschränken. Wir alle wissen aber
auch, dass wir nie absolute Sicherheit werden erreichen
können.
Neben den aktuellen Fällen macht es mich betroffen,
wie die Diskussion darüber geführt wird: sehr aktionis-
tisch, sehr überstürzt, stark beeinflusst von dem Druck,
den die Medien auch auf uns, die Bundespolitiker, aus-
üben.
Viel zu leicht kommt man in die Versuchung, sich von
diesem Druck beeinflussen zu lassen und Schnellschüsse
zu machen, bei denen sich dann herausstellt, dass sie
doch nicht dem Wohl der Kinder dienen. Deshalb bin ich
froh über die Diskussion, die wir heute hier zum wieder-
holten Male führen.
Ich möchte nun einige Ausführungen zu den Anträ-
gen machen, die dazu vorliegen.
Zum Antrag der Koalitionsfraktionen. Ich habe mich
sehr darüber gefreut – das habe ich auch schon im Aus-
schuss gesagt –, dass er nicht auf Aspekte abhebt, die in
den letzten Monaten im Raum standen. Ich denke da
zum Beispiel an die Forderung nach Kindergeldkürzun-
gen für die Eltern, die mit ihren Kindern nicht an Vorsor-
geuntersuchungen teilnehmen. Hier stellt sich wirklich
die Frage, nach welchem Motto verfahren werden soll.
Den Kindern würde es ja auf keinen Fall besser gehen.
Dass diese Forderung nun nicht mehr erhoben wurde,
darüber freue ich mich sehr.
In diesem Antrag sind aber auch Punkte enthalten, die
ich nicht ganz teilen kann. Ich habe zum Beispiel ein
Problem mit dem in Ihrem Antrag vorgeschlagenen Aus-
tausch von sensiblen Daten. Da werden ganz viele Stel-
len aufgezählt, die diese Daten untereinander abgleichen
sollen. Aus meiner Erfahrung als Sozialpädagogin be-
fürchte ich, dass hierdurch das Vertrauensverhältnis zwi-
schen den Sozialarbeitern des Jugendamtes und den Fa-
milien zerstört würde. Wir müssen aufpassen, dass das
nicht geschieht.
Das bedeutet auch, dass die Jugendamtsmitarbeiter die
Hauptbezugspersonen für die entsprechenden Familien
sein müssen. Da dürfen nicht zu viele ins Handwerk pfu-
schen. Es darf nicht plötzlich die Polizei als Erste vor der
Tür stehen, vielmehr müssen das die Mitarbeiter des Ju-
gendamtes sein.
Ihrer Forderung, dass wir die Kinder- und Jugendhil-
felandschaft stärken müssen, stimme ich voll und ganz
zu. Dies ist aber nicht nur Aufgabe der Länder und Kom-
munen, auch der Bund trägt hierfür Verantwortung. Ich
hoffe, dass wir diese Verantwortung auch im Zusam-
menhang mit der Föderalismusreform II wahrnehmen
und dem Vorschlag des Bundesrechnungshofes, den Kin-
der- und Jugendhilfeplan des Bundes einzusparen, nicht
Folge leisten. Das stellt keine Lösung dar; das dürfen wir
nicht mittragen.
Auch an die Adresse der Union möchte ich ein Wort
richten. Herr Singhammer, die Begründung, die Sie ge-
gen die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundge-
setz angeführt haben, könnte man auch dazu verwenden,
das gesamte Strafgesetzbuch abzuschaffen. Kein Dieb
und kein Gewalttäter schaut vorher in das Strafgesetz-
buch und überlegt sich dann, ob er die Tat begeht oder
nicht. Das, was Sie gesagt haben, ist für mich also kein
Grund gegen die Aufnahme von Kinderrechten ins
Grundgesetz. Herr Singhammer, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Union, wer Kinderschutz ernst nimmt,
der muss auch die Rechte der Kinder ernst nehmen. Sie
sollten da festgeschrieben werden, wohin sie gehören,
nämlich ins Grundgesetz.
Ich bitte aber auch die Kolleginnen und Kollegen der
SPD, einmal darüber nachzudenken, dass Kinderschutz
kein Thema ist, um sich persönlich zu profilieren. Ein
solcher Profilierungsversuch scheint mir die in der heuti-
gen Frankfurter Allgemeinen Zeitung erhobene Forde-
rung des Parteivorsitzenden Beck zu sein, Kinderrechte
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13949
(C)
(D)
Diana Golze
als „Staatsziel“ in das Grundgesetz aufzunehmen. Ent-
weder handelt es sich um Grundrechte, dann sollte man
sie auch so nennen, oder es sind eben keine Grundrechte.
Falls Sie es auch so sehen, dass es sich um Grundrechte
handelt, bitte ich doch darum, gemeinsam mit uns Sorge
dafür zu tragen, dass wir hier im Hause eine Zweidrittel-
mehrheit erreichen, statt im Alleingang solche Vor-
schläge wie den ebengenannten zu unterbreiten.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Griese?
Natürlich.
Liebe Frau Kollegin Golze, sind Sie bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass die FAZ in diesem Falle geirrt
hat und den Vorsitzenden der SPD falsch zitiert hat? Er
hat in der Tat den gleichen Vorschlag gemacht, den auch
schon die SPD-Bundestagsfraktion unterbreitet hat,
nämlich die Kinderrechte in Art. 6 des Grundgesetzes
aufzunehmen. Das Zitat mit dem Begriff „Staatsziel“ in
der FAZ von heute ist falsch. Die SPD-Bundestagsfrak-
tion und der SPD-Parteivorstand sind mit dem SPD-Vor-
sitzenden einer Meinung in dem Punkt, dass wir die Kin-
derrechte in Art. 6 ins Grundgesetz aufnehmen wollen.
Ich bin sehr gerne bereit, das zur Kenntnis zu neh-
men, wenn es der Wirklichkeit entspricht. Ich hätte mich
natürlich noch mehr gefreut, wenn er gesagt hätte, die
SPD unterstützt den Vorschlag der Kinderkommission,
die Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen.
Kurz zum Antrag der FDP. Hier kommt mir zu stark
der Zusammenhang zwischen armen Kindern, Risikofa-
milien und Kindesvernachlässigung zum Ausdruck. Ich
habe damit ein Problem, weil ich glaube, dass wir auf
diese Weise den Blick zu sehr auf eine bestimmte
Gruppe beschränken. Kindesvernachlässigung gibt es
aber quer durch alle Bevölkerungsgruppen.
Den Antrag der Grünen unterstützen wir, weil in ihm
viele Forderungen enthalten sind, die wir teilen. Er ent-
hält viele Appelle, aber ich finde es schade, dass er kon-
krete Fragen zum Beispiel der Finanzierung außen vor
lässt.
Bei den letzten Haushaltsberatungen haben wir einen
Sonderfonds Jugend vorgeschlagen, um die Einsparun-
gen bei der Kinder- und Jugendhilfe, die in den letzten
Jahren vorgenommen wurden, auszugleichen. Wir müs-
sen dafür sorgen, dass Mitarbeiter von Jugendämtern in
der Lage sind, in die Familien zu gehen und für sie auf
verlässliche Weise da zu sein. Der sich daraus ergebende
finanzielle Bedarf kann von den Ländern und Kommu-
nen alleine nicht getragen werden.
Ich freue mich, dass die Kanzlerin den Kinderschutz
zur Chefsache erklärt hat. Im Namen meiner Fraktion
fordere ich Sie, Frau Bundeskanzlerin, auf, im Rahmen
der Ministerpräsidentenkonferenz am 19. Dezember da-
rauf hinzuwirken, dass diese Verantwortung von allen
politischen Ebenen wahrgenommen wird: von Bund,
Ländern und Kommunen. Ich fordere Sie auf, Ihre Frak-
tion davon zu überzeugen, nicht der Blockierer der Kin-
derrechte im Grundgesetz zu sein. Wer Kinderschutz
wirklich will, darf sich Kinderrechten nicht verweigern.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Ekin Deligöz für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu
Recht ist die Aufregung angesichts erneut schockieren-
der Fälle von Kindesvernachlässigung und Kindestötung
groß. Besonders erschütternd dabei ist, dass die Opfer
als Kinder am allermeisten schutzbedürftig und von ih-
ren Eltern komplett abhängig sind.
Dennoch – oder gerade deswegen – ist an diesem
Punkt Besonnenheit besonders wichtig. Wir dürfen hier
nicht in Aktionismus verfallen. Wir müssen vielmehr zu
einem effizienten Handeln im Sinne des Kinderschutzes
kommen. Das Schutznetzwerk, über das wir hier reden,
ist im Prinzip vorhanden. Es muss darum gehen, dass es
bessere Strukturen und bessere Koordinierungsmöglich-
keiten erhält und dass es enger geknüpft wird. Aber es ist
nicht so, dass es nichts geben würde. Das muss man ein-
mal festhalten.
Ein weiterer Punkt. In den vergangenen Tagen und
Wochen ist die Jugendhilfe teilweise stark angegriffen
worden. Ich finde diese Kritik nicht richtig und sehr
überzogen; denn gerade die Jugendhilfe in diesem Land
leistet in vielen Fällen unter schwierigsten Bedingungen
gute Arbeit.
Das soll keine Schönfärberei sein. Natürlich müssen wir
jeden einzelnen Fall untersuchen, aufklären und analy-
sieren; wir müssen erkennen, was grundsätzlich besser
13950 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Ekin Deligöz
werden muss. Die Kräfte, die in der Jugendhilfe tätig
sind, haben ein offenes Ohr für die Probleme der Betrof-
fenen. Sie wären die letzten, die nicht bereit wären, die
Strukturen zu verbessern. Im Gegenteil: Sie sind bereit,
alles dafür zu tun. Wir dürfen ihnen an diesem Punkt
kein Unrecht tun.
Erfolgreicher Kinderschutz setzt natürlich die Kennt-
nis von Risikolagen voraus. Der Anteil der gefährdeten
Kinder beträgt 3 bis 4 Prozent, bei weiterer Definition
vielleicht 10 Prozent. Diese Fälle können durch Vorsor-
geuntersuchungen aufgedeckt werden. Aber diese Vor-
sorgeuntersuchungen sind nur ein Baustein unter vielen
anderen – nicht mehr und nicht weniger.
Herr Singhammer, Sie reden von Sanktionen. Wir
Grünen lehnen Sanktionen wie Kindergeldkürzungen
oder Führerscheinentzug ab. Wenn Sie polemisch sagen,
diese Menschen würden nicht in die Verfassung schauen,
dann muss ich Ihnen entgegnen, dass Eltern, die in der
Gefahr stehen, ihre Kinder zu vernachlässigen und im
schlimmsten Fall sogar umzubringen, Probleme haben
und unter Störungen leiden. Glauben Sie, dass Menschen
sich von einem Führerscheinentzug oder von einer Kür-
zung des Kindergeldes um 50 oder 100 Euro beeindru-
cken lassen und sich davon abbringen lassen, schwere
Delikte zu begehen?
Glauben Sie wirklich, dass Sie mit diesen Strafen irgend-
etwas erreichen können? Das ist zu kurz gesprungen.
Solche Maßnahmen greifen nicht.
Und zu was führt denn eine zwangsweise Vorführung
beim Kinderarzt, die auch vorgeschlagen wird? Sie führt
dazu, dass das Vertrauen zu den Ärzten verloren geht.
Davor warnen die Kinderärzte selber. Wir brauchen ein
verbindliches Einladungswesen. Da gebe ich der Bun-
desfamilienministerin recht. Wir brauchen ferner ein
Screening nach Risikofällen. Ein unterlassener Besuch
beim Arzt kann – muss aber nicht – ein Hinweis sein.
Die Jugendhilfe und Gesundheitsdienste müssen dann in
der Lage sein, einzugreifen, den richtigen Weg zu finden
und eine Klärung Schritt für Schritt herbeizuführen.
Gerade im Hinblick auf die Säuglinge möchte ich die
Bedeutung der Familienhebammen ganz besonders beto-
nen.
Familienhebammen leisten eine richtig gute Arbeit. Es
ist an uns, ihre Arbeit zu stärken, damit ein Zugang zu
jungen Familien möglich ist.
Geld ist kein Allheilmittel; aber es ist eine unersetzli-
che Grundlage für die Arbeit in Bezug auf den Kinder-
schutz. Es ist die Grundlage der Kinder- und Jugend-
hilfe, der Gesundheits- und Sozialdienste. Wir müssen
die ganze Breite der Arbeit der Jugend- und Sozial-
dienste sehen. Sie fängt bei der Bildung an und reicht
von der Betreuung, der Elternbildung, den Jugendpro-
grammen und Erziehungshilfen bis hin zur Abwehr von
massiven Kindeswohlgefährdungen. Wenn wir dies auch
in Zukunft gewährleistet wissen wollen, müssen wir da-
für Geld und Personal bereitstellen.
Schaut man sich die Zahlen des Statistischen Bundes-
amtes aus dem Jahre 2006 an, sieht man, dass die Mittel
gerade für diesen Bereich bedauerlicherweise nicht
gleich geblieben sind – das wäre angesichts der ver-
schärften Problemlagen an sich schon eine Kürzung –,
sondern dass sie um bis zu 900 Millionen Euro gekürzt
wurden. Wenn Sie uns Grüne fragen, woher wir die Mit-
tel nehmen, dann kann ich nur sagen: Schauen Sie sich
die Beschlüsse des Parteitags von Nürnberg an. In unse-
rem Leitantrag haben wir vonseiten der Grünen sehr
wohl Vorschläge gemacht, wie man Mittel einsparen und
sie im Rahmen einer sinnvollen Infrastruktur umleiten
kann. Eine Umsetzung dieser Vorschläge ist möglich.
Eine letzte Anmerkung zur Stärkung der Kinderrechte
und der Aufnahme dieses Prinzips in das Grundgesetz.
Polemik bringt uns hier nichts. Die Argumente, die Sie
dagegen vorbringen, zählen nicht. Sie haben keinen In-
halt. Hören Sie endlich mit der Blockadehaltung im
Bundestag auf!
Die Kanzlerin ist für eine Stärkung der Kinderrechte, die
Ministerin ist für eine Stärkung der Kinderrechte, Herr
Herzog ist für eine Stärkung der Kinderrechte. Nur Sie
weigern sich immer noch, dieser Tatsache ins Gesicht zu
schauen. Wir müssen an diesem Punkt Signale setzen.
Wir müssen uns dazu bekennen. Es darf nicht sein, dass
Kinderrechte unsere Sonntagsreden schmücken und dass
wir dann, wenn es darum geht, dass dieser Bundestag
endlich handelt, sagen: Wir sind dafür nicht zuständig. –
Das sind wir alle sehr wohl. Daran ändern auch die bes-
ten Wörter nichts. Lassen Sie uns endlich handeln!
Das Wort hat nun Katharina Landgraf für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Die Eltern tragen allein die volle Verantwortung für
das Aufwachsen ihrer Kinder. Die Gesellschaft, wir alle
müssen sie dabei unterstützen. Die Eltern sollen und dür-
fen nicht aus der Pflicht entlassen werden. Die Gesell-
schaft, die Politik und der Staat sollen für sie Partner
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13951
(C)
(D)
Katharina Landgraf
sein. Denn wir dürfen nicht vergessen – Kollege
Singhammer sagte es schon –: 90 Prozent der Eltern
meistern ihre Aufgaben gut, ja hervorragend.
Sie kümmern sich engagiert um ihren Nachwuchs. Also
gibt es überhaupt keinen Anlass, Eltern verstärkt mit ei-
nem grundlegenden Misstrauen zu begegnen. Tun wir
das aber, geraten sie unter einen ständigen Rechtferti-
gungsdruck.
Stattdessen muss die elterliche Erziehungsleistung
noch besser als bisher anerkannt und unterstützt werden.
Das sollte zum Beispiel durch kostenlose Eltern- und Fa-
milienbildung geschehen. Auf diese Weise ist eine Teil-
nahme wirklich allen Familien möglich. Das wäre ein
erster Pfeiler einer Brücke zum Kindeswohl.
Es ist natürlich nicht so, dass es Vernachlässigung nur
in armen Familien gibt. Es ist aber traurige Realität, dass
in Deutschland über 2 Millionen Kinder und deren El-
tern in materieller Armut leben. Armutsbekämpfung
kommt den Schutzbefohlenen zugute. Das ist ein weite-
rer Pfeiler der Brücke zum Kindeswohl. Darin sehe ich
ein wichtiges Ziel unseres Handelns.
In den Fällen, in denen Eltern ihrer Verantwortung
nicht gerecht werden, muss schnell und unbürokratisch
gehandelt werden. Es geht vor allem darum, rechtzeitig
zu erkennen, in welchen Familien die Kinder nicht aus-
reichend versorgt oder gar misshandelt werden. Dazu ha-
ben in den vergangenen Monaten zahlreiche Bundeslän-
der ordentlich Fahrt aufgenommen. Das geschieht
beispielsweise mit verpflichtenden Vorsorgeuntersu-
chungen oder Netzwerken für einen besseren Kinder-
schutz. Bei Nichtteilnahme und fehlender Reaktion auf
Mahnungen der Kinderärzte kommen Mitarbeiter des Ju-
gendamtes in die Familie.
Das finde ich gut.
Von den meisten Eltern werden die Vorsorgeuntersu-
chungen übrigens nicht als Kontrolle oder Überwa-
chung, sondern als Bestätigung und Bestärkung ihrer gu-
ten Betreuungsleistung gesehen.
Das ist gerade in den ersten Lebensmonaten des Kindes
eine wichtige Hilfe und somit ein weiterer Pfeiler meiner
Brücke zum Kindeswohl.
Ein dichtes Netz von Hilfen für Familien in schwieri-
gen Problemsituationen sollte die Vorsorgeuntersuchun-
gen ergänzen, und zwar von Geburt an. Die Akteure in
meinem Wahlkreis praktizieren eine enge Kooperation
zwischen Jugendämtern, Polizei und Gesundheitshilfe.
Dieser Aufwand lohnt sich immer, wenn wir Kindern da-
durch helfen und sie schützen können. Zudem muss es
regelmäßige Kontakte und einen Datenabgleich bezüg-
lich schwieriger Familien geben.
Dafür brauchen wir keine neuen Regelungen.
– Hören Sie mir bitte zu, Frau Lenke. – Gemäß § 8 a
SGB VIII sind die einzelnen Behörden zur Zusammen-
arbeit angehalten. Das muss nur konsequent und vor al-
len Dingen mit qualifizierten Mitarbeitern umgesetzt
werden.
An dieser Stelle setzt das kürzlich ins Leben gerufene
Nationale Zentrum Frühe Hilfen an. Es hat die Aufgabe,
regionale und kommunale Netzwerke, in denen die Ar-
beit von Ärzten und Hebammen auf der einen Seite und
der Kinder- und Jugendhilfe auf der anderen Seite ver-
knüpft wird, zu fördern. Dazu gibt es in fast allen Bun-
desländern Modellprojekte. Von Geburt an gehen Fami-
lienhebammen regelmäßig in die Familien.
In meinem Wahlkreis, im Muldentalkreis, gibt es zum
Beispiel das Projekt „Netzwerke für Kinderschutz in
Sachsen“. Es hat eine doppelte Aufgabenstellung: Unter-
stützung der Eltern bei der Wahrnehmung ihrer Erzie-
hungsverantwortung und Sicherstellung des Kinder-
schutzes in Risikosituationen durch klare Hilfe- und
Kontrollstrategien.
Das andere Modellprojekt „Pro Kind“ ist ein Hausbe-
suchsprogramm für erstgebärende Schwangere in
schwierigen Lebenslagen. Die Begleitung der Frauen be-
ginnt bereits in der Schwangerschaft und wird bis acht
Wochen nach der Geburt durch eine Hebamme geleistet.
Danach erfolgen die Hausbesuche bis zum zweiten Le-
bensjahr des Kindes durch eine Sozialpädagogin. Das ist
das sogenannte Tandemmodell. Die Themen und Inhalte
der Hausbesuche sind den Phasen der Schwangerschaft
bzw. der kindlichen Entwicklung angepasst. Sie umfas-
sen Bereiche wie gesunde Ernährung für Mutter und
Kind, Gesundheitsvorsorge und psychosoziale Entwick-
lung. Dadurch wird Eltern und Kind ein positiver Start
ins Familienleben ermöglicht.
Es sollte für Eltern selbstverständlich sein, in der Zeit
nach der Geburt regelmäßig besucht und informiert zu
werden. Das ist kein Zeichen für Schwäche oder man-
gelnde Kompetenz. Ich will mich klar ausdrücken: Das
Gesundheitssystem bildet einen weiteren Brückenpfeiler
eines effektiven Kinderschutzes.
Eines möchte ich hier noch anmerken: Neugeborene
und ihre Eltern stecken von der ersten Sekunde ihres
neuen Status im Dschungel der deutschen Bürokratie.
Allein die Prozedur der Anmeldung von Babys ist echt
nervig für die jungen Eltern. Unsere geschätzte Kollegin
Marie-Luise Dött hat dazu ein Beweispapier vorgelegt.
Am Schluss wird darauf verwiesen, dass man das in
Irland ganz anders macht: Dort kommt ein Staatsbeamter
in die Klinik, nimmt die Daten auf und kümmert sich um
den Gesamtprozess. Das ist letztlich auch eine Vernet-
zung und eine Erleichterung für Mütter und Familien.
Wir wollen die Behörden vor Ort, also in den Städten
13952 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Katharina Landgraf
und Gemeinden, zur rechtsstaatlichen Kooperation im
Interesse des gesunden Aufwachsens der Kinder ermuti-
gen und gewinnen.
In dieser Woche erreichte mich eine dringende Bitte
aus einem Jugendamt in meinem Wahlkreis. Wir sollten
junge Leute bereits im Schulalter langfristig auf ihre spä-
tere Elternschaft vorbereiten, also eine Art Führerschein
für Eltern einführen. Auf diese Weise könnten neue El-
ternbiografien entstehen, in denen Gewalt und Vernach-
lässigung keine Rolle mehr spielen. Das wäre der
Schlussstein meiner Brücke für einen wirksameren Kin-
derschutz. So könnten wir ein gesundes Aufwachsen der
Kinder ermöglichen.
Am Potsdamer Platz steht ein großes Plakat mit der
Aufschrift „Nichts ist erledigt“. Wir haben angefangen,
wir müssen aber weiter daran arbeiten. Nichts ist für un-
sere Kinder erledigt, mit den Modellprojekten haben wir
aber einen ersten, guten Schritt unternommen. Dafür
möchte ich dem Ministerium danken.
Vielen Dank.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich dem Kollegen Dieter Steinecke, SPD-Frak-
tion, das Wort.
Verehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will jetzt
nicht all das wiederholen, was schon gesagt worden ist;
das schaffe ich in meinen fünf Minuten Redezeit auch
nicht. Einiges möchte ich aber aufgreifen. Ich greife den
Redebeitrag meiner Fraktionskollegin Marlene
Rupprecht auf und stelle erneut klar: Die Rechte der
Kinder in unserem Land müssen im Grundgesetz veran-
kert werden.
Es kann doch nicht angehen, dass unsere Verfassung die
berechtigten Interessen der Tiere schützt, dass wir in die-
sem Hause aber immer noch darüber diskutieren, ob die
Kinderrechte in die Verfassung gehören.
Dabei möchte ich Folgendes klarstellen: Es geht mir
nicht darum, die Eltern in unserem Land unter einen Ge-
neralverdacht zu stellen und sie in ihren verfassungsmä-
ßigen Rechten einzuschränken. Fast alle von ihnen sind
in der Lage, ihre Kinder angemessen zu versorgen und
ihnen liebevolle Zuwendung zu geben. In den Fällen, in
denen sie das nicht können, bedarf es aber der staatli-
chen Gewährleistung der Rechte der Kinder. Bislang
sind diese auf der Ebene des Grundgesetzes nur Objekte
bzw. Gegenstände der Erziehung. Es muss unmissver-
ständlich klargestellt werden, dass Kinder Menschen mit
eigenen Rechten sind. Allgemein und abstrakt formu-
liert: Kinder haben das Recht, im Wohlergehen aufzu-
wachsen, und Staat und Gesellschaft müssen dies ge-
währleisten.
Es geht nicht darum, in die Familien hineinzuregie-
ren. Die bestehenden und noch zu schaffenden Hilfs-
und Beratungsangebote sollen gerade jene erreichen, die
sie brauchen. Daher halte ich übrigens auch nichts von
dem Gedanken, Eltern, die ihre Rolle nicht ausfüllen
können, mit Leistungsentzug wie einer Kürzung des
Kindergeldes oder des Betreuungsgeldes zu bestrafen.
Das schadet mehr, als es nutzt.
So schockierend sie auch sein mögen, es sind nicht al-
lein die aus den Medien bekannten Gewaltexzesse gegen
Kinder, denen unser Augenmerk gelten muss; wir kön-
nen nicht all diese Taten auf legislativem Wege verhin-
dern, so sehr wir das auch bedauern. Es ist nämlich auch
ein zunehmender Trend zur Verwahrlosung zu verzeich-
nen, dem die Gesellschaft und damit auch die Politik be-
gegnen müssen. Die Verwahrlosung, von der ich spre-
che, ist übrigens kein Phänomen, das sich am Rande
unserer Gesellschaft abspielt. Wir finden sie mittlerweile
in allen Schichten vor – wenn wir sie denn finden.
Genau hier liegt nach meinem Ermessen das größte
Problem: Nach dem SGB VIII müssen Jugendämter tätig
werden, wenn ihnen – ich zitiere
gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des
Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt
werden. Doch leider bleiben viele, viel zu viele Fälle un-
entdeckt. Kindern, die im Verborgenen leiden, und Fa-
milien, die sich ihre Überforderung nicht eingestehen
oder aus Scham nicht um Rat und Hilfe bitten, kann
nicht geholfen werden.
Wir brauchen ein ganzes Bündel von Maßnahmen;
darüber ist heute schon oft gesprochen worden. Eine
Schlüsselrolle kommt in diesem Zusammenhang meiner
Ansicht nach dem Öffentlichen Gesundheitsdienst zu.
Durch regelmäßige und verbindliche Untersuchungen in
den Schulen könnten wir fast alle Kinder erreichen. So
könnten Anzeichen von Verwahrlosung, Vernachlässi-
gung, Gewalt und Missbrauch festgestellt werden – si-
cherlich nicht alle, aber auf jeden Fall mehr als heute.
Die Kinder im Vorschulalter sind nicht so einfach zu
erreichen. Gerade diejenigen, die in schwierigen familiä-
ren Verhältnissen leben und unsere besondere Fürsorge
brauchen, besuchen häufig keine Krippe oder Tages-
stätte, in der sie regelmäßig untersucht werden könnten.
Diesem Problem ist man in einigen Bundesländern, wie
ich finde, vorbildlich begegnet – im Saarland ist das be-
reits Realität, und in Hessen, Schleswig-Holstein und
Rheinland-Pfalz wird es ab dem kommenden Jahr so
sein –: Dort gibt es ein umfassendes Einladungs- und
Meldewesen für die krankengesetzlich verankerten
Früherkennungsuntersuchungen. Eltern erhalten für jede
Vorsorgeuntersuchung eine Einladung. Wenn man zu
den Untersuchungen trotz Erinnerung nicht erscheint,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13953
(C)
(D)
Dieter Steinecke
werden die Behörden tätig, suchen die betroffenen Haus-
halte auf und machen, wo dies nötig und sinnvoll ist, auf
Beratungs- und Hilfsangebote aufmerksam.
Es ist anzustreben, dass es solche oder vergleichbare
verpflichtende Regelungen möglichst bald in ganz
Deutschland gibt.
Notfalls muss die Verpflichtung zur aufsuchenden Ju-
gendhilfe nach dem SGB VIII verstärkt werden. Denn es
darf nicht sein, dass ein Kind Glück hat, wenn es in
St. Ingbert, Marburg, Lübeck oder Worms aufwächst,
aber Pech hat, wenn es in meinem Heimatland Nieder-
sachsen lebt. Dort nämlich hat die demnächst zur Ab-
wahl stehende Landesregierung beim Kinder- und Ju-
gendschutz unverantwortliche Kürzungen vorgenommen
und bewährte Institutionen wie das Landesjugendamt
zerschlagen.
Ich sage es noch einmal deutlich: Wir brauchen bundes-
weit einheitlich hohe Standards für die jüngste Genera-
tion. Wenn es um das Wohl der Kinder und um eines ih-
rer elementaren Rechte geht, darf sich niemand ins
föderale Unterholz schlagen. Deshalb bekräftige ich un-
sere Forderung: Kinderrechte müssen in die Verfassung.
Gleichzeitig geht der Auftrag an alle, an Bund, Länder
und Kommunen, diese Rechte durch Handeln zu ge-
währleisten.
Mit großer Freude habe ich vernommen, dass sich
auch die Bundesfamilienministerin dafür ausspricht, die
Rechte der Kinder ausdrücklich im Grundgesetz zu ver-
ankern. Oder muss ich schon sagen: ausgesprochen hat?
Sehr enttäuscht bin ich hingegen von der Kanzlerin, die
in dieser Hinsicht innerhalb ihrer Partei und ihrer Bun-
destagsfraktion noch nicht aktiv geworden ist oder sich
noch nicht wirkungsvoll Gehör verschaffen konnte. Da-
her appelliere ich an Frau Merkel: Machen Sie den Kin-
derschutz zur Chefinsache! Lassen Sie den Worten bitte
Taten folgen, für unsere Kinder, für unsere Zukunft!
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf
Drucksache 16/5695. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des An-
trags der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf
Drucksache 16/4604 mit dem Titel „Gesundes Aufwach-
sen ermöglichen – Kinder besser schützen – Risikofami-
lien helfen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden
Regierungsfraktionen bei Enthaltung der Oppositions-
fraktionen angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/4415
mit dem Titel „Schutz und Chancen für die Kinder in
Deutschland“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU,
SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
FDP bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenom-
men.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/3024 mit dem Titel „Kinder entschlossen vor
Vernachlässigung schützen“. Hierzu liegt eine persönli-
che Erklärung des Abgeordneten Jörn Wunderlich1) vor.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD ge-
gen die Stimmen der Fraktion der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung
der Fraktion der FDP und des Kollegen Wunderlich ange-
nommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
auftragten
Jahresbericht 2006
– Drucksachen 16/4700, 16/6700 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Anita Schäfer
Hedi Wegener
Elke Hoff
Paul Schäfer
Winfried Nachtwei
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Be-
vor ich dem Wehrbeauftragten des Deutschen Bundesta-
ges, Reinhold Robbe, das Wort erteile, bitte ich die Kol-
legen, entweder den Saal zu verlassen oder Platz zu
nehmen, damit die Debatte in aller Ruhe fortgeführt wer-
den kann.
Nun hat Reinhold Robbe, der Wehrbeauftragte des
Deutschen Bundestages, das Wort.
Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen
Bundestages:
Lieber Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen
und Herren! In dieser letzten Sitzungswoche vor dem
Weihnachtsfest liegt dem Deutschen Bundestag mein
Jahresbericht 2006, also der aus dem letzten Jahr, zur ab-
schließenden Beratung vor. Bevor ich gleich darauf ein-
gehe, möchte ich die Gelegenheit nutzen, schon von die-
ser Stelle aus einen Gruß an alle deutschen Soldatinnen
und Soldaten überall in ihren Einsatzgebieten zu richten.
1) Anlage 3
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Wehrbeauftragter Reinhold Robbe
Natürlich grüße ich damit auch alle Soldatinnen und Sol-
daten in den Heimatstandorten.
Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten ihren an-
spruchsvollen, gefährlichen Dienst für die Sicherheit
und Freiheit unseres Landes, der Bundesrepublik
Deutschland. Dafür gebührt ihnen – ich glaube, ich darf
das im Namen aller Anwesenden hier im Hohen Haus
sagen – unser aller Dank und unsere volle Anerkennung.
Ich hoffe und wünsche, dass auch sie trotz aller Ge-
fahren vor Ort ein ruhiges und friedvolles Weihnachts-
fest verbringen können und dass sie vor allem sicher und
wohlbehalten am Ende des Einsatzes oder am Ende des
Kontingents zu ihren Lieben, zu ihren Familien zurück-
kehren können.
Gerade in den vergangenen Wochen und Monaten ist
mehr denn je darum gerungen worden, ob und wie
Deutschland sich an internationalen Einsätzen beteiligt.
Ich erinnere nur an die Diskussionen und die Debatten
über den Einsatz deutscher Tornado-Aufklärungsflug-
zeuge in Afghanistan, die Verlängerung der Mandate
OEF und ISAF oder auch im Zusammenhang mit dem
Einzelplan 14 während der Haushaltsdebatte.
Nicht nur die Medien, sondern gerade auch die Solda-
tinnen und Soldaten unserer Bundeswehr verfolgen diese
Debatten mit allergrößtem Interesse. Denn dabei wird
deutlich, welche außen- und sicherheitspolitischen Ziele
die Regierung entwickelt und wie sich die Opposition zu
diesen einzelnen Themen positioniert.
Unabhängig davon bleiben Regierung und Parlament
aufgefordert, der Bundeswehr die finanziellen und mate-
riellen Mittel zur Verfügung zu stellen, die vor allem
zum Schutz der Soldatinnen und Soldaten sowie zur Er-
füllung ihres Auftrages erforderlich sind. Woran es in
diesem Zusammenhang fehlt, ist in meinem Bericht,
denke ich, ausführlich dargestellt worden.
Im Fokus des Berichtes für das Jahr 2006 standen
aber nicht nur die Einsätze. Besonders das Thema Infra-
struktur – also der seit Jahren aus meiner Sicht unbefrie-
digende, ja teilweise katastrophale Zustand vor allem
westdeutscher Kasernen – war ein Schwerpunkt. Meine
Kritik fand sehr große Resonanz und erhielt zustim-
mende Reaktionen innerhalb, aber gerade auch außer-
halb des Bundestages.
Als ich diesen Kernpunkt bei der Vorstellung meines
Jahresberichts im März 2007 aufgriff, habe ich, ehrlich
gesagt, auf eine solche Resonanz gehofft. Denn die Be-
dingungen, unter denen unsere Soldatinnen und Soldaten
in vielen Kasernen heute leben und arbeiten müssen,
sind in der Tat zumindest teilweise unbeschreiblich. Ich
glaube, viele von Ihnen haben das in den eigenen Wahl-
kreisen nachvollziehen können, wenn Sie Kasernen be-
sucht haben und sich die Soldatenstuben, die Mann-
schaftsunterkünfte sowie die Sanitärbereiche vor Ort
angeschaut haben. Ich glaube, es ist nicht übertrieben,
wenn ich das trotz der mir nachgesagten zurückhalten-
den norddeutschen Art so deutlich dargestellt habe.
An diesem Zustand hat sich bis heute noch nicht sehr
viel geändert. Wie könnte es auch anders sein? – Denn
zwischen der Vorstellung meines Berichts und heute
liegt nur knapp ein dreiviertel Jahr. Allerdings sind nicht
zuletzt aufgrund meines Berichtes erste wichtige Maß-
nahmen eingeleitet worden. Ich bin – das will ich hier
ausdrücklich feststellen – dem Bundesverteidigungsmi-
nister, aber auch der zuständigen Abteilungsleiterin,
Alice Greyer-Wieninger, außerordentlich dankbar, weil
dieses Problem jetzt offensichtlich zur Chefsache erklärt
wurde.
Das in diesem Zusammenhang neu aufgelegte Son-
derprogramm „Sanierung Kasernen West“ stellt für die
Jahre 2008 bis 2011 über den bisherigen Haushaltsansatz
hinaus zusätzliche 645 Millionen Euro zur Verbesserung
der Kaserneninfrastruktur in den alten Bundesländern
zur Verfügung.
Dieses Programm kann allerdings erst ab 2009 zu einer
signifikanten Erhöhung der bereitgestellten Mittel füh-
ren. Doch insgesamt wird auch das leider nicht ausrei-
chen. Der seit langem auf das lediglich unbedingt erfor-
derliche Maß beschränkte Bauunterhalt hat zu einem
derartigen Investitionsstau geführt, dass hier, kurzfristig
wie langfristig, noch weit mehr Finanzmittel erforderlich
sind.
Angesichts der Dringlichkeit dieses Problems habe
ich Anfang November mit Fachleuten aus dem Verteidi-
gungsministerium und der Wehrbereichsverwaltung den
Sanierungsbedarf sowie Möglichkeiten zur Beschleuni-
gung der Verfahrensabläufe erörtert. Dabei zeichneten
sich zwei Problemfelder aus, die in einer zweiten Unter-
redung im Grunde bestätigt wurden, die im Ministerium
selber stattfand: Im Zuge der Umsetzung des neuen Sta-
tionierungskonzeptes wurde die Belegung in den ver-
bliebenen Kasernen so weit verdichtet, dass es an Aus-
weichmöglichkeiten fehlt, wenn Unterkunftsgebäude
wegen der notwendigen Grundsanierung für längere Zeit
geräumt werden müssen.
Hier entsteht eine weitere Schwierigkeit: In der der-
zeitigen Belegungsplanung werden nur die unterkunfts-
pflichtigen Soldaten bis zum 25. Lebensjahr berücksich-
tigt. Alle anderen müssen ihre Unterkünfte in den
Kasernen wegen anderweitigen Bedarfs räumen. Das
trifft vor allem die große Zahl der Pendler, die unter der
Woche auf eine kostengünstige dienstnahe Unterbrin-
gung in der Kaserne angewiesen sind. Betroffen sind
insbesondere Unteroffiziere, die sich mit Blick auf ihre
Besoldung die Anmietung einer zusätzlichen Wohnung
am Dienstort in der Regel nicht leisten können. Wie ich
bereits in früheren Jahresberichten gefordert habe, muss
der Dienstherr dieser geänderten Lebenswirklichkeit
Rechnung tragen und bald nach Möglichkeiten zur Un-
terstützung der betroffenen Soldatinnen und Soldaten su-
chen. Somit ist es gut, dass im Zuge der Erarbeitung ei-
nes neuen Betreuungskonzeptes auch der Gesichtspunkt
„Unterkünfte für Pendler“ berücksichtigt werden soll.
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Wehrbeauftragter Reinhold Robbe
Der Ansatz, hierbei privatwirtschaftliche Erfahrungen
und Kapital für die Bundeswehr im Rahmen einer öf-
fentlich-privaten Partnerschaft nutzbar zu machen, er-
scheint mir persönlich außerordentlich sinnvoll. Entspre-
chende Maßnahmen dürfen aber nicht Jahre auf sich
warten lassen; sie müssen unverzüglich und unbürokra-
tisch kommen, wenn sie in der von mir beschriebenen
Situation wirksam werden sollen.
Bei meinen Truppenbesuchen habe ich immer wieder
festgestellt, dass im Zuge der Sanierung der Liegen-
schaften die Unterbringungsstandards deutlich verbes-
sert werden müssen. Es fehlt an Gemeinschaftsräumen.
Viele Unterkünfte sind nicht einmal mit Fernseh- oder
mit Internetanschlüssen ausgestattet. Darüber hinaus
herrscht akuter Platzmangel in den Unterkunfts- und Ar-
beitsbereichen. Oftmals wird die vorgesehene Stubenbe-
legung deutlich überschritten: Vier-Mann-Stuben sind
nicht nur bei Mannschaften, sondern häufig auch bei Un-
teroffizieren mit sechs oder sogar acht Soldaten belegt.
Darüber hinaus fehlen Funktions- und Betreuungsräume
in den Gebäuden. Angesichts dieses Befundes zeichnet
sich aus meiner Sicht nicht nur ein Sanierungs-, sondern
auch ein Flächenmehrbedarf ab, der bei den geplanten
Maßnahmen unbedingt einfließen muss.
Das zweite grundsätzliche Problem im Zusammen-
hang mit der Sanierung der Kasernenanlagen liegt mei-
nes Erachtens in den Verfahrensabläufen. Sie müssen
deutlich gestrafft, entbürokratisiert und beschleunigt
werden. Dies gilt sowohl für die Bedarfsfeststellung und
Bauplanung als auch für die Bauausführung und Bau-
überwachung, insbesondere im Hinblick auf die erfor-
derliche enge Zusammenarbeit mit den zuständigen Lan-
desbauverwaltungen; das ist also nicht nur eine Sache
des Bundes und der jeweils tangierten Ministerien, son-
dern auch der Bundesländer.
Das ist keine einfache Aufgabe; darüber bin ich mir
im Klaren. Denn auch die Wehrverwaltung wird derzeit,
wie Sie wissen, umstrukturiert. Allein im Bereich der
Liegenschaftsverwaltung ist ein Personalabbau von
40 Prozent vorgesehen, und das in einer Zeit, in der die
Arbeit deutlich zugenommen hat. Hinzu kommt ein wei-
terer Unsicherheitsfaktor: Nach derzeitigem Planungs-
stand sollen alle Liegenschaften der Bundeswehr bis
zum Jahre 2012 in das Eigentum und die Verwaltung der
Bundesanstalt für Immobilienaufgaben übergehen. Zur-
zeit gelten für die Bundeswehr noch entsprechende Son-
derregelungen. Diese drohen dann verlorenzugehen.
Auch darüber muss schnell nachgedacht werden.
Es gibt im wahrsten Sinne des Wortes viele offene
Baustellen. Somit wird das Thema Kasernensanierung
auch in Zukunft sicher ein Schwerpunkt meiner Arbeit
bleiben.
Herr Präsident, ich komme gleich zum Schluss. Ich
bitte Sie, mir noch eine Minute einzuräumen.
Ein ganz anderes, aber mindestens ebenso wichtiges
Thema im vergangenen Jahr waren einmal mehr die De-
fizite im Führungsverhalten. Das war ein äußerst wichti-
ger Punkt. Sie können sich vorstellen, dass mich das sehr
beschäftigt. Darunter befanden sich auch Vorgänge, über
die in den Medien ausführlich berichtet wurde. Ich
nenne nur die Stichworte Coesfeld, Bückeburg, Zwei-
brücken und Wittmund. All diese Standorte stehen für
ein derartiges Fehlverhalten.
In all diesen Fällen haben Vorgesetzte im Kernbereich
ihrer Verantwortung für die ihnen unterstellten Soldaten
eklatant versagt. Wir haben es hier nahezu ausnahmslos
mit einem mangelnden Wertebewusstsein und mit Defi-
ziten in der Menschenführung zu tun. Den Ursachen
muss über die Bewertung des Einzelfalles hinaus drin-
gend nachgegangen werden.
Es geht aber nicht nur um diese spektakulären Fälle.
Unter den Gesichtspunkten Vorbildfunktion, Vertrauens-
verlust und Schwächung in der Ausübung der Diszipli-
narbefugnis habe ich versucht, generelle Mängel und
Defizite im Führungsverhalten aufzuzeigen. Diesen
muss meines Erachtens im Rahmen von Ausbildung und
Dienstaufsicht stärker entgegengewirkt werden. Im
kommenden Jahresbericht werde ich darauf leider erneut
eingehen müssen.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch ein Thema an-
sprechen, das für die Zukunft der Bundeswehr eine
grundsätzliche Bedeutung hat. Ich meine die Attraktivi-
tät des Soldatenberufes. In meinem letzten Bericht habe
ich an vielen Beispielen deutlich gemacht, wie die Ein-
kommensstruktur der Bundeswehrangehörigen aussieht.
Zwei Drittel der Soldatinnen und Soldaten gehören näm-
lich zu den unteren Einkommensgruppen in unserer Ge-
sellschaft. Das weiß in unserer Gesellschaft kaum je-
mand. Unabhängig davon sind aber gerade auch die
Spezialisten unterbezahlt, die durch die Einsätze beson-
ders belastet sind. Beispielhaft nenne ich die Angehöri-
gen des Kommandos Spezialkräfte. Aber auch die Ärzte
im Sanitätsdienst, die Soldaten beim fliegenden Perso-
nal, im Fernmeldebereich und auch bei den Pionieren
sind im Vergleich zur zivilen Wirtschaft deutlich unter-
bezahlt.
Die Notwendigkeit der Attraktivitätssteigerung wird
im Grunde genommen von niemandem bestritten. Wenn
es aber darum geht, Geld für unsere Soldatinnen und
Soldaten bereitzustellen, dann bleibt es oftmals bei Lip-
penbekenntnissen.
Zum Schluss – jetzt kommt wirklich der Schluss –
richte ich meinen Dank für das ausgezeichnete Zusam-
menwirken eigentlich an das gesamte Parlament. Insbe-
sondere – das mag man mir nachsehen – richte ich ihn
aber selbstverständlich an alle Mitglieder des Verteidi-
gungsausschusses und auch an diejenigen, die im Haus-
haltsausschuss Verantwortung haben.
Ich richte meinen Dank natürlich auch an das gesamte
Präsidium des Deutschen Bundestages, und zwar nicht
nur dafür, dass der Wehrbeauftragte hier zwei Minuten
überziehen durfte,
13956 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
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Wehrbeauftragter Reinhold Robbe
sondern – ganz im Ernst – insbesondere auch für das
gute Zusammenwirken. Ich bin in meiner Funktion
Hilfsorgan des Deutschen Bundestages. Dabei ist es
wichtig, dass auch das Verhältnis zur Spitze – auch zum
Bundestagspräsidenten Dr. Lammert – in Ordnung ist.
Das kann ich in jeder Hinsicht nur feststellen. Das gilt
ebenso für das Verhältnis zur Verwaltung.
Ich danke aber auch der Bundesregierung – insbeson-
dere dem Bundesminister der Verteidigung – sowie na-
türlich der gesamten Spitze des Hauses und den nachge-
ordneten Dienststellen. Recht herzlich danke ich auch
allen Vertrauensleuten in der Bundeswehr für deren
wichtige Arbeit. Das sind für mich wichtige Ansprech-
partner.
Schließlich – das mag man mir nachsehen – danke ich
selbstverständlich auch meinen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern für die tolle Unterstützung.
– Ich höre gerade eine entsprechende Resonanz aus dem
Parlament. Das kann nur gut sein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Ihnen wün-
sche ich auf jeden Fall ein frohes und besinnliches Weih-
nachtsfest, alles Gute für das neue Jahr – Gesundheit
vorneweg – und das, was wir uns am allermeisten wün-
schen, nämlich Frieden in der Welt und Gottes Segen.
Vielen Dank.
Lieber Herr Wehrbeauftragter, wenn Sie ein Minister
wären, dann hätte ich Ihnen schon längst das Wort entzo-
gen; denn Sie haben fünf Minuten überzogen.
Nun erteile ich dem Parlamentarischen Staatssekretär
Christian Schmidt das Wort, der nicht so viel überziehen
darf.
C
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Herr Wehrbeauftragter, ich danke Ihnen –
nicht fürs Überziehen Ihrer Redezeit, sondern für die
deutliche Darstellung, den Hinweis auf Schwierigkeiten
und vor allem für Ihren beharrlichen Einsatz für die Bun-
deswehr im Dienst des Deutschen Bundestages. Ihr Amt
bringt es mit sich, dass in Ihrem Bericht vor allem die
Sorgen geschildert werden und die Grundhaltung des
Berichts eher kritisch ist. Wir nehmen diese Kritik ernst.
Natürlich dürfen wir bei aller berechtigten Kritik nicht
übersehen, dass die Herausforderungen an die Bundes-
wehr unbestritten hoch und seit Jahren durch die Gleich-
zeitigkeit von Einsätzen und Transformation gekenn-
zeichnet sind. Der Dienst in der Bundeswehr ist fordernd
– in den Auslandseinsätzen, aber genauso bei uns zu
Hause. Der Einsatz, der Leistungswille und die Leistun-
gen unserer Soldaten sind vorbildlich. Es sei mir gestat-
tet, dass ich dem Wehrbeauftragten auch für seine
freundlichen und guten Worte für unsere Soldatinnen
und Soldaten sehr herzlich danke und mich ihnen an-
schließe.
Einen ganz entscheidenden Anteil an dieser Leis-
tungsbereitschaft hat auch die Innere Führung, zu deren
Erfolg der Wehrbeauftragte beiträgt. Er gehört zum Mo-
dell der Inneren Führung. Sie ist ein zentrales Element
für den inneren Zusammenhalt der Streitkräfte und trägt
ganz entscheidend dazu bei, Missständen vorzubeugen.
Übrigens, Missständen vorzubeugen heißt, sie zu redu-
zieren; man kann sie natürlich nie hundertprozentig aus-
schließen.
In dem Zusammenhang war ich sehr dankbar, als ich
vor einiger Zeit in einer Diskussion von einem Wissen-
schaftler den Hinweis bekommen habe, dass die soge-
nannte Drop-out-Rate, also die Rate derer, die auffällig
werden, eine sehr gute ist, wie man beispielsweise beim
Vergleich der über 200 000 Soldatinnen und Soldaten,
die im Auslandseinsatz sind, mit Betrieben in der freien
Wirtschaft feststellt. Es gibt nur wenige Fälle, über die
manchmal nach meiner Ansicht in der Relation nicht
passend berichtet wird; ich will sie aber nicht kleinreden.
Die Bundeswehr ist gut aufgestellt, und die Soldatinnen
und Soldaten lassen solche Missstände im weit überwie-
genden Maße gar nicht entstehen.
Dass die Innere Führung eine dynamische Konzep-
tion ist, die sich mit den Veränderungen auseinanderset-
zen muss, wissen wir spätestens seit den Auslandseinsät-
zen. Ich bedanke mich in diesem Zusammenhang auch
für die Begleitung des Deutschen Bundestages und des
Verteidigungsausschusses, der sich mit diesen Fragen
seit Jahren konsequent auseinandersetzt; wenn ich mich
recht entsinne, Herr Wehrbeauftragter, sogar unter Ihrer
Führung, als Sie dem Deutschen Bundestag angehört
und Vorsitzender des Ausschusses waren.
Es ist konsequent, dass wir deswegen die Zentrale
Dienstvorschrift zur Inneren Führung erneut an die He-
rausforderungen unserer Zeit anpassen. Wir werden nach
gegenwärtigem Stand die – für Kenner – ZDv 10/1 in der
ersten Sitzung des Verteidigungsausschusses im neuen
Jahr parlamentarisch behandeln; anschließend wird sie
durch den Bundesminister der Verteidigung schlussge-
zeichnet. Mithilfe der neugefassten Dienstvorschrift
kann die Bundeswehr ihre menschenorientierte, mo-
derne Führungskultur gestalten und dem fortlaufenden
Verbesserungs- und Nachsteuerungsbedarf in diesem
Bereich gerecht werden. Wir nehmen das sehr ernst.
Dies gilt auch für einen weiteren Punkt, nämlich die
Transformation. Wir müssen die Einsatzfähigkeit der
Streitkräfte weiter verbessern. Da ist bereits sehr viel
passiert. Die Zahl der geschützten Fahrzeuge zeigt, dass
die Weisung des Ministers, dass sich niemand dort, wo
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Parl. Staatssekretär Christian Schmidt
Gefahren bestehen, in ungeschützten Fahrzeugen im
Einsatz bewegen muss, heute faktisch umgesetzt ist. Wir
konnten die finanzielle Ausstattung der Bundeswehr ver-
bessern. Wir bedanken uns dafür auch beim Haushalts-
ausschuss des Deutschen Bundestages. Im Haushalt
2008 sind erste deutliche Erfolge sichtbar.
Es ist schwer, die Infrastrukturprobleme besonders im
Westen der Bundesrepublik Deutschland, auf die der
Wehrbeauftragte zu Recht hingewiesen hat, kurzfristig
zu beheben.
Wir sprechen jetzt über den Jahresbericht 2006. Gerade
wurde ich gefragt, ob wir damit nicht etwas hinterherhin-
ken. Das trifft aber nicht zu. Der Jahresbericht 2007 – der
Wehrbeauftragte hat es angekündigt – zeichnet sich be-
reits ab. Wir müssen allerdings festhalten, dass die Ursa-
chen für die Schwierigkeiten, über die wir reden, noch
weiter zurückliegen als 2006. Man kann eine jahrelange
Vernachlässigung nicht in einem Jahr korrigieren. Ich bin
sehr dankbar: Als unser Minister Ende 2005 erstmals eine
Truppe in der Kaserne besucht hat – ich entsinne mich
noch sehr gut –, hat er uns gesagt, dass er nicht bereit sei,
die sanitären Bedingungen und die Unterbringungssitua-
tion zu akzeptieren, und uns angespornt, alles dafür zu
tun, um gemeinsam mit dem Parlament Lösungen zu fin-
den.
Zur Verbesserung der Truppenunterkünfte in west-
deutschen Kasernen können wir nun – ich bedanke mich
in diesem Zusammenhang sehr für die deutliche Unter-
stützung durch den Wehrbeauftragten – das Programm
des Bundesministers der Verteidigung „Sanierung Ka-
sernen West“ umsetzen. Wir werden dieses Programm
absolut vorrangig vorantreiben. Wir haben über
800 investive Baumaßnahmen mit einem Gesamtvolu-
men von circa 1,1 Milliarden Euro identifiziert.
Das Ergebnis der Erfassung bildete die Grundlage für
die mittelfristige Bauplanung. Das wurde bereits ange-
sprochen. Wir haben im Jahr 2007 bereits 124 laufende
investive Maßnahmen mit einem Volumen von über
50 Millionen Euro auf den Weg gebracht. Für die Jahre
2008 bis 2011 sind über 645 Millionen Euro in diesem
Bereich vorgesehen.
Kasernen und Ausrüstung sind ein sehr wichtiger
Teil der Fürsorgepflicht. Der Einsatz darf nicht von der
materiellen Ausstattung abhängen. Die gute materielle
Ausstattung, die wir den Soldatinnen und Soldaten als
Handwerkszeug mitgeben, zeigt, dass das kreative Zu-
sammenwirken – ich sage das bewusst – der kritischen
Betrachtung durch den Wehrbeauftragten und der Auf-
nahme dieser Hinweise durch den Deutschen Bundes-
tag bzw. den Verteidigungsausschuss unseren Soldatin-
nen und Soldaten das Gefühl gibt, durch das
Bundesministerium der Verteidigung in der richtigen
Weise unterstützt zu werden. Wenn Sie so wollen, ist
der Wehrbeauftragte eine Art natürlicher Verbündeter
des Bundesministers der Verteidigung.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elke Hoff von der
FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter,
auch ich darf Ihnen im Namen der FDP-Fraktion vorab
herzlich für Ihre Arbeit und die Arbeit Ihrer ausgezeich-
neten Mitarbeiter danken. Sie haben mit Ihrer Bilanz, die
Sie heute in längerer Fassung vorgelegt haben, bewie-
sen, dass das, was Sie gemeinsam mit Ihren Mitarbeitern
erarbeiten, tatsächlich Früchte tragen kann. Dafür ein
herzliches Dankeschön!
Ich möchte auch den Soldatinnen und Soldaten, die
überall, ob zu Hause oder vor Ort, im Einsatz sind, herz-
lich danken. Ich hoffe, dass sich diejenigen, die das
Weihnachtsfest nicht zu Hause verbringen können, be-
wusst sind, dass wir in Gedanken bei unseren Soldatin-
nen und Soldaten vor Ort sind und auch in Zukunft ge-
meinsam alles versuchen werden, um zu ermöglichen,
dass sie ihren Dienst weiterhin in einem sicheren und gut
ausgestatteten Umfeld leisten können.
Der Wehrbeauftragte hat im Jahresbericht 2006 klare
Schwerpunkte gesetzt und den Zustand der Kasernen,
die Missstände im Sanitätsdienst und die Ausrüstungs-
und Ausbildungsdefizite in den Mittelpunkt seines Be-
richtes gestellt. Das hat für große Aufmerksamkeit ge-
sorgt und zumindest für die sanierungsbedürftigen Ka-
sernen zu spürbaren Ergebnissen geführt.
Der Wehrbeauftragte hat eben darauf hingewiesen,
wie wichtig es ist, PPP-Projekte auf den Weg zu bringen.
Ich habe mit großem Vergnügen zur Kenntnis genom-
men, dass gerade die Kolleginnen und Kollegen der Gro-
ßen Koalition Beifall gespendet haben. Wir hätten uns
diese Zustimmung gewünscht, als wir vonseiten der
FDP-Fraktion im Ausschuss Anträge vorgelegt haben, in
denen wir genau das gefordert haben – nämlich verstärkt
in diesem Bereich tätig zu werden –, um damit Zeit zu
gewinnen. Leider Gottes sind diese Anträge abgelehnt
worden. Es ist, meine lieben Kollegen, ein Widerspruch
in dem Verhalten.
Wir konnten durch den großen parlamentarischen
Druck immerhin erreichen, dass das Sonderprogramm
allein bis 2011 Baumaßnahmen mit einem Volumen
von 645 Millionen Euro umsetzt; denn die Schaffung
menschenwürdiger Unterkünfte ist eine Daueraufgabe
für die Zukunft.
Eine ähnliche Lösung der Probleme liegt für den Sa-
nitätsdienst sowie die Ausrüstungs- und Ausbildungsde-
fizite der Bundeswehr leider immer noch in weiter
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Elke Hoff
Ferne. Die Probleme im Sanitätsdienst werden in den
Berichten der Bundesregierung schöngefärbt. In den Be-
richten werden Worte wie „Antrittsstärke“ bewusst ge-
mieden, weil sonst klar würde, dass nur etwas über die
Hälfte der Sanitätsoffiziere für ihre eigentliche Aufgabe
zur Verfügung stehen können. Der Unmut über die
Dienstbedingungen im Sanitätsbereich ist zu Recht sehr
hoch.
Dies gilt auch für andere Bereiche der Bundeswehr.
Ohne attraktivere Rahmenbedingungen und strukturelle
Reformen wird die Bundeswehr die demografischen He-
rausforderungen in den nächsten Jahren nicht bewältigen
können. Die Bundeswehr der Zukunft muss in einem
Maße attraktiv werden, dass sich gerade die leistungs-
starken jungen Menschen in ausreichender Zahl freiwil-
lig für den Dienst in den Streitkräften entscheiden kön-
nen. Dazu bedarf es eines Besoldungsrechtes, das eine
spürbare Verbesserung für die Soldaten bedeutet. Aber
Attraktivität wird man nicht alleine durch eine bessere
Bezahlung erreichen können. Bessere Arbeitsbedingun-
gen wie Unterkünfte, moderne Ausrüstung, qualitative
Ausbildung und ein nachvollziehbarer Auftrag sind die
Grundvoraussetzungen. Hier fehlt es bis heute leider an
einem weitsichtigen Zukunftskonzept der Bundesregie-
rung.
Sie haben es bis heute nicht geschafft, die Bundes-
wehr für die Erfordernisse im Auslandseinsatz angemes-
sen auszustatten und auszubilden. Obwohl ISAF noch
über Jahre hinweg die wichtigste und anspruchsvollste
Auslandsmission der Bundeswehr sein wird, ist nicht er-
kennbar, dass eine Anpassung der Rüstungsplanung an
die Einsatzrealitäten erfolgt. Jeder, der in der Bundes-
wehr mit Ausrüstungs- und Einsatzplanung beschäftigt
ist, weiß, dass die Bundeswehr in Afghanistan neben ei-
ner effektiven Schutzausrüstung vor allem moderne Auf-
klärungs- und Lufttransportkapazitäten benötigt. Warum
dann aber gerade diese Vorhaben immer wieder zusam-
mengestrichen und gestreckt werden, versteht kein
Mensch. Viele direkt Betroffene in der Bundeswehr fra-
gen sich zu Recht: Wieso wird keine Triebwerksanpas-
sung für den alten CH-53 vorgenommen, obwohl ein
Nachfolgemodell noch lange nicht in Sicht ist? Wieso
wird ein Selbstschutzsystem für den A400M erst ab dem
Jahre 2014 eingeführt? Wieso wird die Beschaffung von
Feldlagerschutzsystemen für Einsatzkontingente derart
gestreckt und verzögert? Wie kann es sein, dass sich im
Jahre 2007 weniger geschützte Fahrzeuge im Einsatz be-
finden als im vergangenen Jahr?
Herr Minister, je länger und häufiger sich unsere Sol-
datinnen und Soldaten solche Fragen stellen müssen,
desto mehr leidet die Motivation darunter. Sie können
diese Zahlen in unserer Kleinen Anfrage, die wir an die
Bundesregierung gestellt haben, nachvollziehen. Sie
wissen, dass in den nächsten Monaten weitere Aufgaben
auf uns zukommen können, die eine neue Qualität haben
werden. Ich hoffe für unsere Soldatinnen und Soldaten,
dass die politische Führung des Ministeriums die not-
wendige Vorsorge für diese Herausforderungen treffen
wird. Herr Minister, damit meine ich nicht nur die not-
wendige Ausbildung und Ausrüstung, sondern insbeson-
dere die Schaffung belastbarer rechtlicher Rahmenbe-
dingungen für unsere Soldaten im Einsatz. Der Soldat,
der im Einsatz seinen Auftrag erfüllt, muss sich darauf
verlassen können, dass die gesamte Bundesregierung
dies für rechtmäßig hält und er sich nicht der Gefahr der
Strafbarkeit aussetzt. Statt weitere Zerrbilder von unse-
ren Auslandseinsätzen zu zeichnen, sollten wir alle ge-
meinsam und die Bundesregierung an erster Stelle lieber
um die Unterstützung dafür werben, indem sie die Be-
völkerung, die Bundeswehr und den Deutschen Bundes-
tag vom Sinn und Zweck der eingegangenen Verpflich-
tungen überzeugt und die notwendigen Konsequenzen
daraus zieht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe meine
Rede mit dem Dank an den Wehrbeauftragten und seine
Mitarbeiter begonnen. An dieser Stelle möchte ich mich
auch ganz herzlich bei den Kolleginnen und Kollegen
des Verteidigungsausschusses für die gute und kollegiale
Zusammenarbeit bedanken. Ich freue mich auf eine Fort-
setzung mit Ihnen im neuen Jahr.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Hedi Wegener von der
SPD-Fraktion.
Guten Tag, Herr Präsident! Meine Herren und Damen
Kollegen! Liebe Besucher, vor allen Dingen liebe Ju-
gendliche auf der Tribüne! Auch von mir, Herr Robbe,
recht herzlichen Dank für den vorliegenden Bericht und
vor allem für die Arbeit.
Vor ein paar Tagen haben wir einen Bericht des Sozial-
wissenschaftlichen Instituts, SOWI, über die interessanten
Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung in Deutschland
2007 in unseren Fächern vorgefunden. Danach ist das
Vertrauen in die Bundeswehr 2007 ungebrochen. Obwohl
nur wenige Bundesbürger über ein detailliertes sicher-
heits- und verteidigungspolitisches Wissen verfügen, ist
das Bild von den Auslandseinsätzen positiv. Humanitäre
Einsätze werden uneingeschränkt, militärische Einsätze
eher vorsichtig befürwortet, heißt es dort. Die Artikel, die
wir in der Presse über Afghanistan lesen, lassen uns aller-
dings erschauern. Sie berichten über Anschläge sowie
über tote und verletzte Deutsche und Afghanen, ISAF-
und OEF-Soldaten.
Das Thema Auslandseinsätze nimmt auch im Jahres-
bericht des Wehrbeauftragten einen breiten Raum ein.
Fragen nach Sinn und Zweck der Einsätze, der Ausrüs-
tung und der eigenen Führung überwiegen. Diese Fragen
sind berechtigt. Ich begrüße, dass wir verstärkt auf das
sogenannte afghanische Gesicht der Einsätze achten. Es
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13959
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Hedi Wegener
ist essenziell, dass der afghanischen Bevölkerung auch
faktisch klar wird, dass die ausländischen Truppen und
Helfer dazu da sind, sie selbst in die Lage zu versetzen,
für Frieden und Sicherheit zu sorgen. Dieser Ansatz ist
für die SPD nicht neu. Wir hatten eine Taskforce zu Af-
ghanistan. So begrüße ich es ausdrücklich, dass wir die
Mittel für Ausbau und Ausbildung der afghanischen Po-
lizei in den Bereinigungsgesprächen über den Bundes-
haushalt auf 35,7 Millionen Euro erhöhen konnten. Wir
hatten gestern im Ausschuss eine neue Vorlage dazu.
Aber wir wollen keine Cowboys ausbilden. Davon gibt
es genug auf der Welt. Wir wollen Polizisten, die etwas
von ihrem Beruf verstehen. Aus diesem Grunde weise
ich die Kritik des amerikanischen Verteidigungsminis-
ters zurück.
Wir haben unser Konzept für Afghanistan der Situa-
tion angepasst. Das muss auch Auswirkungen auf die
dort stationierten Soldaten haben.
Durch die negativen Berichte aus Afghanistan verstärkt
sich das Unwohlsein der Soldatinnen und Soldaten vor
einem Einsatz in Afghanistan. Es wäre daher wün-
schenswert, dass die zum Teil großen Erfolge beim Wie-
deraufbau in den Vordergrund rücken; denn der Ein-
druck, dass nichts vorangeht, ist falsch. Wenn dieser
Eindruck schon in den Medien nicht korrigiert wird,
wäre es motivierend, wenn die Vorgesetzten regelmäßig
ihre Soldatinnen und Soldaten darüber in Kenntnis setz-
ten.
Die neue Zentrale Dienstvorschrift, gestern im Aus-
schuss vorgestellt, enthält in 577 Leitsätzen viel Wichti-
ges, unter anderem für Vorgesetzte und zur Menschen-
führung: Wer Menschen führen will, muss Menschen
mögen. Vorgesetzte müssen Zeit für die ihnen Anver-
trauten haben. Vorgesetzte beeinflussen entscheidend
das zwischenmenschliche Klima und damit Zufrieden-
heit und Einsatzbereitschaft.
Wohl wahr! Alles theoretisch, alles bekannt, alles selbst-
verständlich. Woran liegt es also, dass das oft nicht funk-
tioniert? Zum Beispiel an der Vor- und Nachbereitung
der Auslandseinsätze, sagen die Soldaten. Das ist ein
weiteres Thema des Berichtes des Wehrbeauftragten.
Hier wird bemängelt, dass die politische Bildung aus un-
terschiedlichsten Gründen fast ein Fremdwort ist. Die
neue Zentrale Dienstvorschrift 12/1 „Politische Bildung
in der Bundeswehr“ verspricht hier deutliche Verbesse-
rungen. So liest man, dass politische Bildung eine we-
sentliche Voraussetzung für die Einsatzbereitschaft ist.
Daher lautet mein dringender Appell an die Führung der
Bundeswehr: Setzen Sie diesen Gedanken auch um!
Apropos Auslandseinsatz: Herr Minister, ich hoffe, es
geht nicht nach der Devise „Wenn ich nicht mehr weiter-
weiß, gründe ich einen Arbeitskreis“. Ab 1. Juli 2008
soll es in Berlin einen Einsatzführungsstab für Auslands-
einsätze geben, dem Generalinspekteur direkt unterstellt,
mit erst 90 und dann 340 Dienstposten. Es soll effektiver
ausgeplant werden. – So haben Sie uns das gestern im
Ausschuss vorgestellt. Das Einsatzführungskommando
in Potsdam bleibt natürlich erhalten. Da kann ich nur sa-
gen: Wir sind einmal gespannt, ob dabei wirklich etwas
herauskommt.
Ich kann mir gut vorstellen, dass sich die Verantwort-
lichen in der Bundeswehr und im BMVg manchmal die
Haare raufen ob der Vorfälle und Beschwerden in der
Truppe. In der Dienstvorschrift gibt es einen klugen und
wahren Satz: Die Menschen der Bundeswehr sind Teil
der Gesellschaft mit ihrer Vielfalt und ihren Konflikten.
Um es einmal ganz milde auszudrücken: Es gibt wirk-
lich wunderliche Soldaten. Die neueste Meldung berich-
tet vom Stabsoffizier mit der Peitsche. Natürlich bin ich
mir im Klaren darüber, dass das ein krasser Ausreißer
ist, durch den die vielen Vorgesetzten, die wirklich or-
dentlich führen und sich um ihre Soldaten kümmern, in
Verruf geraten. Solche Vorfälle werfen aber erneut Fra-
gen auf: Wird das richtige Führungspersonal ausge-
wählt? Ist das ein Anzeichen für psychische Überforde-
rung im Auslandseinsatz? Warum ist das eigentlich erst
jetzt bekannt geworden? Wurde Druck ausgeübt? Oder
ist der Vorfall gar nicht so ernst zu nehmen?
Die vielen Tausend Eingaben an den Wehrbeauftrag-
ten in diesem Jahr zeigen, dass er großes Vertrauen in
der Truppe genießt. Um ein uneingeschränktes Bild von
der Realität zu bekommen, hat sich der Wehrbeauftragte
entschlossen, so weit wie möglich unangemeldet aufzu-
tauchen. Herzlichen Glückwunsch dazu! Das ist tatsäch-
lich eine gute Methode, um einen ungeschönten Ein-
druck zu bekommen. Ich kann nur immer wieder darauf
hinweisen, wie wertvoll ungeschminkte Eindrücke auch
für uns Abgeordnete sind. Unsere Gesprächspartner sind
in der Regel ausgesucht, sie sind fit und der Bundeswehr
gegenüber äußerst loyal.
Ein Thema will ich nicht vertiefen, obwohl es sehr
wichtig ist. Vor kurzem sagte ein Kollege – ich glaube,
Herr Stinner, Sie waren es –, die Bundeswehr möge das
Wort „Bürokratieabbau“ nie mehr in den Mund nehmen.
Mir sagte kürzlich eine Soldatin, dass sie sich von der
Politik eine bessere Einsatzausstattung wünsche – nicht
jede Batterie müsse olivgrün sein; so dauere es unter
Umständen Wochen, bis man sie bekomme. Herr Staats-
sekretär Kossendey hat auf eine Frage von Frau
Homburger zu diesem Thema sehr ausführlich geant-
wortet. Meine Herren und Damen, das spricht ein zwei-
faches Problem an:
Erstens. Klar, wir sind für das Budget der Bundes-
wehr verantwortlich. Nicht zuletzt aus diesem Grund ha-
ben wir auch den Bundeswehretat erhöht.
Das zweite Problem liegt im Internen von Bundes-
wehr und Verteidigungsministerium: Muss es wirklich
immer eine olivgrüne Batterie sein? Im Bericht des
Wehrbeauftragten werden solche Absurditäten, die das
alltägliche Leben im Einsatz deutlich erschweren, ange-
sprochen. Ich bin der Ansicht, dass dies ein ausgezeich-
neter Ansatz für gelebten Bürokratieabbau sein könnte.
Im Bericht des Bundesrechnungshofs gibt es immer
wieder Hinweise darauf, wo wir eigentlich Geld einspa-
ren könnten. Das gehört dazu. Ich bin es eigentlich leid,
13960 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Hedi Wegener
für Dinge verantwortlich gemacht zu werden, für die wir
Politiker wirklich nicht verantwortlich sind. In jedem
Fall gibt es viele Dinge im Bericht des Wehrbeauftrag-
ten, die auch für uns eine Menge Hausaufgaben beinhal-
ten. Dies betrifft aber auch das Verteidigungsministe-
rium und die Bundeswehr.
Zum Schluss möchte ich Ihnen, Herr Robbe, und auch
Ihren sehr zahlreich erschienenen Mitarbeitern – daran
erkennt man die große Solidarität mit Ihrem Amt – ganz
herzlich danksagen. Ich wünsche Ihnen ein schönes
Weihnachtsfest. Vor allem den Soldaten wünsche ich ein
friedliches Weihnachtsfest. Sie mögen ganz fröhlich ins
neue Jahr kommen, auch Sie, Herr Minister, die Staats-
sekretäre und meine Kollegen. Alles Gute und weiterhin
eine gute Zusammenarbeit im Ausschuss!
Danke.
Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Schäfer von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist an
dieser Stelle schon oft gesagt worden: Der Wehrbeauf-
tragte versieht ein sehr wichtiges Amt im Auftrag des
Parlaments, und der Kollege Robbe tut dies sehr enga-
giert. Deshalb möchte ich auch im Namen meiner Frak-
tion Ihnen, lieber Kollege Robbe, und Ihren Mitarbeitern
für Ihre Arbeit herzlichen Dank sagen.
Sie haben zu Recht an die Spitze Ihres Berichts ge-
stellt, dass Sie es waren, der auf den maroden Zustand
vieler Kasernen in den alten Bundesländern aufmerksam
gemacht hat. Sie haben an der Stelle tatsächlich etwas in
Bewegung gesetzt. Ob die Ausstattung des Sonderpro-
gramms ausreicht, werden wir sehen. Aber immerhin:
Sie haben etwas bewegt, auch im Interesse der Soldatin-
nen und Soldaten.
Sie schreiben sich in Ihrem Bericht die Rolle des Sor-
genonkels, des Kummerkastens, des Sprachrohrs der
Soldaten zu und sagen: Diese Sprachrohrfunktion wird
eine immer größere Rolle spielen. – In der Tat ist das die
Rolle, die Ihnen, dem Wehrbeauftragten, im Laufe der
Jahre zugewachsen ist. Ich will das gar nicht kritisieren,
schon gar nicht pauschal. Ich will nur die Gelegenheit
nutzen, auf zwei Probleme hinzuweisen:
Erstens. Sie sagen, die Soldaten wendeten sich gerne
an Sie, weil Sie nicht in militärische Abhängigkeiten
eingebunden seien. Darin steckt aber ein Problem: Wenn
sich die Soldaten immer an den Wehrbeauftragten wen-
den, obwohl wir innerhalb der militärischen Strukturen
Interessenvertretungen und Vertrauensleute haben, die
bestimmte Mitbestimmungs- und Mitspracherechte ha-
ben, dann ist zumindest die Frage zu stellen – der müs-
sen wir nachgehen –, ob diese Mitbestimmungs- und
Mitspracherechte adäquat angenommen werden, ausge-
übt werden und ob die Soldatinnen und Soldaten sich
ausreichend Gehör verschaffen können, wenn sie ihre In-
teressen und Belange vertreten. Das ist ein kritischer
Hinweis in Ihrem Bericht, dem wir nachgehen sollten:
Was ist mit den Mitbestimmungsrechten der Soldatinnen
und Soldaten? Werden sie in der Truppe ausreichend und
gebührend berücksichtigt?
Zweitens. Wir müssen einfach auf die Grundlagen zu-
rückgehen. Der Wehrbeauftragte ist vom Grundgesetz
zum Schutz der Grundrechte eingesetzt. Das ist so auch
in § 1 des Gesetzes niedergelegt. Sie sagen selbst, dass
das die Grundlage für Ihre Truppenbesuche ist; es geht
darum, die Lage in der Truppe kritisch zu untersuchen.
Es entspricht durchaus unserem Grundverständnis,
soziale Grundrechte und politische Grundrechte zusam-
men zu denken. Deshalb ist es auch richtig, dass Sie al-
les, vom Auslandsverwendungszuschlag bis zur Unter-
bringung in Kasernen, auf Ihre Agenda nehmen.
Der Punkt „politische Grundrechte und Freiheiten“ ist
für mich der entscheidende. Mit Blick auf die Vorfälle in
Coesfeld oder in Zweibrücken – neue Vorwürfe stehen in
Afghanistan im Raum; sie müssen genauer untersucht
werden – sagen Sie in Ihrem Bericht selbst – das finde
ich sehr wichtig –: Wir müssen den Blick verstärkt auch
wieder auf den Kernbereich der Inneren Führung, den
Schutz der Rechte der Soldaten und eine zeitgemäße
Menschenführung richten.
Das darf bei der Vielzahl von Aufgaben, die Sie ha-
ben, die Sie sich selbst zuschreiben, nicht ins Hintertref-
fen geraten, weil das der Punkt ist, der uns Sorgen ma-
chen muss, nicht nur deshalb, weil es die Vorfälle gibt,
sondern auch deshalb, weil sie oft erst durch Zufall ans
Tageslicht kommen, verspätet gemeldet werden und bei
vielen überhaupt kein Unrechtsbewusstsein vorhanden
zu sein scheint. Da ist natürlich die Frage: Wie ist das
Klima innerhalb der Bundeswehr, und was wird über
Vorgesetzte an Bewusstsein von Menschenwürde und
Rechten der Soldaten vermittelt, wenn es solche Verhält-
nisse gibt?
Ich finde es gut, dass Sie mit unangemeldeten Trup-
penbesuchen versuchen, den Dingen auf den Grund zu
gehen. Es kann für uns keine Lösung sein, solche Dinge
immer nur im Nachhinein zu bearbeiten. Wir müssen al-
les tun, um solche Fälle auf ein Minimum zu reduzieren.
Dabei geht es um Ausbildung, um politische Bildung – das
ist schon gesagt worden –, um Personalauswahl, also Be-
urteilungskriterien und Beförderungskriterien, sowie um
die Ausgestaltung des soldatischen Alltags.
Uns liegt inzwischen eine neue Fassung der Zentralen
Dienstvorschrift zur Inneren Führung vor. Sie enthält
viel Richtiges. Auch insofern haben Sie recht: Mit der
Vorschrift allein ist es nicht getan; auf die Umsetzung
kommt es an. Hier sind wir am Zug.
Ich will am Schluss nur noch einen Punkt ansprechen.
Sie haben an mehreren Stellen gezeigt, dass Sie den Din-
gen auch sehr unkonventionell auf den Grund gehen und
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13961
(C)
(D)
Paul Schäfer
sich für die Soldatinnen und Soldaten einsetzen. Das war
im Fall der Sanitätssoldatin Zettl so.
Ich will aber noch einen anderen Punkt ansprechen.
Auch darum haben Sie sich gekümmert. Es gibt einen
aktuellen Fall von Totalverweigerung: Moritz
Kagelmann. Er hat fast 60 Tage in Einzelhaft gesessen.
Sein Kontakt zur Außenwelt wurde erheblich einge-
schränkt. Obwohl den Totalverweigerern ein ordentli-
ches Gerichtsverfahren droht, scheinen es Disziplinar-
vorgesetzte immer wieder darauf anzulegen, durch
Abschreckung ein Exempel zu statuieren. Abgesehen
davon, dass ich es nicht für rechtskonform halte: Es er-
gibt doch überhaupt keinen Sinn, solche jungen Leute
brechen zu wollen.
Meine Bitte: Schauen Sie sich solche Fälle genauer an.
Wir müssen uns überlegen, wie man künftig mit Total-
verweigerung umgeht. Ich halte einen solchen Umgang
mit jungen Menschen für völlig unadäquat.
Herr Schäfer, kommen Sie bitte zum Schluss.
Jawohl. – Ich möchte mich an dieser Stelle bedanken,
zum einen nochmals bei Ihnen, Herr Robbe, zum ande-
ren bei Ihnen allen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, lieber Reinhold
Robbe! Der Wehrbeauftragte kontrolliert im Auftrag des
Bundestages die Einhaltung der Grundrechte und die
Umsetzung der Inneren Führung in der Bundeswehr.
Vor drei Jahren schlugen bestimmte Vorfälle in der
Bundeswehr erhebliche Wellen. Es wurden Vorkomm-
nisse aus einer Ausbildungskompanie im westfälischen
Coesfeld bekannt. Zur Erinnerung: Damals kam es bei
vier Geländeübungen, an denen über 160 Rekruten be-
teiligt waren, zu entwürdigenden Vorkommnissen und
zu Misshandlung. Besonders irritierend war, dass den
meisten Beteiligten – den Ausbildern, aber auch sehr
vielen betroffenen Rekruten – dabei nicht klar war, dass
die Grenzen der Menschenwürde durch die Art und
Weise der Übungen eindeutig überschritten wurden.
Die strafrechtliche Aufarbeitung findet seit vielen
Monaten vor dem Landgericht Münster statt. Von 18 An-
geklagten stehen zurzeit noch zehn vor Gericht; zwei
wurden inzwischen freigesprochen, drei wurden verur-
teilt, zwei Verfahren wurden eingestellt.
Was kaum bekannt wurde – wir haben es im Aus-
schuss erfahren –: Die militärische Führung hat sehr
schnell und sehr umfassend auf diese Vorfälle reagiert.
Man hat also offensichtlich erkannt, dass es hier zwar
Gott sei Dank nicht um die Spitze eines Eisbergs ging
– das war auch unsere Auffassung –, es aber auch nicht
als Einzelfall abgetan werden konnte, der sowieso nie
ganz zu verhindern ist. Nein, es handelte sich um ein
Gruppenphänomen von erheblicher Bedeutung. Deswe-
gen wurde eine Fülle von Maßnahmen auf verschiede-
nen Führungsebenen sehr schnell auf die Wege gebracht,
um die Innere Führung in der Ausbildung und vor Ort zu
stärken.
Inzwischen hat der Unterausschuss „Weiterentwick-
lung der Inneren Führung“ des Verteidigungsausschus-
ses einen Bericht vorgelegt, der in Kürze hier im Plenum
debattiert wird. Außerdem wurde nun – das ist schon
mehrfach angesprochen worden – der Entwurf einer
Zentralen Dienstvorschrift „Innere Führung“ vom Mi-
nisterium vorgelegt. Innere Führung soll – so ist es auch
dieser Zentralen Dienstvorschrift zu entnehmen – ein
Höchstmaß an militärischer Leistungsfähigkeit mit ei-
nem Höchstmaß an Freiheit und Rechten der Soldatin-
nen und Soldaten miteinander verbinden, also beides ga-
rantieren.
Wenn man sich die Zentrale Dienstvorschrift an-
schaut, erkennt man: Sie enthält enorme Anforderungen.
Ich wüsste keinen anderen Beruf, bei dem solche Anfor-
derungen gestellt werden. Die Umsetzung ist angesichts
der enormen Regelungs- und Auftragsdichte in der Bun-
deswehr schon schwer genug; sie darf nicht zusätzlich
erschwert werden, die Betroffenen dürfen nicht entmu-
tigt werden.
Ich nenne ein Beispiel aus dem Bereich der politi-
schen Bildung, bei der es sich heutzutage nicht um einen
Nebenaspekt handelt, sondern die im Zusammenhang
mit multinationalen Friedenseinsätzen von besonderer
Bedeutung ist. Es kam über die Süddeutsche Zeitung im
Juli dieses Jahres an die Öffentlichkeit. Peter
Blechschmidt berichtete, was dem Chefredakteur von
aktuell – Zeitung für die Bundeswehr passiert war. Nach-
dem dieser einmal in einem Kommentar etwas Kriti-
sches in Richtung Katholische Kirche gesagt hat, indem
er bestimmte offene Fragen angesprochen hatte, hat es
offensichtlich im Auftrag des bekannten Militärbischofs
Mixa eine Intervention gegeben. Am Ende der ganzen
Geschichte fand sich dieser Chefredakteur in Mecklen-
burg-Vorpommern wieder.
Ich meine, wenn so mit einer – in Anführungsstrichen –
etwas anstößigen Meinung umgegangen wird, dann geht
davon ein ausgesprochen schlechtes Signal aus. So et-
was fördert Meinungskonformismus in der Bundeswehr.
13962 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Winfried Nachtwei
Bundespräsident Köhler sagte in seiner Rede anläss-
lich des 50-jährigen Bestehens der Führungsakademie
der Bundeswehr zum Führen von Bürgern in Uniform:
Die Soldatinnen und Soldaten erwarten von ihren
militärischen Führern auch Klartext nach „oben“
und „außen“: hin zu den außen- und verteidigungs-
politisch Verantwortlichen, hin zur Öffentlichkeit.
Nach meiner Erfahrung habe ich keine Befürchtung,
dass die Offiziere bzw. die Generale der Bundeswehr
den Primat der zivilen Politik missachten würden. Nach
meiner Erfahrung kann ich das allerdings um die Aus-
sage ergänzen: Es wäre gar nicht schlecht, wenn von die-
ser Ebene der militärischen Führung der Bundeswehr ab
und zu auch etwas mehr an Zivilcourage zu erleben
wäre. Diesen Wunsch möchte ich ihnen mit ins neue Jahr
geben.
Herr Kollege Robbe, Ihre Vorgängerin Claire
Marienfeld hat einmal vor einigen Jahren in ihrem Jah-
resbericht einen Extraabschnitt zur Zivilcourage in der
Bundeswehr aufgenommen. Vielleicht wäre es eine An-
regung für den kommenden Jahresbericht, einige Punkte
auch einmal unter diesem Aspekt zu beleuchten. Das
wäre für die Umsetzung des Prinzips der Inneren Füh-
rung in der Bundeswehr, für die Umsetzung der Grund-
rechte von entscheidender Bedeutung.
Ansonsten schließe ich mich allen Dankesworten an.
Ich möchte sie nicht wiederholen. Ich ergänze sie aber
um ein weiteres Dankeswort: Neben dem völlig berech-
tigten Dank an alle Soldatinnen und Soldaten sollten wir
insbesondere diejenigen nicht vergessen, die zurzeit für
den Friedensauftrag des Grundgesetzes im Ausland für
uns tätig sind.
Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Anita Schäfer von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Zunächst möchte ich die Gelegenheit nutzen, dem
Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeitern auch im Na-
men der CDU/CSU-Fraktion noch einmal ganz herzlich
für ihre Arbeit zu danken.
Lieber Herr Robbe, als Wehrbeauftragter des Deut-
schen Bundestages erfüllen Sie eine wichtige, eine un-
verzichtbare Funktion. Sie übermitteln ein ungefiltertes
Bild von der Stimmung unter den Soldaten, von ihren
Sorgen und Problemen. Bei unseren Entscheidungen
über die Ausrichtung, die Ausstattung und die Einsätze
der Truppe sind wir auf diese Rückkopplung angewie-
sen. Wir müssen wissen, wie sich unsere Entscheidun-
gen auf die Soldaten auswirken, und wir müssen wissen,
wo Handlungsbedarf besteht. Schließlich ist die Bundes-
wehr eine Parlamentsarmee. So sollte es auch bleiben.
Ich möchte allerdings noch einmal darauf hinweisen,
dass Sie Ihre Berichte und Erfahrungen aus den Trup-
penbesuchen zunächst an uns, die Parlamentarier des
Deutschen Bundestages, übermitteln sollten. Erst danach
sollte dann die Öffentlichkeit dieses Bild aus der Truppe
erhalten. Das ist ebenfalls wichtig; denn die Bundeswehr
ist eine Armee, die fest in unsere Gesellschaftsordnung
eingebunden ist. Unsere Soldaten sind Staatsbürger in
Uniform. Dafür steht unter anderem die Wehrpflicht, die
wir zielstrebig für die sicherheitspolitischen Herausfor-
derungen unserer Zeit weiterentwickeln müssen. Für
eine umfassende Sicherheitsvorsorge bleibt sie auch in
Zukunft notwendig. Deswegen war es ein gutes Signal,
dass das Kabinett am Dienstag die Erhöhung des Wehr-
solds zum 1. Januar 2008 gebilligt hat.
Meine Damen und Herren, wir alle sind uns bewusst,
dass der Bericht des Wehrbeauftragten immer nur die ne-
gative Seite zeigt. Nur die klare Benennung von Proble-
men schafft die Voraussetzung zu ihrer Beseitigung. Ich
erinnere als Beispiel an die Klagen über den baulichen
Zustand von Bundeswehrkasernen besonders in den al-
ten Bundesländern im Jahresbericht 2006. Ich bin sehr
froh, Herr Minister Jung, dass Ihr Haus hier schnell re-
agiert hat und nochmals über 60 Millionen Euro zusätz-
lich für die Sanierung von West-Kasernen in den Vertei-
digungshaushalt für 2008 eingestellt hat. Allerdings ist
klar, dass die Behebung aller Mängel einen längeren
Atem erfordern wird. Es ist angekündigt, die notwendi-
gen Baumaßnahmen bis zum Jahr 2014 umzusetzen. Wir
werden dies als Abgeordnete aufmerksam verfolgen und
– wo immer notwendig – auch aktiv unterstützen.
Ein wichtiger Bereich, dem wir ebenfalls weiterhin
unsere Aufmerksamkeit widmen müssen, ist der Sani-
tätsdienst. Unsere Soldaten haben Anspruch auf die best-
mögliche medizinische Versorgung – in den Auslands-
einsätzen wie im Inland. Der Bericht des Wehrbeauftrag-
ten hat hier auf Probleme bei der Personallage an den
Bundeswehrkrankenhäusern und in der truppenärztli-
chen Versorgung hingewiesen. Das Sanitätspersonal
gehört zu den durch Auslandseinsätze besonders stark
belasteten Truppengattungen. Das Verteidigungsministe-
rium hat erklärt, auch hier durch angepasste Personal-
strukturen langfristig Abhilfe schaffen zu wollen. Für
die umfassende Ausbildung des Sanitätspersonals müs-
sen zudem alle notwendigen Mittel zur Verfügung ste-
hen. Hier werden wir die Bemühungen ebenfalls mit ak-
tivem Interesse begleiten, wie wir das gestern im
Verteidigungsausschuss vereinbart haben.
Die Bundeswehr ist eine Armee im Einsatz. Der Be-
richt des Wehrbeauftragten für das Jahr 2006 hat wieder
eingehend auf die besonderen Belastungen hingewiesen,
denen unsere Soldaten in den Auslandseinsätzen unter-
liegen. Sie leisten einen häufig gefährlichen Dienst für
die Bewahrung des Friedens in Afghanistan, in Bosnien-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13963
(C)
(D)
Anita Schäfer
Herzegowina und im Kosovo. Die Menschen in diesen
Ländern wissen die Arbeit unserer Soldaten zu schätzen,
wie etwa gerade wieder in Afghanistan landesweite Um-
fragen gezeigt haben.
Unsere Marine ist zudem am Horn von Afrika und im
Mittelmeerraum engagiert. Auch im Südsudan, an der
Grenze zwischen Äthiopien und Eritrea und in Georgien
sind Angehörige der Bundeswehr im Einsatz. An all die-
sen Orten erfüllen sie ihren Auftrag zur Sicherung des
internationalen Friedens. Das bedeutet sowohl Sicher-
heit für die Menschen vor Ort als auch Sicherheit für
uns. Sie erfüllen diese Aufgabe gut.
Für diesen Dienst brauchen unsere Soldaten die not-
wendige Ausrüstung und Ausbildung. Der Bericht des
Wehrbeauftragten hat wieder Beispiele für Defizite ge-
nannt. In einigen Fällen – beispielsweise bei der Ausstat-
tung mit geschützten Fahrzeugen – können wir eine fort-
laufende Verbesserung feststellen. Dagegen ist die
Situation bei den Lufttransportkapazitäten nach wie vor
sehr angespannt. Insbesondere werden wir uns weiterhin
genau mit der Material- und Personallage bei den Hee-
resfliegern befassen müssen. Keinesfalls wiederholen
dürfen sich Zustände wie bei der Unterbringung der
EUFOR-Truppen während der Kongo-Mission.
Das Ausgliedern von Dienstleistungen an zivile An-
bieter darf sich nicht nachteilig auf die Truppe auswir-
ken, wie dies bei den Feldlagern im Kongo und in Gabun
der Fall war. Hier fordern wir die Bundesregierung auf,
die Aufrechterhaltung nationaler Standards bei künftigen
EU-Missionen so weit wie möglich sicherzustellen.
Unsere Soldaten brauchen den Rückhalt des Parla-
ments, das die Mandate für ihre Einsätze erteilt. Vor al-
lem aber brauchen sie Anerkennung. Als Gesellschaft
befassen wir uns immer noch zu wenig mit der alltägli-
chen Situation unserer Soldaten in den Einsätzen. Die
Männer und Frauen der Bundeswehr sind unsere Mitbür-
gerinnen und Mitbürger. So wichtig der Bericht des
Wehrbeauftragten ist: Als Mitbürger sollten unsere Sol-
daten es uns wert sein, uns mehr als einmal im Jahr ein
Bild von ihnen zu machen.
Eine Gruppe, die sich ständig mit der Lage in der
Bundeswehr befassen muss, sind die Angehörigen der
Soldaten, insbesondere derjenigen im Einsatz. Tausende
von Soldaten werden Weihnachten und das Neujahrsfest
fern von zu Hause in den Einsatzgebieten verbringen.
Ihre Familien werden ohne den Vater oder die Mutter
feiern müssen. Der Bericht des Wehrbeauftragten hat
dankenswerterweise wiederum lobend auf die Soldaten-
und Familienbetreuung durch die Bundeswehr sowie die
Katholische und Evangelische Arbeitsgemeinschaft für
Soldatenbetreuung hingewiesen. Gerade jetzt am Jahres-
ende wird hier unverzichtbare Arbeit geleistet, um die
Trennung wenigstens ein kleines bisschen leichter zu
machen.
Vielleicht denken wir als Mitbürger, wenn wir den
Weihnachtsgottesdienst besuchen oder uns ein frohes
neues Jahr wünschen, einmal kurz an die Männer und
Frauen im Einsatz und ihre Familien. Ich wünsche allen
Soldatinnen und Soldaten, den zivilen Mitarbeitern und
ihren Angehörigen im Namen der Unionsfraktion bereits
jetzt eine gesegnete Weihnacht und einen guten Start ins
neue Jahr. Insbesondere wünsche ich ihnen Glück und
eine gesunde Heimkehr.
Danke.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Maik Reichel von der SPD-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Im
48. Bericht des Wehrbeauftragten werden wieder viele
Problemfelder in unserer Bundeswehr aufgezeigt. Nicht
wenige davon werden zum wiederholten Male angespro-
chen. Am Beispiel des Sanitätsdienstes lässt sich das er-
kennen.
Neben manchen Einzelproblemen, die hoffentlich eine
Ausnahme bleiben werden, werden im Bericht die Perso-
nalengpässe im Bereich der Bundeswehrkrankenhäuser,
die Defizite bei der truppenärztlichen Versorgung und die
schon angesprochene, sicherlich nicht zufriedenstellende
Tagesantrittsstärke genannt. Diese Punkte sind teilweise
durchaus als bedenklich anzusehen. Dennoch kann der
Frage – ich zitiere aus Ihrem Bericht –, „wie unter diesen
Bedingungen die sanitätsdienstliche Versorgung langfris-
tig gesichert und die Attraktivität des Sanitätsdienstes auf
Dauer erhalten werden kann“, mehreres entgegengehal-
ten werden.
Ich will es gleich vorweg sagen: Der Sanitätsdienst ist
besser als sein Ruf.
Das haben einzelne, interne Befragungen belegt. Ich
muss hier nicht detailliert auf die hervorragende ärztli-
che Versorgung in den Einsatzgebieten verweisen. Der
Anspruch an die Soldaten ist sehr hoch. Eine hervorra-
gende Versorgung soll gewährleistet sein. Wir leisten
dort Vorbildliches. An dieser Stelle gilt mein herzlicher
Dank den Soldatinnen und Soldaten im Sanitätsdienst,
aber auch allen anderen, die jetzt im Einsatz sind, sowie
allen, die ihren Dienst schon geleistet haben oder noch
leisten werden.
Natürlich hat das Auswirkungen auf das Inland. Auf
den Sanitätsdienst, der den sehr hohen Anforderungen,
die an ihn gestellt werden, gerecht wird und seine Auf-
gaben erfüllt, werden natürlich zusätzliche Aufgaben zu-
kommen. Im letzten Jahr – Herr Wehrbeauftragter, Sie
haben das erwähnt – haben wir die Fußballweltmeister-
schaft ausgerichtet. Der Sanitätsdienst war aber auch an
der Bekämpfung der Vogelgrippe beteiligt. Herr Wehr-
13964 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Maik Reichel
beauftragter, Sie halten Ihren Finger richtigerweise in
die Wunde.
Auch wenn durch die Umsetzung von Personal aus
aufzulösenden Bundeswehrkrankenhäusern nicht alle
Personalengpässe ausgeglichen werden konnten, ist die
Umstrukturierung in diesem Bereich auf einem guten,
wenn auch sicher nicht immer befriedigenden Weg. Die
Krankenhäuser in Hamburg, Berlin und Ulm sind in die
jeweilige Landesbettenplanung aufgenommen. Koblenz
wird sicherlich bald folgen. 1 811 Betten werden dann in
Bundeswehrkrankenhäusern zur Verfügung stehen. Ges-
tern haben wir vom Inspekteur des Sanitätsdienstes Ak-
tuelles dazu gehört.
Die immer wieder angesprochenen posttraumatischen
Belastungsstörungen werden nicht nur von uns Parla-
mentariern, sondern auch vom Sanitätsdienst sehr ernst
genommen. 10 Prozent der erwähnten Betten werden für
psychiatrische Behandlungen vorgehalten. 200 neue
Dienstposten wurden dem Sanitätsdienst zugeordnet.
Das wird sicherlich nicht für eine optimale Versorgung
in allen Bereichen ausreichen.
Die Tagesantrittsstärke, die von Kollegin Hoff ange-
sprochen wurde, liegt derzeit bei über 60 Prozent, Ten-
denz steigend. In den letzten Jahren gab es hier eine Ver-
besserung. Eine Quote von 75 Prozent werden wir bis
2010 erreicht haben. Wir haben einen hohen Anspruch.
Wir haben im Sanitätsdienst einen hohen Frauenan-
teil. 40 Prozent sind es derzeit, 50 Prozent sollen es wer-
den. Der Anteil der Frauen ist im Sanitätsdienst also
deutlich höher als in der Bundeswehr insgesamt. Das
bringt sicherlich auch einige Probleme mit sich. Wir sind
aber froh über jedes Kind, das geboren wird, auch wenn
das die Konsequenz hat, dass ein Dienstposten zeitweise
nicht besetzt werden kann. Dieser Situation müssen wir
begegnen, um die truppenärztliche Versorgung auch im
Inland – das ist ganz wichtig – weiterhin zu gewährleis-
ten. Die unentgeltliche truppenärztliche Versorgung darf
darunter nicht leiden.
Die Aspekte, die ich jetzt angesprochen habe, sind
mir natürlich nicht erst bekannt, seitdem ich vor wenigen
Wochen Mitglied des Verteidigungsausschusses wurde.
Ich komme aus einem Wahlkreis, in dem sich ein Sani-
tätsstandort befindet, nämlich aus Weißenfels. Seitdem
er vor sechs Jahren aufgebaut wurde, war ich dort sehr
häufig zugegen, nicht in meiner Funktion als Mitglied
dieses Hauses, sondern als jemand, der sich dort mit dem
Kommandeur, dem stellvertretenden Kommandeur und
der Truppe engagiert.
Ich denke, dass der Ruf des Sanitätsdienstes besser
ist, als manche glauben. Meine Bewertung fällt positiver
aus, als das, was wir auch hier manchmal hören, vermu-
ten lässt. Ich hoffe, dass Probleme in Einzelfällen, die
leider teilweise zu beklagen sind, durch pragmatisches
Handeln vor Ort gelöst werden können, ohne dass wir
eingreifen müssen.
Lassen Sie mich zum Schluss – leider ist meine Rede-
zeit schon zu Ende – noch eines ansprechen: Ich freue
mich, dass im nächsten Jahr die Angleichung der Höhe
der Ostbesoldung an das Westniveau bis zur Besol-
dungsgruppe A 9 stattfindet und dass im darauffolgen-
den Jahr auch in den höheren Besoldungsgruppen eine
Angleichung erfolgen wird.
Herr Wehrbeauftragter, Sie haben angesprochen – ich
weiß, dass Ihnen dieses Thema sehr am Herzen liegt –,
dass der Wehrsold im nächsten Jahr um 2 Euro erhöht
wird. Dem werden wir alle zustimmen; denn das ist eine
Initiative aus diesem Haus. Ich denke, das ist im Sinne
aller. Ich bedanke mich recht herzlich bei Ihnen, Herr
Wehrbeauftragter, und vor allen Dingen bei Ihrem
Hause. Ich hoffe, dass die Soldatinnen und Soldaten wei-
terhin Gebrauch davon machen, Sie als Ansprechpartner
zu nutzen. Sie sollten dabei nicht zögern.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Ver-
teidigungsausschusses zum Jahresbericht 2006 des
Wehrbeauftragten, Drucksachen 16/4700 und 16/6700.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Dr. Max Stadler, Gisela Piltz, Dr. Karl
Addicks, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über eine Einmalzahlung für Versorgungsemp-
– Drucksache 16/5250 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses
– Drucksache 16/5925 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ralf Göbel
Siegmund Ehrmann
Dr. Max Stadler
Petra Pau
Silke Stokar von Neuforn
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Günter Baumann von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13965
(C)
(D)
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gegenwärtig werden im Beamten- und Ver-
sorgungsrecht größere Veränderungen vorgenommen.
Mit der Kompetenzverlagerung im Zuge der Föderalis-
musreform haben wir einige Bereiche des Besoldungs-
und Versorgungsrechts auf die Länder übertragen. Diese
Forderung der Bundesländer haben wir als Innenpoliti-
ker des Bundes nicht immer positiv gesehen. Da die
Länder aber darauf bestanden haben, haben wir das so
vollzogen.
Die Entwicklungen in den Ländern in Fragen, die die
Beamten betreffen, sind als Folge sehr unterschiedlich.
Gegenwärtig stellen wir dies an verschiedenen Punkten
fest. So lässt zum Beispiel der Freistaat Sachsen seinen
Beamten für das Jahr 2007 eine Einmalzahlung in Höhe
von 500 Euro zukommen, während das Land Berlin an-
gekündigt hat, in den nächsten Jahren gar keine Einmal-
zahlung vornehmen zu können.
– Das habe ich aber nicht gesagt.
Gegenwärtig modernisieren wir das gesamte öffentli-
che Dienstrecht. Das ist ein Entwicklungsprozess, der in
der vergangenen Legislaturperiode mit dem Eckpunkte-
papier „Neue Wege im öffentlichen Dienst“ begann. Mit
dem Dienstrechtsneuordnungsgesetz gewährleisten wir
die Leistungsbezogenheit des Dienstrechts, einen flexi-
blen Personaleinsatz und ein individuelles Besoldungs-
recht. Letztlich soll das Beamtenversorgungsgesetz dem
Anspruch an eine wirkungsgleiche Übertragung der
Maßnahmen in der gesetzlichen Rentenversicherung
Rechnung tragen.
Mit dem Beamtenstatusgesetz, das wir noch heute
Abend in zweiter und dritter Lesung beschließen wer-
den, werden die Statusrechte und -pflichten der Angehö-
rigen des öffentlichen Dienstes der Länder, der Gemein-
den und anderer Körperschaften des öffentlichen Rechts
einheitlich geregelt. Dieser Gesetzentwurf nutzt die
durch die Föderalismusreform gewonnene Kompetenz
des Bundes und regelt die Statusrechte einheitlich.
Nun zum Gesetzentwurf der FDP-Fraktion. Der Ge-
setzentwurf fordert, den Versorgungsempfängerinnen und
Versorgungsempfängern des Bundes eine Einmalzahlung
für 2007 zu gewähren. In Anlehnung an das Tarifergeb-
nis vom 9. Februar 2005 für den öffentlichen Dienst ha-
ben wir im März dieses Jahres ein Gesetz verabschiedet,
das den Empfängerinnen und Empfängern von Dienst-
und Amtsbezügen des Bundes für die Jahre 2005, 2006
und 2007 Einmalzahlungen in Höhe von jeweils
300 Euro gewährleistet. In diese Regelung sind die Ver-
sorgungsempfängerinnen und Versorgungsempfänger im
Bereich des Bundes nicht einbezogen. Dies fordert nun
gerade die FDP mit ihrem Gesetzentwurf.
Zunächst ist festzustellen, dass uns diese Entschei-
dung natürlich nicht leichtgefallen ist. Auch wir wissen,
dass es eine große Zumutung für die Betroffenen ist,
dass wir diese Regelung nicht übernommen haben. Im
Sinne einer nachhaltigen und strukturellen Haushalts-
konsolidierung sind jedoch bestimmte Einsparungen in
unterschiedlichen Bereichen nicht vermeidbar.
Alle vorgetragenen Aspekte haben wir ausführlich bera-
ten und abzuwägen versucht. Der Gesetzentwurf der
FDP-Fraktion, diese Regelung für 2007 für die Pensio-
näre des Bundes, der Post und der Bahn zu übernehmen,
würde 150 Millionen Euro kosten und somit den Haus-
halt belasten. Dies kann nicht im Sinne einer ausgewo-
genen Haushaltskonsolidierung sein. Im Gegenteil: Da-
mit wäre der Beitrag, den der öffentliche Dienst des
Bundes zur Sanierung des Haushalts zu leisten hat, we-
sentlich geschmälert. Wir haben bereits mit der Erhö-
hung der Wochenarbeitszeit für aktive Beamte von 40
auf 41 Stunden ohne Besoldungsausgleich und mit der
Halbierung des Weihnachtsgeldes von diesen einen be-
stimmten Beitrag gefordert und damit zur Konsolidie-
rung des Haushalts beigetragen. Mit der im März be-
schlossenen Einmalzahlung sind wir davon in gewisser
Weise abgewichen, was wir aber vertreten können.
Auch die Regelungen zur Rente mit 67 werden stu-
fenweise auf Beamte übertragen. Hier wird konsequent
das nachgezeichnet, was wir für die gesetzliche Renten-
versicherung beschlossen haben. Mit der Sanierung der
öffentlichen Haushalte kann die Altersversorgung der
Bundesbeamten auf eine sichere Grundlage gestellt wer-
den. Diese Maßnahmen sind unabwendbar, um die ver-
schiedenen Alterssicherungssysteme unseres Landes an
die Herausforderungen, die wir heute haben, entspre-
chend anzupassen.
Immer weniger Beitrags- und Steuerzahler müssen die
Mittel, die wir für Renten und Pensionen brauchen, auf-
bringen. Das ist für den Bund, aber auch für die Länder
und Kommunen auf Dauer nicht finanzierbar, meines Er-
achtens auch nicht gerecht gegenüber den nachfolgenden
Generationen.
Der Tarifabschluss für den öffentlichen Dienst sah
keine Einmalzahlung für Rentnerinnen und Rentner vor.
Bei Wirkungsgleichheit für Beamtinnen und Beamte des
Bundes können für Versorgungsempfänger keine ande-
ren Regelungen getroffen werden. Auch gehören Ein-
malzahlungen rein rechtlich gesehen nicht zur Besoldung
und wirken sich somit auch nicht auf die Versorgungsbe-
züge aus. Vor diesem Hintergrund ist es aus meiner Sicht
derzeit nicht möglich, die Versorgungsempfänger in die
Regelung zur Einmalzahlung für das Jahr 2007 einzube-
ziehen.
In den vergangenen Jahren wurden zahlreiche Maß-
nahmen zur Gewährleistung einer stabilen und nachhalti-
gen wirtschaftlichen Entwicklung eingeleitet. Dazu gehö-
ren, wie wir alle wissen, zum großen Teil die Reformen
im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung. Die
Rentnerinnen und Rentner haben wegen der allgemeinen
13966 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Günter Baumann
Lohnentwicklung und des demografischen Wandels meh-
rere Jahre keine Rentenerhöhung erhalten. Erst am
1. Juli 2007 haben wir nach drei Nullrunden eine Erhö-
hung in Höhe von 0,54 Prozent erreicht. Diese positive
Entwicklung im Rentenbereich wird bei künftigen Ent-
scheidungen zur allgemeinen Anpassung der Versor-
gungsbezüge natürlich zu berücksichtigen sein. Es gilt,
das Ziel umzusetzen, die Beamtenversorgung und die
Rentenversicherung künftig wirkungsgleich zu entwi-
ckeln und dabei die Systemunterschiede zu berücksichti-
gen. Um die Versorgungsempfänger nicht besser, aber
auch nicht schlechter zu stellen als die Rentner, strebt die
Große Koalition gegenwärtig an, im Versorgungsrecht
eine Evaluierungsklausel einzuführen, mit der die jewei-
lige Entwicklung in der Rentenversicherung besser nach-
gezeichnet werden kann.
Mit der Nichtberücksichtigung leisten die Pensionäre
und Hinterbliebenen – das möchte ich ausdrücklich hier
betonen – einen weiteren wichtigen Beitrag zur Sanie-
rung der Staatsfinanzen. Ich möchte ausdrücklich her-
vorheben und anerkennen, dass dies ein wichtiger Bei-
trag ist.
Angesichts der angespannten Lage der Haushalte gibt es
gegenwärtig leider keinen anderen Weg.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, auf
fast allen Gebieten durchaus berechtigte finanzielle For-
derungen für unsere Bürgerinnen und Bürger aufzustel-
len, ist populistisch und kommt bei den Bürgern gut an.
Aber wir müssen eine realistische Politik für unser
Land im Blick haben und die Grundsatzfrage für die Zu-
kunft – die Handlungsfähigkeit im Hinblick auf den
Bundeshaushalt – in den Mittelpunkt stellen. Aus dem
Grund können wir Ihrem Antrag gegenwärtig leider
nicht zustimmen.
Danke.
Das Wort hat der Kollege Ernst Burgbacher von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kolle-
gen! Lieber Herr Kollege Baumann, Populismus ist et-
was völlig anderes. Es geht hier um eine falsche beam-
tenpolitische Weichenstellung, und Sie haben in dieser
Sitzung kurz vor Weihnachten noch die Gelegenheit,
diese zu korrigieren. Teilweise haben Sie die Begrün-
dung, warum unser Gesetzentwurf richtig ist, gerade
selbst geliefert.
Deshalb wende ich mich an die Kolleginnen und Kol-
legen von der Großen Koalition: Sie sollten den Mut ha-
ben, das tatsächlich zu korrigieren; denn es war eine fal-
sche Entscheidung, die Sie da getroffen haben.
Es geht nicht um die Verteilung von Wohltaten, und
es geht auch nicht um Weihnachtsgeschenke. Vielmehr
geht es schlicht und einfach um einen Akt politischer
Fairness. Es ist einfach nicht in Ordnung, dem Tarifper-
sonal, den aktiven Beamtinnen und Beamten Einmalzah-
lungen zuzugestehen, die Pensionäre aber gleichzeitig
vollkommen leer ausgehen zu lassen. Das ist nicht in
Ordnung, und ich glaube, das wissen Sie auch.
Nach dem Beamtenversorgungsgesetz haben auch
Versorgungsempfänger einen Anspruch auf Teilhabe an
der Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und
finanziellen Verhältnisse. So entsprach es in der Vergan-
genheit immer guter Übung, diesen Personenkreis an
Einmalzahlungen zu beteiligen. Diese Tradition sollte
fortgesetzt werden, und hierzu laden wir mit unserem
Gesetzentwurf ein.
Der Gesetzentwurf selbst ist sehr maßvoll abgefasst.
Er sieht eine Beteiligung der Versorgungsempfänger le-
diglich für das Jahr 2007 und auch nur in Höhe des indi-
viduell maßgebenden Ruhegehaltssatzes vor.
Er enthält also bereits einen Kompromiss, der eigentlich
auch Ihnen, Herr Kollege Binninger, die Zustimmung
möglich machen sollte. Wir haben ja bewusst etwas ge-
fordert, von dem wir der festen Überzeugung sind, dass
es die Zustimmung aller finden könne.
Auch die dadurch entstehenden Mehrkosten halten
sich in Grenzen. Sie gefährden, lieber Kollege Baumann,
das Ziel der Haushaltskonsolidierung überhaupt nicht.
Auch da sollte man jetzt keinen Popanz aufbauen.
Für den einzelnen Versorgungsempfänger allerdings
geht es schon um mehr. Seine Versorgungsbezüge liegen
heute nach mehreren Minusrunden unter dem Betrag des
Jahres 2002. Das unterscheidet die Pensionäre übrigens
auch von den Rentnern. Sie haben ja selbst über die Er-
höhung der Renten gesprochen.
Das Ganze hat auch einen sozialpolitischen Aspekt;
denn beim Bund werden von der Einmalzahlung insbe-
sondere Angehörige des einfachen und mittleren Dienstes
profitieren. In diesen Laufbahngruppen sind die meisten
Versorgungsempfänger zu finden. Hinzu kommt, dass die
Versorgungsempfänger die Einmalzahlung unabhängig
von ihrer Besoldungsgruppe erhalten sollen. Hierin steckt
ein zusätzliches soziales Moment, weil dadurch Pensio-
näre mit geringerer Versorgung relativ stärker begünstigt
werden.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13967
(C)
(D)
Ernst Burgbacher
Warum Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD und der CDU/CSU, die Sie das Schild des Sozialen
im Augenblick derart vor sich hertragen, gerade diesen
Personenkreis im Stich lassen, leuchtet uns wirklich
nicht ein. Eine Erklärung dafür haben Sie bis zum heuti-
gen Tage auch nicht wirklich geliefert. Im Innenaus-
schuss haben Sie sich auf – ich zitiere wörtlich – „kom-
plexe Abwägungsprozesse“ berufen,
die Grundlage der Beschlussfassung über die Einmal-
zahlung gewesen sein sollen. Dass Abwägungen nicht
immer einfach sind, ist das Wesen der Politik; sich damit
herauszureden, ist schon schwach.
Ich bitte deshalb die Innenpolitiker der Großen Koali-
tion, sich in dieser Frage gegen die Haushälter durchzu-
setzen. Denn wir wissen ja, dass die Innenpolitiker das
eigentlich wollten, sich aber nicht durchsetzen konnten.
Sie sollten sich das wirklich noch einmal überlegen! Es
wäre ja nicht schlecht, die Innenpolitik der Großen Ko-
alition hätte einmal einen Erfolg vorzuweisen. Hier hät-
ten Sie eine Gelegenheit dazu.
Ich fordere Sie auf: Packen wir das endlich an! Machen
wir es Ländern wie Baden-Württemberg und Nordrhein-
Westfalen nach! Machen wir gemeinsam den Weg frei,
damit die Pensionäre des Bundes nicht noch weiter von
der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung abge-
hängt werden! Ich fordere die Innenpolitiker der Großen
Koalition – die hier anwesend sind – auf: Stimmen Sie
unserem Gesetzentwurf zu!
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Siegmund Ehrmann von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Abwägungsprozesse haben
in der Tat Komplexitäten, Herr Burgbacher. Deshalb
sollten wir die Kraft aufbringen, die Argumente anzuhö-
ren, damit sich uns die Zusammenhänge erschließen.
Das, was Sie mit Ihrer Gesetzesinitiative fordern, ist uns
ja vor nicht allzu langer Zeit schon einmal begegnet. Sie
fordern, die Einmalzahlung des Bundes für das Jahr
2007 auch den Versorgungsempfängern zukommen zu
lassen. Das war schon bei der Verabschiedung des Ge-
setzes über Einmalzahlungen für die Jahre 2005, 2006
und 2007 Bestandteil Ihrer Forderungen.
Ich rufe in diesem Zusammenhang in Erinnerung, dass
für den beschriebenen Zeitraum die Tarifparteien für die
Tarifbeschäftigten des Bundes anstelle einer prozentualen
Erhöhung der Vergütung jährliche Einmalzahlungen von
300 Euro vereinbart haben. Um dieses Tarifergebnis auf die
Beamtinnen und Beamten zu übertragen, wurde zusätzlich
zu dem Entwurf des Gesetzes über Einmalzahlungen für
die Jahre 2005, 2006 und 2007 noch im Frühjahr 2005 der
Entwurf eines Versorgungsnachhaltigkeitsgesetzes auf den
Weg gebracht. Im Juli 2005 erhielten die Bundesbeamten
im Vorgriff auf die gesetzliche Regelung einen ersten Teil-
betrag, gewissermaßen als Abschlag, in Höhe von
100 Euro. Nachdem der Gesetzentwurf aufgrund der dama-
ligen politischen Mehrheitsverhältnisse insbesondere auf
Intervention unseres heutigen Koalitionspartners nicht vor
der Sommerpause 2005 im Bundestag verabschiedet wer-
den konnte, ging er – Stichwort Diskontinuität – mit der
Neuwahl des Bundestages unter.
– Nein, die geht nicht auf Ihre Kappe.
In der laufenden Wahlperiode war zunächst geplant,
die Einmalzahlungen erst im Zusammenhang mit der
strukturellen Besoldungsreform zu regeln, weil im Tarif-
bereich ebenso verfahren worden war. Um den Bundes-
beamten allerdings die Einmalzahlung nicht länger vor-
zuenthalten, hat die Bundesregierung auf Drängen der
Koalitionsfraktionen Anfang November 2006 den sei-
nerzeitigen Entwurf im Wesentlichen inhaltsgleich in
das Gesetzgebungsverfahren eingebracht. Dementspre-
chend sind weitere 500 Euro ausgezahlt worden. Die
restlichen 300 Euro wurden in Teilbeträgen von jeweils
150 Euro in den Monaten April und Juli 2007 ausge-
zahlt.
Nun zum Punkt. Wie bei den früheren Einmalzahlun-
gen konnten die Versorgungsempfänger nicht berück-
sichtigt werden. Schon bei der ursprünglichen Einbrin-
gung des Gesetzentwurfes, im Jahre 2005, war davon
auszugehen, dass auch den Rentnerinnen und Rentnern
keine Rentenerhöhung zugebilligt werden konnte. Dies
hat sich bestätigt; die seinerzeitige Prognose ist eingetre-
ten.
Allerdings haben die Versorgungsempfänger hinneh-
men müssen, dass die jährliche Sonderzahlung, das so-
genannte Weihnachtsgeld, für die Jahre 2006 bis 2010
gekürzt und das Jahreseinkommen vorübergehend um
circa 2 Prozent vermindert wird. Dies wiederum war un-
vermeidlich, weil die Versorgung an die Besoldung an-
knüpft, die sogar um 2,5 Prozent ermäßigt worden ist.
Dabei ist nicht berücksichtigt – auch darauf hat Herr
Kollege Baumann schon hingewiesen –, dass die Ar-
beitszeit der aktiven Bundesbeamten ohne finanziellen
Ausgleich um circa 6,5 Prozent erhöht wurde.
In diesem Zusammenhang eine Anmerkung, die in
der Diskussion auch schon eine Rolle spielte: Um die
Versorgungsempfänger nicht besser, aber auch nicht
schlechter zu stellen – ich sage in Parenthese: Die De-
batte darüber, inwieweit sich das in den Systemen sorg-
fältig nachzeichnen lässt, verfolgt uns ja schon eine ge-
raume Zeit – und das objektiver und nachvollziehbarer
zu gestalten, wird im Dienstrechtsreformgesetz eine so-
genannte Evaluationsklausel im Bereich des Versor-
gungsrechts eingeführt, damit die jeweilige Entwicklung
13968 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Siegmund Ehrmann
in der Rentenversicherung sorgfältiger und genauer
nachgezeichnet werden kann. Damit werden wir den An-
satz weiterverfolgen, dass die Veränderungen in der
Rentenversicherung – tatsächlich und deutlicher nach-
vollziehbar – wirkungsgleich übertragen werden; denn
es muss ausgeschlossen werden, dass die Regelungsme-
chanismen, die strukturbedingt unterschiedlich sind, zu
einem Auseinanderlaufen der Entwicklungen in beiden
Altersversicherungssystemen führen.
Nicht zuletzt war bei der Abwägung zu berücksichti-
gen: Es gibt auf der einen Seite das Alimentationsprinzip
und das Prinzip, Strukturen, die bei den aktiven und auch
bei den passiven Beschäftigten gegeben sind, zu übertra-
gen. Ich habe gerade versucht, diesen Aspekt, der unsere
Überlegungen geleitet hat, zu verdeutlichen. Auf der an-
deren Seite gibt es natürlich die finanzwirtschaftlichen
Belastungen.
Wenn wir das seinerzeit für den Dreijahreszeitraum
2005 bis 2007 gemacht hätten, hätten wir eine Haushalts-
belastung von etwa 400 Millionen Euro zu verzeichnen
gehabt. Jetzt ist das naturgemäß ein deutlich geringerer
Betrag, nämlich etwa 140 bis 150 Millionen Euro, weil
sich das nur auf ein Jahr bezieht. Diesen Aspekt können
wir nicht negieren. Das Leitmotiv unserer Koalitionspoli-
tik heißt ja: Reformieren, Sanieren, Konsolidieren.
– „Abkassieren“ ist Ihre Formulierung, der ich natürlich
nicht zustimmen kann. Ich weise sie sogar mit Abscheu
zurück.
Nun aber zur Zukunft. Wie sieht es aus? Wie geht es
weiter? Ich gehe davon aus, dass im kommenden Jahr
auf der Bundesebene natürlich auch im Bereich der Be-
soldung und Versorgung günstigere Entwicklungen zu
verzeichnen sein werden. Ein Parameter ist das, was
sich im Tarifbereich auf der Bundesebene abzeichnet.
Dort ist zu erwarten, dass die Tarifsteigerungen bei
2,9 Prozent liegen werden. Natürlich wird sich das
auch im Bereich der Besoldung und Versorgung wider-
spiegeln, sodass sich die Dinge im Bereich der Beam-
tenversorgung so weiterentwickeln, wie das im Renten-
sektor zu verzeichnen ist, was deutlich gerechtfertigt
ist.
Im Ergebnis stelle ich für meine Fraktion und auch
für unseren Koalitionspartner fest, dass wir auch mit den
Interessen der Versorgungsempfängerinnen und -emp-
fänger sehr sorgfältig umgegangen sind. Das ist kein an-
genehmes Geschäft, sondern eine schwierige Diskus-
sion, der wir uns stellen. Folglich werden wir Ihrem
Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Schönen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau von der Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
kann es kurz machen: Aktive Beamtinnen und Beamte
erhalten eine Einmalzahlung in Höhe von 300 Euro. Das
hat der Bundestag am 23. Februar dieses Jahres be-
schlossen. Von diesem Beschluss ausgenommen waren
die nicht mehr aktiven Beamtinnen und Beamten, also
die Versorgungsempfängerinnen und -empfänger. Be-
gründet wurde diese Ausnahme – wir haben es heute
wieder gehört – mit dem Verweis auf die allgemeine Ent-
wicklung der Renten. Die Linke hielt das schon damals
für falsch. Kollege Ehrmann, Kollege Burgbacher hat Ih-
nen erklärt, wie sich die Versorgungsbezüge entwickelt
haben bzw. dass sie gleich geblieben sind und dass man
das eine mit dem anderen nicht eins zu eins vergleichen
kann.
Nunmehr sollen auf Antrag der FDP auch die Versor-
gungsempfängerinnen und -empfänger einmalig eine
Zahlung erhalten. Dem stimmt die Linke selbstverständ-
lich zu.
Danke.
Das Wort hat die Kollegin Silke Stokar von Neuforn
von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue
mich, dass Bundesinnenminister a. D. Otto Schily dieser
Debatte über Pensionäre beiwohnt. Vielleicht ist das ein
Zeichen für das Jahr 2008.
Ansonsten habe auch ich nicht vor, nachdem hier
wortreich die Feinheiten des Beamtenrechtes erläutert
worden sind, eine lange Rede zu halten. Es ist – in einfa-
chen Worten – deutlich geworden: Die Große Koalition
verzichtet in diesem Jahr gänzlich auf Weihnachtsge-
schenke, obwohl, wie wir hier in Reden gehört haben,
der Steuersack voll ist, die eigenen Taschen gefüllt wur-
den und der Aufschwung offensichtlich da ist. Vom
Weihnachtsengel Angie wurde verkündet: Wir haben
eine gute Zeit. Der Aufschwung ist da. – Aber für die
Pensionäre wird es nichts geben. Bei den Armen wird
nichts ankommen. Das ist die Botschaft der Großen Ko-
alition.
Wir sind der Meinung, dass der Antrag der FDP ein
feines, gerechtes und auch finanzierbares Weihnachtsge-
schenk ist. Wir wollen diese gute Tat hier gemeinsam
mit der FDP beschließen.
Ein letzter Appell an die Große Koalition: Überlegen
Sie es sich noch einmal! Es wäre ein faires und gerechtes
Zeichen, nachdem wir die Einmalzahlung für die Beam-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13969
(C)
(D)
Silke Stokar von Neuforn
tinnen und Beamten beschlossen haben, diese Einmal-
zahlung auch den Pensionären für ein Jahr zuzugestehen.
Ich denke, das wird den Bundeshaushalt nicht sprengen.
Ich habe noch einen kleinen Vorschlag für die Finan-
zierung. Wir könnten ja die zu zahlenden Strafgelder für
die Nichtveröffentlichung von Nebeneinkünften als
Grundstock der Finanzierung für die Einmalzahlung der
Pensionäre nehmen.
Dann wäre es für alle nicht so schwer. Geben Sie sich
also einen Ruck! Setzen Sie ein vorweihnachtliches Zei-
chen und stimmen Sie dem Antrag zu!
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion der FDP über eine Einmalzahlung für
Versorgungsempfänger im Jahre 2007. Der Innenaus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/5925, den Gesetzentwurf der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/5250 abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abge-
lehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Oppositionsfraktionen. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Eckart
von Klaeden, Anke Eymer , weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so-
wie der Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich, Gert
Weisskirchen , Niels Annen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die Krise des KSE-Vertrages durch neue Im-
pulse für konventionelle Abrüstung und Rüs-
tungskontrolle in Europa beenden
– Drucksachen 16/6603, 16/7505 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Werner Hoyer
Dr. Norman Paech
Jürgen Trittin
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Hoff, Dr. Werner Hoyer, Dr. Karl Addicks, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Deutschland muss rüstungskontrollpolitische
Glaubwürdigkeit beweisen – angepassten KSE-
Vertrag dem Deutschen Bundestag zur Abstim-
mung vorlegen
– Drucksachen 16/6431, 16/7505 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Werner Hoyer
Dr. Norman Paech
Jürgen Trittin
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Winfried Nachtwei, Alexander Bonde, Jürgen
Trittin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Angepassten Vertrag über Konventionelle
Streitkräfte in Europa ratifizieren
– Drucksachen 16/6605, 16/7505 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Werner Hoyer
Dr. Norman Paech
Jürgen Trittin
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Wider-
spruch ist nicht zu sehen. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Staatsminister Gernot Erler.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
spanische Außenminister und OSZE-Vorsitzende Miguel
Ángel Moratinos hat heute erklärt, dass der KSE-Vertrag
seit 15 Jahren ein Eckpfeiler der Sicherheit in Europa sei
und dies auch bleiben solle. Er hat wörtlich hinzugefügt:
Der KSE-Vertrag hat Europa ein nie zuvor gekann-
tes Maß an Transparenz, Stabilität und Sicherheit
garantiert und für einen bedeutenden Abbau kon-
ventioneller Waffen gesorgt.
Diese Auffassung teilt auch die Bundesregierung. Au-
ßenminister Steinmeier hat sich in der Vergangenheit im-
mer wieder bemüht, zu zeigen, dass wir eher mehr Be-
darf an Rüstungskontrolle und Abrüstung haben als
weniger.
Seit gestern ist nun leider der KSE-Vertrag durch die
russische Seite ausgesetzt. Die Bundesregierung bedau-
ert das ausdrücklich. Damit hat Russland seine Ankündi-
gung wahrgemacht, dieses zum 12. Dezember zu voll-
ziehen, mit der Begründung, dass der angepasste KSE-
13970 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Staatsminister Gernot Erler
Vertrag von der westlichen Staatengruppe nicht ratifi-
ziert wurde. Wir alle kennen den inhaltlichen Kontext:
Es sind die sogenannten Istanbul-Verpflichtungen zum
Abzug von russischen bewaffneten Kräften aus Geor-
gien und Transnistrien mitsamt der Munition. Dass dies
noch nicht erfolgt ist, ist Hintergrund der Nichtratifizie-
rung.
Wie ist die Lage jetzt? Wir haben es nach russischen
Aussagen mit einer Aussetzung des Inspektions-, Infor-
mations- und Begrenzungsregimes des KSE-Vertrages
zu tun. Nach jetzigem Stand werden auf russischem Ter-
ritorium keine KSE-Inspektionen zugelassen. Auch
Russland selber wird keine mehr durchführen und seinen
Verpflichtungen, was Informationsaustausch über Be-
stände an schweren Waffen und deren Änderung angeht,
nicht mehr nachkommen. Dagegen beabsichtigt die Rus-
sische Föderation nicht – so lauten jedenfalls die aktuel-
len Aussagen aus Moskau –, den Umfang der KSE-rele-
vanten Waffensysteme zu erhöhen.
Für die Bundesregierung ist das ein Anlass, unsere
Bemühungen aus der Vergangenheit fortzusetzen, um
den Erhalt des KSE-Regimes und eine schnelle Ratifi-
zierung des angepassten KSE-Vertrages zu erreichen.
Wir haben das schon 2006 im Kontext der Dritten KSE-
Überprüfungskonferenz und bei der außerordentlichen
KSE-Konferenz, die Russland einberufen hat, versucht,
und wir halten auch jetzt noch eine Lösung auf einer
Kompromissbasis für möglich. Unser Engagement ist
auch bei dem informellen KSE-Treffen in Bad Saarow
im Oktober sichtbar geworden. Das hat im November in
Paris und auch am Rande des OSZE-Ministerrates in
Madrid auf eine deutsch-spanische Initiative hin seine
Fortsetzung gefunden.
Die inhaltlichen Grundlagen für unser Bemühen kann
man als Parallelansatz bezeichnen. Wir glauben, dass
man Zug um Zug mit der Ratifizierung des KSE-Anpas-
sungsabkommens auf der einen Seite parallel zur Umset-
zung der Istanbul-Verpflichtungen auf der anderen Seite
vorankommen kann. Das ist auch Inhalt des sogenannten
Parallel Action Plan der Vereinigten Staaten.
Wir setzen – damit komme ich zum Schluss – auf
Nachrichten aus Moskau darüber, dass die Tür zum
KSE-Vertrag nicht endgültig geschlossen wurde. Wir
hoffen auf eine flexible Haltung in Moskau. Was
Deutschland angeht, versichern wir, dass wir unsere Ver-
pflichtungen aus dem KSE-Vertrag auch gegenüber der
Russischen Föderation bis auf Weiteres erfüllen werden.
Wir stehen zu der Inkraftsetzung des angepassten
KSE-Abkommens und glauben, dass dieser Vertrag un-
verzichtbar ist. Zusammengefasst kann man feststellen:
Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr KSE.
Dafür werden wir uns auch weiterhin einsetzen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Elke Hoff von der FDP-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Zunächst einmal freue ich mich, dass es
uns gelungen ist, schon heute, also einen Tag nachdem
der KSE-Vertrag ausgesetzt worden ist, die Debatte im
Deutschen Bundestag zu führen. Weniger erfreulich ist
es, dass es uns nicht gelungen ist, einen gemeinsamen
Antrag zu diesem wichtigen Thema zu formulieren.
Aber so ist die Welt.
Es wäre vor allen Dingen auch gut gewesen, weil das,
was eben Herr Staatssekretär Erler vorgetragen hat, sich
in wesentlichen Ansätzen im Antrag der FDP-Fraktion
wiederfindet. Ich werde versuchen, dies in meinen Aus-
führungen zu verdeutlichen.
Wir wissen, dass seit gestern die russische Ausset-
zung des Vertrages über die konventionellen Streitkräfte
in Europa, eines der wichtigsten Abkommen der interna-
tionalen Rüstungskontrolle, wirksam ist. Ich bedaure
dies sehr; denn der KSE-Vertrag ist einer der wichtigsten
Eckpfeiler der europäischen Sicherheitsarchitektur. Er
ist ein Symbol der Vertrauensbildung nach dem Kalten
Krieg. Aber spätestens seit Inkrafttreten von Putins Mo-
ratorium wankt dieser tragende Pfeiler. Für Deutschland
und die anderen NATO-Staaten muss die Rettung des
KSE-Regimes deswegen oberste Priorität haben. In Zei-
ten neuerlich wachsenden Misstrauens und politischer
Meinungsverschiedenheiten mit dem Kreml sind die ver-
trauensbildenden Strukturen des KSE-Vertrages unver-
zichtbar.
Ich hätte mir deshalb von der Bundesregierung im
Vorfeld mehr Initiative und rüstungskontrollpolitische
Glaubwürdigkeit gewünscht. Der Beginn des Ratifizie-
rungsprozesses für das Anpassungsabkommen des KSE-
Vertrages innerhalb der NATO-Staaten hätte diese tiefe
Krise der konventionellen Rüstungskontrolle vielleicht
doch noch abwenden und ein belastbares und vertrauens-
bildendes Signal sein können.
Die nun im Antrag der Regierungsfraktionen beab-
sichtigte und in den Verhandlungen mit Russland ange-
botene Schritt-für-Schritt-Ratifizierung hat nach unserer
Auffassung nie richtig funktioniert und wird es auch in
Zukunft nicht tun. Dafür hat sich Russland auch selbst
schon zu weit vom KSE-Konsens entfernt.
Wladimir Putin hat bei seiner Entscheidung zur Aus-
setzung des KSE-Vertrages mehrfach auf die andauernde
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13971
(C)
(D)
Elke Hoff
Debatte um die Stationierung des US-Raketenabwehr-
systems auf europäischem Boden verwiesen. Die russi-
sche Kritik an der US-Raketenabwehr ist in diesem Fall
aber nur ein willkommener Anlass für den Kreml, um
ein weiteres Instrument der internationalen Rüstungs-
kontrolle infrage zu stellen sowie den Umbau und die
Modernisierung der eigenen Streitkräfte voranzutreiben.
Eine solche Vermischung ist unredlich. Der KSE-Vertrag
wird so zu einem Spielball der nationalen Interessen
Moskaus. Das ist aus unserer Sicht nicht akzeptabel.
Die russische Aussetzung der Verifikations- und In-
formationspflichten des KSE-Vertrages droht nun das
gesamte KSE-Regime aufs Spiel zu setzen. Ein endgülti-
ger Zusammenbruch würde aber den sicherheitspoliti-
schen Interessen keines einzigen Mitgliedstaates dienen,
auch nicht den russischen. Der ehemalige russische Au-
ßenminister Iwanow hat dies auf der letzten Sicherheits-
konferenz in München noch einmal sehr deutlich betont.
Ziel aller Vertragsparteien sollte es deshalb sein, doch
noch eine Lösung zur Bewältigung dieser Krise bei der
konventionellen Rüstungskontrolle zu finden. Hierfür
müssen aber alle Seiten Positionen überprüfen und Be-
weglichkeit zeigen. Dann besteht noch ein gewisser An-
lass zur Hoffnung, dass eine Rettung des KSE-Regimes
möglich ist. Denn die russische Aussetzung des KSE-
Vertrages ist ausdrücklich keine endgültige Kündigung.
Der russische Präsident hat erst in der vergangenen Wo-
che betont, dass eine Rückkehr seines Landes in den
Vertrag durchaus möglich sei. Zuvor werden aber auch
die NATO-Staaten deutlich machen müssen, dass sie im-
mer noch am KSE-Vertrag festhalten, ohne den russi-
schen Muskelspielen dabei allerdings zu sehr entgegen-
zukommen.
Russland hat die Istanbuler Verpflichtungen noch
nicht gänzlich erfüllt. Der Abzug der letzten russischen
Truppen aus Georgien im vergangenen Monat hat im-
merhin ein ganzes Jahr vor dem geplanten Abzug statt-
gefunden. Dies nährt auf unserer Seite die Hoffnung,
dass sich Moskau an seine Verpflichtungen gebunden
fühlt. Vor diesem Hintergrund wäre aus unserer Sicht
richtig, dass die NATO-Staaten mit dem Ratifizierungs-
prozess beginnen. Die Ratifizierungsurkunden sollten
aber erst dann endgültig hinterlegt und Verhandlungen
über eine Reform des KSE-Vertrages in Aussicht gestellt
werden, wenn dies alles gesichert ist. Denn eine solche
Ratifizierung des KSE-Vertrages durch die NATO-Staa-
ten, wie sie im Antrag der Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen vorgeschlagen ist, ist mit dem Inkrafttreten des
russischen Moratoriums nach unserer Auffassung ein
falsches Signal. Deutschland und die NATO-Staaten
müssen mit einer weitestgehenden Vorbereitung der Ra-
tifizierung einen nachhaltigen Anreiz setzen, um den
Kreml zu einer Wiederaufnahme der Erfüllung seiner
Vertragspflichten zu bewegen. Man darf Moskau jetzt
nicht durch eine Hals-über-Kopf-Ratifizierung bedin-
gungslos in die Hände spielen.
Die Forderung der FDP-Bundestagsfraktion berück-
sichtigt und bewahrt zum einen den NATO-Kompromiss
und sendet zum anderen ein weiterreichendes Signal an
die Moskauer Führung, als es der Koalitionsantrag sel-
ber vorschlägt. Die FDP-Bundestagsfraktion fordert die
Bundesregierung deshalb auf, schnellstmöglich den Ra-
tifizierungsprozess einzuleiten, das Anpassungsüberein-
kommen für den KSE-Vertrag dem Deutschen Bundes-
tag zur Abstimmung vorzulegen und innerhalb der
NATO-Staaten für ein solches Vorgehen zu werben. Es
ist vielleicht die letzte Chance zur Rettung des KSE-Ver-
trages. Sie muss im sicherheitspolitischen Interesse aller
Mitglieder nachhaltig genutzt werden.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans Raidel von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit der heutigen Debatte und unserem frak-
tionsübergreifenden Antrag ermuntern und bitten wir die
Bundesregierung, durch neue Impulse die konventio-
nelle Abrüstung in Europa zu stärken. Verehrte Frau
Kollegin Hoff und verehrte Kollegen von den Grünen,
Sie hätten nur bei uns mitmachen müssen.
Dann hätten wir einen gemeinsamen Antrag formulieren
können. Aber Sie haben sich ein bisschen außerhalb des
Themas gestellt. Nun beklagen Sie Ihre eigene Unfähig-
keit, kompromissbereit zu sein.
Der Verbund aller internationalen Abrüstungs- und
Rüstungskontrollverträge und -abkommen bildet ein si-
cherheitspolitisches Netzwerk. Jeder gescheiterte oder
nicht implementierte Vertrag ist eine Lücke in diesem
Regime und kann somit zu einer Gefährdung der interna-
tionalen Sicherheit führen; darüber sind wir uns alle ei-
nig. Man geht beim KSE-Vertrag davon aus, dass es eine
Reduzierung der Verteidigungsfähigkeit auf möglichst
niedrigem Niveau geben soll. Dabei sind nicht nur die
KSE, sondern alle abrüstungspolitischen Regime zu be-
rücksichtigen. Wir alle sind uns darüber einig, dass das
eine gewaltige, immer fortbestehende Aufgabe ist. Nun
müssen wir feststellen: Deutschland ist Partner, aber
nicht Key-Player. Das sind die USA und Russland. Un-
sere Aufgabe besteht darin, positiv zu beeinflussen, da-
mit die Abrüstungsregime weiter in unserem Sinne ver-
vollständigt werden können.
Der KSE-Vertrag einschließlich des Wiener Doku-
mentes und Open Skies hat eine Vorbildfunktion. Es ist
13972 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Hans Raidel
gelungen, praktische Abrüstungsschritte, zum Beispiel
Obergrenzen bei Material und Personal, zu fördern. Wir
alle sind uns darüber einig, dass dieser Vertrag einen
grundlegenden Beitrag zu einem sicheren Europa leistet
und ein zentrales Instrument der konventionellen Rüs-
tungskontrolle ist. Nun hat Russland diesen Vertrag in-
frage gestellt. Nichtanwendung, Aussetzung und Annul-
lierung sind die Schlagworte. Die Russen begründen das
damit, dass sie sich durch die NATO, insbesondere durch
die USA, eingekreist fühlen. Insbesondere die Raketen-
abwehrfrage ist ihnen ein Dorn im Auge. Sie wollen re-
spektiert werden. Die verbale Kraftmeierei treibt hier
– das wurde bereits richtig beschrieben – erstaunliche
Blüten. Ich persönlich gehe davon aus, dass erst nach der
Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2008 ein bisschen
Normalität einkehren wird und dass dann wieder über
Modalitäten ordentlich geredet und der ursprüngliche
Zustand wiederhergestellt werden kann.
– Ich persönlich glaube nicht daran; denn nach wie vor
bestehen Arbeitsgruppen, in denen vernünftig über prak-
tische Fragen geredet wird. Ich glaube, dass die Einsicht
in den Nutzen des Vertrages obsiegen wird. Ich bin ganz
sicher, dass die Russen eher an der Fortsetzung des Ver-
trages als an seiner Annullierung interessiert sind. Aller-
dings besteht die Gefahr – das will niemand ausschlie-
ßen – nach wie vor.
Wir dürfen selbstverständlich nicht zulassen, dass die
europäische Sicherheitsarchitektur geschwächt wird,
dass das Sicherheitshaus Europa negativ verändert wird.
Darüber sind wir uns alle selbstverständlich einig. Wir
müssen aber auch die Kehrseite berücksichtigen. Ich
stelle nicht nur die russische Position infrage. Ich glaube,
wir sollten durchaus auch unseren amerikanischen
Freunden ab und zu sagen, dass sie bei der Wahrung be-
rechtigter Sicherheitsinteressen der USA, der NATO,
Europas – letztlich geht es um den Weltfrieden – an Ak-
zeptanz und Durchsetzungskraft verlieren, wenn sie sich
im verminten Feld der Diplomatie mit russischen Proble-
men, Ängsten und Nöten manchmal etwas unbekümmert
auseinandersetzen. Auch das muss in diesem Zusam-
menhang erwähnt werden.
Jeder weiß, dass wir alle in einem Boot sitzen und
dass wir gemeinsam sehr viel tun können, wenn wir uns
einig sind. Wir vertreten die Auffassung, dass wir ge-
meinsam mit unseren Partnern, mit der NATO und mit
allen Interessierten alles tun müssen, damit dieses
Thema aktuell bleibt und der KSE-Vertrag nicht von der
Tagesordnung verschwindet. Herr Minister, dieses
Thema muss zur richtigen Zeit wieder auf die Tagesord-
nung gesetzt werden. Die anstehende Sicherheitskonfe-
renz in München kann hier erste Hinweise liefern. Ich
persönlich bin der Meinung, dass der KSE-Vertrag auf
der NATO-Konferenz in Bukarest im Februar 2008 an-
gesprochen werden könnte und sollte. Dort sollen wei-
tere Möglichkeiten der Zusammenarbeit ausgelotet wer-
den. Soweit ich weiß, steht dieses Thema auf der
Tagesordnung.
Ich bin der Auffassung, dass gerade Deutschland ein
großer Nutznießer des KSE-Vertrags war und ist. Erin-
nern wir uns: Ohne die Arbeit innerhalb dieses Vertrags-
regimes wäre die Wiedervereinigung in dieser Form
wohl nicht möglich gewesen.
Ich glaube, dass wir davon in besonderer Weise profitiert
haben. Deswegen müssen wir weiter dafür werben, dass
nicht nur dieser Vertrag bestehen bleibt, sondern dass
auch alle anderen abrüstungspolitischen Regime im po-
sitivsten Sinne aufrechterhalten werden und dass vor al-
lem Vertragskündigungen – von welcher Seite auch im-
mer – überprüft und zurückgenommen werden.
Technische Anpassungen sollten ausschließlich sachbe-
zogen behandelt werden.
Nach meiner Auffassung muss die europäische Karte
verstärkt ins Spiel gebracht werden. Die europäische
Abrüstung und die europäische Rüstungskontrolle müs-
sen eigentlich eine Säule unserer Sicherheitspolitik wer-
den. Derzeit gibt es in Europa noch keine arbeitsfähigen
Rüstungskontrollelemente, durch die genau diese Fragen
in höherem Maße europäisiert werden könnten, als dies
durch die Erklärung von 2003 geschehen ist.
Vorhin ist die deutsche Politik ein bisschen kritisiert
worden. Ich möchte feststellen, dass gerade unsere Ab-
rüstungspolitik immer sehr zielführend und auch erfolg-
reich war. Viele Fortschritte in den einzelnen Regimen
basieren auf deutschen Ideen und auf deutschen Vor-
schlägen. Wir haben in Begleitung mancher Länder hier
gute Schrittmacherdienste geleistet. Ich bin der Meinung
– da stimmen Sie mir sicherlich alle zu –, dass wir in der
Abrüstungspolitik weiterhin Motor sein sollten. Wir alle
wissen: Das bedeutet das Bohren dicker Bretter, und es
bedarf eines langen Atems. Deswegen möchte ich mich
bei Ihnen, Herr Minister, und vor allem bei Ihren Mitar-
beitern, allen voran bei Botschafter Gröning, der in unse-
rem Namen eine ausgezeichnete Arbeit geleistet hat,
sehr herzlich bedanken.
Wir sollten diese Arbeit parlamentarisch nach Kräften
fördern.
Ich bin sicher, dass der Anlass dieser Debatte uns alle
beflügeln sollte, zu versuchen, dass wir vielleicht in ei-
nem Jahr etwas mehr Licht im Dunkel haben. Wir wis-
sen, dass der KSE-Vertrag im Moment etwas in Schwie-
rigkeiten – manche sagen sogar: ins Zwielicht – gebracht
worden ist, aber gemeinsam können wir diesen Zug wie-
der aufs richtige Gleis setzen. Im Sinne unserer Sicher-
heit wünschen wir uns das alle.
Herzlichen Dank.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13973
(C)
(D)
Das Wort hat der Kollege Paul Schäfer von der Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Spätestens jetzt wissen wir: Rüstungskontrolle und Ab-
rüstung in Europa befinden sich in der Krise. Die einsei-
tige Aussetzung des KSE-Vertrages durch Russland ist
nicht positiv zu bewerten. Es ist eine bedauerliche Reak-
tion, die auch aus veraltetem militärischem Gleichge-
wichtsdenken gespeist ist; aber es ist eine nachvollzieh-
bare Reaktion.
Wenn jetzt die NATO diesen Schritt beklagt und ver-
urteilt, dann gehört dazu eine gehörige Portion Chuzpe
und Scheinheiligkeit;
denn die NATO-Mitgliedstaaten haben sich bis heute ge-
weigert, den KSE-Vertrag zu ratifizieren. Dies hat unter
anderem die Konsequenz, dass die neuen NATO-Mit-
gliedstaaten im Baltikum keinerlei Beschränkungen un-
terworfen sind. Russland hat ratifiziert.
Sie verweisen auf die Istanbul-Verpflichtung Russ-
lands. Ich möchte Ihnen einmal vorlesen, was die dama-
lige Bundesregierung im Jahresabrüstungsbericht 2002
geschrieben hat. Ich zitiere:
Einige Staaten beharren aber auf der Erfüllung auch
dieser nicht KSE-relevanten Verpflichtungen aus
der Schlussakte von Istanbul durch Russland. Da-
mit würde die Ratifikation des Anpassungsüberein-
kommens von der Lösung eher untergeordneter
Fragen abhängig gemacht, und es bestünde die Ge-
fahr, dass das Inkrafttreten des für die Sicherheit
und Stabilität des gesamten europäischen Konti-
nents so elementaren Rüstungskontrollabkommens
auf die lange Bank geschoben oder gar unmöglich
wird.
Das hat die damalige Bundesregierung gesagt.
Das war eine sehr saubere und gute Begründung dafür,
dass es dieses Junktim nicht geben darf. Nur, gemacht
hat man nichts, sondern im NATO-Schlepptau hat man
die Sache eben auf die lange Bank geschoben.
Aber es geht nicht nur um die Nichtratifizierung des
angepassten KSE-Vertrags. Wir reden hier über eine
ganz Palette von Maßnahmen, die Russland herausgefor-
dert haben und die zugleich das Gegenteil von Vertrau-
ensbildung sind. Wir reden über die geplante Stationie-
rung von US-Raketenabwehrsystemen in Tschechien
und Polen, wir reden über die bisherigen NATO-Erwei-
terungsrunden und die geplanten neuen Erweiterungs-
runden mit Georgien sowie der Ukraine, und wir reden
über die geplante Einrichtung von US-Stützpunkten in
Bulgarien und Rumänien. Das ist genau der Grund dafür,
dass wir sagen: Jetzt gilt es, innezuhalten.
Jetzt muss verhindert werden, dass wir sozusagen in ei-
nen neuen Aufrüstungskreislauf und in eine Spirale
wechselseitiger Drohpolitiken kommen. Das heißt,
Deutschland muss alles tun, was notwendig ist, um sich
an den bestehenden KSE-Vertrag zu halten. Die Regie-
rung muss dem Bundestag den angepassten KSE-Vertrag
zuleiten und gegenüber den USA darauf hinwirken, dass
die US-Pläne für ein Raketenabwehrsystem zumindest
auf Eis gelegt werden.
Der KSE-Vertrag schafft in der Tat weltweit einma-
lige Transparenz, und er sichert eine ganze Reihe von
vertrauensbildenden Maßnahmen. Deshalb ist es wich-
tig, dass der Schalter wieder umgelegt wird. Aber der
Vertrag sollte auch nicht mystifiziert werden. Die seiner-
zeit vereinbarten Waffenobergrenzen sind längst obsolet
geworden. Die damalige Flankenregelung greift nicht
mehr. Daher brauchen wir jetzt dringend ein Startsignal
für neue Verhandlungen über konventionelle Abrüstung
im OSZE-Rahmen. Das heißt, wir müssen weit darüber
hinausgehen. Das ist jetzt die Aufgabe. Ohne die Einlei-
tung neuer Abrüstungsschritte wird der KSE-Vertrag
nach meiner Überzeugung rasant an Bedeutung verlie-
ren. Die jetzige Krise muss als Chance genutzt werden,
um die Debatte darüber einzuleiten, wie man die immer
noch völlig überdimensionierten Streitkräfte in Europa
jetzt reduzieren kann.
Im ersten Schritt sollte es zum Beispiel darum gehen,
den Iststand als Höchstgrenze festzulegen. Zum Zweiten
könnte man über eine Reduzierung der Waffenarsenale
im OSZE-Rahmen um ein Drittel reden. Das würde im-
mer noch bedeuten, dass in diesem Raum über 66 000
schwere Waffensysteme und weit über 2 Millionen Sol-
daten stationiert sind.
Ich könnte Ihnen jetzt im Einzelnen vorrechnen, was
das für die Waffenkategorien bedeutet. Wenn wir die
Waffenarsenale nur um ein Drittel reduzierten, dann
reichten die restlichen Waffenarsenale allemal, um allen
Sicherheitsbelangen gerecht zu werden. Drittens brau-
chen wir einen neuen, tragfähigen Ansatz in der Abrüs-
tungs- und Rüstungskontrollpolitik, der die qualitative
Dimension berücksichtigt. Das heißt, bei neuen Rüs-
tungstechnologien und -entwicklungen müsste über Mo-
ratorien gesprochen werden.
Zum Schluss. Wir reden in diesen Tagen viel von
Frieden auf Erden. Nach meiner Überzeugung können
wir das nur erreichen, wenn wir uns dafür einsetzen, dass
es weniger Waffen und weniger Soldaten in Europa ge-
ben wird. In diesem Sinne darf ich uns allen ein frohes
Fest und einen guten Start ins Jahr 2008 wünschen.
Danke.
13974 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Das Wort hat jetzt der Kollege Winfried Nachtwei
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach mehreren Warnungen hat Russland gestern, am
12. Dezember, den Vertrag über Konventionelle Streit-
kräfte in Europa außer Kraft gesetzt. Nach dem heutigen
Medienecho könnte man meinen: keine besonderen Vor-
kommnisse. Das ist allerdings eine große Täuschung.
Zur Erinnerung: Der KSE-Vertrag, der 1992 in Kraft
trat, setzte nicht nur den Rahmen für eine beispiellose
friedliche Abrüstung von mehr als 60 000 Großwaffen-
systemen, sondern unterband darüber hinaus auch die
vorherige Fähigkeit beider Seiten – vor allem der östli-
chen Seite –, raumgreifende Offensiven oder Über-
raschungsangriffe zu starten. Diese Fähigkeit wurde mit
dem KSE-Vertrag beseitigt. Der Vertrag trug dadurch
handfest zur Überwindung des Kalten Krieges und zur
friedlichen Transformation mitteleuropäischer Staaten
bei. Vielleicht meint man: Wozu braucht man Informa-
tionsaustausch und Inspektionen vor Ort? Dahinter steht
folgender Grundsatz: Sicherheit soll durch Vertrauens-
bildung und Offenheit geschaffen werden, nicht durch
Misstrauen, Konkurrenz und Geheimhaltung. Das ist ein
ganz anderes Prinzip.
1999 wurde der KSE-Vertrag an die Struktur nach
Auflösung des Ostblocks anpasst und später nur von we-
nigen Staaten – Russland, Weißrussland, Ukraine usw. –
ratifiziert. Damals waren – das wurde hier mehrfach an-
gesprochen – die Istanbul-Verpflichtungen, der Abzug
aus Georgien und Moldawien, ein Ratifizierungshinder-
nis. Was damals berechtigt war, ist unserer Auffassung
nach heute nicht mehr berechtigt. Das Ratifizierungshin-
dernis ist hinfällig, und zwar aus zwei Gründen: erstens,
weil die Istanbul-Verpflichtungen weitestgehend umge-
setzt sind – es sind nur noch Reste übrig –, und zweitens,
weil sich das Kräfteverhältnis – es gibt immer noch mili-
tärische Kräfteverhältnisse, und zwar, was die Potenziale
angeht – mit der weiteren NATO-Osterweiterung im Jahr
2004 nochmals deutlich zugunsten der NATO verändert
hat. Das sind die entscheidenden Gründe dafür, dass wir
meinen: Die Ratifizierungshindernisse waren früher be-
rechtigt, heute aber sind sie hinfällig.
Wir müssen uns darüber im Klaren sein – das haben
eigentlich alle gesagt –: Der KSE-Vertrag ist ein Eck-
pfeiler kooperativer Sicherheit in Europa; aber nicht nur
das. Er ist zugleich ein Modell für andere Regionen der
Welt, um dort endlich zu Rüstungskontrolle und Abrüs-
tung zu kommen. Hieran hat jede Bundesregierung seit
den frühen 90er-Jahren ein erhebliches Interesse gehabt.
Gerade die Bundesregierungen – ich sage das ausdrück-
lich im Plural – haben sich in diesem Bereich immer be-
sonders eingesetzt. Wir haben keinen Zweifel daran,
dass auch diese Bundesregierung ein ehrliches Interesse
daran hat.
Nach der russischen Suspendierung – sie ist ohne
Zweifel deutlich zu kritisieren – geht es um nicht weni-
ger als die Rettung dieses Vertragssystems. Deshalb
sollte man den angepassten KSE-Vertrag ohne weiteres
Hin und Her so schnell wie möglich ratifizieren.
Ich glaube, der Vorschlag, das Zug um Zug zu machen,
kommt zu spät. Man muss jetzt einen deutlichen Schritt
machen.
Es gelten die Worte des internationalen Appells, der
ja auch von erfahrenen und bewährten KSE-Diplomaten
unterzeichnet wurde. Hier heißt es:
Alle Staaten und Völker Europas werden verlieren,
wenn das KSE-Regime, ein beispielloses Instru-
ment für die Bewahrung des Friedens und von
höchster Bedeutung für die Zukunft Europas, jetzt
zerstört werden sollte.
Gerade an diesem Ort, der sich ja in der Nähe der frühe-
ren Mauer befindet, sollten wir uns bewusst sein, wie
enorm wertvoll dieses KSE-Regime war und weiterhin
ist. Deshalb sollten Sie sich von den Koalitionsfraktio-
nen, auch wenn Sie die Oppositionsanträge ablehnen
– das werden Sie natürlich jetzt tun –, entsprechend an-
ders verhalten. Ich vertraue da vor allem auf die bewähr-
ten Abrüstungspolitiker, die ich in den Reihen der Koali-
tion sehe, nämlich Gernot Erler, Uta Zapf und Rolf
Mützenich. Ich hoffe, lieber Rolf, die Rede, die du gleich
halten wirst, geht auch in diese Richtung.
Danke.
Aber zunächst hat der Kollege Gert Winkelmeier das
Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liest man den Koalitionsantrag, dann könnte es einem
so erscheinen, als ob sich der KSE-Vertrag deshalb in
der Krise befindet, weil Russlands Präsident vor zehn
Monaten anlässlich der Münchner Sicherheitskonferenz
ankündigte, den Vertrag auszusetzen. Dies hat er per De-
kret am 14. Juli mit einer Frist von 150 Tagen auch ge-
tan; seit gestern ist der KSE-Vertrag aus russischer Sicht
nicht mehr bindend. Die Koalition verwechselt aber in
ihrem Antrag Ursache mit Wirkung. Anlass der russi-
schen Reaktion war die Ankündigung der USA, neue
Raketen in Polen zu stationieren und eine Radaranlage in
Tschechien aufzubauen. Von beidem fühlt sich Russland
bedroht.
Die Ursache für die Krise des angepassten KSE-Ver-
trages liegt aber wohl darin, dass die NATO-Staaten nie
wirklich vorhatten, den angepassten Vertrag von 1999 zu
ratifizieren. Zeugnis dafür ist, dass sie im Jahre 2000 in
Florenz neue Ratifizierungsbedingungen nachgeschoben
haben. Das nenne ich vorsätzlich unfaires Verhandeln.
Überhaupt muss man der deutschen Außenpolitik in die-
ser Sache vorwerfen, in den letzten acht Jahren keine ei-
genständigen Initiativen für die Ratifizierung ergriffen
zu haben. Sie hätten doch den Prozess längst einleiten
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13975
(C)
(D)
Gert Winkelmeier
können. Das wäre der deutschen Außenpolitik angemes-
sen gewesen.
Für die Aufrechterhaltung der von den Bundesregie-
rungen vielbeschworenen strategischen Partnerschaft
mit Russland reicht es eben nicht, nur der amerikani-
schen Politik hinterherzulaufen. Welche Signale hat
Russland denn durch die Politik der USA und der NATO
empfangen? Die einseitige Kündigung des ABM-Vertra-
ges im Jahre 2002 durch die USA, die Dauerblockade
gegen eine multilaterale Kontrolle der Biowaffenkon-
vention durch die USA, die Raketenabwehrstationie-
rungspläne und nicht zuletzt die zweimalige NATO-
Osterweiterung. Also beklagen Sie als Bundesregierung
doch nicht die Krise der Rüstungskontrolle, die Sie
selbst mit herbeigeführt haben.
Deutschland hat mehr als alle anderen europäischen
Staaten vom KSZE-Prozess und den Abrüstungs- und
Rüstungskontrollmaßnahmen profitiert. Daraus ist aber
auch eine Verpflichtung entstanden, nämlich die Ver-
pflichtung, sich für weitere Abrüstung einzusetzen. Die-
ser Verpflichtung kommen die Bundesregierungen seit
Jahren immer weniger nach. Ihnen ist die Hochrüstung
der Bundeswehr für die globale Machtprojektion offen-
sichtlich wichtiger.
Gegen Ende des Kalten Krieges hatten alle Beteilig-
ten eine wichtige Lektion gelernt: Sicherheit ist nur mit-
einander, nicht aber gegeneinander zu haben. Das
scheint in Teilen der politischen Klasse unseres Landes
in Vergessenheit geraten zu sein. Die Ratifizierung des
AKSE-Vertrages liegt zutiefst im europäischen und im
deutschen Interesse, allerdings weniger wegen der ver-
einbarten Obergrenzen; denn diese werden inzwischen
durch neue strategische Konzeptionen unterlaufen, siehe
zum Beispiel die US-Stationierungsabkommen mit Bul-
garien und Rumänien. Vielmehr käme mit der Ratifizie-
rung neuer Schwung in die Abrüstungsbemühungen,
weil verlorenes Vertrauen wiedergewonnen würde. Die-
ser Schwung muss dann auch gegen den Widerstand
wichtiger Bündnispartner genutzt werden, damit dem
Thema Rüstungskontrolle wieder der ihm gebührende
Platz bei der Friedenserhaltung zugewiesen werden
kann.
Vielen Dank.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Dr. Rolf Mützenich von der SPD-Frak-
tion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestern war kein guter Tag für die Rüstungskontrolle.
Wir bedauern dies und hoffen, dass das Jahr 2008 grö-
ßere Fortschritte bringt. Die Suspendierung des KSE-
Vertrages durch Russland hat die Krise der Rüstungs-
kontrolle nur noch verstärkt. Ich erinnere in diesem Zu-
sammenhang an die Kündigung des ABM-Vertrages
vonseiten der USA und an die Erosion des Atomwaffen-
sperrvertrages. Dadurch haben sich Fehlentwicklungen
in diesem Bereich leider verstetigt.
Die Rüstungskontrolle als Instrument für Stabilität
und Kooperation gerät in Gefahr: in Europa und insbe-
sondere in den Regionen, die Abrüstung und Rüstungs-
kontrolle brauchen. Weil die betreffenden Länder eigent-
lich von Europa lernen könnten, ist dies gestern kein
gutes Signal gewesen.
Hier ist schon daran erinnert worden, dass es mit dem
KSE-Vertrag möglich wurde, 60 000 konventionelle
Großwaffensysteme zu beseitigen. In diesem Vertrag
wurde eigentlich eine Utopie der 70er-Jahre, insbeson-
dere verbreitet von Egon Bahr, aufgenommen, nämlich
die Herstellung der Angriffsunfähigkeit in Europa, so-
dass man zu einer Offensive nicht mehr in der Lage ist.
Deswegen war und ist dieser Vertrag so wichtig.
Man muss sagen, dass die Suspendierung des Vertra-
ges durch Russland falsch war; es war ein falsches Si-
gnal zur falschen Zeit.
Man muss dies an dieser Stelle so deutlich sagen, weil
dadurch die Bemühungen der Bundesregierung er-
schwert werden. Es war nämlich die Bundesregierung,
die in Bad Saarow die ersten Gespräche innerhalb des
NATO-Rahmens mit anderen Partnern geführt hat. Lei-
der muss ich sagen, dass auch mein Besuch vor 14 Tagen
in Moskau, bei dem ich ein Gespräch mit dem Vorsitzen-
den des Außenpolitischen Ausschusses, Kossatschow,
geführt habe, nicht das Ergebnis gebracht hat, das ich
mir gewünscht habe, nämlich dass die Suspendierung
noch einmal überdacht wird.
Das Problem hat – ich glaube, es ist von den Vorred-
nerinnen und Vorrednern richtig beschrieben worden –
zwei Seiten einer Medaille. Es steht für mich außer
Frage, dass russische Interessen missachtet oder zumin-
dest gering geschätzt worden sind. Wir müssen uns die-
ser Einschätzung vorurteilsfrei stellen. Der entschei-
dende Punkt an dieser Stelle ist, dass Russland mit der
Suspendierung den KSE-Vertrag instrumentalisiert hat,
was sich irgendwann gegen das Land selbst richten wird.
Dieses Problem müssen wir den russischen Akteuren
deutlich machen.
Entscheidend ist aus meiner Sicht, dass der russische
Präsident – möglicherweise der neue russische Präsident –
ohne die Duma die Möglichkeit hat, diesen Vertrag wie-
der in Kraft zu setzen. Dies wäre ein wichtiges Signal.
Wir müssen die dann möglicherweise neue politische
Führung in Moskau davon überzeugen, von diesem In-
strument Gebrauch zu machen.
Wir Sozialdemokraten sind bereit zu einer Ratifizie-
rung des AKSE; dies haben wir immer deutlich gesagt.
Ich möchte daran erinnern, dass wir bereits 2005 das da-
13976 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Dr. Rolf Mützenich
mals unter einer anderen Führung stehende Auswärtige
Amt gebeten haben, den Prozess einer vorläufigen Rati-
fizierung einzuleiten. Mit Verweis auf Probleme bei den
notwendigen Verfahrensschritten ist dieses Anliegen zu-
rückgewiesen worden. Dennoch bitten wir die Bundesre-
gierung, erneut zu prüfen, ob mit den entsprechenden
Kommunikationsmöglichkeiten, die der Staatsminister
angedeutet hat, dieses Verfahren durchzuführen ist. Im
britischen Unterhaus ist dieses Verfahren gewählt wor-
den, ebenso in anderen Parlamenten. Ich glaube, wir tä-
ten gut daran, wenn wir entsprechende Schritte zumin-
dest prüfen würden.
Außerdem ist es notwendig, dass wir eine Debatte
darüber beginnen, ob ein weiterer Vertrag über die kon-
ventionelle Abrüstung in Europa möglich ist. Dieses Ziel
wird man wahrscheinlich nicht vor der endgültigen Rati-
fizierung des AKSE umsetzen können. Auf jeden Fall
sollten Vorgespräche laufen. Ich glaube schon, dass das,
was in Bad Saarow und in Paris diskutiert wurde und zu-
künftig an anderer Stelle diskutiert wird, Anhaltspunkte
dafür liefern wird, wie wir möglicherweise zu einem
KSE-3-Vertrag kommen können.
Der gestrige Tag war ein schlechter Tag für die Rüs-
tungskontrolle. Ich möchte aber auch daran erinnern,
dass heute der 40. Jahrestag der Vorlage des Harmel-Be-
richts ist. Der Harmel-Bericht bedeutete einen wichtigen
Fortschritt sowohl für die NATO als auch für Europa. In
diesem Bericht wurde auf der einen Seite für Stabilität
plädiert, auf der anderen Seite aber auch für Rüstungs-
kontrolle.
Ich bin der Bundesregierung sehr dankbar dafür, dass
Frank-Walter Steinmeier zusammen mit dem norwegi-
schen Außenminister eine Initiative gestartet hat, die auf
Abrüstung innerhalb der NATO abzielt. Das ist unser
Auftrag für 2008.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen zur Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Druck-
sache 16/7505.
Tagesordnungspunkt 9 a. Abstimmung über den An-
trag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem
Titel „Die Krise des KSE-Vertrages durch neue Impulse
für konventionelle Abrüstung und Rüstungskontrolle in
Europa beenden“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1
seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/6603 an-
zunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen der Fraktionen der FDP und des
Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 9 b. Unter Nr. 2 seiner Beschluss-
empfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrages der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/6431
mit dem Titel „Deutschland muss rüstungskontrollpoliti-
sche Glaubwürdigkeit beweisen – angepassten KSE-Ver-
trag dem Deutschen Bundestag zur Abstimmung vorle-
gen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer ist gegen die Beschlussempfehlung? – Enthaltun-
gen? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die
Linke gegen die Stimmen der Fraktion der FDP und bei
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 9 c. Unter Nr. 3 seiner Beschluss-
empfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/6605 mit dem Titel „Angepassten Vertrag über
Konventionelle Streitkräfte in Europa ratifizieren“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage-
gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist da-
mit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
Grünen bei Enthaltung der Fraktion der FDP angenom-
men.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b
auf:
10 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Anrechnung von Sachleistungen auf die Regel-
leistung des SGB II bei stationärem Aufent-
halt ausschließen
– Drucksache 16/7467 –
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordneten
Katja Kipping, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Einführung einer Weihnachtsbeihilfe für
Grundsicherungsbezieherinnen und Grundsi-
cherungsbezieher
– Drucksachen 16/7041, 16/7511 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Gabriele Hiller-Ohm
Ich weise darauf hin, dass wir über den Antrag zur
Anrechnung von Sachleistungen später namentlich ab-
stimmen werden.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so ver-
fahren.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13977
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin das Wort der Kollegin Katja Kipping von der Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bun-
desregierung hat eine Verordnung verabschiedet, die vor-
sieht, dass Arbeitslosengeld-II-Bezieher, die länger als
21 Tage in ein Krankenhaus müssen, ab dem 1. Januar
des nächsten Jahres einen um 35 Prozent gekürzten
Hartz-IV-Regelsatz erhalten – und das, obwohl der Re-
gelsatz ohnehin schon viel zu niedrig ist.
Das kann unter anderem Folgendes bedeuten: Ein Ar-
beitslosengeld-II-Bezieher, bei dem Krebs diagnostiziert
wird, muss zu einer Chemotherapie. Eine solche Behand-
lung dauert in der Regel länger als 21 Tage. Damit hat er
die Bagatellgrenze überschritten. Das heißt, nach einigen
Wochen wird diesem Menschen das ohnehin niedrige
Arbeitslosengeld II gekürzt, und zwar um 121 Euro. In
einer Situation, in der es diesem Menschen schon richtig
dreckig geht, wird also noch eins obendrauf gesetzt. Ich
finde, diese Verordnung muss gestoppt werden.
– Frau Nahles, da Sie mich gerade fragen, wie ich auf
121 Euro komme, empfehle ich Ihnen, nachzulesen, wel-
che Aussagen von Mitgliedern Ihrer Regierung, zum
Beispiel von Klaus Brandner, getroffen wurden.
Diese Verordnung ist eines der ersten Produkte des
unter neuer Führung stehenden Sozialministeriums. Herr
Staatssekretär Brandner und Herr Minister Scholz, ich
muss Ihnen sagen: Sie starten mit einer grandiosen Fehl-
leistung, und zwar in dreifacher Hinsicht:
Erstens. Diese Verordnung ist ein Schlag ins Gesicht
der Betroffenen.
Die Bundesregierung begründet ihren Schritt wie folgt
– ich zitiere –:
Andernfalls würde es durch einen Aufenthalt im
Krankenhaus zur Einkommensverbesserung kom-
men.
Glauben Sie denn wirklich, die Arbeitslosengeld-II-Be-
zieher stürmen jetzt haufenweise in das Krankenhaus,
nur weil sie dort verpflegt werden?
So gut ist das Krankenhausessen für Kassenpatienten
wahrlich nicht.
Außerdem müsste auch Ihnen bekannt sein, dass ein
Aufenthalt im Krankenhaus mit zusätzlichen Kosten ein-
hergeht. So ist zum Beispiel das Telefonieren im Kran-
kenhaus wesentlich teurer. Nach einer schweren OP ist
man geschwächt, kann nicht mit dem Fahrrad fahren und
muss womöglich Geld für ein Taxi bezahlen. Im Übrigen
ist es sehr wahrscheinlich, dass nach einer schweren Er-
krankung oder nach einer schweren Operation höhere
Kosten anfallen, zum Beispiel deshalb, weil Heilmittel
oder gesündere Lebensmittel erworben werden müssen.
Ich meine, Arbeitslosengeld-II-Bezieher, die gerade eine
schwere Krankheit durchgemacht oder eine schwere
Operation hinter sich haben, sollten nicht auch noch da-
durch schikaniert werden, dass der Regelsatz des ALG II
um 35 Prozent gekürzt wird.
Zweitens ist Ihre Verordnung vor allen Dingen eines:
ein Bürokratievermehrungsprogramm. Herr Alt von der
Bundesagentur für Arbeit hat es gestern im Sozialaus-
schuss auf den Punkt gebracht, indem er sagte – ich zi-
tiere erneut –:
Der dadurch entstehende Aufwand ist für alle Be-
teiligten ärgerlich.
Drittens. Diese Verordnung ist ein Schlag ins Gesicht
des Parlaments. Der Petitionsausschuss hat einstimmig
beschlossen, dass das Arbeitslosengeld II eine pauscha-
lierte Leistung ist und dass das Krankenhausessen des-
wegen kein Grund für eine Rückforderung sein kann.
Wir alle haben dies am 25. Oktober dieses Jahres ein-
stimmig bestätigt. Die Bundesregierung aber ignoriert
dieses Votum des Parlaments und verabschiedet diese
Verordnung einfach. Ich finde, jeder Abgeordnete, der
noch einen Funken parlamentarischer Ehre im Leib hat,
darf sich das nicht gefallen lassen.
Wir alle sollten jetzt klar sagen: Stopp mit dieser Verord-
nung!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
SPD, zeigen Sie, dass Sie mehr sind als die Westenta-
schenreserve der Regierung! Sorgen Sie dafür, dass ein
13978 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Katja Kipping
Krankenhausaufenthalt für Arbeitslosengeld-II-Bezie-
her nicht zu einer Kürzung des Arbeitslosengeldes II
führt!
Im zweiten Antrag, den die Fraktion Die Linke zur
Abstimmung stellt, ist eine Weihnachtsbeihilfe in Höhe
von 40 Euro für Asylsuchende und Arbeitslosengeld-II-
Beziehende vorgesehen.
– Sie haben sich ja wiederholt echauffiert, dass sich aus-
gerechnet die Linke für Weihnachten einsetzt.
– Da Sie gerade „Ja, klar!“ rufen: Der Umgang mit
Weihnachten war in der DDR nicht gerade unver-
krampft; das kann man so sagen.
Das hat zum Glück aber nichts daran geändert, dass
Weihnachten auch für die meisten konfessionslosen
Menschen eine wichtige Familientradition ist. Im Übri-
gen finde ich, dass das, was Sie hier starten, ein ganz er-
bärmliches Ablenkungsmanöver ist.
Im Sozialausschuss hat sich eine Vierparteienkoali-
tion gebildet – von der FDP über die CDU/CSU und die
SPD bis hin zu den Grünen –, die sich in der Ablehnung
der Einführung einer Weihnachtsbeihilfe in Höhe von
40 Euro einig ist. Hier muss ich insbesondere an die
Adresse der Christdemokraten und der Sozialdemokra-
ten sagen: Die Ablehnung einer so bescheidenen Weih-
nachtsbeihilfe von gerade einmal 40 Euro ist beschä-
mend, vor allen Dingen vor dem Hintergrund der sehr
unbescheidenen Diätenerhöhung, die hier vor kurzem
beschlossen wurde.
Ich bin der Meinung, dass auch die Menschen, die auf
den Bezug des Arbeitslosengeldes II oder auf die Ge-
währung von Asyl angewiesen sind, das Recht auf ein
schönes Weihnachtsfest haben.
Deswegen stellen wir heute die Einführung einer Weih-
nachtsbeihilfe zur Abstimmung.
Nächster Redner ist nun der Kollege Karl
Schiewerling für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Über zwei Anträge haben wir
heute zu befinden. Es ist richtig, dass der Petitionsaus-
schuss und am 25. Oktober 2007 der Deutsche Bundes-
tag beschlossen haben, dem Ministerium für Arbeit und
Soziales eine Petition mit dem Anliegen, auf die Verrech-
nung der Regelleistungen im SGB II bei einem stationä-
ren Aufenthalt zu verzichten, zur Erwägung zu überwei-
sen, auch weil eine Rechtsgrundlage dafür fehlte.
Grundsätzlich ist jedoch die Bundesregierung, der eine
Petition zur Erwägung überwiesen wurde, nicht ver-
pflichtet, das, was der Bundestag beschlossen hat – selbst
wenn er das einstimmig getan hat –, zu übernehmen und
das Petitum sofort umzusetzen.
Allerdings gestehe ich zu, dass es bei der Verabschie-
dung der Petition hier im Bundestag und der Erarbeitung
der Verordnung durch das Ministerium eine Zeitüber-
schneidung gegeben hat. Die Bundesregierung hat näm-
lich am 5. Dezember 2007 eine Rechtsverordnung be-
schlossen und damit das getan, was in der Petition
gefordert wurde: eine rechtliche Grundlage zu schaffen.
Damit ist geregelt, dass bis zu einer bestimmten Baga-
tellgrenze keine Verrechnungen erfolgen. Die Bagatell-
grenze ist so gesetzt, dass bei einem stationären Aufent-
halt von drei Wochen keine Verrechnung erfolgt.
Bei Aufenthalten, die darüber hinausgehen und bis zu
sechs Monaten dauern, soll eine entsprechende Verrech-
nung erfolgen. Zurzeit kann jedoch niemand sagen, wie
viele Bezieher von SGB II davon betroffen sind oder be-
troffen sein werden.
Ich gehe davon aus, dass sich die allermeisten Betroffe-
nen nicht länger als drei Wochen einem Krankenhaus-
aufenthalt unterziehen müssen. Das wäre ihnen auch
sehr zu wünschen.
Sollte sich dann in den nächsten Monaten herausstel-
len, dass die durch die Rechtsverordnung entstehenden
Verwaltungsaufwendungen zu hoch sind und in keinem
Verhältnis zu dem möglichen Erfolg stehen, halte ich es
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13979
(C)
(D)
Karl Schiewerling
für richtig, die Rechtsverordnung im Sinne von Entbüro-
kratisierung und Verwaltungsvereinfachung noch einmal
zu überdenken und dem Anliegen des Petitionsausschus-
ses zu entsprechen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Spieth?
Ich gestatte jetzt keine Zwischenfrage.
Daher lehnen wir den Antrag der Linken ab.
Höhepunkt der zahlreichen Anträge, die die Linken
uns in diesem Jahr im Deutschen Bundestag beschert ha-
ben, ist aber der Antrag, der heute ebenfalls zur Abstim-
mung ansteht: die Einführung eines Weihnachtsgeldes für
alle Grundsicherungsempfänger in Höhe von 40 Euro.
Mit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und So-
zialhilfe wurden die einzelnen Leistungen pauschaliert.
Daher ist der Regelsatz im SGB II auch höher als der
Regelsatz nach dem alten Bundessozialhilfegesetz. Da-
rin eingeschlossen sind auch sogenannte Weihnachtsbei-
hilfen.
– Herr Trittin, auch Ihre Fraktion ist dagegen. Ich wäre
an Ihrer Stelle vorsichtig.
Nun erleben wir, dass zu jeder Gelegenheit zusätzli-
che Leistungen des Staates an die Empfänger von
Grundsicherung gefordert werden. Während die einma-
lige Leistung für besonderen Aufwand – das sage ich
sehr offen – bei der Einschulung von Kindern oder bei
einer möglichen Mittagsversorgung an den Schulen für
mich durchaus nachvollziehbare Sachleistungen wären,
und zwar für die Kinder, die auf Sozialgeld angewiesen
sind, kann ich weitere Zuwendungen, die über die jetzt
pauschalierten Sätze hinausgehen, nicht nachvollziehen.
Ich will Ihnen einen weiteren Gesichtspunkt nennen.
Nach den Regeln des SGB II hat jede Bedarfsgemein-
schaft die Möglichkeit, zu dieser Grundsicherung
100 Euro im Monat ohne Abzug hinzuzuverdienen. Legt
man von diesen 100 Euro jeden Monat 3,50 Euro zu-
rück, kommt man auf 42 Euro, die man gut für Weih-
nachten, so wie Sie es gewünscht haben, einsetzen kann.
Ich bin sogar skeptisch, ob zusätzliche Barleistungen
dort wirklich ankommen.
Was die betroffenen Menschen brauchen – und jetzt
hören Sie bitte genau zu; vielleicht können Sie das ja
auch –,
ist unmittelbare, direkte Hilfe, um aus dem Leistungsbe-
zug nach SGB II herauszukommen.
Das ist insbesondere für diejenigen Kinder notwendig,
die Sozialgeld beziehen und auf Unterstützung und För-
derung angewiesen sind, damit sie nicht auf Dauer – an-
ders als ihre Eltern – von Sozialleistungen abhängig wer-
den.
Alle Anträge der Linken zielen aber darauf ab, die
Geldleistungen zu erhöhen. Nicht ein einziger Antrag
der Linken beschäftigt sich intensiv mit der Frage, wie
Menschen aus dem Leistungsbezug herausgeholt werden
können, und zwar außerhalb staatlicher Arbeitsmarkt-
programme.
Kurz vor Weihnachten geht es Ihnen weder um Weih-
nachten noch um die Menschen. Es geht Ihnen aus-
schließlich darum, pünktlich zu Weihnachten Forderun-
gen zu erheben, die ans Gemüt gehen, mit dem Ziel, hier
im deutschen Parlament alle Parteien vorzuführen, die
gegen diese Forderungen sind und sie ablehnen.
Sie wissen genau, dass alle anderen Parteien Ihren An-
trag ablehnen werden. Rechtzeitig zum christlichen
Weihnachtsfest wollen Sie gute Taten organisieren und
die Mitglieder aller anderen Fraktionen in diesem Hohen
Haus als böse Menschen hinstellen, weil sie Ihren An-
trag ablehnen.
Dies tun sie unter anderem deswegen, weil alles vom
Steuerzahler finanziert werden muss.
Dieses Verhalten, das Sie an den Tag legen, ist – ich sage
Ihnen das in aller Deutlichkeit – heuchlerisch.
Ich bleibe dabei: Ihnen geht es nicht um die Men-
schen. In Marzahn-Hellersdorf hat der von Ihnen ge-
stellte Bezirksbürgermeister die finanzielle Förderung
der Arche – das ist eine christliche Einrichtung, in der
vielen Kindern, die Sozialgeld bekommen, geholfen
wird – systematisch abgeschafft.
13980 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Karl Schiewerling
Die Arche hat die jungen Menschen gefördert und ihnen
Perspektiven gegeben. Das passte Ihnen nicht. Deswe-
gen haben Sie der Arche Ihre Unterstützung entzogen.
Die Arche zeigt Perspektiven auf, wie Kinder auf Dauer
ohne Sozialgeld auskommen können. Sie lehnen das ab.
Dort, wo Sie regieren, haben Sie ein großes Interesse da-
ran, dass die Menschen weiter unzufrieden bleiben.
Denn unzufriedene Menschen bilden Ihr Wählerpoten-
zial.
Dieses Wählerpotenzial instrumentalisieren Sie für Ihre
parteipolitischen Zwecke.
Sie verwenden in Ihrem Antrag – das will ich Ihnen
nicht verwehren – das Wort „Weihnachtsfest“. Dann sa-
gen Sie doch aber bitte in Ihrer eigentlichen Diktion,
dass es Ihnen nicht um ein Weihnachtsgeld geht, sondern
um eine „geflügelte Jahresendzeitprämie“.
Ihre eigentliche Wertschätzung für die christliche Bot-
schaft des Weihnachtsfestes wird daran deutlich, wie Sie
mit christlichen Initiativen umgehen.
Meine Damen und Herren, ich sage in aller Deutlich-
keit: Ich halte Ihre Argumentation hier im Parlament im
Hinblick auf Ihr Verhalten dort, wo Sie regieren, für dop-
pelzüngig und doppelbödig. Sie zeigen Ihr wahres Ge-
sicht außerhalb des Parlaments!
Ich würde Ihnen dringend raten, den Menschen ein ande-
res Geschenk zu machen. Das größte Geschenk, das Sie
den Betroffenen machen könnten – auch den
177 000 Kindern, die in Marzahn-Hellersdorf in Be-
darfsgemeinschaften wohnen –, wäre es, mit aller Kraft
mitzuhelfen, dass diese Menschen einen Job bekommen,
um ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft verdienen zu
können.
Instrumentalisieren Sie nicht auch noch das Weih-
nachtsfest – das nach Ostern höchste Fest der Christen –
für Ihre Interessen. Wie wollen Sie eigentlich erklären,
dass diejenigen, die nur wenig mehr Geld verdienen, als
ALG-II-Empfänger bekommen, keinen staatlichen Zu-
schuss erhalten, obwohl sie die Steuern aufbringen, mit
denen das Weihnachtsgeld finanziert werden soll?
Was sagen Sie den Rentnern, deren Renten nur etwas hö-
her sind als die Grundsicherung im Alter?
Wir lehnen Ihren Antrag ab. Ich bitte Sie herzlich, den
Ausschuss und das Parlament mit weiteren Anträgen zu
verschonen,
mit denen Sie nur nachforschen wollen, wie Sie an Geld
kommen können, mit denen Sie aber nicht aufzeigen,
wie Menschen neue Perspektiven für ihr Leben gewin-
nen können.
Ich danke Ihnen.
Bevor ich nun dem nächsten Redner das Wort erteile,
will ich darauf hinweisen, dass der Kollege Leutert bei
den Ausführungen des Kollegen Schiewerling gerade
zugerufen hat: „Der spinnt doch!“
Herr Kollege Leutert, das ist nicht der Umgangston, der
in diesem Hause gepflegt wird. Ich erteile Ihnen eine
Rüge.
Nun hat das Wort zu einer Kurzintervention der Kol-
lege Spieth.
Kollege Schiewerling, sind Sie erstens bereit, zuzuge-
ben, dass jeder Patient, der in ein Krankenhaus muss,
28 Tage in einem Kalenderjahr Krankenhaustagegeld,
und zwar täglich 10 Euro, zahlen muss?
Sind Sie zweitens bereit, zuzugeben, dass das Kran-
kenhaustagegeld, das die Patienten zahlen müssen, von
Norbert Blüm, dem damaligen Minister der CDU/CSU,
mit der Begründung eingeführt wurde, dass die Patienten
damit einen Teil der „Hotelleistungen“ des Krankenhau-
ses – so wurde das genannt – finanzieren sollen, das
heißt, dass sie beispielsweise für Verpflegungsleistungen
zahlen sollen?
Sind Sie drittens bereit, zuzugeben, dass man Arbeits-
losengeld-II-Empfänger, wenn man ihnen dieses Kran-
kenhaustagegeld abverlangt und ihnen gleichzeitig Mit-
tel durch eine pauschale Kürzung entzieht, doppelt zur
Kasse bittet, hier also, verglichen damit, wie andere Pa-
tienten behandelt werden, eine Ungleichbehandlung vor-
liegt? Sind Sie bereit, zu akzeptieren, dass dies sozial un-
zulässig ist und dem entschieden zu widersprechen ist?
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13981
(C)
(D)
Herr Kollege Schiewerling, bitte.
Ich bin bereit, zuzugeben, dass Empfänger von SGB-II-
Leistungen nach den derzeitigen Entwürfen der Bundes-
regierung in den 21 Tagen, in denen sie im Krankenhaus
sind, keine Abzüge von ihren SGB-II-Leistungen be-
kommen sollen; das ist die Regel.
Ich bin gerne bereit, zuzugeben, dass sich die Verord-
nung, um die es geht, in den nächsten Monaten in der
Praxis bewähren muss; dann wird noch einmal eine Prü-
fung erfolgen.
Nun hat das Wort der Kollege Haustein für die FDP-
Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! „Oh du fröhliche, oh du selige
Weihnachtszeit“, so schallt es in den Kirchen und Stuben
zu Weihnachten in ganz Deutschland und fast in aller
Welt.
Weihnachten ist ein schönes Fest. Die Christen gedenken
der Geburt Jesu. In einem anderen Lied heißt es: „Gottes
Sohn ist Mensch geworden“. Das gibt den Menschen
Halt, innere Kraft und einen Sinn in ihrem Leben. Des-
halb ist es nicht in Ordnung, ist es scheinheilig, wenn die
Linken die religiöse Bedeutung des Weihnachtsfestes
nutzen und einen Antrag auf Einführung der Zahlung ei-
nes Weihnachtsgeldes stellen. Das ist Populismus!
Sie sind die Nachfolgerin der DDR-Partei SED, die
mit dem Weihnachtsfest doch nun wirklich nichts am
Hut hatte: Man durfte nicht „Engel“ sagen; dies war tat-
sächlich eine Jahresendfigur mit Flügeln. Sie müssen
sich vorstellen: Das Wort „Christfest“ war nicht er-
wünscht – es wurde gemobbt –; man musste stattdessen
„Weihnachtsfest“ sagen. Auf den Weihnachtspyramiden
durfte nicht Christi Geburt dargestellt werden; stattdes-
sen wurde der Sandmann dargestellt. Und Sie stellen
hier rein polemische Anträge!
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Kipping?
Selbstverständlich.
Lieber Kollege, Sie haben uns mit Verweis auf unse-
ren Antrag Scheinheiligkeit vorgeworfen.
Scheinheiligkeit gibt es bei Ihnen; das stimmt.
Deshalb möchte ich erstens fragen, ob es nicht schein-
heilig ist, wenn Sie die Weihnachtsbeihilfe, die wir vor-
schlagen, ablehnen und das mit Ausführungen über die
Geschichte von vor mehr als 17 Jahren begründen,
anstatt zu sagen, welche aktuellen Argumente Sie für die
Ablehnung der Weihnachtsbeihilfe haben.
Zweitens möchte ich Sie fragen: Sind Sie bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass sich die Partei Die Linke sehr
wohl kritisch mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt
hat,
dass sich in unseren Reihen viele Menschen verschiede-
ner Konfessionen befinden, dass – auch wenn das viel-
leicht nicht in Ihr oder in das Weltbild der CDU/CSU
passt – auch Menschen, die sich eher dem Atheismus
oder dem Laizismus verpflichtet fühlen, Weihnachten als
eine wichtige Familientradition anerkennen und prakti-
zieren
und dass insofern Menschen, egal ob sie einer Konfes-
sion angehören oder konfessionslos sind, das Recht auf
ein schönes Weihnachtsfest haben?
Sehr verehrte Frau Kipping, ich freue mich über jeden
Menschen, der Weihnachten feiert, wenn er es denn ehr-
lich meint.
Sie sagen, es sei unehrlich, dass wir die Weihnachts-
beihilfe von 40 Euro ablehnen. Dazu sage ich Ihnen: Es
gibt viele Menschen, die von früh bis spät arbeiten und
noch weniger als ein ALG-II-Empfänger haben. Diese
würden diese Weihnachtsbeihilfe nicht erhalten.
Das haut also nicht hin.
Wenn Sie sich mit Ihrer Vergangenheit kritisch aus-
einandersetzen wollen, dann sollten Sie das offen und
13982 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Heinz-Peter Haustein
ehrlich tun und Tabula rasa machen. Ich habe nämlich
den Eindruck, dass das in Ihrer Partei nicht der Fall ist.
Wir geben in unserem Land alles in allem
686 Milliarden Euro für Soziales aus. Das ist eine unvor-
stellbare Summe. Wir geben allein 42 000-mal 1 Million
Euro für das ALG-II – sprich: Hartz IV – aus. Trotzdem
fühlen sich Menschen ungerecht behandelt. Das ist so
nicht in Ordnung.
Darüber, dass das natürlich ausgenutzt wird und dass
wir ihnen damit den Ball zuspielen, sollten wir einmal
genau nachdenken. Wir müssen Hartz IV, so wie es jetzt
vorliegt, so verändern, dass man es schnell abschaffen
könnte. Wir brauchen ein liberales Bürgergeld, das den
Menschen eine Grundsicherung bietet,
und nicht diese Bürokratie und die vielen einzelnen Leis-
tungen bei Hartz IV.
Wir haben nämlich noch ein Problem: Bei den vielen
Anträgen, die die Linken hier einbringen, geht es nicht
nur um eine Kürzung des Regelsatzes um 35 Prozent für
das Krankenhausessen oder um ein Weihnachtsgeld von
40 Euro. Es geht auch darum, dass von der linken Seite
des Hauses – das meine ich ernst – immer wieder ver-
sucht wird, den sozialen Frieden in diesem Land zu tor-
pedieren und zu unterwandern. Liebe Demokraten, das
muss uns Sorge bereiten. Wir müssen uns einmal überle-
gen, was wir hier zu tun haben;
denn es ist nicht gut, dass in diesen Anträgen, die hier
vorgelegt werden, alles so dargestellt wird, als seien wir
den Menschen gegenüber unsozial, unchristlich und un-
fair.
Das ist nämlich nicht so. Bei dem Geld, das wir in die-
sem Land für den sozialen Bereich ausgeben, kann man
von mehr als von sozialer Gerechtigkeit sprechen. Eine
hundertprozentige Gerechtigkeit aber werden Sie auf der
Welt nicht finden.
Weil das Weihnachtsfest vor der Tür steht, schenke
ich Ihnen allen etwas, und zwar eine Minute meiner Re-
dezeit und damit eine Minute Ihrer Lebenszeit. Ich wün-
sche Ihnen ein herzliches Glückauf aus dem Erzgebirge.
Herr Kollege, damit haben Sie sicher vielen eine
Freude bereitet.
Ich erteile nun das Wort der Kollegin Gabriele Hiller-
Ohm für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich hatte eigentlich erwartet, dass die Linksfraktion ih-
ren Antrag zur Einführung der Weihnachtsbeihilfe spä-
testens heute zurückzieht; denn er ist irreführend, unsys-
tematisch und überflüssig.
Die Weihnachtsbeihilfe für Grundsicherungsbezieher ist
keineswegs ersatzlos weggefallen, wie das durch den
Titel des Antrages unterstellt wird. Richtig ist, dass alle
Beihilfen im Zuge der Sozialreformen 2003 bis 2005 in
einen erhöhten pauschalierten Regelsatz eingeflossen
sind.
Probleme gab es allerdings bei Sozialhilfeempfän-
gern, die in Heimen leben. Nicht alle Länder und Kom-
munen hatten die Weihnachtsbeihilfe nach der Reform
an die Betroffenen weitergegeben. Diese Schlechterstel-
lung haben wir im letzten Jahr per Gesetz beseitigt. Seit
2006 erhalten also alle Grundsicherungsbezieher wieder
Weihnachtsbeihilfe.
Übrigens, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Linksfraktion, Sie haben unsere Initiative für die Heim-
bewohner nicht unterstützt.
Weihnachten steht vor der Tür. Da macht es sich gut, et-
was zu fordern, was es schon gibt. So kann man Politik
machen, muss man aber nicht. Wir haben uns unter Rot-
Grün ganz bewusst von den vielen Beihilfen verabschie-
det und mit der Pauschalierung dieser Leistungen einen
längst überfälligen Systemwechsel in der Sozialhilfe
durchgeführt.
Die Linksfraktion will nun zurück zu den alten Prakti-
ken. Oder ist das nur eine Politik der Beliebigkeit?
Betrachtet man den zweiten heute vorliegenden An-
trag der Linksfraktion, so zeigt sich ein deutlicher Wi-
derspruch. Wird die Pauschalierung im Hinblick auf die
Weihnachtsbeihilfe infrage gestellt, so wird sie bei der
Anrechnung von Verpflegungsleistungen vehement ver-
teidigt.
Die Pauschalierung ist sicher kein Allheilmittel. Auch
sie hat Schwächen, weil sie in Einzelfällen zu unflexibel
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13983
(C)
(D)
Gabriele Hiller-Ohm
ist. Sie war damals eine Forderung der Sozialhilfeprakti-
ker, die die Pauschalierung über Jahre in landesspezifi-
schen Modellprojekten erprobt hatten. Es gibt gute
Gründe für die Pauschalierung der Leistung.
Erstens wurde damit die Verwaltung vereinfacht. Vor
der Reform mussten Küchengeräte, Bekleidung oder
Möbel einzeln beantragt werden. Dies war nicht nur äu-
ßerst bürokratisch, sondern bedeutete für viele Men-
schen eine wiederkehrende Demütigung.
Für jede Sonderleistung mussten sie zum Amt und waren
auf das Wohlwollen ihres Sachbearbeiters angewiesen.
Das zweite Ziel der Pauschalierung war deshalb die
Schaffung einer größeren wirtschaftlichen Selbstständig-
keit und Eigenverantwortung.
Die Sicherung des Existenzminimums ist zu wichtig,
um je nach Jahreszeit neue populistische Forderungen
aufzustellen, die wenig durchdacht sind.
Die SPD will substanzielle Verbesserungen für Sozial-
hilfe- und Arbeitslosengeld-II-Bezieher. Wir wollen ein
Gesamtkonzept aus überarbeiteter Regelsatzbemessung,
Sonderbedarfen für Kinder sowie Verbesserungen der
sozialen Infrastruktur.
Ich habe es in meiner Rede zur ersten Lesung des An-
trages der Linksfraktion bereits gesagt, aber ich wieder-
hole es gern: Es muss in erster Linie unser Ziel sein, dass
kein Mensch auf Weihnachtsbeihilfe oder sonstige Zu-
wendungen angewiesen ist.
Wir müssen deshalb neben angemessenen finanziellen
Sozialtransfers vor allem in aktivierende Maßnahmen in-
vestieren. Dazu gehört, Arbeitsplätze zu schaffen. Hier
haben wir sehr viel erreicht. Innerhalb von zwei Jahren
wurde die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland um über
1 Million Menschen gesenkt.
Mindestlöhne einführen! Der beste Schutz gegen Ar-
mut und Sozialleistungsbezug sind vernünftige Löhne.
Für Briefdienstleistungen werden wir morgen einen gu-
ten Mindestlohn auf den Weg bringen. Weitere Branchen
werden folgen.
Beschäftigungsalternativen bieten! Für diejenigen,
die auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Beschäftigung
finden, haben wir Alternativen geschaffen. Der Quali-
Kombi für junge Arbeitsuchende und das Programm
Jobperspektive für Langzeitarbeitslose sind angelaufen.
Soziale Infrastruktur stärken! Wir brauchen insbeson-
dere für unsere Kinder vernünftige Infrastrukturen, die
für angemessene Schulbildung, Verpflegung, Gesundheit
und Schutz sorgen. Mit dem Ausbau der Kinderbetreu-
ung haben wir hier bereits einen großen Schritt getan.
Ich komme zum zweiten Antrag. Mit drastischen
Worten verkündet der Vorsitzende der Linksfraktion
Oskar Lafontaine jüngst in einer Pressemitteilung, die
Regierung kürze Arbeitslosengeld-II-Empfängern bei
Krankenhausaufenthalten den Regelsatz. Dies ist – wie
beim ersten Antrag – wieder eine effektheischende Dra-
matisierung. Das ist ganz klar. Richtig ist, dass das Bun-
desministerium per Verordnung eine Klarstellung des
Sachverhalts vorgenommen hat. Die Verordnung legt un-
ter anderem fest, wie zukünftig mit dem Anteil für Ver-
pflegung im Regelsatz von Arbeitslosengeld-II-Beziehern
im Fall eines Krankenhausaufenthaltes umgegangen wer-
den soll.
An dieser Stelle ist eine Klarstellung dringend nötig.
Bis heute bestimmen nämlich die Sozialgerichte darüber,
ob – und wenn ja, um wie viel – der monatliche Betrag
gekürzt werden darf, wenn die Essensversorgung ander-
weitig gesichert ist. Die Sozialgerichte haben diese
Frage sehr unterschiedlich mit den entsprechenden Fol-
gen für die Betroffenen beurteilt.
Während beispielsweise ein ALG-II-Bezieher in
Schleswig seinen vollen Regelsatz behalten durfte, sah
es das Sozialgericht Karlsruhe als statthaft an, sogar
mehr als den Essensanteil von rund 35 Prozent des Re-
gelsatzes zu kürzen. Um diese Ungleichbehandlung zu
beenden, hat das Bundesministerium für Arbeit und So-
ziales eine Regelung entworfen, die vorsieht, dass der
bei einem Krankenhausaufenthalt gesparte Essensanteil
am Regelsatz – also 35 Prozent – prinzipiell gegenge-
rechnet werden darf. Allerdings – dies unterschlagen die
Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion – wurde
eine Bagatellgrenze von rund 83 Euro eingezogen. Diese
Bagatellgrenze wird die meisten Menschen vor einer
Kürzung ihrer Regelleistung schützen. Selbst nach
20 Tagen stationärer Behandlung würden sie noch ihren
vollen Regelsatz erhalten.
13984 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Gabriele Hiller-Ohm
Die Verwaltungsverordnung wird den derzeitigen sehr
unbefriedigenden Zustand deutlich verbessern und
Rechtssicherheit für die Betroffenen schaffen.
Aber auch wir sehen Probleme.
Erstens. Das Justizministerium hat zwar grünes Licht
für die Verordnung gegeben, der Petitionsausschuss des
Bundestages schätzt die Gesetzeslage jedoch einstimmig
anders ein. Er meint, dass in diesem Punkt eine Verord-
nung nicht ausreicht und wir eine gesetzliche Regelung
brauchen. Dieser Widerspruch muss geklärt werden.
Zweitens frage ich mich, ob die Regelung tatsächlich
Einsparungen erbringt. Man muss hierbei auch anfal-
lende Verwaltungskosten gegenrechnen.
Drittens müssen wir uns die Frage stellen, ob im Falle
eines Krankenhausaufenthaltes für die betroffenen Men-
schen Mehrkosten anfallen. Sie sparen das Geld für Ver-
pflegung, aber möglicherweise müssen entsprechende
Kleidung oder Hygieneartikel besorgt werden, die dann
nicht über den Regelsatz abgedeckt sind.
Eine Anrechnung der Verpflegung könnte somit dem
Pauschalierungsgrundsatz widersprechen, der gerade da-
rin besteht, dass Besonderheiten des Einzelfalles auszu-
blenden sind.
Auch auf unserer Seite gibt es also noch offene Fra-
gen, die geklärt werden müssen. Wir lehnen den Antrag
der Linksfraktion ab, weil wir im Frühjahr die Regel-
sätze generell auf den Prüfstand stellen werden. In die-
sem Zusammenhang werden wir dann auch die Verwal-
tungsverordnung gründlich unter die Lupe nehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie bit-
ten, die Gespräche noch ein paar Minuten einzustellen
und dem letzten Redner in der Debatte Ihre Aufmerk-
samkeit zu schenken.
Es spricht der Kollege Markus Kurth von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
sehr gespannt!)
Danke. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Hiller-Ohm, ich habe Ihr Plädoyer für
die Pauschalierung und die Argumentation, mit der Sie
die Weihnachtsbeihilfe abgelehnt haben, sehr genau ver-
folgt. Wenn Sie aber keine zusätzlichen Leistungen wol-
len, dann können Sie das Prinzip nicht nach Gutdünken
durchbrechen, wo es Ihnen zum Zweck der Kürzung
passt.
Mit dem gleichen Argument könnten wir mit einer
Rechtsverordnung den Obdachlosen den Regelsatz um
den Stromkostenanteil kürzen und das damit begründen,
dass sie schließlich keinen Wasserkocher, keinen Toas-
ter, keine Waschmaschine und dergleichen brauchen.
Ich finde, man muss sich diese Verordnung grundsätz-
lich unter dem Aspekt der Bürokratieproduktion noch
einmal genauer anschauen. Die Zahl der Sozialgerichts-
verfahren 2006 belief sich auf rund 100 000. Im ersten
Halbjahr 2007 gab es eine Steigerung um 38 Prozent.
Alleine in Berlin sind im Monat Oktober 2 000 Klagen
eingegangen. Ein Drittel dieser Klagen war erfolgreich.
Was müsste also eine Bundesregierung sinnvollerweise
in dieser Situation tun, wenn sie eine Rechtsverordnung
zu einem derart beklagten und umstrittenen Gesetz er-
lässt? Ganz einfach: Sie müsste die Rechtsanwendung
vereinfachen und die Vorschriften zur Durchführung
verständlich machen. Mit dieser neuen Arbeitslosen-
geld-II-Verordnung wird jedoch genau das Gegenteil ge-
macht.
Ich möchte das einmal an einem Beispiel, das hier
noch nicht zur Sprache gekommen ist, nämlich am Bei-
spiel der Selbstständigen, anschaulich machen. Selbst-
ständige, die zeitweise auf Arbeitslosengeld-II-Leistun-
gen angewiesen sind, sollen nach dieser Verordnung in
Zukunft nur noch solche Ausgaben geltend machen kön-
nen, die den Lebensumständen eines Arbeitslosengeld-II-
Beziehers angemessen sind. Was soll das heißen? Darf
sich dann ein Existenzgründer noch einen neuen Laptop
leisten, oder tut es auch ein gebrauchter? Oder ist der
geleaste Mittelklassewagen, mit dem ein Versicherungs-
vertreter versucht, sich selbstständig zu machen, noch an-
gemessen, oder sagt man: „Du brauchst nur einen ge-
brauchten Kleinwagen“? Fragen über Fragen!
Meine Damen und Herren von der Koalition, was ist
der Sinn einer Rechtsverordnung? Fragen Sie sich das
einmal ganz grundsätzlich. Eine Rechtsverordnung soll
unbestimmte Rechtsbegriffe im Gesetz konkretisieren.
Sie machen genau das Gegenteil. Sie schaffen unbe-
stimmte Rechtsbegriffe, wo das Gesetz eindeutig ist. Das
ist absurd. Das ist ein Fall für den Normenkontrollrat.
Hat denn der Nationale Normenkontrollrat Ihre Verord-
nung gesehen?
Der Vorstand der Bundesagentur hat gestern im Aus-
schuss auf meine Nachfrage hin deutlich gemacht, dass
die Verwaltungsaufwendungen, die mit dieser Verord-
nung verbunden sind, die Einsparungen des Arbeits-
losengeldes II, die dort eventuell erzielt werden, über-
steigen. Das kann man doch keinem normalen Menschen
außerhalb dieses Hauses mehr vermitteln.
Meine Damen und Herren, abgesehen von der recht-
lich und sozialpolitisch fragwürdigen Anrechnung von
Krankenhausverpflegung als Einkommen – es gibt ja
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13985
(C)
(D)
Markus Kurth
auch anderslautende Gerichtsurteile als die, die eben hier
zitiert wurden – ist das ein Musterbeispiel für Bürokra-
tieproduktion. Ich erinnere daran: Wenn die Gerichte
nicht mehr mit dem Ansturm an Verfahren zurechtkom-
men, dann denken Sie nicht etwa daran, das Recht und
die Anwendung des Rechts zu vereinfachen, sondern Sie
wollen im nächsten Jahr das Sozialgerichtsgesetz än-
dern. Offensichtlich denken Sie daran, das Beschreiten
des Rechtswegs zu erschweren. Es ist die hehre Aufgabe
der Opposition, diesen Mechanismus offenzulegen und
der Öffentlichkeit zuzuführen. Warten Sie nicht, Herr
Schiewerling, bis zum nächsten Jahr, um die Verwal-
tungsaufwände zu analysieren. Das ist bereits jetzt ganz
klar absehbar. Wir werden dem Antrag der Linken zu-
stimmen, uns aber dieser komischen Arbeitslosengeld-II-
Verordnung noch einmal eingehend widmen.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Ab-
stimmungen.
Zunächst stimmen wir unter Tagesordnungs-
punkt 10 a über den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/7467 mit dem Titel „Anrechnung von
Sachleistungen auf die Regelleistung des SGB II bei sta-
tionärem Aufenthalt ausschließen“ ab. Anders als in der
Tagesordnung angekündigt, soll über diesen Antrag
heute abgestimmt werden. Die Fraktion Die Linke ver-
langt namentliche Abstimmung. Ich bitte nun die
Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre Plätze einzu-
nehmen. Sind die Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist
der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung. Ich mache
Sie darauf aufmerksam, dass wir anschließend noch an-
dere Abstimmungen haben.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist offensicht-
lich nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung
und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
Stimmen auszuzählen. Das Ergebnis der namentlichen
Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.
Wir setzen die Abstimmungen fort. Damit ich eine
bessere Übersicht habe, bitte ich Sie, Platz zu nehmen.
Wir kommen zur Abstimmung über Tagesordnungs-
punkt 10 b. Dabei geht es um die Beschlussempfehlung
des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag
der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Einführung einer
Weihnachtsbeihilfe für Grundsicherungsbezieherinnen
und Grundsicherungsbezieher“. Der Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7511,
den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7041
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Ergänzung des Rechts zur Anfechtung der
Vaterschaft
– Drucksache 16/3291 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses
– Drucksache 16/7506 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb
Klaus Uwe Benneter
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Jörn Wunderlich
Jerzy Montag
Die Kolleginnen und Kollegen Ute Granold, Klaus
Uwe Benneter, Mechthild Dyckmans, Jörn Wunderlich
und Irmingard Schewe-Gerigk sowie der Parlamenta-
rische Staatssekretär Alfred Hartenbach haben ihre Re-
den zu Protokoll gegeben.1)
Wir stimmen über den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des
Rechts zur Anfechtung der Vaterschaft ab. Der Rechts-
ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/7506, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 16/3291 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist der
Gesetzentwurf mit dem gleichen Stimmenverhältnis an-
genommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke
Stokar von Neuforn, Volker Beck , Kai
Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für ein schärferes Waffengesetz
– Drucksache 16/6961 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
1) Anlage 6
13986 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
soll. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden
wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
das Wort die Kollegin Silke Stokar von Neuforn für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen hat ei-
nen Antrag auf Verschärfung des Waffengesetzes einge-
bracht, weil uns der Entwurf der Bundesregierung, des
ansonsten eher als Hardliner auftretenden Bundesinnen-
ministers, nicht weit genug geht.
Vielleicht haben einige von Ihnen die Nachrichten
von heute und der letzten Tage verfolgt: Die Stadt Ham-
burg hat die Reeperbahn, also die Hamburger Rotlicht-
meile, mit großen Schildern umstellt. Sie hat die Reeper-
bahn zu einem gefährlichen Ort erklärt. Auf diesen
großen Schildern steht, dass an diesem Ort das Tragen
von gefährlichen Messern verboten ist.
Als diese Öffnungsklausel beschlossen worden ist,
habe ich bereits sehr deutlich gemacht: Uns geht dieser
Ansatz nicht weit genug. Was wollen Sie eigentlich den
Eltern von Jugendlichen sagen, die, vielleicht fünf
Wohnblocks von der Reeperbahn entfernt, vor einer Dis-
kothek niedergestochen werden? Ganz gleich, in welche
Großstadt man schaut: Die Meldungen der letzten Mo-
nate über schwere Körperverletzungen durch gefährliche
Messer, oft mit Todesfolge, dürfen uns nicht handlungs-
unfähig machen. Ich finde, die Initiative des Berliner Se-
nators Körting ist genau der richtige Ansatz: Das Verbot
dieser gefährlichen Messer muss ins Waffengesetz – hier
hat der Bund die Zuständigkeit – aufgenommen werden.
Ich kann die Haltung des Bundesinnenministers über-
haupt nicht nachvollziehen. Sonst fabuliert er gern über
innere Sicherheit und darüber, dass der Rechtsstaat keine
hinreichenden Instrumente hat, um mit den Sicherheits-
risiken fertig zu werden. Aber an den ganz praktischen
Punkten, wo er handeln könnte – dort geht es ganz kon-
kret um die Sicherheit in unseren Stadtteilen und um das
Leben von jungen Menschen –, handelt er nicht; dort, in
seinem Zuständigkeitsbereich, verweigert er, die gesetz-
lichen Grundlagen zu schaffen, die die Polizei braucht,
um diese gefährlichen Messer tatsächlich einziehen zu
können.
Das Waffengesetz – wir werden im Innenausschuss
eine umfangreiche Debatte darüber führen – hat weitere
sehr komplizierte Bereiche. Ich möchte nur zwei anspre-
chen.
Für Sie vielleicht überraschend verweise ich auf die
schon oft erhobene Forderung nach einem nationalen
Waffenregister. Ich sage ganz klar und deutlich: Waffen
haben kein Recht auf informationelle Selbstbestimmung.
Einerseits werden in einer unendlichen Datensammelwut
alle möglichen Daten von Bürgerinnen und Bürgern er-
fasst; andererseits weigert sich der Bundesinnenminister
– dazu besteht überhaupt kein Grund –, zu erfassen, wel-
che Waffen es in Deutschland gibt. Hier brauchen wir
Europa, um zu einer Erfassung von gefährlichen Waffen
zu kommen. Auch hier verstehe ich die Verweigerung
des Handelns nicht. Wir sind – das sage ich klar und
deutlich – für ein nationales Waffenregister.
Der zweite Punkt, den ich hier ansprechen möchte
und der schon oft vorgetragen wurde, zum Beispiel von
der Gewerkschaft der Polizei – auch dort handeln Sie nur
halbherzig –, betrifft die sogenannten Anscheinswaffen.
Es ist doch nicht zu verkennen, dass wir eine Lücke im
Waffengesetz haben. Zunehmend werden Überfälle mit
Waffen begangen, die täuschend echt aussehen, also wie
richtige, schussbereite Waffen. Immer wieder passiert es,
dass Polizisten, die meinen, sie seien in einer Notwehrsi-
tuation, selbst die Waffe ziehen, weil ihr Gegenüber mit
einer sogenannten Anscheinswaffe bewaffnet ist.
Es gab heute im Düsseldorfer Landtag in NRW genau
zu diesem Punkt eine Debatte. Dort hat die SPD-Vertre-
terin aus der Opposition heraus klar gefordert, dass An-
scheinswaffen in dieser Form nicht mehr auf den Markt
kommen dürfen und dass sie farblich gekennzeichnet
sein müssen. Wir sind für diese Kennzeichnung, wir sind
zum Teil aber auch für ein Verbot der Herstellung dieser
Anscheinswaffen. Was Sie im Düsseldorfer Landtag in
der Opposition fordern, sollten Sie hier im Bundestag
mittragen.
Außer einem verschärften Waffengesetz brauchen wir
so etwas wie eine Kampagne oder Initiative mit dem
Motto: Wir wollen im öffentlichen Raum Waffenfreiheit.
Wir wollen nicht, dass eine Alltagskultur entsteht, in der
junge Männer meinen, es gehöre sozusagen zur Alltags-
kultur dieses Landes, dass man mit einem Messer in der
Tasche herumläuft und die eigene Ehre oder den eigenen
Stolz eventuell verteidigt, indem man dieses Messer aus
nichtigem Anlass zieht.
Wir brauchen an dieser Stelle gemeinsam mit den Städ-
ten, gemeinsam mit den Kommunen, gemeinsam mit den
Schulen und Jugendeinrichtungen ein Konzept, das deut-
lich macht, dass es eben nicht Normalität ist, mit einem
Butterflymesser durch die Straßen zu laufen. Das Kon-
zept brauchen wir neben den polizeilichen Konzepten.
Aber damit solche Konzepte überhaupt greifen kön-
nen, bedarf es eines Verbots dieser gefährlichen Gegen-
stände im Waffengesetz; sonst wird es nicht möglich
sein, den Jugendlichen solche Messer auch präventiv
wegzunehmen, sie ihnen also wegzunehmen, bevor da-
mit Körperverletzungen passieren.
Meine Damen und Herren, ich wünsche mir eine
spannende Debatte im Innenausschuss. Wir werden eine
Anhörung zu diesen Themen beantragen. Es wäre schön,
wenn Sie an diesem Punkt, an dem Sie handeln können,
Gesetze tatsächlich einmal so scharf fassen, dass sie prä-
ventiv wirken.
Danke schön.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13987
(C)
(D)
Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Grindel für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dem Ausgangspunkt Ihres Antrags, Frau Stokar, ist
durchaus zuzustimmen.
Auch ich sage: Der Bundestag ist über die Zunahme von
Gewaltdelikten in unserer Gesellschaft besorgt.
Richtig ist ebenfalls, dass bei Straftaten immer schneller
zu Waffen gegriffen wird. Verbrechen in Deutschland
werden brutaler. Alles das weisen die Kriminalitätssta-
tistiken aus.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich fürchte,
wir springen bei weitem zu kurz, wenn wir glauben, die-
ses Problem allein mit einem schärferen Waffengesetz
lösen zu können.
Die Koalition – Sie haben es angesprochen – berät ge-
rade in diesen Wochen eine Verbesserung des Waffen-
rechts. Aber ich will deutlich machen, dass zunehmender
Brutalität gerade auch bei jüngeren Straftätern mit einer
Vielzahl von Maßnahmen begegnet werden muss, auch
solchen, die die Grünen in der Vergangenheit immer ab-
gelehnt haben. Nehmen wir als Beispiel nur das Jugend-
strafrecht. Es widerspricht dem Erziehungsgedanken
meines Erachtens überhaupt nicht, wenn wir schon bei
der ersten Straftat mit einer deutlichen Sanktion des
Staates reagieren. Wer als Jugendlicher mit Waffen han-
tiert, gewalttätig wird und andere verletzt, muss eben mit
einer Kurzzeitarreststrafe belegt werden.
Die Strafe muss tatangemessen sein. Eine klare Reaktion
des Staates, sozusagen ein Schuss vor den Bug, kann
dem Erziehungsgedanken des Jugendstrafrechts durch-
aus entsprechen.
Frau Stokar, reden wir nicht drum herum – es ist
wahr –: Leider ist auch bei Verdächtigen mit Migrations-
hintergrund eine massive Brutalisierung bei der Bege-
hung von Straftaten festzustellen. Es gehört deshalb
auch zur Generalprävention, den Ausländern bei uns
klarzumachen, dass es zum Ende des Aufenthalts führt
und sie abgeschoben werden, wenn sie mit Waffen Straf-
taten begehen.
Die Große Koalition hat auch für diese Fälle – für ein
härteres Vorgehen gegen jugendliche Intensivtäter – die
Weichen gestellt.
Auch das ist eine Notwendigkeit, um brutaleren Verbre-
chen in Deutschland entgegenzutreten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Stokar, beim
Kampf gegen Waffen auf unseren Straßen und Plätzen
müssen wir für praktikable Maßnahmen sorgen. Sie ha-
ben die Gesetzesinitiative des Landes Berlin angespro-
chen; sie wird auch im Antrag der Grünen erwähnt. Da-
rin wird ein Verbot des Führens von Messern gefordert.
Dabei haben eine Reihe von Ländern und das BKA er-
hebliche Bedenken, weil sie davon ausgehen, dass es zu
Abgrenzungsproblemen kommt: Was ist mit Messern
von Weinrebenschneidern, Gärtnern, Jagdgehilfen und
Tauchern, was ist mit Küchenmessern usw.?
Etwas Entscheidendes haben Sie nicht erwähnt – das
muss man deutlich sagen –: Viele Messer, Hieb- und
Stichwaffen, Butterfly- und Springmesser, auch die von
Ihnen angesprochenen szenetypischen Waffen, die vor
Diskotheken verwendet wurden, sind bereits heute ver-
boten. Hier gibt es keine Defizite.
Deshalb sind die Maßnahmen, die Sie vom Bundesin-
nenminister einfordern, unnötig.
Dagegen ist es in der Tat entscheidend – Sie haben es
angesprochen –, dass wir hier im Bundestag vor kurzem
mit einer vorgezogenen Änderung des Waffengesetzes
den Ländern die Möglichkeit eröffnet haben, bestimmte
Orte zur waffenfreien Zone zu erklären. In der Tat hat
Hamburg im Bereich der Reeperbahn davon Gebrauch
gemacht. Da frage ich mich natürlich: Warum macht das
Berlin nicht auch?
Berlin fordert Scheinlösungen. Da, wo Berlin etwas ma-
chen könnte, handelt es nicht. Das ist widersprüchlich
und keine gute Sicherheitspolitik.
13988 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Reinhard Grindel
Ich möchte deutlich machen: Das Waffenrecht kann
als flankierende Maßnahme die Eindämmung von Ge-
waltdelikten unterstützen, aber nicht die in Ihrem Antrag
angesprochenen Vollzugsdefizite beseitigen. Zudem hat
das Waffenrecht nicht die Aufgabe, das Gewaltmonopol
des Staates zu sichern.
Beim Waffenrecht geht es um einen verhältnismäßigen
Ausgleich zwischen den anerkannten Interessen derer,
die Waffen legal besitzen, einerseits – Jäger, Schützen
und Sammler historischer Waffen – und dem Interesse am
Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung anderer-
seits. Deshalb gelten schon heute sehr strenge Regelun-
gen für den Erwerb und den Besitz von Waffen, die mit
dem neuen Waffenrecht – Kollegin Fograscher, da sind
wir uns einig – nicht geändert werden sollen.
Beispielsweise haben wir schon in der Vergangenheit
richtige Entscheidungen getroffen, indem wir das öffent-
liche Führen von Gas-, Schreckschuss- und Signalwaffen
waffenscheinpflichtig gemacht haben. Das hat zu einer
Reduzierung der Verkaufszahlen um rund 90 Prozent ge-
führt. Damit hat es sich unter Sicherheitsgesichtspunkten
bewährt. Insofern hat das Waffenrecht einen Beitrag zur
Bekämpfung der Gewaltkriminalität geleistet.
Lassen Sie mich mit Blick auf die Diskussion im
Sommer eine Anmerkung zur Frage einer Altersgrenze
für den Waffenerwerb machen – Sie sprechen das in Ih-
rem Antrag an –: Sie wissen ganz genau, dass der Bun-
desinnenminister entschieden hat, dass wir, die Koali-
tion, die Altersgrenzen für den Erwerb von Waffen nicht
ändern. Das ist klar. Gleichwohl möchte ich, auch mit
Blick auf die Debatte, die dazu geführt worden ist, fest-
halten: Ich finde es ungerecht und in der Sache nicht ge-
rechtfertigt, Schützen und Schützenvereine unter eine
Art Generalverdacht zu stellen. Um das klar zu sagen:
Das ist nicht in Ordnung.
Ihre Forderung verträgt sich nicht mit den wohlfeilen
Reden, die auch viele Ihrer Kollegen halten, wenn sie zu
den Schützenvereinen und zu den Kreisschützenver-
bandstagen gehen und dort zu Recht auf die Bedeutung
der Schützenvereine für das kulturelle Leben im Dorf
und für die Jugendarbeit hinweisen. Ich erlebe die Schüt-
zenvereine in meinem Wahlkreis – ich möchte das vor
dem Forum des Deutschen Bundestages einmal sagen –
als besonnene, umsichtige und die Sicherheit wahrende
Institutionen. Sie sorgen insbesondere dafür, dass gerade
Jugendliche beim Umgang mit der Waffe Vorsicht, Kon-
zentration und Respekt lernen und dann auch walten las-
sen. Das ist wesentlich besser, als irgendwo mit Softair-
waffen herumzuballern.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit auch darauf hin-
weisen, dass 97 Prozent aller Straftaten, bei denen Waf-
fen eine Rolle spielen, mit illegalen Waffen verübt wer-
den. Insofern hat das Waffenrecht an dieser Stelle nur
eine begrenzte Wirkungsmöglichkeit.
Richtig ist, Frau Stokar – da stimme ich Ihnen zu –,
wenn in dem Antrag die Problematik der Anscheinswaf-
fen angesprochen wird: Von diesen Anscheinswaffen
geht ein Drohpotenzial aus, weil sie zu kriminellen Zwe-
cken eingesetzt werden können. Hinzu kommt, dass die
Polizeibeamten die täuschend echt wirkenden Nachbil-
dungen im Einsatz mit echten Schusswaffen verwech-
seln und dann in einer vermeintlichen Notwehrsituation
von der Dienstwaffe Gebrauch machen könnten – mit
verheerenden Folgen.
Deswegen sage ich Ihnen: Die Koalition wird mit der
Änderung des Waffenrechts alles rechtsstaatlich Vertret-
bare beschließen, damit künftig keinerlei Gefahr von An-
scheins- und Softairwaffen ausgeht. Diese Waffen sind
kein Spielzeug; sie sind gefährlich. Wir wollen, dass sie
möglichst aus dem öffentlichen Straßenbild verschwin-
den.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, weitere Details Ih-
res Antrags werden wir in der Tat – Sie haben das ange-
sprochen – im Rahmen der Waffenrechtsänderung be-
handeln. Nehmen Sie als Beispiel die Regelungen für
Erbwaffen. Was Sie hierfür vorschlagen, ist schlicht ver-
fassungswidrig und bringt auch keine Sicherheit.
Wir werden dafür sorgen, dass diese Waffen mit Blo-
ckiersystemen versehen werden. Das ist die gebotene
Lösung, wie man dem Problem begegnen kann.
Ein letzter Gedanke zur auch von Ihnen angesproche-
nen waffenrechtlichen Einstufung von Metallrohren,
Baseballschlägern und Motorradketten: Das Problem der
missbräuchlichen Verwendung von Alltagsgegenständen
löst man nicht mit dem Waffenrecht. Entscheidend ist et-
was völlig anderes. Hinter jeder Waffe steckt ein Mensch,
der sie einsetzt. Das ist das entscheidende Problem. Da
müssen wir ansetzen. Mit Erziehung, mit Bildung, mit
Förderung einer Kultur des Hinsehens und – ja, auch das
fordere ich – einem starken Staat, der entschlossen han-
delt. Darauf kommt es an.
Herzlichen Dank.
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
komme ich zurück zum Tagesordnungspunkt 10 a und
gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schrift-
führern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-
mung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/7467 mit dem Titel „Anrechnung von
Sachleistungen auf die Regelleistung des SGB II bei sta-
tionärem Aufenthalt ausschließen“ bekannt: Es wurden
532 Stimmen abgegeben. Mit Ja haben gestimmt 96, mit
Nein haben gestimmt 436. Damit ist der Antrag abge-
lehnt.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13989
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 531;
davon
ja: 96
nein: 435
enthalten: 0
Ja
SPD
Wolfgang Spanier
DIE LINKE
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Lutz Heilmann
Hans-Kurt Hill
Cornelia Hirsch
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Dr. Hakki Keskin
Katja Kipping
Jan Korte
Katrin Kunert
Oskar Lafontaine
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Dr. Norman Paech
Petra Pau
Bodo Ramelow
Elke Reinke
Paul Schäfer
Volker Schneider
Dr. Herbert Schui
Dr. Ilja Seifert
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck
Volker Beck
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Grietje Bettin
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Anja Hajduk
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Priska Hinz
Dr. Anton Hofreiter
Thilo Hoppe
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth
Monika Lazar
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller
Winfried Nachtwei
Omid Nouripour
Brigitte Pothmer
Claudia Roth
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Irmingard Schewe-Gerigk
Dr. Gerhard Schick
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Fraktionslose Abgeordnete
Henry Nitzsche
Gert Winkelmeier
Nein
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
Wolfgang Bosbach
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Monika Brüning
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Hubert Deittert
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Ralf Göbel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Olav Gutting
Gerda Hasselfeldt
Uda Carmen Freia Heller
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Eckart von Klaeden
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Kristina Köhler
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Johann-Henrich
Krummacher
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Laurenz Meyer
Maria Michalk
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Carsten Müller
Stefan Müller
Bernward Müller
Bernd Neumann
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Ruprecht Polenz
Daniela Raab
Thomas Rachel
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche
13990 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Dr. Heinz Riesenhuber
Franz Romer
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Albert Rupprecht
Peter Rzepka
Anita Schäfer
Hermann-Josef Scharf
Hartmut Schauerte
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt
Andreas Schmidt
Ingo Schmitt
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Marion Seib
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Thomas Strobl
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß
Gerald Weiß
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Willy Wimmer
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Dr. Lale Akgün
Gregor Amann
Gerd Andres
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Ute Berg
Lothar Binding
Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Michael Bürsch
Christian Carstensen
Dr. Peter Danckert
Karl Diller
Martin Dörmann
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Annette Faße
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Martin Gerster
Renate Gradistanac
Angelika Graf
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Alfred Hartenbach
Michael Hartmann
Dr. Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Heß
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Petra Hinz
Gerd Höfer
Iris Hoffmann
Frank Hofmann
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Johannes Jung
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Dr. Bärbel Kofler
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Angelika Krüger-Leißner
Jürgen Kucharczyk
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange
Waltraud Lehn
Helga Lopez
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Markus Meckel
Petra Merkel
Dr. Matthias Miersch
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller
Michael Müller
Gesine Multhaupt
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Christoph Pries
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Maik Reichel
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel Riemann-
Hanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth
Ortwin Runde
Marlene Rupprecht
Axel Schäfer
Marianne Schieder
Otto Schily
Dr. Frank Schmidt
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Heinz Schmitt
Carsten Schneider
Ottmar Schreiner
Reinhard Schultz
Swen Schulz
Ewald Schurer
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Dieter Steinecke
Andreas Steppuhn
Ludwig Stiegler
Rolf Stöckel
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Dr. Wolfgang Wodarg
Waltraud Wolff
Heidi Wright
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Dr. Karl Addicks
Daniel Bahr
Uwe Barth
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich
Dr. Edmund Peter Geisen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13991
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
rüber zu reden, wie die Sich
Bürger tatsächlich verbesser
minalität muss wirksam bege
Auf eine Kleine Anfrage d
hat die Bundesregierung mitg
zent aller im Zusammenhan
stellten Schusswaffen aus leg
führt die Aussage der Grünen
erheit der Bürgerinnen und
t werden kann. Gewaltkri-
gnet werden.
er FDP-Bundestagsfraktion
eteilt, dass nur 2 bis 3 Pro-
g mit Straftaten sicherge-
alem Besitz stammen. Das
ad absurdum, dass die Ver-
t wirklich bedauerlich, dass
ten mit diesen Waffen ver-
wirklich nicht, dass Sie die-
ärfung des Waffenrechts lö-
traftaten – auch das besagt
üchenmessern – zum Teil
n.
Um es klar zu sagen: Die FDP ist bereit, ernsthaft da-
das Waffengesetz.
Miriam Gruß
Joachim Günther
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Dr. Werner Hoyer
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
Nun fahren wir in der Debatte fort. Ich erteile das
Wort dem Kollegen Hartfrid Wolff von der FDP-Frak-
tion.
Hartfrid Wolff (FDP):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Stokar hat einige bedauerliche Fälle genannt. Ich stimme
aber Herrn Grindel ausdrücklich zu: Das Waffenrecht ist
nicht das Instrument, um diesen zu begegnen.
Das geltende deutsche Waffenrecht zählt zu den
strengsten der Welt. Wenn die Frage gestellt wird, ob das
bisherige Waffengesetz überhaupt geändert werden muss,
dann lautet nach Meinung der FDP die Antwort primär
folgendermaßen: Ein triftiger Grund hierfür wäre, dass
das geltende Waffenrecht vereinfacht und verständlicher
wird.
An der Notwendigkeit, diese Forderung zu erheben, hat
sich leider auch nach der letzten Waffenrechtsreform
durch die rot-grüne Koalition nichts geändert. Im Ge-
genteil: Von Vereinfachung, Rücknahme der Regelungs-
dichte, Übersichtlichkeit und Lesbarkeit kann man im
Hinblick darauf wirklich nicht sprechen.
Darüber hinaus war der ursprüngliche Inhalt des Ge-
setzentwurfs eindeutig gegen die berechtigten Interessen
von Personen, die Waffen legal besitzen, insbesondere
von Jägern, Sportschützen und Sammlern antiquarischer
Waffen, gerichtet.
Leider knüpfen die Grünen mit ihrem vorliegenden An-
trag in mancher Hinsicht an diese unerfreuliche Tradi-
tion an.
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg Rohde
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Marina Schuster
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Florian Toncar
Christoph Waitz
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff
Martin Zeil
schärfung des Waffenrechts erheblich zu einer Stärkung
der öffentlichen Sicherheit beitragen könne. Wenn 97
oder 98 Prozent der Straftaten mit Schusswaffen bereits
am Waffengesetz vorbei begangen werden, ist das He-
rumdoktern am Waffengesetz nichts anderes als Aktio-
nismus, also eine reine Alibihandlung.
Um die Sicherheit kann es den Grünen nachvollziehba-
rerweise also nicht gehen.
Problemlösungen im Bereich der Kriminalität müssen
nicht primär das Waffenrecht, sondern den Zusammen-
hang zwischen Straftat und Strafe und das vernachläs-
sigte Feld von Kriminalprävention in den Blick nehmen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Stokar von Neuforn?
Hartfrid Wolff (FDP):
Bitte schön.
Danke. – Herr Kollege Wolff, ist Ihnen bekannt – ich
will nur eine Zahl nennen –, dass in den letzten Jahren
allein in Berlin 800 Körperverletzungen, zum Teil mit
Todesfolge, mit Messern verübt wurden
und dass in den Großstädten die Anzahl der Straftaten, die
mit Messern begangen wurden – das ist der Hauptansatz-
punkt unseres Antrages im Bereich des Waffenrechts –,
um 25 Prozent zugenommen hat? Insbesondere die Stadt-
staaten Berlin, Bremen und Hamburg sehen erheblichen
Handlungsbedarf des Bundesgesetzgebers mit Blick auf
13992 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
Hartfrid Wolff
Das Problem ist aber – da muss ich dem Kollegen
Grindel recht geben –, dass Sie Messer nicht generell
verbieten können. Denn was sollen dann Metzger und
diejenigen, die Holzschnitzereien als Hobby betreiben,
machen?
Die gefährlichen Messer – da hat der Kollege Grindel
recht – sind bereits verboten und bleiben verboten. Aber
beispielsweise Küchenmesser und ähnliche Messer fal-
len aus meiner Sicht zu Recht nicht unter dieses Verbot.
Man kann an dieser Stelle nicht nach Gegenständen dif-
ferenzieren. Sie müssen sich um die Täter kümmern. Das
ist der richtige Ansatz.
Was Sie in Ihrem Antrag darstellen, ist meines Erach-
tens ein Sammelsurium von bürokratieverliebten Forde-
rungen. Das haben Sie auch gerade wieder gezeigt. Die
geforderte Verlängerung von Aufbewahrungsfristen für
Waffenbücher – damit komme ich zu der Bürokratie, die
Sie vorschlagen – oder eine weitgehende Buchführungs-
und Kennzeichnungspflicht ist eine Arbeitsbeschaf-
fungsmaßnahme für Bürokraten. Ein Sicherheitsgewinn
ist dadurch tatsächlich nicht zu erwarten.
Forderungen wie „Konzepte zu entwickeln“, wie
Waffenverbote durchgesetzt werden können, sind aus
meiner Sicht wohlfeil. Einen konkreten Vorschlag unter-
breiten Sie nicht. Die Forderung der Grünen nach einer
wirksamen Verbotsregelung, die „verbesserte Eingriffs-
möglichkeiten gegen öffentlich getragene Baseballschlä-
ger, … Motorradketten und andere gefährliche Gegen-
stände“ schafft, wirft schon Fragen auf: Soll eine
legitime Tätigkeit wie etwa das Baseballspielen und das
Motorradfahren verboten oder mit einem unerträglichen
Bürokratiewust überzogen werden, um Straftäter von der
missbräuchlichen Verwendung beispielsweise von Mo-
torradketten abzuhalten? Ist damit zu rechnen, dass diese
sich an das Verbot halten? Ein großer Teil der Gewalt-
straftaten werden zu Hause – zum Beispiel, wie ich
schon sagte, mit Küchenmessern – begangen.
Zurück zum Thema Motorradketten. Ich stelle mir
Herrn Struck vor, wie er abends von einer Motorradtour
heimkommt.
Er nimmt dann die Motorradkette herunter, schließt sie
über Nacht im Panzerschrank des Schützenvereins ein.
Nachträglich kennzeichnet er jedes Kettenglied. Über
den Ersatz eines jeden Kettengliedes führt er genau
Buch. Das schlagen Sie vor. Ich glaube, das ist wirklich
zu viel.
Es muss doch klar sein, dass es nicht darum gehen
kann, Alltagsgegenstände allesamt zu verbieten, nur weil
sie, falsch eingesetzt, gefährlich missbraucht werden
können. Dieser falsche Einsatz ist bereits strafbar.
Schauen Sie mal in § 224 StGB nach.
Den Grünen geht es, wenn sie Begriffe wie „verfehlte
männliche Machokultur“ nutzen oder von der „Entwaff-
nung gerade von jungen Männern“ sprechen, schlicht
um Klientelpflege.
Einen grünen Pranger für legale Waffenbesitzer, für Jä-
ger, Sportschützen und Sammler, lehnt die FDP eindeu-
tig ab.
Die FDP erwartet von der Bundesregierung umge-
hend ein plausibles Konzept, wie sie den unübersichtli-
chen Wust des deutschen Waffenrechts klären will.
Die Antwort auf zunehmende Gewaltkriminalität, die
der Rechtsstaat geben muss, muss weit über eine waffen-
rechtliche Problemstellung hinausgehen.
In diesem Sinne wird die FDP die weiteren Beratun-
gen der bevorstehenden Gesetzgebungsvorhaben der
Bundesregierung zum Waffenrecht genau beobachten
und kritisch begleiten.
Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele
Fograscher für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen
brauchen keine Aufforderung der Grünen, um Verschär-
fungen oder Verbesserungen des bestehenden Waffen-
rechts durchzusetzen.
Ich finde, wir sollten zu dem stehen, was wir in der
letzten Legislaturperiode gemacht haben. Das Waffen-
recht ist damals neu geregelt worden. Die Systematik
und die Struktur sind verbessert worden, und das Gesetz
ist im Interesse einer besseren Vollziehbarkeit in einigen
Teilen verschärft worden. Das hat zur Stärkung der inne-
ren Sicherheit geführt.
Tragisch war allerdings, dass der Amoklauf an der Erfur-
ter Schule an dem Tag stattfand, an dem wir im Bundes-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13993
(C)
(D)
Gabriele Fograscher
tag dieses Gesetz beraten haben. Über den Bundesrat
sind dann nochmals Verschärfungen des Gesetzes vorge-
nommen worden.
Solch brutale Amokläufe und andere Gewalttaten – da
stimme ich Ihnen zu – sind immer wieder Anlass, um
Verschärfungen des Waffenrechts zu fordern. Ich stimme
den Antragstellern dahin gehend zu – das gilt im Übri-
gen für alle hier –, dass alles getan werden muss, um die
Zunahme von Gewaltdelikten wie „Messerattacken mit
tödlichem Ausgang oder schwere Körperverletzungen“
einzudämmen. Dazu bedarf es vielfältiger Anstrengun-
gen in den Kommunen, in den Ländern, beim Bund, aber
auch in der Zivilgesellschaft. Die Forderung nach einer
Verschärfung des Waffengesetzes kann das Problem al-
lein nicht lösen.
Verbote bzw. schärfere Gesetze müssen auch vollzogen,
durchgesetzt und kontrolliert werden. Daran fehlt es oft.
In Ihrem Antrag fordern Sie – das ist schon angespro-
chen worden –, das Tragen von Waffen, Messern, Base-
ballschlägern, Metallrohren, Motorradketten und ande-
ren gefährlichen Gegenständen in der Öffentlichkeit
grundsätzlich zu verbieten. Dieser Aufzählung müsste
man zahllose Gegenstände des Alltags, die als Waffe be-
nutzt werden können, hinzufügen.
Die Polizei kann bereits heute zur Gefahrenabwehr
einschreiten. Für Demonstrationen, Sportstadien, Schu-
len und Orte mit besonderem Gefahrenpotenzial können
Verbote erlassen werden. Das geschieht ja auch. In die-
sem Jahr haben wir eine Regelung verabschiedet, die das
Tragen von Waffen an Brennpunkten gewaltbereiter Sze-
nen verbietet. Hamburg hat in dieser Woche als erstes
Bundesland von dieser Regelung Gebrauch gemacht. Ich
finde, man muss jetzt erst einmal abwarten, welche Er-
fahrungen mit dieser Regelung gemacht werden. Auf-
grund dieser Erfahrungen kann man dann weiter ge-
hende Regelungen beschließen.
Das gilt im Übrigen auch für Ihre Forderung nach
Einführung eines Waffenscheins für Gas- und Schreck-
schusswaffen. Auch dieses Thema ist schon genannt
worden. Die Regelung, die wir mit dem Waffengesetz
2003 beschlossen haben, der sogenannte kleine Waffen-
schein, hat dazu geführt, dass der Verkauf dieser Waffen
um 90 Prozent zurückgegangen ist. Ich finde, auch diese
Regelung hat sich bewährt.
Regelungsbedarf sehen wir bei den Anscheinswaffen
und dem sogenannten Erbenprivileg. Bei den Anscheins-
waffen weist das geltende Recht eine Lücke auf, die aus
Gründen der inneren Sicherheit beseitigt werden muss.
Das Führen von Anscheinswaffen soll grundsätzlich ver-
boten werden; denn von diesen Waffen geht ein erhebli-
ches Drohpotenzial aus, das zu kriminellen Zwecken be-
nutzt werden kann. Die Polizei kann diese täuschend
echt wirkenden Nachbildungen im Einsatz nicht von
echten Schusswaffen unterscheiden, was in Notwehrsitua-
tionen verheerende Folgen haben kann. Diese Gefahr
geht auch von Anscheinswaffen aus, die zum Beispiel in
einem Holster getragen werden. Deshalb werden wir
auch das verdeckte Führen dieser Waffen verbieten.
Notwendig ist auch eine Neufassung des sogenannten
Erbenprivilegs. Kann der Erbe einer Schusswaffe ein
Bedürfnis nachweisen, ist er zuverlässig und persönlich
geeignet, so wird diese Waffe entsprechend jeder käuf-
lich erworbenen Waffe behandelt. Kann der Erbe dieses
Bedürfnis nicht nachweisen, muss er dafür sorgen, dass
die Waffe schussunfähig gemacht wird. Dazu wird die
Waffe künftig nicht mehr unumkehrbar zerstört werden
müssen, sondern sie wird mithilfe eines Blockiersys-
tems, das inzwischen von der Industrie entwickelt wor-
den ist, schussunfähig gemacht. Damit wird die Waffe
nicht mehr zerstört, sondern ihr Wert bleibt erhalten.
Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung wird,
wie von Ihnen gefordert, auch das Schusswaffenproto-
koll der Vereinten Nationen umgesetzt; dabei geht es
zum Beispiel um die Markierung und Nachverfolgung
von Schusswaffen. Weitere Forderungen Ihres Antrags
werden bzw. sind schon umgesetzt. So sind bestimmte
Messertypen – auch dies wurde hier schon angesprochen –
und – im Antrag der Grünen fehlt das; wir werden das
regeln – sogenannte Taser, also Distanzelektroimpulsge-
räte, verboten worden.
Ich bin sehr für ein strenges und restriktives Waffen-
gesetz und befürworte die Ächtungskampagne, die im
Übrigen schon seit März 2005 läuft. Ich bin aber gegen
immer neue Auflagen für den legalen Waffenbesitz. Die
große Mehrheit der Personen, die Waffen besitzt, geht
mit ihnen verantwortungsvoll und zuverlässig um. Das
Problem sind in den meisten Fällen von Kriminalität
nicht die Waffen, die legal erworben wurden und für den
Jagd- und Schießsport benutzt werden. Sorgen machen
uns die illegal erworbenen Waffen – hier ist die Dunkel-
ziffer extrem hoch –, die sich in den Händen von Krimi-
nellen befinden. Diese Waffen werden wir auch durch
noch so strenge Regelungen im Waffenrecht nicht erfas-
sen können.
In allen Diskussionen über Waffenverbote und über
mehr Sicherheit für die Bevölkerung sollten wir darauf
achten, dass der legale Waffenbesitz nicht kriminalisiert
wird. Wir sollten uns nicht immer neue Vorschriften aus-
denken, die in der Realität nicht umsetzbar und nicht
kontrollierbar sind. Solche überzogenen, unrealistischen
Forderungen finden sich im Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen.
Ein solcher Vorschlag ist, Waffen zentral in Schützen-
heimen aufzubewahren. Dieser Vorschlag ist einfach un-
tauglich. Die Aufbewahrung von Schusswaffen in den
Waffenschränken der Besitzer ist sicherer als die Aufbe-
wahrung im massenhaft bestückten Waffendepot eines
Schützenvereins in einem Dorf.
13994 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Gabriele Fograscher
Wir lehnen Ihren Antrag ab, laden Sie aber ein, sich
an den anstehenden Beratungen konstruktiv und pragma-
tisch zu beteiligen.
Danke schön.
Die Kollegin Petra Pau hat ihre Rede zu Protokoll ge-
geben. Damit kann ich die Aussprache schließen.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/6961 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 15:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Regelung des Statusrechts der Beamtinnen
– Drucksachen 16/4027, 16/4038 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses
– Drucksache 16/7508 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ralf Göbel
Siegmund Ehrmann
Dr. Max Stadler
Petra Pau
Silke Stokar von Neuforn
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
der FDP vor. Die Kolleginnen und Kollegen Ralf Göbel,
Siegmund Ehrmann, Dr. Max Stadler, Petra Pau und
Silke Stokar von Neuforn haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben2). Damit erübrigt sich eine Aussprache, und wir
können gleich über die Vorlagen abstimmen.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Geset-
zes zur Regelung des Statusrechts der Beamtinnen und
Beamten in den Ländern. Der Innenausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7508,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Druck-
sachen 16/4027 und 16/4038 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ange-
nommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge-
gen die Stimmen der Oppositionsfraktionen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen wollen, bitte ich, sich zu erheben. –
1) Anlage 7
2) Anlage 8
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis an-
genommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs-
antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/7554. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer ist dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist da-
mit abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Gesundheit
zu dem Antrag der Abgeordne-
neter und der Fraktion der FDP
Dem Beruf des Rettungsassistenten eine Zu-
kunftsperspektive geben – Das Rettungsassis-
tentengesetz novellieren
– Drucksachen 16/3343, 16/6798 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Hans Georg Faust
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfah-
ren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Dr. Hans Georg Faust für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Das Gutachten 2007 des Sachverständi-
genrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesund-
heitswesen befasst sich mit der Zusammenarbeit der Ge-
sundheitsberufe. In diesen Zusammenhang sind auch die
Überlegungen zur modernen Entwicklung der nichtärzt-
lichen Gesundheitsberufe zu stellen. Dies geschieht zur-
zeit im Pflegeweiterentwicklungsgesetz. So gesehen
greift auch der FDP-Antrag ein Problem auf, das grund-
sätzlich diskutiert und einer Lösung zugeführt werden
muss.
Der Rettungsassistent wird heute in zwei Aufgabenbe-
reichen tätig. Er leistet Erste Hilfe am Notfallort, er muss
lebensrettende Sofortmaßnahmen durchführen – hier ist
er im Wesentlichen eigenverantwortlich tätig –, und er
assistiert dem Notarzt und wird damit in einer unterstüt-
zenden Funktion tätig. Besonders in der erstgenannten
Funktion tragen Rettungsassistenten gegenüber ihren Pa-
tienten eine große Verantwortung, da sie auf sich alleine
gestellt sind. Sie müssen entscheiden, welche Maßnah-
men bei Patienten mit Schock, mit starken Schmerzzu-
ständen oder mit Atemstörungen getroffen werden müs-
sen. Häufig müssen sie auch entscheiden, ob der Notarzt
zugezogen wird. Aus meiner Erfahrung als Arzt im Ret-
tungsdienst schätze ich das sehr hoch ein und möchte
den im Rettungsdienst tätigen Mitarbeiterinnen und Mit-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13995
(C)
(D)
Dr. Hans Georg Faust
arbeitern meine Anerkennung für die hervorragenden
Leistungen aussprechen.
Trotz des richtigen Ansatzes, das seit 1989 geltende
Rettungsassistentengesetz zu novellieren, wird die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion heute dem Antrag nicht zu-
stimmen können.
Es ist unstreitig, dass das alte Gesetz den heutigen An-
sprüchen an eine fach- und sachgerechte Versorgung
nicht mehr genügt. Aber bei der anstehenden Novellie-
rung geht es nicht nur darum, den Zugang zur Ausbil-
dung oder die Dauer der Ausbildung zu regeln, sondern
auch darum, die medizinischen Fortschritte bei der Ver-
sorgung von Notfall- und schwerkranken Patienten zu
berücksichtigen. Aber auch die sich verändernde Kran-
kenhauslandschaft mit sich verändernden Versorgungs-
strukturen, die aus zunehmenden Entfernungen zwi-
schen den Krankenhäusern resultieren, muss eine
besondere Beachtung finden. Das drückt sich dann auch
in der Frage aus, was der neue Rettungsassistent oder
wie immer er heißen wird, können und dürfen soll: Wie
ist es um seine Kompetenz bestellt, und wie ordnet sich
diese in einen gesundheitspolitischen Gesamtrahmen
ein?
Ich möchte auf drei Punkte näher eingehen, und zwar
zunächst auf die Übertragung von ärztlichen Kompeten-
zen auf nichtärztliches Personal. Bisher kann das nicht-
ärztliche Personal im Rahmen der von der Ärztekammer
definierten sogenannten Notkompetenz ärztliche Maß-
nahmen dann vornehmen, wenn ein Arzt nicht oder nicht
rechtzeitig am Einsatzort sein kann. Vereinfacht gesagt,
ist jeder Mensch und der Rettungsassistent besonders
dazu verpflichtet, das zur Rettung von Leben zu tun, was
im Rahmen seiner Kenntnisse und seiner Möglichkeiten
liegt. Es gibt hier also keinen rechtsfreien Raum, auch
wenn der Antrag das sagt. Aber natürlich gibt es die Si-
tuation, dass sich schwerkranke Menschen in einem be-
drohlichen Zustand befinden, der durch rasches Handeln
abgewendet werden könnte. Häufig sind dies aber Situa-
tionen, in denen die Notkompetenz noch nicht rechtlich
einwandfrei vorhanden ist. Soll der Rettungsassistent
jetzt tätig werden dürfen, besonders wenn es sich im
Notfall um ärztliche Tätigkeiten handeln würde?
Hier stellt sich die Frage – die stellt sich auch das
Sachverständigengutachten – zur Substitution und Dele-
gation von Leistungen. Substitution bedeutet die Über-
gabe von bestimmten Tätigkeitsinhalten von einer Be-
rufsgruppe an eine andere. Diese Überlegung mag hier
zurückstehen, da es in der Regel bei den Rettungsassis-
tenten um Delegation von Leistungen aus dem ärztlichen
Bereich geht. Hier muss geregelt werden, welche Leis-
tungen grundsätzlich delegationsfähig und welche Leis-
tungen im Einzelfall delegationsfähig sind. Die Delega-
tionsfähigkeit wird ferner von der Persönlichkeit des
Mitarbeiters bestimmt. Durch die Einführung des „Ärzt-
lichen Leiters Rettungsdienst“ in den meisten Bundes-
ländern ist ein Qualitätssicherungsmerkmal eingeführt
worden, das eine direkte Beurteilung der Fähigkeiten
und Erfahrungen des einzelnen Rettungsassistenten im
Hinblick auf die Durchführung ärztlicher Maßnahmen
ermöglicht und damit eine qualifizierte Zuordnung von
Aufgaben zulässt.
Des Weiteren möchte ich etwas zu der im Antrag ge-
forderten Anerkennung als Heilberuf sagen. Nach ge-
genwärtiger Gesetzeslage dürfen nur Ärzte, Zahnärzte
und in begrenztem Maße Heilpraktiker die Heilkunde
ausüben. Davon ist aber unberührt, dass der Begriff der
Heilberufe – im Gutachten wird der ältere, traditionelle
Begriff „Gesundheitsberuf“ benutzt – viel weiter zu fas-
sen ist. Diesbezüglich hat die öffentliche Anhörung im
Gesundheitsausschuss am 4. Juli 2007 deutlich gemacht,
dass der Rettungsassistent schon heute zu den Fachberu-
fen im Gesundheitswesen und damit zum Kreis der Ge-
sundheitsberufe zählt.
Ein weiterer wichtiger Punkt im Antrag betrifft die
Finanzierung. Nach dem Urteil des Landesarbeitsge-
richts Sachsen vom 30. September 2005 steht dem im
Rettungsdienst Tätigen ein einklagbarer Anspruch auf
eine Ausbildungsvergütung zu. In der Anhörung haben
wir im Interesse der Rettungsassistenten hinterfragt, wie
die tatsächliche Situation bei der Zahlung von Ausbil-
dungsvergütungen ist. Wir haben von allen Vertretern
der Leistungserbringer gehört, dass jeder Auszubildende
eine entsprechende Ausbildungsvergütung bekommt.
Wir wissen aber durch Nachfrage bei den Rettungsas-
sistenten, dass in der Realität ein großes Fragezeichen
hinter diese Aussage zu setzen ist und ein Ausbildungs-
platz insbesondere dann schwer zu bekommen ist, wenn
die Befürchtung besteht, dass der Bewerber im Nachhi-
nein Ansprüche stellen wird. Aus meiner Sicht ist es ein
unhaltbarer Zustand, dass junge, motivierte Menschen,
die später schon nur sparsam bezahlt werden, auch noch
die volle Last der Ausbildungskosten tragen müssen.
Diesbezüglich werden wir in einem neuen Gesetz deutli-
che Veränderungen vornehmen müssen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, lieber Herr
Kollege Ackermann, die Ausbildung des zukünftigen
Rettungsassistenten soll den Mitarbeiterinnen und Mitar-
beitern im Rettungsdienst die Kenntnisse, Fähigkeiten
und Fertigkeiten vermitteln, die zur Erstversorgung le-
bensbedrohlich verletzter und erkrankter Patienten bis
zur Übernahme durch den Arzt erforderlich sind, ein-
schließlich des sach- und fachgerechten Transports die-
ser Personen.
Darüber hinaus soll die Ausbildung dazu befähigen,
mit anderen im Rettungsdienst tätigen Personen sowie
Angehörigen anderer an rettungsdienstlichen Einsätzen
beteiligter Berufsgruppen – insbesondere mit den Ärz-
ten, aber auch mit der Feuerwehr und der Polizei – zu-
sammenzuarbeiten und – das muss heutzutage sein – die-
jenigen Verwaltungsaufgaben zu erledigen, die in
13996 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Dr. Hans Georg Faust
unmittelbarem Zusammenhang mit den Aufgaben im
Rettungsdienst stehen.
Weil sich die Notfallmedizin im stetigen Wandel be-
findet und als dynamischer Prozess angesehen werden
muss, ist es unserer Auffassung nach nicht sinnvoll,
Kompetenzen im Rettungsassistentengesetz detailliert
festzuschreiben. Stattdessen erachten wir es als besser,
eine fachlich kompetente Institution mit der Zuweisung
der Aufgaben und Befugnisse der im Rettungsdienst täti-
gen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu beauftragen.
Damit diese fachlichen Aufgaben übernommen wer-
den können, wollen wir gemeinsam mit dem Bundes-
ministerium für Gesundheit nach sachgerechten und
nachhaltigen Lösungen suchen, welche dann im Einver-
nehmen mit den Beteiligten umgesetzt werden.
Ich bin zuversichtlich, dass wir das Rettungsassisten-
tengesetz gemeinsam so gestalten werden, dass bei der
Ausbildung der Rettungsassistenten die medizinischen
Fortschritte bei der Versorgung von Notfall- sowie
schwerkranken Patienten adäquat berücksichtigt werden
können
und somit die Zukunftsfähigkeit dieses wichtigen Beru-
fes im Gesundheitswesen dauerhaft sichergestellt ist.
Vielen Dank fürs Zuhören.
Nächster Redner ist der Kollege Jens Ackermann für
die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine werten Kolle-
ginnen und Kollegen! Zeit ist relativ – das wusste schon
Albert Einstein. Fünf Minuten Redezeit sind relativ we-
nig, um Ihnen zu erläutern, warum es notwendig ist, das
Rettungsassistentengesetz zu novellieren. In einem Not-
fall sind fünf Minuten eine Ewigkeit. Stellen Sie sich
vor, Sie müssten bei einem Herzinfarkt oder bei einem
Verkehrsunfall Erste Hilfe leisten. Jeder von uns ist froh,
wenn die Profis vom Rettungsdienst vor Ort sind. Diese
Profis, diese Rettungssanitäter und Rettungsassistenten,
sind sehr gut ausgebildet. Sie sind geschult in Diagnose
und Therapie, und ihnen steht eine Ausrüstung zur Ver-
fügung, die sich europaweit sehen lassen kann; jeder, der
schon einmal in einen Rettungswagen geschaut hat, weiß
das.
Das Dilemma besteht darin, dass die Rettungsassis-
tenten im Notfall ihr staatlich geprüftes Wissen und
Können nicht komplett anwenden dürfen. Um Leben zu
retten, berufen sie sich auf eine Notkompetenz. Sie han-
deln im Interesse der Patienten, ohne rechtlich abgesi-
chert zu sein. In einer physisch und psychisch belasten-
den Situation die Handelnden dadurch zusätzlichem
Stress auszusetzen, ist unhaltbar.
Die Kompetenzen müssen klar geregelt werden.
Die FDP bekennt sich zum Notarztsystem; Notärzte
sind ein unverzichtbarer Teil des Systems. Die Nichtbe-
setzung von Notarztstandorten bzw. die Aushöhlung der
Krankenhauslandschaft – Kollege Faust hat darauf hin-
gewiesen – sehen wir zunehmend als Problem. In Zu-
kunft wird es noch länger dauern, bis ein Arzt am Un-
fallort eintrifft. Die Notärzte sind im Interesse einer
bestmöglichen Versorgung der Patienten bereit, Kompe-
tenzen an die Rettungsassistenten abzugeben. Eine An-
hörung im Gesundheitsausschuss hat dies bestätigt, und
in der Praxis funktioniert es auch so. Machen wir doch
aus der Not eine Tugend! Durch eine Zentralisierung der
Notarztstandorte kann, wenn gleichzeitig das geschulte
und unter regelmäßiger ärztlicher Kontrolle stehende
Rettungsfachpersonal geregelte Kompetenzen über-
nimmt, die präklinische Notfallversorgung optimiert und
Geld eingespart werden.
Die frei werdenden finanziellen Ressourcen können
zur Finanzierung einer dreijährigen Ausbildung einge-
setzt werden. Eine klassische dreijährige Berufsausbil-
dung stellt eine Vergleichbarkeit mit anderen Medizinal-
fachberufen her. Hier können Synergien in der
Ausbildung zu einer Kostenreduktion führen. Außerdem
erhalten Rettungsassistenten so die Möglichkeit, ihren
Berufsweg individuell zu gestalten. Der Beruf ist näm-
lich so anstrengend, dass er selten bis zur Rente ausgeübt
wird. Schon in der Ausbildung muss daher der Grund-
stein dafür gelegt werden, dass später in andere Berufe
gewechselt werden kann.
Ein Pilotprojekt in Nordrhein-Westfalen beweist, dass
das machbar ist: Die Malteser bilden seit einigen Jahren
dreijährig aus und haben gute Erfahrungen gesammelt.
Wir haben unseren Antrag an den Vorschlägen der Stän-
digen Konferenz für den Rettungsdienst orientiert, in der
alle Akteure des Rettungswesens vertreten sind. Die
Ständige Konferenz hat uns eine gute Vorlage gegeben.
Was liegt näher, als die Praktiker vor Ort anzuhören? Ich
fordere die Bundesregierung auf: Schieben Sie die No-
vellierung des Rettungsassistentengesetzes nicht auf die
lange Bank!
Es geht um eine bessere Versorgung von Menschen in
Not.
Im ersten Halbjahr 2008 soll eine Expertenkommis-
sion eingesetzt werden, die im zweiten Halbjahr 2008
Vorschläge unterbreitet. Leider, so teilte mir Staatssekre-
tär Schwanitz mit, ist es nicht vorgesehen, dass auch Par-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13997
(C)
(D)
Jens Ackermann
lamentarier dieser Expertengruppe angehören. Ich be-
daure das sehr; denn letztendlich müssen wir im Plenum
einer Novellierung des Rettungsassistentengesetzes zu-
stimmen. Ich bitte Sie, Herr Staatssekretär: Beteiligen
Sie auch die Parlamentarier, um zu einem guten Rettungs-
assistentengesetz zu kommen!
Nun hat das Wort die Kollegin Dr. Margrit Spielmann
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem vorliegenden Antrag der FDP werden Probleme
im Bereich des Rettungsdienstes dargestellt, die sich un-
ter anderem aus der derzeitigen Regelung der Ausbil-
dung zum Rettungsassistenten ergeben. Zutreffend in Ih-
rem Antrag, Herr Ackermann, ist, dass die derzeitige
Ausbildung überholt werden muss. Zutreffend ist auch,
dass das Rettungsassistentengesetz dringend einer No-
vellierung bedarf.
Wir wissen: Von der Arbeit der Rettungsassistenten
hängen oft Menschenleben ab. Sie übernehmen insbe-
sondere in Flächenländern die erste Versorgung am Un-
fallort bis zum Eintreffen des Notarztes. Rettungsassis-
tenten sind zunehmend gefordert, längere Anfahrtszeiten
von Notärzten zu überbrücken. Sie assistieren dem Not-
arzt, sind gleichzeitig Vorgesetzte von Rettungssanitä-
tern und Rettungshelfern und sind rund um die Uhr im
Einsatz.
Wer sich für diesen Beruf entscheidet, muss ständig
mit Extremsituationen wie Verletzungen, Schmerzen
und Tod umgehen und bereit sein, Verantwortung zu
übernehmen. Deshalb müssen die Rettungsassistenten
mit verbessert definierten Kompetenzen ausgestattet
werden, durch die es ihnen gestattet wird, entsprechend
zu handeln.
Es ist erfreulich, dass die Novellierung des Gesetzes
von allen Beteiligten, dem Bund, den Ländern und vor
allen Dingen den Fachverbänden, mehrheitlich für not-
wendig erachtet wird. Das hat unter anderem – wir erin-
nern uns alle – die Anhörung im Juli dieses Jahres deut-
lich gemacht. Bei bestimmten Punkten gibt es sogar
mehrheitliche Meinungen der Experten, zum Beispiel
hinsichtlich der Verlängerung der Ausbildung, bei der
Forderung klarer Kompetenzen und bei den Übergangs-
vorschriften.
Allerdings sind für viele Fragen – Herr Dr. Faust hat
diese eben aus ärztlicher Sicht sehr detailliert darge-
stellt – noch keine Antworten im Detail in Sicht. Die Lö-
sung von Detailproblemen ist für die Formulierung von
konkreten gesetzlichen Vorschriften aber unabdingbar,
Herr Ackermann. Das Ministerium ist deshalb dabei,
diese schwierigen Detailfragen gemeinsam mit einer Ex-
pertengruppe, die aus Vertretern der Fachverbände in
den Ländern besteht, zu beantworten und einen entspre-
chenden Entwurf vorzulegen.
Wir lehnen den Antrag der FDP heute auch deshalb
ab, weil genau auf diese schwierigen Detailfragen, die
noch beantwortet werden müssen, keine Antworten ge-
geben werden. Zu diesen Fragen gehören zum Beispiel
auch die Gestaltung der Ausbildung – Herr Dr. Faust hat
das schon genannt – und die Struktur der Ausbildung.
Das Verhältnis von Unterricht und praktischer Ausbil-
dung hängt unter anderem ganz wesentlich von der Aus-
gestaltung der fachlichen Kompetenzen ab. Eine Ausbil-
dung, durch die zum Beispiel die eigenständige
Notfallversorgung am Unfallort ermöglicht werden soll,
bedarf eines vergleichsweise umfangreichen Ausbil-
dungsanteils in den intensivmedizinischen Bereichen des
Krankenhauses, damit die erforderlichen Kenntnisse und
Fähigkeiten sicher erlernt werden können. Die Vertei-
lung muss sich deshalb auf der Grundlage der Ausbil-
dungsinhalte und der daraus erwachsenden Ansprüche
an dem Umfang des Unterrichts und der praktischen
Ausbildung orientieren und sorgfältig geklärt werden.
Genauso müssen die Konsequenzen einer Ausbil-
dungsverlängerung für den Bereich der Feuerwehren
und ihre Beteiligung am Rettungsdienst unbedingt mit
den Ländern geklärt werden. Auch dies war ein wichti-
ges Thema in der Anhörung. Herr Ackermann, darauf
wird in Ihrem Antrag nicht eingegangen. Wir sind der
Meinung, dass genau diese Problematik durch die Ex-
perten im nächsten Jahr geklärt werden muss.
Umstritten waren in der Anhörung auch die Zugangs-
voraussetzungen für den Beruf. Die Experten äußerten
zwar einhellig, dass als Zugangsvoraussetzung ein
mittlerer Schulabschluss gelten solle, meinten aber
gleichzeitig, dass man hierüber erst dann endgültig ent-
scheiden könne, wenn aufgrund der inhaltlichen Ausge-
staltung der Ausbildung die Anforderungen an die Aus-
bildungsbewerber feststünden. Es bestand Einigkeit
darin, dass man mit 18 Jahren in die Ausbildung gehen
solle. Offen bleibt dabei aber zum Beispiel, wie die Zeit
zwischen dem Schulabschluss und der Vollendung des
18. Lebensjahres überbrückt werden soll.
All diese Fragen werden in Ihrem Antrag übrigens
nicht angesprochen. Sie müssen von der Expertengruppe
ebenfalls sorgfältig beantwortet werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie sa-
gen auch nichts dazu, wie die Kompetenzen verteilt wer-
den sollten. Bezüglich der Kompetenzverteilung zwi-
schen Notarzt und Rettungsassistenten haben sich die
Berufsverbände der Rettungsassistenten und der Ärzte in
der Anhörung übrigens gleichermaßen gegen eine Rege-
lung zur Übertragung heilkundlicher Befugnisse ausge-
sprochen.
Aber die Situation im ländlichen Raum – längere An-
fahrtszeiten bei Einsätzen mit mehreren Verletzten und
gleichzeitig die schwierige Verfügbarkeit des Notarztes –
stellen diese Auffassung meiner Ansicht nach infrage.
Hier ist zu klären, ob eine Übertragung heilkundlicher
Kompetenzen nicht doch sinnvoll wäre.
13998 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Dr. Margrit Spielmann
In diesem Kontext ist auch zu bedenken, dass mit der
Pflegereform – Herr Dr. Faust hat es schon angespro-
chen – entsprechende Modellklauseln zur Übertragung
heilkundlicher Tätigkeiten in das Krankenpflege- und
das Altenpflegegesetz aufgenommen werden sollen. In
der Anhörung wurde auch gefordert, die Durchlässigkeit
für den Rettungsassistentenberuf zu verbessern und zu
gestalten. Die Expertengruppe, auf die ich schon verwie-
sen habe, wird sich auch sehr intensiv damit beschäfti-
gen müssen, ob die angestrebte Novellierung der Ausbil-
dung eine zusätzliche Nachqualifikation, zum Beispiel
der bisherigen Rettungsassistenten, erforderlich machen
würde, ob und wie die Anrechnung – das ist eine ganz
schwierige Frage – der bisherigen Ausbildung auf die
neugeregelte Ausbildung aussehen kann.
Also, meine Damen und Herren, liebe Kollegen der
FDP, vor uns liegen ganz viele Fragen, die geklärt wer-
den müssen. Deshalb sind wir gespannt, welche Ergeb-
nisse uns die Expertengruppe vorlegen wird. Ich hoffe,
wir alle sind im nächsten Jahr bei der ersten Lesung des
Entwurfs eines neuen Rettungsassistentengesetzes dabei.
Vielen Dank.
Nächster Redner ist nun der Kollege Frank Spieth für
die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Stellen
Sie sich vor, Sie sind unterwegs in Morbach, einem Ort
mit 11 000 Einwohnern im Hunsrück in Rheinland-
Pfalz. Sie haben dort einen Autounfall und brauchen me-
dizinische Hilfe. Der Rettungswagen mit dem Rettungs-
assistenten ist innerhalb weniger Minuten vor Ort. Der
Notarzt braucht aber länger, bis er aus Bernkastel-Kues,
Idar-Oberstein oder Hermeskeil angekommen ist. Er
braucht nicht 10, nicht 15, sondern 25 und zum Teil bis
35 Minuten bis nach Morbach; bei schlechtem Wetter
auch einmal länger. Ich bin mir ganz sicher: Sie würden
froh sein, wenn der Rettungsassistent, der so lange allein
für Sie verantwortlich ist, Sie medizinisch versorgen
kann.
Morbach ist kein Einzelfall. Die Verhältnisse treffen
auf immer mehr Regionen im ländlichen Raum zu. Die
Zeit bis zum Eintreffen des Notarztes hat sich in nur vier
Jahren um 2,2 Minuten verlängert. Umso schwerer
wiegt, dass gesetzlich nicht klar geregelt ist, was der
Rettungsassistent in dieser Zeit darf und was nicht. Der
Rettungsassistent kann sich nur auf die sogenannte Not-
kompetenz berufen. Er geht dabei aber auf dünnem Eis.
Wenn irgendetwas schiefgeht, ist er dran. Deshalb über-
legt er oft zwei- oder dreimal, ob er beispielsweise ein
Medikament spritzen soll. Das ist ein unhaltbarer Zu-
stand.
Die Rettungsassistenten müssen genau wissen, was
sie tun dürfen. Darum müssen sie ordentlich ausgebildet
werden. Es kann nicht sein, dass der Patient an Luftnot
oder Schmerzen leidet und der Rettungsassistent sich nur
dann korrekt verhält, wenn er nach den Basismaßnah-
men 5, 10 oder 20 Minuten danebensteht und nichts tut.
Die notwendigen – eigentlich ärztlichen – Maßnahmen
müssen verbindlicher Teil der Ausbildung sein.
Im Moment dauert die Ausbildung zum Rettungsas-
sistenten nur zwei Jahre. Bei allen anderen Ausbildungs-
berufen dauert sie drei Jahre. Drei Jahre benötigt man
auch in der EU. Wo liegt der tiefere Sinn, wenn ein
Krankenpfleger eine dreijährige Ausbildung macht, der
Rettungsassistent aber nur eine zweijährige? Die zwei-
jährige Ausbildung ist überholt. Das sahen auch nahezu
alle Experten in der Anhörung so.
Völlig inakzeptabel findet die Linke, dass die Begeis-
terung der Auszubildenden für ihren Beruf oft ausge-
nutzt wird. Die angehenden Rettungsassistenten bekom-
men meist keine Ausbildungsvergütung, obwohl ein von
Verdi erstrittenes Urteil zeigt, dass die Ausbildungsver-
gütung unbedingt ins Gesetz gehört; sonst müsste jeder
Einzelne klagen. Das ist aber nicht alles: Die Schüler
müssen für ihre Ausbildung obendrein noch Schulgeld
bezahlen. Damit muss endlich Schluss sein.
Auch die Arbeitsbedingungen sind oft katastrophal:
24-Stunden-Schichten sind keine Seltenheit; 50-Stun-
den-Wochen sind die Regel. Das widerspricht Tarifver-
trägen, dem Arbeitszeitgesetz und der EU-Arbeitszeit-
richtlinie. Zurzeit ist der Arbeitgeber im Nachteil, der
seine Angestellten und Auszubildenden gut und fair be-
handelt. Auch das muss sich ändern. Alle Arbeitgeber – ob
Rotes Kreuz, kirchliche, öffentliche oder private Anbie-
ter – brauchen faire Regeln, an die sich alle halten müs-
sen und die auch kontrolliert werden, damit die Ehrli-
chen nicht die Dummen sind.
Nirgendwo in der EU werden die Rettungsassistenten
so verschlissen wie in Deutschland. Unsere Rettungsas-
sistenten haben das geringste Durchschnittsalter. In
Deutschland kann man in diesem Beruf nicht alt werden.
Die Bundesregierung hat im Gesundheitsausschuss ver-
sprochen, dass im ersten Halbjahr 2008 eine Experten-
gruppe gebildet und im zweiten Halbjahr ein erster Ge-
setzentwurf eingebracht wird. Die Linke erwartet, dass
diese Zusage eingehalten wird und dass dieses Thema
nicht in dem dann beginnenden Wahlkampf untergeht.
Wir sprechen uns für den Antrag aus, damit dem Ret-
tungsdienst eine Zukunftsperspektive geboten wird und
die Bundesregierung vom Parlament einen eindeutigen
Handlungsauftrag erhält.
Schönen Dank.
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Dr. Harald Terpe für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 13999
(C)
(D)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Es ist fast
ein Jahr her, seit der Antrag eingebracht worden ist. Bis-
her hat eine Anhörung stattgefunden; darüber hinaus ist
in dem Jahr nicht viel passiert. Wir sind uns, glaube ich,
über Fraktionsgrenzen hinweg einig, dass eine zeitge-
mäße Anpassung der rechtlichen Rahmenbedingungen
für Rettungsassistenten notwendig ist. Auch meine Frak-
tion begrüßt grundsätzlich die Initiative der FDP. Aller-
dings steckt der Teufel wie immer im Detail. Ich glaube,
das hat die Anhörung im Gesundheitsausschuss deutlich
gemacht.
Das Rettungswesen hat sich in den letzten Jahrzehn-
ten erheblich gewandelt. So sind die fachlichen Anforde-
rungen gestiegen. Auch steht uns das Problem der demo-
grafischen Veränderungen ins Haus, was auch enorme
Herausforderungen für das Rettungswesen der Zukunft
bedeutet.
Daher ist es richtig, dass die Ausbildung der Rettungs-
assistenten grundlegend reformiert und verbessert wer-
den muss. Das betrifft sowohl die Finanzierung, die
Struktur und die Dauer der Ausbildung als auch die Aus-
bildungsinhalte.
Lassen Sie mich in Kenntnis der Anhörung einige
Fragen problematisieren. Erstens muss das Gesetzge-
bungsverfahren die Frage klären, welche Kompetenzen
den Rettungsassistenten künftig konkret übertragen wer-
den sollen. Rettungsassistenten sind keine Taxifahrer im
Krankentransport. Sie tragen schon heute vielfach große
Verantwortung. Das muss bereits bei ihrer Ausbildung
berücksichtigt werden. Sie sollten künftig rechtlich und
fachlich abgesichert das tun dürfen, was sie ohnehin in
der Praxis häufig tun: Basisuntersuchungen, Diagnostik
der vitalen Funktionen und die Durchführung lebensret-
tender Sofortmaßnahmen bis zum Eintreffen des Notarz-
tes.
Allerdings möchte ich davor warnen, die Kompetenz-
abgrenzung vor allem unter dem Gesichtspunkt der Kos-
tensenkung zu betrachten und deswegen Notärzte und
Rettungsassistenten in dieser Frage gegeneinander aus-
zuspielen
oder gar ganz auf Notärzte verzichten zu wollen.
Maßstab der Notfallversorgung muss in erster Linie
die Qualität sein. Wer beim Rettungsdienst zulasten der
Qualität sparen will – ob bei den Rettungsassistenten,
den Notärzten oder anderem Rettungspersonal –, der ge-
fährdet die Gesundheit, ja das Leben der Patientinnen
und Patienten. Rettungsdienst ist deutlich mehr als der
möglichst schnelle und billige Transport von Notfallpa-
tienten und Notfallpatientinnen in das nächste Kranken-
haus.
Fachliche Kompetenz verlangt eine solide Ausbil-
dung, sodass sich zweitens die Frage stellt, welcher
Schulabschluss als Eingangsvoraussetzung notwendig
ist. Eng damit verbunden ist die Klärung von Über-
gangsregelungen und Anerkennungsmodalitäten bisheri-
ger Abschlüsse. Ich plädiere für allgemein verbindliche
Ausbildungsinhalte und die bundesweite Gleichwertig-
keit der zukünftigen Abschlüsse.
Die Vertreterinnen und Vertreter der Großen Koali-
tion haben zu Beginn der Beratungen angekündigt, eine
baldige Novellierung des Rettungsassistentengesetzes
vorzunehmen. Ich würde mir wünschen, dass es dazu in
dieser Legislaturperiode kommt, und die heutigen Rede-
beiträge interpretiere ich auch in dieser Richtung. Ich
hoffe, dass dann die offenen Fragen zur Regelkompetenz
ebenso geklärt werden wie zum Beispiel die nicht ganz
unerhebliche Frage, wer künftig die Kosten der Rettungs-
assistentenausbildung und der Ausbildungsvergütung
tragen wird. Eine einseitige Kostenbelastung der Auszu-
bildenden ist sicher der falsche Weg.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Guten Abend.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem An-
trag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Dem Beruf des
Rettungsassistenten eine Zukunftsperspektive geben –
Das Rettungsassistentengesetz novellieren“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/6798, den Antrag der Fraktion der FDP
auf Drucksache 16/3343 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstim-
men der Fraktionen der FDP und der Linken und bei
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-
nommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Fischer , Renate Blank, Dr. Klaus W.
Lippold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Petra
Weis, Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Klaas Hübner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Wiedererrichtung des Berliner Schlosses –
Bau des Humboldt-Forums im Schlossareal
Berlin – Rekonstruktion der historischen Fas-
saden sicherstellen
– Drucksache 16/7488 –
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung zu dem Antrag
der Abgeordneten Heidrun Bluhm, Katrin
14000 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion DIE LINKE
Humboldt-Forum statt Fassadenschloss –
Schlossplatz mit Zukunftsorientierung
– Drucksachen 16/5922, 16/7366 –
Berichterstattung: Abgeordnete Renate Blank
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie da-
mit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann
werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin der Kollegin Renate Blank für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Im Ge-
gensatz zu vor etwa drei Wochen, als die FDP hier die
Debatte zum Wiederaufbau des Berliner Schlosses ange-
stoßen hat, ist heute die Zeit für die Diskussion im Parla-
ment reif. Allerdings muss ich hinzufügen: Für dieses
nationale Projekt wäre – das ist eine Bitte an die Ge-
schäftsführer – eine bessere Beratungszeit angemessen.
Das gilt vor allem, nachdem in diesem Bereich die Jour-
nalisten jeden Tag etwas über das Pro und Kontra des
Berliner Schlosses, der Kuppel und des Kellers schrei-
ben.
Kolleginnen und Kollegen, der Beschluss zum Wie-
deraufbau des Berliner Schlosses ist nach langjähriger
Diskussion endlich zustande gekommen. Ich erinnere an
unsere Anträge aus den Jahren 2000, 2003 und 2004;
nun liegt ein weiterer Antrag vor. Die Entscheidung zur
Rekonstruktion haben wir uns alle nicht leichtgemacht,
vor allen Dingen im Hinblick auf die Nachbarschaft zur
Museumsinsel, einem Weltkulturerbe. Vor dem Hinter-
grund ist es sehr wichtig, dass mit dem Wiederaufbau
sehr sensibel umgegangen wird.
Meine Damen und Herren, es wurde immer kritisiert,
dass wir unseren Architekten nicht zutrauen, etwas
Neues auf diesem Platz in der Mitte Berlins zu bauen.
Hierzu kann ich nur sagen: Es ist kein Thema, dass wir
den Architekten nichts Neues zutrauen. Aber es gibt in
jeder Stadt Negativbeispiele, wo jedes Gebäude an sich
sehr gut ist, wo aber das Ensemble insgesamt nicht mehr
wirkt. Im Hinblick darauf ist nach jahrelanger Diskus-
sion der Beschluss gefallen, das Berliner Schloss wieder
aufzubauen. Es gab natürlich eine Diskussion über den
Abriss des Palastes der Republik. Wenn ich dort vorbei-
fahre, freue ich mich jedes Mal, dass der Abriss voran-
schreitet. Ich hoffe, dass dieses Thema bald erledigt sein
wird. Auf dem Gelände des zukünftigen Berliner Schlos-
ses ist „White Cube“ als kulturelle Zwischennutzung
vorgesehen. Ich gehe davon aus, dass diese Zwischen-
nutzung zu Beginn des Wiederaufbaus des Berliner
Schlosses beendet ist. Diese Zwischennutzung darf
keine Eigendynamik entwickeln.
In den letzten Jahren ist immer vom Stadtschloss
oder, wie von der Linken präferiert, vom Humboldt-Fo-
rum die Rede. Richtigerweise muss es heißen: Wiederer-
richtung des Berliner Schlosses – Bau des Humboldt-Fo-
rums im Schlossareal Berlin.
Das ist ein kleiner Hinweis an die Bundesregierung.
Während der Haushaltsberatungen haben wir das Ganze
in die richtige Reihenfolge gebracht: zuerst die Wie-
dererrichtung des Berliner Schlosses, dann der Bau des
Humboldt-Forums.
Wir wollen mit unserem vorliegenden Antrag die
Bundesregierung unterstützen und weisen dabei deutlich
darauf hin, dass wir am Wiederaufbau keine Abstriche
machen und dass sich das Parlament das Heft des Han-
delns nicht aus der Hand nehmen lässt. Die zuständigen
Ausschüsse sind damit zu befassen. Es gibt Personen,
die meinen, dass dieser Antrag unnötig sei. Wir brau-
chen diesen Antrag aber deshalb, weil morgen der Aus-
lobungstext international bekannt gegeben wird. Es gibt
eine Änderung: Wir kommen von einem international
offenen Wettbewerb hin zu einer Auslobung als begrenzt
offener, anonymer Realisierungswettbewerb in zwei Be-
arbeitungsphasen. Das heißt, dass im Rahmen eines offe-
nen Bewerberauswahlverfahrens 150 Bewerber von ei-
nem von der Jury des Wettbewerbs unabhängigen
Auswahlgremium anhand vorab festgelegter und öffent-
lich bekannt gemachter Mindestanforderungen und Aus-
wahlkriterien ausgewählt werden. In der ersten Phase
sind von den Teilnehmern grundsätzliche Lösungsan-
sätze für die Wettbewerbsaufgabe zu entwickeln. Aus
den eingereichten Beiträgen wählt das Preisgericht circa
30 bis 40 Teilnehmer für eine konkrete Bearbeitung der
zweiten Phase aus.
Ich möchte meine ganz persönliche Meinung zu der
Änderung sagen. Ich hätte mir durchaus vorstellen kön-
nen, dass wir bei einem international offenen Wettbe-
werb bleiben. Aber man beugt sich im Grunde Erkennt-
nissen. Ich gehe davon aus, dass sich auch junge
Architekturbüros bewerben. Aufgrund der zwei Bearbei-
tungsphasen kommt dem unabhängigen Auswahlgre-
mium eine große Bedeutung zu. Wir haben dafür ge-
sorgt, dass bekannte und anerkannte Experten in diesem
Auswahlgremium vertreten sind.
Die Zusammenarbeit mit Berlin hat sich zu einer kon-
struktiven Mitarbeit entwickelt. Deswegen verwundert
mich Ihr Antrag, meine Damen und Herren von der
Linkspartei. Ich würde an Ihrer Stelle Abstand nehmen,
da sich Berlin eindeutig für den Wiederaufbau des Berli-
ner Schlosses entschieden hat und nicht für Ihren Lö-
sungsansatz, der das Humboldt-Forum und einen Neu-
bau vorsieht.
Der Auslobungstext ist nun fertig. Es gab umfangrei-
che Diskussionen. Die Anforderungen für die Teilnahme
– Büroumsatz, Zahl der Mitarbeiter, der Nachweis eines
Projektes mit vergleichbarer Komplexität und Multi-
funktionalität – sind etwas zurückgeschraubt worden.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14001
(C)
(D)
Renate Blank
Ich betone ganz deutlich: Auch junge Architekten kön-
nen sich beteiligen, zum Beispiel wenn sie sich zu Büro-
gemeinschaften zusammenschließen.
Der Wiederaufbau des Berliner Schlosses ist von na-
tionaler Bedeutung.
Das kulturelle Nutzungskonzept passt sich an die erfolg-
reiche Entwicklung des Areals der Museumsinsel an und
berücksichtigt auch die geforderte kommunikativ-gesell-
schaftliche Nutzung. Mit der Wiedererrichtung des Ber-
liner Schlosses und damit dem Bau des Humboldt-Fo-
rums werden die Weltkulturen in das Zentrum der
deutschen Hauptstadt geholt. Auch den Dialog mit den
europäischen Kulturen auf der Museumsinsel bringen
wir voran.
Ich komme auf die öffentliche Aufmerksamkeit, auch
für Kuppel und Keller, zu sprechen. Die Kuppel ist im
Auslobungstext zwingend vorgesehen. Was den Keller
angeht, ist zunächst geplant, dass Ausgrabungen als ar-
chäologisches Fenster in das Gebäude einbezogen wer-
den können.
Ich möchte dem Förderverein, insbesondere Herrn
von Boddien, dessen Traum jetzt, nach 15 Jahren, ver-
wirklicht werden wird, für das große Engagement ganz
herzlich danken. Wir werden das Einwerben von Spen-
den unterstützen – das steht auch in unserem Antrag –:
mit einer Sondermünze, eventuell mit einer Schlosslotte-
rie, mit Briefmarken usw. Dazu, wie die Zusammenar-
beit zwischen Preußen und den Bayern, sprich: Mün-
chen, funktioniert, kann ich nur sagen, dass sich in
München ebenfalls ein Förderverein zur Unterstützung
des Wiederaufbaus des Berliner Schlosses gegründet hat.
Ich hoffe, dass uns dieser Wiederaufbau, der eine einma-
lige Chance ist, in hervorragender Weise gelingen wird.
Das Wort hat der Kollege Hellmut Königshaus für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir un-
terhalten uns hier einerseits über ein wirklich wichtiges
Thema, über ein Thema von nationaler Bedeutung – die
Kollegin Blank hat das hier eben angesprochen –, und
wir unterhalten uns andererseits über einen Antrag der
Linken, mit dem versucht wird, den eingeleiteten Pro-
zess aufzuhalten. Dazu muss man feststellen – es ist
wirklich bedauerlich –: Die Linke kneift; sie gibt ihren
Redebeitrag zu Protokoll und verteidigt ihren eigenen
Antrag nicht.
Erst seit ganz kurzer Zeit – mittlerweile sind hier zwei
Fraktionsmitglieder anwesend – ist sie unter den Abge-
ordneten genauso stark wie im Präsidium vertreten. Das
finde ich, offen gesagt, der Sache nicht angemessen.
Überhaupt finde ich den Antrag, den Sie gestellt ha-
ben, nicht angemessen.
Sie versuchen hier schon wieder, etwas zu blockieren,
was längst entschieden ist. Es geht uns heute nicht nur
um die Sache, sondern auch um uns, um das Parlament,
um unser Selbstverständnis. Wir müssen doch glaubwür-
dig bleiben. Wir dürfen unsere einmal gefassten Be-
schlüsse doch nicht immer wieder durchkauen. Wie oft
sollen wir denn noch beschließen, dass wir das Berliner
Schloss aufbauen wollen, und zwar am Platz des Stadt-
schlosses, in der Kubatur des Stadtschlosses und mit den
drei barocken Fassaden?
Auch als Opposition muss man der Bundesregierung
in diesem Zusammenhang einmal dafür danken, dass sie
die Beschlüsse des Bundestages nun endlich realisiert.
Mein Dank geht natürlich auch an den Finanzminister,
ohne dessen – bekanntermaßen großzügige – Unterstüt-
zung das nicht ginge.
Alles hat trotzdem viel zu lang gedauert. Wir wurden
hier immer wieder mit irgendwelchen Scheinargumenten
aufgehalten, und es wurden Hürden aufgestellt. Wie im-
mer, wenn es um die historische und die bauliche Identi-
tät der Hauptstadt ging, waren der Senat und der Regie-
rende Bürgermeister leider keine Hilfe. Ganz im
Gegenteil: Sie waren Teil des Problems; sie haben Pro-
bleme bereitet und haben aufgehalten.
Wir haben immer Probleme mit dem Bauminister;
aber an diesem Punkt wollen wir ihm hier wirklich ein-
mal dazu gratulieren, dass er tatsächlich vollendete Tat-
sachen geschaffen und entschlossen gehandelt hat.
Umso schlimmer ist allerdings, dass es in seinem
Haus offenbar einen Staatssekretär gibt, der über das
Ausschreibungsverfahren versucht, unsere Beschlüsse
hier zu unterlaufen. Deshalb ist hier noch einmal festzu-
halten: Das, was hier beschlossen worden ist, ist ernst
gemeint. Noch einmal: Es ist ernst gemeint – was immer
der Herr Staatssekretär davon zu halten gedenkt und was
immer sonst jemand zu dieser Frage sagen sollte.
Moderne Architektursprache hat natürlich ihre Be-
rechtigung, fast überall, aber nicht an diesem Platz, dem
Ursprung unserer Hauptstadt und letzten Endes auch ei-
nem Kristallisationspunkt unserer Nation.
Dort brauchen wir ein Gebäude, das diesem Anspruch
auch gerecht wird. Dort können wir nicht experimentie-
14002 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Hellmut Königshaus
ren. Wir wissen, dass so etwas oftmals, gerade bei mo-
derner Architektur, nach mehreren Jahren im Rückblick
wie ein Experimentieren wirkt. Wir wissen es nicht si-
cher, aber wir können es nicht ausschließen. Wir haben
es aber vor allem anders beschlossen. Deshalb muss das
Stadtschloss so, wie es geplant ist, auch gebaut werden.
Die Linke will mit ihrem Antrag einen letzten ver-
zweifelten Versuch unternehmen, den fahrenden Zug
noch aufzuhalten. Sie wird damit scheitern. Gott sei
Dank wird sie damit scheitern.
Meine Damen und Herren, es ist doch wirklich klein-
krämerisch, wenn gerade Sie, die Linken, dem Förder-
verein, der sich aus bürgerschaftlichem Engagement her-
aus bereitgefunden hat, dafür zu sorgen, dass das Geld
für die Fassade aufgebracht wird – auch das wäre eigent-
lich eine nationale Aufgabe, die wir zu finanzieren hät-
ten –, vorwerfen, er habe erst 10 Prozent aufgebracht.
Mein Gott im Himmel, was glauben Sie denn? Das ist
doch anzuerkennen. 10 Prozent nach einem solchen
Hickhack,
bei dem bis zuletzt immer wieder infrage stand, ob über-
haupt etwas daraus wird – machen Sie das erst einmal
nach, bevor Sie hier solche Reden halten!
Immer wieder finden sich engagierte Bürger in die-
sem Land, die versuchen, bauliche Sünden der Vergan-
genheit zu bereinigen, insbesondere auch solche, bei de-
nen Gebäude, die durch Kriegseinwirkung beschädigt,
aber wiederaufbaufähig waren, abgerissen wurden. Sie
setzen sich dafür ein, dass solche Gebäude wiederaufge-
baut werden, damit eine städtebauliche Identifikation
wieder möglich ist. In Dresden, in Potsdam und auch in
Berlin gibt es solche Leute. Nie war die Linke auf der
Seite derer, die mit bürgerschaftlichen Engagement et-
was bewirken wollen. Sie war immer dagegen.
Ich will Ihnen nicht vorwerfen, dass die Kommunis-
ten in Potsdam und Berlin die Stadtschlösser, die zum
Teil noch standen, zum Teil auch noch benutzt wurden,
ohne Not abgerissen haben. Sie haben dort Aufmarsch-
plätze gebaut, um Jubelparaden abzuhalten.
Sie waren noch nicht dabei. Deshalb werfe ich Ihnen das
nicht vor. Ich werfe Ihnen aber schon vor, dass Sie die-
sen Geist heute noch weitertragen, dass Sie aus diesem
Geist heraus hier so agieren und ausgerechnet die Kosten
als Argument heranziehen. Wäre diese Barbarei damals
nicht gewesen, müssten wir uns heute nicht über solche
Kosten unterhalten. Es wäre viel billiger, und im Übri-
gen wäre das Bauwerk schon längst fertig.
Willy Brandt hat einst gesagt: Berlin wird leben, und
die Mauer wird fallen. Heute in dieser Diskussion würde
er sagen: Und die Stadt wird mit dem Stadtschloss ihre
historische Mitte wiederbekommen.
Danke schön.
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Karin Roth.
K
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die vorausschauenden Beschlüsse des Bundestages aus
den Jahren 2002 und 2003 zur Wiedererrichtung des
Schlosses und zum Bau des Humboldt-Forums können
jetzt umgesetzt werden. Die längst überfällige stadt-
räumliche Reparatur dieses zentralen Ortes der Haupt-
stadt Deutschlands ist wirklich ein gutes Stück näher ge-
rückt. Natürlich – das ist gar keine Frage – freuen wir
uns alle, dass es jetzt so weit ist, dass unsere Beschlüsse
wirklich umgesetzt werden können.
Die Bundesregierung hatte im Jahr 2005 Möglichkei-
ten zur Beteiligung privater Investoren und eine damit
verbundene Ausweitung der Nutzungsmöglichkeiten im
Humboldt-Forum untersucht. Diese Erweiterung hätte
uns mehr finanzielle Risiken als Sicherheiten gebracht.
Deshalb hat sich der Minister dafür entschieden, sich
konsequent auf das öffentliche kulturelle Programm zu
konzentrieren. Ich glaube, diese Entscheidung war die
Voraussetzung dafür, dass wir heute so weit sind, wie wir
sind. Wir haben klargemacht: Wir konzentrieren uns,
und wir machen das Machbare möglich – ein Konzept,
das am 4. Juli dieses Jahres von der Bundesregierung be-
schlossen wurde.
Ich denke, das ist im Sinne all derjenigen, die für dieses
Projekt gestimmt und sich dafür eingesetzt haben.
Anfang November hat der Haushaltsausschuss eine
verbindliche Obergrenze der Kosten für den Bau und die
Ausstattung des Projektes in Höhe von 552 Millionen
Euro festgelegt. Der heute vorliegende nunmehr dritte
Antrag der Koalition zum Schloss und zum Humboldt-
Forum – wir haben uns schon mehrmals mit diesem Pro-
jekt beschäftigt – definiert entscheidende Anforderungen
und Ziele im Zusammenhang mit dem für die Hauptstadt
und die deutsche Kulturlandschaft so wichtigen Projekt.
Frau Kollegin Blank, Sie haben schon darauf hinge-
wiesen: Vieles von dem, was im Antrag steht, ist schon
auf den Weg gebracht worden. Vor allem enthält der An-
trag konkrete Aufträge und nimmt damit die Bundesre-
gierung in die Pflicht. Dieser Pflicht kommen wir natür-
lich gerne nach.
Gerne gehe ich in gebotener Kürze auf die Anforde-
rungen ein. Wir werden noch im Dezember Architekten
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14003
(C)
(D)
Parl. Staatssekretärin Karin Roth
und Architektinnen aus aller Welt öffentlich einladen,
sich um die Teilnahme am internationalen Realisierungs-
wettbewerb zu bewerben. Der anschließende Realisie-
rungswettbewerb ist – Sie haben darauf hingewiesen – in
zwei Bearbeitungsphasen unterteilt.
In der ersten Phase sollen ungefähr 150 Teilnehme-
rinnen und Teilnehmer ihre Ideen skizzieren. Davon
kommen 30 bis 40 Architektinnen und Architekten in die
engere Auswahl. Sie können in der zweiten Phase ihre
Vorstellungen detaillierter darlegen.
Die circa 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der
ersten Phase werden in einem international offenen Be-
werbungsverfahren ausgewählt. Das ist in diesem kon-
kreten Fall der beste Weg. Frau Blank, wir haben zwar
lange überlegt, ob es der richtige Weg ist, aber am Ende
waren wir uns darüber einig. Nur durch die Präqualifika-
tion – circa 150 Büros werden ausgewählt – ist nämlich
sichergestellt, dass alle teilnehmenden Architekten die
Aufgabe fachlich bewältigen können. Darauf kommt es,
wenn auch nicht ausschließlich, letztlich an. Für die Um-
setzung einer so komplexen, anspruchsvollen Entwurfs-
und Bauaufgabe braucht man, glaube ich, Büros, die Er-
fahrung mit größeren Projekten mit einem Umfang von
mindestens 5 Millionen Euro haben und deren Schwer-
punkt bei Kulturbauten und beim Bauen im historischen
Kontext liegt. Das ist aus unserer Sicht unabdingbar.
Die quantitativen Mindestanforderungen sehen vor,
dass die Bewerber einen Jahresumsatz von mindestens
300 000 Euro erwirtschaften oder es mindestens vier Bü-
roinhaber bzw. Mitarbeiter gibt. Darüber hinaus müssen
die Büros ein Projekt mit einem Umfang von mindestens
5 Millionen Euro entweder realisiert oder in einem Ar-
chitektenwettbewerb platziert haben. Diese Anforderun-
gen sind durchaus im Rahmen. Somit ist sichergestellt,
dass diejenigen, die sich bewerben, das Projekt stemmen
können. Ich bin mit Frau Blank einig, dass es natürlich
auch darauf ankommt, die kreativen jungen Leute aufzu-
fordern, mitzumachen. Das, was wir formuliert haben,
ist dafür kein Hindernis.
Die Auswahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer
wird ausschließlich auf rein qualitativen Kriterien der ge-
stalterischen Qualität und der Erfahrung mit Kulturbau-
ten sowie mit dem Bauen im Bestand und im Rahmen des
Denkmalschutzes beruhen. Bei einer Beschränkung auf
circa 150 Wettbewerbsarbeiten ist sichergestellt, dass die
Jury keine Qualitäten der Arbeiten übersieht. Es gibt
nämlich keinen Zeitdruck. So können die Leistungen der
Büros angemessen gewürdigt werden. Der Grad der Um-
setzung der Auslobungsziele in den Arbeiten kann aus-
reichend und auch ausgiebig diskutiert werden.
Es gehört zu den zentralen Anforderungen des Wett-
bewerbs – darüber haben Sie gesprochen –, dass die Re-
konstruktion der historischen Außenfassaden im Süden,
Westen und Norden und der drei historischen Barockfas-
saden des Schlüterhofes sowie die Errichtung einer Kup-
pel im Bereich des ehemaligen Hauptportals in die Pläne
einbezogen werden.
Das, was Sie angemahnt haben, ist damit schon festge-
schrieben.
Frau Staatssekretärin, Sie können natürlich die ge-
samte Redezeit Ihrer Fraktion verbrauchen. Ich mache
nur Sie darauf aufmerksam, dass Sie schon Ihrer Kolle-
gin die Zeit wegnehmen. Das Blinken bedeutet, dass die
angezeigte Minuszeit ernst gemeint ist.
K
Dieser Hinweis ist sehr freundlich, Frau Präsidentin.
Ich komme deshalb zum Schluss. Ich freue mich sehr,
dass bei der Sitzung des Preisgerichts am Montag dieser
Woche alles einvernehmlich geregelt worden ist und
dass im Preisgericht die Kollegen Wolfgang Thierse und
Dirk Fischer sowie die Kolleginnen Renate Blank und
Petra Weis darauf achten werden, dass alles, was im
Rahmen dieses Wettbewerbs geschieht, mit rechten Din-
gen zugeht und auch die Anforderungen des Bundesta-
ges erfüllt werden.
Den Beitrag der Kollegin Heidrun Bluhm für die
Fraktion Die Linke nehmen wir zu Protokoll.1)
Das Wort hat der Kollege Peter Hettlich für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wie auch
heute fängt jede Diskussion über das Berliner Schloss
mit der Frage an: Wie hältst du es damit? – Ich will an
der Stelle ganz klar sagen: Ich hielt und halte die Idee,
das Schloss mit den barocken Fassaden wiederaufzu-
bauen, für eine rückwärtsgewandte, altertümliche Idee.
In diesem Zusammenhang möchte ich gerne den be-
rühmten Architekt Daniel Libeskind zitieren, der gesagt
hat:
Ich glaube nicht, dass man Architektur und Ge-
schichte einfach zurückspulen und so tun kann, als
sei nichts geschehen
Nicht nur ich, sondern auch viele meiner Kollegen hät-
ten sich, selbst 2002, lieber eine zeitgenössische archi-
tektonische Lösung gewünscht.
Als ich mir die Beschlüsse noch einmal anschaute,
fiel mir auf, dass im Beschluss über die Wiedererrich-
tung eines Gebäudes auf dem Schlossareal vor allen Din-
gen der Begriff der Stereometrie im Vordergrund stand
und dass dieser Beschluss mit großer Mehrheit in diesem
1) Anlage 9
14004 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Peter Hettlich
Hause gefasst wurde. Der Beschluss über die Wiederer-
richtung der historischen Fassaden und des Schlüterho-
fes wurde dagegen hier im Jahre 2002 – da war ich noch
nicht im Bundestag – nur sehr knapp gefasst. Insofern
plädiere ich ausdrücklich dafür, dass wir diese Diskus-
sion etwas differenzierter führen.
– Es war eine knappe Entscheidung, lieber Kollege
Königshaus. Ich finde, wenn wir jetzt den Architekten-
wettbewerb durchführen, sollten wir ein bisschen mehr
Offenheit für mögliche Ergebnisse aus dem Architekten-
wettbewerb zeigen. So viel Souveränität sollte das Parla-
ment doch haben.
Nun zum Antrag der Linkspartei. Wir Grünen verfah-
ren nicht nach dem Prinzip: rin in die Kartoffeln, raus
aus den Kartoffeln. Der Beschluss des Bundestages steht
für uns. Wir halten uns auch daran, trotz meiner kriti-
schen Haltung, die ich eben vorweg dargelegt habe. Da-
mit ist auch klar, dass wir den Antrag der Linkspartei ab-
lehnen.
– Aber jetzt kommt es, Kollege Königshaus: Vielem von
dem, was Sie eben gesagt haben, kann ich nicht zustim-
men.
Die Abwatscherei der Linken war an dieser Stelle völ-
lig ungerechtfertigt. Man muss sich nur einmal an-
schauen, was in meiner Heimatstadt Köln nach dem
Krieg geschehen ist. Das Verbrechen, was dem zugrunde
lag, war übrigens der Zweite Weltkrieg. Dieser wurde
von den Nationalsozialisten begonnen. Die infolge die-
ses Krieges passierten Zerstörungen waren die Barbarei.
Die Frage, ob beispielsweise die Kölner Oper hätte ge-
rettet werden können oder auch viele andere Gebäude,
kann man an anderer Stelle diskutieren. Der historisie-
rende Wiederaufbau der Stadt Hildesheim jedoch, bei
dem vor Stahlbetonkonstruktionen irgendwelche histori-
sierenden Fachwerkfassaden gehängt wurden, ent-
spricht nicht meinem Verständnis von Denkmalschutz.
Kollege Hettlich, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Königshaus?
Gerne, bitte. Das verlängert meine Redezeit.
Dass Sie für den Beschluss einstehen, weiß ich zu
schätzen. Stimmen Sie mir zu, dass es eine ganze Reihe
von Bauwerken gerade im süddeutschen Raum gab, die
sich nach dem Krieg genauso wie das Schloss darstell-
ten, nämlich als eine vielleicht zum Teil oder gar nicht
mehr nutzbare, aber jedenfalls in den Außenfassaden er-
haltene Ruine, die wiederaufgebaut wurden, und zwar
relativ schnell in schöner Form – ich erinnere beispiels-
weise an Bauwerke in Mannheim und Karlsruhe –, und
dass das in Berlin auch möglich gewesen wäre? Stim-
men Sie mir zu auch, dass insbesondere Architektur
nicht von dem lebt, was irgendein Handwerker irgend-
wann einmal aufeinander geschichtet hat, sondern von
dem Geist des Architekten?
Der Geist hinter dieser Architektur war der Geist von
Herrn Schlüter. Stimmen Sie, verehrter Herr Kollege,
mir zu, dass es uns darum geht, im Geist von Herrn
Schlüter das Stadtschloss wieder aufzubauen?
Herr Königshaus, ich stimme Ihnen durchaus zu, dass
es eine ganze Menge Gebäude gibt, bei denen man sich
trefflich darüber streiten könnte. Ich als Kölner, der 1990
nach Sachsen gezogen ist, habe beispielsweise die Dis-
kussion um den Wiederaufbau der Frauenkirche sehr
aufmerksam verfolgt. Ich weiß auch, dass wir Intellektu-
elle zunächst eine ganz andere Herangehensweise hat-
ten, dann aber erleben mussten, wie sich die Diskussion
in der Stadt emotionalisierte. In meiner Geburtsstadt
Köln sind ja die romanischen Kirchen, die das Stadtbild
geprägt haben, nach dem Krieg auch wiederaufgebaut
worden.
Deshalb plädiere ich immer für eine differenzierte Sicht-
weise und spreche mich gegen Schwarz-Weiß-Denken
aus.
Zum Berliner Stadtschloss habe ich meine persönli-
che Meinung, auch wenn die Planungen für den Wieder-
aufbau schon sehr weit fortgeschritten sind. Mit einem
Wiederaufbau, der sich an der Stereometrie orientiert,
also einem entsprechenden Kubus an der Stelle, hätte ich
mich sehr gut anfreunden können. Ich sage aber zu-
gleich: Diese Debatte ist für uns gegessen, und wir soll-
ten sie heute Abend nicht wieder aufleben lassen. Ent-
scheidend ist, dass wir jetzt nach vorne schauen.
Wir werden in den nächsten Jahren noch einige Dis-
kussionen über das Berliner Schloss im Deutschen Bun-
destag haben. Das kann ich Ihnen garantieren. Denn der
Teufel steckt noch im Detail. Wir von den anderen Frak-
tionen werden wie die Kolleginnen Renate Blank und
Petra Weis das Verfahren hinsichtlich des Wettbewerbs
sehr aufmerksam verfolgen. Wahrscheinlich können wir
als Gäste die entsprechenden Ausführungen im Preisge-
richt verfolgen. Wir werden die Entwicklung genau im
Auge behalten.
Ich habe schon dem Staatssekretär Lütke Daldrup und
der Kollegin Karin Roth gesagt, dass ich, weil ich von
Hause aus Projektleiter bin, auch auf die Kosten schauen
werde. An diesem Punkt will ich den Finger in die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14005
(C)
(D)
Peter Hettlich
Wunde legen. Wenn es heißt, der Kostenrahmen von
552 Millionen Euro wird überschritten – ich sage Ihnen
ganz ehrlich, bei Projekten dieser Größenordnung kann
das schnell passieren – und Sie daraufhin sagen, Sie wol-
len einsparen, dann müssen Sie mir erklären, an welcher
Stelle Sie das tun wollen. Möglicherweise werden Sie
genau an den Stellen einsparen wollen, die für Sie jetzt
besonders wichtig sind, die Sie wie ein Mantra vor sich
hertragen, wie zum Beispiel die Kuppel und die
Schlüterhöfe. Das ist genau der Knackpunkt.
Wenn wir alle der Meinung sind, dass es so gemacht
werden soll, dann halte ich eine Vorfestlegung auf eine
bestimmte Summe für sehr riskant. Wenn der Deutsche
Bundestag sagt, aufgrund eines Kostenvoranschlags
wird der Wiederaufbau garantiert nicht mehr als
600 Millionen Euro kosten, dann halte ich das für falsch.
Ich bin zwar keiner, der will, dass das Geld zum Fenster
herausgeschmissen wird. Aber ich bin der Meinung, dass
man sich erst einmal das Ergebnis dieses Wettbewerbs
anschauen, es bewerten und die Kosten berechnen sollte,
bevor man eine Entscheidung trifft. Im Zweifelsfall
muss man dann mit den Haushältern in die Bütt gehen.
Dieses Verfahren halte ich für sinnvoll. Insofern plädiere
ich für eine größere Offenheit.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wün-
sche uns noch einen schönen Abend.
Das Wort hat die Kollegin Petra Weis für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jetzt muss ich aus einem zeitlichen Minus ein inhaltli-
ches Plus machen.
Ich hoffe, dass mir das in den nächsten 3 Minuten und
55 Sekunden gelingt.
Noch zu Beginn dieses Jahres konnte man viele skep-
tische Stimmen vernehmen, die den Wiederaufbau des
Berliner Schlosses und damit zugleich den Bau des
Humboldt-Forums in weite Ferne gerückt sahen. Siehe
da, da legte Bundesminister Wolfgang Tiefensee im
März dieses Jahres den sogenannten konzentrierten Ent-
wurf mit dem Fokus auf die kulturelle Nutzung samt Fi-
nanzierungsvorschlag vor. Dieser Entwurf kam geradezu
einer Initialzündung für das Projekt gleich. Denn dann
ging auf einmal alles ganz schnell.
Innerhalb kürzester Zeit hat das Kabinett den Entwurf
verabschiedet. Mit dem Land Berlin wurde bereits eine
Vereinbarung geschlossen. Bereits in dieser Woche
– darauf ist schon hingewiesen worden – haben die
Preisrichterinnen und Preisrichter für den in Kürze star-
tenden Architektenwettbewerb ihre Arbeit aufgenom-
men. 2010 soll der erste Spatenstich erfolgen. Womög-
lich können wir bereits 2013 Eröffnung feiern. Wer von
uns hätte noch vor einem Jahr gedacht, dass ein solch
atemberaubendes Tempo bei einem doch so ambitionier-
ten Projekt möglich ist?
Das Humboldt-Forum – Frau Kollegin Blank hat das
schon ausgeführt – ist das mit Abstand bedeutendste kul-
turelle Bauvorhaben in Deutschland. Es wird nicht nur
zur städtebaulichen Neugestaltung der Mitte Berlins bei-
tragen. Mit seinem kulturellen Angebot wird es vor al-
lem den Dialog von Kunst und Wissenschaft an einem
zentralen Ort befördern.
Ich möchte, sicherlich auch im Namen meiner Frak-
tion und hoffentlich im Namen vieler in diesem Hause,
Minister Wolfgang Tiefensee ganz herzlich danken und
ihm dafür Anerkennung zollen, dass er in der Frage der
Realisierung dieses Projektes die alles entscheidende
Initiative ergriffen hat. Er hat damit der Vision, die man-
che von Ihnen vielleicht für eine Utopie gehalten haben,
eine realistische Perspektive gegeben.
Der Antrag der beiden Koalitionsfraktionen signali-
siert unmissverständlich eine Unterstützung des Weges,
den die Bundesregierung jetzt eingeschlagen hat. Aber
er bedeutet auch eine Aufforderung an sie, das Parla-
ment regelmäßig über den jeweils aktuellen Zwischen-
stand zu informieren. Das gilt insbesondere für den Ab-
schluss des Realisierungswettbewerbs und die dort
erzielten Ergebnisse. Kollege Hettlich hat schon darauf
hingewiesen: So oder so wird uns das Projekt in den
nächsten Jahren noch weiter beschäftigen.
Natürlich ist auch mir nicht verborgen geblieben, dass
es nach wie vor Zweifel gibt, ob die Aufgabe im Zuge
der jetzt vereinbarten Rahmenbedingungen überhaupt zu
erfüllen ist. Es gibt Stimmen unserer Kolleginnen und
Kollegen von den Linken – aber auch Kollege Hettlich
hat es vorhin eingeworfen –, die die Bundestagsbe-
schlüsse vor allem in ihrer Festlegung auf die Wiederer-
richtung der historischen Fassaden am liebsten unge-
schehen machen möchten.
Gestatten Sie mir eine persönliche Anmerkung. Nicht
nur als Anwohnerin des Schlossareals, die das jetzige
und das zukünftige Bauwerk jeden Tag in Augenschein
nehmen kann, habe ich mich natürlich gefragt, ob mich
nicht auch mögliche zeitgenössische Lösungen über-
zeugt hätten.
Allein, ich kenne eine solche Alternative nicht. Dass
Andreas Schlüter gegebenenfalls alternativlos ist, halte
ich nicht für eine Katastrophe, im Gegenteil. Das muss
niemanden frustrieren.
Wenn wir das Schloss als Ort der Weltkultur wieder
errichten lassen, dann können alle Bedenken in den Hin-
tergrund treten, die von der Erwartung gespeist wurden,
dass es sich bei unseren Beschlüssen um pure Absichts-
erklärungen oder reine Symbolik handelt.
14006 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Petra Weis
Es ist die inhaltliche Lösung, die mich zutiefst über-
zeugt. Sie ist so überzeugend, dass ich glaube, dass es
fahrlässig wäre, wenn wir die Chance, die wir jetzt haben,
ungenutzt verstreichen lassen würden. Ich glaube, wir
sollten diese Chance beherzt nutzen und auf die Vor-
schläge der Architektinnen und Architekten gespannt
sein. Wir sollten darauf achten, dass der später auszuwäh-
lende Entwurf eine überzeugende Lösung für die wahr-
haft große Aufgabe anbietet, die wir den Architektinnen
und Architekten, aber auch uns selbst gestellt haben.
Das Humboldt-Forum und die Museumsinsel sind der
sinnfällige Ausdruck einer Gesellschaft wie der unsri-
gen, die nicht nur Bildung und Kultur, sondern auch der
Kultur des Bauens einen hohen Stellenwert einräumt.
Ich würde mir wünschen, dass wir dieses Projekt im
Zuge der noch folgenden Beschäftigungen mit ihm als
das ansehen, was es tatsächlich ist: ein nationales und
damit, wenn möglich, auch ein parteiübergreifendes Pro-
jekt.
Meine Redezeit ist abgelaufen. Ich danke herzlich für
die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf
Drucksache 16/7488 mit dem Titel „Wiedererrichtung
des Berliner Schlosses – Bau des Humboldt-Forums im
Schlossareal Berlin – Rekonstruktion der historischen
Fassaden sicherstellen“. Wer stimmt für diesen Antrag? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag
ist damit angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem
Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Humboldt-
Forum statt Fassadenschloss – Schlossplatz mit Zu-
kunftsorientierung“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7366, den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5922 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Das ist
nicht der Fall. Damit ist die Beschlussempfehlung ange-
nommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Diether Dehm, Monika Knoche, Hüseyin-
Kenan Aydin, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs ei-
nes … Gesetzes zur Änderung des Grundgeset-
zes
– Drucksache 16/7375 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es handelt sich um einen Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Grundgesetzes zur Einführung eines Volksent-
scheids über die Zustimmung der Bundesrepublik
Deutschland zur Neufassung oder Änderung der vertrag-
lichen Grundlagen der Europäischen Union.
Wir nehmen die Beiträge des Kollegen Ingo
Wellenreuther für die Unionsfraktion, des Kollegen
Michael Roth für die SPD-Fraktion, des Kollegen Florian
Toncar für die FDP-Fraktion, des Kollegen Alexander
Ulrich für die Fraktion Die Linke und des Kollegen
Wolfgang Wieland für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen zu Protokoll1).
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/7375 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei der
Gesetzentwurf abweichend von der Tagesordnung feder-
führend beim Innenausschuss beraten werden soll. Gibt
es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf:
a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Pflanzenschutzgesetzes und
des BVL-Gesetzes
– Drucksache 16/6736 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Pflanzenschutzgesetzes und des BVL-Gesetzes
– Drucksache 16/6386 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz
– Drucksache 16/7507 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Jahr
Abgeordnete Gustav Herzog
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Cornelia Behm
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter
Bleser, Julia Klöckner, Uda Carmen Freia Heller,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gustav
Herzog, Volker Blumentritt, Dr. Gerhard Botz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Schutz vor Pflanzenschutzmittelrückständen
in Lebensmitteln verstärken
– Drucksache 16/6958 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
1) Anlage 10
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14007
(C)
(D)
Vizepräsidentin Petra Pau
Auch hierzu nehmen wir die Debattenbeiträge zu Pro-
tokoll. Das betrifft die Beiträge des Kollegen Dr. Peter
Jahr für die Unionsfraktion, des Kollegen Gustav
Herzog für die SPD-Fraktion, der Kollegin Dr. Christel
Happach-Kasan für die FDP-Fraktion, der Kollegin
Dr. Kirsten Tackmann für die Fraktion Die Linke und
der Kollegin Cornelia Behm für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen1).
Mir liegen außerdem Erklärungen nach § 31 unserer
Geschäftsordnung vom Kollegen Schindler und vom
Kollegen Göbel vor2).
Wir kommen damit zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zur Änderung des Pflanzenschutzgesetzes und des BVL-
Gesetzes. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz empfiehlt unter Buchstabe a sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7507, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
16/6736 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist damit mit den Stimmen der Unionsfraktion,
der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke gegen die
Stimmen der FDP-Fraktion und gegen eine Stimme aus
der Unionsfraktion bei Enthaltung der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss, den Ge-
setzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD
zur Änderung des Pflanzenschutzgesetzes und des BVL-
Gesetzes auf Drucksache 16/6386 für erledigt zu erklä-
ren. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen.
Wir kommen damit zu Tagesordnungspunkt 19 b. In-
terfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Druck-
sache 16/6958 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Josef Philip Winkler, Omid Nouripour,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Hilfe für irakische Flüchtlinge ausweiten – Im
Irak, in Nachbarländern und in Deutschland
– Drucksache 16/7468 –
1) Anlage 11
2) Anlagen 4 und 5
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses
– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,
Petra Pau, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE
Irakische Flüchtlinge in die EU aufnehmen –
In Deutschland lebende Irakerinnen und
Iraker vor Abschiebung schützen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck
, Marieluise Beck (Bremen), Alexander
Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schutz für irakische Flüchtlinge gewährleis-
ten
– Drucksachen 16/5248, 16/5414, 16/6763 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff
Ulla Jelpke
Josef Philip Winkler
Auch hier nehmen wir die Debattenbeiträge zu Pro-
tokoll. Das betrifft die Beiträge des Kollegen Reinhard
Grindel für die Unionsfraktion, des Kollegen Rüdiger
Veit für die SPD-Fraktion, des Kollegen Hartfrid Wolff
für die FDP-Fraktion, der Kollegin Ulla
Jelpke für die Fraktion Die Linke und des Kollegen Josef
Philip Winkler für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen3). Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 16/7468 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des In-
nenausschusses auf Drucksache 16/6763. Der Ausschuss
empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/5248 mit dem Titel „Irakische Flücht-
linge in die EU aufnehmen – In Deutschland lebende Ira-
kerinnen und Iraker vor Abschiebung schützen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung der Fraktion der FDP und der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/5414 mit dem Titel „Schutz für irakische
3) Anlage 12
14008 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
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Vizepräsidentin Petra Pau
Flüchtlinge gewährleisten“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Gibt es
Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist diese
Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Unionsfrak-
tion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Op-
positionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung zu der Unter-
richtung durch den Parlamentarischen Beirat für
nachhaltige Entwicklung
Bericht des Parlamentarischen Beirats für
nachhaltige Entwicklung
„Demographischer Wandel und nachhaltige
Infrastrukturplanung“
– Drucksachen 16/4900, 16/7367 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Andreas Scheuer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Ernst Kranz für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ein erstes Thema des Parlamentarischen Bei-
rates für nachhaltige Entwicklung in dieser Legislaturpe-
riode war: „Demographischer Wandel und nachhaltige
Infrastrukturplanung“. Der Beirat hat hier eine Experten-
anhörung durchgeführt und nach anschließender Bera-
tung und Auswertung am 25. Mai hier in diesem Plenum
einen Bericht vorgelegt, der besprochen wurde. Inzwi-
schen ist die Beratung in den Ausschüssen abgeschlos-
sen. Der Beirat hat daraufhin eine Entschließung formu-
liert, die uns heute vorliegt. Diese wurde im
federführenden Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadt-
entwicklung angenommen, und zwar einstimmig, also
von allen Fraktionen. Das ist wichtig; denn konsensuales
Vorgehen ist dem Beirat für Nachhaltigkeit sehr wichtig.
Legislaturperioden sind kurz, Nachhaltigkeit aber bein-
haltet vorausschauende und damit langfristige Vorge-
hensweisen. Es ist für den Nachhaltigkeitsbeirat deshalb
von besonderer Bedeutung, Beschlüsse möglichst kon-
sensual zu fassen. Dadurch wird der hohen Bedeutung
der Themen für die gesamte Gesellschaft Rechnung ge-
tragen, und die Arbeit des Beirats nachfolgender Bun-
destage wird dadurch erleichtert, und zwar unabhängig
davon, ob die Mitglieder in der Regierung oder in der
Opposition sind. Das kann ja wechseln. Nicht zuletzt hat
sich dieses Prinzip für eine effektive und wirksame Ar-
beit in diesem Beirat bisher bewährt.
Der Beirat erkennt in seinem Bericht die Leistung der
Bundesregierung an. Der „Städtebauliche Bericht 2004“
und der „Raumordnungsbericht 2005“ zeigen, dass die
Regierung den richtigen Weg eingeschlagen hat, und
zwar weg vom Wachstum und hin zur Berücksichtigung
des Bevölkerungsrückgangs und des zunehmenden An-
teils älterer Menschen in unserer Gesellschaft. Der Be-
griff Infrastruktur umfasst alle staatlichen und privaten
Einrichtungen, die für eine ausreichende Daseinsvor-
sorge und wirtschaftliche Entwicklung erforderlich sind.
Eine ausreichend vorhandene, gut organisierte und gut
funktionierende Infrastruktur ist Grundvoraussetzung für
alle Akteure in der Volkswirtschaft. Infrastruktur ist
hierzulande selbstverständlich geworden, zu selbstver-
ständlich, wie ich finde. Man merkt erst dann, wie wich-
tig Infrastruktur ist, wenn sie nicht ausreichend vorhan-
den ist und ihre Aufgabe nicht mehr erfüllt.
Infrastruktur lässt sich in technische Infrastruktur
– das sind Einrichtungen der Verkehrs- und Nachrichten-
übermittlung, der Energie- und Wasserversorgung sowie
der Entsorgung – und soziale Infrastruktur – das sind
Schulen, Krankenhäuser, Sport- und Freizeitanlagen,
Einkaufsstätten sowie kulturelle Einrichtungen – unter-
teilen. Wir haben uns erst einmal schwerpunktmäßig mit
der technischen Infrastruktur befasst. Die soziale Infra-
struktur wird in einem nachfolgenden Bericht erörtert
werden. Die Planung, Erstellung und Instandhaltung ei-
ner Infrastruktur ist im Normalfall die Aufgabe des Staa-
tes oder ihm verbundener Organe wie öffentlich-rechtli-
cher Einrichtungen oder öffentlicher Unternehmen. Im
Zuge der Privatisierung von kommunalen und staatlichen
Betrieben und öffentlichen Aufgaben werden insbeson-
dere Erstellung und Instandhaltung der Infrastruktur ver-
mehrt von privaten und privatrechtlich organisierten Fir-
men übernommen. Diese Entwicklung sollte man
kritisch verfolgen.
Die herausragende Bedeutung des Infrastrukturrechts
beruht auf der großen Bedeutung staatlicher und kommu-
naler Infrastruktur. Die Zuständigkeiten greifen wie
Zahnräder ineinander. Gerade im verabschiedeten Bun-
deshaushalt 2008 stellt der Einzelplan 12 als Haushalt für
technische Infrastruktur mit rund 13 Milliarden Euro den
größten Investitionshaushalt dar. Technische Infrastruk-
tur ist hochkomplex, und die investierten Mittel sind
langfristig angelegt. Aus diesem Grund ist eine intensive
Vorbereitung von Investitionen in die Infrastruktur not-
wendig. Vor dem Hintergrund des demografischen Wan-
dels müssen diese Investitionen in technische Infrastruk-
tur mehr denn je auch künftige Generationen und deren
Belange berücksichtigen. Das ist notwendig, weil die
technische Infrastruktur gepflegt und unterhalten werden
muss. Nicht ausgelastete Kapazitäten der Infrastruktur
bedeuten erhöhte Kosten für die Nutzer. Damit wir diese
Aufgabe bewältigen können, ist eine verstärkte Zusam-
menarbeit auf allen Ebenen, das heißt auf denen des Bun-
des, der Länder und der Kommunen, erforderlich. Hierzu
heißt es im „Städtebaulichen Bericht 2004“ der Bundes-
regierung: Die Schaffung und Sicherung eines stadtver-
träglichen Verkehrs mit seinen positiven Folgen für die
städtische Umwelt und die Sicherung preiswerten Wohn-
raums stellen zentrale Aufgaben der Stadtentwicklung
dar. Die demografischen Wandlungsprozesse erfordern
zudem Weitblick und rechtzeitige Anpassung auf allen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14009
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Ernst Kranz
Feldern der Stadtentwicklung. Vor allem vor dem Hinter-
grund des vorhandenen hohen Investitionsbedarfs ist der
Bund gefordert, die Städte und Gemeinden zu unterstüt-
zen. Insbesondere unter dem Stichwort „Bündelung“
kann es nicht nur die alleinige Aufgabe der Städte und
Gemeinden sein, die Probleme zu bewältigen. Daher wird
die Bundesregierung einen noch stärker integrativen An-
satz ihrer für die Stadtentwicklung relevanten Instru-
mente prüfen.
Wer die Literatur verfolgt, wird festgestellt haben,
dass es gerade in dieser Woche einige sehr interessante
genau dieses Thema aufgreifende Berichte gab. So war
es bisher üblich, dass wir Bauwerke vor allem aufgrund
ihrer Statik und des Kostenfaktors beurteilt haben. Auch
an dieser Stelle müssen wir umdenken. Nicht nur sicher-
heitsrelevante, funktionale und ästhetische Aspekte, son-
dern die Gesamtheit eines Bauwerks ist zu betrachten.
Dazu gab es einige interessante Ausführungen im De-
zemberheft des Deutschen Ingenieur-Blatts unter dem
Titel „Nachdenken über Nachhaltigkeit“. Darin wurde
auf integrierte, nachhaltige Planung eingegangen und
hervorgehoben, dass über die Wirtschaftlichkeit und
Nachhaltigkeit des Bauens nachgedacht werden muss.
In einer Broschüre der Bauindustrie wurde im De-
zember ein Artikel unter dem Titel „Ganzheitliches
Bauen – Baukompetenz nutzen, Klimaprobleme lösen“
veröffentlicht.
Neben den Planern betrifft das jetzt zunehmend auch
die Ingenieure und Architekten. Die Deutsche Gesell-
schaft für nachhaltiges Bauen wurde initiiert. Schwer-
punkte ihrer Arbeit sollen umweltfreundliches Bauen,
Gesundheit und Bauen, Ressourcenschonung und die
Wirtschaftlichkeit beim Bauen insgesamt sein. Es gibt
im Hinblick auf die Nachhaltigkeit einen immer größe-
ren Bedarf an Beratung und Planung. Wir erhoffen uns,
dass damit Marktanteile in Deutschland errungen wer-
den können und dieses Wissen in Form von Planungs-
und Beratungsbeiträgen exportiert werden kann.
Es muss eine ganzheitliche Betrachtung von Planung,
Bauausführung, dem Betrieb von Gebäuden bis hin zum
Rückbau von Gebäuden sowie der Wiederverwendung
von Baustoffen und Bauteilen geben. Man geht davon
aus, dass sich der Energieaufwand beim Bau und Betrieb
von Gebäuden durch integriertes Bauen gegenüber den
herkömmlichen Konzepten um bis zu 60 Prozent senken
lässt. Die Planungs- und Baukosten dafür sind nur unwe-
sentlich höher. Wer nachdenkt, erkennt, dass diese sich
bereits innerhalb weniger Jahre amortisieren.
Nicht nur die Umwelt und die Energieressourcen ha-
ben etwas davon; vielmehr sparen Eigentümer und Be-
treiber auch Geld. Wenn wir den Wohnungsbau betrach-
ten, sehen wir, dass wir damit ein Mittel in der Hand
haben, um die Betriebskosten in den Griff zu bekom-
men. Auf diese Weise können wir das Ansteigen der
Mieten verhindern und dafür sorgen, dass Wohnungen
bezahlbar bleiben.
Abschließend möchte ich kurz darauf hinweisen, dass
am Dienstag zu genau diesem Thema ein Kongress des
Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung hier in Berlin stattgefunden hat. „Nachhaltiges Pla-
nen, Bauen und Betreiben von Gebäuden“ war die Über-
schrift zu diesem Kongress.
Ich glaube, mit diesen Beispielen konnte ich gut bele-
gen, dass Nachhaltigkeit auch in unserem Ministerium
ihren Niederschlag findet und wir sie schon zu weiten
Teilen in der Praxis umgesetzt haben.
Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Döring das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben weite Teile dieser Diskussion im Parlamenta-
rischen Beirat für nachhaltige Entwicklung in wirklich
angenehmer, freundschaftlicher Atmosphäre erlebt.
Es fällt auf, dass wir über viele Jahre ausschließlich
darauf fokussiert waren, welche Auswirkungen die de-
mografische Entwicklung auf die sozialen Sicherungs-
systeme hat. Daher habe ich mir spaßeshalber noch ein-
mal den Bericht der Enquete-Kommission von Anfang
der 90er-Jahre – ich glaube, das war die Wahlperiode,
die von 1994 bis 1998 ging – angeschaut, in dem es um
die Folgen des demografischen Wandels ging. Damals
wurde der Aspekt, welche Auswirkungen der demografi-
sche Wandel auf unsere Infrastruktur hat, nur ganz am
Rande beleuchtet; man hat sich seinerzeit zu Recht da-
rauf konzentriert, welche Auswirkungen die demografi-
sche Entwicklung auf die Rentenversicherungssysteme
und die Krankenversicherungssysteme hat.
Wir haben dann insbesondere im Zusammenhang mit
den baupolitischen Diskussionen angesichts der Ent-
wicklung der neuen Länder auch darüber sprechen müs-
sen, wie wir mit sich entleerenden Räumen umgehen
können. Letztendlich muss man klar sagen: An der de-
mografischen Entwicklung kann man das Prinzip der
Nachhaltigkeit am anschaulichsten verdeutlichen. Wir
haben in Deutschland seit Mitte der 70er-Jahre sinkende
Geburtenraten. Das wirkt jetzt doppelt hart; denn die in
den 70er-Jahren nicht geborenen Mädchen können heute
keine Kinder bekommen, und die Frauen, die da sind,
bekommen auch noch weniger Kinder als die Frauen in
den 70er-Jahren. Die Spirale geht somit weiter nach un-
ten.
– Die bekommen nun einmal keine Kinder. Ich sehe viel-
leicht so aus, Frau Kollegin, aber ich habe nicht sechs
Monate Querlage.
Deshalb müssen wir uns überlegen, wie wir mit der
Infrastruktur in Deutschland umgehen, in sich entleeren-
den Räumen, aber auch in stark wachsenden Räumen.
14010 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
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Patrick Döring
Ich bin dem Kollegen Kranz dankbar, dass er es ge-
schafft hat, ein paar Widersprüche oder Dissense aufzu-
zeigen. Denn natürlich brauchen wir eher mehr Markt
und eher mehr Wettbewerb und eher mehr Marktteilneh-
mer in diesem Bereich als mehr Staat. Es gibt flexible
Instrumente, ich sage als Stichworte nur: rollende Super-
märkte, rollende Buchläden, rollende Sparkassen.
– Rollende Bibliotheken, genau. – Damit kann man da-
rauf reagieren, dass wir in ländlichen Räumen die Infra-
struktur nicht mehr so zur Verfügung stellen können.
Wir sehen dabei, dass Private solche Leistungen oft
schneller und besser anbieten, als das die öffentliche
Hand kann. Von daher darf man ihnen keine Steine in
den Weg legen.
Ich bin deshalb dankbar, dass der Bundesrat in seiner
letzten Sitzung dafür gesorgt hat, dass die fahrpersonal-
rechtlichen Vorschriften, die zum Beispiel für Fernfahrer
gelten, nicht auf die ausgedehnt werden, die überwie-
gend in den Fahrzeugen sitzen, um Bücher oder Waren
des täglichen Bedarfs auszufahren. Mit so etwas fängt es
nämlich an!
Ich will ein weiteres Beispiel nennen, bei dem die Ko-
alition den Pfad, den wir hier gemeinsam beschreiten,
verlassen hat: Das war bei der Körperschaftsteuerreform.
Es ist natürlich falsch, einerseits Sonderprogramme für
die Innenstadtentwicklung zu beschließen und anderer-
seits bei der Körperschaftsteuerreform dafür zu sorgen,
dass Einzelhandelsbetriebe, die mehr als 8 000 Euro
Miete im Monat zahlen, das, was über diese 8 000 Euro
im Monat hinausgeht, nicht mehr als Betriebsausgaben
absetzen und damit ihre Steuerschuld mindern können,
also letztendlich substanzbesteuert werden. Das trifft
nämlich die mittelständischen Facheinzelhandelsbetriebe
in innerstädtischen Lagen, die wir mit den anderen Pro-
grammen gerade erhalten und fördern wollen. Das passt
nicht zusammen.
Darum macht man ja Parlament: damit diejenigen, die
sich einem Thema von unterschiedlichen Aspekten aus
nähern, hier im Plenum versuchen, ihre Handlungen zu
synchronisieren. Das ist bei den beiden genannten Bei-
spielen nicht gelungen. Wir sollten uns als Parlamentari-
scher Beirat für nachhaltige Entwicklung auch bei Ge-
setzesverfahren, bei denen wir vielleicht nicht auf den
ersten Blick zuständig sind, auf den zweiten aber wohl,
frühzeitig einbringen und solche Widersprüche aufde-
cken.
In den 80er-Jahren war der Nachhaltigkeitsbegriff ein
politischer Kampfbegriff. Eigentlich ist er viel älter und
enthält, wie ich meine, sehr liberale Ansätze. Wir haben
es geschafft, diesen Gedanken im Bereich Raumord-
nung, im Bereich Infrastrukturplanung einzufügen. Jetzt
müssen wir gemeinsam darauf achten, dass sich auch die
Programme des Bundes – das, was wir hier beeinflussen
können – daran orientieren. In diesem Sinne sollten wir
weiter arbeiten.
Herzlichen Dank.
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege
Dr. Andreas Scheuer das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Weil einige Punkte von meinen Vorrednern schon ange-
sprochen wurden, möchte ich noch einmal grundsätzli-
cher sagen, dass auch der Parlamentarische Beirat die
Nachhaltigkeit im Bereich des Verkehrs und der Infra-
struktur nicht mehr nur unter rein umweltpolitischen Ge-
sichtspunkten sieht. Wir haben die wirtschaftlichen, sozia-
len und ökologischen Punkte mit den anderen Themen
verzahnt, wie zum Beispiel der Infrastrukturplanung,
dem Bau und dem Bereich der Demografie. Ich glaube
nämlich, dass Nachhaltigkeit nicht ausschließlich mit
Umweltthemen verzahnt werden darf.
Unsere Bundeskanzlerin Dr. Merkel hat die Nachhal-
tigkeit in ihrer Haushaltsrede zum Leitprinzip der deut-
schen Politik erklärt. Ich glaube, wir haben hier als Par-
lamentarischer Beirat auch eine riesige Chance. Diese
Punkte werden der Politik immer negativ angelastet,
weil in der Öffentlichkeit immer gesagt wird, wir Politi-
ker würden nur bis zum nächsten Wahltag denken. Die
kollegiale und freundschaftliche Zusammenarbeit bei
diesem Thema, über das wir hier debattieren, ist ein Bei-
spiel dafür, dass wir ein Zukunftsausschuss sind und
über den nächsten Wahltag hinaus denken. Ich glaube,
das ist auch das Wesens- und Leitprinzip, das wir als
Parlamentarischer Beirat haben.
Natürlich gibt es an der einen oder anderen Stelle für
jede Fraktion heilige Kühe, also Dinge, bei denen es
schwierig ist, dazu überfraktionell Beschlüsse zu fassen.
Trotzdem denke ich, dass wir hier ein Signal dafür ge-
setzt haben, dass Politik über die nächsten Wahltage hi-
nausschaut.
Der drastische Rückgang der Einwohnerzahlen und
die umfangreichen Wanderungsbewegungen, die auf ei-
ner Powerpoint-Präsentation dargestellt wurden, haben
mich schon sehr umgetrieben, weil ich denke, dass es ein
zentrales Thema werden muss, wie wir mit Wirtschafts-
ansiedlungen und einer Infrastrukturpolitik sich entlee-
rende Räume strukturpolitisch wieder aufwerten können.
Ich denke, das Bundesministerium für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung hat hier auch eine Bringschuld. Es
muss für die Themen, die wir in unserer Entschließung
angesprochen haben, einen Handlungs- und Aktionsrah-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14011
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Dr. Andreas Scheuer
men vorgeben – beispielsweise für die technische und
soziale Infrastruktur. Hier geht es wirklich um wesentli-
che Punkte der infrastrukturellen Daseinsvorsorge.
Meine Kollegen Vorredner haben diesen Bereich der
Raumordnungsplanung ja schon angesprochen.
Die Fakten der Bevölkerungsentwicklung sind klar.
Ich möchte aber noch ein strukturpolitisches Thema an-
sprechen, das vor allem im Bereich der Kommunika-
tionstechnik angesiedelt ist. Ich glaube, der Parlamenta-
rische Beirat hat Anstöße dazu gegeben, über die Anträge
hinaus nachzudenken, die wir heute Vormittag zum länd-
lichen Raum debattiert haben, und darauf hingewiesen,
dass die technische Infrastruktur sehr wichtig ist. Hier ist
nicht nur an Teer oder Beton zu denken, sondern natür-
lich auch an das, was unter der Oberfläche liegt, nämlich
die Kabel und Sender – WiMAX-Systeme –, die als
schnelle Datenleitungen eingebaut werden und die wir
als Chance für den ländlichen Raum brauchen.
Vielleicht müssen wir gerade auch bei der Wasserver-
sorgung und der Abwasserentsorgung ein wenig dezen-
traler denken. Das hat die Anhörung ja ergeben. Auch
wenn ich weiß, dass vor allem die Kommunen und die
Länder dafür zuständig sind, sage ich als Bundespoliti-
ker ganz bewusst: An ganz kleinen Beispielen sieht man,
dass wir die interkommunale Zusammenarbeit – ich er-
wähne nur Räumdienste oder Ähnliches – unbedingt
ausbauen müssen. Wir als Bundespolitiker können ge-
rade bei der Förderung lenkend darauf hinwirken, dass
die ländlichen Räume im Vergleich zu den Städten und
Metropolregionen ihre Infrastruktur bewahren. Das geht
aber nur durch Zusammenarbeit.
Kollege Ernst Kranz hat es bereits angesprochen: Die
Arbeit im Beirat ist fraktionsübergreifend. Wir haben
diese Entschließung als parlamentarisches Meisterstück
– so will ich einmal sagen – hinbekommen. Wir haben
uns hier geeinigt und auch strittige Themen kollegial be-
sprochen. Von der Zielrichtung her waren wir uns grund-
sätzlich einig, und wir wollen hier gemeinsam auftreten.
Wir wollen das ganze Parlament abbilden und die The-
men, die wir über die nächsten Wahlen hinaus zu behan-
deln haben, manifest machen und ansprechen.
Ich möchte in dieser vorweihnachtlichen Stimmung
gerne mit einem Zitat von Saint Exupéry schließen
– vielleicht ist dies ein Vorsatz für 2008 –:
Was die Zukunft anbelangt, so haben wir nicht die
Aufgabe, sie vorherzusehen, sondern sie zu ermög-
lichen.
Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Lutz Heilmann für die Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Scheuer, ein kritischer Seitenhieb muss heute sein.
Die Kanzlerin vergisst bei der Nachhaltigkeitsdebatte
leider immer die soziale Dimension der nachhaltigen
Entwicklung. Sonst würde sie nicht so um den Mindest-
lohn und andere soziale Themen feilschen und keine
Umverteilungspolitik betreiben, die wenig nachhaltig ist.
Ich finde es richtig, dass es heute die zweite Debatte
über den Bericht gibt und dass damit das zuständige Mi-
nisterium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung noch
einmal die Möglichkeit erhält, den vorgelegten Bericht
intensiv zu prüfen und bei seiner Arbeit zu berücksichti-
gen. Diese Bereitschaft war bislang nicht so deutlich er-
kennbar. Deswegen haben wir uns im Beirat auf den ge-
meinsamen Entschließungsantrag geeinigt. Wir haben
uns zusammengerauft. Ich finde es beeindruckend, dass
sich alle Fraktionen geeinigt haben. Das ist keine Selbst-
verständlichkeit. Ich möchte mich bei den Kollegen der
Koalitionsfraktionen für die gute Zusammenarbeit aus-
drücklich bedanken.
Was bedeutet der demografische Wandel? Erstens al-
tert die Bevölkerung. Dass die Menschen immer älter
werden, ist natürlich kein Problem. Im Gegenteil: Ich
freue mich, dass meine Großmutter 86 Jahre alt ist und
sich bester Gesundheit erfreut.
Zweitens geht die Bevölkerungszahl zurück, weil im-
mer weniger Kinder geboren werden. Das ist ein Pro-
blem, wobei ich vor allem an die vielen Menschen
denke, die keinen Job haben und sich nur mühsam über
Wasser halten können. Andere wursteln sich mit Prak-
tika und prekären Beschäftigungen durch. Wenn diese
Menschen über Familienplanung nachdenken, dann über-
legen sie sich genau, ob sie Kinder bekommen.
Drittens gibt es eine Bevölkerungswanderung. Was
das heißt, können Sie in Ostdeutschland sehen. 20, 30
oder sogar noch mehr Prozent der Bevölkerung sind seit
der Wende aus vielen Regionen dort abgewandert. Be-
sonders problematisch ist, dass vor allem junge Men-
schen, insbesondere junge Frauen, abwandern. Warum?
Sie sehen dort keine Perspektive für sich. Das ist das
große Versäumnis der Nachwendepolitik. Darauf werden
wir, Die Linke, Sie immer wieder hinweisen, auch wenn
Sie es nicht mehr hören wollen. Wir werden erst dann
damit aufhören, wenn sich die Perspektiven in Ost-
deutschland deutlich verbessert haben.
14012 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
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Lutz Heilmann
Was bedeutet ein Rückgang der Bevölkerung für die
Infrastrukturen? Lassen Sie mich dazu die Bundesver-
kehrswege als Beispiel herausgreifen. Der Beirat
schreibt:
Infrastrukturvorhaben, die absehbar nicht ausgelas-
tet sein werden und nicht Teil eines regional abge-
stimmten demographiewirksamen Entwicklungsplans
sind, müssen in ihrer Planung dem tatsächlichen
Bedarf angepasst werden, …
Für nicht ausgelastete Straßen gibt es genügend Bei-
spiele. Ich lade Sie einmal herzlich ein, die A 20 östlich
von Rostock zu befahren. Dort sieht man zwar blühende
Landschaften, insbesondere Wildwiesen auf erschlosse-
nen Gewerbegebieten, aber wenig Fahrzeuge auf der
Autobahn. Natürlich kann die Konsequenz nicht sein,
den Bau und Ausbau von Verkehrswegen im Osten ein-
zustellen. Wir können aber auch nicht einfach die Land-
schaft weiter mit Autobahnen zupflastern. Wo wenige
Menschen wohnen, reichen gut ausgebaute Bundesstra-
ßen völlig aus. Auch angesichts der Geldknappheit ist es
sinnvoller, das Netz der Bundesstraßen auszubauen. Das
verbessert die Mobilität von wesentlich mehr Menschen,
als wenn nur Autobahnen gebaut werden. Dass Autobah-
nen die Wirtschaft ankurbeln, ist nichts als ein Märchen.
Andererseits geht es nicht nur um den Straßenverkehr.
Es geht vielmehr darum, endlich eine verkehrsträger-
übergreifende Planung hinzubekommen. Allen Beteue-
rungen der Regierung zum Trotz ist die sogenannte Bun-
desverkehrswegeplanung dieses eben nicht. Sie prüft
einfach die Meldungen für Straßen, Schienen und Was-
serstraßen, und diese bekommen dann den Stempel, der
besagt, ob sie notwendig oder nicht notwendig sind. Das
führte dazu, dass bisher alle Bundesverkehrswegepläne
unterfinanziert waren und sind und dass nebeneinander
Straßen, Schienen und Wasserstraßen gebaut werden.
Das hat auch dazu geführt, dass der aktuelle Bundesver-
kehrswegeplan offiziell angibt, dass die Kohlendioxid-
emissionen, die durch den Verkehr entstehen, um 11 Pro-
zent ansteigen.
Das alles geschieht in Zeiten des Klimawandels. Zur-
zeit finden auf Bali Klimaverhandlungen statt. Deutsch-
land muss sich dort dazu verpflichten, seine Kohlendi-
oxidemissionen erheblich zu reduzieren. Dazu passt kein
Bundesverkehrswegeplan, der bis 2015 11 Prozent mehr
CO2-Emissionen zulässt. So weit müssten auch die Re-
chenkünste im Verkehrsministerium reichen.
Kollege Heilmann, Sie müssen bitte zum Schluss
kommen.
Ja, ich komme zum Schluss. – Das Ministerium muss
handeln. Es müssen Umweltziele und Mobilitätsziele de-
finiert werden. Deshalb brauchen wir eine Bundesmobi-
litätsplanung. Nehmen Sie sich den Bericht des Beirats
zu Herzen und berücksichtigen Sie ihn in der nächsten
Bundesverkehrswegeplanung!
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Winfried Hermann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich habe nicht nur die Freude, hier zu sprechen,
sondern die schwierige Aufgabe, die eine oder andere
Kollegin wachzurütteln, die schon einzuschlafen droht.
Aber im Ernst: Einer meiner Vorredner hat darauf hin-
gewiesen, dass wir uns schon seit Jahren, wenn nicht
Jahrzehnten mit dem demografischen Wandel befassen.
Dem muss ich entgegenhalten, dass sich die Politik
lange auf den demografischen Wandel konzentriert hat,
als es darum ging, was das für die sozialen Sicherungs-
systeme bedeutet, aber nicht bezogen auf die Frage, wie
wir die technische Infrastruktur entwickeln sollen. Inso-
fern hat der Parlamentarische Beirat das völlig ver-
drängte und vernachlässigte Problem des demografi-
schen Wandels zu Recht aufgegriffen; im Bericht wird,
wie ich finde, sehr differenziert und an manchen Stellen
auch durchaus anstößig darauf eingegangen, ob wir so
weitermachen können.
Wir haben im interfraktionellen Konsens manches
schriftlich formuliert, was in manchen Fachausschüssen
noch nicht möglich wäre. Ich will das am Beispiel des
Bundesverkehrswegeplans deutlich machen; der Kollege
Heilmann hat es bereits angesprochen. Bei dieser Pla-
nung wird selbstverständlich eine Prognose erstellt, die
aber zum Beispiel in Bezug auf den Verkehr und die de-
mografische Entwicklung bei der jetzigen Planung maxi-
mal bis 2015 reicht. Die Daten stammen in der Regel aus
den 90er-Jahren; gedacht wird im Geiste der Jahrzehnte
davor. Im Wesentlichen glauben wir an diese Wachs-
tumssprognosen, weil es immer so war. Die Gesellschaft
und der Verkehr haben sich entsprechend entwickelt; al-
les ist so weitergegangen.
Die Prognosen enden maximal im Jahr 2015. Wir
bauen aber Straßen, Brücken und Tunnels, die mindes-
tens bis 2050, 2070 oder 2080 halten werden, betrieben
werden müssen und Kosten verursachen. All das haben
wir bisher zweifellos zu wenig berücksichtigt, und zwar
nicht nur der Bund als für den Straßenbau zuständige In-
stanz, sondern auch die Länder und Kommunen. Man
baut sozusagen, als ginge alles immer so weiter wie bis-
her. Man hat in die Kosten nie wirklich die über die Jahr-
zehnte folgenden Betriebskosten miteinbezogen. Ich
glaube, dass es für die Kommunen ziemlich hart werden
wird, wenn sich herausstellt, was die Infrastrukturen
kosten.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14013
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Winfried Hermann
Insofern haben wir im Beirat festgestellt, dass es
höchste Zeit ist, umzudenken und das stärker mit ins
Kalkül zu nehmen. Man muss bei jeder Infrastrukturent-
scheidung – sei es eine Baugebietsausweisung, eine Um-
gehungsstraße oder ein Tunnel – ernsthaft und gründlich
fragen, ob wir uns das auch noch in 20 Jahren leisten
können, ob wir es in 30 Jahren noch brauchen und wie
dann die Gesellschaft aussieht.
Man muss auch fragen, was für Menschen dann die
Verkehrsinfrastruktur nutzen werden. Wollen sie alle
Porsche fahren, wenn sie älter sind, oder können sie zum
Beispiel die klein beschrifteten Automaten im öffentli-
chen Verkehr nutzen? Die gesamte Infrastruktur im Ver-
kehrssektor ist gar nicht auf älter werdende Menschen
ausgerichtet. Heißt das nicht, dass man viel mehr über
die Gestaltung und Nutzung der vorhandenen Infrastruk-
tur und die Optimierung des Vorhandenen nachdenken
muss?
Das sind die Fragen, die wir aufgeworfen haben. Wir
bitten herzlich darum, hier im Parlament, aber auch in al-
len anderen Parlamenten, auf allen anderen politischen
Ebenen ernsthaft der Frage nachzugehen, wie verkehrli-
che Infrastruktur so gebaut, angepasst und weiterentwi-
ckelt werden kann, dass sie zukunftsfest und demogra-
fiefest ist in dem Sinne, dass sie auch noch in 20 und
30 Jahren tauglich und bezahlbar ist.
Vielen Dank.
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege
Dr. Günter Krings das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lassen Sie mich als Vorsitzender des Parlamen-
tarischen Beirats zu Beginn würdigend darauf hinwei-
sen, dass um diese Zeit noch so viele Kollegen im Ple-
num sind, ich hoffe, einige auch wegen des Themas. Es
sind auch viele Kollegen hier, die nicht dem Parlamenta-
rischen Beirat angehören.
Ich finde das auch richtig, weil wir hier ein Quer-
schnittsthema diskutieren, das alle Fachausschüsse be-
trifft. Es hat nicht nur lange gedauert, Herr Kollege
Hermann, bis wir in Deutschland das Thema „Demogra-
fie und Infrastruktur“ aufgegriffen haben, es hat auch
Jahrzehnte gedauert, bis wir das Thema Demografie
überhaupt aufgegriffen haben, viel zu lange. Alle An-
strengungen im Bereich der Familienpolitik, die gut vo-
ranschreiten, und der Integrationspolitik werden uns nicht
davor bewahren, dass es ungefähr im Jahre 2050 etwa
10 Millionen Menschen weniger in Deutschland gibt.
Allein diese Zahl zeigt, dass auf die Infrastruktur andere
Herausforderungen zukommen. Abstrakt ist die Erkennt-
nis da. Wenn es jedoch konkret wird, dann will jeder
Bürgermeister doch noch das letzte Neubaugebiet in sei-
ner Region, seiner Heimatstadt planen und bewirtschaf-
ten, damit er neue Einwohner bekommt. Das gilt aller-
dings auch – diese Bemerkung gestatten Sie mir bitte –
für Politikbereiche, über die wir hier in Berlin entschei-
den. Ich sage es aus meiner persönlichen Sicht: Natür-
lich wissen wir abstrakt, wie sich der Bevölkerungsauf-
bau darstellt, aber wir sind nicht bereit, im Bereich der
Pflegeversicherung konkrete Finanzierungsalternativen
zu diskutieren und zu beschließen.
Beim Thema Infrastruktur geht es um sehr langfris-
tige Entscheidungen, weil Infrastruktur, wie Sie, Herr
Kollege Hermann, zu Recht gesagt haben, für Jahr-
zehnte, zum Teil für Jahrhunderte gebaut wird. Wir be-
wegen uns heute auf Straßen, deren Trassen zum großen
Teil aus napoleonischer Zeit stammen. Auch die Eisen-
bahntrassen sind vor über 100 Jahren gebaut worden.
Und wie lange Flughafenplanung dauert, muss ich in
Berlin sicherlich niemandem erklären.
Bei Entscheidungen, die langfristige Tragweiten ha-
ben, ist Politik immer ziemlich schlecht, und zwar in al-
len Bereichen: Bund, Länder und Gemeinden. Da sind
wir wirklich nicht gut, weil wir oft in sehr kurzfristigen
Zeiträumen denken. Von daher ist es gut, dass der Parla-
mentarische Beirat versucht, hier eine Langfristperspek-
tive einzubringen. Wir versuchen das im Konsens, bisher
meistens erfolgreich. Wir merken, dass es bei den The-
men Finanzen und Soziales schwieriger wird. Ich habe
die Hoffnung, dass wir in weiten Teilen des Beirats bei
möglichst vielen Themen auch in Zukunft beieinander
bleiben. Aber wir müssen ehrlich sein: Wenn wir zum
Beispiel beim Thema Infrastruktur über Konsequenzen
sprechen, dann bedeuten „gleichwertige Lebensverhält-
nisse in Deutschland“ nicht zwingend „überall gleiche
Lebensverhältnisse“. Das heißt für mich: nicht weniger
Infrastruktur in dünnbesiedelten Räumen, sondern zum
Teil eine andere Infrastruktur.
Letztlich müssen wir aufpassen, dass das Thema de-
mografischer Wandel nicht nur mit negativen Begriffen
besetzt wird. Es gibt auch Chancen, die damit verbunden
sind. Beispielsweise können wir den Flächenverbrauch
mindern. Schauen wir uns einmal das Ziel der Nachhal-
tigkeitsstrategie der Bundesregierung an! Es gibt kein
Ziel dieser Strategie, das so krass verfehlt wird wie das
Thema Flächenverbrauch.
14014 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Dr. Günter Krings
Statt bei 30 Hektar pro Tag bewegen wir uns bei unge-
fähr 100 Hektar. Dieses Problem müssen wir auch im
politischen Handeln stärker aufgreifen.
Ich meine schon, dass die Nachhaltigkeitsstrategie der
Bundesregierung einen wichtigen Beitrag dazu leisten
kann, dass wir den demografischen Wandel in Deutsch-
land nicht reaktiv betrachten, sondern gestaltend damit
umgehen, dass wir in den nächsten Jahrzehnten in
Deutschland nicht weniger, sondern mehr Lebensqualität
erreichen. Voraussetzung ist allerdings, dass wir diese
Nachhaltigkeitsstrategie auch in ihrer Steuerungswir-
kung ernst nehmen. Das heißt, eine Nachhaltigkeitsstra-
tegie, die nur neben der Ressortpolitik herläuft und nicht
in einigen Bereichen zu Politikänderungen führt, kann
nur wenig bringen. Die Zeit, die man sich mit ihr be-
schäftigen würde, wäre zu schade. Das heißt, eine Nach-
haltigkeitsstrategie muss zumindest in Teilbereichen
zum Umdenken und letztlich zu Politikänderungen füh-
ren.
Das Bild des guten Vorsatzes für 2008, das der Kol-
lege Scheuer gemalt hat, will ich gerne aufgreifen. Ich
finde, nicht nur die Mitglieder des Parlamentarischen
Beirates, sondern alle Abgeordneten des Deutschen
Bundestages sollten sich als guten Vorsatz für das neue
Jahr vornehmen, unserer Nachhaltigkeitsstrategie in
Teilbereichen zu mehr Biss und Durchschlagskraft zu
verhelfen; das ist sicherlich ein schwieriges Unterfan-
gen. Der Parlamentarische Beirat will dazu einen Beitrag
leisten. Wir warten mit Spannung auf die im Fortschritts-
bericht 2008 angekündigten Projekte und Maßnahmen.
Kollege Krings, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ein letzter Satz, solange ein Vertreter der Bundesre-
gierung da ist. – Noch spannender wird es sein, zu sehen,
ob die Schlussfolgerungen des Fortschrittsberichts 2008
in konkretes Regierungshandeln umgesetzt werden.
Wenn die Bundesregierung das heute nicht mitbekommt,
dann werden wir, der Parlamentarische Beirat, dafür sor-
gen, dass sie es dann im nächsten Jahr durch unsere Äu-
ßerungen mitbekommen wird.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung zu dem Bericht des Parlamentarischen
Beirats für nachhaltige Entwicklung mit dem Titel „De-
mographischer Wandel und nachhaltige Infrastrukturpla-
nung“. Das sind die Drucksachen 16/4900 und 16/7367.
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Gibt es
Enthaltungen? – Dann ist die Beschlussempfehlung ein-
stimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses zu
dem Antrag der Abgeordneten Gudrun Kopp,
Birgit Homburger, Markus Löning, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP
Bürokratie abbauen – Zeitumstellung abschaf-
fen und Sommerzeit permanent einführen
– Drucksachen 16/4773, 16/6699 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Werner Kammer
Maik Reichel
Dr. Max Stadler
Petra Pau
Silke Stokar von Neuforn
Der Kollege Hans-Werner Kammer für die Unions-
fraktion, der Kollege Maik Reichel für die SPD-Frak-
tion, die Kollegin Gudrun Kopp für die FDP-Fraktion,
die Kollegin Silke Stokar von Neuforn für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und Petra Pau geben ihre Reden
zu Protokoll.1)
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der
Fraktion der FDP mit dem Titel „Bürokratie abbauen –
Zeitumstellung abschaffen und Sommerzeit permanent
einführen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/6699, den Antrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/4773 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und
der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b so-
wie den Zusatzpunkt 7 auf:
23 a) Beratung des Antrages der Abgeordneten Anette
Hübinger, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Sascha
Raabe, Gabriele Groneberg, Stephan Hilsberg,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Entwicklungsorientierte Wirtschaftspartner-
schaften zwischen der EU und den AKP-Staa-
ten – Chance für politische, wirtschaftliche
und soziale Stabilität
– Drucksache 16/7487 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
1) Anlage 13
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14015
(C)
(D)
Dr. Günter Krings
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
EU-AKP-Abkommen: Faire Handelspolitik
statt Freihandelsdiktat
– Drucksache 16/7473 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Ute Koczy, Marieluise Beck ,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen und In-
terimsabkommen zwischen EU und AKP-
Staaten entwicklungsfreundlich gestalten
– Drucksache 16/7469 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Kollegin Anette Hübinger für die Unionsfraktion,
der Kollege Dr. Sascha Raabe für die SPD-Fraktion, der
Kollege Hellmut Königshaus für die FDP-Fraktion, die
Kollegin Heike Hänsel für die Fraktion Die Linke und
der Kollege Thilo Hoppe für die Bündnis 90/Die Grünen
haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/7487, 16/7473 und 16/7469 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Ute Koczy, Ulrike Höfken, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Für eine neue effektive und an den Bedürfnis-
sen der Hungernden ausgerichtete Nahrungs-
mittelkonvention
– Drucksache 16/7470 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auswärtiger Ausschuss
1) Anlage 14
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Die Kollegin Sibylle Pfeiffer hat für die Unionsfrak-
tion ihren Beitrag zu Protokoll gegeben, der Kollege
Dr. Sascha Raabe für die SPD-Fraktion, der Kollege
Dr. Karl Addicks für die FDP-Fraktion, der Kollege
Hüseyin-Kenan Aydin für die Fraktion Die Linke und
der Kollege Thilo Hoppe für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7470 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Begren-
zung der mit Finanzinvestitionen verbundenen
Risiken
– Drucksache 16/7438 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Hier nehmen wir die Beiträge des Kollegen Leo
Dautzenberg für die Unionsfraktion, der Kollegin Nina
Hauer und des Kollegen Dr. Hans-Ulrich Krüger für die
SPD-Fraktion, des Kollegen Frank Schäffler für die
FDP-Fraktion, des Kollegen Dr. Axel Troost für die
Fraktion Die Linke und des Kollegen Dr. Gerhard
Schick für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu Pro-
tokoll.3)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/7438 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige
Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist auch diese
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie zu dem Antrag der Abge-
ordneten Dr. Christel Happach-Kasan, Christian
Ahrendt, Hans-Michael Goldmann, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP
Zukunftschancen des Ostseeraums – Wirt-
schaft, Ökologie, Kultur und Tourismus
– Drucksachen 16/5251, 16/7048 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Eckhardt Rehberg
2) Anlage 15
3) Anlage 16
14016 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Dr. Günter Krings
Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll. Das
betrifft den Beitrag des Kollegen Eckhardt Rehberg für
die Unionsfraktion, der Kollegin Andrea Wicklein für
die SPD-Fraktion, der Kollegin Dr. Christel Happach-
Kasan für die FDP-Fraktion, des Kollegen Lutz
Heilmann für die Fraktion Die Linke und der Kollegin
Bettina Herlitzius für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.1)
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel
„Zukunftschancen des Ostseeraums – Wirtschaft, Ökolo-
gie, Kultur und Tourismus“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7048,
den Antrag der FDP auf Drucksache 16/5251 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist damit gegen die Stimmen der
FDP-Fraktion von den übrigen Fraktionen des Hauses
angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 d auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Wahl- und Abge-
ordnetenrechts
– Drucksache 16/7461 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Achtzehnten Gesetzes zur Änderung des Bun-
deswahlgesetzes
– Drucksache 16/7462 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU, der SPD und der FDP eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wahl-
prüfungsgesetzes
– Drucksache 16/7463 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Innenausschuss
Rechtsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch, Petra Pau, Ulla Jelpke, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Wahlmanipulationen wirksam verhindern
– Drucksache 16/5810 –
1) Anlage 17
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll. Das
Benneter für die SPD-Fraktion, der Kollegin Gisela Piltz
für die FDP-Fraktion, des Kollegen Jan Korte für die
Fraktion Die Linke, der Kollegin Silke Stokar von
Neuforn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
des fraktionslosen Kollegen Gert Winkelmeier.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/7461, 16/7462, 16/7463 und
16/5810 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Ulrike Höfken, Nicole Maisch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Bodenprivatisierung neu ausrichten
– Drucksache 16/7135 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll. Das
betrifft den Beitrag des Kollegen Dr. Peter Jahr für die
Unionsfraktion, des Kollegen Dr. Gerhard Botz für die
SPD-Fraktion, des Kollegen Dr. Edmund Peter Geisen
für die FDP-Fraktion, der Kollegin Dr. Kirsten
Tackmann für die Fraktion Die Linke und der Kollegin
Cornelia Behm für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.3)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7135 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a und 29 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung
– zu dem Antrag der Abgeordneten Marcus
Weinberg, Ilse Aigner, Bernward Müller
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulla
2) Anlage 18
3) Anlage 19
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14017
(C)
(D)
Dr. Günter Krings
Burchardt, Jörg Tauss, Willi Brase, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Indisch-Deutschen Studierenden- und Wis-
senschaftleraustausch fördern – Mobilitäts-
programm zum Jahr der Geisteswissen-
schaften in Deutschland
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Petra
tion DIE LINKE
Indisch-Deutschen Studierenden- und Wis-
senschaftleraustausch fördern – Mobilitäts-
programm zum Jahr der Geisteswissen-
schaften in Deutschland
– zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz
, Kai Gehring, Krista Sager, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Indisch-Deutschen Studierenden- und Wis-
senschaftleraustausch fördern – Mobilitäts-
programm zum Jahr der Geisteswissen-
schaften in Deutschland
– Drucksachen 16/6945, 16/5811, 16/5968,
16/7504 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Marcus Weinberg
Ulla Burchardt
Cornelia Pieper
Dr. Petra Sitte
Priska Hinz
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Patrick Meinhardt, Uwe Barth, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Indisch-Deutschen Studierenden- und Wissen-
schaftleraustausch fördern – Mobilitätspro-
gramm zum Jahr der Geisteswissenschaften in
Deutschland
– Drucksache 16/7262 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Cornelia Pieper für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sie werden sich vielleicht wundern, dass ich zu diesem
Thema als Einzige, soweit mir das bekannt ist, spreche,
nämlich als Vertreterin der FDP-Fraktion aus dem zu-
ständigen Ausschuss für Bildung und Forschung. Aber
das hat auch seinen Grund. Es ist eigentlich kein Thema,
bei dem es sich lohnt, sich politisch und ideologisch aus-
einanderzusetzen.
Als wir in diesem Jahr die Vorbereitungen für die
Reise der Bundeskanzlerin und von Frau Schavan nach
Indien im Februar dieses Jahres getroffen haben, war uns
allen klar, dass das eine gute Maßnahme ist. Es war
wichtig, dass im Februar 2007 während der EU-Ratsprä-
sidentschaft auf Initiative Deutschlands eine Wissen-
schaftskonferenz stattgefunden hat, weil Indien als
größte Demokratie in Südostasien eine wichtige strategi-
sche Rolle im Friedensprozess spielt.
Uns ist klar: Bildung, Wissenschaft und Forschung tra-
gen maßgeblich dazu bei, dass die Zusammenarbeit zwi-
schen beiden Staaten vertieft wird.
Wenn man weiß, dass Indien eine rasant wachsende
Wissenschafts- und Forschungslandschaft hat, dass das
Wirtschaftswachstum mit 10 bis 12 Prozent enorm ist
und Indien viel schneller wächst als europäische Staaten,
weil alle Anstrengungen unternommen werden, um ge-
rade in Bildung und Forschung zu investieren, ist es
wichtig, ein solches Programm vorzulegen, ein Regie-
rungsprogramm in der Zusammenarbeit auch zu ergän-
zen und gerade im Jahr der Geisteswissenschaften Ak-
zente auf die Geisteswissenschaften zu setzen.
So gut das auch ist: Ich stehe heute nicht hier, weil ich
über die Richtigkeit des Inhalts reden will, was uns allen
klar ist. Ich stehe heute hier, weil ich als Abgeordnete
des Ausschusses wirklich empört darüber bin, wie mit
einer guten Idee interfraktionell verfahren worden ist.
Heute liegt eine Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses vor, die sich auch auf einen Antrag der Regierungs-
koalitionen bezieht, den ich eigentlich mit verfasst habe,
den ich unterstütze und den auch meine Fraktion unter-
stützt. Deswegen werden wir für die Beschlussempfeh-
lung des Ausschusses und damit für den Antrag der Re-
gierungskoalition stimmen. Die Regierungskoalition war
aber nicht in der Lage, einen interfraktionellen Antrag
auf den Weg zu bringen, aus unterschiedlichen Gründen.
Die Unionsfraktionen haben gesagt: Mit uns gibt es das
nicht. Die Linke erscheint bei uns nicht als Antragsteller.
Nach einem entsprechenden Vorschlag an die FDP sagte
die SPD: Wenn die FDP mit als Antragsteller erscheint,
müssen auch die Grünen dort erscheinen.
Uns ging es immer um die Sache und nicht um eine
ideologische Debatte in dieser Frage.
Diese Art und Weise des Umgangs mit sachlichen Anträ-
gen, die auch eine außenpolitische Tragweite haben, die
überhaupt keinen Streit in einer fachlichen oder sachli-
chen Frage hervorbringen, ist für mich unverständlich.
14018 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007
(C)
(D)
Dr. Günter Krings
Unverständlich ist, dass man sich in dieser Frage nicht
geeinigt hat.
Wir haben deshalb einen eigenen Antrag gestellt, der
den Wortlaut des Antrags der Regierungskoalition hat.
Es ist der gleiche Antrag. Meine Fraktion ist nun wirk-
lich gespannt, wie sich die Regierungskoalition in der
Frage verhalten wird. Ich fände es einfach absurd, wenn
Sie vielleicht aus rein machtstrategischen Gründen einen
Antrag niederstimmten, der den gleichen Inhalt hat wie
der Antrag der Regierungskoalition.
Ich werbe an dieser Stelle noch einmal – das ist mir
die Sache wert – für den Antrag der FDP. Wir haben ver-
sucht, das in diesem Hause interfraktionell auf den Weg
zu bringen, weil es wichtig ist, dass wir nach außen, egal
ob es um die europäische Politik oder um die Zusam-
menarbeit mit Indien geht, ein gemeinsames Programm
verkünden und geschlossen auftreten.
Ich sage zur Regierungskoalition einfach: Beenden
Sie endlich diese ideologischen Debatten in dem Zusam-
menhang! Wir wollen eine Politik der Vernunft, und
diese Politik der Vernunft können Sie unter Beweis stel-
len, indem Sie auch dem Antrag der FDP zustimmen.
Vielen Dank.
Wir nehmen die Beiträge des Kollegen Marcus
Weinberg für die Unionsfraktion, der Kollegin Ulla
Burchardt für die SPD-Fraktion, der Kollegin Dr. Petra
Sitte für die Fraktion Die Linke und der Kollegin Priska
Hinz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
zu Protokoll.1)
Wir kommen damit zur Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung auf Drucksache 16/7504 zu mehreren An-
trägen zum indisch-deutschen Studierenden- und Wis-
senschaftleraustausch. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des An-
trags der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf
Drucksache 16/6945. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Gibt es Enthal-
tungen? – Dann ist die Beschlussempfehlung einstimmig
angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/5811. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Dann ist die Beschlussempfehlung
mit den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Frak-
tion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der
FDP-Fraktion angenommen.
1) Anlage 20
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei-
ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 16/5968. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der
Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stim-
men der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis
90/Die Grünen bei Enthaltung der FDP-Fraktion ange-
nommen.
Wir kommen damit zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/7262 zum in-
disch-deutschen Studierenden- und Wissenschaftleraus-
tausch. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt da-
gegen? – Gibt es Enthaltungen? – Dann ist der Antrag
mit den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Frak-
tion gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abge-
lehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Defizite bei der Umsetzung der Europa-Ver-
einbarung abstellen
– Drucksache 16/7139 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt neh-
men wir zu Protokoll. Das betrifft die Beiträge des Kol-
legen Michael Stübgen für die Unionsfraktion, des Kol-
legen Michael Roth für die SPD-Fraktion,
des Kollegen Michael Link für die FDP-
Fraktion, des Kollegen Alexander Ulrich für die Frak-
tion Die Linke und des Kollegen Rainder Steenblock für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.2)
2) Anlage 21
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 133. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2007 14019
(C)
(D)
Dr. Günter Krings
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7139 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 14. Dezember 2007,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
einen schönen Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen.